Objektiver und absoluter Geist nach Hegel: Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte 9789004363175, 9789004363182

In Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft

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German Pages xxii, 934 [956] Year 2018

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Objektiver und absoluter Geist nach Hegel: Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte
 9789004363175, 9789004363182

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Objektiver und absoluter Geist nach Hegel

Critical Studies in German Idealism Series Editor Paul G. Cobben Advisory Board Simon Critchley – Paul Cruysberghs – Rózsa Erzsébet – Garth Green Vittorio Hösle – Francesca Menegoni – Martin Moors – Michael Quante Ludwig Siep – Timo Slootweg – Klaus Vieweg

VOLUME 21

The titles published in this series are listed at brill.com/csgi

Objektiver und absoluter Geist nach Hegel Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte

Herausgegeben von

Thomas Oehl und Arthur Kok

LEIDEN | BOSTON

The Library of Congress Cataloging-in-Publication Data is available online at http://catalog.loc.gov LC record available at http://lccn.loc.gov/2018001755

Typeface for the Latin, Greek, and Cyrillic scripts: “Brill”. See and download: brill.com/brill-typeface. issn 1878-9986 isbn 978-90-04-36317-5 (hardback) isbn 978-90-04-36318-2 (e-book) Copyright 2018 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands. Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Hes & De Graaf, Brill Nijhoff, Brill Rodopi, Brill Sense and Hotei Publishing. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Koninklijke Brill NV provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910, Danvers, MA 01923, USA. Fees are subject to change. This book is printed on acid-free paper and produced in a sustainable manner.

Inhalt Über die Autorinnen und Autoren xi Einleitung: Objektiver und absoluter Geist nach Hegel 1 Thomas Oehl und Arthur Kok Hegels Begriff des absoluten Geistes 27 Hans Friedrich Fulda

Teil 1 Objektiver und absoluter Geist – von der Phänomenologie des Geistes aus Das Dieses ist ein Baum ist ein Baum 57 Der absolute Geist als freies Dasein der Wirklichkeit in Hegels Phänomenologie des Geistes Kurt Appel Die Bedeutung der Religion in den Grundlinien aus der Sicht der Phänomenologie des Geistes 81 Paul Cobben Zwischen Scheinkritik und Absolutheitsanspruch – zur Eigentümlichkeit der philosophischen Wissensbildung in Hegels Phänomenologie des Geistes 98 Christine Weckwerth

Teil 2 Objektiver und absoluter Geist – vom objektiven Geist aus Handlungen und Tätigkeiten in Hegels Philosophie des objektiven und des absoluten Geistes 123 Francesca Menegoni

vi

Inhalt

Fokus 2.A Recht, Moralität, Sittlichkeit Das Verschwinden der Moralphilosophie 145 Zum Verhältnis von subjektivem, objektivem und absolutem Geist in Hegels Rechtsphilosophie Christoph Jamme Übersoziale Kriterien in der Theorie sozialer Geltungen 157 Zur pluralistischen Logik der hegelschen ‚System‘-Form des objektiven Geistes Rainer Adolphi „Unvollkommene Gerechtigkeit“ 191 Hegel, Antigone und die Menschenrechte Alberto L. Siani Zweite Natur und Sittlichkeit 213 Über Hegels Auffassung von Inhabitanz Elisa Magrì Die praktischen Möglichkeiten des Individuums in posthistorischer Zeit 233 Olivér István Tóth

Fokus 2.B Staat und Religion Die Religion als Grundlage der Sittlichkeit und des Staates bei Hegel 253 Tobias Dangel Religion als Grundlage, und nur als Grundlage des Staats 273 Über Quietismus, Fanatismus, Tyrannei, und … Freiheit Paul Cruysberghs Elemente von Hegels politischer Theologie 308 Ziviler Republikanismus, soziale Gerechtigkeit, Konstitutionalismus und universelle Menschenrechte Andrew Buchwalter

vii

Inhalt

Religion in der modernen Demokratie 331 Ein Vergleich zwischen Hegels offenbarer Religion und Rawls’ öffentlicher Vernunft Arthur Kok

Teil 3 Objektiver und absoluter Geist – vom absoluten Geist aus Selbstbewusstsein und absoluter Geist 355 Thomas Oehl Absoluter Geist als sich vollbringender Skeptizismus 389 Georg W. Bertram

Kunst

Fokus 3.A

Art in Times of Historical Crisis – A Hegelian Perspective 413 Angelica Nuzzo De spiritu et littera 430 Von der Kunst, Hegels Ästhetik zu verstehen Gunther Wenz Die Bedeutung der Religion für die Kunst bei Hegel 453 Zur Frage nach dem absoluten Geist in der Kunst Carolyn Iselt Die Kunst der ästhetischen Bildung bei Hegel 481 Francesca Iannelli „Gegenwärtige prosaische Zustände“ 504 Hegels melancholische Ästhetik und Schillers politische Eschatologie Franz Knappik

viii

Fokus 3.B Religion Tod Gottes und Andersheit des Geistes 529 Die Ambivalenz von Hegels Philosophie der geoffenbarten Religion Georg Sans SJ Grundlinien von Hegels Theorie der Liebe 548 Erzsébet Rózsa

Fokus 3.C Philosophie Philosophie als Institution? 581 Zwischen dem „noch nicht“ und dem „nicht mehr“ Thomas Meyer Philosophieren als Sterben 600 Selbsterkenntnis und Versöhnung bei Hegel (eine Annäherung) Wolfram Gobsch

Teil 4 Vom objektiven zum absoluten Geist – der Übergang im enzyklopädischen System Vom objektiven in den absoluten Geist 643 Eine Interpretation im Ausgang von § 552 der Enzyklopädie (1830) Nadine Mooren, Tim Rojek und Michael Quante Die Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist bei Hegel 668 Yoichi Kubo Das Weltgericht und der unendliche Wert des Individuums 687 Kritische Fragen zu Hegels Aufhebung der Moralität Herman van Erp Die Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist 709 Weltgeschichte, Religion und Staat Andreas Arndt

Inhalt

Inhalt

ix

Vom Geist der Gesetze zu den Gesetzen des Geistes 720 Hegel über Sittlichkeit und Geschichtlichkeit Günter Zöller

Teil 5 Objektiver und absoluter Geist vor, um und nach Hegel: Hintergründe und Kontexte des (enzyklopädischen) Ganzen Wie hat die westliche Kultur ihre verschiedenen Formen von Wissen gegliedert und gerechtfertigt? 743 Historische Überlegungen zu den Metamorphosen des Baums des Wissens Vittorio Hösle Kant und der „Standpunkt der Sittlichkeit“ 784 Zur Destruktion der Kantischen Philosophie durch Hegel Rolf-Peter Horstmann Kultur der Institutionen und des Vollzugs 798 Absoluter vs. objektivierter Geist (bei Hegel) Pirmin Stekeler-Weithofer

Teil 6 Objektiver und absoluter Geist nach Hegel – im Lichte der analytischen Philosophie Kunst, Religion und Philosophie als Formen der Erkenntnis 823 Christian Georg Martin Empirische Erkenntnis als absolute Erkenntnis 853 Sebastian Rödl Selbstbewusstsein und die Idee der Bildung als „immanentes Moment des Absoluten“ 872 Über einige Unterschiede zwischen Kant, Hegel und McDowell Andrea Kern Primärtexte von G.W.F. Hegel 895 Literaturverzeichnis 900 Register 927

Über die Autorinnen und Autoren Rainer Adolphi (Dr. phil.) ist Professor an der Technischen Universität Berlin. Arbeiten zur Philosophie des Deutschen Idealismus, zu den Anfängen der Sozialwissen­ schaften (bes. Max Weber, Georg Simmel) sowie zur allgemeinen Denkge­ schichte des 19. und 20. Jahrhunderts; systematisch in den Feldern: Theorie der Kultur, Anthropologie, Sozialphilosophie und politische Theorie, Geschichtstheorie, Hermeneutik und Theorie der Bildung. Kurt Appel (Dr. phil., Dr. theol.) ist Professor für Theologische Grundlagenforschung und Leiter der interdisziplinären Forschungsplattform „Religion and Trans­ formation in Contemporary Society“ an der Universität Wien, 2017 zudem Gastprofessor an der Università Trento. Von 2010–2015 war er Gastprofessor an der Facoltà teologica dell´Italia Settentrionale (Mailand), 2009 Gastprofessor an der Facoltà teologica dell´Emilia Romagna (Bologna), 2008–2009 außerdem Vizedekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Ausgewählte Publikationen: Preis der Sterblichkeit. Christentum und Neuer Humanismus (QD 271), Herder 2015; Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling, Paderborn 2008; „Die Wahrnehmung des Freundes in der Messianität des Homo sacer“, in: K. Appel / E. Dirscherl, Das Testament der Zeit (QD 278), Freiburg 2016, 77–111; „Trinität und Offenheit Gottes“, in: K. Viertbauer / H. Schmidinger, Glauben denken. Zur philosophischen Durchdringung der Gottesrede im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2016, 19–46; „The Essence of Europe Consists in Pointing Beyond Itself“, in: International Journal of Philosophy and Theology, Manuscript-ID: RJPT-2016–0006.R2; DOI: 10.1080/21692327.2016.1180633; „Prospettive filosofiche cristologiche a partire da Hegel“, in: Rosmini Studies 2/2015, 119–131. Andreas Arndt (geb. 1949) ist Seniorprofessor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Leiter des Akademievorhabens „Friedrich Schleiermacher in Berlin 1808–1834“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; außerdem war er Vorsitzender des Vorstandes der Internationalen HegelGesellschaft von 1992 bis 2016 (seit 2016 Ehrenvorsitzender). Letzte Buch­ver­ öffent­lichungen: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845 (mit Walter Jaeschke, 2012); Friedrich Schleiermacher als Philosoph (2013); Geschichte und Freiheitsbewusstsein (2015).

xii

Über Die Autorinnen Und Autoren

Georg W. Bertram (geb. 1967) ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin (seit 2007). Zuvor war er Juniorprofessor für Philosophie an der Universität Hildesheim (2002–2007). Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Sprachphilosophie, Subjektphilosophie, Rationalitätstheorie, Klassische Deutsche Philosophie, Philosophien der Gegenwart. Neuere Buchveröffentlichungen: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus (zus. mit David Lauer, Jasper Liptow und Martin Seel, 2008), Philosophische Gedankenexperimente. Ein Leseund Studienbuch (Hg., 2011), Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik (2014) und Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein systematischer Kommentar (2017). Andrew Buchwalter ist Presidential Professor an der University of North Florida in Jacksonville. Zu seinen Forschungsgebieten zählen die Philosophie des 19. Jahrhunderts, die politische Philosophie, die Rechtsphilosophie sowie Theorien globaler Gerechtigkeit. Eine Auswahl seiner wichtigsten Veröffentlichungen: Dialectics, Politics, and the Contemporary Value of Hegel’s Practical Philosophy (London, New York: Routledge, 2011) sowie (als Herausgeber) Culture and Democracy: Social and Ethical Issues in Public Support for the Arts and Humanities (Boulder, CO: Westview Press, 1992), Hegel and Global Justice (Dordrecht: Springer, 2012) und Hegel and Capitalism (Albany, NY: SUNY Press, 2015). Paul Cobben (geb. 1951) ist Professor für Philosophie an der Universität Tilburg (Niederlande). Seine Veröffentlichungen kombinieren einen systematischen Ansatz mit einem historischen und konzentrieren sich auf die praktische Philosophie. Neueste Veröffentlichungen: The Paradigm of Recognition: Overcoming the Fear of Death (2012) und Value in Capitalist Society: Rethinking Marx’s Criticism of Capitalism (2015). Paul Cruysberghs (geb. 1944) ist Professor emeritus an der KU Leuven (Belgien) und am Lumen Christi Institute in Arusha (Tanzania). Forschungsschwerpunkte: Klassische Deutsche Philosophie, Kierkegaard, Religionsphilosophie und Philosophie der Kunst. Veröffentlichungen: Revolutie en filosofie (Hrsg.); Philosophy and Religion in German Idealism (mit William Desmond und Ernst-Otto Onnasch); Johann Gottlieb Fichte (mit Peter Jonkers); Hegel-Lexikon (mit Paul Cobben, Ludovicus De Vos und Peter Jonkers); Kierkegaard, Werke (Hrsg.).

Über Die Autorinnen Und Autoren

xiii

Tobias Dangel (geb. 1979) ist Akademischer Rat a. Z. und unterrichtet Philosophie an der Universität Heidelberg. Seit 2013 ist er Kollegiat an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Philosophie der griechischen Antike sowie die Philosophie des Deutschen Idealismus. Seine Forschungsbeiträge verbinden historische und systematische Fragestellungen im Bereich der Metaphysik, Ästhetik, politischen Philosophie sowie der Religionsphilosophie. Neuere Veröffentlichungen: Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles (2013) und Seele und Materie im Neuplatonismus/Soul and Matter in Neoplatonism (2016). Herman van Erp (geb. 1943) war Associate Professor für Philosophie an der Universität von Tilburg (Niederlande) und von 2010 bis 2016 Adjunct Professor an der University of Fort Hare (Südafrika). Sein Hauptinteresse liegt in der praktischen Philosophie, insbesondere bei Kant, Hegel und Rawls. Neueste Veröffentlichungen: Hegel, Amsterdam/Antwerpen (Boom, Lannoo) 2013; Political Obligation, Dirty Hands and Torture, a Moral Evaluation, in: South African Journal of Philosophy, 32 (2013) n. 1, 109–122; Political Reason and Interest (second edition 2014); Kant en Hegel over straf als vergelding, in: Tijdschrift voor Filosofie, 78 (2016), 741–775. Hans Friedrich Fulda (geb. 1930) war von 1981 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1995 Ordinarius für Philosophie an der Universität Heidelberg, 1987–1996 außerdem Präsident der Internationalen Hegel-Vereinigung. Er hat zahlreiche Publikationen zur Klassischen Deutschen Philosophie, insbesondere zur Philosophie Hegels, vorgelegt, darunter die Monographie Das Problem einer Einleitung in Hegels Logik (Frankfurt 1965, 2. Auflage 1975) sowie die Aufsätze „Philosophisches Denken in einer spekulativen Metaphysik“ (1991) und „Hegels Begriff des absoluten Geistes“ (2001). Wolfram Gobsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig. Er studierte Philosophie sowie Logik und Wissenschaftstheorie in Leipzig, St Andrews und Basel. 2011 wurde er mit der Arbeit Bedingungen des Unbedingten: Warum nur Tiere denken können promoviert. Zuletzt hat er veröffentlicht: „The Idea of an Ethical Community: Kant and Hegel on the Necessity of Human Evil and the Love to Overcome It” (2016) und „Der Mensch als Widerspruch und absolutes Wissen. Eine hegelianische Kritik der transformativen Theorie des Geistes“ (2017).

xiv

Über Die Autorinnen Und Autoren

Vittorio Hösle (geb. 1960) war Professor an der New School for Social Research in New York, an der Universität Essen, am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover und lehrt seit 1999 als Professor in den Departments of German, Philosophy und Political Science der University of Notre Dame (USA). Er hat sowohl philosophiehistorisch (v.a. Antike und Neuzeit) als auch systematisch gearbeitet, hauptsächlich in den Bereichen der Ethik, Politischen Philosophie, Ästhetik und Hermeneutik. Neueste Veröffentlichungen: Eric Rohmer: Filmmaker and Philosopher (Bloomsbury 2016), Vico’s New Science of the Intersubjective World (University of Notre Dame Press 2016), A Short History of German Philosophy (Princeton University Press 2016), Russland 1917–2017 (Schwabe 2017). Rolf-Peter Horstmann (geb. 1940) war von 1995 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophiegeschichte (Deutscher Idealismus) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seitdem hat er zahlreiche Gastprofessuren wahrgenommen, u.a. an der Johns Hopkins University Baltimore, der New York University sowie der Brown University Providence. Horstmann forscht vor allem zur Metaphysik und Erkenntnistheorie der Klassischen Deutschen Philosophie im Kontext der neuzeitlichen und gegenwärtigen Philosophie. Zu seinen Publikationen zählen die Monographie Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus (1991) sowie der jüngst im Internationalen Jahrbuch des Deutschen Idealismus erschienene Aufsatz „Kant, the German Idealists, the I, and the Self – A ‚Systematic Reconstruction‘ “ (2016). Francesca Iannelli (geb. 1973) lehrt als Associate Professor Ästhetik an der Università Roma Tre. Ihre Forschungsgebiete sind die Philosophie der Kunst des deutschen Idealismus und deren Rezeption sowie die Ästhetik der zeitgenössischen Kunst. Für ihre Forschung wurde sie mit dem Colletti-Preis und dem MittnerPreis für Philosophie des DAAD ausgezeichnet. Veröffentlichungen (Auswahl): Friedrich Theodor Vischer und Italien: Die erlebte Ästhetik eines Augenmenschen, Peter Lang (2016); Das Ende der Kunst als Anfang freier Kunst, Fink (2015, hg. zusammen mit K. Vieweg und F. Vercellone); Das Siegel der Moderne: Hegels Bestimmung des Hässlichen in den Vorlesungen zur Ästhetik und die Rezeption bei den Hegelianern, Fink (2007).

Über Die Autorinnen Und Autoren

xv

Carolyn Iselt (MA; geb. 1988) studierte Philosophie in Marburg, Nancy und Münster und promoviert seit 2015 an der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Klassische Deutsche Philosophie, die Kritische Theorie Adornos sowie die Ästhetik bzw. Kunstphilosophie. Neueste Veröffentlichungen: „Das Schöne und die Idee bei Kant und bei Hegel“, in: A. Arndt u.a. (eds.), HegelJahrbuch: Hegels Antwort auf Kant. XXX. Internationaler Hegel-Kongress der Internationalen Hegel-Gesellschaft und der Universität Wien, Berlin (De Gruyter Verlag), i. E. und „Der Künstler im geistigen Tierreich“, in: A. Arndt u.a. (eds.), Hegel-Jahrbuch: Erkenne dich selbst – Anthropologische Perspektiven. XXXI. Internationaler Hegel-Kongress der Internationalen Hegel-Gesellschaft und der Universität Bochum, Berlin (De Gruyter Verlag), i. E. Christoph Jamme studierte Germanistik, Philosophie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und promovierte 1981 an der Ruhr-Universität Bochum mit der Arbeit „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797–1800 (Bonn: Bouvier 1983, 2. Auflage 1988). Danach war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am HegelArchiv der Ruhr-Universität Bochum tätig, 1989/90 als Fellow am Netherlands Institute for Advanced Study (NIAS). Er habilitierte sich 1990 in Bochum mit der Arbeit „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, 2. Auflage 1999). Von 1994–1997 war er Professor für Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Deutschen Idealismus an der FriedrichSchiller-Universität Jena, seit 1997 hat er einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Lüneburg inne. Andrea Kern ist Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Leipzig (seit 2009). Sie war Gastprofessorin in Chicago, Wien, Amiens und Pittsburgh. Seit 2012 ist sie Ko-Direktorin des Forschungskollegs Analytic German Idealism (FAGI) in Leipzig. 2014/15 war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Zu ihren Veröffentlichungen gehören u.a.: Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeiten (Suhrkamp 2006; englische Fassung HUP 2017); Selbstbewusstes Leben (hrsg., Suhrkamp 2017); Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung (Suhrkamp 2000).

xvi

Über Die Autorinnen Und Autoren

Franz Knappik (geb. 1980) ist Associate Professor für Philosophie an der Universität Bergen (Norwegen). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Klassischen Deutschen Philosophie und der Philosophie des Geistes. Veröffentlichungen (Auswahl): Im Reich der Freiheit. Hegels Theorie autonomer Vernunft (2013); „Hegel’s essentialism. Natural kinds and the metaphysics of explanation in Hegel’s theory of ‚the Concept‘ “ (2016). Arthur Kok (geb. 1981) studierte Philosophie in Tilburg und Berlin. Seine Dissertation wurde 2013 als Monographie unter dem Titel Kant, Hegel, und die Frage der Metaphysik (München: Wilhelm Fink) veröffentlicht. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Religionsphilosophie und politische Philosophie. Neueste Veröffentlichungen: „Contemporary Social Contract Theory and Hegel’s Master/Bondsman-Relation“ (2015) und Der „innere Gerichtshof der Vernunft“: Normativität, Rationalität und Gewissen in der Philosophie Immanuel Kants und im deutschen Idealismus (2016, mit Saša Josifović). Yoichi Kubo (Dr. phil.; geb. 1943) ist Professor h.c. an der Komazawa Universität (Tokio). Schwerpunkte der Forschung: Hegel, der deutsche Idealismus und die neuere japanische Philosophie. Veröffentlichungen in deutscher Sprache: Der Weg zur Metaphysik. Entstehung und Entwicklung der Vereinigungsphilosophie beim frühen Hegel, Fink Verlag 2000; Logik und Realitäten. Wie systematisch ist Hegels System? Hrsg. v. Jamme und Kubo, Fink Verlag 2012; Hegel in Japan. Studien zur Philosophie Hegels, Hrsg. v. Kubo, Yamaguchi und Knatz, Lit Verlag 2015. Elisa Magrì (geb. 1985) promovierte 2013 an der Scuola Normale Superiore in Pisa (Italien), seit 2014 lehrt und forscht sie als Post-Doc am University College Dublin (Irland). Forschungsschwerpunkte: Klassische Deutsche Philosophie (insb. Hegel) und phänomenologische Philosophie. Neueste Veröffentlichungen (Auswahl): Hegel e la fenomenologia trascendentale (2015, mit A. Ferrarin und D. Manca); Hegel e la genesi del concetto (vorgesehen 2017). Christian Georg Martin ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU München. Seine Dissertation wurde 2012 bei Mohr Siebeck unter dem Titel Ontologie der Selbstbestimmung. Eine operationale Rekonstruktion von Hegels ,Wissenschaft der Logik‘ veröffentlicht. 2018 erscheint bei de Gruyter der von ihm herausgegebene Band Language, Form(s) of Life, and Logic. Investigations after Wittgenstein.

Über Die Autorinnen Und Autoren

xvii

Francesca Menegoni (geb. 1950) ist seit 1984 Professorin für Philosophie in Padua und leitet das dortige PhD-Programm in Philosophie. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die Klassische Deutsche Philosophie sowie Ethik, Handlungstheorie und Religionsphilosophie. Zu ihren neueren Veröffentlichungen zählen: Le ragioni della speranza (2001), Fede e religione in Kant (2005), La Critica del Giudizio di Kant. Introduzione alla lettura (22008). Thomas Meyer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster “Religion und Politik” an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Doktorand zum Thema Verantwortung und Verursachung in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Forschungsschwerpunkte: Handlungstheorie, Kausalität im Recht, Rechtsphilosophie, Verantwortungskonzeptionen. Jüngste Veröffentlichungen: „Metaphysische und askriptivistische Aspekte der Verantwortlichkeit“ (zus. mit Michael Quante), in: Handbuch Handlungstheorie. Grundlagen, Kontexte, Perspektiven, herausgegeben von Kühler, Michael und Rüther, Markus (Stuttgart 2016), 219–227; „Strafrechtliche Hegelianer im 20. Jahrhundert“, in: Michael Kubiciel/Michael Pawlik/Kurt Seelmann (Hrsg.), Hegels Erben? Strafrechtliche Hegelianer vom 19. bis zum 21. Jahrhundert (Tübingen 2017, i.E.), 213–244. Nadine Mooren (geb. 1986) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Hegels Philosophie, Handlungstheorie, Ethik und Religionsphilosophie. Neueste Veröffentlichungen: „Hegels Begriff der ‚Wissenschaft‘ “ (2015, zusammen mit Tim Rojek) und „Mit Hegel gegen Hegel − Feuerbachs Religionsphilosophie in Das Wesen des Christentums“ (2015). Angelica Nuzzo ist Professorin für Philosophie am Graduate Center und Brooklyn College (City University of New York). Zu ihren Buchveröffentlichungen zählen: History, Memory, Justice in Hegel (Macmillan, 2012); Hegel on Religion and Politics (ed. 2013); Hegel and the Analytic Tradition (ed. 2009); Ideal Embodiment. Kant’s Theory of Sensibility (Indiana University Press, 2008); Kant and the Unity of Reason (Purdue University Press, 2005).

xviii

Über Die Autorinnen Und Autoren

Thomas Oehl (MA; geb. 1989) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie II der LMU München und arbeitet an einer Promotion im Feld der (analytischen) Erkenntnistheorie und Philosophie der Wahrnehmung im Anschluss an McDowell und Hegel. Neben der analytischen Philosophie zählt die Klassische Deutsche Philosophie (v.a. Kant und Hegel) zu seinen philosophischen Hauptinteressen und Arbeitsschwerpunkten. Zu seinen Veröffentlichungen zählen einige Beiträge im Kant-Lexikon (2015) sowie die Aufsätze „Gott als Richter? Zum Gewissen im § 13 von Kants Tugendlehre“ (2016) und „Personale Identität bei Strawson, Frankfurt und Hegel“ (erscheint 2018). Michael Quante ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Arbeitsschwerpunkte sind der Deutsche Idealismus, die Philosophie der Person sowie Ethik und biomedizinische Ethik. Publikationen: Hegels Begriff der Handlung (1993) sowie Die Wirklichkeit des Geistes (2011). Sebastian Rödl ist Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Leipzig. Er arbeitet zu Fragen der Philosophie des Geistes und der Sprache, der Erkenntnistheorie, Moralphilosophie, und Handlungstheorie. Die klassischen Autoren, die ihm am meisten bedeuten, sind Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant, Hegel, Wittgenstein. 2018 erscheint seine jüngste Monographie SelfConsciousness and Objectivity. An Introduction to Absolute Idealism bei Harvard University Press. Tim Rojek (geb. 1984) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er arbeitet zu Hegel, der Wissenschaftstheorie der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Philosophie der Person. Neueste Veröffentlichungen: Hegels Begriff der Weltgeschichte. Eine wissenschaftstheoretische Studie, Berlin/Boston 2017; Texte zur Theorie der Geisteswissenschaften (hrsg. zusammen mit Athena Panteos), Stuttgart 2016. Erzsébet Rózsa ist Professorin am Institut für Philosophie der Universität Debrecen (Emeritierung 2016), zudem Fellow der Kollegforschergruppe „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ an der WWU Münster von 2011 bis 2017. Arbeitsgebiete: Hegel und der Deutsche

Über Die Autorinnen Und Autoren

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Idealismus; Georg Lukács und die Budapester Schule; Europäische Kultur und Identität; Angewandte Ethik. Wichtigste Publikationen (nur Bücher): Versöhnung und System. Zu Grundmotiven von Hegels praktischer Philosophie, W. Fink Verlag, München 2005; Hegels Konzeption praktischer Individualität. Von der Phänomenologie des Geistes zum enzyklopädischen System, Mentis Verlag, Paderborn 2007; Modern Individuality in Hegel’s Practical Philosophy, Brill, Leiden/Boston 2012. Georg Sans SJ ist Inhaber des Eugen-Biser-Stiftungslehrstuhls für Religions- und Subjekt­ philosophie an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München. Forschungsschwerpunkte: Klassische Deutsche Philosophie und philosophische Theologie. Veröffentlichungen zu Hegel: Die Realisierung des Begriffs. Eine Untersuchung zu Hegels Schlusslehre (Berlin 2004); L’assoluto e il divino. La teologia cristiana di Hegel, hrsg. mit Tommaso Pierini, Pierluigi Valenza und Klaus Vieweg (Pisa; Roma 2011); „Weisen der Welterschließung. Zur Rolle des Chemismus in Hegels subjektiver Logik“, in: Hegel-Studien 48, 2015; „Frömmigkeit als unmittelbares Wissen von Gott. Hegel und Schleiermacher“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 113, 2016; „Hegels philosophische Theologie nach Kant“, in: Theologie und Philosophie 91, 2016. Alberto L. Siani (geb. 1983) ist Senior Researcher für Ästhetik an der Università di Pisa. Zuvor war er Post-Doc Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung (Universität Münster, 2011–2013) sowie im Anschluss bis 2016 Associate Professor an der Yeditepe University Istanbul. Sein Forschungsschwerpunkt ist der Deutsche Idealismus (v.a. Hegel und Kant), mit besonderer Beachtung der Ästhetik und der politischen Philosophie. Weitere Forschungsinteressen sind der politische Liberalismus und die Philosophie der Menschenrechte. Zu Hegel hat er u.a. die Studiensammlung Morte dell’arte, libertà del soggetto. Attualità di Hegel (Pisa: ETS, 2017) und den Artikel „Ende der Kunst und Rechtsphilosophie in Hegel“ (in: Hegel-Studien 46, 2011) veröffentlicht sowie den Sammelband L’estetica di Hegel (Bologna: il Mulino, 2014) zusammen mit M. Farina herausgegeben. Pirmin Stekeler-Weithofer ist Gründungsprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig (seit 1992). Außerdem war er von 2008 bis 2015 Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und ist seit 2016 Sprecher der Kommission für Wissenschaftsgeschichte. Arbeitsschwerpunkte: Logik und Philosophie der Sprache (drei Bücher zur Sprachphilosophie), des Wissens und der (mathematischen) Wissenschaften (zwei Bücher zur Philosophie

xx

Über Die Autorinnen Und Autoren

der Mathematik). Rezenter Schwerpunkt: Rekonstruktion der bisher einzigen nicht bloß mathematisch-formalen Logik, nämlich der materialbegrifflichen Analytik Hegels. Projektteile: a) Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Hamburg: Meiner, 2014 (Bd. 1: Gewissheit und Vernunft, 1253 S., Bd. 2: Geist und Religion, 1080 S.); b) Eine Kritik juridischer Vernunft. Hegels dialektische Stufung von Idee und Begriff des Rechts. Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, 48, hrsg. H. Dreier und D. Willoweit, Baden-Baden: Nomos, 2014; c) Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar, Hamburg: Meiner (3 Bde., 1. Bd. 2016, 2. u. 3. Bd. 2018/19). Olivér István Tóth ist Doktorand von Gábor Boros (Eötvös-Loránd-Universität Budapest) und Ursula Renz (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Budapest). Forschungsschwerpunkte: Hegels Naturphilosophie und Spinozas Geistesphilosophie. Veröffentlichung: „Inherence of false beliefs in Spinoza“, in: Society and Politics 10:2 (2017). Christine Weckwerth (Dr. phil; geb. 1963) arbeitet an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Wichtige Veröffentlichungen: Metaphysik als Phänomenologie. Eine Studie zur Entstehung und Struktur der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“ (Würzburg 2000); Ludwig Feuerbach zur Einführung (Hamburg 2002); Mitarbeit an der Edition von Werken bzw. Manuskripten Feuerbachs, Marx’ und Engels’; Forschungsschwerpunkte: Klassische Deutsche Philosophie, nachhegelsche Philosophie, Anthropologie, Phänomenologie. Gunther Wenz (geb. 1949) war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie I an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU München sowie Direktor des dortigen Instituts für Fundamentaltheologie und Ökumene. Nach seiner Emeritierung wurde er Leiter der PannenbergForschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie. Zu seinen zahlreichen philosophischen wie theologischen Publikationen zählen ein zehnbändiges Studium der Systematischen Theologie (Göttingen 2005–2015) und die Studie Hegels Freund und Schillers Beistand. Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) (Göttingen 2008).

Über Die Autorinnen Und Autoren

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Günter Zöller ist Professor für Philosophie an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: Kant, deutscher Idealismus, politische Philosophie. Jüngere Buchpublikationen: Der Staat als Mittel zum Zweck (2011); Kritischer Geist. Erkennen und Handeln bei Kant, Fichte und Nietzsche (auf Kroatisch, 2012); Fichte lesen (2013, japanische Übersetzung 2014, spanische Übersetzung 2015, italienische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung i. Vorb.); Res Publica. Plato’s “Republic” in Classical German Philosophy (2015); The Cambridge Companion to Fichte (2016).

Einleitung

Objektiver und absoluter Geist nach Hegel Thomas Oehl und Arthur Kok

Relevanz und Aktualität von Hegels Philosophie des objektiven und absoluten Geistes

Zu Beginn seines Aufsatzes Hegels Begriff des absoluten Geistes aus dem Jahr 2003, der in durchgesehener Fassung in diesen Band aufgenommen ist, stellt Hans Friedrich Fulda fest, dass man in der Fülle an Arbeiten zu Hegel verblüffend wenig über seine Philosophie des absoluten Geistes erfährt – und das trotz deren offenkundig prominenter Stellung am Ende des enzyklopädischen Systems, und trotz der von Hegel ebenso offenkundig intendierten Abgrenzung des absoluten Geistes vom objektiven Geist. So benennt Fulda prägnant einige offene Fragen: Was aber macht den Unterschied des absoluten Geistes vom objektiven (und vom subjektiven) Geist aus? Warum besteht hier in Hegels Augen eigentlich ein grundsätzlicher Unterschied? Gibt es überhaupt einen absoluten Geist, und wenn „ja“ − wodurch können wir uns davon überzeugen? Fuldas Monitum, dass diese Fragen weitgehend brach liegen, ist – ihm zufolge – vor allem an einen wirkmächtigen Strang der jüngeren Auseinandersetzung mit Hegel zu richten, die er wesentlich mit dem Namen und der Schule Jürgen Habermas’ verbunden sieht. Fakt ist, dass die jüngere Hegelforschung in und trotz ihrer inneren Vielfalt die Philosophie des absoluten Geistes zunehmend – darin erstaunlich einig – zugunsten der Philosophie des objektiven Geistes vernachlässigt hat. Dies ist problematisch, will man Hegels Diktum ernst nehmen, das Ganze sei erst von seinem Resultat her richtig zu verstehen. Den kritischen Stimmen, die Hegel nur ohne absoluten Geist akzeptieren können, ist jedoch zuzugeben, dass die dort aufgestellten Thesen, jedenfalls in unseren Zeiten, „verdächtig metaphysisch“ erscheinen müssen. Doch ein Metaphysikverdacht darf nicht von der philosophischen Aufgabe entlasten, Hegels Philosophie des absoluten Geistes in ihrem Zusammenhang zu derjenigen des objektiven Geistes zuallererst zu verstehen und sodann erst kritisch zu prüfen. Diese Aufgabe ist nun aber keine Angelegenheit, die allein Hegels System beträfe. Vielmehr läuft sie darauf hinaus, sich mit Hegel drängenden philosophischen Fragen zu widmen, die auch jenseits von Hegel gestellt werden können

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_002

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und gestellt werden. Die (abstrakte) Kernfrage, die sich im Untertitel des Bandes spiegelt, ist diese: Sind Gesellschaft und Geschichte der letzte Geltungsund Beschreibungshorizont alles Geistigen oder nicht? Die uns auch ohne Hegel wohlbekannten Phänomene, die in der Philosophie des absoluten Geistes abgehandelt werden, − Kunst, Religion und Philosophie – kommen zwar in gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhängen vor, aber: Sind sie (deshalb) „nur“ gesellschaftlich-geschichtliche Phänomene? Sind sie „nur“ Reflexionen auf unser soziales Dasein oder „mehr“ als das? Und falls letzteres, was bedeutet, was impliziert das? Vor dem Hintergrund dieser Kernfrage(n) wollen wir nun – entlang von Kunst, Religion und Philosophie – drei Fragenkomplexe formulieren. Sie sind eine Auswahl der drängendsten Sachprobleme, um die Hegels Philosophie des absoluten Geistes – in ihrem Verhältnis zu „endlichen“ Formen des Geistes – der Sache nach kreist: 1.

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Was ist Kunst? Ist Kunst eine Selbstreflexion der Gesellschaft, die als solche Teil der Gesellschaft bleibt – oder stellt sie eine distinkte, die kontingenzbehaftete Gesellschaft transzendierende Sphäre dar? Kann Kunst eine religiöse Funktion wahrnehmen? Was trägt Philosophie zum Verständnis von Kunst bei, wenn sie sie zu ihrem Gegenstand macht? Was ist Religion? Sie beansprucht (meist) mehr als ein kulturelles Phänomen zu sein – aber ist dieser Anspruch gerechtfertigt? Wie ist das Verhältnis von Kultur, Gesellschaft und Staat zur Religion zu denken? Ist die Philosophie derjenige Ort, von welchem aus über diese Fragen zu befinden ist? Deutet Philosophie die Religion, wenn sie nach ihr fragt, bereits zu einer Art philosophischen Religion um? Was ist Philosophie? Wie verhält sie sich zu Institutionen, mit denen sie mehr oder weniger eng verbunden scheint: zur Universität, zur Öffentlichkeit oder (anderen) kulturellen Instanzen? Ist sie letztlich „auch nur“ ein kulturelles Phänomen oder „mehr“ als das? Ist ihre beanspruchte Erkenntnis mit Recht universal oder gar absolut zu nennen? Falls ja, verfolgt sie damit ein ähnliches – oder gar dasselbe – Projekt wie die Religion, nur in anderer Form?

Aufs engste mit diesen Fragen verbunden ist die Frage nach der „Geschichte“ – oder bei Hegel: „Weltgeschichte“. Denn alles, was kulturell, institutionell geformt, zeitgebunden und vergänglich ist, ist in der Geschichte oder hat eine Geschichte. Und die Geschichte selbst? Hat auch sie ihre Geschichte? Oder ist sie schon der größte, letztgültige und nicht mehr sinnvoll zu hinterfragende Rahmen jeglicher geistiger Entwicklung, den wir betrachten können? Ist nach

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Hegel – um es mit einem Wortspiel zu formulieren – Metaphysik inzwischen Geschichte, oder die Geschichte selbst Metaphysik, oder Metaphysik das, was Geschichte in einem bestimmten Sinne Geschichte sein lässt? Und wenn es „mehr“ als „nur“ Geschichte gibt, welchen geistigen Formen wird dieses „mehr“ in der Geschichte – und trotz ihrer – zuteil? Spätestens hier schließen sich gewichtige metastufige Fragen an: Wie hat eigentlich der begriffliche Rahmen auszusehen, in welchem wir all diese Fragen (philosophisch) überhaupt verhandeln können? Wissen wir eigentlich schon, was wir überhaupt meinen, wenn wir etwa nach „dem Verhältnis“ von „der Kunst“ zu „der Gesellschaft“ fragen – und nach beider „Ort“ in „der Geschichte“? Und was rechtfertigt es, all die genannten Phänomene „geistig“ zu nennen? Was haben sie gemein – und wie ist in Anbetracht dessen, was sie gemein haben, ihr Unterschied noch richtig zu fassen? Man muss nicht unbedingt Hegel gelesen haben, um auf viele der nun genannten Fragen zu stoßen. Gerade das aber spricht für die Aktualität und Relevanz von Hegels Philosophie des Geistes. Sie behandelt solche Fragen (und noch viele weitere) eben, indem sie eine Philosophie des objektiven und des absoluten Geistes unterscheidet und in ein differenziertes Verhältnis setzt. Sie geht diese Fragen, ihrem Anspruch nach, nicht in aufzählendlistenartiger Form durch, sondern entwickelt sie – und ihre Antworten – in einem argumentativ-systematischen Zusammenhang, dessen Form in der vor der Geistphilosophie explizierten Logik grundgelegt ist, und mit einem ebenfalls bereits entwickelten Naturbegriff im Rücken. Die Auseinandersetzung mit einem solch umfassenden wie komplexen System erfordert einerseits die Fähigkeit, es als Ganzes im Blick zu behalten, andererseits die Fähigkeit, die für die angesprochenen Fragen entscheidenden Ausschnitte gezielt fokussieren zu können. Exemplarisch zeigt sich ersteres daran, dass wohl jeder Beitrag dieses Bandes auch auf andere Systemteile als „nur“ den objektiven und den absoluten Geist Bezug nimmt, andererseits aber das Verhältnis des objektiven zum absoluten Geist klar als diejenige Konstellation identifiziert ist, in der Hegel die genannten Fragen verhandelt – und so, wie in der Anlage des Bandes und seinen Beiträgen umgesetzt, von anderen Systemteilen (z.B. dem subjektiven Geist) zunächst produktiv zu abstrahieren ist. So nimmt der Band Hegels Philosophie des Geistes für die benannten, nicht von der Hand zu weisenden philosophischen Fragen ernst. Fruchtbar für ihre Antwort wird Hegels System nur für Leserinnen und Leser, die seine Unterscheidung zwischen objektivem und absolutem Geist ernst nehmen – was freilich weder bedeutet, dass man ihr zustimmen muss, noch, dass es nur eine einzige Weise gäbe, sie ernstzunehmen. Aber sie ernstzunehmen bedeutet zumindest, Hegel zunächst gute Gründe für die Unterscheidung zu

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unterstellen und diese Unterscheidung so zu interpretieren zu versuchen, dass diese guten Gründe offenlegt werden können, ein präzises Verständnis dieser Unterscheidung gewonnen und deren erschließende Kraft für die benannten Problemkomplexe freigesetzt werden kann. Damit ist das Gelände des vorliegenden Bandes im Kern abgesteckt – und die Auswahl der Beitragenden und ihrer Beiträge erklärt: Die genannten Fragen sollen „nach“ Hegel – im Doppelsinne von „according to“ und „after“ – neu gestellt werden und, wo möglich, originellen Antworten zugeführt werden – wo nötig, auch gegen Hegel, und wo sinnvoll, gerade auch im verfremdenden Zugriff. „Nach Hegel“ kann freilich auch bedeuten: durch konsequente wie minutiöse Auslegung seiner Texte und rekonstruierende Durchdringung derjenigen Form, die sein Philosophieren angenommen hat und die, seiner Auffassung nach, alles Philosophieren annehmen muss: des Systems – und seiner Entwicklungs(vor)geschichte. Denn gleich wie man fragen kann und muss, ob wir eigentlich wissen, wovon wir reden, wenn wir Begriffe wie „Geist“, „Geschichte“, „objektiv“ oder „absolut“ gebrauchen, sollten wir uns, sobald wir uns dieser Begriffe in Hegels Sinne bedienen wollen, ebenso fragen, wovon genau eigentlich bei Hegel die Rede ist, wenn diese Begriffe gebraucht werden. Nicht zuletzt deshalb ist auch die andauernde philologisch-historisch-exegetische Arbeit an Hegel ein Aspekt dieses Bandes.

Zur Konzeption dieses Bandes

Einen Band, der sich dem beschriebenen Thema widmet, kann man auf ganz verschiedene Weise angehen. Eine naheliegende Weise wäre gewesen, ihn entlang der enzyklopädischen Paragraphen zu gliedern – und etwa zu jedem Paragraphen einen Beitrag zu erbitten, sodass sich eine Art kooperativer Kommentar in Aufsatzform ergeben hätte. Wir sind bewusst – und von Anfang an – nicht so vorgegangen. Denn diese Vorgehensweise hätte einen entscheidenden Nachteil gehabt: Sie hätte die vielfältigen möglichen – und von Herausgebern sicher nicht vollständig antizipierbaren – originellen Querverbindungen zwischen einzelnen Lehrstücken des objektiven und absoluten Geistes ebenso wie weniger exegetisch vorgehende Beiträge in unproduktiver Art unterdrückt. Im Vertrauen darauf, dass das Thema des Bandes präzise genug umrissen war, um seine Einheit zu gewährleisten, haben wir den Beitragenden keine weiteren Gliederungs- und Zuordnungsvorgaben gemacht. Das Vertrauen war berechtigt: es war ein Leichtes, eine ausgewogene, übersichtliche und nicht-artifizielle Gliederung des Bandes zu erstellen.

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Weiter dürfte jeder und jedem, die bzw. der diesen Band in Händen hält, unmittelbar sein großer Umfang auffallen. Dieser ergab sich aus dem zu unserer Freude großen Interesse an diesem Projekt – und den entsprechend zahlreichen Zusagen. Trotz seines großen Umfangs beansprucht der Band freilich nicht, das eingangs abgesteckte Fragenfeld auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Dennoch ist der Band in einem gewissen Sinne umfassend und ein, wie uns scheint, weitgehend repräsentatives Bild, wie renommierte philosophische Hegelleserinnen und Hegelleser – wie auch einige Nachwuchswissenschaftler/innen – sich im Jahr 2017 zum objektiven und absoluten Geist verhalten: 200 Jahre nach der Veröffentlichung der Heidelberger Erstauflage der Enzyklopädie, in der sich deren Konzeption und Verhältnis zueinander erstmals systematisch konkret abzeichneten. Der Band hat, wie uns scheint, so auch etwas Zeitdiagnostisches in zweierlei Sinn: Zum einen deutet sich in ihm an, welche der oben genannten Fragen in einem halbwegs repräsentativen Querschnitt gegenwärtiger Philosophinnen und Philosophen, insofern sie Hegelleser/innen sind, größere oder kleinere Anziehungskraft besitzen: Hegels religionsphilosophisch-metaphysischer Fokus, der sich etwa in der Bezeichnung der Sphäre des absoluten Geistes überhaupt als „Religion“ (vgl. Enz. 1830, § 554) zeigt, spiegelt sich in unserem Band beispielsweise weit weniger (unmittelbar) wider als etwa die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft auf der einen und Kirche und Religion auf der anderen Seite. Und die Kunst scheint – entgegen Hegels eigener Diagnose (?) – die immer noch anschlussfähigste Form des absoluten Geistes zu sein, wie die Vielzahl auch aktualisierender Beiträge dazu vermuten lässt. Zum anderen zeigt sich in unserem Band, wie verschiedenartig mit Hegel umgegangen werden kann und umgegangen wird – methodisch wie inhaltlich. Damit schreibt der Band ein Stück weit die Weggabelungen fort, die die Hegelrezeption von Anfang an gekennzeichnet haben – man denke nur an den „Links-“ vs. „Rechtshegelianismus“ – und die aufgrund ihres tatsächlichen Alternativcharakters stets wiederkehren, allerdings auf transformierende und originelle Weise. Die Vielfalt und Buntheit dieses Bandes war aus den genannten Gründen intendiert und hat, wie schon gesagt, nicht dazu geführt, dass dessen innere, von seinem Thema her gegebene Gliederung verlorengegangen wäre. Deshalb kann diese Vielfalt und Buntheit durchaus als positives Prädikat verstanden werden, was sie von sich her in der Philosophie nicht unbedingt ist. Vielfalt – die bis an den Rand von Verständigungsproblemen gehen kann – zeichnet die Philosophie der Gegenwart (aus). Die folgende, pointierte Kurzvorstellung der Beiträge im Zusammenhang mit der Gliederung des Bandes soll zur weiteren Orientierung der Lesenden verhelfen. Auch das Register sowie eine Bibliographie, die alle von den Beitragenden

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angeführten Texte Hegels sowie der weiteren Literatur versammelt, sollen die Übersicht in diesem umfangreichen Band erleichtern. Eine Kurzinformation zur Person der Beitragenden ist dem Band ebenfalls beigegeben.

Gliederung des Bandes und Kurzvorstellung der Beiträge

Der Band hebt an mit dem bereits erwähnten Aufsatz Hegels Begriff des absoluten Geistes von Hans Friedrich Fulda. Er eröffnet die primär am Text der Enzyklopädie entwickelte Frage nach dem absoluten Geist in seiner Abgrenzung von und Eigenständigkeit gegenüber dem objektiven Geist. Fulda diagnostiziert ein vielsagendes Schweigen der Hegel-Literatur über den absoluten Geist, das von einer argumentativ wenig überzeugenden Ablehnung desselben durch Habermas untermalt wird. Insgesamt sechs Einwände von Habermas nennt Fulda und beansprucht sie zu entkräften – letztlich dadurch, dass er den Übergang vom objektiven in den absoluten Geist in Hegels enzyklopädischem System rekonstruiert, wodurch sich eine Reihe von Vorbehalten gegenüber diesem Übergang zerstreuen lassen. Dabei arbeitet Fulda auch heraus, welche philosophischen Vorzüge die so gelesene hegelsche Geistphilosophie gegenüber denjenigen reduktionistischen Versuchen verschiedenster Provenienz aufweist, die Fulda unter dem Begriff eines „Finitismus des Geistes“ zusammenfasst, die sich also in der weitenteils unreflektierten Annahme einig sind, es mache keinen Sinn, von einem anderen als dem unseren, endlichen Geist zu reden. Der 1. Teil des Bandes nähert sich dem Verhältnis von objektivem und absolutem Geist von Hegels frühem Meisterwerk, der Phänomenologie des Geistes, her an. Kurt Appel erschließt die Bedeutung des absoluten Geistes in einem die Übergänge verfolgenden Durchgang durch die Phänomenologie des Geistes. Dabei wird – methodisch wie inhaltlich – der Materialreichtum dieses Werks im großen Stile berücksichtigt. Vor allem durch die beiden folgenden intern zusammenhängenden Thesen, die Appel entfaltet, hebt er sich von der Mehrheit der Hegelinterpreten markant ab: Erstens, so Appel, sei die Religion im Sinne Hegels – ganz gegen Feuerbach – nicht als positive Projektion, sondern als „Ende aller Projektionen“ überhaupt zu verstehen. Zweitens sei der Weg der Phänomenologie keine Selbstbefreiung des Bewusstseins zu immer weniger sinnlichkeitsbezogenen Formen; entsprechend liege das Defizit der Religion – und am Ende sogar das der sinnlichen Gewissheit – nicht darin, dass diese Stufen des Geistes zu sinnlich, sondern „nicht sinnlich genug“ seien. Damit

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zeichnet Appel ein Bild hegelschen Denkens des Absoluten, das frei von Abstraktionen, Geschlossenheit, Systemzwang und Sinnlichkeitsfeindlichkeit ist. Paul Cobben unternimmt den Versuch, Hegels Einsichten aus dem Religionskapitel der Phänomenologie des Geistes projektiv auf die Grundlinien der Philosophie des Rechts zu übertragen. So wird an dem Verhandlungsort des objektiven Geistes schlechthin nach der Verortung der Religion gefragt. Auf Basis einer dichten Interpretation des Ganges der Phänomenologie insgesamt werden zunächst der dortige Freiheitsbegriff und die Konzeption dreier Selbste fokussiert. Basierend darauf zeichnet Cobben die Entwicklung der Freiheitsverwirklichung in den drei Momenten des Geist-Kapitels – dem Altertum, dem Mittelalter und der Moderne – nach, um sie auf die begriffslogisch strukturierte Anlage der Grundlinien zu beziehen. Basierend auf der Annahme, dass die Momente des Religions-Kapitels analog zu übertragen sind, kann Cobben weitreichende Schlüsse zur Bedeutung der Religion im modernen Staat ziehen, die einerseits klar machen, weshalb Hegel eine Trennung von Religion/Kirche und Staat vertritt und gewahrt wissen will, die Religion in einem wichtigen Sinne jedoch zugleich als unverzichtbar für die Bildung des Freiheitsbewusstseins der im Staat organisierten Individuen erachtet. Christine Weckwerth untersucht das Verhältnis von objektivem und absolutem Geist unter dem Gesichtspunkt, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes das Zusammenspiel der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit und der zeitentzogenen Logizität im philosophischen Wissen – genauer: in dessen Genese – konzipiert. Basierend auf einer allgemeinen Skizze dieses Zusammenspiels und der Abgrenzung der so gefassten Konzeption philosophischen Wissens von anderen führt Weckwerth dieses Zusammenspiel in concreto anhand dreier „Umkehrungen des Bewusstseins“ aus der Phänomenologie des Geistes durch: das tragische Zerbrechen der einen Sittlichkeit der griechischen Polis, das Umschlagen der Freiheitsproklamation der Französischen Revolution in Terror und Tod und – schließlich – das Gewissen und seine vermeintliche Autonomie als Inbegriff des neuzeitlich-modernen Selbstverständnisses des Menschen, welches immer am Umschlag zum Bösen ist. Weckwerth arbeitet ihr Verständnis von Hegels Anspruch, hinter diesen Entwicklungen logischbegriffliche Geltungszusammenhänge zu erkennen, die jeder gesellschaftlichgeschichtlichen Abhängigkeit enthoben sind, heraus, um sodann festzustellen, was nach der von ihr favorisierten Abkehr von dieser identitätsphilosophischen Grundkonzeption von Hegels Theorie philosophischen Wissens bleibt: ein origineller Erfahrungs-, Gegenstands- und Kritikbegriff, deren philosophische Potentiale laut Weckwerth nicht nur nicht von Hegels überspannter Absolutheitskonzeption abhängen, sondern ohne diese sogar erst ihr volles dynamisch-diagnostisches Potential entfalten können.

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Der 2. Teil des Bandes stellt die Frage nach dem Verhältnis des objektiven zum absoluten Geist primär vom objektiven Geist aus, von den dort verhandelten Fragestellungen, die über sich selbst hinaus auf den absoluten Geist hin- und verweisen. Francesca Menegoni legt in diesem Sinne eine grundlegende, übersichtliche Darstellung von Zusammenhang und Differenz des objektiven und absoluten Geistes vor, indem sie der Frage nachgeht, wie die definierenden Merkmale der Tätigkeiten und Handlungen auf jeder dieser beiden Stufen des Geistes näherhin zu bestimmen sind. Dabei differenziert Menegoni innerhalb des objektiven Geistes, als uns zunächst geläufigerer Sphäre, eine individuelle und eine soziale oder kollektive Handlungsdimension aus, um sodann aufzuzeigen, dass deren freie und absichtliche Form sich in den Tätigkeiten des absoluten Geistes stufenweise vollendet. Dabei entwickelt sie die These, dass die vollendete Tätigkeit(sform) des absoluten Geistes aber nicht einfach jenseits der (noch) nicht vollendeten steht, sondern „Modell und Maßstab für alle Handlungen“ ist. Bemerkungen zu den drei Schlüssen der Philosophie sowie dem expliziten Aristoteles- und, so Menegoni, impliziten Spinoza-Bezug am Ende der Enzyklopädie beschließen den Aufsatz. Sodann folgen Beiträge zum ersten Fokus des 2. Teils − Recht, Moralität, Sittlichkeit −, die durch ein Verständnis von Hegels interner Ausdifferenzierung des objektiven Geistes einen Zugang zum absoluten Geist zu gewinnen suchen. Christoph Jamme analysiert mit historisch-philologischem Zugriff die Genese der hegelschen Rechtsphilosophie im Zusammenhang mit den Entwicklungen anderer Teile seiner Philosophie. So erhellt Jamme zum einen das eigentümliche Profil von Hegels Rechtsphilosophie, insbesondere deren Fokussierung auf „Sittlichkeit“, in engem Zusammenhang mit Hegels Unterscheidung des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes. Durch die Zusammenschau der Entwicklung verschiedener Systemteile bei Hegel kann Jamme zum anderen seine weitreichende, generelle These etablieren und exemplifizieren, mit der er einem weitverbreiteten Vorurteil widerspricht: „Das hegelsche System ist nicht so stringent, wie es erscheinen könnte. Hegel ist nicht so weit gekommen, sich Rechenschaft über sein System abzulegen (die Enzyklo­ pädie wurde stetig umgestaltet). So gibt es keine Begründung bei ihm, warum die einzelnen Disziplinen sich jeweils unterschiedlich herausgebildet haben.“ Rainer Adolphi hebt sodann mit einer kritischen Beleuchtung derjenigen Hegel-Kritiken an, die Hegels System durch ein „Primat des Logischen“ befangen sehen, das einen offenen Blick auf die realen Dynamiken des Sozialen und Geschichtlichen prinzipiell versperrt. Demgegenüber bietet Adolphi eine Rekonstruktion des objektiven Geistes an, die eine derartige Offenheit

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verspricht, ohne auf Historismus oder Kulturalismus aufzuruhen. In diesem Zusammenhang geht Adolphi auch auf prinzipielle Problemfragen zu Hegels System – den Status der Logik, die Dreigliedrigkeit und den Begriff der Geschichte – ein. Adolphi beschließt seine Erörterung mit einer Reflexion auf die Implikationen seiner Lesart für die Philosophie des absoluten Geistes. Alberto L. Siani widmet sich neu einem der vieldiskutierten Meisterstücke aus Hegel: der Antigone-Interpretation. Siani stellt hierzu einen genauen Bezug zu Hegels geschichtsphilosophischen Auffassungen der Sittlichkeit her, aus dem sich ihm zufolge ein philosophisches Modell der Geltung partikularer Rechtssysteme entwickeln lässt. Unter Rekurs auf Hegels Konzeption des Weltgeistes, durch welchen diese noch einmal überschritten werden, weist Siani einerseits die begrenzte Geltung partikularer Rechtssysteme auf, spricht sich andererseits aber gegen eine Vermischung von Weltgeschichte als Weltgericht und absolutem Recht mit dem absoluten Geist aus. So lässt sich der These von der Weltgeschichte als absolutem Recht eine durchaus säkulare Bedeutung abgewinnen, die sich Siani zufolge in produktiver Weise auf die Debatte um Theorien der Menschenrechtsbegründung beziehen lässt. Elisa Magrì diskutiert einen weiteren zentralen Begriff in Hegels Geistphilosophie: „Gewohnheit“. Dabei arbeitet sie heraus, dass der in der Anthropologie des subjektiven Geistes entwickelte Begriff von „Gewohnheit“ nicht schlicht identisch mit demjenigen ist, der im Kontext der Sittlichkeit Anwendung findet. Letzterer, so Magrì, sei eher im Sinne des „Gedächtnisses“ zu fassen, das Hegel in seiner Philosophie des subjektiven Geistes als höherstufige Form der Gewohnheit expliziert: „Ebenso wie Gedächtnis Denken durch Sprache ermöglicht und dadurch beständige und permanente Zeichen erzeugt, die es dem Geist erlauben, seinen Inhalt zu objektivieren, weist das Konzept der Inhabitanz auf eine beständige und sichere Umgebung hin, in der Bürger frei sein können.“ Entscheidend, so Magrì weiter, sei, dass die Inhabitanz im Rahmen der Sittlichkeit keine passive Haltung oder gar bloßer Gehorsam sei, sondern selbst aktivisch; als so verstandener Begriff kann sie mit demjenigen des Vertrauens (in die Institutionen der Sittlichkeit) vermittelt werden: „Individuen, die dem Staat vertrauen, sind keine passiven Bürger, sondern bewusste Akteure, die sich ihrer in der Verfassung ausgedrückten Rechte und Pflichten bewusst sind. Dies stiftet eine geschützte Umgebung, die sowohl individuelle als auch kollektive Freiheit gewährleistet. In dieser Hinsicht ist Habitualität bereits auf der Stufe der Individualität beteiligt, da sie dem Gefühl von Vertrauen in die Verfassung zu Grunde liegt.“ Magrì beschließt ihren Aufsatz mit Überlegungen dazu, wie sich anhand dieser Auffassung von Habitualität und Inhabitanz die Unterscheidung von objektivem und absolutem Geist denken lässt.

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Olivér István Tóth evaluiert die praktischen Möglichkeiten, die das Individuum nach dem „Ende der Geschichte“, in posthistorischer Zeit, hat. Tóth diagnostiziert diesbezüglich eine ambivalente Lage: der Abschluss der Weltgeschichte im Sinne Hegels habe einerseits einen konstruktiven Aspekt, da nun alle theoretischen Möglichkeiten einsehbar sind und es allein am Individuum und seiner subjektiven Freiheit liege, diese zu konkretisieren und praktisch zu realisieren; auf der anderen Seite liegt eben darin ein destruktiver Aspekt, da das Individuum seine subjektive Freiheit genau auch dazu gebrauchen kann, sich gegen die Freiheit zu kehren. Tóth argumentiert, dass beides nun im Raum der Politik zu verhandeln sei, dem allerdings die Klärung vorausgehen müsse, was eine theoretische – und daher von der Wissenschaft und nicht von der Politik zu traktierende – Frage sei. Dabei stellt Tóth Bezüge zu politischen Auseinandersetzungen und Krisen der jüngeren Zeit her. Seine Überlegungen sind gleichzeitig von der Frage durchdrungen, welchen Stellenwert die Formen des absoluten Geistes vor diesem Hintergrund noch haben können, wenn das posthistorische Zeitalter einerseits das Zeitalter der Politik ist, andererseits aber gerade deshalb die Einsicht in das Wesen der Freiheit unerlässlich dafür ist, dass der destruktive Zug nicht ungehindert wächst. Als zweiter Fokus des 2. Teils hat sich ein Sachproblem herauskristallisiert, das bis heute nicht an Aktualität eingebüßt hat, im Gegenteil: die Rede ist vom Verhältnis des Staates (und seiner Implikationen) und der Religion (und ihrer Implikationen). Dazu erörtert Tobias Dangel in grundlegender Weise Hegels These, dass die Religion die Grundlage der Sittlichkeit und des Staates sei, sowie deren Begründung. Dabei zeigt Dangel zunächst auf, dass Hegels Begriff des vernünftigen Staates gerade in drei genuin modernen konstitutiven Elementen besteht: der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung und der individuellen Freiheit. Aus ihnen selbst, insbesondere dem letztgenannten, – und nicht etwa in restaurativem Interesse –, so Dangels Rekonstruktion von Hegels Argument, ergibt sich die Angewiesenheit des Staates auf die Religion: „Insofern sich diese Vertiefung der Subjektivität im Staat als der prinzipientheoretische Dreh- und Angelpunkt erweist, um den es bei der Frage nach dessen Modernität geht, ist diese Frage von der christlichen Religion, der das Wissen um die Vertiefung innerlich angehört, unabtrennbar.“ Dangel zeigt nun weiter, wie Hegel die christliche Religion (in ihrer protestantischen Ausprägung) deutet, um diese Unabtrennbarkeit unter Rekurs auf Inhalte der Religion näher explizieren zu können. Besonders arbeitet Dangel dabei die Bedeutung der Religion für das gebildete Gewissen des einzelnen Bürgers heraus, ohne welches der Staat

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wankend würde. Dies erweist sich wiederum als Implikat eines modernen Gedankens: Hegel erkennt, so Dangel, dem Staat keine derartige die einzelnen Subjekte überwölbende objektive, selbstständige Macht zu, dass er als vernünftiges Gebilde auch unabhängig von der Gesinnung seiner Bürger fortexis­ tieren könnte. Dangel beschließt seine Überlegungen mit einer Deutung von Hegels These, dass die letztliche Versöhnung von Staat und Religion aber nur in der Philosophie gelingen könne, da diese allein deren inneren inhaltlichen Zusammenhang unbeschadet ihrer Formverschiedenheit durchschauen und aufweisen kann. Auch Paul Cruysberghs widmet sich Hegels These, dass die Religion die „Grundlage“ des Staates sei. Cruysberghs interpretiert sie detailliert, indem er – exegetisch – die Differenziertheit der Materie in Hegels einschlägigen Vorlesungen berücksichtigt und – systematisch – den Mittelwegcharakter von Hegels Position beleuchtet, der bereits am ambivalenten Begriff der „Grundlage“ als solchem deutlich wird: So sagt Hegel ausdrücklich, die Religion sei zwar „Grundlage“ des Staates, aber eben auch „nur Grundlage“, die als solche nicht die konkreten Gehalte des Staates antizipieren oder gar bestimmen oder setzen könne; weiter ergebe sich im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Religion eine differenzierte Abhängigkeit, die Hegel – scheinbar paradox – so bestimmt: Die Religion sei „unabhängig vom Staate, aber eins mit ihm“. Cruysberghs liefert eine ausführliche Deutung des Gehalts dieser differenzierten Verhältnisbestimmung, mit Bezug auf die einschlägigen problemgeschichtlichen Konstellationen. Andrew Buchwalter stellt in seinem Beitrag heraus, dass Hegels liberale Staats- und Politiktheorie nicht im Widerspruch zur von Hegel ebenfalls vertretenen These steht, dass Religion einen begründenden Charakter für ein gelingendes Gemeinwesen hat. Buchwalter zeigt auf, dass unter „Religion“ hier bereits eine reflexive, philosophieaffine Kultur des Nachdenkens zu verstehen ist, die genetisch zwar aus dem protestantischen Christentum folgt, jedoch nicht an eine fixe dogmatische Form desselben gebunden bleibt; zudem weist Buchwalter auf, dass der begründende Charakter so verstandener Religion nicht etwa ein theonomes Verständnis des Staates oder gar dessen Unterordnung unter kirchliche Strukturen meint, sondern die autonomen und rationalen Reflexions- und Selbstkonstitutionsprozesse von Gemeinschaften in einer Weise, für die die Involvierung des Individuums konstitutiv ist. Entsprechend legt Buchwalter auch einen Fokus auf Hegels Betrachtung derjenigen gesellschaftlichen Institutionen, die sich um benachteiligte Individuen kümmern: die in der Rechtsphilosophie verhandelten „Korporationen“. Buchwalter optiert also zwar für ein durch und durch rationalisiertes und

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säkularisiertes Verständnis hegelscher „Religion“, zugleich aber für deren Nichtaufhebbarkeit und Nichtverzichtbarkeit für die von ihr wohl zu unterscheidenden Institutionen des objektiven Geistes. Arthur Kok schließlich unternimmt einen Vergleich von Hegels Konzept der „offenbaren Religion“ mit Rawls’ Konzept der „öffentlichen Vernunft“. Es lassen sich, so Kok, Spannungen und Defizite von letzterem herausarbeiten, von denen her sich Hegels anspruchsvolle Unterscheidung von Recht, Moralität und Sittlichkeit sowie von objektivem und absolutem Geist überhaupt verstehen, motivieren und aktualisieren lässt. Kok argumentiert weiter, dass die Unterscheidung von objektivem und absolutem Geist sich nicht nur von letzterem her verstehen lasse, sondern innerhalb der Sphäre des objektiven Geistes wirksam sei. Dies, so Kok, erfordert ein Umdenken der modernen Gesellschaften im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Religion, welches weder in totaler Ablehnung noch in der undifferenzierten Akzeptanz einer „Rückkehr der Religion“ bestehen dürfe. Vielmehr seien Religionen genau darauf hin zu befragen und zu beurteilen, ob ihr beanspruchtes „Absolutes“ die Freiheit sei oder nicht. Am Ende seiner Untersuchung kann Kok daher einen unbequemen Satz Hegels unterschreiben: „Es hülfe nichts, daß die Gesetze und die Staatsordnung zur vernünftigen Rechtsorganisation umgeschaffen würden, wenn nicht in der Religion das Prinzip der Unfreiheit aufgegeben wird.“ Der 3. Teil nun geht die Fragestellung des Bandes primär vom absoluten Geist aus an. Eröffnet wird er mit zwei generellen, sehr verschiedenen Lesarten desselben: Thomas Oehl entfaltet Hegels Philosophie des absoluten Geistes in zwei Schritten: In einem ersten Schritt wird Hegels Auffassung von Selbstbewusstsein expliziert. Hegel versteht (reines) Selbstbewusstsein, im Ausgang einer cartesischen Meditation, als (mein) Erfassen, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, also als Erfassen einer Tatsache (T). Gegen Kant ist somit geltend zu machen, dass Selbstbewusstsein nicht an sich selbst Prinzip ist, das als solches nicht mehr auf (s)einen Grund hin transparent zu machen ist, sondern vielmehr einen Grund, nämlich die Tatsache (T), hat. Dieser Gedanke wird mit Bezug auf Hegels Logik näher expliziert. In einem zweiten Schritt wird mit Hegel festgestellt, dass ich, als endliches Subjekt, mich nicht selbst erkennen will. Genauer: dass ich mich, als Selbstbewusstsein, selbst zum Prinzip erheben und das Gegründetsein von Selbstbewusstsein in der Tatsache (T) nicht (an-)erkennen will. Diese Feststellung ist, wie Hegel selbst sagt, eine philosophische Version der christlichen Sündenlehre und eine positive Voraussetzung, die nicht aus dem reinen Denken gewonnen werden kann. Nimmt man sie in das philosophische Denken auf, folgt aus ihr

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jedoch viel: Sodann ist nämlich zu fragen, wie die im ersten Schritt dargelegte Erkenntnis möglich ist, wenn ich mich selbst nicht erkennen will. Offenbar nur, indem dieser verkehrte Wille gebrochen wird. Hegel zufolge ist dies nur durch einen anderen Willen, den Willen des nicht-endlichen Subjekts, des „Absoluten“, möglich. Unter der Annahme, dass ich mich selbst wirklich erkennen kann, folgt, dass auch dieses „Absolute“ wirklich sein muss. Dieses „Absolute“ ist somit als Gedankenzusammenhang von Selbsterkenntnis, insofern er sich (mir) auch willentlich geltend macht, zu bestimmen. Durch dieses willentliche Moment kommt dem „Absoluten“ der elementar-personale Zug des Willens zu. Es kann daher als „Gott“ angesprochen werden. In Hegels Denken ist also tatsächlich ein „Gottesbeweis“ zu erkennen – allerdings nur, wenn man die genannte positive Voraussetzung annimmt. Solange (Hegels) Philosophie dies nicht tut, sondern im reinen Denken verharrt, muss und kann „Gott“ kein Gegenstand für sie werden. Georg W. Bertram argumentiert dafür, Hegels Theorie des absoluten Geistes als eine Theorie von Selbstverständigungspraktiken zu verstehen. Solche Selbstverständigungspraktiken bedürfen einer materialisierten wie idealisierten Entfaltung, wodurch Bertram Hegels These, dass der absolute Geist drei nicht aufeinander reduzierbare Gestalten aufweise, begründen und verständlich machen kann: Von der Kunst über die Religion zur Philosophie hin nimmt der Grad an Idealisierung zu, wodurch eine Skala aufgespannt ist, in welcher Kunst als (tendenziell) einseitig materialisiert, Philosophie als (tendenziell) einseitig idealisiert zu gelten habe. Daher, so Bertram, „ist Selbstverständigung im Sinne des absoluten Geistes so zu verstehen, dass unterschiedliche Einseitigkeiten sich wechselseitig ergänzen, sodass Selbstverständigung sich insgesamt durch die Bewegung zwischen unterschiedlichen Formen von Selbstverständigungspraktiken realisiert, die Hegel als Kunst, Religion und Philosophie bezeichnet.“ Da Selbstverständigung einer Gemeinschaft Selbstkritik, diese aber Selbstdistanzierung erfordert, sei weiter zwischen der Sache (der Kritik) und ihrer begrifflichen Artikulation zu unterscheiden, was Bertram als interne Selbstdifferenzierung des Geistes deutet – und dadurch Hegels These vom absoluten Geist als Rückkehr aus seinem Anderen einholt. Der absolute Geist erweist sich somit nachgerade darin und deshalb als „absolut“, weil er in einem radikalen Sinne selbstkritisch, damit aber offen und nicht auf einen unverrückbar gesetzten Standpunkt fixiert sei. Mit der so entfalteten Lesart richtet sich Bertram gegen ein Verständnis des absoluten Geistes als einer Kritiklosigkeit implizierenden Selbstgewissheit kultureller Identität, aber auch gegen die Idee eines ohne Metaphysik zu habenden selbstkritischen Diskurses einer Gemeinschaft – und damit gegen Habermas’ und Honneths Versuch, Hegels Philosophie „auf die Philosophie des objektiven Geistes hin zu zähmen“.

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Den ersten Fokus des 3. Teils bildet – Hegels Gliederung des absoluten Geistes entsprechend – die (Philosophie der) Kunst. Angelica Nuzzo geht vom Phänomen der Krise aus und dessen phänomenologischer, logischer und sodann geschichtsphilosophischer Erfassung durch Hegel. Nuzzo arbeitet heraus, dass die Weltgeschichte aufgrund ihres permanent-transitorischen Charakters als die Krise des Geistes schlechthin zu verstehen ist, durch die er sich realisiert. Dies wirft die Frage auf, wie sich die Formen des absoluten Geistes, denen diese Krise sodann immanent sein muss, zu eben dieser verhalten. Nuzzo untersucht dies am Beispiel der Kunst und gelangt zu zwei Thesen: Zum einen hat die Kunst aufgrund ihres poietischen Charakters eine intimere Nähe zum Tatcharakter der Geschichte als die beiden anderen Formen des absoluten Geistes; zum anderen ist die Kunst aufgrund ihres intimen Verhältnisses zur jeweiligen Gegenwart, die in der Anschauung als ihrer Artikulationsform begründet liegt, sensibler für die Unruhe der Weltgeschichte und daher – anders als Religion und Philosophie – weniger Ausdruck von Versöhnung im Sinne Hegels, sondern permanenter Krisenhaftigkeit. Damit aber spiegelt Kunst nicht nur ihre geschichtliche Zeit, sondern zeigt sie vielmehr kritisch an und deutet auf Krisen voraus. In Nuzzos eigener Zusammenfassung: „In the overall movement of spirit […] world history is itself [the] critical moment, and determines the transition from objective to absolute spirit. Spirit becomes absolute through a crisis. It is at this critical juncture or in this moment of crisis in the development of spirit as a whole – but is also in the determinate crises that successively punctuate the immanent advancement of world history – that art displays its fundamental role as a form of absolute spirit. Art’s awareness of spirit’s transitional crisis is disclosed by its poietic activity, i.e., by its capacity to shape spirit’s objective reality anew or in an alternative way through intuition, imagination, and the power of images and language while still inhabiting the reality of crisis.“ Gunther Wenz evaluiert in seinem Beitrag die Bedeutung der aktuellen kritischen Hegeledition in den „Gesammelten Werken“ für das Verständnis von Hegels Philosophie, orientiert am differenzierten Zusammenhang von „Geist“ und „Buchstaben“, in Form einer übersichtlichen Darstellung. Wenz konzentriert sich dabei primär auf die Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, wobei er nachweist, dass sich die neue kritische Edition und die früheren Editionen, die den Geist der hegelschen Philosophie über Jahrzehnte transportiert haben, zueinander durchaus in einem produktiven Ergänzungsverhältnis befinden. Entsprechend bezieht Wenz auch Stellung im Streit um das Verhältnis von Hegels „echter“ Ästhetik und Hothos hegelscher Ästhetik. Systematisch irreführend, so Wenz, sei es, diesen Streit unter der hermeneutischen Prämisse

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„System vs. Phänomen“ zu führen. Nicht zuletzt durch diese Überlegung zeigt Wenz, wie die Einordnung der Kunst in das enzyklopädische System sowie die These vom „Ende der Kunst“ präzisierend zu verstehen ist, und führt so exemplarisch eine philologisch geschulte Studie zur Scharnierfunktion der Kunst im Übergang vom objektiven zum absoluten Geist, aber auch der inneren Begrenztheit der Kunst als Gestalt des absoluten Geistes vor. Carolyn Iselt verbindet eine Erörterung von Hegels Begriff der Kunst entlang der drei Auflagen der Enzyklopädie mit der Frage nach Hegels Konzeption des absoluten Geistes und seiner drei Formen. Iselt untersucht dabei einerseits eingehend den Zusammenhang von Kunst und (Kunst-)Religion, andererseits die notorisch umstrittenen drei Schlüsse der Philosophie. Leitend ist dabei sowohl die Frage, welche genaue Funktion die Kunst (bzw. Ästhetik) in Hegels System hat, als auch die Frage, ob diese Funktion dem Phänomen der Kunst gerecht wird – oder allgemeiner: welches Verständnis von Kunst sie eigentlich impliziert. Francesca Iannelli untersucht Hegels Begriff der Bildung, insbesondere im Kontext seiner Ästhetik sowie vor dem Hintergrund entsprechender historischer Bildungsdiskurse. Iannelli zeigt, dass mit den in Hegels Ästhetik analysierten Wandlungen der Kunst Wandlungen derjenigen Art von „Bildung“, die Kunst gewähren kann, einhergehen. Der „Legende“ vom Ende der Kunst setzt sie dabei mit Hegel die Betonung einer neue Würde der Kunst in der Moderne entgegen, die mit geistiger und sodann formeller Bildung zu bezeichnen ist. So realisiert sich Kunst als humanistische Bildung im Wortsinne: „In der Moderne ist deswegen die Heiligkeit der Kunst für immer verloren, ihr Einfluss hat sich verringert, aber die Kunst, die sich an den „Humanus“ wendet, ist nicht verloschen. Es ist konsequentermaßen nur das „menschliche Element“, das in den antiken Werken die Moden und den Wandel der Sitten überlebt. Die menschliche Dimension bleibt also lebendig und unvergänglich, sie bildet uns weiterhin und tut das noch mehr in einer wenig poetischen Epoche wie der Moderne.“ Iannelli konkretisiert und aktualisiert diesen Gedanken, indem sie zum einen die durch Kunst vermittelte Bildung zur Allgemeinheit, die wesentlich im Erkennen der Begrenztheit des eigenen, besonderen Standpunktes besteht, herausarbeitet, zum anderen, damit zusammenhängend, an die immer schon intersubjektive Dimension von Kunst erinnert. Franz Knappik zufolge kann Hegel „so gelesen werden, dass Kunst, Religion und Philosophie neben den kontingenten, veränderbaren Freiheitsdefiziten einer gegebenen Gesellschaft auch prinzipielle Freiheitsdefizite des subjektiven und objektiven Geistes sichtbar machen“. Knappik motiviert diese These zunächst kontrastiv zur millenarischen Eschatologie in und um Hegels Zeit,

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exemplifiziert an Schillers politischem Programm in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, und zeigt sie sodann an der Kunst auf: In der Theorie des ästhetischen Ideals, die das Kernstück von Hegels Ästhetik bildet, wird das „heroische Handeln“ als dramatisch präsentierte Realisierung einer wirklichen und im Vollsinne freien Handlung aufgefasst, die als solche aber nur in einer noch relativ unorganisierten, der Sittlichkeit der Moderne fremden sozialen Welt möglich ist. Da der objektive Geist sich aber notwendig – und im Sinne der in seinem Rahmen möglichen maximalen Realisierung von Freiheit – zur modernen sozialen Welt entwickelt hat, lässt sich folgern, dass im heroischen Handeln eine ebenso notwendige Aporie des objektiven Geistes als solchem sichtbar wird: „[D]ie von Schiller wie von Hegel benannten Freiheitsdefizite des modernen Staats und der modernen Gesellschaft sind für Hegel nicht kontingente Einschränkungen einer gegebenen Gesellschaftsordnung, die durch eine Weiterentwicklung dieser Gesellschaft aufgehoben werden könnten. Vielmehr handelt es sich bei ihnen für Hegel um die Kehrseite einer an sich vernünftigen, notwendigen und irreversiblen Entwicklung. Dass die Realisierung des objektiven Geistes in der Geschichte diese Kehrseite hat, ist für Hegel ein strukturelles Defizit des objektiven Geistes selbst, das in dessen Rahmen prinzipiell nicht überwunden werden kann.“ Eine ästhetische Konfrontation mit dem heroischen Handeln besteht somit in einem melancholischen Bewusstsein, in welchem die Sehnsucht nach dem maximal freien Handeln in einer sozialen Welt und die Einsicht in deren Unmöglichkeit in der unsrigen zusammenkommen; derartige Melancholie ist das Korrelat der Einsicht in die prinzipielle Begrenztheit des objektiven Geistes im Hinblick auf die Verwirklichung des Geistes, nämlich der Freiheit, selbst. Kunst ist somit wesentlich Kritik des objektiven Geistes. Den zweiten Fokus des 3. Teils – zur (Philosophie der) Religion – eröffnet Georg Sans SJ. Er greift in seinem Beitrag, geleitet von Hegels Rede vom „Tod Gottes“, die „Ambivalenz“ von Hegels Verhältnissetzung von Philosophie und Religion auf, die sich bereits im Zerfall der frühen Hegelschule in einen „rechten“ und einen „linken“ Flügel zeigte. Sans liefert eine umfassende, von der frühen Jenaer Zeit Hegels über die Phänomenologie des Geistes bis hin zu den Fassungen der Enzyklopädie reichende Sichtung von Hegels Konzeption des Absoluten und seines „Andersseins“. Dadurch erbringt er den Nachweis sowohl, dass Hegel in keiner Weise ein verkappter religiöser Dogmatiker ist, als auch, dass Hegels Philosophie des absoluten Geistes dennoch nicht auf die Begriffe und Wirklichkeiten des Individuellen und Sozialen reduzierbar ist – und gerade aus diesen zwei Gründen systematisch nur dann ernst genommen wird, wenn Hegels Rede vom Absoluten nicht, wie Sans es formuliert, „antirealistisch“ depotenziert oder gar ignoriert wird.

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Erzsébet Rózsa untersucht Hegels Theorie der Liebe im reifen, enzyklopädischen System. Diese erstreckt sich dort durch alle drei Teile der Philosophie des Geistes. Rózsa zeigt auf, welches Differenzierungsniveau Hegel dadurch im Hinblick auf den Begriff der Liebe erreicht, und welche Perspektiven umgekehrt für die Frage nach dem Verhältnis des objektiven zum absoluten Geist durch die Fokussierung der Liebe eröffnet werden. In der Dimension des absoluten Geistes gilt es, die Rolle der Liebe in der romantischen Kunst gegenüber der klassischen (griechischen) Kunst hervorzuheben; in der Religion tritt insbesondere die unauflösliche Verbindung von Liebe und Negativität im Konzept der Versöhnung hervor, und damit das Signum des Geistes überhaupt. Rózsa arbeitet schließlich auch das kritisch-diagnostische Potential heraus, das in diesen Gedanken liegt: Hegel habe klar gesehen, dass die Moderne durch eine fortschreitende „Marginalisierung“ der Liebe ge(kenn)zeichnet sei. Ebenfalls zwei Beiträge widmen sich dem dritten Fokus des 3. Teils, und damit der Abschlussgestalt von Hegels Philosophie des absoluten Geistes: der (Philosophie der) Philosophie. Thomas Meyer stellt die vom Wesen der Philosophie her selbst sich aufdrängende Sachfrage, ob und inwieweit diese als (gesellschaftliche) Institution oder als etwas alle (solchen) Institutionen kategorial Transzendierendes zu verstehen sei. Meyer verhandelt diese Sachfrage jedoch nicht, indem er Hegels vermeintlich offenkundiges, einseitiges Plädoyer für die zweitgenannte Antwortoption voraussetzen und sodann freihändig kommentieren würde; vielmehr stellt er die Frage innerhalb des hegelschen Systems, um basierend auf Hegels Unterscheidung von Begriff und Vorbegriff der Philosophie zur These zu gelangen, dass Philosophie in gewissen Grenzen durchaus als Institution im Sinne Hegels – und damit als zum objektiven Geist gehörig – verstanden werden kann und muss; besagte Grenzen liegen, so Meyer, aber darin, dass Philosophie mit ihrem autonom-kritischen Potential nur dann verstanden werden kann, wenn sie nicht in einer Institution des objektiven Geistes aufgeht. Nach kritischer Auseinandersetzung mit jüngeren Lesarten Hegels, die auf die Perspektive des absoluten Geistes verzichten wollen, hält Meyer fest: „Philosophie nur als Phänomen des „objektiven Geistes“ zu betrachten, läuft Gefahr, ihr kritisches Potential zu schwächen, sie nur als eine gesellschaftlichen Zusammenhängen völlig äußerliche und selbstgenügsame Tätigkeit zu betrachten, läuft hingegen Gefahr, blind für ihre Eingebundenheit in eben solche Zusammenhänge zu sein.“ Wolfram Gobsch interpretiert Hegels Philosophie des Geistes mittels einer Analyse dessen, was Philosophie(ren) – und die Existenz Philosophierender – ist: „Was ist Philosophie? Im Philosophieren geht es um eine bestimmte Form der Klarheit über sich selbst. Zu philosophieren heißt zu fragen, „Wer bin ich?“,

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und zwar jedoch nicht, „Was unterscheidet mich von dir, von euch, und worin gleichen wir uns?“, sondern, „Wer bin ich, insofern ich überhaupt fähig bin zu fragen, wer ich bin?“ “. Diese Frage nennt Gobsch „die philosophische Frage“; da sie die Unterscheidung einer erst erstrebten von einer schon erreichten Klarheit impliziert, folgert Gobsch einen Gedanken, mit dem er in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes eindringen kann: „Das Sein der Philosophin, heißt das allgemein, ist das Sein eines Subjekts auch kontingenter Bestimmungen. Ein Wesen, dessen Sein sich in philosophischer Klarheit erschöpft, wäre folglich unmöglich.“ Gobsch legt unter Rekurs auf den Begriff der Selbstbestimmung sodann dar, dass und warum dieses Subjekt als Subjekt des Handelns gedacht werden muss, was ihn zur hegelschen Philosophie des objektiven Geistes bringt: „das Philosophieren ist die Tätigkeit eines Subjekts, das teilhat an einem gemeinsamen praktischen Leben. Das bedeutet, dass die Selbstkonstitution ­­ und Selbsterhaltung als Person im Handeln nur in der Selbstkonstitution und Selbsterhaltung einer Gemeinschaft von Personen möglich ist.“ Da die Sittlichkeit mit Hegel jedoch als „Widerspruch“ zu erkennen ist, folgert Gobsch für „die philosophische Frage“: „Zugleich aber ist die philosophische Klarheit über sich selbst auch der Grund, aus dem die Sittlichkeit überhaupt ein Widerspruch ist. Denn der Widerspruch der Sittlichkeit beruht ja auf ihrem Charakter als Selbsterkenntnis, der unserer Überlegung zufolge darauf fußt, dass das Philosophieren als Klarheit auch über seinen eigenen Fragecharakter die Identität des Ich der Philosophin mit dem Ich kontingenter Bestimmungen verlangt. Die Philosophie, die Durchsichtigkeit der Sittlichkeit für sich selbst, heißt das, ist bereits Versöhnung mit dem Widerspruch der Sittlichkeit, den sie selbst, in ihrem Fragecharakter, notwendig macht.“ Philosophieren, so Gobsch schließlich, sei nach Hegel Sterben in einem so starken Sinne, dass keinerlei praktische Anweisung aus ihr hervorgehen könne, noch stärker: „Die Philosophie, wie Hegel sie versteht, ist nichts, womit sich im Leben irgendetwas anfangen ließe.“ Der 4. Teil des Bandes fokussiert nun die Stelle in Hegels enzyklopädischem System, an welcher der Übergang vom objektiven Geist zum absoluten Geist stattfindet, und damit die entsprechenden Scharnierbegriffe der „Weltgeschichte“ und des „Weltgerichts“. Nadine Mooren, Tim Rojek und Michael Quante entwickeln in ihrem gemeinsamen Beitrag eine Lesart des § 552 der Enzyklopädie (1830). Sie geht von einigen Irritationen aus, die sich aus Hegels Unterscheidung von Phänomenbereichen qua deren Zuordnung zu kategorial verschiedenen Systemteilen ergeben. Ihre sodann entwickelte Lesart fußt auf einigen grundlegenden Überlegungen zu Hegels Geistphilosophie, vor allem der Unterscheidung

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eines Universalprinzips (‚Idee‘) von Teilprinzipien (spezifischen Ausformungen der ‚Idee‘). Angewandt auf die Frage nach dem Verhältnis des objektiven zum absoluten Geist lässt sich sagen: „‚der freie Geist bzw. freie Wille, der eine Welt hervorbringt und hervorgebracht hat, in der er seine eigene Freiheit wiedererkennen kann‘ ist das Teilprinzip des objektiven Geistes […]; schließlich ist ‚der freie Geist, der sich selbst begreift‘ […] das Teilprinzip des absoluten Geistes.“ Basierend auf dieser Grundüberlegung lautet die These: „An dieser systematischen Gelenkstelle [sc. dem § 552] soll deutlich werden, warum sich die dort behandelten Phänomene mit den Mitteln, die das Teilprinzip des objektiven Geistes – der freie Wille – bereitstellt, nicht mehr sinnvoll behandeln lassen.“ Besonderes Augenmerk wird auf ein differenziertes Verständnis dessen gelegt, was Hegel mit dem ‚Hervorgehen‘ der Religion aus der Sittlichkeit meint, indem „(i) eine methodische, (ii) eine geltungstheoretische und (iii) eine empirisch-kausale Lesart“ dieses ‚Hervorgehens‘ unterschieden werden. Nach einer darauf basierenden Beleuchtung von Hegels Exposition des absoluten Geistes, der als „Selbstverständigungspraxis“ begriffen wird, wenden sich Mooren/Rojek/Quante noch einmal den eingangs genannten Irritationen zu und kommen auf Basis ihrer differenzierten Lesart zum Schluss, dass gerade die von Anbeginn an notorisch umstrittene „Religionsfrage“ (samt der Spaltung in Links- und Rechtshegelianismus) vom hegelschen Text her allein nicht entschieden werden kann. Yoichi Kubo erschließt Hegels Unterscheidung des absoluten und objektiven Geistes sowie sein Konzept des Hervorgangs des absoluten aus dem objektiven Geist in werkhistorischer Perspektive, anhand der entwickelnden Darstellung eines in sich differenzierten Problemkomplexes, an welchem Hegel sich mit teils primär staatsphilosophischem Interesse schon in seiner Frankfurter und Jenaer Zeit abgearbeitet hat. Einen besonderen Fokus legt Kubo dabei auf die Erläuterung der irritierenden These Hegels aus der Enzyklopädie von 1830 (§ 554), dass man die Sphäre des absoluten Geistes insgesamt als „die Religion“ bezeichnen könne. Herman van Erp widmet sich der Frage, wie Hegels emphatische Betonung des absoluten Rechtes der Weltgeschichte, in der der Standpunkt der Moralität und ihres Rechts aufgehoben ist, mit seiner ebenso emphatischen Betonung des Selbstzweckcharakters und der unendlichen, subjektiven Freiheit von Individuen zu vereinbaren ist. Ausgehend von vorbereitenden Überlegungen zur Phänomenologie des Geistes, insbesondere zum dort entwickelten Verhältnis von Freiheit als religiösem Versöhnungsbewusstsein und staatlich-welthistorischer Realisierung von Freiheit, diskutiert van Erp die erwähnte Frage zunächst anhand Hegels Begriff der weltgeschichtlichen Individuen. Ausgehend davon kann van Erp zeigen, in welchem differenzierten, aber nicht-depotenzierten

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Sinne Hegel trotz der Aufhebung des Standpunktes der Moralität von individueller Freiheit und Freiheit des Gewissens sprechen kann. Diese Interpretation entwickelt van Erp schließlich in vergleichender Perspektive mit Kants autonomer Moral- und Gewissenskonzeption, wobei er die doxographisch gewöhnlich gewordene und von Hegels bereits selbst inszenierte Konfrontation Kants und Hegels durch Hervorkehrung bedenkenswerter sachlicher Konvergenzpunkte unterläuft, insbesondere die Idee des ewigen Friedens betreffend. Andreas Arndt argumentiert, dass bei Hegel sowohl von einer Vollendung des objektiven Geistes im absoluten Geist als auch von einer Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist die Rede ist und sein muss. Arndt diskutierte beide Vollendungsprozesse in ihrem Verhältnis zueinander. Daraus geht, so Arndt, klar hervor, dass die junghegelianischen, bis in die heutigen Debatten hineinreichenden Vorwürfe über eine „Abgeschlossenheit“ des Systems unzutreffend sind; sie sind als einseitige Fixierung auf den erstgenannten Vollendungsprozess zu entlarven. Auch das von Adorno vermeintlich gegen Hegel mobilisierte Nichtidentische, als Bedingung der Möglichkeit aller echten Kritik, ist, so Arndt, bei Hegel selbst zu finden, sofern man „die Komplexität des hegelschen Geistbegriffs“ sowie desjenigen der „absoluten Idee“ hinreichend durchdringt und würdigt. Auch für das vieldiskutierte Verhältnis der (hegelschen) Philosophie zur Religion ergeben sich Konsequenzen: Bei Hegel, so Arndt, sei gemäß der zweitgenannten Vollendungsbewegung von einer „Selbstsäkularisierung der Religion“ zu sprechen, die jedoch keinesfalls deren Ende bedeutet – ebensowenig wie dies umgekehrt für die Philosophie gilt: „Die Philosophie, so scheint es, sakralisiert sich in einer gegenläufigen Bewegung zur Selbstsäkularisierung der Religion selbst in der Akademie als säkularer Kirche. Tatsächlich aber ist die Philosophie mit ihrer Vollendung nicht am Ende.“ Denn, so Arndt weiter, auch wenn es nicht im Kompetenzbereich der Philosophie liegt, unmittelbar praktisch zu sein, lässt sich von ihr mit Hegel sehr wohl sagen: „Aufgabe der Philosophie ist es gerade, die sich wandelnde Realität immer wieder auf den Begriff zu bringen und am Maßstab des vollendeten Begriffs der Freiheit zu messen. Mit anderen Worten: sie ist ihrem Wesen nach kritisch. Der absolute Geist vollendet sich im objektiven Geist nach Maßgabe des objektiv Möglichen als Realisierung der Freiheit durch theoretische und praktische Kritik.“ Günter Zöller erschließt, systematisch wie historisch vorgehend, diejenigen inneren Sachzusammenhänge, die Hegel unter den Begriffen des objektiven und absoluten Geistes erörtert, mit einem bestimmten Fokus: dem „Verhältnis des Geistes zu den formellen und informellen Gesetzen seiner Entfaltung und Entwicklung, deren Wirksamkeit Hegel unter den Begriff der Sittlichkeit bringt“. Zöller rückt somit einen gewichtigen Begriff der politischen

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Philosophie, den des „Gesetzes“, in den Mittelpunkt seiner Betrachtung und bindet Hegels Geistphilosophie somit in einen an Hegel oft übersehenen Diskurszusammenhang ein. Auf Basis einer anfänglichen Profilierung von Hegels Geistbegriff im Allgemeinen zeigt Zöller dessen von vornherein angelegte soziale Dimension auf. Als besonderes Proprium von Hegels Explikation dieser Dimension kann, so Zöller weiter, dessen Abkehr von romantisierenden Klassizismen gelten, die Voraussetzung für Hegels spezifisch „moderne[] Philosophie des Geistes, die ineins eine Philosophie des modernen Geistes zu sein hat“, ist. Diesen Modernefokus buchstabiert Zöller detailliert aus, um sodann dessen hegelsche Zuspitzung in zwei weiteren Schritten zu plausibilisieren: zum einen die bisweilen unterbetonte historische Dimension auch des absoluten Geistes, die dessen den objektiven Geist überschreitenden Charakter keineswegs unterminiert, zum anderen Hegels eigentümlich in den Übergang vom objektiven zum absoluten Geist eingeflochtene Einlassungen zum Verhältnis von Staat und Religion. Deren von Hegel „reklamierte substantielle Identität“, so Zöller, sei nicht antimodern, sondern als „in Gestalt einer spezifisch modernen Sittlichkeit“ einzulösend zu verstehen, welche ihrerseits nur durch die gedankliche, mithin philosophische Durchdringung des Staates und der Religion – im Bewusstsein ihrer jeweiligen Geschichte – gegeben sei. Der 5. Teil des Bandes soll Hegels Konzeption des objektiven und absoluten Geistes durch Kontextualisierung weiter beleuchten. In ihm ist es also um eine Perspektive „vor, um und nach Hegel“ zu tun. Vittorio Hösle zeigt in einer historisch weit – von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit hinein – ausgreifenden Untersuchung die Idee und den Anspruch enzyklopädischen Philosophierens auf. Dabei orientiert er sich an der instruktiven Metapher des „Baumes des Wissens“. Im Einzelnen diskutiert Hösle hauptsächlich die antiken Versuche von Akademie und Peripatos, die mittelalterlichen Theoriebildungen von Bonaventura („De reductione artium ad theologiam (Die Zurückführung der Künste auf die Theologie)“) und Lullus („Arbor scientiae (Baum der Wissenschaften)“), den (früh-) neuzeitlichen Entwurf von Bacon („Of the Proficience and Advancement of Learning, Divine and Human“) im Vergleich zu d’Alembert sowie schließlich die laut Hösle letzten großen Systematisierungs(ent)würfe, Hegel und Comte, die in sehr verschiedene Richtungen weisen. Hösle verbindet seine historisch angelegte Untersuchung mit einer daraus sich ergebenden systematischen Aufgabe, die er anhand der Metapher von „Baum des Wissens“ in kritischer Absicht so ausdrückt: „Kein Baumpfleger jedoch sollte vergessen, dass alle Arbeit des Pfropfens tief verdorben ist, die den endgültigen Baum von jeder nennenswerten Verbindung mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse

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abkapselt – eine Verbindung, die irgendwann einmal den Prozess der Menschwerdung in Gang gebracht hat.“ Rolf-Peter Horstmann zeichnet das Profil von Hegels Kant-Kritik nach und kommt zu dem Ergebnis, dass „Kant-Kritik unter dieser Perspektive […] Kampf gegen das neuzeitliche philosophische Weltbild und seine Grundlagen“ sei. Ein Ausdruck dieses „Kampfes“ ist, so Horstmann, das hegelsche Diktum, die kantische Philosophie würde den Standpunkt der Sittlichkeit zerstören. Wie aber, so Horstmanns Fragestellung, kann eine derartige Fundamentalkritik mit Hegels These, jede Philosophie sei Ausdruck der Vernunft, zusammengehen? Zur Beantwortung dieser Frage greift Horstmann auf die Profilierung des Begriffs der Sittlichkeit beim frühen Jenaer Hegel zurück – und auf Hegels Philosophiebegriff, wie er sich sodann in der enzyklopädischen Philosophie des absoluten Geistes ausgeführt findet. Eine Zusammenführung dieser Stränge führt, so Horstmann, auf folgendes Resultat: „Wenn und solange Hegel seine eigene Position Ernst nimmt, hat er eigentlich keine Möglichkeit, seine Kritik an Kants politischer Philosophie, wie in der angeführten Stelle formuliert, in eine partielle Anerkennung des kantischen Ansatzes umzudeuten. Eine solche Anerkennung ist durch seinen Philosophiebegriff ausgeschlossen, der vollständig unverträglich ist mit allen philosophischen Modellen, die nicht auf die hegelsche Konzeption von Vernunft und Wirklichkeit setzen.“ Die These, dass Kant den Standpunkt der Sittlichkeit verunmöglicht habe, in welcher Hegel zufolge das Vernünftige ja zuallererst wirklich und mit welcher somit erst die Wirklichkeit thematisierbar ist, impliziert schließlich etwas wirklich Brisantes: „Dieser Vorwurf besagt ja, dass die kantische Philosophie die “eigentliche” Wirklichkeit nicht in den Blick bringen kann. Es ist dieser Vorwurf, der Hegels Kant-Kritik brisant macht, weil er mit dem Anspruch verbunden ist, die “wahre” Welt allererst entdecken zu müssen. Hegels Diktum von Kant als dem Zernichter der Sittlichkeit hat daher nicht nur eine polemische Bedeutung, es vergegenwärtigt vielmehr direkt und eindrücklich das philosophische Programm Hegels.“ Pirmin Stekeler-Weithofer kommentiert Hegels Enzyklopädie mitsamt ihres Differenzierungspotentials vor allem im Hinblick darauf, welche unverzichtbaren, aber weitgehend in Vergessenheit geratenen Einsichten sie für das Verständnis unserer selbst als personaler Subjekte in unserer dafür konstitutiven Teilhabe an verschiedenen Praktiken bereithält. Jeder Versuch dieses Verständnisses ist, so Stekeler-Weithofer, der Versuch des Verständnisses der „unbezweifelbar als gegeben anzuerkennenden großen Tatsache personalen menschlichen Lebens“. Stekeler-Weithofer zeichnet kritisch ein umfassendes Panorama von Typen irreführender Objektivationen dieser

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Tatsache oder – subjekt- wie weltzentrierter – Reduktionismen derselben; in Auseinandersetzung damit entwickelt er Hegels dagegen gerichtete sinnkritische Einsichten paradigmatisch, ein undogmatisches Verständnis hegelscher, spekulativer, enzyklopädischer Philosophie voraussetzend: „Die skizzenhaften Merksätze in Hegels Enzyklopädie des Systems der theoretischen und zugleich logisch-methodisch selbstbewussten Wissenschaften stehen dann erstens in der ironisch-souveränen Tradition der Gnomen eines Heraklits, weisen zweitens ganz offenbar auf heutige Handouts für Studierende mit ihren ‚Thesen‘ voraus.“ Dem absoluten Geist erkennt Stekeler-Weithofer das Proprium zu, eine Art Maximalform des sich-explizit-Konfrontierens mit der großen Tatsache unserer personalen Existenz zu sein, „das (Selbst-)Bewusstsein der Con-Scientia, des Mit-Wissens um die große Tatsache, dass wir Menschen geistige Wesen, also personale Subjekte sind, und der praktischen, durchaus auch emotionalen Haltung zu dieser Tatsache. Religion, Kunst und Philosophie sind dabei drei grundsätzliche Formen, gemäß welchen wir uns explizit und damit zumindest partiell bewusst zu uns selbst verhalten. Indem wir dies tun, sind wir selbst der absolute Geist im Vollzug.“ Pirmin Stekeler-Weithofers analytisch informierter Beitrag leitet sodann auch zum 6. Teil über, der den Band beschließt. In ihm ist das „nach“ aus dessen Titel betont und im Lichte der analytischen Philosophie realisiert. Christian Georg Martin legt eine Deutung von Hegels Philosophie des absoluten Geistes vor, indem er Hegels Auffassung von Kunst, Religion und Philosophie als Formen der Erkenntnis systematisch expliziert. Martin zeigt in einem analytischen Gedankengang zunächst, „dass sich der Wahrheitsbegriff in letzter Instanz regressfrei nur an solchen Typen geistiger Aktivität erläutern lässt, die ihre objektive Verbindlichkeit – im Unterschied zu empirischer und praktischer Erkenntnis – rein aus sich beziehen“. Das bedeutet, dass sich der in den uns primär geläufigen Formen von Erkenntnis immer schon in Anspruch genommene Wahrheitsbegriff nicht an diesen selbst erläutern lässt. Dass wir über ein Verständnis des Wahrheitsbegriffs verfügen, impliziert also, dass es wirklich solche Formen von Erkenntnis geben muss, die ihre objektive Verbindlichkeit rein aus sich beziehen. Als solche können, wie Martin zeigt, die drei Formen des absoluten Geistes – Kunst, Religion und Philosophie – verstanden werden, die sodann im Hinblick sowohl auf ihre jeweilige Eigenför­ migkeit als auch Formverwandtheit untereinander thematisiert werden. Sebastian Rödl geht von dem Gedanken aus, dass empirisches Urteilen objektiv und selbstbewusst ist. Die sich daraus ergebende Spannung, so Rödl, ist eine scheinbare: „Es muss bloßer Schein sein, dass die Objektivität des Denkens

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darin besteht, dass das, was gedacht wird, etwas anderes ist als der Akt, in dem es geurteilt wird.“ Vielmehr ist Selbstbewusstsein dasjenige, was die Objektivität des Urteils konstituiert. Das aber bedeutet, wie Rödl weiter aufzeigt und in Auseinandersetzung mit Frege, McDowell und Burge entwickelt, dass das Urteil „der Gedanke seiner selbst als gültig“ ist. Das empirische Urteil entspricht diesem Begriff jedoch nicht, denn: „[J]edes empirische Urteil bedarf eines Grundes, da das Bewusstsein seines Grundes nicht immer schon im Urteil selbst enthalten ist. Empirisches Urteilen kann sich nicht durch sich selbst begreifen.“ Daraus folgt, weiter geführt, zweierlei: Zum einen, dass „empirische Erkenntnis […] nur durch ihre Beziehung zu Erkenntnis, die nicht empirisch ist und keinen anderen Gegenstand hat als sich selbst, als Erkenntnis begreiflich“ ist. Zum anderen, dass „empirisches Urteilen, insofern es empirisch ist, als Urteilen defizitär [ist]. Das empirische Urteil, als empirisch, widerspricht dem, was es ist: Urteil. Das empirische Urteil ist ein Widerspruch.“ Beides zusammengedacht ergibt, dass im empirischen Urteil, qua Selbstbewusstsein, dessen Widersprüchlichkeit immer schon mitgedacht und, in diesem Sinne, dessen Grenze immer schon überschritten ist: Es wird „diese Beziehung [sc. zu nicht-empirischer Erkenntnis] innerhalb der empirischen Erkenntnis verstanden, was bedeutet, dass empirische Erkenntnis immer schon absolute Erkenntnis ist und sich immer schon als solche begreift.“ Andrea Kern schließlich entwickelt mit Hegel ein Verständnis von Bildung, das sich von demjenigen McDowells markant unterscheidet: „Durch die Arbeit der Bildung verwandelt sich das Individuum in der Tat. Doch die Verwandlung, die das Individuum durchläuft, indem es die Arbeit der Bildung vollzieht, besteht nach Hegel nicht in der Verwandlung eines Individuums, das zunächst ein bloß sinnliches Wesen ist, in ein Individuum, das nun zu einer metaphysisch neuen Art gehört. Es ist vielmehr die Verwandlung eines Individuums, dessen Tun und Dasein eine selbstbewusste Lebensform in „unmittelbarer, natürlicher“ Weise verwirklicht, in ein Individuum, das diese Lebensform in „geistiger“ Weise verwirklicht.“ Die Möglichkeit, die Verwandlung des Individuums qua Bildung so zu verstehen, eröffnet sich jedoch nur, wenn Selbstbewusstsein, als Form besagter Lebensform, anders verstanden wird, als dies bei Kant und McDowell der Fall ist. Ein solches anderes Verständnis von Selbstbewusstsein hat Hegel entwickelt. Die Differenz zwischen Hegel und McDowell, im Hinblick auf das Verständnis von Selbstbewusstsein, lässt sich nach Kern präzise als Differenz ihrer jeweiligen Kantkritik auf den Begriff bringen: Während McDowell zufolge Kants Scheitern dadurch überwunden werden kann, dass begriffen wird, „wie das Urteilsvermögen eine Einheit sein kann, die von einem Vermögen der Sinnlichkeit abhängt“, erfordert dies

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Hegel zufolge mehr, nämlich „zu begreifen, wie das Urteilsvermögen eine Einheit sein kann, die von einem Akt der Sinnlichkeit abhängt“. So, und nur so, kann Selbstbewusstsein als zugleich a priori und sinnlich gedacht werden. Die Entfaltung dieses Gedankens anhand des Begriffs der Lebensform, den er von sich aus in sich integriert, zeigt, dass es sich bei diesem Gedanken nicht um einen Widerspruch handelt: „Dieses Lebensformbewusstsein ist in einem vollends kantischen Sinne ein apriorisches Bewusstsein: Es ist ein Bewusstsein, das ein Individuum nicht durch Erfahrung rechtfertigen kann, da es die Bedingung der Wirklichkeit des Tuns und Daseins eines Individuums ist, das eine selbstbewusste Lebensform verwirklicht. In diesem Sinne ist es notwendig und allgemein. Da dieses Bewusstsein aber in nichts anderem als im Selbstbewusstsein eines solchen Individuums besteht, ist es zugleich irreduzibel an das Bewusstsein eines solchen Individuums gebunden.“ Im Rahmen dieser Konzeption einer selbstbewussten Lebensform, und nur in ihr, ist Bildung – mit Hegel – als „immanentes Moment des Absoluten“ zu fassen. Das bedeutet, dass die Bildung eines Kindes zu einem Erwachsenen nicht als Transformation von einer metaphysischen Art zur anderen zu verstehen ist, sondern als zunehmend vergeistigende Entwicklung innerhalb ein- und derselben Lebensform, deren Form, immer schon, Selbstbewusstsein ist. Danksagung Es gibt einigen Dank und einige sehr persönliche Worte, die wir an das Ende dieser Einleitung stellen wollen. Zunächst wollen wir Paul Cobben, dem Herausgeber der Reihe CSGI, sehr herzlich für die Aufnahme unseres Bandes in diese Reihe danken. Daran schließt sich ein noch größerer Dank an ihn, als Kollegen und Freund, für die zahllosen philosophischen Debatten und persönlichen Gespräche an, die eine wichtige Rolle in der Vorgeschichte dieses Bandes gespielt haben. Die Geburtsstunde dieses Bandes war eine mehrtätige Diskussion zu objektivem und absolutem Geist bei Hegel in Amsterdam, an der neben Paul Cobben und uns beiden auch Erzsébet Rózsa teilgenommen hat. Auch ihr gebührt großer Dank für ihre kollegiale und freundschaftliche Art – und ihre unverzichtbare Beteiligung an den erwähnten Gesprächen, die bei der Entwicklung des Bandes nachhallten. Weiter danken wir dem Brill-Verlag, vor allem in Person von Meghan Connolly und Judy Pereira, für die ausgezeichnete und entgegenkommende Zusammenarbeit, die wir für alles andere als selbstverständlich halten. Gerade

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ein so umfangreiches Buchprojekt bedarf einer professionellen und flexiblen Begleitung durch einen Verlag, die bei Brill durchwegs gegeben war. Nicht zuletzt ist den Autorinnen und Autoren für ihre inspirierten, ausgezeichneten Beiträge sehr herzlich zu danken, außerdem für die gute, geduldige, gelungene Kooperation. Wie gut sie war, lässt sich daran ersehen, dass der ursprüngliche Publikationszeitplan ohne größere Probleme beibehalten werden konnte – und dies in Anbetracht der doch großen Menge an Beiträgen. Der Band schließt, wie oben dargestellt, mit einem Beitrag von Andrea Kern, der dem hegelschen Verständnis der Bildung als „immanentem Moment des Absoluten“ gewidmet ist. Bildung in diesem grundlegend-umfassenden Sinne ist die Voraussetzung dafür, überhaupt in die privilegierte Position zu gelangen, einen solchen Band herausgeben zu können. Man muss zuerst dieses „immanente Moment des Absoluten“ – Bildung – erfahren haben, um solche Begriffe sodann einmal in einem Band wie diesem theoretisch traktieren zu können – ja, um überhaupt erst irgendetwas Sinnvolles tun zu können. Wir widmen diesen Band deshalb denjenigen vier Menschen, die den entscheidendsten Beitrag zu unserer Bildung geleistet und den Grund für alles Weitere gelegt haben, in unsagbar großer Dankbarkeit und liebevoller Verbundenheit: unseren Eltern Günter und Edith Oehl sowie Thomas und Hanneke Kok. München/Tilburg, im Dezember 2017 Thomas Oehl und Arthur Kok

Hegels Begriff des absoluten Geistes Hans Friedrich Fulda Wer fast nichts kennt von Hegels Philosophie, weiß wahrscheinlich doch, dass darin Kunst, Religion und Philosophie als absoluter Geist bezeichnet werden und dass Hegel diesen Geist unterscheidet von einem zuvor abgehandelten objektiven sowie einem noch früher thematisierten subjektiven Geist. Bekannt ist auch weithin, dass die einzige systematische Abhandlung dieses Ganzen nicht von Kunst, Religion und Philosophie überhaupt handelt, sondern speziell von der klassischen griechischen Kunst, der christlichen Religion und der neuzeitlichen europäischen Philosophie, die Hegel in seinem eigenen philosophischen Programm münden sieht. Was aber soll diese Konzentration auf je eine exemplarische Gestaltung von Kunst, Religion und Philosophie? Das wird im Folgenden nicht das Hauptthema sein. Denn es führt nicht auf den Begriff des absoluten Geistes, sondern betrifft erst die Entwicklung dieses Begriffs. Was aber macht den Unterschied des absoluten Geistes vom objektiven (und vom subjektiven) Geist aus? Warum besteht hier in Hegels Augen eigentlich ein grundsätzlicher Unterschied? Gibt es überhaupt einen absoluten Geist, und wenn „ja“: wodurch können wir uns davon überzeugen? Darüber erfährt man selbst in umfangreichen Darstellungen der hegelschen Geistphilosophie so gut wie nichts. Man vergleiche z.B. die über 550 Seiten umfassenden 28 einschlägigen Kapitel der Hegelmonographie von Kuno Fischer! Mit der neueren Hegel-­Literatur steht es in dieser Hinsicht nicht besser: Fast die einzigen, die den Gehalt und Anspruch von Hegels Philosophie des absoluten Geistes heutzutage einigermaßen ernst nehmen, befassen sich damit als christliche Theologen oder weil sie aus christlicher Glaubensüberzeugung philosophieren. Sie haben also überwiegend, wenn nicht ausschließlich, Interesse an Hegels Deutung der christlichen Religion. Das bringt mit sich, dass man Argumente gegen einen „Finitismus“ des Geistes, der ohne die Behauptung eines unendlichen Geistes auskommen möchte, hier vergeblich sucht. Wer etwas schon weiß, und sei’s im Glauben, für den werden Gründe, aus denen man es erkennen kann, ziemlich witzlos. Er will es immer tiefer verstehen1, kann sich damit aber auch begnügen. 1  Am weitesten scheint mir darin Michael Theunissen 1970 gekommen. Seine Monographie macht sämtliche 25 Paragraphen der encyclopädischen Philosophie des absoluten Geistes, die meisten davon sogar einen nach dem anderen, zum Gegenstand einer über 200 Seiten umfassenden Exegese. (103–322) Doch Hegels Gründe für den Fortgang philosophischen

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_003

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Ohne die Interessen philosophischer Deutung des christlichen Glaubens hat Hegels Lehre vom absoluten Geist (als solchem) derzeit fast keinen Kredit mehr. Das gilt nicht nur für die marxistischen und postmarxistischen Erben Hegels. Wie Jürgen Habermas jüngst treffend festgestellt hat2, besteht unter den zeitgenössischen Hegel-Spezialisten der USA die Neigung, den Begriff absoluten Geistes zu „deflationieren“ zu demjenigen eines die ganze Menschheit einbeziehenden Grundes für intersubjektive Identitäten. Der absolute Geist wird dem objektiven Geist einer gemeinsamen Lebensform assimiliert. Habermas ist fern davon, dem in der Sache entgegenzutreten. Er besteht nur darauf, dass damit eine ausdrückliche Hegel-Kritik verbunden werden muss. Auf deren wichtigste Punkte wird noch einzugehen sein3. Zuvor aber Denkens vom objektiven zum absoluten Geist werden darin nicht wirklich aufgehellt. Es wird sogar darauf verzichtet, im Hegelischen Begriff des Geistes überhaupt die Ansätze für specifica des Begriffs eines absoluten Geistes aufzusuchen. Außer aus den vorherrschenden Interessen erklärt sich dies allerdings auch aus einer der Hauptthesen Theunissens: Hegels Philosophie des absoluten Geistes beruhe auf einem System, das durchweg geschichtsphilosophisch und desgleichen religionsphilosophisch konzipiert sei − ja sogar selber eine universale Geschichtsphilosophie und in seiner Ganzheit ebenso Religionsphilosophie. Geschichtsphilosophie sei bei Hegel gar keine besondere Disziplin. (60, 77) Wenn das Thema „Weltgeschichte“ in Hegels „Encyclopädie“ (§§ 548–552) nicht als dasjenige einer besonderen philosophischen Disziplin gilt, ist es nicht der Mühe wert zu fragen, warum die Grenzen des Gegenstandes, mit dem man es bei diesem Thema zu tun hat, überschritten werden müssen. − Einig hingegen weiß ich mich mit Theunissen hinsichtlich seiner These, Hegels „Theorie des Absoluten“ sei als Ursprungsphilosophie Emanzipationsphilosophie. (22) Auch in Verteidigung Hegels gegen den Einwand, dem Begriff des absoluten Geistes würden die Spuren seiner Herkunft aus den intersubjektiven Gestalten des objektiven Geistes abgestreift, bin ich mit Theunissen eins. Der Zusammenhang zwischen objektivem und absolutem Geist im Übergang vom einen zum anderen ist wahrlich keiner der Ausblendung aller Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit, Intersubjektivität und emanzipatorischen Interessen. 2  Habermas 1999, 217 ff. 3  Die von Habermas gegen Hegels Philosophie des absoluten Geistes erhobenen Einwände machen geltend: (1) Wir haben keinen Grund zu der Erwartung, in Ansehung der äußeren Natur lasse sich der naturwissenschaftliche „Objektivismus der beobachtenden Vernunft überwinden“. − (2) Wir können nicht aus dem „Horizont unserer Sprache und unserer diskursiven Praktiken ausbrechen“. − (3) Als einziges Modell für ein „höheres Subjekt“, dem ein höheres Wissen zugeschrieben werden kann, steht im absoluten Geist nur noch das Fichtesche „Selbst“ eines obskuren Selbstbewusstseins zur Verfügung. Hegels absoluter Geist verkörpert und perpetuiert Fichtes „Tathandlung“ des sich selbst „setzenden“ Ich. Das Zu­sich­kommen dieses absoluten Geistes wird just mit Hilfe jenes Begriffs von Subjektivität gedacht, den Hegel in seiner frühen Jenenser Zeit selber überzeugend kritisiert hat. (220–23) − (4) Die Leser, an die sich Hegel mit der Darstellung seiner Geistphilosophie wendet, sollen „konvertieren“ „zur Erkenntnis einer alles bloß Subjektive überwältigenden Macht des Geistes“,

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sollte auf ein merkwürdiges Schwanken aufmerksam gemacht werden, das an Habermas’ Einstellung zu Hegels Lehre vom absoluten Geist wahrzunehmen ist: Einerseits ist der Geist, mit dem sich eine philosophische Erkenntnislehre zu befassen hat, nach Habermas’ Überzeugung bloß ein endlicher. Das kennzeichnet die Position, die oben als Finitismus des Geistes bezeichnet wurde. Andererseits aber und ungeachtet dessen soll laut Habermas „das spekulative Interesse“ „auch nach der Metaphysik“ seine „Würde“ behalten4. Doch wer sich fragt, worin diese Würde denn bestehen mag und was sie von uns fordert, der wird nicht umhin können, sich auf Hegels Geistphilosophie näher einzulassen, als Habermas uns zumutet. Dabei wird sich schnell herausstellen, dass die Habermas’schen Einwände gegen Hegel gar nicht Hegels systematische Geistphilosophie als solche berücksichtigen, ja sogar den Begriff des absoluten Geistes völlig im Dunkeln lassen. Ein wenig genauer sollte man es mit der encyclopädischen Philosophie des Geistes bei Hegel schon nehmen, wenn der Philosophie des absoluten Geistes ihre Berechtigung begründetermaßen abgesprochen, dem spekulativen Interesse „nach der Metaphysik“ aber seine „Würde“ bewahrt werden soll. Nach dieser Devise wird im Folgenden verfahren. Zuvor aber ist Rechenschaft darüber abzulegen, warum man einen Finitismus des Geistes, wie ihn Habermas vertritt, meiden sollte.

Finitismus des Geistes?

Der endliche Geist, den wir als Menschen haben, der wir sogar sind und den wir in gewissen Hervorbringungen objektivieren können, ist der einzige Geist, den wir zweifelsfrei kennen. Warum also sollte man sich in der Philosophie, jedenfalls wenn es um epistemologische Fragen geht, nicht mit Begriffen begnügen, die diesen Geist betreffen, − und mit Behauptungen über ihn oder Präsuppositionen in Bezug auf ihn? Anderer Geist als der unsere, uns bekannte wäre dann höchstens Gegenstand nachträglicher Vermutungen. Diese Erwägung ist auf den ersten Blick sehr plausibel. Bei näherem Zusehen aber „die schicksalhaft über die Sphäre des Volksgeistes, also durch die Geschichte intersubjektiver Lebensformen hindurchgreift“. − (5) Der intersubjektivistische Ansatz des jungen Hegel liefert seinerseits keinen gewichtigen internen Grund dafür, dass man ihn zugunsten des Konzepts eines Übergangs vom objektiven zum absoluten Geist aufgibt. (224–­29) − (6) Beim Übergang zum absoluten Geist werden dem Begriff des Geistes „die Spuren seiner Herkunft aus den intersubjektiven Gestalten des objektiven Geistes abgestreift“. − Die Einwände (1) bis (6) werden mich in der Reihenfolge beschäftigen, in der sie hier angegeben sind. 4  Habermas 1999, 223.

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stellt sie sich als irreführend heraus. Mindestens sechs Gründe sprechen dagegen, sich ihr anzuvertrauen. 1. Was bekannt ist, ist damit noch lange nicht erkannt. Um es zu erkennen, bedarf man klarer und deutlicher Begriffe. Die aber erlangt man in der Philosophie anders als in den Fachwissenschaften nicht, indem man Theorien bzw. Theoreme aufstellt, sie möglichst gut miteinander vernetzt und formale Beweise für sie liefert oder wenigstens Bestätigungen − sei’s durch entsprechende, zuvor unbekannt gewesene Tatsachen, sei’s via Einbettung in eine Axiomatik. Ergebnisse solchen Vorgehens werden, wenn das Vorgehen erfolgreich war, in der Philosophie vorausgesetzt und genutzt, hingegen nicht in Konkurrenz zu den Fachwissenschaften gesucht. Aber es gibt andere Bemühungen um Erkenntnis, die der Philosophie eigentümlich sind. Sie müssen sich vor allem auf Begriffe konzentrieren, welche die Fachwissenschaften (für ihre Unternehmen wohlweislich) im Dunkeln lassen. Verlangt ist, dass man diese Begriffe bestimmt macht − durch Abgrenzung und durch Integration (ihres vernünftigen Gehalts) in Begriffe von Komplexerem; so nicht zuletzt für den Fall einer Beschränkung der Erkenntnis auf Bekanntes, was immer es sei. Dessen Begriff ist also vom Begriff seines Anderen abzuheben, und sei dies Andere auch inexistent oder von bloß problematischer Existenz. Man entlastet sich in der Philosophie mithin, wenn man sich ans Bekannte hält, nicht von der Aufgabe, zusätzlich zu seinem Begriff, sobald es den zu klären gilt, auch den Gegenbegriff zu untersuchen, und sei’s der eines Unbekannten oder Problematischen − in unserem Fall z.B. der Begriff eines unendlichen Geistes. Diesen Begriff unbestimmt zu lassen oder bloß vorauszusetzen ist einer philosophischen Erkenntnis unwürdig − nicht zuletzt, weil damit auch die Bestimmtheit für den Begriff eines endlichen menschlichen Geistes bloß vorausgesetzt und unausgemacht bleibt. 2. Wenn man sich ausschließlich an unseren endlichen Geist hält, soweit er uns bereits bekannt ist, so kann man in epistemologischer Hinsicht nicht umhin, sich für die Klärung speziellerer Begriffe auf zwei Arten von Erkenntnis zu beschränken: die theoretische, die durch Bildung von Theorien ausmacht, was der Fall ist (sei’s generell, sei’s im Einzelnen aufgrund von Gesetzen und erfüllten Anwendungsbedingungen für Gesetzesaussagen); und die praktische, die uns sagt, was (unter gewissen Normen durch willentliche Setzung und Verwirklichung von Zwecken) geschehen soll. Von beiden Erkenntnisarten ist leicht zu zeigen, dass sie sich antinomisch zueinander verhalten hinsichtlich einiger ihrer fundamentalen mentalen Bestimmungen und unter Umständen auch hinsichtlich ihrer Erfordernisse. Die Antinomieprobleme, die sich hier auftun, lassen sich innerhalb des Gegensatzes von theoretischer und

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praktischer Erkenntnis wahrscheinlich nicht lösen. Wir kommen also, auf die Alternative theoretischen oder praktischen Erkennens beschränkt, wohl nicht einmal zu einer konsistenten Exposition des Begriffs für den endlichen Geist. Oder wir müssen den Phänomenen Gewalt antun und die Bestimmungen unseres Begriffs von erkennendem Geist reduzieren zugunsten einer Definition, die einseitig die theoretische oder einseitig die praktische Erkenntnis favorisiert. 3. Wenn wir uns auf den endlichen Geist beschränken, der wir als Menschen sind, − was rechtfertigt dann eigentlich die Annahme oder gar Behauptung, dass nicht nur er der Erkenntnis auf adäquate Weise zugänglich ist, sondern auch von ihm Unterschiedenes, wie z.B. die Natur? Warum soll die Zugänglichkeit, falls sie überhaupt besteht, adäquater sein als diejenige, durch welche sich andere Arten von Lebewesen auszeichnen? Warum sollte sie, wäre sie nicht erkennbarerweise adäquater, höher zu schätzen sein als die Weisen, in denen Naturphänomene anderen Lebewesen zugänglich sind? Man sieht: Gerade indem wir unseren philosophischen Horizont verengen auf endlichen Geist, der zufälligerweise wir Menschen sind, oder diesen Geist gar von der Natur absondern (jedenfalls aber von allem, was vielleicht sonst noch Geist ist), setzen wir uns zurecht dem Verdacht einer Spezies-chauvinistischen Auffassung von Geist und Erkenntnis aus. Hingegen können wir uns von einer solchen Auffassung so fern wie nur möglich halten, wenn wir erkennend zunächst zu einem Geistbegriff gelangen, welcher der Differenz von endlichem und unendlichem Geist vorausliegt, und erst von ihm aus fortgehen zur Erkenntnis desjenigen Geistes, der wir als endliche Wesen sind. 4. Beschränkt auf die Alternative unseres theoretischen oder praktischen Erkennens können wir den endlichen Geist, der wir sind, nur als ein Seiendes (unter anderem Seienden, das von ihm verschieden ist) denken, sodass auch ein unendlicher Geist, den wir doch wenigstens als Problem denken müssen, dann nur als ein vom endlichen Geist verschiedenes Seiendes zu nehmen wäre. Damit aber wird der unendliche Geist nur noch in einer ihn verendlichenden Weise konzipiert. Denn Seiendes hat an anderem Seienden, wovon es sich unterscheidet, seine Grenze. Zudem aber macht gerade diese in sich defekte Weise, unendlichen Geist zu denken, von vornherein jeden Versuch, ihn zu erkennen, gegen leicht zu erhebende skeptische Einwände erfolglos. Der Ausgang vom Bekannten ist durch willkürliche Beschränkung also gar nicht so unvorgreiflich, wie er sich gibt. 5. Das Problem einer Philosophie des Geistes ist dessen Zusammenhang mit der Natur. Hinsichtlich seiner war die neuzeitliche Metaphysik in die größten Schwierigkeiten gekommen. Gilt es einen Dualismus von Natur und Geist zu lehren oder einen − sei’s naturalistischen, sei’s spiritualistischen − Monismus? Kein Glied dieser doppelten Alternative erlaubt eine überzeugende Position.

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Im Fall des Dualismus werden wir uns z.B. vergeblich fragen, wie und warum denn, gegeben das eine beider, das andere zu ihm hinzukommt; wie und warum die Natur als das eine von beiden der Erkenntnis seitens des anderen zugänglich sein soll und wie ein Teil der Natur − als Leib − mit einer lebendigen Vereinzelung des Geistes − als Seele − eine personale Einheit soll bilden können. Alle Versuche hingegen, unserem Freiheitsbewusstsein dualistisch gerecht werden zu wollen, setzen sich dem vernichtenden Spott Spinozas aus: sie wollen ein „imperium in imperio“ (naturae) errichten. Im Fall des Monismus aber bleibt es ein unauflösliches Rätsel, warum unsere Begriffe für Naturales und Geistiges so verschiedenartig sind und sich so dauerhaft gegen Reduktion nach der einen oder anderen Seite hin sperren. Im Fall seiner spiritualistischen Variante müssen wir uns zudem bezüglich der Frage, ob die Außenwelt real ist, zu einem Idealismus bekennen, den schon der „transzendentale Idealist“ Kant einen Skandal genannt hat und der gegen den Realismus der Naturwissenschaften nur durch fromme Hartnäckigkeit oder Reduktion der ganzen Philosophie auf einen eigensinnigen Phänomenalismus, wenn nicht gar Solipsismus, zu behaupten ist. Gegen den naturalistischen Monismus aber wird sich immer unser praktisches Selbst- und Freiheitsbewusstsein sträuben. Fazit: Wir brauchen eine Philosophie des Geistes, die sowohl der Dualität von Natur und Geist Rechnung trägt als auch zwischen beiden (und zwar ebenso für den Geist überhaupt wie, in je spezifischer Weise, für den endlichen und den unendlichen Geist, wenn es ihn gibt) einen so engen Zusammenhang zu begreifen vermag, dass man nicht von Dualismus sprechen kann wie andererseits − wegen der Dualität − auch nicht von einem Monismus − sei’s der Natur, sei’s des Geistes. Wenn Monismus, weil kein Dualismus −, dann jedenfalls weder einer der Natur noch einer des Geistes, nämlich einer der absoluten Idee. Aussicht, die Probleme zu bewältigen, in die sowohl die dualistischen wie die monistischen Konzepte geführt haben, besteht gewiss nur, wenn wir den Geist in seinem größtmöglichen Umfang berücksichtigen. Man wird diese Probleme nicht dadurch los, dass man keine Notiz von ihnen nimmt und sein Denken zu einem „nachmetaphysischen“ erklärt. Man legt diesem Denken mit einem Finitismus des Geistes lediglich Scheuklappen an. 6. Zwei der oben aufgelisteten Habermas’schen Einwände gegen Hegel lauten: (1) Der naturwissenschaftliche „Objektivismus der beobachtenden Vernunft“ lasse sich nicht „überwinden“, und (2) wir seien nicht imstande, aus dem „Horizont unserer Sprache und unserer diskursiven Praktiken“ „auszubrechen“. Wenn das triftige Bedenken gegen Hegels Konzept eines absoluten Geistes wären, so träfen sie zweifellos auch schon den Ansatz der ganzen hegelschen Geistphilosophie und wären ein wirkliches Hindernis, den Finitismus in der Philosophie des Geistes von Anfang an zu meiden. Aber die Bedenken

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beruhen, glaube ich, auf einem Missverständnis. Hegels philosophisches Denken und begreifendes Erkennen soll nicht außerhalb des Horizonts unserer Sprache stattfinden. Es vollzieht sich innerhalb davon und soll eine genuin philosophische Diskurspraktik zum Einsatz bringen, die von bereits gängigen diskursiven Praktiken aus formulier- und erreichbar ist: diejenige nämlich, in deren Ausübung das genuin philosophische Denken und Erkennen am Werk ist. Die Ausübung verlangt freilich, dass man sich mit Natur nicht nur in der Einstellung theoretischer Naturwissenschaften befasst, wie wir das ja auch sonst nicht tun: z.B. im täglichen Leben, in ästhetischer Betrachtung und in religiösen Symbolhandlungen. Aber das heißt nicht, dass man dazu die naturwissenschaftliche Einstellung in sich oder gar in der institutionalisierten Fachwissenschaft „überwinden“ müsste. Man darf die Betätigung dieser Einstellung nur nicht zum einzig vernünftigen Umgang mit der Natur und mit Natürlichem erklären. Ich sehe daher nicht, was uns vom Umgang mit der Natur her einen Finitismus des Geistes besonders empfehlen oder gar abnötigen würde. Die weiteren Einwände nämlich, die Habermas gegen Hegels Philosophie des absoluten Geistes erhebt, sind nicht stärker als die ersten beiden. Aber die Auseinandersetzung mit ihnen gehört in den Kontext des nächsten Abschnitts.

Vom objektiven zum absoluten Geist

1. Hegels objektiver Geist versteht sich (im Unterschied zu demjenigen Diltheys5) nicht als Objektivation und intersubjektives Dasein irgendwelchen geistigen menschlichen „Lebens“, sondern viel spezifischer als Zwecktätigkeit desjenigen freien Willens, welcher sich das Dasein seiner Freiheit zum Zweck gemacht hat. Allerdings ist die Freiheit dieses Willens in ihrer Tätigkeit der Zweckverwirklichung bezogen auf intersubjektive Verhältnisse von Willenstätigkeiten, die andere Zwecke verfolgen, wie auch auf intersubjektive Bewusstseinshorizonte und anthropologische, letztlich bedürfnisabhängige Relationen zwischen individuellen geistigen Subjekten. Aber nicht schon solche intersubjektiven geistigen Bezüge machen den objektiven Geist als solchen (und seine „Objektivität“) aus. Konstitutiv ist hier vielmehr erst die zusätzliche Bestimmung, dass sich in den Bezügen der seine Freiheit bezweckende Wille (eines eben dadurch freien Geistes) objektiviert hat, sodass seine Freiheit damit in Form von Notwendigkeit gegeben ist für geistiges, individuell­menschliches 5  Dilthey 1992, S. 150 ff.

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und zwischenmenschliches Leben6. Der subjektive Geist geht der Objektivierung als Ausgangspunkt sowie äußerliches Material voraus. Ebenso wie er ist auch der objektive Geist, so verstanden, relativ auf etwas, das sein Anderes ist: eine als selbständig vorausgesetzte Natur. Im Unterschied aber zum subjektiven Geist bezieht sich der objektive in diesem Reflexionsverhältnis aktiv gerade auch auf das so vorausgesetzte Andere und nicht mehr nur auf sich selbst: Er setzt in dieser aktiven Beziehung die Natur als seine Welt7. Natürlich aber ist er auch in dieser komplexen Aktivität ebenso wie der subjektive ein endlicher Geist8: Er hat seine Schranke an der als selbständig vorausgesetzten Natur. Von diesen Bestimmungen des subjektiven und des objektiven Geistes aus kann man gut verstehen, was der Ausdruck „absolut“ im Terminus absoluter Geist primär besagt: Im Unterschied zu einem subjektiven oder objektiven, also wegen der genannten Voraussetzungen endlichen Geist ist ein absoluter Geist nicht mehr relativ zu einer ihm vorausgesetzten Natur, sondern davon abgelöst; und nicht mehr relativ auf die eine oder andere Seite des Gegensatzes von bloß subjektivem und bloß objektivem Geist, sondern auch von diesen einseitigen Beziehungen abgelöst. Aber das kann vorläufig vielerlei heißen: z.B. abgelöst von der Natur oder von ihrem Vorausgesetztsein; abgelöst von der einseitigen Relation zu subjektivem oder zu objektivem Geist durch eine doppelte Relation oder durch etwas anderes als bloße Relation, nämlich Einheit mit beiden Relaten; abgelöst vom einen oder anderen bloß durch Abstrahieren und Wegwerfen dessen, wovon abstrahiert wurde, oder aber durch Einheit des sich Ablösenden mit einem Umfassenderen, in welchem die Natur nicht mehr bloß vorausgesetzt, in welches sie vielmehr (zusammen mit dem endlichen Geist und seinen Relationen zu ihr) integriert ist; kurz: abgelöst nur in der Bedeutung „losgemacht von […]“ oder in der Bedeutung „frei gemacht zu […] und vollendet“. Es wird gerade darauf ankommen, durch methodisch geregelten Fortgang des Denkens vom objektiven zum „absolut“ genannten Geist auszumachen, was „absolut“ hier des Näheren heißt und warum im Denken zu einem weiteren Begriff des Geistes − zusätzlich zu dem des subjektiven und des objektiven Geistes − fortgegangen werden muss. Längst vor dem Übergang vom objektiven zum absoluten Geist kann man sehen, dass ein „Ablösungsprozess“ wie der mit dem Ausdruck „absolut“ zu denkende unter dem hegelschen Begriff des Geistes überhaupt in der einen oder anderen Bedeutung möglich ist. Um die Begründung wenigstens anzudeuten: Der Geist wird durch spekulatives Begreifen in terminis der absoluten Idee 6  Hegel, GW 20, §§ 482–484. 7  G W 20, § 384. 8  G W 20, § 385.

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als absolut Erstes der Natur erkannt. Er hat gemäß dieser Erkenntnis die Natur also nicht in jeder Hinsicht zu seiner Voraussetzung. Er ist ferner ein „SubjektObjekt“, nämlich (in der hegelschen Terminologie) die „zu ihrem Fürsichsein gelangte“ absolute Idee, „deren Objekt [ihres Sich-Darstellens] ebensowohl als das Subjekt der Begriff ist“9. Er steht als solches Subjekt-Objekt gewiss nicht von vornherein wie ein selber Einseitiges in einseitiger Beziehung − sei’s zu einem bloß subjektiven, sei’s zu einem bloß objektiven Geist. Zu seinen grundlegenden begrifflichen Bestimmungen gehören verschiedene Weisen von Offenbarmachen (δηλόειν), durch die Erkenntnis allererst ermöglicht wird; und unter ihnen ist auch ein Offenbaren „im Begriff“. In diesem „Offenbaren“ wird die Natur ausdrücklich nicht mehr vorausgesetzt. Sie wird darin vom Geist, der ja das absolut Erste im Verhältnis zur Natur ist, „erschaffen“ als Sein des Geistes, in welchem sich der Geist die Affirmation (also Bekräftigung) und Wahrheit (also Übereinstimmung mit sich) seiner Freiheit gibt. So mag es wohl sein, dass der Geist freigemacht wird (absolvitur) von jenen Relativitäten, die den endlichen, subjektiven und objektiven Geist auszeichnen. Wenn irgend etwas, so ergibt dies bei Hegel das „Modell für ein höheres Subjekt“, dem schließlich ein höheres Wissen als dasjenige bloß endlichen Geistes zugeschrieben werden kann. Doch ganz im Gegensatz zu Habermas’ Behauptung steht dafür durchaus nicht das fichtesche „Selbst“ eines obskuren Selbstbewusstseins Pate − oder Fichtes „Tathandlung“ des sich „setzenden“ Ich. Dass Hegel nur dies zur Verfügung stehe, war ein weiterer (nämlich (3)) der Habermas’schen Einwände. Wer das „höhere Subjekt“ und sein Wissen ausfindig machen, aber auch feststellen will, was das spekulative Denken nötigt, vom objektiven Geist aus zu diesem Subjekt und Wissen fortzugehen, der sollte sich vor einem Missverständnis hüten, das Habermas zu dem Einwand verleitet, man müsse, um vom objektiven zum absoluten Geist zu gelangen, (4) nach Hegel „konvertieren“ (also eine Art religiöse Bekehrung vollziehen) zur Erkenntnis einer Macht des Geistes, die „alles bloß Subjektive überwältigt“ und zudem „schicksalhaft“ über die Sphäre des Volksgeistes hinweg durch die Geschichte intersubjektiver Lebensformen hindurchgreife. Die „Konversion“10 wird uns angeblich von Hegel abverlangt, um das Vertrauen zu tragen, dass die Geschichte im Ganzen der Vernunft unterworfen und die sittliche Wirklichkeit der modernen Welt „ohne unser Zutun“ im Begriff ist, vernünftig zu werden. Dieses geschichtsphilosophische Vertrauen wiederum soll Hegel deshalb nötig scheinen, weil eine Kultur, die sich auf dem Weg der Revolutionierung von 9   GW 20, § 381. 10  Sie wird bei Habermas auch „Konstruktion“ eines Übergangs vom objektiven zum absoluten Geist genannt.

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Staat und Gesellschaft neue Grundlagen schaffen will (wie Protagonisten der Französischen Revolution es wollten), sich selbst überfordern würde11. Daran ist fast kein wahres Wort. Aber das vorliegende Thema erlaubt es hier nur anzudeuten, was nicht stimmt: Zum einen bringt Habermas mit dem „weil“ und „um zu“ die Ordnung der Erkenntnisgründe in der hegelschen Philosophie der Sittlichkeit völlig durcheinander12. Zum anderen bedarf es gar nicht der „Konversion“, für die sich Habermas die erwähnte, angeblich hegelsche Begründung zurechtlegt. Es geht nämlich hier gar nicht um Erkenntnis einer „alles bloß Subjektive überwältigenden Macht“ (des Geistes). Weder der schlechthin allgemeine sittliche Geist, „Weltgeist“ genannt, noch der absolute Geist ist eine solche Macht. Wie könnte der Weltgeist andernfalls objektiver Geist, also Objektivation freien subjektiven Geistes sein, der Begriff des absoluten Geistes aber bereits im freien Geist bestehen13? Die Macht schließlich, welche der Weltgeist in der Tat ist, übergreift die Sphären der Volksgeister gerade nicht „schicksalhaft“. Geschweige denn kann dies vom absoluten Geist gesagt werden, der ja vom Weltgeist aus (als Ergebnis eines Loslösungsprozesses) zu denken ist, aber ihm nicht wie ein Schicksal in die Parade fährt. Genug der Polemik! Man muss Habermas zugute halten, dass der Gedanke, der über den objektiven zum absoluten Geist hinauszugehen nötigt, von Hegel in einen einzigen Paragraphen zusammengezwungen wird, der wahrlich nicht leicht zu verstehen ist. 11  Habermas 1999, 226 ff. 12   An der Französischen Revolution wird von Hegel nicht verurteilt, dass sich ihre Protagonisten mit der revolutionären Selbstkonstitution einer Kultur „überfordert“ haben, sondern dass die „Kultur“, die mit ihren Abstraktionen allenfalls zustande zu bringen war, keine sittliche sein konnte. Aber selbst wenn eine sittliche Kultur von ihnen intendiert gewesen wäre, also eine Überforderung vorgelegen hätte, wäre nach Hegel nicht deshalb das Vertrauen nötig, dass es in der sittlichen Welt vernünftig zugegangen ist und zugeht. Nötig, d.h. vom philosophischen Denken verlangt, ist hier auch gar nicht ein Vertrauen, sondern Einsicht. Und die wird nicht der Erfahrung einer Selbstüberfor­ derung der französischen Revolutionäre verdankt, sondern begreifender Erkenntnis dessen, was sich aus der erscheinenden Dialektik der Endlichkeit individueller Staaten begrifflich ergibt. Die philosophische Einsicht (und das von ihr bestärkte Vertrauen), dass Vernunft in der Weltgeschichte am Werk war und in der Gegenwart am Werk ist, wird auch nicht davon „getragen“, dass ein Übergang vom objektiven zum absoluten Geist konstruiert wird. Die Einsicht hat solches Getragen­werden so wenig nötig, dass sie (und nach Hegels Auffassung auf philosophisch überzeugende Weise sogar nur sie) vielmehr umgekehrt allererst zum Übergang vom objektiven in den absoluten Geist hinführt. 13  Vgl. GW 20, § 482.

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2. Um zu verstehen, muss man sich klar machen, dass Hegels Philosophie der Weltgeschichte nicht nur von Sittlichkeit (und den anderen Themen der Rechtsphilosophie) handelt, sondern auch schon von Religion und Verwandtem, wenn auch noch ohne einen abgeleiteten und berichtigten Begriff davon, also nur in einer vorläufigen Bedeutung des sie bezeichnenden Ausdrucks: als Bewusstsein all dessen, was den Menschen, welche in einem sittlichen Ganzen zusammenleben, als das Höchste und zugleich als Grund ihrer Sittlichkeit gilt; aber solches Bewusstsein nicht bloß äußerlich (wie von etwas, das man kennt), sondern als innere, subjektive Gesinnung diesem Höchsten gegenüber. Darum gehört zu solchem Bewusstsein bei dem, der es hat, auch ein Sich-Erheben zu diesem Höchsten. Es kann verschiedensten Anlass haben, kann ganz momentan, ja selbst bewusstlos geschehen14, aber auch eine bewusste religiöse Handlung sein, individuell oder kollektiv vollzogen. Auf die ganze Weltgeschichte gesehen ist das abstrakte Konzept solchen Sich-Erhebens mehrfach unbestimmt: nicht nur hinsichtlich des subjektivgeistigen Mediums, in welchem die Erhebung stattfindet − im Erleben, Gefühl, Bewusstsein, in der Anschauung, Einbildung, im Denken. Das Konzept ist unbestimmt auch hinsichtlich des den Ausgangspunkt bildenden geistigen Gehalts und dementsprechend nicht weniger hinsichtlich des Endpunkts, zu dem der sich Erhebende gelangt. Gerade auch in ausgebildeten Lebensformen einer Religion kann die Erhebung schlicht „ein Wegwerfen, nur bey Seite setzen […] des Endlichen“15 sein, von welchem dabei ausgegangen wird. Ferner kann denen, die diesen Schritt vollziehen, dadurch nicht nur Wahres zuteil werden, sondern auch Unwahres, für wie wahr sie es immer halten mögen. Aber es muss sich nicht allemal um Unwahres handeln, wenn gilt, was wir vom Geist als solchem oben registriert haben. Sollte im philosophischen Denken die Sphäre des objektiven Geistes zu überschreiten sein (und mit ihr auch die Schranke des subjektiven Geistes), so wird dies zweifellos zu geschehen haben in Thematisierung des einen oder anderen Sich-Erhebens, von dessen mannigfaltigen Vorkommnissen uns die Historie Kenntnis gibt. Und der Überschritt, welcher der zu thematisierenden Erhebung philosophisch nachdenkt, wird dann wohl auch selbst den Charakter eines Sich-Erhebens (zu dem, was dem philosophischen Denken das Höchste ist) haben. Für den Fall der Unumgänglichkeit aber kann der Überschritt nicht so unbestimmt sein wie die Erhebung nach dem bisherigen, aus der Historie geschöpften Konzept. Es muss sich wohl beide Male (bei der zu thematisierenden und der philosophierend zu vollziehenden Erhebung) 14  Schneider 1974, 16. 15  Ibidem.

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um ein Denken handeln und in ihm nicht bloß um ein beliebiges Wegwerfen und Beiseitesetzen des Ausgangspunktes, sondern um ein Verfahren mit formell bestimmtem Charakter: dem einer Tüchtigkeit, den Inhalt des Ausgangspunktes auf eine dem bloßen Zufall oder Belieben entzogene Weise zu bearbeiten und dadurch zu einem nicht zufälligen, sondern inhaltlich bestimmten Endpunkt zu gelangen. Desgleichen aber auch um einen Ausgangspunkt, der bezüglich seiner inhaltlichen Bestimmtheit kein beliebiger ist. Die Frage ist also, worin dieser Ausgangspunkt besteht, was den formellen Charakter des zu thematisierenden Denkens ausmacht und was sich diesem Charakter gemäß, aber auch aus Gründen, die mindestens dem philosophischen Denken einsichtig sind, für den Endpunkt an inhaltlicher Bestimmtheit ergibt. Was gibt unser Text (§ 552) und sein Umfeld zur Beantwortung dieser Frage an die Hand? Wie man auf den ersten Blick sieht, ist im Text (sogar zweimal) ein denkendes Sich-Erheben behauptet. Es wird auch (gleich mit dem ersten Satz beginnend) der Zustand beschrieben, von dem aus das Sich-Erheben erfolgt: Der Volksgeist enthält Natur-Nothwendigkeit, und steht in äußerlichem Daseyn16; die in sich unendliche sittliche Substanz ist für sich eine besondere und beschränkte17, und ihre subjective Seite mit Zufälligkeit behaftet, bewußtlose Sitte, und Bewußtseyn ihres Inhaltes als eines zeitlich Vorhandenen und im Verhältnisse gegen eine äußerliche Natur und Welt. Am Ende wird dasjenige gekennzeichnet, zu welchem sich das Denken schließlich erhebt, das Ende des Sich-Erhebens also: Es ist Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich und die Nothwendigkeit, Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind. Die Charakterisierung des Ausgangszustands ist keine beliebige, sondern gibt uns die Charakteristika der Sittlichkeit, wie von dieser erkannt ist, dass sich (an ihr) eine Weltgeschichte vollziehen musste. Allen Bestimmungen, die den Ausgangszustand beschreiben, kann man Gegenstücke in den Bestimmungen zuordnen, die den Endpunkt charakterisieren, und den meisten Ausgangsbestimmungen sogar Gegenstücke in Hegels eigenen Worten18. Wir haben es mithin, wenn der Gang vom Anfang zum Ende begründet ist, nicht mit Unbestimmtem zu tun, sondern mit etwas Wohlbestimmtem; 16  GW 20, § 483. 17  GW 20, §§ 549–550. 18  Das ist im Anhang übersichtlich zu machen versucht. Es braucht hier nicht Punkt für Punkt durchgegangen zu werden. Die Pendants im Endpunkt bilden zu den entsprechenden Ausgangsbestimmungen entweder einen Gegensatz (G) oder sozusagen eine Vollendungsvariante (V), charakteristischerweise aber nur eine einzige.

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nicht mit beliebig Bestimmtem, sondern mit etwas, das erkennbarerweise so bestimmt sein muss, wie es charakterisiert ist; vor allem aber der zentralen Inhaltsbestimmung nach nicht mit Unwahrem, sondern mit Wahrem, ja mit der Wahrheit, sogar der „ewig wirklichen“ − und dies als Resultat eines Denkens, dem wir von der in ihrem Wesen erkannten Sittlichkeit aus mit dem philosophischen Denken folgen können; das Resultat ist außerdem das einzige und ist die einheitliche Variante an Vollendung, auf welche dieses Denken erkennbarerweise angelegt ist. Falls die Begründung gelingt, begreifen wir, dass und wie „die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität“ „hervorgeht“ „aus der Sittlichkeit“, die wir zuvor begriffen haben19. Wir haben damit den nach Hegels Auffassung einzigen internen Grund für einen Übergang vom objektiven zum absoluten Geist identifiziert. Diesen Grund scheint Habermas gänzlich übersehen zu haben. Anders nämlich macht es keinen Sinn, (5) einzuwenden, der intersubjektivistische Ansatz des jungen Hegel liefere keinen gewichtigen internen Grund dafür, dass man ihn aufgibt zugunsten des Konzepts eines Übergangs vom objektiven zum absoluten Geist. Wir hingegen können im Vorgriff auf alle weiteren Ausführungen zum absoluten Geist aus diesem Grund auch schon entnehmen, welche Absicht Hegel mit der späteren Konzentration auf klassische griechische Kunst, christliche Religion und neuzeitliche Philosophie verbindet: Er wird uns erweisen wollen, dass absoluter Geist im vollen Sinn seines Begriffs sich nur Wissensgestalt gibt als die wahre Kunst, als die wahrhafte Religion und als diejenige Philosophie, die Wissenschaft ist; und dass diese drei nur zu finden sind in der klassischen griechischen Kunst, der christlichen Religion und der neuzeitlichen Philosophie. Fehlt nur das Wichtigste: die Begründung mit Hilfe einer näheren Auskunft über das Denken, das vom Ausgangs- zum Endpunkt führt. 3. Wie schon gesagt, soll es sich um zweierlei Denken oder zweierlei Tätigkeit eines Denkens handeln. Subjekt der Tätigkeit soll im einen Fall der in der Sittlichkeit denkende Geist sein, im anderen Fall hingegen der denkende Geist der Weltgeschichte. Was aber ist die Struktur ihrer denkenden Tätigkeit? „Denken“ in allgemeinster Bedeutung dieses Ausdrucks ist für Hegel das Haben von Gedanken (§ 465) und deren erkennende Wirksamkeit im Urteilen oder Schließen20. Das ist für unseren Kontext natürlich zu unbestimmt. Das Denken soll ja nun eines in der Sittlichkeit und ein Denken der Weltgeschichte sein; und es soll den schon festgestellten Ausgangspunkt haben. Die Anmerkung zu § 552 macht uns darauf aufmerksam, dass in § 50 A21 bereits Näheres über 19  GW 20, § 552 A, 2. 20  Vgl. GW 20, § 467. 21  Im gedruckten Text: § 51 A. Aber das ist zweifellos ein Druckfehler oder ein Versehen.

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den formellen Charakter dieses Denkens als einer „Erhebung des Geistes zu Gott“ gesagt wurde. Doch dass etwas wie eine solche Erhebung nun im philosophischen Denken vollzogen werden muss, wollen wir ja allererst einsehen. Wir können aus jenen Bemerkungen daher allenfalls entnehmen, was schon auf den in der Sittlichkeit denkenden Geist und den denkenden Geist der Weltgeschichte zutrifft. Hierzu gehört zweifellos, dass das Denken, um das es nun zu tun ist, die (sittliche) Welt auf ihr Wesen, ihre Substanz hin betrachtet und dass diese Substanz sich im Denken als die allgemeine Macht und Zweckbestimmung der sittlichen Welt herausstellt. Der Form nach hat dieses Denken den Charakter eines Schlusses, den Peirce „Abduktion“ genannt hat: Es wird von der Beschreibung eines Wahrgenommenen, sinnlich Gegebenen aus, nämlich gegebenen sittlichen Verhältnissen, (via Rückgang in die bestmögliche Erklärung) zurückgeschlossen auf ein nicht Wahrnehmbares, das den inneren Gehalt des Wahrgenommenen ausmacht − oder dessen Wesen, das in der Conclusio mit Negation und Entfernung des Äußerlichen, Wahrnehmbaren herausgehoben wird22. So kommt’s für den in der Sittlichkeit denkenden Geist dazu, dass dieser, wie behauptet, sich zum Wissen seiner in seiner Wesentlichkeit erhebt. Die denkende Betrachtung der Weltgeschichte belehrt uns darüber, dass diesem Geist qua Denken das Produzieren von geistigen Erzeugnissen charakteristisch ist, in denen ihm seine wahrhafte Natur zum Vorschein kommt. Aber die historische Belehrung ist tief in der erkannten Struktur der Sittlichkeit verankert. Die Sittlichkeit nämlich ist ihrer Idee nach (deren Am-Werk-Sein mit dem Staat erreicht ist) die Erweiterung23 des besonderen substantiellen Willens zum wahrhaft allgemeinen Willen einer in sich unendlichen sittlichen Substanz. Unter Berücksichtigung der Struktur der Weltgeschichte ist dem hinzuzufügen: Bei welcher relativen Allgemeinheit das sittliche Denken innerhalb einer konkreten sittlichen Welt mit der immanenten Beschränktheit eines Volksgeistes immer stehen bleiben mag, − dieses Denken gelangt im Zuge der genannten Erweiterung doch auch zu einem wissenden Bewusstsein von dem, was für seine sittliche Welt wesentlich ist; und es gelangt mit diesem Für-sichWerden des Wesens formell auch bereits über das bloß (wissende) Wollen und In-der-Sitte-Stehen hinaus. In diesem Sinn sagt die Anmerkung zu § 552, die Sittlichkeit sei denkende als „der freien Allgemeinheit ihres konkreten Wesens bewußt werdende“24. Die Notizen zur Heidelberger „Encyclopädie“ (§ 453) machen darauf aufmerksam, dass dies in weltgeschichtlichen Betrachtungen 22  Vgl. GW 20, §§ 13, 23. 23  Vgl. Hegel/Henrich 1983, 207 ff. 24  GW 20, § 552, Abs. 2.

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am historischen Material studiert werden kann25: „Dichter, Philosophen erfassen“ − „in Gedanken ihres Volkes“ − „die Idee, die ihnen durch den Weltgeist bestimmt ist“. Der denkende Geist der Weltgeschichte hat wohl denselben, schon angegebenen Ausgangspunkt wie der in der Sittlichkeit denkende (und in ihren jeweiligen Schranken verbleibende). Sein Denken ist für Hegel vermutlich auch kein schlicht anderes als dasjenige des in der Sittlichkeit denkenden Geistes, sondern eine Spezifikation davon: Es hebt in sich die jeweilige Schranke des in der Sittlichkeit denkenden Geistes auf und vermag dies zu leisten, da die Schranke eine des objektiven, nicht eine des subjektiven Geistes ist; es geht also auf ein schlechthin Allgemeines zu, das als Idee alle besonderen Prinzipien der sittlichen Wirklichkeit in sich enthält. Aber es ist gründlich zu überlegen, in welchem Sinn hier von solcher Allgemeinheit zu reden ist. Zunächst gilt mindestens, dass dieses Denken seine Struktur mit derjenigen des Weltgeistes teilt. Es erhebt sich nicht nur zum Wissen seiner in seiner jeweiligen Wesentlichkeit; sondern das Erfassen seiner je besonderen konkreten Allgemeinheit ist ihm − gemäß der Struktur des Bewusstseins − im Stadium von Vollendung, das weltgeschichtlich allemal erreicht wird, auch ein neues Sich-Auslegen auf höherer Allgemeinheitsstufe seines Prinzips; und auf dieser Stufe nicht nur wiederum Erfassen des neu Ausgelegten, sondern auch ein tieferes Erfassen des vorherigen Erfassens26. Der Weg dieses Denkens führt darum nicht nur zum Erfassen immer höherer und konkreterer Allgemeinheit im Sinn einer Allgemeinheit für immer größere Sittlichkeits- und Volksgeistbereiche. Das Denken, das ihn zurücklegt, geht auch in sich und geht aus der Objektivität des Geistes zurück in den freien Geist, der schon als der Begriff des absoluten Geistes (wenngleich noch in Abstraktion von der Objektivität) erkannt wurde27. Die Allgemeinheit ist nicht nur eine über größtmöglichem Umfang an (objektiver) Sittlichkeit, sondern auch eine über größte Tiefe der Subjektivität sittlicher Subjekte, die freier Geist sind. Man muss daher auch sagen, dass dieses Denken zuläuft auf ein Sich-Wissen des Geistes, das nicht mehr ausschließlich dem sittlichen Willen (qua zwecksetzender und ­verwirklichender Aktivität) immanent ist; dass es also die Sphäre der Sittlichkeit überschreitet28. Aber wenn das Gesagte den denkenden Geist der Weltgeschichte charakterisiert und deren Fortschritt doch in die Gegenwart mündet (mit einem nur 25  A.a.O., 17. Vgl. auch die paradigmatische Bezugnahme auf Plato und die griechischen Dichter in § 552 A, 7 ff. und Hegel/Hoffmeister 1955, 177 ff. 26  GW 14, § 343. 27  GW 20, § 482. 28  Vgl. den Hinweis auf das delphische γνῶθι σεαυτόν in GW 14, § 343 und GW 20, § 377!

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vorläufigen Ende der Geschichte, das über sich hinausweist in unbestimmte Zukunft der Sittlichkeit), warum soll dann das Denken, mit dem wir es jetzt zu tun haben, gleichwohl die Sittlichkeit in toto überschreiten und zum Wissen eines Geistes kommen, der von den Relativitäten des objektiven sowie des subjektiven Geistes losgelöst, also absolut ist? Die Antwort wird vorbereitet in der schon erwähnten Anmerkung (§ 50) zum Formellen der denkenden Erhebung. Dort ist Hegel auf jenes Transzendieren zu sprechen gekommen, das für alle Gottesbeweise erforderlich ist, am offenkundigsten aber für den kosmologischen Gottesbeweis (e contingentia mundi). Er hat darauf hingewiesen, dass das Hinausgehen über alles Sinnliche (zum Unendlichen und Übersinnlichen) geschehen muss durch einen Sprung und dass dieser Sprung nur im Denken vollzogen werden kann. Falls er in der Form eines Schlusses vollzogen werden soll, muss dieser Schluss in der Conclusio mindestens eine der Prämissen hinsichtlich ihres begrifflichen Gehalts destruieren; und falls der zu vollziehende Übergang zurückführen soll vom Vielen zum Einen, muss der Schluss einer sein, in dessen Vermitteln (der Conclusio sowie der Prämissen-Terme) sich sogar Übergang und Vermitteln aufheben. An späterer Stelle hat Hegel dann dargetan, dass und warum es nach seiner Auffassung solche Schlüsse gibt und dass sie sogar eine vorzügliche Vernünftigkeit besitzen29. Warum aber soll ein solcher Schluss in unserem Fall (des denkenden Geistes der Weltgeschichte) unumgänglich sein? Die Frage ist zu konkretisieren: Warum muss das Denken dieses Geistes (der doch bis jetzt als allgemeiner Geist der sittlichen Welt, also Weltgeist, zu denken ist) das in seinen Prämissen enthaltene Konzept einer sittlichen Welt, ja sogar das Konzept von Welt überhaupt (als einem Compositum aus Natur und endlichem Geist) überschreiten? Die Frage spitzt sich daraufhin zu, warum das Denken bei keinem Zweck des Willens stehen bleiben kann. Damit aber wird die Frage beantwortbar und das Erkenntnisproblem lösbar, das wir mit ihr haben. Denn mit dem umrissenen Konzept schlechthinniger Allgemeinheit müssen wir die Weltgeschichte (als die bisher umfassendste Zweckverwirklichung des an und für sich freien Willens) in der Idee denken. In der Idee aber, die nach Maßgabe der spekulativen Logik aus der äußeren Teleologie hervorgeht, ist alles äußerliche Material für die Zwecktätigkeit des Willens zusammengeschlossen mit dieser Zwecktätigkeit und ihrem Objekt sowie Subjekt; und das Subjekt der Zwecktätigkeit mit sich selbst zusammengeschlossen − gemäß der Form eines Schlusses wie des erwähnten Schlusses „der Notwendigkeit“ (in Form einer Vermittlung nämlich durch Aufheben der Vermittlung) als ein „Zusammenschließen des Subjekts 29  GW 20, § 192.

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nicht mit Anderem, sondern mit aufgehobenem Anderen, mit sich selbst“30. Nun liegt die Lösung unseres Erkenntnisproblems auf der Hand: Zum „Material“ der Zweckverwirklichung gehört hier nicht nur das anthropologische Material menschlicher Bedürfnisse und das weite Gebiet intersubjektiver Beziehungen von Individuen und Institutionen, die endlicher Geist sind. Es gehört dazu auch die Natur (im Bewusstseinshorizont des willentlich Handelnden) als ein selbständiges Ganzes, das Voraussetzung sowohl des subjektiven wie des objektiven Geistes ist. Bei dieser Voraussetzung kann es somit nicht mehr bleiben. Das Wissen also, zu dem wir von der umfassendsten, unter den höchstmöglichen Willenszweck (der Freiheit) gestellten äußeren Teleologie mit dem Übergang zur Idee gelangen, ist vielleicht auch noch dem Willen in seinem subjektivsten, aller Zwecksetzung vorausliegenden Inneren immanent; aber es ist jedenfalls nicht mehr beschränkt auf Willenszwecke, die allemal endliche sind. Das Wissen ist selbst wieder freier Geist sowie SichWissen; aber nun nicht mehr in Abstraktion vom objektiven Geist, sondern konkretisiert, d.h. zusammengewachsen mit dessen voller Entfaltung bis zur Gegenwart, also in Einheit mit ihm. Sein Subjekt sowie Objekt ist von den oben genannten Relativitäten endlichen Geistes abgelöst, also absoluter Geist. Man versteht somit, dass dieser Geist hinausgeht „über das Aggregat von Endlichkeit, welches Welt genannt wird“. (§ 50 A, 2) Aber als Geist, der in denkender Erhebung des endlichen freien Geistes zu ihm gedacht ist, ist er nicht ein diesem endlichen Geist fremdes, jenseitiges Unendliches, sondern im Sich-Wissen eine schwierig zu beschreibende wechselseitige Durchdringung von endlichem und unendlichem Geist. Das wird zum Schlüssel für die Exposition des Begriffs absoluten Geistes werden. (§ 554) Doch schon jetzt lässt sich sagen: Als Subjekt seines Sich-Wissens ist der absolute Geist nicht mehr die zeitliche Wahrheit des Gedankens, der über die Beschränktheit eines Volksgeistes zu einem allgemeiner verfassten, gleichwohl aber noch beschränkten, anderen Volksgeist hinausgeht und − als Vernunft in der Geschichte − diesen Übergang bewirkt; sondern er ist eine Wahrheit (d.h. Übereinstimmung des Gedankens mit sich), die ewig wirklich ist, da sie auch „über“ der Natur und somit über der Zeit steht. Im Wissen, als der Tätigkeit dieses Subjekts, ist die Vernunft frei für sich. Aber wir befinden uns mit dem Denken nicht in einem kosmologischen Gottesbeweis. An die Stelle der sittlichen Welt und Welt überhaupt ist darum nun nicht ein zweckloses ens necessarium getreten. Vielmehr ist (gemäß der spekulativen Logik) eine innere Teleologie zum Vorschein gekommen just an dem, womit wir schon längst befasst sind, d.h. an der Natur und am endlichen Geist. Man 30  GW 20, § 192; vgl. § 204 A, 4.

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hat daher keinen Grund mehr zu protestieren, wenn noch gesagt wird, dass diese beiden mit ihrer Notwendigkeit der „Offenbarung“ des Geistes dienen. Das „Offenbaren im Begriff“ gehört ja schon zu dessen Ausgangsbestimmung. Nun wird die Realisierung dieser Ausgangsbestimmung als Sollzustand der zutage getretenen inneren Teleologie erkannt, in welcher an die Stelle eines Willenszwecks kantisch gesprochen eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ getreten ist. Wenn man bedenkt, was in der Philosophie der Weltgeschichte über den Ruhm ausgemacht wurde, den weltgeschichtlich bedeutsame Taten ihren Tätern verschaffen, kann man sogar sagen: Wer sich zum Wissen des absoluten Geistes erhebt, der lässt sich nicht vom Ruhm weltgeschichtlicher Individuen blenden oder dazu verleiten, mit seinem zufälligen Schicksal zu hadern. Er gibt dem Höchsten die Ehre. Er kann dies auch, da ihm die Natur und Geschichte „Gefäße“, d.h. Behälter und Ausflusspotentiale zu bezeugender Ehrerbietung sind; und er hat sich zu einem Geist erhoben, den er sich als Macht vorstellen kann, solche „Gefäße der Ehre“ „aus einem Klumpen“ zu schaffen31. Man beachte aber, dass der Gedanke, der zu diesem Ergebnis führte, im Gegensinn zur Richtung des physikoteleologischen Gottesbeweises verlief und auch inhaltlich zu ihm unter mehreren Gesichtspunkten einen Gegensatz bildet. In diesem „Beweis“ wird ausgegangen von einer Prämisse, welche eine teleologisch geordnete Natur und natürliche Welt behauptet, aber bestenfalls problematische Wahrheit beanspruchen kann; geschlossen wird auf einen unendlichen Verstand, der diese Ordnung verursacht hat, sodass die Teleologie bloß eine äußere ist und das (vermeintlich) Bewiesene die Existenz eines außerweltlichen, von uns verschiedenen Geistes. Das hegelsche Argument hingegen geht im Ausgang von der assertorischen, durch Naturphilosophie sogar apodiktisch gemachten Behauptung einer nicht-teleologisch bestimmten Natur und einer willentlichen, aber nicht willkürlichen Zwecksetzung endlichen Geistes ohne Verursachungskonzept schlüssig fort zur inneren Teleologie einer Einheit von unendlichem Geist, endlichem Geist und Natur. Bleibt ein letzter Punkt wenigstens anzudeuten: Die skizzierte Reproduktion des hegelschen Arguments musste den Eindruck erwecken, das Denken des Geistes der Weltgeschichte, dem sich der Übergang vom objektiven Geist zum Wissen des absoluten Geistes (und damit auch zu diesem selbst) verdankt, könne nur das in der hegelschen Philosophie selber betätigte Denken sein. Für eine explizite Version dieses Denkens trifft das der Sache nach (und wohl auch nach Hegels Auffassung) zu. Doch die explizite Version basiert in 31  Vgl. Paulus im Römerbrief 9, 20 ff.: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, daß du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht, aus einem Klumpen zu machen ein Gefäß zu Ehren und das andre zu Unehren?“ (Den Hinweis, dass Hegel hierauf anspielt, verdanke ich Gerd Theißen.)

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Hegels weltgeschichtlicher Betrachtung auch auf einer impliziten Version, die innerhalb des römischen Weltreichs der untergehenden antiken Sittlichkeit zur Existenz gekommen ist. Wie ist dieses implizite Denken des Geistes der Weltgeschichte als Basis der expliziten Version zu verstehen? Kann es als zusätzliches Argument zugunsten der behaupteten Notwendigkeit dienen, im philosophischen Denken vom objektiven zum absoluten Geist überzugehen? Das wäre erst noch auszumachen. Wer es ausmachen wollte, müsste auch darlegen, was es besagen soll, wenn Hegel an prominenter Stelle behauptet, alle Bildung und Philosophie, Religion und Wissenschaft habe auf den Punkt hingedrängt, nicht nur zu entdecken, dass das Absolute der Geist ist, sondern auch den Sinn und Inhalt dieser Definition zu erfassen; und allein aus diesem Drang sei die Weltgeschichte zu begreifen. Darauf wird hier nicht mehr eingegangen. Was ergibt sich aus der obigen Interpretation des § 552? Soweit sie gediehen ist, mindestens viererlei: 1. Unter Voraussetzung der hegelschen Logik, Naturphilosophie, Exposition des Geistbegriffs und Philosophie des endlichen Geistes ist Hegels Begründung für den Übergang vom objektiven zum absoluten Geist sehr stark. Sie kann über das Ausgeführte hinaus an der bezeichneten Stelle sogar noch verstärkt werden. 2. Der Begriff des absoluten Geistes, der in der Begründung abgeleitet wird, legt durchgängig fest auf die zweite der oben genannten Alternativen, wie man das Absolut-, d.h. Abgelöstsein dieses Geistes verstehen kann: „absolut“ heißt hier nicht bloß soviel wie „losgelöst von […]“, sondern auch „befreit zu […] und vollendet“ in den genannten Hinsichten, in denen eine innere Zweckmäßigkeit zum Vorschein kommt; losgelöst nämlich von bloßem Vorausgesetztsein der Natur und des jeweils anderen endlichen Geistes, aber eben damit befreit zur Einheit mit dem, was vorher bloß vorausgesetzt war. 3. Schon aus diesem Grund kann man einem letzten, in Habermas’ Augen gewichtigsten (6.) Einwand gegen Hegel nicht beipflichten: Im Begriff des absoluten Geistes werde die zwischenmenschliche Intersubjektivität verdrängt. Soweit sie nichts Zufälliges ist, bleibt sie vielmehr mit allem erhalten, was zur Freiheit als vorhandener Notwendigkeit gehört. Zusätzlich zu ihr aber wird im Begriff des absoluten Geistes eine weitere Intersubjektivität Thema: diejenige „zwischen“ dem endlichen und dem für sich unendlichen Geist als absoluter, aber selbst geistiger Substanz. 4. Der finitistische Verzicht, diese Intersubjektivität zu thematisieren, bekundet nicht bloß eine sympathische philosophische Zurückhaltung gegenüber religiösen Überzeugungen. Mit der üblichen Aversion gegen den Begriff eines Weltgeistes gepaart verdammt er die Philosophie auch zu einer Position, welche die mentalen Krankheiten unserer Zeit nicht mehr erfolgreich abwehren

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kann: den historistischen Nihilismus, den kulturalistischen Relativismus und den naturalistischen species-Chauvinismus in Bezug auf alle Bemühungen um Erkenntnis, vorab die philosophischen.

Die Einleitung in die Lehre vom absoluten Geist (§ 553–555)

Um Hegels Philosophie des absoluten Geistes recht zu verstehen, sollte man sich insbesondere klar machen, was ihre drei grundlegenden Paragraphen wollen und wie sie sich voneinander unterscheiden. Sie gliedern sich in eine Auskunft über die Einstellung, welche der begreifenden Erkenntnis des absoluten Geistes angemessen ist (§ 553); in die eigentliche Exposition des Begriffs solchen Geistes (§ 554) und in eine Orientierung der Arbeit mit diesem Begriff (§ 555). Ähnlich war Hegel schon zu Beginn der Naturphilosophie und zu Beginn der Philosophie des Geistes überhaupt verfahren. Nun befasst er sich mit diesen drei Aufgaben in je einem Paragraphen. Was wird darin ausgeführt? Schon der erste Satz von § 553 kündigt an, was wir nicht mehr zu erwarten haben: „Der Begriff des Geistes hat seine Realität im Geiste“. Die „Realisierung“ des Begriffs wird uns also nicht über dessen Umfang hinaus zu anderer Realität als derjenigen führen, welche unter den Begriff des Geistes fällt, − im Unterschied zu allen Begriffen, deren Exposition und Realisierung bisher zu verfolgen war. Die neu in der Sphäre des Geistbegriffs zu berücksichtigende Realität ist das Wissen des absoluten Geistes. Die ihm entsprechende Einstellung begreifender philosophischer Erkenntnis muss, positiv bestimmt, nun darauf gerichtet werden, dass diese Realität „in vollendeter Identität mit jenem“ Begriff 32, also in Wahrheit (und wohl auch in Identität speziell mit dem Begriff des absoluten Geistes) „als das Wissen der absoluten Idee sei“; als ein Wissen nämlich, wie „wir“ es schon am Ende der „Logik“ erlangt haben. Das entspricht bereits dem in § 382 formell charakterisierten Wesen des Geistes als Freiheit und dem im § 552 angegebenen Inhalt des Wissens als u.a. „Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich“ ist. Aber es hat auch seine „notwendige Seite“. Auf die kommt es nun an, sofern die Forderung, dass man sich in besonderer Weise auf philosophische Erkenntnis einstelle, zu begründen und inhaltlich näher zu bestimmen ist: Die „an sich“, mithin der Möglichkeit nach, freie Intelligenz33 muss „in ihrer Wirklichkeit“ (d.h. in der selbstbewussten Freiheit, die als Sitte zur Natur geworden ist34) „zu ihrem Begriff befreit“ sein, um die dieses Begriffs

32  GW 13, § 453. 33  Vgl. GW 20, §§ 443 ff. 34  Vgl. GW 20, § 513.

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„würdige Gestalt zu sein“35. Eine Würde nämlich besitzt nur, was höchsten intrinsischen Wert hat und dabei Ausdruck herrschenden Geistes ist. „Würdig“ darf heißen, was an so verstandener Würde Teil hat. Nur eine Wissensgestalt von solchem Wert ist völlig der Ehre angemessen, welche dem absoluten Geist als ewig wirklicher Wahrheit gebührt. Aber sie könnte nicht zustandekommen und begriffen werden ohne den bisher betrachteten subjektiven und objektiven Geist. Fern davon, für unsere Einstellung auf spekulativ begreifende Erkenntnis des absoluten Geistes irrelevant zu werden, sind beide, subjektiver und objektiver Geist, daher in der geforderten Einstellung nun „als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite […] ausbildet“36. So dienen sie mit der in ihnen enthaltenen Notwendigkeit geistiger Natur und Geschichte demjenigen Offenbarmachen des Geistes, welches Offenbarung des absoluten Geistes ist. Man wundere sich also nicht, in der Philosophie des absoluten Geistes auf neu gedeutete Bestimmungen des endlichen, subjektiven (insbesondere psychologischen) und objektiven (insbesondere weltgeschichtlichen) Geistes zu stoßen. Doch was dabei wie gedeutet wird, sagen vor allem die Ausführungen der „Encyclopädie“, nicht die Vorlesungen über Religionsphilosophie. Es liegt nahe zu fragen, ob des Begriffs der in ihrer Wirklichkeit zu diesem Begriff befreiten Intelligenz nur eine einzige Wissensgestalt „würdig“ ist oder außer derjenigen des logischen Wissens der absoluten Idee in gewisser Weise noch andere Gestalten. Die Antwort kann nicht im Voraus gegeben werden. Sie hängt vom „Weg“ der Ausbildung ab, an deren Ende das Befreit-Sein in einem reinen Wissen stehen wird. So oder so aber wird auf diesen Weg zu achten sein. Wenn das klar ist, hat man keine Schwierigkeiten mehr, anhand der BegriffsAbleitung, die in § 552 umrissen wurde, den Begriff des absoluten Geistes zu exponieren. Darum geht es in § 554. Hegels Angaben hierzu vermeiden wie schon bezüglich der absoluten Idee als logischer den Namen „Gott“ und erst recht den Namen irgendeines besonderen Gottes. Sie können den Anspruch erheben, auch einen Atheisten zu überzeugen, wenn der sich ernsthaft auf die Argumente einlässt, welche bis zum Ende der Philosophie des objektiven Geistes geführt haben. Der absolute Geist ist nicht nur „ewige“ (also nicht auf Zeit relative) „Wahrheit“ (§ 552), d.h. Übereinstimmung des Begriffs in seiner Realität mit sich. Er ist als ewig wirkliche eine Wahrheit, die wie die absolute Idee „ebenso ewig in sich seyende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte“ Übereinstimmung des Begriffs mit sich ist. Er ist diese Übereinstimmung wie die absolute Idee in der intensivsten Form als „Identität“ (des Begriffs, in seiner

35  G w 20, § 553. 36  Ibidem.

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Realität, mit sich als bloßem Begriff 37); und ist dabei, ebenfalls wie die absolute Idee, eine Identität, die auch Wissen ist: nicht mehr diese oder jene besondere sittliche Substanz nämlich mit bzw. in diesem oder jenem Fürwahrhalten; sondern die in sich unendliche „Eine und allgemeine Substanz als geistige“. Als geistige Substanz ist er Freiheit (d.h. „absolute Negativität des Begriffs als Identität mit sich“38), die sich ursprünglich teilt (also „das Urtheil“ vollzieht) „in sich und in ein Wissen, für welches sie als solche ist“. Das Wissen „des“ absoluten Geistes ist also nicht nur eines „vom“ absoluten Geist, das diesem gar bloß äußerlich wäre. Es gehört zu ihm selbst, auch als sein Sich-Wissen. Zudem ist der Prozess der ursprünglichen Teilung, ohne welchen das Wissen nicht wäre, und das im Prozess von der Substanz unterschiedene, endliche Subjekt „zurückgebunden“ in das Eine, das ja in sich zurückkehrt. Man kann diese ganze „Sphäre“ geistiger Realität daher füglich als „Religion“ (im allgemeinsten Sinn einer Rückbindung und rücksichtlichen Beachtung) bezeichnen. Aber man muss dabei bedenken: Die Religion geht nicht nur vom endlichen Subjekt (durch seine Erhebung zum Wissen des absoluten Geistes) aus und befindet sich nicht nur in diesem Subjekt als subjektivem Geist, während die Substanz jenseits und unberührt davon wäre. (Diesem verkürzten Religionsverständnis nämlich huldigen diejenigen, die den Inhalt der Religion preisgeben oder für unbestimmbar und beliebig erklären.) Die Religion ist ebenso zu betrachten „als objektiv von dem absoluten Geist ausgehend […], der als Geist in seiner Gemeinde ist“. Andernfalls könnte sie nicht jene Wissensgestalt ausbilden, für welche die an sich freie Intelligenz in ihrer objektiven, sittlichen Wirklichkeit zu ihrem Begriff befreit sein muss. Die Exposition des Begriffs kommt also nicht allein schon dadurch zustande, dass der zuvor (§ 552) abgeleitete Begriff analysiert wird. Sie hat auch die Einstellung (§ 553) zu berücksichtigen, die das philosophische Denken seinem Gegenstand gegenüber einnehmen muss. Für die Arbeit mit dem exponierten Begriff wird (symmetrisch zum abzuwehrenden Missverständnis) bereits im zweiten Satz des § 554 eine Anweisung gegeben: Man betrachte die „Religion“ (= Rückbindung des Wissens an die Eine Substanz) nicht nur „objektiv“ als vom absoluten Geist ausgehend, sondern eben so sehr als vom Subjekt ausgehend und in demselben sich befindend. Darauf verweist uns nicht zuletzt die Notwendigkeit (und Suche nach) einer „würdigen“ Gestalt jenes Wissens oder nach mehreren solchen Gestalten. Denn die wahrhafte Religiosität, die es zu entdecken gilt, ist „der freien Allgemeinheit ihres konkreten Wesens bewußt werdende Sittlichkeit“. (§ 552 A, 2) Zur Orientierung der Begriffsarbeit ist daher nun das „subjektive Bewußtsein des absoluten Geistes“ näher ins Auge zu fassen. 37  Vgl. GW 20, § 553. 38  Vgl. GW 20, § 382.

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Das geschieht in § 555, und zwar in doppelter Perspektive: sowohl im Blick darauf, was dieses Bewusstsein „in sich“ ist bzw. subjektiv wird, als auch daraufhin, was mit ihm objektiv geschieht, sofern solches Geschehen für die Ausbildung würdiger Wissensgestalt relevant ist. Da es hierbei um eine „Sphäre“, d.h. Kugel und Kreisbahn, von Realitäten zu tun ist, die Bahn aber einen wohl­, wenn auch doppeltbestimmten Ausgangs- und Endpunkt hat, sodass das sie Durchlaufende wirklich „prozediert“, wird man sich nicht wundern zu erfahren, dieses Bewusstsein sei „wesentlich in sich Prozeß“; und man wird die wahrhafte Religiosität sowie würdige Gestalt ihres Wissens am Ende dieses Prozesses zu erwarten haben. Ein Prozess nämlich ist mehr als bloß eine Bewegung von etwas, das einen Weg zurücklegt. Er ist seinem Begriff nach (§ 326) ein Vorgang der Differenzierung eines Identischen und/oder der Indifferentierung bzw. des Zusammenwachsens von Verschiedenem. Beides zusammen mag einen Kreislauf ergeben, der von einer unmittelbaren und „substantiellen“ Einheit über Differenzierungen, Verhältnisse, vielleicht sogar Gegensätze zu vermittelter Einheit zurückführt, die eine „höhere“ und konkretere als die ursprüngliche ist. Man darf die innere Zweckmäßigkeit, unter deren Begriff der absolute Geist zu denken ist, daher nicht zu simpel und harmonistisch konzipieren. Das gilt zweifellos auch für eine „an sich freie Intelligenz“, die sich im subjektiven Bewusstsein des absoluten Geistes auf dem Weg befindet, als welcher nun der subjektive und der objektive Geist anzusehen sind. Denn ganz zu Anfang, begrifflich sogar dem subjektiven Bewusstsein des absoluten Geistes vorausgehend, ist diese Intelligenz Selbstgefühl des in seiner sittlichen Substanz stehenden Subjekts und damit ein Zeugnis-Geben von dieser Substanz sowie von ihren Gewalten als von dem eigenen Wesen. In solchem Zeugnis des Geistes ist die Einheit des Subjekts mit seiner Substanz „unmittelbar noch identischer als selbst Glaube und Zutrauen“39. Aber nicht weit von hier beginnt der begriffliche Weg des Prozesses, welcher das subjektive Bewusstsein des absoluten Geistes ist. Die „unmittelbare und substantielle Einheit“ dieses Prozesses nämlich ist „der Glaube in dem Zeugnis des Geistes als die Gewißheit von der objektiven Wahrheit“40. Als Bewusstsein ist der Glaube jedoch nicht nur diese unmittelbare Einheit; sondern er „enthält“ zugleich Einheit als das Verhältnis der im Begriff des absoluten Geistes unterschiedenen Bestimmungen einschließlich derjenigen von subjektiver Gewissheit und objektiver Wahrheit. Er ist also in sich der (begriffliche) Prozess von substantieller Einheit zu deren Differenzierung in Verhältnisse. Unter spezifischen Bestimmungen solcher Verhältnisse mag 39  GW 14, § 147. 40  GW 20, § 555, 1. Satz.

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das Glauben ein Wissen sein, das inhaltlich kein wahres, sondern bloß ein vermeintliches ist. Als solches kann es auch in Gegensatz kommen zur „geistigen Befreiung“, die sich in der Sittlichkeit, im frei werdenden subjektiven Geist oder in anderen Realitätsbereichen des absoluten Geistes vollzieht. Aber im Hinblick auf wahrhafte Religiosität und eine würdige Gestalt ihres Wissens ist das nur ein Durchgangsstadium. Denn allemal ist der Glaube auch unmittelbare Einheit und als religiöser Vollzug dieser Einheit „re­unio“. Jedenfalls in der Andacht, als einem „impliziten […] Cultus“, sowie in expliziteren Formen des Kultus, die in Sitte gewordenen Handlungen bestehen, ist er je schon in den gegenläufigen Prozess übergegangen; und das gilt nicht nur in der Innenperspektive des religiösen Bewusstseins, sondern auch in Ansehung dessen, was diesem Bewusstsein objektiv geschieht: Durch den Kultus, wie z.B. den einer Opferhandlung, wird hervorgebracht, dass der Mensch sich seiner Subjektivität entledigt41. Dadurch wird ein „Gegensatz zur geistigen Befreiung“, wenn sich ein solcher im Bewusstsein und seinen auf Gegenständliches Bezug nehmenden Betätigungen ausgebildet hat, im Prinzip wieder aufgehoben. Es wird „durch diese Vermittlung jene erste Gewißheit“ bewährt. Tendenziell zumindest geht dieser Prozess dahin, für die erste Gewissheit „die konkrete Bestimmung, nämlich die Versöhnung und Wirklichkeit des Geistes zu gewinnen“42. Um im Begriff des absoluten Geistes die wahre Religiosität zu erkennen und deren Wissensgestalt als eine zu begreifen, die des Begriffs einer freien Intelligenz würdig ist, muss man also diese beiden, die wahrhafte Religiosität und ihre Wissensgestalt, am Ende eines Prozesses wie des umschriebenen aufsuchen. Die Religion vollendet sich als Sittlichkeit43. Die ihres Begriffs freier Intelligenz würdige Wissensgestalt kann sich daher nicht noch im Gegensatz zur Sittlichkeit befinden. Vielmehr ist in ihr nichts anderes als deren Grund im religiösen Glauben gewiss. Doch solange der Fortgang geis­ tiger Befreiung nicht abgeschlossen ist, kann eine Wissensgestalt die Würde, die sie in der Wirklichkeit einer bestimmten sittlichen Epoche besitzt, in derjenigen einer anderen verlieren. Man tut also gut, sich für die Ausführung der Lehre vom absoluten Geist auf mehr als eine Gestalt solchen Wissens mit bewährter Glaubensgewissheit und auf die Ablösung einer Gestalt durch eine (oder mehr als eine) andere in einem geschichtlichen Prozess einzustellen. Die Gründe dafür, dass das Denken oder auch die Weltgeschichte von einer Gestalt solchen Wissens zu einer anderen fortgeht, sind im skizzierten Kontext zu suchen. Man findet sie ausschließlich auf dem sozusagen zweibahnigen „Weg“, als welcher der subjektive und der objektive Geist weiterhin anzusehen sind. 41  Vgl. Hegel, Werke 12, 236. 42  GW 20, § 555, Schluss. 43  Hegel, Werke 12, S. 302.

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Doch bevor man sie mit Sinn suchen kann, muss bereits eine erste, unmittelbare Gestalt gefunden sein. Da deren Bestimmung nicht diejenige des Begriffs absoluten Geistes als solchen ist, gehört sie nicht mehr zu unserem Thema. Aber worin sie wohl bestehen muss und was auf sie folgen wird, wäre nun unschwer zur Einteilung der Entwicklung des Begriffs wenigstens im Umriss anzugeben: Sie muss jedenfalls eine sein, die in der Abfolge begriffsadäquater sittlicher Welten als die erste auftrat. Sie muss ferner in ihrer sittlichen Welt unmittelbar realisiert gewesen; und die absolute Einheit des Geistes mit sich muss dabei in Tätigkeiten des subjektiven Geistes auf unmittelbare Weise, d.h. anschauend, vollzogen worden sein. − Auf sie musste wohl eine Gestalt folgen, die erst durch den Untergang dieser „schönen“ sittlichen Welt möglich geworden sein wird. Sie wird die eines sich in sich vermittelnden Wissens in einer durch und durch mittelbaren, d.h. vorstellenden Tätigkeit des subjektiven Geistes sein müssen. Aber würdig des Begriffs, zu welchem die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit befreit ist, und so zum Wissen der absoluten Idee führend, wird diese Gestalt erst werden, wenn sie in einem selbstbewussten philosophischen Denken die früher entstandenen Tätigkeiten, den Geist „absolut“ anzuschauen und vorzustellen, in sich vereinigt. Nicht die Vorlesungen, sondern nur die betrachteten einleitenden Paragraphen machen Hegels Philosophie des absoluten Geistes als ganze begreiflich44.

Anhang: Schema der hegelschen Bestimmungen des Ausgangszustands und Endpunkts denkender Erhebung

Angegeben wird

Ausgangszustand

Endpunkt

1 Das Ganze

Der Volksgeist – enthält Naturnotwendigkeit [die das Opake, im endlichen Geist funktionslos Vorausgesetzte ist] – steht in äußerlichem Dasein

[der absolute Geist] – [worin Natur-] Notwendigkeit nur seiner Offenbarung dienend [ist] (G) – [ist Wahrheit], in welcher die wissende Vernunft frei für sich ist (G)

44  Vorliegender Text ist die zur Veröffentlichung in diesem Sammelband vom Verfasser neu durchgesehene Fassung eines älteren Aufsatzes (Hans Friedrich Fulda: „Hegels Begriff des absoluten Geistes“, in: Hegel-Studien 36 (2001), Meiner: Hamburg 2003, 171–198).

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2 Binnenstruktur a objektive Seite

Fulda

Ausgangszustand

Endpunkt

die sittliche Substanz – in sich [= abgesehen v. Grenze nach außen, = zuinnerst, in sich [die Unendlichkeit ist im verschlossen?] unendlich Wissen herausgetreten] (G) – für sich eine besondere und – [mit dem denkenden beschränkte Geist, der] konkrete[n] Allgemeinheit (G), [sind] Beschränktheiten der besonderen Volksgeister abgestreift (G) [Zufälligkeit ist mit b subjektive Seite: – mit Zufälligkeit behaftet Besonderheiten abgestreift, außer Freiheit besteht nur noch Notwendigkeit] (G) [nichts Bewusstloses] [G] [einerseits:] – bewußtlose Sitte [nicht Bewusst-­, sondern [andererseits:] Erfasst- und Erhobensein zu – Bewußtsein des Inhalts der] (G) [der Sitte, der subj. Seite, der sittl. Substanz?] – als eines zeitlich Vorhandenen – ewig wirklichen – im Verhältnisse gegen eine Wahrheit [die äußerliche Natur und Welt Übereinstimmung mit sich ist u. nicht im Verh. geg. ein Anderes, Äu­ßerliches] (G) Wissen des c punctum saliens der denkende Geist – in der Sittlichkeit, welcher als absoluten Geistes (V) in b: Volksgeist Endlichkeit hat Weltlichkeit abgestreift (G) – der Weltgeschichte

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Hegels Begriff des absoluten Geistes

Angegeben wird

Ausgangszustand

Endpunkt

3 wieder das Ganze:

[obj. sittl. Substanz u. subj. Gesinnung als zwei Seiten oder Teile]

[„des“ als Genitiv, der sowohl subjektiv als auch objektiv; vgl. die nachfolgende Apposition; mit Gewusstem/Wissendem:] als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich [ist] und Notwendigkeit, Natur und Geschichte nur seiner [sc. des absoluten Geistes] Offenbarung dienend und Gefäß seiner Ehre. (G)

Notwendigkeit [in der vor­ ausgesetzten] Natur [und in dem] zeitlichen Systeme der Gesetze und der Sitten [also auch in der Geschichte] [besitzt Substantialität] Legende:

kursiv: Hegels Worte fett und kursiv: bei Hegel hervorgehoben in „[ ]“: meine Zusätze (G): Gegenbestimmung zu dem links auf Höhe der Eintragung stehenden Ausdruck (V): Vollendungsalternative zu dem links stehenden Ausdruck

Teil 1 Objektiver und absoluter Geist – von der Phänomenologie des Geistes aus



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Der absolute Geist als freies Dasein der Wirklichkeit in Hegels Phänomenologie des Geistes Kurt Appel 1 I Vorbemerkung Der Wirklichkeit widerfährt aber in dieser [religiösen] Vorstellung nicht ihr vollkommenes Recht, nämlich nicht nur Kleid [der religiösen Vorstellung] zu sein, sondern selbständiges freies Dasein2. 1 Der Begriff und der spekulative Satz Die Phänomenologie des Geistes (PhdG) zeigt auf, beginnend im Abschnitt über die sinnliche Gewissheit und fortschreitend bis hin zum Gewissenskapitel, in welchen Gestalten sich der Geist vergegenständlicht. Dahinter steckt der Gedanke, dass sich Bewusstsein und Gegenstand in einer dynamischen Wechselwirkung befinden. Der Gegenstand ist sprachlich-intersubjektiv vermittelt, das Bewusstsein wiederum fasst sich als Selbst von dieser intersubjektiv vermittelten Welt und ihrem dynamischen Beziehungsgefüge her (man könnte so gesehen auch von einer interobjektiven Welt sprechen) und erfährt dabei eine fortlaufende Veränderung. Die Welt des (objektiven) Geistes ist also nicht in die zwei Sphären Bewusstsein/Subjekt und Sein/Substanz auseinanderzulegen, sondern zeigt sich als Bewusst-Sein bzw. Begriff 3, wobei der Akzent auf dem Bindestrich liegt, in dem jede der beiden Seiten als einseitige und fixierbare negiert wird und sich die geistige Dynamik, in der beide Seiten zueinander stehen, manifestiert4. Formaler Ausdruck davon ist der spekulative Satz – nach Hegel im Gegensatz zum das Andere objektivierenden und beherrschenden Urteil die Sphäre philosophischer Sprache –, in 1  Die folgende Arbeit soll zwei Personen gewidmet sein, denen ich viel in meinem Zugang zu Hegel und zur Philosophie überhaupt verdanke, nämlich Friedrich Kern und Thomas Auinger. 2  Hegel, Werke 3, 497 ff. 3  Eine hervorragende Hinführung zur Bedeutung des Hegelschen Begriffs gibt Düsing 1995. In dem hier vorliegenden Artikel wird allerdings versucht, gegenüber Düsing das Moment der Gebrochenheit innerhalb des Begriffes stärker herauszustellen. 4  Für eine generelle Einleitung in die spekulative Philosophie Hegels siehe Hoffmann 2012. Einen hervorragenden Überblick über die hier ganz besonders herangezogene Phänomenologie des Geistes bietet Chiereghin 2008.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_004

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dem Subjekt und Prädikat umfanggleich sind und dessen Bedeutung sich in der wechselseitigen Bewegung entlang der Kopula vollzieht5. Sage ich etwa zum geliebten Menschen, du hast braune Augen, so sind die braunen Augen nicht irgendein Merkmal desselben, sondern bringen die gesamte Sphäre von dessen Subjektivität zum Ausdruck, wie umgekehrt überhaupt erst durch die liebende Begegnung mit diesem Menschen erahnt werden kann, was braune Augen (bzw., will man noch mehr fokussieren: die Farbe Braun, die in den Augen sichtbar wird) wirklich sind. Von dieser Annäherung her transformiert sich das objektive Merkmal, wie es charakteristisch ist für die technische Welterstellung, hin zu relationalem Austausch. 2 Das Festhalten des Gegenstandes Das dynamische Geschehen, welches sich in der Begegnung des Subjekts mit seinem Gegenstand vollzieht, wird allerdings vom (Selbst-)Bewusstsein jeweils gegenständlich festgehalten, wobei der Gegenstand jene Sphäre bezeichnet, von der her sich das Bewusstsein zu reflektieren, d.h. als Selbst zu fassen und auszulegen sucht. Die einzelnen Gestaltungen des Bewusstseinsgegenstandes bezeichnen verschiedene Stufen und Ausdrucksformen dieses Selbstbespiegelungsversuches, wobei jede neue Gestalt die vorhergehenden aufgehoben6 hat. Insofern das Bewusstsein in jeder Auffassungsweise eine Beziehung (sprachlich, noetisch, praktisch) zur ihm begegnenden Welt aufbauen kann und diese ihm (wenngleich nur momenthafter) Ort seiner Selbstkonzeption wird, erlebt es diese Welt als begeistet. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass die jeweiligen Bewusst-Seins-Gestalten, in denen sich die Dynamik von Bewusstsein und Gegenstand vergegenständlicht, Momente des sich objektivierenden Geistes ausmachen, wobei dessen allgemeine Dimension sich in den Sphären von Recht, Moralität und Sittlichkeit (mit den Momenten Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) niederschlägt.

5  Insofern der spekulative Satz die Bewegung des Subjekts in das Prädikat und umgekehrt zum Ausdruck bringt, besteht er jeweils aus einem Satz und dessen Spiegelsatz. Da die beiden philosophischen Hauptwerke Hegels eine einzige Darstellung des spekulativen Satzes „Die Substanz ist Subjekt“ (und damit „Das Subjekt ist Substanz“) sind, müssten sie jeweils von ihrem Anfang zu ihrem Ende und gleichzeitig vom Ende zum Anfang gelesen werden. Dies gilt für alle relevanten Dynamiken. Die sinnliche Gewissheit ist das absolute Wissen und das Sein die absolute Methode. 6  Bei „Aufhebung“ ist immer deren dreifache Bedeutung „aufbewahren“, „außer Kraft setzen“ und „auf eine höhere Stufe heben“ zu hören.

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3 Eine erste Vorschau auf das religiöse Bewusstsein Der absolute Geist setzt dagegen mit der religiösen Erfahrung ein, dass dem Bewusstsein jede letzte Selbstverortungsmöglichkeit, vom sinnlichen Meinen bis hin zu den Geltungsansprüchen von Moral und Gewissen, genommen ist. Das religiöse Bewusstsein kann sich gerade nicht in der „Welt“, d.h. in der gegenständlichen Seite seines Weltumganges „selbst“ zum Ausdruck bringen, vielmehr ist die Religion das Echo eines fundamentalen Verlusts an gegenständlich erfahrbarer Welt. Damit einher geht auch der Verlust der Welt als Projektionsfläche des (Selbst-)Bewusstseins. Allerdings wird, wie im Folgenden gezeigt wird, das religiöse (Selbst-)Bewusstsein die Erfahrung dieses Verlusts noch fixieren wollen und damit einer a-präsenten, verlorenen Welt anhängen. Die religiöse Welt bleibt damit genauso wie die Welt des Geistes im Kleid der Selbstprojektionen befangen – zumindest, insofern deren Symbolisierungen und Gestaltungen als letzte Wirklichkeiten und nicht als aufzuhebende Momente betrachtet werden – und kann nicht als freie Wirklichkeit, d.h. als Wirklichkeit des Anderen, hervortreten. Der absolute Geist bleibt noch im Bereich der ichbezogenen Vorstellung. 4 Vom Gang der Arbeit Die folgenden Ausführungen interpretieren zunächst wichtige Gedankengänge des Religionskapitels der PhdG, um das Spezifikum des religiösen Wissens deutlich werden zu lassen. Dabei wird der Frage nachgegangen, worin der Mangel der religiösen Vorstellung besteht und was Hegel mit der Aufhebung der Form der Vorstellung meint7. Abschließend wird am Leitfaden des Gedankens von der Entsprechung von Bewusstsein und Gegenstand das Spezifikum des absoluten Geistes thematisiert, der sowohl das Ende einer bestimmten chronologischen Zeitvorstellung als auch das Ende des Gedankens der Sprache als rein gegenstandsbezogener Referenz bedeutet. Er wird sich darin nicht als das Phantom erweisen, als welches ihn die linkshegelianische Schule zu dechiffrieren meinte oder als das ihn bestimmte Formen des religiösen Bewusstseins positivieren wollen. Ebenso wenig wird er ein pantheistisches Netz, sozusagen die Struktur aller Strukturen, in das alle Wirklichkeit zurückgeht, darstellen8. Letztendlich wird auch die gemeinhin verbreitete Formel, dass die Religion 7  Zu Hegels Religionsphilosophie im Allgemeinen siehe Jaeschke 1983. Für die Interpretation der Form der Vorstellung, vgl. besonders 110–119. 8  In diesem Sinne geht Hegels Begriff der Religion weit über die Bestimmung, das Selbstbewusstsein einer „Gesamtkultur“ zum Ausdruck zu bringen, hinaus. Diese Interpretation findet sich u.a. in dem generell sehr lesenswerten Hegel-Buch von Ludwig Siep. Vgl. Siep 2000. Der Begriff „Gesamtkultur“ wird auf Seite 219 verwendet.

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noch von bildhaft-sinnlichen Vorstellungen abhängig bleibt, während erst die Philosophie das Freiheitsbewusstsein des Subjekts als wahren Inhalt des Absoluten formgemäß zum Ausdruck bringt, der Sachlage nicht völlig gerecht werden. Wahr ist daran, dass der absolute Geist mit dem Freiheitsbewusstsein des Subjekts verbunden ist9, entscheidend ist dabei aber, wie dieses näher zu fassen ist. Konkret stellt sich die Frage, was freies Dasein der Wirklichkeit, in dem sich der absolute Geist manifestiert, bedeutet? Die sinnlichen Symbolisierungen der Religion werden, so wird sich herausstellen, keinen Mangel in Bezug auf die Auffassung des Absoluten per se darstellen, sondern ihr Defizit wird darin liegen, dass sie Gott nicht sinnlich genug zu fassen vermögen. II

Der absolute Geist als freies Dasein der Wirklichkeit Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist10.

1 Die Verzeihung des kontingenten Daseins Das gewissenhafte Bewusstsein, welches sich im Geltungsanspruch seines allgemeinen Urteils wiedergefunden hatte („das reine Wissen seiner selbst als allgemeines Wesen“), macht am Ende des Geistkapitels einen entscheidenden Erfahrungsschritt. Es erfährt, dass seine als absolut gesetzte Position, mit der es das kontingente Andere („absolut in sich seiende Einzelheit“) verurteilt hatte, durch und durch gesetzte Position ist11. Mit anderen Worten: Es erkennt, dass der scheinbar absolute Ort seines Urteils selber wiederum aus Kontingenzen erwächst, die es nicht zu „überblicken“ vermag. Es kann dadurch die eigene Kontingenz in der verurteilten Kontingenz des Anderen erkennen und verzeihen. Dabei ist aber weder die Verzeihung noch die Erkenntnis durch das selbstbewusste Handeln zu erstellen, da andernfalls wieder eine absolute Position eingenommen und gehandhabt würde, die die Singularität des Anderen in die Sphäre des eigenen Selbst „eingekleidet“ hätte. Vielmehr ist das 9   Für eine Bestimmung des Freiheitsbewusstseins als Zugang zum Absoluten vgl. Arndt 2015; Wagner 2000. 10  Hegel, Werke 3, 493. 11  In diesem Sinne vollzieht sich am Übergang vom Gewissen zur Religion auch der Übergang vom Wesen in den Begriff, der sich in der Wissenschaft der Logik im sukzessiven Hervortreten des Satzes, dass das Anundfürsichsein Gesetztsein ist, niederschlägt.

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gewissenhafte Bewusstsein Antwort auf ein substanzielles Geschehen, welches jeder Handlung und jedem Urteil vorausliegt. Es verzeiht, was an sich verziehen ist, und erkennt, was sich an ihm zur Erkenntnis gegeben hat. Im Ablassen von sich und der damit verbundenen Anerkennung12 des Anderen, die sich auf der Seite des allgemeinen wie auf der Seite des seine Besonderheit – als Reaktion auf das allgemeine Urteil – festgehalten habenden einzelnen Selbst vollzieht, ist der erscheinende Gott mitten unter ihnen13 und der Übergang zum religiösen (Selbst-)Bewusstsein vollzogen. 2 Die Selbstreflexion des Bewusstseins in seinen Gegenständen In seinem bisherigen Durchgang durch die Gestalten des Geistes hat das in das gewissenhafte Bewusstsein mündende Selbst die Erfahrung gemacht, dass es durch keine Gestalt der begegnenden Welt (des „Bewusst-Seins“) adäquat zum Ausdruck gebracht werden kann. Es fand sich nicht im Diesen der sinnlichen Gewissheit, ebenso wenig in den Dingen, mit denen es die Wahrnehmung zu tun hatte. Das Bewusstsein erblickte im Durchgang durch die Kraft die reine Negativität der zweiten übersinnlichen Welt, die es in der Gesetzeswelt des Verstandes zu positivieren versuchte, ohne sich in deren Universum verorten zu können. Auch die folgenden Gestalten boten keinen letztgültigen Ort für das Selbst. Es versuchte sich im Lebendigen ansichtig zu werden und schließlich im anderen Selbstbewusstsein, in dessen ultimativem Begehren ein Kampf auf Leben und Tod eintrat, aus dem keine letztgültige Selbstfindung – weder im sich behaltenden Leben noch im Tode – erwachsen konnte. Auch der Genuß durch die vermittelte Negation des Dings, die Arbeit als gehemmte Begierde und der unglückliche Versuch einer melancholischen Vereinigung mit dem eigenen, ins Unendliche ausgelagerten Begehren des Unwandelbaren konnten das Selbst nicht in seiner Wahrheit zum Ausdruck bringen. Es fand sich nicht (als von sich Getrenntes) in den Beobachtungen seines theoretischen Vernunftgebrauchs, in der Lust der Erotik oder der den Weltlauf mittels eigener Vorschreibungen ändern wollenden Tugend. In weiterer Folge versuchte es sich durch sein ganz persönliches Werk (heute könnte man sagen: seine „Trademark“), aus welchem es sich beliebig zu distanzieren vermochte, zum Ausdruck zu bringen, aber weder Werk noch Distanz konnten zum Ort einer Selbstbegegnung werden. Ein weiterer vergeblicher Anlauf führte zunächst zu einer scheinbaren Aufgehobenheit im sittlichen Geist (in seinen Gestalten sittliches Gemeinwesen/Polis und Familie), der sich allerdings am dem Selbst immanenten Antagonismus von Einzelnem und Allgemeinem, 12  Eine sehr vielschichtige Theorie der Anerkennung in den Spuren Hegels gibt Cobben 2009. 13  Hegel, Werke 3, 494.

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verbunden mit einem Heraustreten des Selbst aus einem einfältigen Allgemeinen14, auflöste. Die Erfahrung des Antagonismus bedeutete die entscheidende Station des in den Gegensatz getretenen, sich dem Allgemeinen entfremdenden und sein (abstrakt) Einzelnes herausbildenden Geistes. Dieser Bildungsprozess sedimentierte sich u.a. in den Geltungsansprüchen des persönlichen Eigentums (fundiert durch das auf dessen Verteidigung ausgerichtete Recht), der Staatsmacht, des alles in sein Gedankengebäude aufhebenden Intellekts (der Einsicht) und des seine eigene Entfremdung vergegenständlichenden Glaubens15. Den Kulminationspunkt erreicht die Entfremdung im Terror der absoluten Freiheit. In dieser Stufe vollbringt das Selbst seine absolute Negativität an der ihm begegnenden Welt, die in ihrer Substanz völlig zernichtet wird. Damit tilgt das Selbst im Namen abstrakter Freiheit neben jedem substanziellen Gehalt seiner Welt auch seine eigene geschichtliche Genese16, die damit das Selbst nicht mehr im Letzten zu fundieren vermag. Damit tritt es in den härtesten Gegensatz, insofern es einerseits allgemeine Negativität, andererseits die radikale Singularität eines prädikatlosen Absoluten darstellt, welche sich als Tod gestalten. Die letzte Geltung findet das Bewusstsein also im absoluten Herren, dem Tod. Die an dieses Bewusstsein anknüpfenden Gestalten stellen als Moralität den gehemmten Terror (bzw. sublimierten Tod) und als Gewissen dessen Internalisierung dar. Hegel erkennt also die Genese neuzeitlicher Moralität aus dem Terror absoluter Freiheit, wobei an dieser Stelle hinzuzufügen ist, dass die Größe des moralischen und gewissenhaften Urteils und seines Geltungsanspruches gerade darin besteht, dass beide Gestalten17 – das Subjekt aus seinen substanziellen Einbettungen (Sittlichkeit, Familie, Glaube, Geschichte etc.) befreiend – die Erfahrung des Allgemeinen und damit die Erfahrung der Freiheit als Ausdruck eines allgemeinen Geschehens (und nicht bloß kontingenter Selbstsetzung) in sich enthalten.

14  Vgl. dazu Curi 2015. 15  Das religiöse Bewusstsein des Glaubens spiegelt also seinen eigenen Antagonismus, indem es seine Welt aufspaltet in eine wirkliche und eine leere, nur die Entfremdung als solche spiegelnde religiöse Sphäre. 16  Vgl. dazu Bahr 1985, 67 ff. 17  Wobei im Gewissen auch das kontingente Singuläre („Gefühl“) als Moment des Allgemeinen enthalten ist. Auch darin zeigt sich Hegel wiederum nicht als der Rationalist, als der er gemeinhin angesehen wird.

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3 Das Brechen des Urteils Im Brechen der Geltung des Urteils – als letztem Gegenstande des Bewusstseins18 –, in der sich der Geist seiner selbst gewiss wurde, vollzog sich der entscheidende Schritt hin zur Erkenntnis, dass die Welt keine Projektionsfläche des Selbst ist. Das Bewusst-Sein (der Begriff) erkennt sein Scheitern, sich über seine Gegenständlichkeit einzuholen und sich in ihr ein positives Fundament zuzueignen. Hegels Religionsphilosophie bringt damit das genaue Gegenteil von Feuerbachs Religionskritik zum Ausdruck. Feuerbach wollte die Religion als Projektion des Menschen dechiffrieren. Bei Hegel bedeutet die Religion hingegen das Ende aller Projektionen. Die Religion als Selbstbewusstsein des absoluten Geistes bedeutet, dass sich das Selbst nicht mehr von seiner Gegenständlichkeit her versteht, sondern von der Auflösung derselben. Während die ersten Bewusstseinsstufen bis zum Geist der Versuch des Selbst waren, sich positiv in seiner Welt zu verorten, so drückt die Religion als Stufe des Verlusts ein negatives Verhältnis des Selbst zum Sein aus. Während die Substanz, von der der Ausgangspunkt genommen wurde, in der gegenständlichen Seite des Bewusst-Seins liegt, IST das Subjekt die Auflösung (der Verlust) der Gegenständlichkeit. Von daher wird sich das negative Verhältnis zum Gegenstand, also dessen Verlust, zunehmend als anderes Subjekt gestalten. Am Aufgang des anderen Selbst, von dem Hegel bereits am Eingang der Religion im Zusammenhang mit dem Lichtwesen spricht19, welches nicht mehr in die immanenten Kategorien des eigenen Selbst einzuordnen und somit absolut ist, zerbricht dessen Selbstkonzeption. 4 Das Absolute als Verlust des Gegenstandes der Erfahrung Daher sind alle Religionsstufen in Hegels PhdG Symbolisierungen20 von Verlusterfahrungen. Sie repräsentieren nicht den Gegenstand einer BewusstSeins-Stufe, sondern dessen Verlust. Das Absolute manifestiert sich in der Auflösung der Substanz als (frei hervortretendes) Subjekt. Bei genauer Lektüre 18  Zur Frage des Brechens des Urteils als Ausgang aus der Entfremdung siehe Kern 2012. 19  Hegel, Werke 3, 506. 20  Der Begriff „Symbolisierung“ soll zum Ausdruck bringen, dass die religiösen Gestalten keine Referenz auf Gegenstände, sondern auf deren Negativität darstellen. Sie sind damit nicht Referenz auf „Etwas“, sondern auf „Nichts“. Ihre Bedeutung kann sich damit überhaupt nicht mehr unmittelbar, sondern nur mehr in der Negation unmittelbarer Bedeutung ergeben, die allerdings noch einmal in Verweis auf das Negierte benannt wird. Eine ähnliche Bedeutung erfährt die Symbolisierung im Übrigen auch in der Psychoanalyse von J. Lacan, wo das Symbolische im Gegensatz zum Imaginären die Trennung von jeder Selbstbespiegelung durch die Sprache des Anderen zum Ausdruck bringt. Vgl. dazu auch Recalcati 2012.

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des Religionskapitels merkt man, dass dessen Gestalten21 durch und durch mit Todessymbolik behaftet sind, von der ägyptischen Religion und ihrem Totenkult bis hin zur offenbaren Religion (Christentum) und ihrem Leitsatz: „Gott ist tot“. Darin manifestiert sich das nicht zuletzt von Heidegger in Sein und Zeit herausgestrichene Wissen, dass im Tod die Selbstkonzeptionen des Selbst und deren gegenständliche Ausdrucksformen zerbrechen. 5 Die Gestalten der Religion als Entsprechung des Absoluten Durch den Verlust seines Gegenstandes tritt für das (Selbst-)Bewusstsein an die Stelle der linearen Beziehung eines Subjekts zu einem Objekt zunehmend die Beziehung der Wechselseitigkeit, in der sich Bewusstsein und Gegenstand als einander entziehende entsprechen. Jede Stufe der Religion ist die Symbolisierung der bestimmten Aufhebung der von der sinnlichen Gewissheit bis zum Gewissen (bzw. bis zur Verzeihung) erscheinenden Gegenstände22. Diese treten nicht mehr als positivierte Objekte des Weltumgangs des BewusstSeins auf, sondern als negative, d.h. sich entziehende selb-ständige Gestalten, d.h. als Subjekte. Sie gehen weder aus dem Weltumgang des Bewusstseins (im Sinne eines Verursachten) hervor noch sind sie an sich vorgefunden. Vielmehr sind ihre jeweiligen Gestaltungen als freies unverfügbares Hervortreten des Subjekts Entsprechung(en) des Absoluten. Hegel kann daher festhalten, dass es sich nicht mehr um „Attribute der geistigen Substanz“, sondern um „Prädikate des Subjekts“23 handelt. Da der Gegenstand damit seine Freiheit gewinnt, ist auch die Zeitstruktur in der Religion freier. Es gibt keine absolute Notwendigkeit einer Aufeinanderfolge mehr und jede Stufe der Religion beinhaltet damit das freie Hervortreten der anderen24. 6 Die Transsubstantiation der Substanz in das Subjekt Der erste Gang der PhdG von der sinnlichen Gewissheit bis zum Geist entspricht einer Entäußerung des Subjekts, insofern dieses zunehmend die Erfahrung macht, sich nicht mittels seiner Welt erhalten zu können. Dem entspricht 21  Für eine Interpretation siehe Schmidt 1997. Ferner Stekeler 2014, 729–962. 22  Für eine detaillierte und spekulative Darstellung siehe Auinger 2003. Weiters: Dunshirn 2004. 23  Hegel, Werke 3, 501. Man könnte also sagen, sie sind nicht mehr „Substantiierungen“ des jeweiligen Weltumganges des Bewusst-Seins, sondern Symbolisierungen des freien Hervortretens des Gegenstandes. 24  Hegel kann daher schreiben: „Die Reihe der verschiedenen Religionen, die sich ergeben werden, stellt ebensosehr wieder nur die verschiedenen Seiten einer einzigen, und zwar jeder einzelnen dar, und die Vorstellungen, welche eine wirkliche Religion vor einer anderen auszuzeichnen scheinen, kommen in jeder vor.“ Vgl. Hegel, Werke 3, 503 f.

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auf religiöser Seite eine Entäußerung der Substanz. Denn in den einzelnen religiösen Stufen gestaltet sich die Entzogenheit des Seins zunehmend als Negatives, d.h. als Selbst. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass das Sein in keine Abhängigkeit vom Bewusstsein zu bringen ist und frei hervortritt. Dabei wird sich das (Selbst-)Bewusstsein in der Entzogenheit des Gegenstandes zunehmend der eigenen Entzogenheit bewusst. Die Substanz, die den positiven Weltbezug des Selbst repräsentierte, entäußert an ihr selbst die Dimension des Selbst. Dahinter steht nicht zuletzt das Wissen, dass das Selbst da auftritt, wo das Andere nicht mehr vergegenständlicht werden kann. „Selbst“ bedeutet daher die Transsubstantiation der Substanz in das Subjekt. Wo das Andere noch als Substanz, d.h. von seiner gegenständlichen Seite erfasst wird, ist es noch nicht im vollen Sinne des Wortes als Subjekt, d.h. als Selbst erkannt, worauf in unserer Zeit besonders Levinas aufmerksam gemacht hat. In der Religion absolviert sich der Gegenstand aus meiner Verfügungsgewalt und gestaltet sich darin als Absolutes. 7 Der Aufgang des Absoluten Die erste religiöse Gestalt nennt Hegel das Lichtwesen. Dessen Aufgang widerfährt dem religiösen Bewusstsein. Das Lichtwesen ist ein treffendes Bild des in allen Stufen mitgehenden Anfangs der Religion, weil das Licht Symbol für das alles Durchdringende ist, ohne seiner habhaft werden zu können. Besonderes Augenmerk ist auf eine der folgenden Stufen, nämlich die Tierreligion zu legen, weil sich in ihr der Umschlag zwischen dem Geist- und dem Religionskapitel besonders greifbar verdeutlichen lässt. Als bloß geistiger Gegenstand des Selbst spiegelte sich das Tier im Bewusstsein als die Kraft tierischer Animalität. In der Tierreligion dagegen fungiert das Tier als Symbol der Befremdlichkeit des Gegenstandes, insofern im Tier eine nicht einholbare Alterität begegnet. 8 Der Tod als religiöse Erfahrung Der mit dem zunehmenden Abhandenkommen an Gegenständlichkeit einhergehende Verlust an Möglichkeiten zur Selbstfindung verstärkt sich in den folgenden Stufen des Religionskapitels der PhdG: In der Religion des Werkmeisters verweisen die Kanten der Kristalle der Pyramiden und Obelisken25 auf die Grenze der Selbsterfassung und in einem tieferen Sinne auf die Schranke des Todes. Dieser bringt den Untergang des Gegenstandes, der das Selbst als ortlos zurücklässt, d.h. den Verlust, den das Selbst darin erfahren 25  Diesen und andere Hinweise zu Gestalten des Religionskapitels verdanke ich besonders den gemeinsamen Hegel-Lektüren mit Friedrich Kern.

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hat, zum Ausdruck. Die Undurchdringlichkeit des Anderen, d.h. des sich entzogen habenden Gegenstandes, manifestiert sich auch in der Hieroglyphe, in der das Ambivalente des Tierischen – Ausdruck von Vitalität und Symbol von Todesgefahr und Fremdheit – festgehalten wird im opaken Zeichen. Das Absolute entspricht auf dieser Stufe dem Bewusst-Sein als undurchdringliches Geheimnis, hinter dem sich der Tod verbirgt. Die Kunstreligion hebt mit der Schöpfung der Götterskulptur als abstraktes Kunstwerk an, in der der Künstler den individuellen und kollektiven Leidensgang des Selbstverlustes im Hervorbringen der Göttergestalt zum Ausdruck zu bringen sucht, deren Erhabenheit jede (tröstende) Vereinigung mit dem Selbst ausschließt. Deren Abstraktion liegt darin, dass die Negativität des Selbst (d.i. das Selbst als Verlust, als Sich-anders-Werden) mit der Statue noch nicht entsprechend dargestellt werden kann. Im Orakel und im Hymnus gestaltet sich die Erfahrung der Negativität das erste Mal sprachlich. Eine weitere Gestalt des religiösen Bewusstseins ist der Kultus, der seine Ausprägung im Opfer erfährt: Konkret wird die Natur als aufgeopferte Gottheit aufgefasst. Sie ist dadurch nicht mehr Gegenstand, sondern tritt dem Bewusstsein explizit als Selbstbewusstsein gegenüber. Das Absolute entspricht auf diese Weise als sich gebender und sich entziehender Genuss der Natur. Eine weitere wichtige religiöse Gestalt zeigt sich in der Inszenierung des Körpers im lebendigen Kunstwerk, bei dem Hegel an die Olympischen Spiele denkt. Der Athlet manifestiert darin den Aufgang eines zweiten, nicht mehr positivierbaren, d.h. ungegenständlichen Körpers. Er transformiert sich ganz in verweisende Bewegung, die gerade nicht die unmittelbare Selbstdarstellung des Ichs zum Ausdruck bringt, sondern dessen Transzendierung. Waren bereits die ersten Gestaltungen (Licht, Tier, Pyramide, Götterstatue etc.) Verweise auf Anderes, so wird dieses im Spiel gewissermaßen inszeniert. Damit tritt an die Stelle des Gegenstandes als Projektionsfläche der Selbstbespiegelung, die den ersten Teil der PhdG prägte, der Gegenstand als Verweis auf Anderes. 9 Der göttliche Hervorgang im Mythos In der Kunstreligion antwortet der Künstler als Bildhauer der Götterstatuen, als epischer Sänger und als tragischer Dichter in der Schöpfung der Götter auf den Untergang der Substanz, d.h. auf die – in jeder sprachlichen Äußerung – verlorene Einheit mit der begegnenden Welt. Er entspricht dem Untergang (der Entäußerung) der Substanz in der Evokation des Subjekts, womit wir beim Kern des Mythos angelangt sind. Dabei zeigt sich bereits in den ersten Stufen der griechischen26 Kunstreligion die göttliche Substanz in menschlicher Gestalt, 26  Hegel denkt in diesem Kapitel natürlich an die Welt der Griechen, grundsätzlich aber sind die einzelnen Gestalten des Religionskapitels nicht bestimmten historischen Epochen

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aber sie bringt in der idealisierten Form derselben deren Befremdlichkeit noch nicht in vollem Ausmaße als die leidvolle, verletzbare und sterbliche Kontingenz (menschlichen) Seins zum Ausdruck27. Über das lebendige Kunstwerk hinaus führt das geistige Kunstwerk, welches durch die Sprache geprägt ist. Als Epos und stärker noch als Tragödie gestaltet es sich immer deutlicher als Verweis auf die schicksalhafte Notwendigkeit des Todes als Referenz sprachlicher Weltbegegnung. Die Sprache manifestiert in einem tieferen Sinne nicht „etwas“, sondern sie bringt den Verlust unmittelbarer Weltbegegnung (und in der Benennung den Untergang unmittelbaren Seins) zum Ausdruck und ist dadurch Nachhall des Göttlichen, welches die Macht hat, den Tod zuzuteilen und den Menschen darin mit der eigenen Endlichkeit (die er am verlorenen Sein erfährt) zu konfrontieren. Die Notwendigkeit des Todes wird in weiterer Folge zunehmend bewusst, bleibt aber in ihrer Verbindung mit dem (sprechenden) Selbst zunächst noch hinter der Maske des Schauspielers verborgen. Das Absolute ist auf dieser Stufe die verborgene Unheimlichkeit des Schicksals, die sich als unerbittlich alles zermalmende Notwendigkeit des Todes erweist. 10 Die Lüftung der Maske des Todes Den Kulminationspunkt des geistigen Kunstwerks stellt das komödiantische Bewusstsein dar. In ihm lüftet sich die Maske, und die sich hinter ihr befindliche Welt wird endgültig als kontingent-verletzbares Selbst, welches die Gestalt des Todes trägt, dechiffriert. Das komödiantische Bewusstsein versucht diesem Tod nicht mehr zu entfliehen, vielmehr begegnet es ihm mit einem Zerlachen, welches auch alle bisher aufgetretenen geistigen und religiösen Gestalten betrifft, welche sich als Masken des Todes herausgestellt haben. Darin geht die gesamte todesverfallene Welt als Ausdruck des Selbstbezugs zu Grunde und mit ihr sowohl jede Form substanzhaften Seins als auch jede Form bisheriger religiöser Gestalt. In dem Lachen als Ende jeder Gegenständlichkeit (bzw. Selbsthabe28) tritt daher das Selbst in seiner reinsten Form hervor: Das Ich ist in seiner nun linear zuordenbar, vielmehr bringen sie paradigmatische Erfahrungen des Absoluten zum Ausdruck. 27  Pirmin Stekeler, der sehr schön den Bezug von Religion und Kontingenz bzw. Leid an Hand des Christentums ausarbeitet, betont die Freundlichkeit der griechischen Kunst (was er allerdings auch mit einem Hinweis auf Laokoon einschränkt; vgl. Stekeler 2014, 894). Tatsächlich ist das Leid in den ersten Stufen der Kunstreligion erst implizit thematisch, allerdings ist, wie nicht zuletzt auch Epos und Tragödie zeigen, der Leidensweg des Substanzverlustes durchaus präsent. 28  Zum Lachen vgl. Bahr 1985, 322–339.

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unverborgenen, nicht mehr geistig oder religiös einzuholenden Kontingenz vollkommen auf sich zurückgeworfen. Es bekommt die Bedeutung des Absoluten – unter Annihilierung allen Seins einschließlich der Götter. Auf diese Weise stellt sich das „Selbstbewusstsein als das Schicksal der Götter dar“29. Das Ich ist der gleichermaßen lachende wie kontingente Gott. In der Komödie wird demgemäß der Satz ausgesprochen Das Selbst ist das absolute Wesen/die Substanz30, in das alle Substanz zurückgegangen ist. Allerdings wird sich zeigen, dass das Selbst, wenn es dieses Lachen wiederum im Sinne eines Selbstbezugs einfangen will, als sich auf sich beziehende Negativität nichts anderes ist als der absolute Unterschied (und damit Verlust) von sich und darin die Umkehrung seiner selbst. Deshalb wird sich der spekulative Satz, in dem sich das komödiantische Bewusstsein präsentiert („Das Selbst ist das absolute Wesen/die Substanz“) verkehren in seinen Gegen-Satz Das absolute Wesen/die Substanz ist das Selbst. Beide zusammen bilden die Bewegung des Ich=Ich (s.u.). 11 Das Selbst als absolutes Wesen Philosophiegeschichtlich ist wohl der neuzeitliche Verkünder des komödiantischen Bewusstseins Nietzsche. Das geistvolle Moment der Komödie liegt darin, dass alle substanziellen Positivitäten, d.h. nicht zuletzt die als Herren aller Zeiten auftretenden Masken des Todes zerlacht werden. Allerdings findet die Komödie als absolut inhaltszersetzendes Wissen keinen substanziellen Halt mehr und trägt daher den Untergang in sich. Ihr oben zitierter Leitsatz darf im Übrigen nicht als egozentrische Figur missverstanden werden. Der Verlust ihrer Welt – d.h. sowohl ihres Seins als Selbstbezug in der Einheit von Bewusstsein und Gegenstand als auch der Götter als Ende des Selbstbezuges in der Trennung von Bewusstsein und Gegenstand – bedeutet keinen zu vollbringenden Verzicht, mit dem es in der Verzeihung am Ausgang des Gewissens konfrontiert war. Ihre verlorene Welt verweist auch nicht auf einen Abstraktionsprozess des Bewusstseins, den dasselbe in der Freiheit des Terrors als sich in der Zerstörung seines Gegenstandes erhaltendes Ich vollzogen hatte. Vielmehr weiß die Komödie, dass der Verlust ein substanzielles Geschehen ist und als solches einen radikalen Verlust miteinschließt. In dieser Erkenntnis zerlacht sie alles, woran sich das BewusstSein als solches gehalten hat. In der Religion wurde anhand des nicht zuletzt in der Sprache erfahrenen freien Hervortretens des Gegenständlichen die eigene Endlichkeit bewusst. Die Komödie zelebriert die Befreiung zur Endlichkeit. 29  Hegel, Werke 3, 541. 30  Für eine detaillierte Darstellung der dialektischen Bewegung vgl. Auinger 2003, 123–130.

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Darin ist sie die erste Stufe, die Freiheit als Freiheit zur Endlichkeit begreift und in dieser Freiheit auch das Selbst als Verlusterfahrung affirmieren kann. Allerdings wird diese auch das Selbst des komödiantischen Bewusstseins ergreifen. Es schlägt dadurch in seinem Vollzug unmittelbar in das unglückliche Bewusstsein um. 12 Komödie und unglückliches Bewusstsein Die Wahrheit des komödiantischen Bewusstseins, nämlich die Haltlosigkeit eines auf sich (bzw. auf Nichts) zurückgeworfenen Selbstbewusstseins, spricht das unglückliche Bewusstsein aus, das sein Selbst bereits als Verlust erfahren hat. Es „weiß ein solches Gelten [des Selbst] vielmehr als den vollkommenen Verlust; es selbst ist dieser seiner bewusste Verlust und die Entäußerung seines Wissens von sich“31. Im Verlust des Wissens von sich ist es (religiöse32) Entäußerung des Subjekts und als solches die Gegenbewegung bzw. die Vervollständigung des glücklichen, komischen Bewusstseins, in welchem sich die Entäußerung der (religiösen) Substanz in das Selbst vollzogen hat. Erst beide Entäußerungsbewegungen zusammengenommen werden die wirkliche Entäußerung der (göttlichen) Substanz als korrespondierende Bewegung des Gewissens, welches in der Verzeihung an sich vollzogen wird, ergeben33. 13 Der Begriff der Entäußerung Der Begriff der Entäußerung, der im Zusammenhang des komödiantischen Bewusstseins und des unglücklichen Bewusstseins – an diesen beiden Stellen die offenbare Religion einleitend – ebenso auftritt wie im Gewissenskapitel, weist auf einen der zentralen Gedankengänge Hegels hin: Das „Selbst“ kann sich nicht als rein selbstreflexive Beziehung erhalten, was den Hintergrund der Erfahrung der Entäußerung des Subjekts im Geistkapitel ausmacht, welche im Gewissen kulminiert. Der Gegenstand wiederum wurde innerhalb dieses Selbstbezuges des Subjekts je neu konfiguriert; d.h. er wurde, insofern sich die Selbstreflexion des Subjekts sprachlich zum Ausdruck bringt, je innerhalb eines sprachlichen Zeichensystems neu erstellt. Mit dem Bruch der Selbstreflexion bricht aber auch der Gegenstand, er geht in seiner Substanz als Projektionsfläche des (eigenen) Selbst verloren und gestaltet sich in diesem Verlust als (anderes) Subjekt. Denn das Subjekt ist wiederum nichts Anderes 31  Hegel, Werke 3, 547. 32  Diese ist nicht zu verwechseln mit der gewissenhaften Entäußerung des Selbst, deren (gewissenhaftes) Selbst noch nicht als Absolutes, d.h. vom Gegenstand losgelöstes hervorgetreten ist (siehe II, 13). 33  Vgl. dazu Auinger 2003, 146–187.

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als die Negativität der Substanz, das Selbst die Auslöschung des Gegenstandes. Von daher korrespondiert innerhalb der PhdG jeder Stufe der Entäußerung des Subjekts (sinnliche Gewissheit bis Gewissen) eine Entäußerung der Substanz (Lichtwesen bis offenbare Religion). Im komödiantischen Bewusstsein gewinnt das Selbst nicht mehr im Sinne der positiven Beziehung auf den Gegenstand als Vermittlung der Selbstreflexion, sondern als negative Beziehung auf den Gegenstand eine absolute, d.h. vom Gegenstand losgelöste Bedeutung. In das unglückliche Bewusstsein schlägt das komödiantische Bewusstsein dadurch um, dass es, die ekstatische Erfahrung des Selbst erhalten wollend, vergeblich versucht, (erneut) ein positives Verhältnis zum Selbst aufzubauen (dieser Versuch einer Vergegenständlichung des Selbst als Vermittlungsebene selbstreflexiver Einholung war im unglücklichen Bewusstsein gescheitert). Dadurch erfährt es den vollkommenen Verlust sowohl des Gegenstandes als auch des (vergegenständlichten) Selbst. Am radikalsten wird dieser doppelte Verlust in weiterer Folge in der offenbaren Religion manifest, wo er sich angesichts des Kreuzestodes Jesu ausspricht „als das harte Wort, dass Gott gestorben ist“34. 14 Der Tod Gottes und der Tod des Todes Der Satz „Gott ist tot“ ist als spekulativer Satz zu fassen und nicht als paradoxes Prädikat des Absoluten. Er bedeutet nicht nur den Verlust Gottes als absoluter Position (bzw. als Herrensignifikant im Sinne Lacans oder als omnitudo realitatis der Metaphysik etc.) und damit verbunden die Selbständigkeit bzw. das Freilassen der endlichen Welt, sondern auch, dass der Tod in diesem Verlustgeschehen eine neue Bedeutung erhält. Er wandelt sich vom absoluten Herrn des Selbstbewusstseins und von der alles annihilierenden Leere der Aufklärung (unserer heutigen Auffassung35) zur Offenbarung der Endlichkeit als eines dem Absoluten selbst inhärierenden und damit dieselbe anerkennenden Geschehens. Der Tod als Ende sowohl aller (Selbst-)Repräsentation wie als Ende aller Bilder und Repräsentationen, in die die Religion den ihr widerfahrenden Aufgang des Anderen im Selbstverlust zu kleiden versuchte, unterstreicht den Charakter der nicht reflexiv einzuholenden Kontingenz und damit der absoluten Unverfügbarkeit der Substanz wie des Subjekts. Er „stirbt“ als prädikatloses Absolutes und steht am Eingang eines radikalen Eröffnungsgeschehens,

34  Hegel, Werke 3, 547. 35  Vgl. dazu das wunderbare Buch von Bahr 2002. In diesem Werk zeigt Bahr, dass der letzte große Mythos der Moderne die Vorstellung des Todes als alles annihilierende Leere darstellt, worin nicht zuletzt der Nihilismus der Moderne auf den Punkt gebracht wird.

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in dem der absolute Geist ein freies Verhältnis von Selbst und Gegenstand sowie von Sprache und Bewusstsein36 bezeichnet (siehe 2.21). Das Sinnliche als erste und letzte Stufe der Entäußerung des Absoluten Im komödiantischen Bewusstsein offenbarte sich das Absolute als Verlust. Dieser wurde unmittelbar als Lachen zum Ausdruck gebracht, welches in das Unglück umschlägt – d.h. das „Wohlsein“ der Komödie und die melancholische Trauer des Unglücks sind ständig ineinander übergehende Erfahrungsmomente an der Pforte des absoluten Geistes. Der nächste Schritt liegt darin, dass das in seiner Kontingenz hervorgetretene Selbst als Verlust der Substanz – d.h. als negatives Selbst und nicht als positiver Gegenstand! – auf unmittelbare Weise als sinnliches Ereignis geoffenbart wird. Die Sinnlichkeit tritt in ihrer Wahrheit hervor, denn sie erfährt ein ständiges Sich-Entziehen des Gegenständlichen, welches die sinnliche Gewissheit noch in ihrem unmittelbaren Zugriff festzuhalten suchte. Das Absolute entäußert sich als Sinnliches, d.h. als Singularität, in die aller Verlust an Substanzialität zurückgeht. Es ist konkrete, einmalige, zeitliche Existenz, die in Jesus von Nazareth einen Namen zeigt, der sich jeder letzten Handhabe entzieht. Die Sinnlichkeit als erste Form der PhdG ist als Offenbarung des Absoluten auch die letzte und höchste Form, in der sich der absolute Geist manifestiert. Die besondere Pointe Hegels besteht also darin, dass die Sinnlichkeit der offenbaren Religion in der Aufhebung aller reflexiv-vermittelten Bilder und Gestalten einschließlich ihrer sprachlichen Referenzen hervortritt. Die unmittelbare Sinnlichkeit der sinnlichen Gewissheit litt unter dem Defizit, nicht sinnlich genug auftreten zu können, sondern unter der Schirmherrschaft des (referenziellen) Meinens des Bewusstseins zu stehen, welches das Sinnliche – nicht zuletzt in der Benennung – in die eigene Reflexionsbewegung aufzuheben suchte. In der offenbaren Religion ist hingegen als Konsequenz des oben beschriebenen Verlusts eine „Armut im Geiste“ erreicht, aus der ein sinnlicher Überschuss gegenüber jeder Selbstreflexion – sei diese positiv (Geist), sei diese negativ (Religion) in Bezug auf ihren Gegenstand – hervortritt. Hegel holt hier den Kantischen Gedanken der ästhetischen Idee ein, unter der „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft [zu verstehen ist], die 15

36  An dieser Stelle soll auf Bruno Liebrucks verwiesen werden, der wie kaum ein anderer Denker den sprachphilosophischen Aspekt hegelscher Philosophie untersucht und dabei sowohl die Jugendschriften als auch die beiden spekulativen Hauptwerke Hegels in unvergleichbarer Breite interpretiert hat. Vgl. Liebrucks 1966/1970/1974. Zu einer Darstellung der Hegel-Lektüre von Liebrucks vgl. Ungler 2014.

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viel zu denken veranlaßt, ohne dass ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“37 und die, wie Kant hinzufügt, das „Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann“38. Die Weiterentwicklung der Kantischen Kritik der Urteilskraft seitens Hegels besteht also letztlich darin, dass er die ästhetische Idee und die Vernunftidee zu vermitteln sucht. 16 Der menschgewordene Gott als singuläres Ereignis Nach Hegels Auffassung bringt sich in der offenbaren Religion der höchste Gegensatz des Ich=Ich (des Begriffes) in seiner immanenten Negation zum Ausdruck: das (Sich-)Erkennen des Selbst vollzieht sich im radikalen Sich-Anders-Werden (und Verlieren) am Aufgang des Anderen; das Absolute als singuläres Seiendes erscheint im Verlust alles Seienden; das Allgemeine manifestiert sich im Einzelnen; die bereits am Eingang der PhdG gesuchte Sprache zeigt als Referenz auf das Sein (Dieses) Nichts und hebt damit jede Referenz auf. Von daher ist es einleuchtend, dass der Gegenstand der offenbaren Religion weder als Projektion des religiösen (Selbst-)Bewusstseins gefasst werden kann – in diesem Falle wäre sie als dessen Entwurf noch Moment der Selbstdarstellung des Subjekts –, noch im Sinne eines äußerlich Zufallenden zu verstehen ist – denn darin wäre der Gegenstand wiederum ein Positives, an dem sich die Reflexion des Selbst vollzöge39. Weiters ist zu betonen, dass Jesus gerade darin Verweis auf das Absolute ist, indem er vollkommen Jesus, d.h. er selbst ist (siehe auch II, 21). Was wie eine Tautologie klingt, ist in Wahrheit eine Konsequenz des spekulativen Satzes, in dem Subjekt und Prädikat umfanggleich sind. An dem sinnlich geoffenbarten Absoluten zerbrechen alle (mittels Vergegenständlichung vorgenommenen) reflexiv vermittelten Prädikationen und positiven endlichen Zuschreibungen. Dem entsprechen die Evangelien dadurch, dass an keiner einzigen Stelle irgendwelche äußeren Merkmale Jesu geschildert werden.

37  Kant, AA V (Kritik der Urtheilskraft), 314. 38  Ibidem. 39  Von daher gilt Hegels paradigmatischer Satz „Das Ideal können wir nicht außer uns setzen, sonst wäre es ein Objekt, - nicht in uns allein, sonst wäre es kein Ideal“, den er in den Jugendschriften zum Ausdruck gebracht hat, auch für die PhdG. Siehe Hegel, Werke 1, 244.

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17 Das Absolute als Entsprechung von Bewusstsein und Gegenstand Das Absolute entäußert – als höchster Punkt der Entäußerung der göttlichen Substanz – an ihm (und durch IHN) alle reflexive Vermittlung, in der das Kontingente aufgehoben war, und setzt es darin frei. Dem entspricht, wie Hegel besonders im absoluten Wissen ausführt, das Ablassen des eigenen Geltungsanspruches, den das Gewissen in der Verzeihung erfahren hat. Dadurch zeigt sich die PhdG als Entsprechung zweier Entäußerungsbewegungen: Die Entäußerung des Subjekts konnte als das Zerbrechen der Geltung und der damit verbundenen Freilassung des Anderen dargestellt werden. Die zweite Entäußerung, nämlich die der Substanz, fand ihren tiefsten Ausdruck in der offenbaren Religion und mündet in der Erkenntnis, dass die Substanzialität jenen Verlust an Gegenständlichkeit darstellt, in dem die Wirklichkeit als (anderes) Selbst auftritt. Jetzt kann ein weiterer Schritt vollzogen werden, um die Tragweite dieses Geschehens zu erfassen: Es manifestierte sich bereits im Sein der sinnlichen Gewissheit, welches sich aus seiner Unmittelbarkeit entäußerte und sich in seiner Entzogenheit zum Zeig- und Benennbaren machte. In weiterer Folge entspricht jeder Stufe des Gegenstandes des Bewusstseins die entsprechende religiöse Gestalt als Ausdruck dessen subjekthafter (und damit unverfügbarer) Seite bis hin zur offenbaren Religion, in der die Entäußerung als substanzielles Geschehen, d.h. der Verlust der Substanz, die Gestalt eines Selbstbewusstseins erhalten hat. Entscheidend ist, dass sich die Substanz (das Sein) in ihrer (seiner) Totalität von sich her entäußert. Dabei sind – genauso wie im Gewissen das Bewusstsein mit dem Ablassen vom Urteil auch von allen vorhergehenden Selbstkonzeptionen Abschied nimmt – auch in der offenbaren Religion alle religiösen Momente aufgehoben. Das Absolute entäußert also an ihm alle substanziellen Momente von der Unmittelbarkeit (Sein als Lichtwesen) bis hin zur Notwendigkeit (Wesen als Epos und Tragödie) und Freiheit (Komödie). In der Menschwerdung Gottes in der konkreten, d.h. räumlich („Hier“) und zeitlich („Jetzt“) verortbaren Existenz Jesu, der in der freien – die Endlichkeit anerkennenden – Hingabe seines Lebens ebenso die Entäußerung des Subjekts vollzieht, kommen die beiden Entäußerungsbewegungen zu ihrem Abschluss, weil in ihnen alle Stufen des Geistes und der Religion vermittelt sind. Auf diese Weise zeigt sich das Absolute gerade im Verzicht auf sich als Entsprechung von Bewusstsein und Gegenstand, die sich bereits im Diesen dadurch gezeigt hat, dass es der sinnlichen Gewissheit als sich Entziehendes begegnet. 18 Freiheit und Endlichkeit Bei Hegel kann Freiheit nicht im Sinne eines ersten Selbstanfangens verstanden werden, da jedes Moment des Bewusst-Seins bereits in einem dynamischen

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Wechselspiel steht – und zwar in dem Sinne, dass am Anfang (als Anfangen von etwas) bereits ein Verlust positivierbaren Anfangens gestanden ist. Da die Wahrheit des Selbst gerade in seinem Verlust an Gegenständlichkeit lag, an der es etwas vollziehen konnte, und sich dieser Verlust als Aufgang des Anderen (innerhalb des eigenen Selbst) gestaltete, steht im Zentrum jeder Aktivität eine Passivität: Sprechen heißt somit Angesprochensein, Handeln heißt Widerstand erfahren etc. Eine tiefere Bedeutung erfuhr die Freiheit in der Aufklärung. Das Selbst arbeitet in ihr reflexiv jede Gegenständlichkeit hinweg und integriert sie in ihr eigenes. Ihren Höhepunkt findet diese Entwicklung in der absoluten Freiheit, die selbst die Genese, aus der sie sich verstehen kann, hinweggearbeitet hat. Sie ist also deshalb absolut, weil sie nicht mehr an Kontexte geknüpft ist, was gleichzeitig auch ihren völlig virtuellen Charakter zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig erfährt sie aber – in der Moralität und im Gewissen – den Status ihrer Unfreiheit am Widerstand des – weil seiner Kontexte beraubten – völlig kontingent auftretenden Gegenstandes. Das Gewissen lernt am Ende seiner Genese die Freiheit als Verzicht auf das Urteil und damit auch als Verzicht auf sich selbst kennen, verbunden mit einer Freilassung des Anderen. Genitivus Subiectivus und Genitivus Obiectivus sind in dieser Wendung nicht mehr zu trennen, sondern bilden einen reinen Übergang. Im religiösen Bewusstsein ist die Komödie die Stufe des Überganges von der Notwendigkeit (des vom Tode bestimmten Schicksals) in die Freiheit. Die Komödie erfährt im Lachen das Selbst als von der Reflexion befreites, sie zeigt sich darin als Absolutes, insofern sie den ihr widerfahrenden Verlust als ihren Verlust übernimmt. Die Freiheit kristallisiert sich damit bei Hegel immer stärker als ein Aus-sich-Entlassen heraus bzw. als die Übernahme eines widerfahrenden Verzichtes, die die Antwort auf ein unableitbares, kontingentes Geschehen darstellt. Ein großes Missverständnis betrifft in diesem Zusammenhange die Frage des Endlichen. Endliches Denken ist bei Hegel zunächst das Denken in der Urteilsform, dem das herstellende Handeln (im Sinne der Poiesis) entspricht. Wo dieses nicht als Moment des geistigen Vollzuges, sondern als absolut angesehen wird, verharrt der Mensch in seinen Urteilen und Handlungen. Er ist darin in sich gefangen und die begegnende Welt bleibt verschlossen. Dagegen gibt es die Bedeutung des Endlichen im Sinne des Insichgehens. Das Selbst kann seiner überhaupt nur gewahr werden, wenn es sich in den Gegensatz gegen seine Umgebung setzt, wenn es sich als begrenzt erfährt. Die entscheidende Frage liegt darin, ob es versucht, aus seinen Grenzen herauszutreten, indem es das Andere unter sein Selbst (im Urteil und im Handeln) zu subsumieren trachtet, oder ob es sich der Erkenntnis aussetzt, dass bereits das Absolute in sich gegangen ist. Dies bedeutet, dass sich das Absolute selbst in der Offenheit einer in sich vielfältigen und perspektivischen, nicht im eigenen

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Reflexionsprozess repräsentierbaren Welt zum Ausdruck bringt. Diese unendliche Öffnungsbewegung wiederum verbindet das (Selbst-)Bewusstsein auf radikalisierte Weise mit der sinnlich-kontingenten Welt. Hegel prägt für seinen Gedanken, dass sich das Absolute als Verweis des Kontingenten manifestiert, am Ende des absoluten Wissens zwei markante Sätze: „[…] dieses Entlassen seiner aus der Form seines Selbsts ist die höchste Freiheit und Sicherheit seines Wissens von sich.“40 Sowie den Satz: „Seine Grenze wissen heißt sich aufzuopfern wissen.“41 Es geht also nicht darum, in dem Wissen der Grenze immer schon über diese in Richtung Unendliches hinausgegangen zu sein, sondern darum, ganz und gar in der Grenze negativ mit sich identisch zu sein42. Freies Selbst bedeutet, das Bestimmtwerden durch begegnende Kontingenz als eigenes Bestimmen zur Kontingenz zu bestimmen. Die Form der Vorstellung und die Positivierung des Absoluten in der Zeit und der referentiellen Sprache Hegel spricht davon, dass die offenbare Religion den absoluten Inhalt in der Form der Vorstellung besitzt. Ihr Mangel besteht zunächst darin, dass sie das positive Selbst 43 des Absoluten festhalten will und in dessen Verschwinden nicht die Entsprechung der absoluten Negativität des selbständigen freien Daseins anzuerkennen vermag. Die positive Vereinigung mit dem Selbst, die das religiöse Bewusstsein, gleich der Andacht des unglücklichen Bewusstseins, mit dem sinnlich gewordenen Absoluten erstrebt, ist nicht möglich, da das „Sein in Gewesensein“44 übergegangen ist. In dieser Entzogenheit deutet sich der spekulative Sinn des Verschwindens an, der das erste Mal in der sinnlichen Gewissheit aufgetreten ist. Dort versuchte das Bewusstsein dem Verschwinden dadurch zu begegnen, dass es seine Wahrheit aufgeschrieben hat45. Die offenbare Religion als Form der Vorstellung erhält sich ebenfalls durch das Aufschreiben ihrer Wahrheit, verbunden mit dem Gedanken der Erscheinung des Absoluten in der Gestalt einer gewesenen (durch Schreiben repräsentierbaren) Vergangenheit oder einer zu erwartenden – allerdings nicht mehr 19

40  Hegel, Werke 3, 590. 41  Ibidem. 42  Vgl. dazu Slavoj Žižek: „Absolutes Wissen“ ist das endgültige Erkennen einer Begrenzung, die in dem Sinne „absolut“ ist, dass sie nicht bestimmt oder besonders, dass sie keine „relative“ Grenze oder Hürde unserer Erkenntnis ist, die wir deutlich als solche sehen und einordnen können. (Žižek 2016, 534.) 43  Hegel, Werke 3, 551. 44  Ibidem, 555. 45  Ibidem, 84.

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repräsentierbaren – Zukunft. Sie positiviert damit das sich entziehende Absolute als chronologisch auseinandergetretene Zeit. Dadurch kann sie das, was an sich eine Bewegung darstellt, nämlich die Entäußerung des Subjekts, begegnend im vom sich ablassenden Verzeihen der Kontingenz, und die Entäußerung der Substanz, begegnend im SichBestimmen des Absoluten zur Kontingenz, als verschiedene Bewegungen setzen. Auf diese Weise bleibt das Absolute äußerlich, die Zeit als Positivierung des Absoluten ist noch nicht getilgt46. Auch wenn in der offenbaren Religion die schicksalhafte Macht notwendiger Vergangenheit, die sich in Epos und Tragödie manifestiert hat, gebrochen ist, so bleibt das religiöse Bewusstsein doch in der Sphäre des Chronos, der damit die Vermittlung des Absoluten – als ein dem (Selbst-)Bewusstsein und auch sich selbst gegenüber äußerliches Geschehen – ist. Dem religiösen Bewusstsein bleibt eine Distanzierungsmöglichkeit gegenüber der Wirklichkeit kontingenten Daseins, dem gegenüber es sich in der Gemeinde verschließt. Die Gemeinde konstituiert sich in der Erinnerung des Absoluten. In ihr erhält es sich als schöne Seele. Der absolute Geist hat die Gestalt des allgemeinen Selbst der Gemeinde. Die schöne Seele der Gemeinde weist allerdings auch, wie der achte Abschnitt des absoluten Wissens ausführt47, über die Form der Vorstellung hinaus48. Ihr spekulativer Gehalt besteht nämlich darin, dass in ihr der Referenzbezug der Sprache „im leeren Dunst verschwindet“49, womit zwar einerseits, wie im Gewissenskapitel, ein Selbstbezug des Ichs in sich wechselseitig anerkennender Sprache zum Ausdruck gebracht werden kann. Andererseits ist damit in der Sphäre des absoluten Wissens, d.h. nach dem Durchgang durch das Religionskapitel, die begriffliche Gestalt des Absoluten eingeholt. In der Sprache, konkret in Epos und Tragödie, begegnete dem religiösen Bewusstsein der Untergang referenziell einholbarer Welt. In ihr trat das Selbst als Tod unmittelbar benennbarer gegenüberstehender Welt hervor, wodurch sich der in allen Bewusst-Seins-Stufen mitgehende Versuch der Sinnlichkeit, das Sein referenziell zu meinen oder zu zeigen, umkehrte. Die bereits im 15. Abschnitt der Einleitung angezeigte Umkehrung des Bewusstseins50 zeigt sich am radikalsten 46  Zu einem spekulativen Zeitverständnis der Zeit als Selbst bei Hegel, welches der chronologischen Zeit entgegensteht und die daher gerade nicht getilgt werden kann, vgl. Appel 2008; ferner: Grießer 2005. 47  Vgl. Hegel, Werke 3, 579 ff. 48  Vgl. dazu Auinger 2003, 159 ff. 49  Hegel, Werke 3, 580. 50  Ibidem, 79.

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darin, dass die Sprache nicht mehr etwas meint, sondern das Nichts desselben51. Sie ist darin weder die virtuelle Leere der absoluten Freiheit als Selbstsetzung des Subjekts noch die sich gegenseitig versichernde Anerkennung in der Gemeinde. Vielmehr bringt die Sprache den absoluten Verlust sowohl der Substanz (als gegenständliches Sein) als auch des Subjekts52 (welches sich nicht mehr als unmittelbare Beziehung auf den Gegenstand fassen kann) zum Ausdruck. Das spekulative Moment der schönen Seele besteht darin, dass sie in ihrer Sprache keinen direkten Bezug mehr auf den Gegenstand beansprucht und sich stattdessen auf die Sprache selber bezieht, dass also ihre Referenz die Sprache ist. Was sie dagegen nicht erfasst, ist der Umstand, dass die Sprache Referenz eines Bruches (siehe II, 20), einer Trennung (des Seins) bedeutet (d.h. der Verweisungszusammenhang der Signifikanten wird von einem Bruch strukturiert), in denen der Gegenstand überhaupt erst als freier hervorzutreten vermag. Die Form der Vorstellung bezieht sich also, zusammenfassend gesagt, einerseits darauf, dass der Verlust des Gegenstandes als chronologische Zeit positiviert wird und andererseits darauf, dass gegenüber diesem Verlust noch eine referenzielle Wirklichkeit (und sei es als vergangene oder zukünftige) als möglicher Spiegel des Selbst festgehalten wird. Zu betonen ist dabei, dass das von Hegel angezeigte Defizit der offenbaren Religion nichts mit dessen sinnlicher Dimension zu tun hat, die in ihr hervorgetreten ist. Vielmehr wird sich zeigen, dass der absolute Geist im religiösen Bewusstsein selbst in der das Sinnliche neu entdeckt habenden offenbaren Religion noch nicht sinnlich genug hervorgetreten ist. 51  Theunissen sieht bereits, dass Hegels Theorie nicht zuletzt eine Theorie des sich aufhebenden Urteils darstellt, in dessen Bewegung das Absolute vorscheint, ohne allerdings auf die Frage der Referenz direkt einzugehen. Vgl. dazu auch den interessanten Disput zwischen Fulda und Theunissen in: Fulda/Horstmann/Theunissen 1980, besonders 85 ff. 52  Vgl. dazu Agamben 2003, 100 ff.: „Andererseits verfügt jede Sprache über eine Reihe von Zeichen (von den Linguisten shifters oder deiktische Ausdrücke genannt, darunter insbesondere die Pronomen „ich“, „du“, „dies“, die Adverbien „hier“, „jetzt“ usw.), die es dem Individuum erlauben, sich die Sprache zu eigen zu machen, um sie zu verwenden. Gemeinsames Merkmal all dieser Zeichen ist, daß sie im Gegensatz zu den übrigen Wörtern keine lexikalische Bedeutung besitzen, die durch einen realen Bezug definiert werden kann, sondern daß ihnen ihre Bedeutung nur durch den Verweis auf die jeweilige Rede […] zukommt, in der sie enthalten sind. […]. […] [Das psychophysische Individuum muß] sich als reales Individuum gänzlich aufheben und entsubjektivieren, um Subjekt des Aussagesatzes zu werden und sich mit dem bloßen shifter „ich“ zu identifizieren, der keine andere Substanz und keinen anderen Inhalt besitzt als den Verweis auf die jeweilige Rede.“

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20 Die drei Momente des Geistes als Referenz auf einen Bruch Hegel unterscheidet in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität, die durch die Metaphysik, die Transzendentalphilosophie und das spekulative Denken zum Ausdruck gebracht werden. Auf vertiefte und transformierte Weise tauchen diese drei Momente auch in den Schlüssen der Philosophie am Ende der Enzyklopädie sowie in drei Momenten des Geistes der offenbaren Religion53 auf. Die Metaphysik ist dadurch gekennzeichnet, dass die Welt in der Sprache aufgehoben ist. Auf diese Weise bezeichnet Gott die Sprache selbst54, er ist der Garant dafür, dass die Worte etwas bedeuten. Die Natur, so der erste Schluss der Philosophie des absoluten Geistes in der Enzyklopädie, ist die Mitte zwischen dem Logischen und dem Geist, d.h. sie fungiert als das Seinsmoment der (sprachlichen) Referenzen, in welches das „Logische übergegangen ist“55. Darin ist sie der Durchgangsort für den Geist, der in der Sprache mittels des Seins zu sich zurückkehrt und darin das Moment des Allgemeinen zum Ausdruck bringt. In der religiösen Vorstellung wird diese Bewegung durch das Element des reinen Denkens56 bezeichnet, das ewige Reich des Vaters, der sein reines Anderswerden ist und darin für sich selbst oder das Selbst, der Begriff, also gegenständlich ist57. Das Selbst wird sich in dieser Bewegung in sprachlicher Referenz mittels seines Gegenstandes gewahr. Dieser wird in das Denken hineingenommen und damit begeistet. Die sprachliche Welt ist, wie das BewusstSein in der PhdG erfahren hat, in ihrem Verweischarakter Negativität und damit „Selbst, der Begriff“, und in der Unverfügbarkeit der Verweisstruktur des sprachlichen Ausdrucks „gegenständlich“. Allerdings ist in dem Element des reinen Denkens das „Anderssein nicht als solches gesetzt; es ist der Unterschied, wie er im reinen Denken unmittelbar kein Unterschied ist“58. Die Welt ist in der Sprache aufgehoben – was, wie wir gesehen haben, nicht zuletzt die Erfahrung der schönen Seele war, die sich heute weniger in der religiösen Gemeinde als in der sprachgläubigen (deutschen) Wissenschaftswelt wiederfindet. Dabei ist noch nicht vollkommen ernst damit gemacht, dass die Sprache auch die Trennung vom Gegenstand 53  Hegel, Werke 10, § 575–§ 577. Weiters: Hegel, Werke 3, 557. 54  Vgl. Agamben 2010, 63 f. 55  Vgl. Hegel, Werke 10, § 575. 56  Vgl. Hegel, Werke 3, 558–561 (Die offenbare Religion: Abschnitt 22–26, in dem das Reich des Vaters thematisiert wird). 57  Vgl. idem, 559. Die Kursivierungen spielen nicht nur auf die entscheidenden Begrifflichkeiten an, sondern decken sich auch mit denen von Hegel. 58  Ibidem, 561.

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bedeutet. Das Bewusst-Sein tritt in den Gegensatz und besondert sich in die beiden Momente Natur und Geist. Der Geist ist in diesem Gegensatz in sich reflektiert, d.h. er erfährt sich als Geist gerade in der Trennung vom Allgemeinen, er vermag sich nicht mehr mittels des Allgemeinen (der Sprache) ungebrochen als Selbstverhältnis zu konstituieren. Sprachlich gesehen ist auf dieser Stufe die Referenzfunktion des Wortes dahingehend transformiert, dass es nicht mehr den Gegenstand in sich aufzuheben vermag. Die Wirklichkeit begegnet als außersprachliche, als das Andere der Sprache. Darin besteht sowohl die Höhe als auch das Defizit dieser Stufe: Denn einerseits ist sie als das Andere gesetzt, andererseits ist sie Setzung als dieses Andere. Hegel spricht in diesem Zusammenhang vom Bewusstsein des Anderswerdens oder dem Vorstellen. Dieses manifestiert sich darin, dass es eine synthetische Verbindung59 zwischen den auseinandergetretenen Seiten, dem allgemeinen Elemente des Denkens und dem kontingenten Einzelnen, der Sprache und ihrem Gegenstand, herzustellen sucht; es bringt beide Sphären äußerlich zueinander und erfährt sich dabei selber als getrennt – zwischen Sprache und Sein, zwischen Subjekt und Substanz und zwischen Allgemeinem und Einzelnem. Der Tod Gottes, den das Bewusst-Sein angeschaut hat, läutet den Tod der Referenz der Sprache auf eine außersprachliche Wirklichkeit ein, wenngleich es diese noch, wie gezeigt wurde, durch den Bezug auf die Vergangenheit aufrechterhalten will. Der letzte Schritt Hegels hin zum Element des Selbstbewusstseins besteht nicht in einer äußerlichen Synthese der auseinandergetretenen Momente oder in einer Rückkehr in das Element des reinen Denkens. Vielmehr geht es um eine Radikalisierung des Verlustes, den das Bewusst-Sein in der Erfahrung der Besonderung erlitten hat. Erst da, wo es sich nicht über den Anderen als Selbstverhältnis – und sei es als negatives wie in der Religion – bestimmt, wo die Sprache nichts zeigt und prädiziert bzw. wo sie auf den Bruch (die Trennung) als Auslöschung jeder unmittelbaren Repräsentation selber verweist, kann auch das sinnliche Moment, welches genau an den Brüchen der Reflexion hervortritt, als solches freigelassen werden. Das Element des Selbstbewusstseins ist das Moment des Einzelnen, insofern es Trennung als Trennung (bzw. Bruch/Negation als Bruch/Negation) ist, und manifestiert darin die Einheit von Allgemeinem (Sprache) und Besonderem (Bruch). Das Sinnliche ist damit weder abhängig noch unabhängig vom Sprachhaushalt und dem mit diesem verbundenen Reflexionsprozess des Selbst, sondern entspricht dessen Selbstaufhebung (in der Referenz auf die eigene Gebrochenheit). Wo daher die Sprache nicht mehr auf ein Jenseits ihrer selbst hinzielt, kann dieses hervortreten. Das Selbst ist der Verlust der Substanz ebenso wie der 59  Vgl. ibidem, 557.

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Verlust referenzieller Sprache, welches sich nach Hegel paradoxerweise in diesem Verlust des Gegenstandes bzw. in dieser Trennung von sich – welches sich also in einer Loslösung (absolvere) – überhaupt erst konstituiert. In diesem Sinne könnte man vielleicht sagen, dass die Referenz dem Tier vorbehalten ist und dass der Mensch das Tier ist, welches nicht in seinen Referenzen aufgeht, sondern in einer fundamentalen Trennung konstituiert ist. Ebenso wäre zu hinterfragen, ob es wirklich das Selbstverhältnis ist, welches den Menschen konstituiert, so unabdingbar dieses für den Subjektivierungsprozess ist. Aber letztlich scheint in einer Fixierung auf das Selbstverhältnis gerade die Dimension des absoluten Geistes unterbelichtet. 21 Das Selbst als Übergang oder das Dieses ist ein Baum ist ein Baum In der Genese der PhdG ist das Moment des Überganges von überragender Bedeutung. Es bezeichnet die Bewegung des Selbst zwischen – und „zwischen“ trägt immer auch die Bedeutung des Bruchs – Sprache und Sein, zwischen Substanz und Subjekt, zwischen Geist und Religion, zwischen Selbstverhältnis und Freilassen des Seins, als Schwingung des spekulativen Satzes um eine nichtrepräsentierbare Mitte („zwischen“), in der das Urteil und damit die Sprache in ihrer denotativen Funktion aufgehoben ist. Dessen Grundbewegung besteht in der Bewegung der Substanz in das Subjekt (Geist) und der Gegenbewegung des Subjekts in die Substanz (Religion), die sich, wie bereits die offenbare Religion weiß, in dem Übergang von Absolutem und Kontingentem manifestiert hat. Dies muss in aller Radikalität gefasst werden: Gerade weil das Hervortreten des Kontingenten mit einer Aufhebung der Reflexionsbewegung verbunden ist, muss das Absolute an der Bewegung des Kontingenten selber gefasst werden. Dieses ist der Vollzug der Sprache und ihrer Gebrochenheit selbst, an der das Sinnliche hervortritt. In diesem Sinne verweist der absolute Geist auf den Anfang der PhdG selbst, auf das Diese(r/s), an dessen Aufhebung der Reflexion das Kontingente hervortritt. Das Diese(r/s) IST der absolute Geist IST der Übergang. Oder in der Bewegung des spekulativen Satzes formuliert (allerdings nur, um diese Aussage als Aussage auszulöschen): Der absolute Geist ist das Dieses ist ein Baum ist ein Baum …

Die Bedeutung der Religion in den Grundlinien aus der Sicht der Phänomenologie des Geistes Paul Cobben In den Grundlinien setzt Hegel systematisch auseinander, wie die Verwirklichung der Freiheit in der Gesellschaft gedacht werden muss. Sie stellen eine Ausarbeitung dessen dar, was Hegel in der Enzyklopädie als objektiven Geist bezeichnet. Als Moment des Geistes sind die Grundlinien der Übergang des subjektiven Geistes zum absoluten Geist. In den Grundlinien selbst kommt dies zum Ausdruck einerseits, weil in der Einleitung auf die Auseinandersetzung des subjektiven Geistes zurückgegriffen wird, andererseits, weil am Ende der Grundlinien der Übergang zum absoluten Geist vollzogen wird. Der Staat erscheint als eine Vielheit von Staaten, die im Prozess der Weltgeschichte die Selbstverwirklichung des absoluten Geistes zum Ausdruck bringen. Namentlich die Frankfurter Schule hat (dabei Marx folgend) über die Bedeutung der Selbstverwirklichung des absoluten Geistes in der Weltgeschichte Verwirrung gestiftet. Das Konzept des absoluten Geistes würde implizieren, dass die wirklichen Individuen zum Instrument einer metaphysischen Macht gemacht werden und dadurch als freie Individuen zugrunde gehen. In Wahrheit aber raubt der absolute Geist den Individuen nicht ihre Freiheit, sondern ist ein Begriff, den Hegel gerade einsetzt, um die Freiheit der Individuen zu explizieren. Was in der Weltgeschichte verwirklicht wird, ist die Einsicht, dass die Gemeinschaft eine spezifisch historische Erscheinungsform der menschlichen Freiheit ist. In der modernen Gesellschaft haben die Institutionen sich so weit entwickelt, dass sie die Bürger dieser Gesellschaft in die Lage versetzen, einen Bildungsprozess zu durchlaufen, der es ihnen ermöglicht, zur Selbsterkenntnis ihrer Freiheit zu gelangen. Die Fundierung des Staates im absoluten Geist drückt eine Einsicht aus, die gerade in unserer Zeit Gemeingut geworden ist und zum Beispiel auch von Jürgen Habermas auf eine bestimmte Weise artikuliert worden ist. Der moderne Staat hat eine rationale Legitimationsbasis: er entlehnt seine Legitimation nicht länger einer Religion, sondern einer rationalen Einsicht. Man kann einsehen, dass der moderne Staat Menschenrechte und Demokratie auf eine bestimmte Weise verkörpert1. Gerade insofern Menschenrechte und Demokratie auf menschlicher Freiheit beruhen und ihr 1  Habermas 1992, 643: „Eine partikularistische Verankerung dieser Art würde der Volkssouveränität und den Menschenrechten keinen Deut von ihrem universalistischen Sinn nehmen.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_005

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absoluter Wert verstanden werden kann, wenn die menschliche Freiheit auf den Begriff gebracht worden ist, zeigen sie, dass der moderne Staat sich als ein Staat verstehen lässt, der seine Fundierung im absoluten Geist zum Selbstbegriff gebracht hat. Die so verstandene Legitimationsbasis des modernen Staates wirft jedoch ein Problem auf. Bedeutet der Übergang von einer religiösen zu einer vernünftigen Legitimation nicht, dass die Erwartung besteht, dass der moderne Bürger sich zum Philosophen gebildet hat? Ist die Akzeptanz der Institutionen des modernen Rechtsstaates nicht an die philosophische Einsicht in die menschliche Freiheit gebunden? Schließlich sind sie nur legitim, insofern sie sich als Ausdruck der Freiheitsverwirklichung verstehen lassen. Eine solche Auffassung scheint nicht nur zu einer Überforderung der modernen Bürger zu führen (es ist wenig realistisch, zu erwarten, dass jeder Bürger die Fähigkeiten besitzt, zur Einsicht in die menschliche Freiheit zu gelangen), sondern scheint auch kaum der Realität der modernen Gesellschaften zu entsprechen. Die moderne Gesellschaft hat sich zu einer multikulturellen Gesellschaft entwickelt, in der viele Religionen ihren Platz haben, auch Religionen, welche die Trennung zwischen Kirche und Staat nicht anerkennen. Für Hegel ist es sonnenklar, dass der moderne Staat die Trennung zwischen Kirche und Staat respektieren muss. Deshalb spielt die Religion in den Grundlinien nur eine marginale Rolle. In der ersten Fußnote in der Anmerkung zu  § 2702 betont er die Bedeutung der religiösen Toleranz (in dem Maße, in welchem ein Staat stabiler wird, kann er gegenüber denjenigen Bürgern mehr Toleranz walten lassen, die wegen ihrer religiösen Überzeugung bestimmte Gesetze nicht akzeptieren können). Auch hat er große Achtung vor den religiösen Wurzeln des Bauernstandes. Und in der Anmerkung zu § 2703 erörtert er weitläufig das Verhältnis zwischen Staat und Religion und zieht den Schluss, dass Religion zur subjektiven Überzeugung gehöre, die den Staat nichts angeht. Aus der marginalen Rolle der Religion in den Grundlinien ergeben sich jedoch einige Fragezeichen. Die Religion wird für Hegel zwar in der Philosophie aufgehoben, aber diese Aufhebung bedeutet keineswegs, dass die Religion verschwindet oder in Hegels Augen an Bedeutung verlieren würde. In der Religion hat der absolute Geist die Form der Vorstellung. Deshalb lässt sich fragen, ob es überhaupt möglich ist, ohne Verarbeitung der religiösen Vorstellung Zugang zur Philosophie zu erlangen. Ein unmittelbarer Zugang zum absoluten Es bleibt dabei: die demokratische Staatsbürgerschaft braucht nicht in der nationalen Identität eines Volkes verwurzelt zu sein.“ 2  Hegel, GW 14,1 (= Grl.) § 270, Fußnote in der Anmerkung. 3  Ibidem.

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Wissen würde der Endlichkeit des Menschen nicht gerecht werden. Wie dem auch sei, für Hegel ist Religion weder überholt, noch steht sie im Widerspruch zur Freiheitsverwirklichung. Allenfalls könnte man sagen, dass eine Religion der menschlichen Freiheit mehr gerecht wird als eine andere. Warum schenkt Hegel aber dann der Religion im Prozess der Freiheitsverwirklichung so wenig systematische Beachtung? Lässt sich für die religiösen Individuen die Legitimation des Staates überhaupt von der Religion trennen? In diesem Aufsatz versuche ich systematisch herauszuarbeiten, wie die Religion innerhalb der Grundlinien ihren Platz bekommen kann. Dieser Versuch gründet sich auf die These, dass die Grundlinien sich verstehen lassen als ein Werk, in dem Hegels Rekonstruktion der europäischen Geschichte im GeistKapitel der Phänomenologie des Geistes in eine systematische Einheit überführt wird. Weil die Phänomenologie des Geistes die Entwicklung des Geistes systematisch mit verschiedenen Religionsformen verbindet, lässt sich fragen, wie diese Religionsformen in die systematische Einheit der Grundlinien integriert werden können.

Die Grundlinien und die drei Formen des Selbst in der Phänomenologie des Geistes

Hegel nennt das „Selbst des Gewissens“ in der Phänomenologie des Geistes das dritte Selbst4. Er unterscheidet das dritte Selbst vom ersten Selbst, das als die formelle Person des römischen Reiches erörtert wird, und vom zweiten Selbst, das als die absolute Freiheit thematisiert wird, auf welche die Entwicklung des Reichs der Bildung hinauslief 5. Diese drei Formen des Selbst, die Hegels Rekonstruktion der europäischen Geschichte in der Phänomenologie des Geistes abstecken, werden in den ersten zwei Teilen der Grundlinien (dem abstrakten Recht und der Moralität) in einer systematischen Einheit auf den Begriff gebracht. Das erste Selbst erscheint als die formelle Person des abstrakten Rechts. In der Person des abstrakten Rechts ist im Gegensatz zur formellen Person des römischen Rechts die menschliche Freiheit auf den absoluten Begriff gebracht (wenn auch in der Form des Ansich). Wenn sich herausstellt, dass sich die Freiheit der Person nicht adäquat im Austausch des Eigentums verwirklichen lässt (weil es zufällig bleibt, ob es Eigentum gibt, das 4  „Diß Selbst des Gewissens, der seiner unmittelbar als der absoluten Wahrheit und des Seyns gewisse Geist, ist das dritte Selbst, das uns aus der dritten Welt des Geistes geworden ist …“ Hegel, GW 9 (= PhdG), 341. 5  G W 9, 316 ff.

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die Personen tauschen wollen)6, dann führt dies nicht (wie im Fall des römischen Rechts) zum Untergang des Person-Seins, sondern zu einer weiteren Entwicklung des Person-Seins, die die adäquate Verwirklichung der Freiheit der Person sicherstellen muss. Die Person des abstrakten Rechts geht in das Subjekt der Moralität über. Wie die absolute Freiheit des zweiten Selbst verhält das Subjekt der Moralität sich nicht zur Natur als einer fremden Sache, sondern hat die Natur auf den Begriff gebracht und ist imstande, die Natur als Ausdruck seiner Freiheit zu setzen. Das Subjekt setzt die Natur als zweite Natur7, in der es seine Freiheit verwirklicht hat. Aber im Gegensatz zur absoluten Freiheit geht das moralische Subjekt nicht an dem Widerspruch zugrunde, der darin liegt, dass die Freiheitsverwirklichung des einen Selbst sich nicht mit der Freiheitsverwirklichung des anderen Selbst versöhnen lässt. Das moralische Selbst entwickelt sich zum Gewissen, das weiß, dass es die Pflicht hat, in seinem Handeln das allgemeine Gute zu verwirklichen8. Als Gewissen schließt das moralische Subjekt sich mit der abstrakten Rechtsperson zusammen, weil die Pflicht gebietet, dass die Verwirklichung der Freiheit sich in Einklang mit der Verwirklichung der Freiheit aller Subjekte befindet9. Das Gewissen ist auf diese Weise das dritte Selbst, das sich als konkrete Einheit des ersten und zweiten Selbst weiß.

Die phänomenologische Entwicklung des Freiheitsbegriffs

Die innere Einheit der drei Formen des Selbst wird nicht nur in den ersten zwei Teilen der Grundlinien entwickelt, sondern auch in der Phänomenologie des Geistes selbst. Diese innere Einheit hat hier jedoch nicht die Form des absoluten Begriffs, sondern ist Teil der phänomenologischen Entwicklung, die dem Geist-Kapitel vorangeht, nämlich in den Kapiteln „Bewusstsein“, „Selbstbewusstsein“ und „Vernunft“. In der Phänomenologie des Geistes werden systematisch diejenigen Voraussetzungen entwickelt, unter denen sich etwas ohne Widerspruch als Substanz

6  „… im Unrecht ist der Wille der Rechtssphäre, sein abstraktes Ansichsein oder Unmittelbarkeit als Zufälligkeit durch den einzelnen selbst zufälligen Willen gesetzt.“ GW 14,1, § 104, Anmerkung. 7  G W 14,1, § 4. 8  „Das Gute hat zu dem besonderen Subjekte das Verhältnis, das Wesentliche seines Willens zu sein, der hiermit darin schlechthin seine Verpflichtung hat.“ GW 14,1, § 133. 9  Ibidem, § 134.

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denken lässt. Der Grundgedanke ist, dass es sinnlos ist über Wahrheit zu sprechen, wenn etwas sich nicht ohne Widerspruch zu sich identifizieren lässt. Im ersten Kapitel, „Bewusstsein“, wird die Frage erörtert, ob ein sinnlich vorgefundener Gegenstand sich sinnvoll als Substanz denken lässt. Die Schlussfolgerung lautet, dass dies nicht möglich ist: Der Versuch, den sinnlich vorgefundenen Gegenstand erkennend zu identifizieren, führt zur Kopernikanischen Wende. Dieser Versuch setzt notwendig voraus, dass das erkennende Subjekt sich identifiziert hat. Die Substanz muss als Subjekt gedacht werden, als res cogitans. Im zweiten Kapitel der Phänomenologie des Geistes, „Selbstbewusstsein“, stellt sich heraus, dass die Substanz nicht adäquat als res cogitans verstanden werden kann. Wenn die Substanz von einer natürlichen Wirklichkeit unterschieden wird, dann ist sie in ihrer Bestimmung von diesem Unterschied abhängig und deshalb nicht adäquat als Substanz identifiziert. Der nächste Schritt expliziert deshalb, unter welchen Voraussetzungen das Selbstbewusstsein (die res cogitans) sich überhaupt zur Andersheit verhalten kann, ohne als Substanz zugrunde zu gehen. Dies führt zum Verhältnis, das Hegel als Anerkennung bezeichnet. Das Selbstbewusstsein kann sich erst verwirklichen (d.h. seine Innerlichkeit aufheben) im Verhältnis zu einem anderen Selbstbewusstsein. Dieses Anerkennungsverhältnis lässt sich als die phänomenologische Form betrachten, in der das erste Moment des Begriffs der Freiheit (das Verhältnis Person/Person im abstrakten Recht) zum Vorschein kommt. Im Anerkennungsverhältnis ist das Selbstbewusstsein frei, weil es in der Andersheit, zu welcher es sich verhält, unmittelbar bei sich ist. Im formellen Anerkennungsverhältnis ist die Substanz noch immer nicht adäquat ausgedrückt worden, weil die natürliche Wirklichkeit ausgeschlossen wird. Das Selbstbewusstsein, das die Natur nicht ausgeschlossen hat, bezeichnet Hegel als Knecht. Der Knecht verhält sich zur Natur als einer zweiten Natur, d.h. zur Natur, in der er seine Freiheit (mittels Arbeit) zum Ausdruck gebracht hat. Der Knecht lässt sich als Bürger einer Gemeinschaft vorstellen, der in seinem Handeln dem Gesetz der Gemeinschaft dient. Insofern das Gesetz der Gemeinschaft von dem freien Selbstbewusstsein gesetzt ist, bedeutet dies, dass das Handeln des Knechtes der Natur, als zweiter Natur, die Form der Freiheit gibt. Das Handeln des Knechts lässt sich deshalb als die phänomenologische Form des zweiten Moments des Begriffs der Freiheit verstehen, als das Moment, das die Grundlinien als Moralität erörtern. Auch im Handeln des Knechts wird die Substanz noch immer nicht adäquat zum Ausdruck gebracht. Das Gesetz, dem der Knecht dient, hat einen Inhalt, der nicht vom Knecht selbst bestimmt wird. Der Knecht dient dem Herrn, dem freien Selbstbewusstsein, das das Gesetz gesetzt hat. Aber gerade

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weil das Selbstbewusstsein des Herrn frei ist, ist es an keinen einzigen Inhalt gebunden. Das Verhältnis des Knechts zum Herrn kommt im unglücklichen Bewusstsein zum Selbstbewusstsein. Das unglückliche Bewusstsein weiß, dass die allgemeine (reine) Freiheit des Herrn sein Wesen ist und hat es als ein unwandelbares Wesen jenseits der Wirklichkeit vorgestellt10. Es ist jedoch unglücklich, weil es nicht imstande ist, sein Wesen durch das Dienen zu verwirklichen. Es verwirklicht in seinem Handeln immer ein bestimmtes Gesetz, das sich, als ein bestimmtes, von der reinen Freiheit des Herrn unterscheidet. Das unglückliche Bewusstsein weiß, dass es in seinem besonderen Handeln die allgemeine Freiheit verwirklichen muss, aber ist nicht imstande, beide Pole zusammenzubringen. Im dritten Teil der Phänomenologie des Geistes, „Vernunft“, werden die Voraussetzungen erörtert, unter denen die Pole, die das unglückliche Bewusstsein nicht zusammenbringen kann, dennoch zusammengeschlossen werden können. Dies resultiert am Ende in die gesetzprüfende Vernunft, die prüft, ob das Gesetz der Gemeinschaft sich als Ausdruck des allgemeinen Wohls verstehen lässt. Deshalb kann die Vernunft als die phänomenologische Form des dritten Moments des Begriffs der Freiheit verstanden werden, nämlich als das Gewissen. Es gelingt der Vernunft nicht, das Gesetz der Gemeinschaft positiv zu bestimmen. Das Resultat der Prüfung beschränkt sich auf die Forderung, dass das Gesetz der Gemeinschaft sich nicht widersprechen darf. Aber dieser Forderung entspricht jedes Gesetz, das wirkliches Dasein hat. Ob ein wirklich existierendes Gesetz das allgemeine Wohl tatsächlich ausdrückt, lässt sich jedoch nicht durch eine äußere Prüfung feststellen. Dieses Urteil kann nur von den Bürgern (den Knechten) selbst gefällt werden, die dieses Gesetz in ihrem Handeln verwirklichen.

Die Verwirklichung der Freiheit im Geist-Kapitel und im dritten Teil der Grundlinien: die Sittlichkeit

In den Grundlinien wird der Begriff der Freiheit, der in den ersten zwei Teilen entwickelt worden ist, in den drei Momenten der Sittlichkeit (im dritten Teil) verwirklicht, nämlich in der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat. Der phänomenologische Begriff der Freiheit, der im Herr/KnechtVerhältnis ausgedrückt und in den ersten drei Teilen der Phänomenologie entwickelt wird, verwirklicht sich in den drei Stadien der europäischen Geschichte, 10   G W 9, 122.

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die im Geist-Kapitel rekonstruiert werden: das Altertum, das Mittelalter und die Moderne. Ich werde zeigen, wie diese phänomenologischen Stadien in den drei Momenten der Sittlichkeit auf den Begriff gebracht werden. Das Geist-Kapitel erörtert zuallererst den „wahren Geist“11, die wahre Substanz der Polis. Die Polis wird hier als eine Gemeinschaft rekonstruiert, in der die Bürger in ihrem Handeln das menschliche Gesetz verwirklichen. In der Polis wird jedoch die Substanz nicht adäquat zum Ausdruck gebracht, weil die Freiheit der Bürger beschränkt ist. Obwohl das menschliche Gesetz ein autonomes Gesetz ist (d.h. vom menschlichen Selbstbewusstsein gesetzt), unterscheidet sich diese Autonomie jedoch vom Selbstbewusstsein der Bürger. Der Inhalt des menschlichen Gesetzes ist den Bürgern eigentlich als eine vorgefundene, kontingente Tradition gegeben. Deshalb ist die Autonomie der Polis im Grunde eine formelle Autonomie: Das allgemeine Wohl, das im menschlichen Gesetz verwirklicht wird, fällt nur faktisch mit dem besonderen Interesse der Bürger zusammen. Wenn das Bewusstsein sich entwickelt, dass das besondere Interesse nicht mit dem allgemeinen Wohl zusammenfällt, entsteht der Gegensatz zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, den Hegel als den Gegensatz zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz thematisiert. Dieser Gegensatz erklärt, weshalb der Inhalt des menschlichen Gesetzes sich nicht als wahre Freiheitsverwirklichung verstehen lässt. Das Resultat ist ein Verlust der Sittlichkeit12 und eine Freiheit, die einseitig formell ist. Dies wird im römischen Reich expliziert, in dem die Einheit der Gemeinschaft sich auf die formelle Verbindung zwischen den freien und gleichen Personen beschränkt. Diese Welt des Altertums wird im ersten Moment der Sittlichkeit, der Familie13, auf den Begriff gebracht. Die Voraussetzung der Familie ist die Domäne der freien und gleichen Personen (die im zweiten Moment der Sittlichkeit, der bürgerlichen Gesellschaft, erörtert wird): Die Familie ist eine Gemeinschaft, die durch die freie Entscheidung von zwei Personen, eine Ehe zu schließen, konstituiert wird. Wie die Polis ist die Familie eine substanzielle Gemeinschaft, die im und durch das Handeln ihrer Mitglieder (Mann und Frau) verwirklicht wird. Wie die sittliche Substanz der Polis ist der sittliche Inhalt der Familie ein kontingenter, traditioneller Inhalt, aber im Gegensatz zur Polis wird dieser Inhalt nicht unterminiert durch den Widerspruch zwischen besonderem und allgemeinem Willen. Denn der Inhalt der Ehe ist die Liebe zwischen Mann und Frau: In ihrer Entscheidung zur Ehe haben sie sich dazu

11  GW 9, 240. 12  „Die sittliche Gestalt des Geistes ist verschwunden …“ GW 9, 260. 13  GW 14,1, § 158 ff.

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entschieden, fortan „eine Person“ zu sein14. Der besondere Inhalt, der innerhalb der Ehegemeinschaft verwirklicht wird, ist unmittelbar ein allgemeiner Inhalt, nämlich ein Inhalt, in dem Mann und Frau sich gemeinsam verwirklichen. Erst wenn die Familie in ein Verhältnis zu anderen Familien tritt, erscheint der Inhalt der Familie als ein kontingenter Inhalt. Das Resultat ist wiederum ein „Verlust der Sittlichkeit“15. Die Familienoberhäupter verhalten sich als freie und gleiche Personen zueinander, sodass die Familie sich zur Wirklichkeit des ersten Selbst entwickelt. Die zweite Welt, die im Geist-Kapitel erörtert wird, ist die mittelalterliche Welt, das sogenannte Reich der Bildung. Die mittelalterliche Welt wird von Hegel als eine entfremdete Welt rekonstruiert. Die substanzielle Einheit der Polis ist zugrunde gegangen und in einzelne Elemente auseinandergefallen, die fortwährend ineinander übergehen und deshalb nur sind, soweit sie in das übergegangen sind, was sie nicht sind. Der Ausgangspunkt des Reichs der Bildung ist der Untergang des römischen Reiches. In diesem Untergang haben die Personen erfahren, dass ihre Freiheit nicht mit der Rechtsordnung des römischen Reiches zusammenfallen kann. Sie können ihre Freiheit nur bewahren als „Flucht aus der wirklichen Welt“16, als den Glauben, dass ihr freies Wesen ein Wesen ist, das die wirkliche Welt transzendiert. In diesem Verhältnis wird der reine Herr als das innere Wesen des Knechts expliziert. Die Person verhält sich auf doppelte Weise zu ihrem inneren Wesen. Einerseits ist dieses Wesen ein An-sich-Sein, das Gute, das identisch mit sich ist; andererseits ist es ein An-sich-Sein für ihn, das Schlechte oder das Gute, das sich geopfert hat. Die Person verhält sich jedoch ebenso auf gedoppelte Weise zur wirklichen Welt. Dies ist einerseits die Staatsgewalt als die Institution, die die an-sich-seiende Wirklichkeit zum Ausdruck bringt, und andererseits der Reichtum, d.h. die Staatsgewalt, die sich der Person, die sich zu ihr verhält, opfert. Die Momente des Reiches der Bildung, gut und schlecht, Staatsgewalt und Reichtum, Ansichsein und Fürsichsein, sind sowohl in ihrer reinen als auch in ihrer wirklichen Form nebeneinander gestellt, sodass diese Welt in diese Momente auseinanderfällt. Die Bildung, die sich in dieser Welt vollzieht, führt jedoch dazu, dass die Momente der Person in ihrer substanziellen Einheit gefasst werden können, nämlich als die absolute Freiheit17 des Subjekts. Diese absolute Freiheit wird von den Bürgern der Französischen Revolution repräsentiert, als die Personen, die ihre reine Begriffsstruktur 14  GW 14,1, § 162. 15  Ibidem, § 181. 16  GW 9, 266. 17  GW 9, 316 ff.

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(die Einzelnheit als Einheit der Allgemeinheit und der Besonderheit) im Gesetz der Gemeinschaft zu verwirklichen suchen (aber anschließend mit dem Terror der Französischen Revolution konfrontiert werden). Das Reich der Bildung wird im zweiten Moment der Sittlichkeit, der bürgerlichen Gesellschaft, der Domäne der vielen Familien, d.h. der vielen konkreten Personen18, auf den Begriff gebracht. Wie die Personen im Reich der Bildung verhalten die Personen der bürgerlichen Gesellschaft sich anfangs zu einer Welt, in der sie ihre Freiheit noch nicht verwirklicht haben, nämlich der Wirklichkeit des freien Marktes (eine Wirklichkeit, welche Hegel als Verlust der Sittlichkeit bezeichnet, genau wie im römischen Reich die Sittlichkeit der Polis zugrunde gegangen ist). Die Selbstständigkeit, die die Personen dieser Wirklichkeit gegenüber innehaben, geht wiederum aus ihrem inneren Wesen hervor. Einerseits verhalten sie sich nach dem Prinzip der Allgemeinheit, andererseits nach dem Prinzip der Besonderheit zur Wirklichkeit des Marktes19. Wenn sie ihre Freiheit in ihr verwirklichen wollen, müssen sie in ihr sowohl ihr ansichseiendes als auch ihr fürsichseiendes Wesen verwirklichen. Einerseits wollen die Personen ihr allgemeines Wesen (das allgemeine Gute) verwirklichen, andererseits wollen sie ihr besonderes Wesen, das besondere Wohl verwirklichen. Die Waren auf dem Markt repräsentieren für die Personen deshalb einerseits einen allgemeinen Wert (sie dienen dem guten Leben) und andererseits einen besonderen Wert: sie können als Gebrauchswert ein besonderes Bedürfnis befriedigen. Auch auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft führt der Bildungsprozess dazu, dass die Momente sich zu einer inneren Einheit entwickeln. Die Waren, die auf dem Markt angeboten werden, sind Produkt eines Arbeitsprozesses. Die Konkurrenz auf dem Markt bewirkt, dass diese Arbeit gebildet wird, d.h. immer effizienter verrichtet wird. Am Ende hat diese effiziente Arbeit eine gesetzmäßige Form: Es ist Arbeit, die sich als Ausdruck zugrunde liegender technologischer Gesetze verstehen lässt. Deshalb ist es Arbeit, die wesentlich automatisiert werden kann20. Wenn die Waren, die auf dem Markt von den freien Personen ausgetauscht werden, das Produkt gebildeter Arbeit sind (und nicht länger zufällige Waren), dann sind die erwähnten Momente in der Tat in eine innere Einheit gesetzt worden. Einerseits ist die Welt der Waren Ausdruck der Freiheit der Personen, 18   G W 14,1, § 181. 19   G W 14,1, § 182. 20  „Die Abstraktion des Produzierens macht das Arbeiten ferner immermehr mechanisch und damit am Ende fähig, dass der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann.“ GW 14,1, § 198.

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weil die Waren auf Arbeit beruhen, die Einsicht in die Natur erworben hat. Zugleich sind die Momente der Allgemeinheit und der Besonderheit sowohl innerlich als auch äußerlich in die Einzelnheit der Gesetzesform zurückgenommen. Einerseits beruht die Einsicht in die Natur auf der Einsicht in die Naturgesetze, und andererseits ist das Arbeitshandeln Ausdruck gesetzmäßigen Handelns. Dadurch lassen sich die besonderen Gebrauchswerte als besonderer Ausdruck eines Handelns verstehen, das allgemeinen Wert produziert: die auf Einsicht gegründete Arbeit. In der Rechtspflege kommt explizit zum Ausdruck, dass die vielen Personen, die in der Bildung durch die Natur hindurch gegangen sind, sich in ihrem Handeln gegenseitig nicht aus-, sondern einschließen. Ihr Handeln hat nicht nur eine Rechtsform, weil sie einander als frei und gleich anerkennen, sondern auch, weil es einen allgemeinen Inhalt hat: Es gründet in der Einsicht in die Gesetze der Natur. Das System der Bedürfnisse21 kann deshalb als die Institution verstanden werden, in der die Wirklichkeit des zweiten Selbst gebildet wird. Die dritte Welt, die im Geist-Kapitel erörtert wird, ist die Modernität, die nach der Französischen Revolution anfängt. Hegel zeigt, dass die Französische Revolution notwendigerweise in Terror umschlägt. Denn als die Bürger der Revolution ihre Freiheit zu verwirklichen versuchen, gründet ihr Handeln zwar auf allgemeiner Einsicht und lässt sich deshalb nach der Form eines allgemeinen Gesetzes vollziehen (wie der kategorische Imperativ), aber dieses Gesetz hat als wirkliches Gesetz nichtsdestoweniger einen bestimmten und deshalb kontingenten Inhalt. In dieser Verwirklichung geht die reine Freiheit der Bürger zugrunde. Das Resultat ist nicht nur, dass die Bürger einander gegenüberstehen (weil jeder seine Freiheit in einem anderen Gesetz verwirklichen will), sondern auch in Widerspruch mit sich geraten, weil ihre Freiheit in dem kontingenten Gesetz verloren geht. Der Terror, den dieser Gegensatz in der Freiheitsverwirklichung bewirkt, wird in einem Verhältnis aufgehoben, das Hegel der Rousseau’schen Philosophie entlehnt. Freiheit lässt sich erst verwirklichen, wenn die Bürger einem Gesetz dienen, das als Ausdruck der volonté générale verstanden werden kann. Denn in diesem Fall widerspricht das bestimmte Gesetz nicht länger der allgemeinen Freiheit. Damit stellt sich jedoch gleich ein neues Problem: Denn wenn das bestimmte Gesetz kontingent ist, wie lässt sich dann überhaupt beurteilen, ob es Ausdruck des allgemeinen Willens ist? Hegel erörtert dieses Problem in der moralischen Weltanschauung, einem Kapitel, in dem er zeigt, wie in Kants praktischer Philosophie das Verhältnis zwischen der allgemeinen Freiheit und dem wirklichen Handeln grundlegend diskutiert wird. Der Kategorische Imperativ gebietet ja, dass jedes 21  GW 14,1, § 189 ff.

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Individuum als moralische Person die Pflicht hat, seine allgemeine Freiheit in seinem Handeln zu verwirklichen. Nach Hegel verliert Kant sich jedoch in einem „ganzen Nest gedankenloser Widersprüche“22. Es gelingt ihm nicht, deutlich zu machen, wie ein wirkliches Handeln, das von einem wirklichen Individuum mit besonderen Interessen verrichtet wird, ohne Widerspruch mit der allgemeinen Freiheit, die Interessen wesentlich ausschließt, verbunden werden kann. Zur Lösung dieses Problems führt Hegel das dritte Selbst ein, das Selbst des Gewissens. Für dieses Selbst ist der genannte Widerspruch immer schon gelöst, weil dieses Selbst die Gewissheit hat, dass es sich in einer Welt befindet, in der das wirkliche Handeln immer schon die allgemeine Freiheit zum Ausdruck bringt. Die Entwicklung dieses Selbst beinhaltet die systematische Explizierung der Voraussetzungen, an die ein solcher Ausgangspunkt gebunden ist. Dies führt am Ende zu einem Dilemma, in dem die Widersprüchlichkeiten der kantischen praktischen Philosophie wiederzukehren scheinen. Denn einerseits gilt die Schlussfolgerung, dass das Gewissen vom Handeln absehen soll, weil das wirkliche Handeln der allgemeinen Freiheit widerspricht. Andererseits ist die Schlussfolgerung jedoch, dass das Gewissen handeln muss, weil die allgemeine Freiheit, die sich nicht verwirklicht, als unwirkliche Freiheit der Wirklichkeit gegenübersteht und dadurch ebenso sehr als allgemeine Freiheit zugrunde geht23. Dieser Widerspruch wird jedoch in einer Konzeption des guten Lebens aufgehoben, in der die Selbstverwirklichung der allgemeinen Freiheit als ein Prozess verstanden wird, der durch das Streben, die Freiheit auf der Ebene des objektiven Geistes zu verwirklichen, vermittelt wird. Die Selbstverwirklichung der Freiheit wird hier als das einem-HerrnDienen vorgestellt: einem Gott, in dem die Einheit der Welt als eine absolute Einheit vorgestellt wird. Das dem-Gott-Dienen erscheint als ein historischer Prozess, in dem einerseits die Freiheit immer adäquater verwirklicht und andererseits die Einsicht entwickelt wird, dass der Gott, dem gedient wird, als allgemeine Freiheit verstanden werden muss. Die Verwirklichung der allgemeinen Freiheit lässt sich dann deuten als die Verwirklichung der Einsicht, dass die allgemeine Freiheit das absolute Wesen ist. Das Moralitäts-Kapitel aus der Phänomenologie des Geistes wird in den Grundlinien auf den Begriff gebracht als Polizei, Korporation und das dritte 22  GW 9, 332. 23  „Das Gewissen zunächst nur negativ gegen die Pflicht als diese bestimmte vorhandne gerichtet, weiss sich frey von ihr; aber indem es die leere Plicht mit einem bestimmten Inhalte aus sich selbst anfüllt, hat es das positive Bewusstseyn darüber, dass es als dieses Selbst sich den Inhalt macht.“ GW 9, 355.

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Moment der Sittlichkeit: der Staat. Die allgemeine Freiheit, die in der Rechtspflege institutionelle Wirklichkeit bekommen hat, hat es den wirklichen Personen zwar ermöglicht, in ihrem Handeln die allgemeine Freiheit zum Ausdruck zu bringen. Das Handeln der Arbeit, das durch die Bildung hindurch gegangen ist, ist Ausdruck eines allgemeinen Gesetzes und deshalb geeignet, durch die Rechtspflege normiert zu werden. Denn die Rechtspflege bringt die Freiheit eines allgemeinen Gesetzes zum Ausdruck, ähnlich wie dem Kategorischen Imperativ zufolge die wirkliche Freiheit die Form eines allgemeinen Naturgesetzes haben muss. Das bedeutet aber noch keineswegs, dass dieses allgemeine Gesetz auch die allgemeine Freiheit zum Ausdruck bringt. Für die besonderen Personen bleibt es zufällig, ob sie auf dem Markt einen Arbeitsplatz finden können, auf dem sich ihre Freiheit verwirklichen lässt. Das Handeln im System der Bedürfnisse ist ein bestimmtes Handeln, das der allgemeinen Freiheit widerspricht. Erst wenn das Handeln im System der Bedürfnisse näheren Bedingungen unterworfen wird, kann es als allgemeine Freiheit zur Geltung kommen. Die allgemeine Bedingung ist, dass die Personen die allgemeine Freiheit selbst wollen: Sie müssen dem Kategorischen Imperativ gehorchen (oder: sie müssen als Knecht ihrem Herrn dienen: der allgemeinen Freiheit). Zur Verwirklichung des Kategorischen Imperativs sind jedoch Voraussetzungen nötig, die spezifischer sind. Niemand darf vom Handeln im System der Bedürfnisse ausgeschlossen werden, und das Handeln aller muss in gegenseitigem Einklang erfolgen. Die Erfüllung dieser beiden Bedingungen wird durch die Polizei (die dafür sorgt, dass alle die Möglichkeit haben, an der bürgerlichen Gesellschaft teilzunehmen) bzw. durch die Korporationen sichergestellt: die vielen Korporationen bilden eine harmonische Einheit (den Verstandesstaat), die auf die Verwirklichung des guten Lebens gerichtet ist. Das Handeln im Verstandesstaat ist jedoch ein bestimmtes Handeln, das sich noch immer im Gegensatz zur allgemeinen Freiheit befindet: denn weshalb sollte die allgemeine Freiheit mit einer bestimmten Tradition zusammenfallen? Hegel meint dieses Problem lösen zu können, indem er den Verstandesstaat explizit als Erscheinungsform eines Staates denkt, der als Institution verstanden wird, in der das dritte Selbst Gestalt bekommt. Das dritte Selbst ist die Synthesis des ersten und zweiten Selbst. Das erste Selbst war formell und hatte den Inhalt der Freiheitsverwirklichung außerhalb seiner selbst gestellt. Das zweite Selbst wollte seine Freiheit, vermittelt durch die Arbeit, als allgemeine Freiheit verwirklichen. Das dritte Selbst ist das Gewissen der Staatsbürger, das einerseits (wie das erste Selbst) den Inhalt seiner Freiheit außerhalb seiner selbst gestellt hat (nämlich als die sittliche Substanz des Staates), aber andererseits (wie das zweite Selbst) in seinem Handeln die allgemeine Freiheit

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verwirklicht24. Als Patriot hat der Staatsbürger die allgemeine Freiheit immer schon als Gewissensinhalt; als Staatsbürger bringt er diesen Gewissensinhalt in seinem Handeln innerhalb der Institutionen des Staates zur Wirklichkeit. Die Institutionen des Staates umfassen laut Hegel drei Gewalten. Zuallererst die gesetzgebende Gewalt, bei der die allgemeine Freiheit und der Inhalt des guten Lebens, die auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft noch nebeneinander bestehen, als Rechtspflege und Korporation zu einer inneren Einheit gebracht sind: Die gesetzgebende Gewalt setzt sich aus Repräsentanten der Korporationen zusammen. Die zweite Gewalt ist die Regierungsgewalt, die bewirkt, dass das allgemeine Gesetz verwirklicht wird. Zu dieser Gewalt zählt sowohl die Rechtsprechung als auch die Regierung, die sicherstellt, dass die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft innerhalb des Rahmens des allgemeinen Gesetzes funktionieren. In der dritten Gewalt werden die beiden anderen Gewalten als das Moment der Besonderheit und das Moment der Allgemeinheit in einer Einheit zusammengeführt: Die monarchische Gewalt repräsentiert das Moment der Einzelnheit und hat ihre Gestalt im Monarchen. Der Monarch ist der Herr, in dem die Staatsbürger ihre allgemeine Freiheit verwirklicht sehen. Wie das Gewissen in der Phänomenologie des Geistes geht auch die institutionelle Wirklichkeit des Gewissens in den Grundlinien in den absoluten Geist über. Der Staat ist Teil einer Vielheit von Staaten, die auf der Ebene der Weltgeschichte die Selbstverwirklichung des absoluten Geistes zum Ausdruck bringen. Dies ist die Erklärung dafür, dass der Herr, dem auf der Ebene des Staates gedient wird, immer eine bestimmte Realisierungsform des Herrn ist. Der eigentliche Herr ist die reine Freiheit, die niemals völlig realisiert werden kann. Der Prozess der Weltgeschichte ist das fortwährende Streben, die reine Freiheit (den „ewigen Frieden“) adäquat zu verwirklichen.

Das religiöse Bewusstsein und die Grundlinien

Da wir erörtert haben, wie die Momente des Geist-Kapitels aus der Phänomenologie des Geistes in den Grundlinien wiederkehren, wird zugleich deutlich, wie die Momente des Religionskapitels in den Grundlinien wiederkehren sollten. Denn in der Kunstreligion und in der offenbaren Religion gewinnt der Geist der sittlichen Welt und des Reichs der Bildung seine selbstbewusste Vorstellung. Ich untersuche deshalb also, wie diese Religionsformen in den Grundlinien wiederkehren können. 24  GW 14,1, § 267.

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Sowohl die Entwicklung der Polis als auch die Entwicklung der Familie lassen sich als eine Emanzipation von traditionellen Verhältnissen verstehen: als ein Verlust der Sittlichkeit, der in das erste Selbst, die formelle Person, resultiert. In der Polis wird diese Entwicklung aus der Innenperspektive heraus verstanden als ein Selbstbewusstwerden, das durch die Vorstellungsformen der Kunstreligion vermittelt ist. Der Bürger der Polis stellt sein Selbst anfangs als ein absolutes Selbst, als das Götterbild, vor, d.h. als ein Selbst, das unauflöslich in die Tradition, in die es gestellt ist, eingebettet ist. Im Laufe der Entwicklung erfährt der Bürger jedoch, dass diese Tradition von ihm selbst hervorgebracht worden ist, und wird das Götterbild auf ein formelles Selbst reduziert, in dem der Bürger seine eigene Freiheit wiedererkennt. Dieser Erfahrungsprozess hat jedoch noch nicht die Form des freien Denkens. Denn er wird von einem Selbst vollzogen, das noch in die Tradition eingebettet ist; er vollzieht sich deshalb in Formen, die die Sinnlichkeit noch an sich haben: in Formen der Kunstreligion. Die Selbstbewusstwerdung, die in der Bildung des Kindes vollzogen wird, wenn dieses sich vom Familienmitglied zur freien Person entwickelt, wird in den Grundlinien nicht aus der Innenperspektive heraus thematisiert. Aber die Formen des Selbstbewusstseins, die das Kind durchlaufen muss, verlaufen parallel zu den Formen der Kunstreligion25. Denn das Kind stellt sich anfangs als ein absolutes Selbst vor: als das Selbst des Vaters, das unlöslich mit den Normen und Werten der Familie, in die es gestellt ist, verbunden ist. Das Kind muss jedoch lernen, dass die Familiengemeinschaft von dem freien Selbst seiner Eltern konstituiert ist, und dass es sein eigenes freies Selbst hierin wiedererkennen kann. Es lässt sich nicht nur ausarbeiten, wie die Selbstbewusstwerdung des Kindes parallel zu den Formen der Kunstreligion gedacht werden kann, sondern auch, wie diese Formen in Formen übersetzt werden können, die der zeitgenössischen Kultur entlehnt sind26. Die Bildung des zweiten Selbst im System der Bedürfnisse wird in den Grundlinien nicht aus der Innenperspektive heraus thematisiert. Aber auch hier kann auf das Religionskapitel der Phänomenologie des Geistes Bezug genommen werden: in der offenbaren Religion wird die Bildung der Person im Reich der Bildung aus der Innenperspektive heraus erörtert. Dadurch lässt sich auch die Bildung im System der Bedürfnisse aus der Innenperspektive heraus denken. Die Person des Reichs der Bildung bzw. des Systems der Bedürfnisse kann sich nur zu der entfremdeten Welt oder dem Markt verhalten, weil sie eine eigene Selbstständigkeit hat. Dies drückt sich im ersten Moment der offenbaren Religion (im Reich des Vaters) aus in der Vorstellung seines Herrn als 25  Vgl. Cobben 2009, 158–164. 26  Vgl. Fußnote 25.

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der heiligen Dreieinigkeit. Diese Vorstellung ist eine Art von Präfiguration des Gewissens, in dem das Wesen der Person als reine Freiheit verstanden wird. Hier haben die Momente der Freiheit (Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit) jedoch noch eine Vorstellungsform: Vater, Sohn und heiliger Geist. Die Bildung der Person erlangt ihre selbstbewusste Form im zweiten Moment der offenbaren Religion, dem Reich des Sohnes. Das allgemeine Wesen, das sich in der Welt manifestiert (die Staatsgewalt oder das allgemeine Wohl) wird in Christus vorgestellt; das besondere Interesse, das sich in der Welt manifestiert (der Reichtum oder das besondere Wohl) wird in dem Menschen vorgestellt. Der Bildungsprozess, in dem die allgemeine Freiheit gebildet wird, erscheint in der Vorstellung als Christus, der sich für das Wohl des Menschen opfert. Das Resultat der Bildung, die absolute Freiheit oder die Rechtspflege, gewinnt im dritten Moment der offenbaren Religion Selbstbewusstsein, nämlich im Reich des heiligen Geistes. Das ist eine Vorstellung dessen, was Kant das Reich der Zwecke27 nennen würde: ein Reich, in dem die Personen ihre allgemeine Freiheit in Harmonie verwirklichen können. Erst wenn sich die Bildung zur Freiheit vollzogen hat, ist das zweite Selbst imstande, die Vorstellungsform der Religion zu überwinden und sein Wesen explizit in der Form des Begriffs zu verstehen. Dies geschieht zuallererst in der Form der Philosophie von Rousseau und Kant, die beide die allgemeine Freiheit zum Wesen der Wirklichkeit erklären. Aber während es Rousseau nicht gelingt, deutlich zu machen, wie die allgemeine Freiheit sich zur besonderen verhält, gelingt es Kant nicht, die adäquate Einheit von Freiheit und Glückswürdigkeit zu denken. Weil wir sahen, wie die Polizei die Möglichkeit der allgemeinen Freiheit sicherstellt, ohne ihre Besonderung zu bestimmen, und im Verstandesstaat die allgemeine Freiheit einen Inhalt bekommt, der noch nicht explizit als Selbstverwirklichung der allgemeinen Freiheit gesetzt worden ist, können wir schlussfolgern, dass im Denken Rousseaus die Polizei und im Denken Kants die Dilemmata des Verstandesstaates zum Selbstbewusstsein gelangen. Erst in Hegels Denken, das in der Phänomenologie des Geistes als das absolute Wissen erörtert wird, lässt sich die Einheit von Freiheit und Glückseligkeit adäquat denken. In diesem Denken gewinnen das Gewissen 27  Kant, AA IV (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten), 433: „Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt, ein ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Verknüpfung, d.i. ein Reich der Zwecke gedacht werden können, welches nach obigen Prinzipien möglich ist.“

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des Moralitätskapitels der Phänomenologie des Geistes und der Staat aus den Grundlinien Selbstbewusstsein. Nachwort Wir haben gesehen, wie die Phänomenologie des Geistes verdeutlicht, welche Rolle die Religion in den Grundlinien spielen kann. Die Religion spielt ihre Rolle im Bildungsprozess des Selbstbewusstseins. Gerade weil das Selbstbewusstsein seine Freiheit erst durch die Bildung im System der Bedürfnisse expliziert, sind die Formen des Selbstbewusstseins, die dieser Freiheit vorangehen, an die Vorstellungsformen der Religion gebunden. Das erklärt zugleich, warum Hegel in den Grundlinien die Trennung zwischen Kirche und Staat genau beachtet. Auf der Ebene des Staates ist die Freiheit immer schon expliziert und haben die religiösen Formen des Selbstbewusstseins keine Bedeutung mehr. Die Aufhebung der Religion auf der Ebene des Staates (und auf der Ebene des Übergangs zum Staat: auf der Ebene der Polizei und der Korporation) bedeutet jedoch keineswegs, dass die Religion überflüssig geworden ist. Die Entwicklung des religiösen Bewusstseins ist eine Voraussetzung für die wirkliche Entwicklung des ersten und zweiten Selbst. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Entwicklung des ersten Selbst an die Kunstreligion im klassischen Griechenland gebunden ist. Ich deutete schon an, dass die Vorstellungen der Kunstreligion durch unserer Zeit entlehnte Vorstellungen ersetzt werden können. Was die Vorstellungen der offenbaren Religion angeht, ist die Lage nach Hegel wahrscheinlich problematischer. Insofern die offenbare Religion zur Vorstellung bringt, dass alle Menschen in einer universellen Freiheit verbunden sind, ist sie für Hegel mit spezifischen Formen des Christentums verbunden. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass auch andere Religionen diese Funktion erfüllen können. Insofern dies möglich ist, lässt Hegel einer Vielheit von Religionsformen im modernen Rechtsstaat wesentlich Raum. Dann muss jedoch scharf unterschieden werden zwischen Religionen, die die fundamentale Gleichheit aller Menschen in den Mittelpunkt stellen, und Religionen, die dies nicht tun. Hiermit haben wir jedoch noch immer keine Antwort auf die Frage, ob die Institutionen des Staates überhaupt keine religiöse Legitimation brauchen. Man kann von den Staatsbürgern doch nicht verlangen, dass sie Philosophen sind und Wissen über Rousseau, Kant oder Hegel haben? Genügt es, dass die Institutionen des Staates ihre Freiheit bestätigen? Aber das Problem ist gerade, dass der Gesetzgeber die Freiheit auf vielerlei Weise erfüllen kann. Welche

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Garantie kann es dann geben, dass die Staatsbürger einen gemeinsam geteilten Patriotismus haben? Für Hegel ist wichtig, dass die Bürger sich nicht als atomistische Individuen zum Staat verhalten. Das Leben in der Staatsgemeinschaft wird durch das Leben in der Korporation, d.h. durch das Leben in einer Arbeitsgemeinschaft (zweite Familie), in der die Individuen ihre Freiheit auf lokaler Ebene verwirklichen, vorbereitet. Die allgemeine Freiheitsverwirklichung ist sichergestellt, weil die vielen Korporationen zusammen dem guten Leben dienen. Hegels Lösung ist jedoch überholt: Einerseits ist eine lebenslange Teilnahme an einer Arbeitsgemeinschaft wenig realistisch, andererseits produzieren die Korporationen für den Weltmarkt, nicht für einen nationalen Staat. Trotzdem bringt Hegels Ansatz eine wertvolle Einsicht zum Ausdruck. Freiheitsverwirklichung muss in erster Linie auf lokaler Ebene vollzogen werden, nicht in Form einer Arbeitsgemeinschaft, sondern in Form einer Wertegemeinschaft, die Ausdruck eines freien Zusammenschlusses der Personen ist. Diese freien Zusammenschlüsse können (analog zu Hegels Konstruktion in Bezug auf die Korporation) auf der Ebene der gesetzgebenden Gewalt zur Einheit geführt werden: in Form der politischen Parteien, die im Parlament vertreten sind. Ich denke, dass die Wertegemeinschaften, die den politischen Parteien zugrunde liegen, den Religionen auch im modernen Staat Raum bieten können. Die Entwicklung des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes zeigt, dass Hegels Begriffsrahmen einem derartigen Parlament wesentlichen, breiten Raum verschafft. Denn obwohl der Versuch der sogenannten schönen Seelen28, in einem Diskurs aller mit allen zu einer Bestimmung des guten Lebens zu gelangen, zum Scheitern verurteilt ist, weil – wie sich herausstellt – das gute Leben sich als eine Reflexion der immer schon realisierten Tradition verstehen lässt, ist damit jedenfalls schon gezeigt, dass alle an demjenigen politischen Diskurs teilnehmen, der zur Bestimmung des guten Lebens führt. 28  GW 9, 355.

Zwischen Scheinkritik und Absolutheitsanspruch – zur Eigentümlichkeit der philosophischen Wissensbildung in Hegels Phänomenologie des Geistes Christine Weckwerth Die Thematik der Eigentümlichkeit und Genese des philosophischen Wissens durchzieht wie ein roter Faden Hegels Werk. Angesichts eines in der Gegenwart herrschenden Mythos des Gegebenen (Wilfrid Sellars), der auch vor Begriffen und Normen nicht Halt macht, ist diese Thematik bis heute relevant1; führt sie doch zur Frage nach dem Ursprung der philosophischen Begriffe und ihrer Zusammenhänge. Den Begründungsrahmen der Transzendentalphilosophie überschreitend, wendet sich Hegel im Anschluss an Kant, Fichte und Schelling dem geschichtlichen Werden des Geistes zu. Er bestimmt die Philosophie als „Wissen des Substantiellen ihrer Zeit“, die als rationale Reflexions- und Syntheseform zugleich über ihrer Zeit stehe (Werke 18, 74). Auf Basis seines spekulativen Ansatzes deutet er diesen Überschritt als Erzeugung eines absoluten Wissens und bestimmt die Philosophie als Selbstbewusstsein des absoluten Geistes2. Eine solche Mehrdeutigkeit kennzeichnet auch das Verhältnis der Philosophie zum objektiven Geist, der bei Hegel die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit umfasst. Die Philosophie bildet das Selbstbewusstsein einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung wie zugleich deren ideelle Überschreitung. Bezieht man sich allein auf eine Seite und begreift die Philosophie – die hegelsche eingeschlossen – entweder als eine Theorie der geschichtlich-gesellschaftlichen Vermittlungen oder demgegenüber als ein Raum und Zeit überschreitendes, logisches Wissen3, stellt 1  Siehe dazu auch Hösle 2005, 139, 151 ff. 2  In der Phänomenologie bestimmt Hegel die mit Wissenschaft gleichgesetzte Philosophie als den „sich in Geistsgestalt wissenden Geist“ (GW 9, 427). In der Enzyklopädie führt er den Begriff der Philosophie als „die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit“ ein, worin sich vereinigt, „daß die Natur der Sache, der Begriff, es ist, die sich fortbewegt und entwickelt und diese Bewegung ebenso sehr die Thätigkeit des Erkennens ist, die ewige an und für sich seyende Idee sich ewig als absoluter Geist bethätigt, erzeugt und genießt.“ (GW 20, 569, 571) 3  Eine Interpretation im ersten Sinne findet sich bereits bei den Junghegelianern, die in ihrer Negation des absoluten Geistes sich von Hegels Philosophiekonzept insgesamt verabschiedet haben. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist Moses Heß’ Schrift „Die letzten Philosophen“,

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_006

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man damit das problemgeschichtlich Bedeutsame von Hegels Philosophiekonzept, die methodische und strukturelle Verankerung des philosophischen Wissens in den geschichtlichen Sozialisierungs- und Vergegenständlichungsprozessen, in den Hintergrund. Angesichts einer erfahrbaren Kontingenz geschichtlicher Entwicklungen scheint dieser Ansatz allerdings zunächst ebenso fragwürdig wie die Annahme eines der Geschichte zugrunde liegenden absoluten Subjekts zu sein4. Es stellt sich deshalb die Frage, in welcher Weise Hegel die Philosophie auf die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit bezieht, womit im Rahmen seiner Geistesphilosophie zugleich nach dem Verhältnis von absolutem und objektivem Geist gefragt wird. Welchem Transformationsprozess unterwirft seine Philosophie die geschichtliche Wirklichkeit, um sie in philosophisches Wissen zu überführen, und welche Rolle kommt ihr selbst innerhalb dieser Wirklichkeit zu? Um darauf zu antworten, wird in diesem Beitrag auf Hegels erste Systemschrift, die Phänomenologie des Geistes, Bezug genommen, worin die philosophische Wissensbildung zum eigentümlichen Gegenstand gemacht wird. Ein erster Punkt wird sich mit Eckpunkten seines phänomenologischen Wissenskonzeptes, ein zweiter mit der philosophischen Wissensbildung im Zusammenhang mit dem objektiven Geist beschäftigen. In einem dritten Punkt wird Hegels phänomenologische Bestimmung der Philosophie sowie deren Erhebung zu einem absoluten Wissen betrachtet, wobei abschließend nach einer Relevanz seines phänomenologischen Konzepts für die gegenwärtige Philosophie gefragt wird. Die Verfasserin ist sich bewusst, dass die aufgespannte Problematik hier nicht erschöpfend dargestellt werden kann5.

worin eine Negation der Philosophie zugunsten von deren praktischer Verwirklichung gefordert wird, und zwar ohne dabei „philosophische Bücher über die Negation der Philosophie“ zu schreiben. Heß: „Die letzten Philosophen“, 384. Die zweite Interpretationsrichtung ist für das Lager der Hegel konformen Interpreten auszeichnend, die am Begriff des absoluten Geistes und damit nolens volens am Status der Philosophie als einer „absoluten Erscheinung“ festhalten. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten zeigen sich exemplarisch in Hans Friedrich Fuldas Verteidigung der Figur des „erscheinenden absoluten Wissens“. Siehe Fulda 2008 (bes. 610–624) und 2001. 4  Zu diesem Einwand siehe auch Pippin 2008b, 23 f. 5  Weitergehende Ausführungen finden sich in Weckwerth 1996 und 2000.

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Philosophische Wissensbildung auf Basis phänomenologischer Erfahrung

Hegel kennzeichnet seine erste Systemschrift allgemein als „Darstellung des erscheinenden Wissens“ oder auch „Wissenschafft der Erfahrung des Bewußtseyns“ (GW 9, 55, 61), worin aus dem erscheinenden sukzessive das wahre Wissen evolviert wird. Die Erhebung des Bewusstseins umschreibt er als Weg der Seele, „welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntniß desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist.“ (GW 9, 55) Dabei werde zum einen die „Unwahrheit des erscheinenden Wissens“ aufgezeigt6, zum anderen das natürliche Bewusstsein selbst zur Wissenschaft gebildet (GW 9, 56). Bezogen auf das nicht-philosophische Bewusstsein fällt der Phänomenologie die doppelte Funktion einer Kritik und zugleich Propädeutik zu. In einer Selbstanzeige dieser Schrift stellt Hegel als eigentliche Leistung seiner Schrift heraus, den „dem ersten Blicke sich als Chaos darbietenden Reichthum der Erscheinungen des Geistes […] in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht“ zu haben (GW 9, 446). Er entwirft in dieser Hinsicht ein vielschichtiges Panorama an idealtypischen Bewusstseins- und Weltgestalten, in deren Abfolge sich die „im Schattenrisse nachgezeichnete Geschichte der Bildung der Welt“ (GW 9, 25) erkennen lässt. Den einzelnen Gestalten kommen jeweils spezifische Wissensstufen zu, die in ihrer vollständigen Darstellung nach Hegel in potentia bereits das ganze System der philosophischen Wissenschaft enthalten7. In seiner ersten Systemschrift geht er damit von einer Entsprechung des logischen mit dem im geschichtlichen Bildungsprozess verankerten, erscheinenden Wissen aus – ein Bezug, der in seiner Logik und Enzyklopädie später in den Hintergrund tritt8. Das philosophische Wissen wird in der Phänomenologie auf den Erfahrungen des in der geschichtlich-soziokulturellen Welt verankerten Bewusstseins 6  „Das natürliche Bewußtseyn wird sich erweisen, nur Begriff des Wissens, oder nicht reales Wissen zu seyn.“ (GW 9, 56) 7  Jedem abstrakten Moment der Wissenschaft entspricht nach Hegel eine Gestalt des erscheinenden Geistes und umgekehrt – wie „der daseyende Geist nicht reicher ist, als sie [die abstrakten Momente der Wissenschaft], so ist er in seinem Inhalte auch nicht ärmer.“ (GW 9, 432) 8  Die in der Phänomenologie erfolgte Verschränkung von Logischem und Historischem ist in der Rezeptionsgeschichte immer wieder Gegenstand der Kritik geworden, so bereits bei Rudolf Haym, der in Hegels Schrift eine „Confundirung der psychologischen und weltgeschichtlichen Entwicklungsstufen“ gesehen hat, welche Stufen seiner Auffassung nach voneinander abzutrennen seien. Haym 1857, 241.

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begründet. Hegel grenzt sich hierbei sowohl von dem transzendentalphilosophischen als auch empirischen Erkenntnismodell ab; er distanziert sich davon, Erkennen allein als rationale Bearbeitung eines ungeordneten Sinnenmaterials oder demgegenüber als passive Aufnahme eines gegebenen Inhalts aufzufassen9. Sein Bezugspunkt in der Phänomenologie ist das erscheinende Wissen, in dem Begriff und Gegenstand, d.h. rational-sprachliche Formgebungen und objektive Gehalte bereits verbunden sind. Er kennzeichnet das Wissen als ein „Beziehen“ oder „Seyn von Etwas für ein Bewußtseyn“ (GW 9, 58), womit er es als eine bewusstseinsimmanente Beziehung fasst – „Begriff und Gegenstand, der Maßstab und das Prüffende“ sind „in dem Bewußtseyn selbst vorhanden“ (GW 9, 59). Der Gegenstand bildet darin ein Bewusstseinskorrelat, worin er allerdings nicht aufgeht; er existiert nach Hegel zugleich außer der Wissensbeziehung. „Es ist in ihm [in dem Bewusstsein] eines für ein anderes, oder es hat überhaupt die Bestimmtheit des Moments des Wissens an ihm; zugleich ist ihm diß andere nicht nur für es, sondern auch außer dieser Beziehung oder an sich“ (GW 9, 59)10. Mit dem Aspekt, den Gegenstand nicht in seinem Objektsein für das Bewusstsein aufgehen zu lassen, grenzt sich Hegel von der nachkantischen Transzendentalphilosophie ab, die das empirische Bewusstsein, wie er kritisch bemerkt, in ein „reines Produkt des Ich = Ich“ aufgelöst habe11. Den Gegenstand in ein Datum des Subjekts verwandelnd, werde die Transzendentalphilosophie nicht mehr dem An-sich-Sein des Gegenstandes gerecht12. Das Pendant zu diesem Erkenntnismodell bildet der Empirismus, der den Gegenstand unmittelbar in seinem An-sich-Sein erfassen will und für Hegel damit unzulässig den Modus eines Seins für das Bewusstsein ausblendet. Grundlegende Einwände gegen diese Richtung bringt er in seiner Kritik der „sinnlichen Gewissheit“ vor. Auf seine Kritik an beiden Richtungen antwortet Hegel in der Phänomenologie mit einer die traditionelle Erkenntnistheorie überschreitenden Konzeption, worin das Wissen weder auf einer epistemischen Selbstbeziehung noch auf sinnlichen Eindrücken, sondern auf gegenständlich vermittelten Erfahrungen 9   Siehe dazu Hegels einleitende Kritik an der Auffassung des Erkennens als Werkzeug oder Mittel (GW 9, 53 f.). 10  Siehe dazu auch Jaeschke 2008, 178–182. 11  Hegel, „Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie“, GW 4, 36. 12  Fichtes kritischer Idealismus bleibt für Hegel in dieser Hinsicht formal: „das Allgemeine der dem Subject entgegengesetzten Welt, ist als allgemeines, ideelles, als Denken, und damit als Ich gesetzt; aber nothwendig bleibt das Besondere zurück, und wenn nach der beliebten Stellung der Idee der Philosophie von Erklärung die Rede seyn soll, so bleibt von der objectiven Welt die interessanteste Seite, die Seite ihrer Realität unerklärt.“ Hegel, „Glauben und Wissen“, GW 4, 388.

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des Bewusstseins begründet wird. Damit verlässt Hegel nicht den Boden des Idealismus; seine Kritik führt ihn vielmehr zum Standpunkt eines objektiven Idealismus, den er am Begriff des Geistes festmacht. In der „Vorrede“ hält er diesen Zusammenhang fest: „Daß das Wahre nur als System wirklich, oder daß die Substanz wesentlich Subject ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht, – der erhabenste Begriff, und der der neuern Zeit und ihrer Religion angehört. Das Geistige allein ist das Wirkliche“ (GW 9, 22). Bewusstsein und Gegenstand bilden danach Erscheinungsformen des Geistes, die auf ein und demselben, in seinem Kern logischen Strukturprinzip gründen. Hegel konzipiert die Philosophie auf dieser Grundlage als ein holistisches System, das er in Jena zunächst aus einer realphilosophischen und phänomenologischen Perspektive erschließt. Einen theoretischen Eckstein bilden in dieser Hinsicht seine Jenenser Systementwürfe, worin er die subjektiven Handlungsformen (Vernichten, Arbeiten, Lieben und Sprechen) im Hinblick auf ihre reellen Mittenbildungen (Werkzeug, Kind/Familie, Sprache) reflektiert. Er wendet sich in dieser Intention der „Gegliederung des Bewußtseyns zu seiner Totalität“ bzw. der „Organisation seiner Formen als Mitten“ zu (GW 6, 276), womit er den theoretischen Schwerpunkt auf die Mittelstruktur verlagert13. Selbst- und Welterkenntnis sind ihm zufolge nur über die bleibenden Organisationsformen des Bewusstseins möglich. Seine Jenenser Entwürfe rekonstruieren die soziokulturelle Welt auf Basis differenter Vergegenständlichungs- und Vermittlungsprozesse, die in dem geistesphilosophischen Begründungsrahmen als Objektivierungen des Geistes begriffen werden. Bereits vor der Phänomenologie überschreitet Hegel damit die epistemologische Perspektive seiner Vorgänger und verschärft zugleich das Problem der philosophischen Wissensbildung14. Der Erfahrungsbegriff steht in seiner ersten Systemschrift für einen besonderen Aspekt der Wissensbildung. Hegel macht ihn an der Umkehrung des Bewusstseins fest, bei der die Relativität des erscheinenden Wissens zutage 13  Siehe auch Habermas 1978, bes. 9 f., 23–30 und Weckwerth 2000, 37–78. 14  Eine Interpretation der Phänomenologie als einer reinen Sprach- bzw. Handlungstheorie verkennt m. E. die hegelsche Schwerpunktsetzung auf die Mittelstruktur. Eine Deutung in diesem Sinn unternimmt etwa Pirmin Stekeler, der die Phänomenologie als „sinnkritische Analyse üblicher Reflexionen auf uns selbst und unsere geistigen bzw. personalen Fähigkeiten“ interpretiert. Einer solchen Analyse liegt nach ihm bei Hegel eine Logik der Sprechhandlungen zugrunde. Stekeler 2014, Bd. 2, 22; siehe auch Bd. 1, 64 und 72 ff. Diese Interpretationstendenz findet sich auch in Robert Pippins aufschließender Deutung, nach der die zentrale Bewegung der Phänomenologie eine „Handlungsanalyse“ ist; unter Berufung auf Robert Brandom bestimmt Pippin das „Reich des Geistigen“ allein als „normative Ordnung“. Pippin 2008b, 31.

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tritt und die Änderung des Wissens sowie seines Maßstabes zu einer Änderung des Gegenstandes führt. In der „Einleitung“ kennzeichnet er diese Umkehrbewegung bestimmter anhand des kategorialen Verhältnisses von Sein-fürAnderes und An-sich-Sein. „Das Bewußtseyn weiß Etwas, dieser Gegenstand ist das Wesen oder das an sich; er ist aber auch für das Bewußtseyn das an sich; damit tritt die Zweydeutigkeit dieses Wahren ein.“ (GW 9, 60) Der Prozess der Erfahrung setzt ein, wenn das Bewusstsein des Für-es-Seins des Gegenstandes gewahr wird: „Diß bietet sich hier so dar, daß, indem das, was zuerst als der Gegenstand erschien, dem Bewußtseyn zu einem Wissen von ihm herabsinkt, und das an sich, zu einem: für das Bewußtseyn seyn des an sich wird, diß der neue Gegenstand ist, womit auch eine neue Gestalt des Bewußtseyns auftritt, welcher etwas anderes das Wesen ist, als der vorhergehenden.“ (GW 9, 61) „Nicht reales“ Wissen entsteht nach Hegel da, wo das natürliche Bewusstsein den Gegenstand so nimmt, wie er ihm unvermittelt, in seiner unmittelbaren Präsenz erscheint. Das betrifft auch Einstellungen, wo das Bewusstsein sich auf sich selbst wie auf andere bezieht. Unter dem Duktus der Allgemeingültigkeit zeigt sich die Welt in dieser Einstellung als palpables Gegebensein einzelner Dinge, als „ruhiges Reich von Gesetzen“, als Hobbes’sche Welt permanenter Bedrohung durch den Anderen, als eine in Diesseits und Jenseits entzweigebrochene, Unglück erzeugende Wirklichkeit usw. Die subjektive Perspektive wird jeweils von ihrem raumzeitlichen (geschichtlichen) Erscheinungshorizont abgelöst, wie der entsprechende Gegenstand zu einer selbstständigen Entität verdinglicht wird. Eine solche Generalisierung bzw. Verdinglichung ist keine bloße Willkür, sondern der intentio recta des natürlichen Bewusstseins geschuldet15. Der – für das philosophische Wissen relevante – Prozess der Umkehr setzt Hegel zufolge mit dem Aufbrechen der unmittelbaren Identität von Bewusstsein und Gegenstand ein – etwa wenn die sinnliche Gewiss­ heit als eine verschwindende Wahrheit, die positiv erfahrene Billigkeit und Ehrlichkeit als gegenseitiger Betrug oder der religiöse Kultus als ein fremd gewordenes Gerüst äußerlicher Existenz, Sprache und Tradition erfahren wird. Phänomenologische Erfahrung erschöpft sich bei Hegel allerdings nicht mit der Destruktion des erscheinenden Wissens, sondern schließt den Hervorgang einer neuen Wissens- bzw. Gegenstandsform ein, wofür er auch den Begriff der bestimmten Negation gebraucht16. Bei der neuen Gestalt wird die Wirklichkeit 15  Zu dem bereits von der Scholastik benutzten Begriff der „intentio recta“ siehe etwa Hartmann 1965, 46 f. 16   Sich von einer skeptischen Sicht abgrenzend, bemerkt Hegel zum Fortgang des Bewusstseins: „Indem dagegen das Resultat, wie es in Wahrheit ist, aufgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen, und in der

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unter einem anderen Aspekt erfasst, wobei das Für-es-Sein erneut zu einem An-sich-Sein generalisiert wird. Die einzelnen phänomenologischen Gestalten lassen sich in materialer Hinsicht als idealtypische Knotenpunkte theoretischer, praktischer, ästhetischer, religiöser und philosophischer Vermittlungsprozesse auffassen, worin sich jeweils ein isoliertes subjektives Moment zu einem Ganzen ausdehnt (siehe GW 9, 367)17. Sie erstrecken sich in der Phänomenologie vom alltagspraktischen Verhalten bis zur systematisch philosophischen Gegenstandsbildung. Dabei setzt Hegel wiederholt mit unmittelbaren „natürlichen“ Bezügen wie Sinnlichkeit, Begierde, Beobachtung, Lust, Sittlichkeit oder natürlicher Religion ein, von welchen elementaren Bezugsebenen er zu komplexeren epistemischen und entsprechenden gegenständlichen Vermittlungen übergeht. Die in den heterogenen Vermittlungsprozessen gemachten Erfahrungen laufen ihm zufolge auf der Ebene des natürlichen Bewusstseins spontan ab18. Die methodische „Zutat“ der Philosophie bestehe im Bewusstmachen der Umkehrungen des natürlichen Bewusstseins, d.h. im jeweiligen Aufzeigen der Diskrepanz zwischen erscheinendem Wissen und gewusstem Gegenstand – zwischen Repräsentierendem und Repräsentierten, um eine modernere Terminologie zu gebrauchen19. Hegel gebraucht in diesem Zusammenhang auch den Begriff des Für-uns-Seins (siehe GW 9, 61); die Dialektik von Für-es-Sein und An-sich-Sein wird nach ihm erst auf dem Standpunkt des philosophischen Beobachters sichtbar gemacht. Eine Deutung der Umkehrbewegung des Bewusstseins als eine „Erfahrung des Irrtums“20 greift m. E. zu kurz, insofern man damit nicht dem objektiven Gehalt des erscheinenden Wissens gerecht wird. Die zu Widersprüchen führende Generalisierung des Negation der Uebergang gemacht, wodurch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst ergibt.“ (GW 9, 57) 17  Hegel selbst spricht von einem „Fortschreiten durch Knoten“, worin zugleich die Rückgänge sichtbar würden (GW 9, 367). 18  „Nur diese Nothwendigkeit selbst, oder die Entstehung des neuen Gegenstandes, der dem Bewußtseyn, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, sich darbietet, ist es, was für uns gleichsam hinter seinem Rücken vorgeht.“ (GW 9, 61) 19  Siehe dazu Robert Brandoms detaillierte Ausführungen zu Hegels „Einleitung“ in die Phänomenologie in Brandom 2015, 123 ff. 20  Hegels „Einleitung“ in die Phänomenologie interpretierend, kennzeichnet Brandom die Umkehr des Bewusstseins als eine „Erfahrung des Irrtums“ (siehe Brandom 2015, 175 ff.). Das Subjekt findet nach Brandom material unvereinbare Verpflichtungen in sich vor und erkennt an, dass es einen Fehler gemacht habe; aus praktischer Verantwortung zur Kritik strebe es danach, die in sich vorgefundene Inkohärenz zu beheben (ebenda, 195 f.). Brandom macht den Tatbestand unvereinbarer Bestimmungen damit am einzelnen Subjekt fest, ohne bestimmter darauf einzugehen, woher dessen Fehlleistung kommt.

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Für-es-Seins bildet eine unvermeidliche Einstellung, die aus der direkten Gerichtetheit des natürlichen Bewusstseins resultiert. Die Phänomenologie lässt sich in dieser Hinsicht als eine Scheinlehre auffassen, die über die notwendige Scheinproduktion des natürlichen Bewusstseins zu wahrem Wissen gelangt21. Die Umkehrlogik wendet Hegel gleichfalls auf das „Wissen von sich“ an. Die in der „Einleitung“ umrissene Dialektik von Für-es-Sein und An-sichSein wandelt sich hier zur Dialektik von Für-sich-Sein, Sein-für-Andere und An-sich-Sein. Hegel thematisiert das selbstbezügliche Wissen zunächst als reine Selbstbeziehung, bei der zwischen dem An-sich-Sein und dem Sein-fürAnderes nicht unterschieden werde22. Anhand der elementaren Gestalt der Begierde zeigt er, wie das Bewusstsein zunächst die „Selbstständigkeit seines Gegenstandes“ (GW 9, 107), anhand des „Kampfes auf Leben und Tod“ dann die Selbstständigkeit eines anderen Individuums erfährt (siehe GW 9, 110 f.). Bereits diese dem Lebensprozess entsprungenen Erfahrungen zeigen, dass das Tun des Einen mit dem Tun des Anderen unaufhebbar verschränkt ist23. Eine vergleichbare Umkehrbewegung zeigt sich für ihn auch bei der „Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist“, wo der Modus des Für-sichSeins im Zuge des Zu-Werke-Werdens des Individuums in ein Sein-für-Andere umschlägt und schließlich zur „Sache aller“ wird (GW 9, 214 ff.). Die zunächst unterstellte Selbstbeziehung erweist sich bei diesen Gestalten als ein „nicht reales“ Wissen, bei dem unzulässig das An-Sich-Sein der gegenständlichen und sozialen Welt wie auch das Sein-für-Andere ausgeblendet wird. Die im Handeln bzw. Zu-Werke-Werden aufbrechenden Diskrepanzen nötigen das Individuum zu einer Modifizierung seines Wissens. Schelling hat in diesem Zusammenhang, wenngleich in einem anderen Begründungsrahmen, formuliert: „Wir erwachen durch Reflexion, d.h. durch abgenötigte Rückkehr zu uns

21  In dieser Ausrichtung zeigen sich Parallelen zwischen Hegels Phänomenologie sowie Bacons Idolenkritik, Lamberts in seinem Neuen Organon entwickelter Scheintheorie oder auch Kants Theorie des transzendentalen Scheins. Siehe dazu auch Orth 1982. Eine andere Auffassung vertritt demgegenüber F.-P. Hansen, nach dem Hegel in der Phänomenologie nur die Logik des falschen Bewusstseins reproduziere. Siehe Hansen 1994, bes. 85. In seiner Wissenschaft der Logik erkennt Hegel dem Schein ebenfalls einen notwendigen Status zu, der aus dem Scheinen des Wesens in sich resultiere: „Der Schein ist das Wesen selbst in der Bestimmtheit des Seyns.“ (GW 11, 248) Siehe dazu auch Weckwerth 1996. 22  „Ich ist der Inhalt der Beziehung, und das Beziehen selbst; es ist es selbst gegen ein anderes, und greifft zugleich über diß andre über, das für es ebenso nur es selbst ist.“ (GW 9, 103) 23  Das Tun kennzeichnet Hegel in diesem Kapitel als Tun „gegen sich als gegen das andre“ wie als „Thun des Einen als des Andern“. (GW 9, 110)

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selbst. Aber ohne Widerstand ist keine Rückkehr, ohne Objekt keine Reflexion denkbar“24. Auf Basis der Umkehrmethode entwirft Hegel in der Phänomenologie ein vielschichtiges Spektrum von zum An-sich-Sein gebogener Für-uns-Welten, mittels dem die Philosophie die Wirklichkeit in immer komplexeren Zusammenhängen erschließt. Das philosophische Wissen speist sich danach aus Erfahrungen, die anhand wissenschaftlicher Rationalisierungsprozesse ebenso wie anhand alltagspraktischer, moralischer, politischer, rechtlicher, ökonomischer, religiöser oder auch ästhetischer Sozialisierungs- und Vergegenständlichungsprozesse gewonnen werden. Bezogen auf das negative Moment im Wissensprozess spricht Hegel auch von einem „sich vollbringenden Skepticismus“ (GW 9, 56), der für die Philosophie allerdings kein Selbstzweck sei. Im systematischen Durchmessen und Zusammenführen „gattungsgeschichtlich konstitutiver Erfahrungen“25 gelangt die Philosophie nach ihm schließlich zu einem Wissen, bei dem die Wirklichkeit in ihrem An- und Für-sich-Sein erkannt wird bzw. das Bewusstsein „in seinem Andersseyn als solchem bey sich“ sei (GW 9, 422). Der Verlust seiner selbst, den das Bewusstsein in seiner geschichtlichen Bildung und Erhebung zur Wissenschaft erfährt, ist danach ebenso eine Rückkehr zu sich (siehe GW 9, 56). Unter der Annahme einer identischen Geistessubstanz bestimmt Hegel das philosophische Wissen als Selbstbewusstsein des Geistes, mit dem dieser seine Vollendung erreiche (siehe GW 9, 427 ff. und weiter unten). Interpretiert man sein Philosophiekonzept allein unter spekulativen Gesichtspunkten, ließe sich das erscheinende Wissen als bloßes Derivat des absoluten Wissens auffassen. Eine solche Interpretation unternimmt Rolf-Peter Horstmann, der in der Phänomenologie die Rechtfertigung einer monistischen Metaphysik sieht, worin die Wirklichkeit als eine „einzige allumfassende sich entwickelnde vernünftige Entität“ aufgezeigt werde26. Diese Interpretation lässt allerdings offen, warum Hegel dazu den Umweg über die Paradoxien des natürlichen Bewusstseins wählt, mit dem der Vernunft ein Zerrspiegel nicht realer Wissensformen vor Augen gehalten wird. Gesteht man dem phänomenologischen Ansatz Hegels dagegen ein Eigengewicht zu, erweist sich das erscheinende Wissen als ein nicht zu eliminierender Zugang zur Wirklichkeit, mittels dem die Philosophie ihre eigenen kategorialen Bestimmungen und Zusammenhänge erschließt. 24  Schelling 1795 (1982), 94. 25  Diese Wendung findet sich bei Jürgen Habermas, der bezogen auf Hegels Phänomenologie von einer „systematischen Wiederholung der gattungsgeschichtlich konstitutiven Erfahrungen“ spricht. Habermas 1988a, 29. 26  Horstmann 2008, 65.

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Phänomenologische Erfahrung im Horizont des objektiven Geistes

Nachdem im vorigen Abschnitt allgemeine Eckpunkte von Hegels phänomenologischem Konzept herausgearbeitet wurden, geht es im Folgenden um die Wissensbildung im Bezugsrahmen des objektiven Geistes. Auf welche besonderen Erfahrungen greift Hegel hierbei zurück und in welcher Weise generiert er sie im Kontext der philosophischen Wissensbildung? Wenngleich er in der Phänomenologie noch nicht den Begriff des objektiven Geistes in Abgrenzung vom subjektiven und absoluten Geist gebraucht, findet sich diese Unterscheidung darin dennoch von der Sache her. So stellt er darin die „Gestalten einer Welt“ (Geistebene) den „Gestalten nur des Bewußtseyns“ (Bewusstseins-, Selbstbewusstseins- und Vernunftebene) gegenüber (siehe GW 9, 240), wovon er noch einmal die Gestalten der Religion (Kunstreligion) und Philosophie (Ebene des sich selbst wissenden Geistes) abhebt27. Insofern er bei den Weltgestalten auf Erscheinungen wie Sittlichkeit, Recht und Moralität eingeht, die er in seiner Enzyklopädie und Rechtsphilosophie später dem objektiven Geist zurechnet, wird im Folgenden speziell auf das Geist-Kapitel Bezug genommen28. Die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit wird darin anhand idealtypischer Weltgestalten reflektiert, denen jeweils spezifische Formen des erscheinenden Wissens eigen sind. Die Wissensbeziehung tritt auf dieser Reflexions- bzw. Vermittlungsebene als Verhältnis des Bewusstseins zu einer „gegenständlichen, seyenden Wirklichkeit“ auf (GW 9, 239). Gegenüber dem individuellen Erfahrungshorizont der vorhergehenden Gestalten steht bei den Weltgestalten die Perspektive kollektiver, geschichtlicher Erfahrungen im Vordergrund, bei der Ich und Wir aufeinander bezogen werden29. 27  Jürgen Habermas spricht bezogen auf Hegels Rekonstruktion der „gattungsgeschichtlich konstitutiven Erfahrungen“ von drei unterschiedlichen Durchläufen: „Die Phänomenologie des Geistes versucht diese Rekonstruktion in drei Durchläufen: im Durchgang durch den Sozialisationsvorgang des Einzelnen, durch die Universalgeschichte der Gattung und durch die in den Gestalten des absoluten Geistes, in Religion, Kunst und Wissenschaft sich reflektierende Gattungsgeschichte.“ Habermas 1988a, 29. 28  Nach Ludwig Siep behandelt Hegel im Geist-Kapitel der Phänomenologie alle drei Stufen der späteren Konzeption des objektiven Geistes, d.h. das abstrakte Recht, die Moralität und Sittlichkeit. Siep verweist zugleich auf die umgekehrte Reihenfolge, in der diese Stufen entwickelt werden, insofern sich Hegel in der Phänomenologie an historischen Epochen orientiert – allerdings „nicht einfach in historischer oder geschichtsphilosophischer Abfolge, sondern nach wie vor in einer Geschichte der Prüfungen von Wahrheits-, Gegenstands- und Wissenskonzeptionen.“ (Siep 2008b, 418) 29   Hegel bestimmt den Geist als Substanz, „welche in der vollkommenen Freyheit und Selbstständigkeit ihres Gegensatzes, nemlich verschiedener für sich seyender

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Mit der Höherstellung der Geistes- über die Bewusstseins-, Selbstbewusstseins- und Vernunftebene räumt Hegel dem Modus geschichtlich bestimmter und vergesellschafteter Individuen einen methodischen und reellen Vorrang ein30. Die einzelnen Weltgestalten zeichnen sich seiner Darstellung zufolge durch differente Vermittlungsniveaus zwischen Individuum (Einzelheit) und Gesellschaft (Allgemeinheit) aus. Bereits bei der ersten Gestalt, der antiken sittlichen Welt, stellt er in dieser Hinsicht neben Staatsmacht und Familie die Organisation des Gemeinwesens in die „Systeme der persönlichen Selbständigkeit und des Eigenthums, des persönlichen und dinglichen Rechts“ wie die Gliederung und Verselbständigung der „Weisen des Arbeitens für die zunächst einzelnen Zwecke, – des Erwerbs und Genusses“ heraus (GW 9, 246). An dieser Bezugnahme auf reelle gesellschaftliche Organisationsformen zeigt sich der Unterschied zur Transzendentalphilosophie auch auf praktischem Gebiet. So reflektiert Schelling in seinem System des transzendentalen Idealismus die Geschichte allein unter dem Aspekt eines zu erreichenden Ideals, das er als „allmähliches Realisieren der Rechtsverfassung“ bestimmt31. Dieses aus Vernunftgründen abgeleitete Ziel32 dient ihm zugleich als allgemeiner Maßstab für die historische Entwicklung der Menschheit33. Schellings transzendentale Philosophie der Geschichte verbleibt damit auf einer formal-normativen Ebene, bei der das äußere Objekt nicht als eine „Realität an sich“, sondern als „bloßes Medium des Erscheinens für den reinen Willen“ begriffen wird34. Im Unterschied zu Schelling, der die geschichtliche Welt im Modus eines Füruns-Seins reflektiert, begreift Hegel diese als eine dem menschlichen Willen gegebene, eigenständige Wirklichkeit. In den Mittelpunkt der Weltgestalten Selbstbewußtseyn, die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir das Ich ist.“ (GW 9, 108) Die Ich- und Wir-Perspektive werden im Geist-Kapitel nicht einfach miteinander identifiziert, sondern über zahlreiche Stufen vermittelt, wobei der Schwerpunkt auf dem Wir liegt. 30  „Der Geist ist hiemit das sich selbsttragende absolute reale Wesen. Alle bisherigen Gestalten des Bewußtseyns sind Abstractionen desselben; sie sind diß, daß er sich analysirt, seine Momente unterscheidet, und bey einzelnen verweilt. Diß Isoliren solcher Momente hat ihn selbst zur Voraussetzung und zum Bestehen, oder es existirt nur in ihm, der die Existenz ist.“ (GW 9, 239) 31  Schelling 1800 (2005), 291. 32  Schelling bezieht dieses Ziel aus der „transscendentalen Nothwendigkeit“, wonach den Vernunftwesen eine universelle rechtliche Verfassung aufgegeben sei. Es ist ihm zufolge nur durch eine Verbreitung allgemeiner verfassungsrechtlicher Grundsätze sowie eine Föderation aller Staaten denkbar. Schelling 1800 (2005), 285, 290. 33  Siehe Schelling 1800 (2005), 291. 34  Schelling 1800 (2005), 280.

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stellt er unter dieser Voraussetzung eigens die Diskrepanzen von subjektivem Willen und faktischer Welt. Die reellen geschichtlichen Vermittlungsprozesse bilden in seiner Genese des philosophischen Wissens allerdings nur den materialen Hintergrund; der eigentliche Bezugspunkt sind die idealtypischen Weltgestalten, bei denen die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit jeweils aus einer besonderen Bewusstseinsperspektive zur Geltung gelangt. Dazu greift Hegel auf reale geschichtliche Erscheinungsformen wie auf Sophokles’ Antigone-Tragödie, das im römischen Reich entstandene Recht, die Aufklärung, den christlichen Glauben, das unter der „absoluten Freiheit“ behandelte revolutionäre Bewusstsein von 1793 oder auch auf ethische Auffassungen zurück, die er Kant, Fichte, Jacobi, Novalis oder auch Friedrich Schlegel entlehnt35. Er schlägt im Geist-Kapitel damit einen Bogen von der frühgriechischen Welt bis zum nachrevolutionären Deutschland. Im Folgenden sollen drei relevante Erfahrungen herausgestellt werden, die Hegel in seiner Durchmessung des (objektiven) Geistes entwickelt. Eine erste grundlegende Erfahrung rekonstruiert er anhand der Gestalt der sittlichen Welt, die er in Idealisierung der griechischen Polis als eine unmittelbare Einheit von einzelnem und allgemeinem Willen kennzeichnet36. Eine solche Einheit sieht er sowohl im Staat als auch in der Familie realisiert (GW 9, 241 ff.). Beide Sphären bilden nach ihm in sich gegliederte Organisationsformen, denen jeweils ein besonderes sittliches Bewusstsein zukommt. Aufseiten des Staats manifestiert sich dieses nach ihm in geltenden Gesetzen und vorhandenen Sitten, im Handeln der Regierung wie in der Sittlichkeit der einzelnen Bürger (menschliches Gesetz); aufseiten der Familie dagegen im unhinterfragten Bewusstsein der Familieneinheit (göttliches Gesetz). Beide Vermittlungssphären werden Hegel zufolge durch gegensätzliche Zwecke geprägt – der positive Zweck im Staat ist die Erhaltung von Macht und Reichtum, in der Familie dagegen der Einzelne. Die sittliche Welt zeichne aus, dass Staatsmacht und Familie sich zunächst in einem ursprünglichen Gleichgewicht befinden, das durch die Tat eines Einzelnen aufgelöst werde37. Angelehnt 35  Zu den Quellen des Abschnittes zur Moralität in der Phänomenologie siehe Hirsch, „Die Beisetzung der Romantiker“. 36  „Das sittliche Reich ist auf diese Weise in seinem Bestehen eine unbefleckte durch keinen Zwiespalt verunreinigte Welt. Ebenso ist seine Bewegung ein ruhiges Werden der einen Macht desselben zur andern, so daß jede die andere selbst erhält und hervorbringt.“ (GW 9, 250) 37  Die „That aber ist das wirkliche Selbst. – Sie stört die ruhige Organisation und Bewegung der sittlichen Welt. Was in dieser als Ordnung und Uebereinstimmung ihrer beyden Wesen erscheint, deren eins das andere bewährt und vervollständigt, wird durch die That

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an den Antigone-Stoff, umschreibt er die Tat als Entschiedenheit des sittlichen Bewusstseins, jeweils eine Seite – das blutsverwandtschaftliche oder das politische Gesetz – zu einem An-sich-Sein zu erheben, wodurch es in der Folge zu einer Entzweiung in der sittlichen Welt komme. Der Einzelne, indem er seinen zum An-sich-Sein erhobenen, partikularen Zweck verfolgt, wird nach Hegel im Selbstverständnis der sittlichen Welt schuldig38. Wenngleich durch eine Anerkennung der Schuld zur sittlichen Gesinnung zurückgekehrt werde – „weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt“, wie Hegel Sophokles zitiert (GW 9, 256) –, komme es in der Folge zum Untergang beider Seiten. „Die Bewegung der sittlichen Mächte gegeneinander und der sie in Leben und Handlung setzenden Individualitäten hat nur darin ihr wahres Ende erreicht, daß beyde Seiten denselben Untergang erfahren.“ (GW 9, 256) Im Geist-Kapitel geht daraus die Gestalt des – an das römische Reich angelehnten – Rechtszustandes hervor, den Hegel als eine „Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten“ charakterisiert (GW 9, 260). Er umschreibt diesen Zustand als eine sich in die „Atome der absolut vielen Individuen“ auflösende Wirklichkeit, mit der das „Chaos der geistigen Mächte“ entfesselt werde (GW 9, 260, 263). Die Tat des sittlichen Individuums führt damit zu Resultaten, die nicht beabsichtigt waren; der Rechtszustand wie die juristische Person gehen Hegels Darstellung zufolge eigens um den Preis einer Auflösung der sittlichen Einheit hervor39. Die zweite, hier zu skizzierende Erfahrung bezieht Hegel aus der Gestalt der „absoluten Freiheit“, der letzten Gestalt des sich „entfremdeten Geistes“. Im Rückgriff auf die geschichtlichen Ereignisse der Französischen Revolution kennzeichnet er diese Gestalt als allgemeinen Willen, der nicht leerer Gedanke stillschweigender oder repräsentierter Einwilligung, sondern „reell allgemeiner Wille“ oder auch „Wille aller einzelner als solcher“ sei (GW 9, 317). Er gründet nach ihm auf einem utilitaristischen Wissens- und Weltbezug, welcher dem Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben entsprungen sei. Für diesen Bezug sei auszeichnend, dass das An-sich-Sein und das Sein-für-Anderes des Gegenstandes identisch gesetzt werden – die Welt ist dem Selbst schlechthin zu einem Uebergange entgegengesetzter, worin sich vielmehr als die Nichtigkeit seiner selbst und des andern beweißt, denn als die Bewährung“ (GW 9, 251). 38  Das sittliche Bewusstsein „gibt durch die That die Bestimmtheit der Sittlichkeit auf, die einfache Gewißheit der unmittelbaren Wahrheit zu seyn, und setzt die Trennung seiner selbst, in sich als das Thätige und in die gegenüberstehende, für es negative Wirklichkeit. Es wird also durch die That zur Schuld.“ (GW 9, 254) 39  „Die in der sittlichen Welt nicht vorhandne Wirklichkeit des Selbsts ist durch ihr Zurückgehen in die Person gewonnen worden, was in jener einig war, tritt nun entwickelt aber sich entfremdet auf.“ (GW 9, 264)

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sein Wille, wie Hegel in offensichtlicher Anspielung auf die Transzendentalphilosophie bemerkt40. Eine Verkehrung setzt ihm zufolge ein, wenn der allgemeine Wille zur Tat werde, insofern er in seiner Realisierung immer ein bestimmter Wille sei. Als Wille der siegenden Faktion erweise sich dieser als ein partikularer, Andere ausschließender Wille, der auf eine „sich selbst zerstörende Wirklichkeit“ hinauslaufe (GW 9, 323). Das „Wissen von sich als absolut reinem und freyem einzelnem Selbst“ schlage hier in den „Schrecken des Todes“ um (GW 9, 320 f.), welchen Hegel als Verkehrung vor dem Hintergrund des Terrors von 1793 zeichnet. Ebenfalls bei dieser Gestalt unterscheiden sich die Resultate des Handelns vom ursprünglichen Handlungszweck, wobei der „sich entfremdete Geist“ hier auf die „Spitze seines Gegensatzes“ getrieben werde (GW 9, 323). Eine dritte, grundlegende Erfahrung entwickelt Hegel anhand des Gewissens, mit dem er die Reihe der Weltgestalten abschließt. Als Gegenspieler zur rationalen Pflichtmoral repräsentiert diese Gestalt den konkreten moralischen Geist – das Gewissen „ist einfaches pflichtmässiges Handeln, das nicht diese oder jene Pflicht erfüllt, sondern das concrete Rechte weiß und thut“ (GW 9, 343). Die eigene Überzeugung fällt hier mit dem Allgemeinen, das Für-sichSein mit dem An-sich-Sein zusammen (GW 9, 342, 344). Hegel beschreibt eine solche internalistische Einstellung auch als „Majestät der absoluten Autarkie, zu binden und zu lösen“ (GW 9, 349). In Generalisierung der inneren Überzeugung zu einem An-sich-Sein besitzt auch das Gewissen einen aporetischen Gehalt, der im Handeln zutage trete. In Absehung von allen äußeren Umständen bestimme sich das Individuum hier allein „aus sich selbst“ (GW 9, 347), was sich mit jedem Inhalt vertragen würde. Das Handeln gründet nach Hegel damit auf der „Willkühr des Einzelnen“ und „Zufälligkeit seines bewußten natürlichen Seyns“ (GW 9, 347). Eine Ungleichheit zwischen Allgemeinheit und Einzelheit zeigt sich für ihn gleichfalls im Hinblick auf das Sein-für-Andere. Insofern das Individuum in seinen inneren Bestimmungsgründen verborgen bleibe, können die Anderen ihm auch böse, eigennützige Absichten unterstellen. Das aus Gewissen handelnde Individuum wird seiner Darstellung zufolge der Heuchelei überführt, wohingegen das – die Perspektive der Anderen zum Ausdruck bringende – urteilende Individuum zu einem „Kammerdiener der Moralität“ werde (GW 9, 359). Während das Gewissen nach Hegel ins Böse umschlägt, erweise sich das beurteilende Individuum als „hartes Herz“, das die „Continuität mit dem andern“ gleichfalls verwerfe (GW 9, 359). Bei beiden Gegenspielern verkehrt sich die moralische in eine amoralische Einstellung, bei 40  Siehe GW 9, 317. „Von dem an und fürsichseyn des Nützlichen als Gegenstandes erkennt nemlich das Bewußtseyn, daß sein Ansichseyn wesentlich Seyn für anderes ist“ (GW 9, 316).

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der die Dimension des Anderen ausgeschlossen wird. Erst durch das Eingeständnis der Schuld und die Verzeihung komme es zu einer Versöhnung, bei der die Kontinuität mit dem Anderen wiederhergestellt werde (siehe GW 9, 361 f.). Ungeachtet einer solchen partialen Versöhnung verbleibt das moralische Individuum nach Hegel im Modus eines abgesonderten Für-sich-Seins (siehe GW 9, 362)41. An seiner Zeichnung des Gewissens als repräsentativer Gestalt der modernen Welt wird deutlich, dass eine übergreifende Versöhnung und Einheit im Bezugsrahmen des objektiven Geistes für ihn nicht mehr möglich ist. Bezeichnend verweist er am Ende des Geist-Kapitels auf die Gestalt des erscheinenden Gottes, worin er eine höhere Form der Versöhnung erkennt (siehe GW 9, 362). Das philosophische Wissen wird im Geist-Kapitel auf diese Weise anhand spezifischer Diskrepanzerfahrungen entwickelt. Die sich im Entstehungsprozess der modernen Gesellschaft herausbildenden Formen des Selbst – die (juristische) Person, der (politische) allgemeine Wille und das (moralische) Gewissen (siehe GW 9, 341) – unterliegen jeweils spezifischen Umkehrungen. Wiederkehrendes Grundmuster ist dabei die Überhebung eines besonderen Selbst- und Weltbezuges zu einem An-sich-Sein. Eine solche Überhebung ist keine bloße intellektuelle Fehlleistung; Hegel stellt sie vielmehr in den Kontext gegensätzlicher Vermittlungsprozesse, bei denen einzelne soziokulturelle Sphären das Supremat über die anderen erlangen. Die zunächst auftretende Identifizierung des Für-sich-Seins bzw. auch Seins-für-Andere mit dem Ansich-Sein impliziert nach Hegel, dass die Individuen mit einem inadäquaten Bewusstsein handeln bzw. die Resultate ihres Handelns nicht vorhersehen können. Zur Problematik der nicht intendierten Folgen bemerkt er im Vernunft-Kapitel exemplarisch: „Das Bewußtseyn ist sich daher durch seine Erfahrung, worin ihm seine Wahrheit werden sollte, vielmehr ein Rätsel geworden, die Folgen seiner Thaten sind ihm nicht seine Thaten selbst; was ihm wiederfährt, für es nicht die Erfahrung dessen, was es an sich ist“ (GW 9, 201). Für die phänomenologische Wissensbildung ist eigens der Prozess des Aufbrechens der unterstellten Identitäten relevant, d.h. wenn der eigentümliche Zwischenstatus eines „für es seyn dieses an sich“ zutage tritt (GW 9, 60). Dazu kommt es nach Hegel durch den Widerstand der gegenständlichen und sozialen Wirklichkeit bzw. durch eine Konfrontation mit der Perspektive der Anderen. Sich in ihr Gegenteil verkehrend, führen die Weltgestalten jeweils zu komplexeren Wissen- bzw. Vermittlungsformen. Die aufgezeigten Diskrepanzen zwischen 41  Das in Hegels späterer Rechtsphilosophie zur Geltung gebrachte „Recht der Besonderheit“ des Subjekts spielt in der Phänomenologie demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Siehe dazu Rózsa 2007.

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Selbst und Welt sowie Ich und Wir lassen die Relationalität des erscheinenden Wissens und der darin reflektierten Wirklichkeit zutage treten, wodurch die Philosophie Einblick in deren Struktur und Entwicklung erhält. Die Philosophie gelangt bei Hegel nur über die „absolute und allgemeine Verkehrung und Entfremdung der Wirklichkeit und des Gedankens“ (GW 9, 282) zu einem wahren Wissen, hinter welcher Einsicht offensichtlich nicht nur theoretische Intentionen, sondern ebenso Desillusionierungserfahrungen über die Resultate der Französischen Revolution stehen. Die phänomenologische Erschließung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit bildet in seiner ersten Systemschrift ein unaufhebbares Glied in der Konstitution des philosophischen Wissens, die damit allerdings nicht abgeschlossen ist42. In diesen Prozess fließen vielmehr noch relevante ästhetische und religiöse Erfahrungen ein, wobei sich Hegel insbesondere auf die antike griechische Kunst und die christliche Religion bezieht.

Philosophie als Synthese des erscheinenden Wissens und zugleich absolutes Wissen – zur Relevanz von Hegels phänomenologischem Ansatz heute

Die philosophische Wissensbildung endet erst mit der Selbstthematisierung der Philosophie, die in der Phänomenologie mit der Wissenschaft gleichgesetzt wird. Bei dieser Gestalt rekapituliert Hegel, nunmehr im Modus des Für-unsSeins, noch einmal die vorgängigen Wissensetappen, wobei nach der inhaltlichen Seite kein neues Wissen hinzukommt. Die Philosophie stellt insofern kein exklusives Welt- und Selbstwissen dar; ihre Spezifik besteht vielmehr in der Relativierung und Zusammenführung der heterogenen Wissens- und entsprechenden Gegenstandsformen. Bezeichnend spricht Hegel im letzten Kapitel davon, „daß nichts gewußt wird, was nicht in der Erfahrung ist, oder wie dasselbe auch ausgedrückt wird, was nicht als gefühlte Wahrheit, als innerlich geoffenbartes Ewiges, als geglaubtes Heiliges, oder welche Ausdrücke sonst gebraucht werden, – vorhanden ist. Denn die Erfahrung ist ebendiß, daß der Inhalt – und er ist der Geist – an sich, Substanz und also Gegenstand 42  Eine ähnliche Auffassung bezogen auf Hegels Phänomenologie vertritt auch Erzsébet Rózsa: „Der Anspruch auf Begrifflichkeit von Vernunft, Geist, Sittlichkeit kann 1806 vom Anspruch auf die Problematisierung der praktischen Vernunft und der dazugehörenden phänomenologischen Darstellung nicht getrennt werden.“ Rózsa spricht in dieser Hinsicht von einer „internen Verbindung zwischen der Strukturebene der Begrifflichkeit und der phänomenologischen Darstellung“. Rózsa, „Hegels-Antigone-Deutung“, 461.

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des Bewußtseyns ist.“ (GW 9, 429) Als Konzentrat aller individuellen und kollektiven geschichtlichen Erfahrungen stellt Hegel im letzten Kapitel die Bewegung der Bestimmung, gegenständlichen Setzung oder auch Entäußerung sowie der Zurücknahme bzw. Aufhebung der Entäußerung heraus, wodurch das Bewusstsein am Ende in seinem Anderssein bei sich selbst ankomme (GW 9, 422)43. Darin lässt sich der von der Transzendentalphilosophie herausgestellte Gedanke eines „sich-selbst-Objektwerdens des Subjektiven“44 erkennen, den Hegel nunmehr auf den Bildungsprozess des natürlichen Bewusstseins, der geschichtlich-soziokulturellen Welt wie der Philosophie selbst bezieht. Einheitliches Strukturprinzip dieser Bildungsprozesse ist ihm zufolge die Logik der Vergegenständlichung oder Selbst-Negation, die ein Sich-AndersWerden und zugleich Zu-sich-Kommen im Anderssein einschließe (siehe GW 9, 18). Damit öffnet er die Metaphysik einerseits für die kollektiven Erfahrungs- und Vermittlungsprozesse geschichtlich agierender Individuen, wie er diese Prozesse unter der Annahme einer identischen Geistsubstanz andererseits als Realisierung und Selbsterkenntnis eines übergreifenden, logischen Subjektprinzips begreift45. Die zweite Auffassung führt in der Phänomenologie dazu, dass die endlichen Erfahrungen des Bewusstseins am Ende in ein außerzeitliches logisches Wissen transferiert werden. Der Philosophie gelingt nach Hegel damit eine Transformation, welche keine andere soziokulturelle Sphäre leistet: Sie eröffnet dem erkennenden Individuum einen außerzeitlichen Raum logischer Vermittlungen, in dem es seine Beschränktheit und Endlichkeit überschreitet46. Insofern in der Philosophie „die Fremdartigkeit der Gegenstände und damit die Endlichkeit des Bewußtseyns“ wie auch die „Zufälligkeit, Naturnothwendigkeit, und das Verhältniß zur Aeusserlichkeit überhaupt, hiemit 43  In der „Vorrede“ der Phänomenologie umschreibt er diesen Prozess zusammenfassend als „Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst“, worin die Wahrheit ausgesprochen sei, dass die Substanz zugleich Subjekt ist (GW 9, 18). 44  „Die Natur der transscendentalen Betrachtungsart muss also überhaupt darin bestehen, dass in ihr, auch das, was in allem andern Denken, Wissen oder Handeln das Bewusstseyn flieht, und absolut nicht-objectiv ist, zum Bewusstseyn gebracht, und objectiv wird, kurz, in einem beständigen sich-selbst-Object-werden des Subjectiven.“ Schelling 1800 (2005) 413. 45  „Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbst gibt, und dadurch seinen Begriff ebenso realisirt als er in dieser Realisirung in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen; es ist der sich in Geistsgestalt wissende Geist oder das begreiffende Wissen.“ (GW 9, 427) 46  Hegel spricht in diesem Zusammenhang bezeichnend von einer „Ueberwindung des Gegenstandes des Bewußtseyns“ (GW 9, 422).

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Abhängigkeit, Sehnsucht und Furcht“ verschwinden, wie Hegel in seiner Heidelberger Enzyklopädie festhält, erweise sich diese als eine Wissenschaft der Freiheit (GW 13, 18). Die Philosophie fungiert bei ihm als Freiheit verbürgende Instanz, mit der das in den geschichtlichen Bildungsprozessen erfahrene Widerständige, Abgründige, Nichtidentische oder auch Asoziale getilgt ist. Angesichts der erfahrenen Umbrüche und Katastrophen im 20. und 21. Jahrhundert besitzt diese Denkfigur nach wie vor Anziehungskraft; allerdings ist sie nur um den Preis einer Logifizierung und Idealisierung der geschichtlichen Erfahrungswelt zu erhalten. Wendet man Hegels phänomenologischen Ansatz auf die letzte Gestalt der Wissenschaft selbst an, ließe sich diese als Erhebung eines Für-es-Seins – der Welt, wie sie dem philosophisch-rationalen Bewusstsein erscheint – zu einem An-sich-Sein deuten, bei der das Für-es-Sein dieses Ansich verkannt wird (siehe GW 9, 60). Denkt man seinen phänomenologischen Ansatz dagegen ohne die identitätsphilosophischen Prämissen weiter, lassen sich darin Theorieelemente aufzeigen, die noch heute anschlussfähig sind. Im Hinblick auf das hier interessierende Verhältnis von absolutem und objektivem Geist sollen abschließend drei Theorieelemente benannt werden, denen der Verfasserin zufolge noch Relevanz zuzuschreiben ist. Ein erstes Theorieelement wird in Hegels phänomenologischem Erfahrungsbegriff gesehen. Er öffnet die Philosophie für Erfahrungen, die anhand außerphilosophischer, d. h. alltagspraktischer, moralischer, politischer, wirtschaftlicher, religiöser u.a. Selbst- und Weltbezüge gewonnen werden, bei denen die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit nicht primär Gegenstand eines rationalen Ganzheitswissens ist. Legt man hierbei nicht wie Hegel identitätsphilosophische Prämissen zugrunde, werden vermittels der resorbierten heterogenen Erfahrungen die unterschiedlichen Verhaltensweisen wie die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit in einer Weise zur Geltung gebracht, die sich nicht auf eine rational-argumentative Praxis bzw. begriffliche Inhalte reduzieren lassen. Eine vergleichbare Öffnung der Philosophie für heterogene Erfahrungsebenen hat später u. a. der Pragmatist Dewey unternommen, der den nicht-reflexiven Erfahrungen gegenüber der philosophischen Reflexion einen primären Charakter zuerkennt47. Die Relevanz pluraler Erfahrungsperspektiven zeigt sich insbesondere bei existenziellen Ereignissen 47  Siehe Dewey 1916–1917 (1980), 322–324. Im Zuge einer Neubesinnung auf Hegel, wie sie in neuerer Zeit innerhalb der analytischen Philosophie erfolgt ist, wird demgegenüber an die identitätsphilosophischen Prämissen in einem positiven Sinne angeschlossen. So geht John McDowell in „Mind and World“ von der Grundannahme aus, dass sich die Realität nicht außerhalb einer Grenze befindet, die das Begriffliche umgibt. Von

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wie Kriegen, Hungerkatastrophen, Wirtschaftskrisen oder auch gegenwärtigen Wanderbewegungen, bei denen die alltagspraktischen, moralischen, ästhetischen usw. Erfahrungen die rational-argumentative Perspektive augenscheinlich überschreiten. Erst alle Erfahrungsperspektiven zusammengenommen machen Hegels phänomenologischem Ansatz zufolge die Wirklichkeit in ihrem An-und-für-sich-Sein zugänglich. Ohne die spekulative Fundierung läuft sein phänomenologischer Erfahrungsbegriff allerdings nicht notwendig auf ein Einheitswissen zu, vermittels dem im Anderssein bei sich selbst angekommen wird. Auf seiner Grundlage werden die im reellen Leben erfahrenen Diskrepanzen zwischen subjektiven Ansprüchen, Wünschen und objektiven Gegebenheiten in ihrer ganzen Tragweite überhaupt erst ins Bewusstsein geholt. Indem die Philosophie auf diese Weise den Blick für die krisenanfällige Moderne schärft und zugleich reelle Abhängigkeiten und Grenzen bewusst macht, impliziert sie weniger eine Identifizierung mit der faktischen Welt als deren Kritik bzw. die Antizipation einer möglichen besseren Welt. Eine solche Konsequenz hat Hegel selbst erwogen, wenn er in der Philosophie nicht nur eine zurückblickende „Versöhnung des Verderbens“, sondern ebenfalls die „innere Geburtsstätte“ einer kommenden Entwicklung gesehen hat (siehe Werke 18, 71 und 75). Ein zweites Theorieelement wird in dem in der Phänomenologie zugrunde gelegten Gegenstandsbegriff gesehen; der Gegenstand wird nicht als bloßes Bewusstseinskorrelat, sondern ebenfalls in seinem An-sich-Sein reflektiert. Unter dieser Voraussetzung wird die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit als eine seiende und zugleich prozessuale Entität erschlossen, die wiederum als Resultat gegenständlicher und sozialer Vermittlungsprozesse aufgefasst wird. Bereits in seiner Differenzschrift hat Hegel der Philosophie in dieser Hinsicht die Aufgabe zugesprochen, „die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben, und das Gewordenseyn der intellektuellen und reellen Welt, als ein Werden, ihr Seyn als Produkte, als ein Produciren zu begreiffen.“ (GW 4, 14) Auf eine solche Entgegensetzung stößt man ebenfalls in der Philosophie der Gegenwart, wo objektivistische Ansätze (Szientismus, Naturalismus) subjektivistischen bzw. intersubjektivistischen Ansätzen gegenüberstehen, in denen die Natur und geschichtliche Welt ausgeklammert werden. Die hegelsche Philosophie schlägt eine alternative Richtung ein, indem sie subjektive und objektive Gehalte miteinander verschränkt. Dieser Ansatz impliziert, dass Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Sittlichkeit im Horizont geschichtlich-gegenständlicher Vermittlungsprozesse gedacht diesem Standpunkt nähert er sich in seinem Buch dem hegelschen Idealismus an. Siehe McDowell 1994, 44.

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werden, womit diese Werte weder negiert noch allein auf einer normativen Bezugsebene reflektiert werden48. Normativität und Faktizität werden auf Basis von Hegels phänomenologischem Gegenstandskonzept als zwei differente Aspekte geschichtlicher Sozialisierungs- und Vergegenständlichungsprozesse gedacht und entsprechend aufeinander bezogen. Gegenüber Kant verschiebt Hegel den Schwerpunkt damit von der Rechtfertigungsfrage zum Problem der Genese der geistig-gegenständlichen Wirklichkeit. Die phänomenologische Philosophie wird diesem Problem nach ihm nur gerecht, wenn sie die geschichtlich bestimmten Gegenstandsbildungen in ihrer Besonderheit sowie zugleich in ihrem Zusammenhang reflektiert. Die moderne Gesellschaft wird in der Phänomenologie in dieser Ausrichtung als ein widersprüchliches Ganzes rekonstruiert, in dem einzelne Wissens- und Wirklichkeitssphären zeitweise eine Übermachtstellung erlangen und erst als Gegenstand der philosophischen Reflexion zu einer erneuten kulturellen Synthese gelangen. Der Schlüssel zur Freiheitsfrage liegt für Hegel entsprechend in einer institutionell sich verkörpernden Intellektualität, in der die geschichtlich relevanten Erfahrungen integriert sind. Auch dieser Aspekt ist heute bedenkenswert, wenngleich sein identitätsphilosophischer Begründungsrahmen nicht mehr tragfähig ist49. Ohne letzteren erweist sich die geschichtlich-soziokulturelle Wirklichkeit ebenso als eine Erscheinung nicht-geistiger, natürlicher Prozesse, womit sie gegenüber Hegels teleologischem Geschichtsmodell als ein natürliche Bestimmungen aufnehmendes, offenes Vermittlungsgeschehen aufzufassen ist. Dieser modifizierte Ansatz lässt die philosophische Wissensbildung inhaltlich und methodisch nicht unberührt. Die geschichtliche Welt erweist sich unter dieser Voraussetzung nicht als Objektion eines monologischen Subjekts, sondern als eine Realisierungssphäre kooperierender, leiblicher Individuen, welcher Aspekt auf Grundlage der von Hegel fundamental gesetzten SubjektObjekt-Dialektik keine angemessene Darstellung findet. Denkt man seinen phänomenologischen Ansatz in dieser Hinsicht weiter, ist sowohl nach der 48  In Kritik einer von der Gesellschaftsanalyse abgekoppelten, politischen Philosophie bezieht sich auf diesen Aspekt auch Axel Honneth, der sich auf Hegels Absicht beruft, „eine Theorie der Gerechtigkeit aus den Strukturvoraussetzungen der gegenwärtigen Gesellschaft selbst zu entwerfen.“ Honneth, 2013, 17. 49  Hans-Peter Krüger bemerkt in diesem Kontext: „Was Hegel in den Formen des absoluten Geistes an einer Epistemologie selbstbezüglicher Wissensformen entworfen hat, stellt ein Entwicklungspotenzial dar, das für die nachindustriellen Wissenschafts- und Kommunikationsgesellschaften noch nicht ernsthaft bedacht ist.“ Für Krüger ist es mit Hegel sinnvoll zu fragen, „welche generationenübergreifende Institutionalisierung von Geistformen der Ökonomie und Politik neue Existenzpotentiale verschaffen kann.“ Krüger 2014, 21.

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Wissens- als auch Gegenstandsseite von einem breiteren Spektrum an intersubjektiven Relationen auszugehen, wozu neben der von Hegel favorisierten Ich-Wir-Relation auch Relationen von Ich und Du, Ich und Er/Sie/Es oder auch Wir und Ihr zu zählen sind50. Ein drittes, hier zu nennendes Theorieelement bildet der in der Phänomenologie zugrunde gelegte Kritikbegriff. Hegel entwickelt die Philosophie in seiner Schrift als eine Destruktion und zugleich Relativierung des erscheinenden Wissens und seiner Inhalte, womit er ihr eine unaufhebbare Kritikfunktion zuerkennt. Die dem natürlichen Bewusstsein zugeschriebene Überhebung des Für-es-Seins zu einem An-sich-Sein ist seiner Darstellung zufolge ein Mechanismus, der sein Pendant in der Generalisierung einzelner soziokultureller Teilprozesse hat. Seine phänomenologische Wissenskritik fungiert damit zugleich als eine indirekte Gesellschaftskritik. Die Philosophie kann sich solchen Verdinglichungsprozessen nach ihm nur entziehen, indem sie die verschiedenen Partikularperspektiven durchsichtig macht und aufeinander bezieht. Verabschiedet man sich von seiner Absolutsetzung der Wissenschaft und deren Stilisierung zum Selbstwissen des Geistes, erweist sich ebenfalls die Philosophie als eine geschichtlich gebundene Wissensform, welche die natürliche und soziokulturelle Welt nur aus einer bestimmten Perspektive zur Geltung bringt. Entgegen Hegels eigener Intention lässt sich seinem phänomenologischen Kritikbegriff der Aspekt einer Selbstbegrenzung der Philosophie entnehmen, der sich gegen eine Generalisierung des philosophischen Wissens zur Wissensform schlechthin wie gegen eine Absolutsetzung einzelner Prinzipien richtet51. Eine solche kritische Einstellung ist heute umso mehr gefragt, als sich die gegenwärtige Philosophie zwischen den Polen einer objektivistischen Auffassung der Realität sowie einer Kontingenz-Perspektive bewegt52, womit 50  Einen solchen Weg hat im Anschluss an Hegel Ludwig Feuerbach eingeschlagen, der den Schwerpunkt von der im deutschen Idealismus fundamental gesetzten SubjektObjekt-Relation zur Subjekt-Subjekt-Relation verlagert hat, die er als Elementarform der menschlichen Gattungsgeschichte begriffen hat. Siehe dazu Löwith 1962, bes. 10 ff. und Weckwerth 2002, 88 ff. 51  In seinem Aufsatz „Nach dem absoluten Wissen“ beleuchtet Vittorio Hösle in aufschließender Weise Bewusstseinsformen der nachhegelschen Philosophie, die ungeachtet ihrer Abkehr von der Idee des absoluten Wissens dennoch „Erben des absoluten Wissens“ seien, indem sie einen Totalitätsanspruch ihrer zugrunde gelegten Prinzipien vertreten. Siehe Hösle 2008, 627 ff. 52  Zur ersten Perspektive siehe stellvertretend Bernard Williams’ Auffassung von der „absoluten Konzeption der Realität“, die nach ihm unabhängig von unserem Denken ist. Williams 1978, 65–67, 211 f. und 300–303. Zur zweiten Perspektive siehe etwa den von Richard Rorty in seinem Buch Philosophy and the Mirror of Nature vertretenen Standpunkt.

Zwischen Scheinkritik und Absolutheitsanspruch

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sie unter den Bedingungen der Globalisierung offenbar ein Abbild für verselbstständigte soziokulturelle Teilprozesse ist. Die aus der Phänomenologie bezogenen Theorieelemente kann man als ein Korrektiv gegen die Gene­ralisierung einzelner ideeller und reeller Wirklichkeiten ansehen, wie sie in der gegenwärtigen Philosophie zu finden ist. Die heute eher befremdlich anmutende Frage nach dem absoluten und objektiven Geist, so lässt sich abschließend festhalten, eröffnet bei Hegel einen Problemgehalt, an den man anschließen kann, ohne in die Sackgasse einer spekulativen Metaphysik zu geraten.

Teil 2 Objektiver und absoluter Geist – vom objektiven Geist aus



Handlungen und Tätigkeiten in Hegels Philosophie des objektiven und des absoluten Geistes Francesca Menegoni 1

Handlungen und Tätigkeiten

Einer der Aspekte, die es ermöglichen, die zwischen der Philosophie des objektiven Geistes und der Philosophie des absoluten Geistes bestehende Kontinuität und Entfernung zugleich hervorzuheben, betrifft die in der erstgenannten untersuchten individuellen Handlungen im Vergleich zu den Erzeugnissen oder – allgemein – Tätigkeiten, in denen sich das Leben des absoluten Geistes entfaltet. Im Bereich der Philosophie des objektiven Geistes analysiert die Moralität die mit der absichtlichen Handlung und ihren rechtlichen wie auch moralischen Implikationen verbundenen Probleme, während der der Sittlichkeit gewidmete Teil die Anerkennung des gesellschaftlichen und politischen Wertes der Handlungen in den Vordergrund stellt: Hierbei gewinnen die Handlungen ein objektives Gewicht in Bezug auf die institutionellen Rollen von Mitgliedern einer Familie, einer Klasse, eines rechtlich-politischen Organs. Die Philosophie des absoluten Geistes analysiert hingegen die Erzeugnisse des absoluten Geistes, der seine Äußerungen in der Kunst, in der Religion und in der Philosophie hat. Besteht zwischen den im objektiven Geist analysierten individuellen Handlungen und den im absoluten Geist thematisierten Tätigkeiten eine Verbindung? Die Antwort kann nur positiv ausfallen, da auch das künstlerische Schaffen, die Andachtsübungen und die Praxis des philosophischen Denkens von einzelnen Individuen absichtlich und freiwillig ausgeführte Handlungen sind. Was haben also diese Tätigkeiten Besonderes im Vergleich zu den im objektiven Geist untersuchten Handlungen – und vor allem: was rechtfertigt ihre Zugehörigkeit zum absoluten Geist? Während die Frage nach dem individuellen Handeln in der aktuellen Debatte recht präsent ist, fehlt eine Reflexion über die möglichen Verbindungen zwischen den Tätigkeiten des objektiven Geistes und jenen des absoluten Geistes hingegen völlig. Dieses Fehlen stellt wahrscheinlich nur einen besonderen Aspekt des allgemeinen Mangels an Aufmerksamkeit gegenüber der Gesamtform des hegelschen Systems dar, einem System, das von zahlreichen Interpreten

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_007

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als veraltet, nicht (mehr) vertretbar und undurchführbar betrachtet wird1. Von den verschiedenen Ursachen für diese Unaufmerksamkeit können einige sicherlich Hegel selbst – näherhin seiner radikalen Gegenüberstellung der Endlichkeit, die allen Offenbarungen des subjektiven und objektiven Geistes eigen ist, und den nicht endlichen und nicht relativen Äußerungen des absoluten Geistes – zugeschrieben werden (Enz. § 386). Die These, die ich in diesem Beitrag vorschlagen und erörtern möchte, ist, dass auch die radikalsten Gegenüberstellungen, wie die von einem endlichen, objektiven Geist und einem absoluten Geist, unterschiedliche Bedeutungen annehmen je nach dem Blickwinkel, aus dem man sie betrachtet. Insbesondere werde ich untersuchen, ob es eine Möglichkeit gibt, Verbindungen zwischen den verschiedenen Formen der im Bereich des objektiven Geistes und der in dem des absoluten Geistes beschriebenen Tätigkeiten zu erkennen. Dabei gehe ich davon aus, dass die ebenso berühmten wie unklaren beschließenden Worte der Enzyklopädie, die die Philosophie als Tätigkeit darstellen, die „sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt“ (Enz. § 577), es immer noch wert sind, hinterfragt zu werden. Es ist nämlich nicht zu übersehen, dass Hegel bei der Präsentation der Idee der Philosophie am Abschluss des enzyklopädischen Wegs Ausdrücke benutzt, die dem Wortfeld des absichtlichen Handelns angehören (‚betätigen‘, ‚erzeugen‘ und ‚genießen‘). Es kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass die Philosophie eine von Einzelnen absichtlich ausgeführte Tätigkeit ist, ebenso wie die künstlerischen Erzeugnisse und die religiösen Handlungen. Alle diese Handlungen, welche zusammen mit der philosophischen Wissenschaft zu den Tätigkeiten des absoluten Geistes gehören, sind bewusst, absichtlich und frei. Ich werde also zunächst die Merkmale des individuellen und kollektiven absichtlichen Handelns darstellen, welche Gegenstand des objektiven Geistes sind, und anschließend die im Bereich des absoluten Geistes behandelten Tätigkeiten untersuchen, um die Elemente, die ihre Zuschreibung zu unterschiedlichen Begriffswelten rechtfertigen, wie auch jene, die ihre Zugehörigkeit zum gemeinsamen Universum des ‚Tuns‘ begründen, herauszuarbeiten. 2

Die absichtliche Handlung

2.1 In dem Abschnitt des objektiven Geistes, der sowohl in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) als auch in den Grundlinien 1  Vgl. Horstmann 1999.

Handlungen und Tätigkeiten in Hegels Philosophie

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der Philosophie des Rechts der Moralität gewidmet ist, legt Hegel weder seine Auffassung von Moral dar noch beschränkt er sich darauf, die moralischen Philosophien seiner Zeit zu kritisieren, sondern richtet die Aufmerksamkeit auf das handelnde Subjekt, auf die Gründe, die es zum Handeln bewegen, und auf die Folgen seiner Handlungen. In diese Untersuchung schließt er eine Gesamtbetrachtung der moralischen und der unmoralischen Handlungen ein und ordnet sie nach Beweggründen und Zwecken. Der Zweck kann sowohl ein materielles Gut als auch das moralisch Gute oder Böse sein. Die hier auf den Plan gerufene Bezeichnung ‚moralisch‘ definiert nämlich, wie von der kantischen und nachkantischen Moralphilosophie behauptet, die Seite des inneren Willens, der Vorsatz und Absicht einschließt, und die Seite der beabsichtigten Objekte auf einer materiellen Ebene (das Wohl) wie auf einer eigentlich moralischen Ebene, d.h. das Gute und das Böse2. Die Handlung verleiht den inneren Bestimmungen nämlich eine äußere Realität oder erkennt in dem, was wirklich ist und existiert, das Ergebnis der Veräußerlichung des Willens, und ist somit der konkrete Ausdruck der Einheit von Innerem und Äußerem. In diesem Teil des objektiven Geistes stellt Hegel in knappen Zügen eine Handlungstheorie dar, in der er die sowohl mit der Begründung der Handlung und ihren Implikationen als auch mit der Verantwortung des Handelnden und den verschiedenen Ebenen der Zurechenbarkeit der Tat verbundenen Probleme darstellt und erörtert. In Hegels Auffassung ist ‚Handlung‘ nur jenes Handeln, das das Subjekt gewusst und gewollt hat und für das es die Verantwortung übernimmt (Enz.  § 503). Die ‚Handlung‘ ist demzufolge jener Teil der Tat, der im Entschlusse liegt oder im Bewusstsein war, das, was der Wille als das Eigene anerkennt und das auf das Niveau seines Wissens beschränkt zugeschrieben werden kann, das heißt beschränkt auf das Niveau des das Vorsätzliche und das Absichtliche besitzenden Bewusstseins. Die typische Eigenschaft der Handlung besteht also aus Elementen wie dem Bewusstsein seiner Selbst, des eigenen Seins und des eigenen Wollens sowie der Selbstbestimmung, die sich durch die individuelle Entscheidung ausdrückt. Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung sind für Hegel – wie auch für Kant – nichts anderes als konstitutive Arten der Freiheit, die die Grundlage für das Recht im weitesten Sinne bildet, das heißt der gesamte objektive Geist3. Die Grundlinien der Philosophie des Rechts (PhR § 117) definieren dieses Prinzip als das Recht des Handelnden zu wissen: Im eigentlichen Sinne handelt, wer sich seines Vorgehens bewusst ist und es bewusst gewollt hat. Nur wenn diese Bedingungen gegeben sind, wird 2  Hegel, Werke 10, § 503 Anm. 3  Hegel, Werke 7, § 4.

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der Handelnde als für sein Vorgehen verantwortlich betrachtet. Das moderne Recht des Wissens, das dem „heroischen Selbstbewußtsein“ des Altertums unbekannt war (PhR § 118 Anm.), legt somit die Schranken der individuellen Verantwortung und Zurechenbarkeit fest. Diese Beschränkung der Zurechenbarkeit des Einzelnen auf sein Wissen und Wollen ist eine Errungenschaft der Neuzeit und führt eine radikale Distanz des griechischen Ethos gegenüber dem modernen ein. Während die klassische griechische Ethik den Handelnden für die Tat in ihrer ganzen Ausdehnung verantwortlich macht, da der Handelnde in toto seine Tat verantworten muss und es keinen Unterschied macht, wenn er nur einen Teil der Tat und ihrer Umstände kannte, beschränkt die moderne Moralität hingegen die Verantwortung des Handelnden auf sein Wissen und Wollen. Hegel ist bei der Verwendung der Begriffe, die das Wortfeld des Handelns und des Erzeugens bilden, sehr präzise. Er unterscheidet zwischen Tat und Handlung, wobei er das Ergebnis irgendeines ‚Tuns‘ als ‚Tat‘ definiert, d.i. irgendeine Veränderung, die von irgendeinem Akteur erzeugt wird. Das Wort ‚Handlung‘ ist hingegen jenem Handeln vorbehalten, das das Subjekt gewusst und gewollt hat und wofür es die Verantwortung übernimmt. Damit dreht Hegel bewusst Kants Terminologie um. Kant unterscheidet nämlich das Tun ( facere), das jeder Form von technischer und künstlerischer Produktion zueigen ist, vom Wirken oder Handeln (agere), die der Natur eigen sind4, weshalb ein Handwerker oder ein Künstler ‚tut‘, während die Natur ‚wirkt‘ oder ‚handelt‘. Demzufolge ist für Kant, ganz im Gegensatz zu Hegel, das Wort ‚Handlung‘ sehr allgemein und bezeichnet jede Form von Kausalität, die sich auf die Einheit eines Trägers bezieht, der auch ein Naturelement sein kann. Um demnach jene besondere Handlung zu bezeichnen, die aus Hegels Sicht einem Subjekt zugeschrieben und zugerechnet werden kann, muss Kant auf ein anderes Wort zurückgreifen und wählt ‚Tat‘5. 2.2 Das Handeln ist ein Prozess, währenddessen sowohl der gesetzte Zweck als auch die verwirklichte Absicht ermöglichen, rückwärts den subjektiven Gefühlszustand des Handelnden und vorwärts die von seinem Tun erzeugte objektive Situation zu begreifen6. Von diesem Punkt aus führt Hegel zwei 4  Kant, AA V (Kritik der Urteilskraft), § 43. 5  Kant, AA IV (Metaphysik der Sitten), 223. 6  Diese Aspekte des Selbstverständnisses des Subjekts sind angemessen von Michael Quante hervorgehoben worden (Quante 1993), der in nicht geringem Maße auf der Rationalität besteht, die der freien Wahl zugrunde liegt, und behauptet, dass Hegels Definition des Begriffs der absichtlichen Handlung an und für sich noch nicht prima facie die moralische Eignung

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unterschiedliche, sich ergänzende Argumentationen fort. Die erste betrifft die Beschreibung der Handlung und besteht darin, ihre konstitutiven Elemente hervorzuheben: Wer das Subjekt der Handlung ist, welche ihre Begründungen, ihre gesetzten Zwecke und ihre zu verwirklichenden Absichten sind. Der ers­ ten Argumentationsebene entsprechend ist die Handlung ein absichtlich erzeugtes und teleologisch orientiertes Ereignis, wodurch der Handelnde einen frei gewählten Zweck verwirklicht. Die zweite, streng von der ersten getrennte Argumentation betrifft hingegen die Beurteilung der Handlung selbst und hat für das Subjekt die Bestimmung der verschiedenen Stufen seiner Zurechenbarkeit und für die Tat das Urteil über den rechtlichen, moralischen oder sozial-politischen Wert der Handlung zur Folge. Diese zweite Argumentation geht weit über den allgemeinen Begriff einer strategisch orientierten Rationalität hinaus, da sie sich um den Begriff der Freiheit dreht, auf der der ganze objektive Geist als solcher gründet. Freiheit und Bewusstsein, oder mit Hegels Worten ausgedrückt, das Recht des Wollens und des Wissens, sind die Elemente, die die Definition einer individuellen Handlung als absichtlich, frei und moralisch oder sittlich gefärbt ermöglichen7. Hegels erste Argumentation verfolgt eine beschreibende Absicht, die zweite hingegen eine bewertende. Der Unterschied zwischen Beschreibung einerseits und Zuschreibung einer Zurechenbarkeit andererseits wird gut durch Hegels Unterscheidung zwischen an etwas schuld sein und an etwas Schuld haben veranschaulicht (PhR § 115 Anm.). Der Ausdruck „an etwas schuld sein“ bedeutet, dass der Handelnde für die in einer gegebenen Situation erzeugte Veränderung verantwortlich ist in dem Sinne, dass er sie verursacht hat. Um an etwas Schuld zu haben, ist es hingegen notwendig, dass die erzeugte Veränderung in der Absicht des Handelnden lag. 2.3 Hegels Analyse wird noch um eine weitere Unterscheidung bereichert: Neben derjenigen zwischen Beschreibung und Beurteilung der Handlung unterscheidet er auch zwischen der Wirklichkeit und dem Wert der Handlung. Auch diese Operation entfaltet sich wie die vorige in einem komplexen Rahmen, in dem sich innere und äußere Gründe miteinander verflechten. Die inneren Gründe führen den Anlass der Handlung auf die persönliche Überzeugung des handelnden Subjektes zurück. Die äußeren Gründe gestatten, den objektiven Wert des Handelnden impliziert. Die Neutralität der Handlung liegt hinter der Frage nach dem moralischen Wert des Handelns. 7  Vgl. Houlgate 2010.

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der Handlung im rechtlichen, moralischen, sozialen oder politischen Rahmen zu definieren. 2.3.1 Um wirklich zu sein, verlangt die Handlung also eine subjektive oder innere Bedingung, das heißt die persönliche Überzeugung als Ausdruck des Gewissens, die in einer Entscheidung mündet, mit der das Bewusstsein zwischen den vielen verschiedenen Möglichkeiten wählt und sich für eine davon entscheidet: Ohne Überzeugung kann es weder Entscheidung noch Handlung geben. Hegel behandelt diesen Stoff an vielen Stellen seiner Schriften, wobei er die Wichtigkeit der Entscheidung für das tatsächliche Erzeugen einer Handlung hervorhebt. In den Grundlinien (PhR §§ 12 und 136) behauptet er zum Beispiel, dass sich der Wille des Handelnden gegenüber den vielfältigen Trieben und Neigungen, die den Willen bewegen, nicht darauf beschränkt zu entscheiden, sondern ‚sich entscheidet‘, wenn er sich von den vielen sich ihm eröffnenden Möglichkeiten löst, und, indem er eine davon wählt, zum wirklichen Willen wird. Bei der Beurteilung der zahlreichen Umstände, die sich endlos rückwärts (die Möglichkeitsbedingungen), seitwärts (die begleitenden Umstände oder Mitursachen) und vorwärts (die Folgen der vollendeten Tat) entfalten, betrachtet die persönliche Überzeugung ihr Wissen, das natürlich in jeder Hinsicht unvollständig ist, als ausreichend und vollendet für das Erzeugnis jener bestimmten einzelnen Entscheidung und Handlung. Indem er wiederholt, was vor ihm bereits Kant und Fichte behauptet hatten, lässt Hegel eine enorme Verantwortung auf dem Gewissen lasten: Sobald der Moment der Handlung erreicht wird, spricht und entscheidet das Gewissen unvermeidlich. In Bezug auf die Bestimmung der Entscheidung bedient sich Hegel einer weiteren Besonderheit der deutschen Sprache, die zwischen etwas beschließen, also etwas entscheiden und die Unbestimmtheit entfernen, in der ein Inhalt nur ein möglicher Inhalt ist, und sich entschließen, von sich selbst aus entscheiden, unterscheidet. Im sich-Entschließen ist mehr enthalten als im einfachen Entschließen: das sich-Entschließen hebt die Tatsache hervor, dass das Bewusstsein und der Wille ihre Inhalte, das heißt ihre Zwecke, von sich selbst aus erzeugen (PhR § 12 Anm.), und es unterstreicht zugleich, wie die Handlung Ausdruck der Selbständigkeit und der Selbstbestimmung des Willens, d.h. seiner Freiheit, ist. Deshalb ist Hegel zufolge die Handlung im eigentlichen Sinne frei und bestimmt die moralische Qualität des Handelnden – eine Qualität, die dennoch nicht allein durch die einzelne Handlung definiert werden kann, sondern nur durch die gesamte Reihe der Handlungen des handelnden Subjekts8. 8  „Was das Subjekt ist, ist die Reihe seiner Handlungen. Sind diese eine Reihe wertloser Produktionen, so ist die Subjektivität des Wollens ebenso eine wertlose; ist dagegen die Reihe

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2.3.2 Die äußeren Gründe, die die moralische Qualität der Handlung definieren, d.h., ob sie objektiv gerecht oder ungerecht ist, rufen die interpersonale Anerkennung auf den Plan, die die individuelle Überzeugung nur dort rechtfertigt, wo sich der Kreislauf zwischen dem Ich, das Wir ist, und dem Wir, das Ich ist – um die berühmte Formel der Phänomenologie zu benutzen – im Inneren einer Gemeinschaft verwirklicht. Hegels Theorie der Handlung schließt so zusammen mit der subjektiven Dimension auch die objektive Betrachtung der gesellschaftlichen und institutionellen Beziehungen mit ein, die sich durch eine eigene normative Dimension auszeichnen, welche die Subjektivität der inneren Gründe ausgleicht. In der Überwindung der Moralität in der Sittlichkeit entfalten sich die gesellschaftlichen und politischen Beziehungen in der objektiv existierenden Realität. Hierbei treten die Probleme des Verhältnisses zwischen der Zivilgesellschaft, dem Staat und den Institutionen auf, die die familiären Beziehungen, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Verwaltungshandlungen und die internationalen Beziehungen regeln. Diese Beziehungen übertragen sich in Handlungen und Tätigkeiten, die die formelle Struktur der moralisch definierten Handlung teilen (vgl. PhR § 113): Die Handlung ist Veräußerlichung des Willens, sie steht im Verhältnis zu einem zu verwirklichenden allgemeinen Prinzip und stellt ein Verhältnis zwischen dem handelnden Willen und anderen handelnden Willen her. Auch die Handlungen der Staaten, nicht anders als die der Mitglieder einer Familie, der Körperschaften, der gesellschaftlichen Klassen oder der politischen Gruppen, unterscheiden sich unter einem logisch-formellen Gesichtspunkt nicht von denen der Individuen, da sie alle Ausdrücke individueller Willen sind, die nach der Verwirklichung ihrer Zwecke streben. Auch die Handlungen der Staaten werden nämlich von parteiischen Interessen bestimmt, die auf dieselbe Weise, wie sie Individuen gegeneinanderstellen, Konflikte und Kriege verursachen, sodass das Völkerrecht eingreifen muss, um die ungezügelten Handlungen einzelner Völker einzuschränken und die Möglichkeit des Friedens zu garantieren. Wenn also die formelle Struktur der individuellen wie auch der pluralischen und gemeinschaftlichen Handlung dieselbe ist, d.h. die bewusste und mitgewusste Übertragung von Vorsätzen und Absichten in die Äußerlichkeit und Verwirklichung von Zwecken, lässt sich dann sagen, dass der Hauptunterschied zwischen den verschiedenen Praxisformen in der Anzahl der handelnden Subjekte liegt, die im ersten Fall ein einzelnes ‚Ich‘ und im zweiten Fall ein pluralisches ‚Wir‘ ist? Bezeichnen das ‚Ich‘ und das ‚Wir‘ zwei unterschiedliche seiner Taten substantieller Natur, so ist es auch der innere Wille des Individuums“ (Werke 7, § 124).

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und getrennte Perspektiven, wie die strenge Trennung zwischen Moralität und Sittlichkeit zu denken veranlasst, welche sich jeweils mit den Grundlagen des individuellen Handelns und des sozialen Handelns befassen, oder sind sie enger miteinander verbunden? Man kann den Umriss einer Antwort auf diese Fragen gewinnen, wenn man eine Stelle in Hegels Werk betrachtet, an der die Verflechtung zwischen individueller Dimension und sozialer Dimension des Handelns auf wenigen ebenso komplexen wie entscheidenden Seiten angepackt wird. Ich beziehe mich insbesondere auf die abschließenden Sätze der Abteilung der Phänomenologie des Geistes, in der „Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung“ behandelt werden. Hier ist die Verflechtung zwischen individueller Dimension und sozialem Horizont des Phänomens des Handelns besonders eng und gestattet, die Komplexität der Handlung sowohl in Bezug auf die Beschreibung ihrer konstitutiven Elemente als auch auf die Beurteilung ihres Wertes zu beleuchten. Wenn das moralische Bewusstsein auf Grund seiner Überzeugung entscheidet und handelt, wird das Urteil über den Wert der vollendeten Tat Hegel zufolge nicht dem inneren Gericht des einzelnen Gewissens anvertraut, wie es Kants Ethik verlangt, sondern der Gemeinschaft der Selbstbewusstseine. Was für die Bestimmung des Wertes der Handlung zählt, ist weder die erfolgreiche oder verfehlte Ausführung einer Absicht noch die Rechtschaffenheit jener Absicht, sondern die Tatsache, dass sich die handelnden Selbstbewusstsein in einer Mitte erkennen, die von der gegenseitigen Anerkennung zwischen freien und selbständigen Selbstbewusstseinen gebildet wird. Um über die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der persönlichen Überzeugung mit dem objektiven Guten zu entscheiden, muss sich das Ich erklären: Nur kraft dieser Selbstäußerung kommt der Anerkennungsprozess zwischen Selbstbewusstseinen in Gang, nach dem jedes einzelne Selbst „alle Selbst anerkennt und von ihnen anerkannt wird“9. Das bedeutet die Fähigkeit des einzelnen Ichs, aus seiner Zurückgezogenheit in seine eigene Innerlichkeit herauszutreten, um die Auseinandersetzung mit anderen Ichs zu akzeptieren. Nur diese Auseinandersetzung eröffnet die Möglichkeit – welche nur eine Möglichkeit und keine Garantie ist –, dass sich jene Bedingung des bei-sich-selbst-Bleibens im absolut-anders-Sein, die für Hegel bekanntlich das Wesen der Freiheit bedeutet und das Ergebnis des Anerkennungsprozesses bildet, verwirklicht.

9  Hegel, Werke 3, 481.

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Die sittliche Handlung

Die Dialektik zwischen persönlichen Überzeugungen und interpersonaler Anerkennung ist ein besonders aktuelles Thema in der zeitgenössischen Debatte, die sich mit komplexen kulturellen Realitäten auseinandersetzen muss, in denen die individuellen Wahlen, Gründe und Motivationen, auch wenn sie über eine starke Identität verfügen, intim mit dem rechtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld, dem die Einzelnen angehören, verflochten sind und davon bestimmt werden. Deshalb ist die Verflechtung der auf das einzelne Individuum und der auf die interpersonalen Beziehungen konzentrierten Perspektive, die nach Hegels Auffassung des Handelns die Gründe der subjektiven Überzeugungen und der intersubjektiven Anerkennung zusammenhält, von großer Aktualität und Interesse. Diese Verflechtung begründet sowohl die Wirklichkeit des Handelns als auch seinen Wert und ermöglicht demzufolge, einen entscheidenden Schritt im Erziehungsprozess der einzelnen Individuen zum Selbstbewusstsein und zur Selbstverwirklichung wie auch zur Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Aufgabe zu beleuchten. In der Philosophie des objektiven Geistes betrachtet Hegel die beiden Bildungsprozesse weder in einer Reihenfolge noch in einem hierarchischen Verhältnis, sondern als untrennbare Momente eines Ganzen: Es gibt keine Bildung und keinen Aufbau des individuellen Selbst, wenn es keine Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Werk gibt, und es gibt kein allgemeines Werk, wenn das Bewusstsein und die Verwirklichung des individuellen Selbst fehlen. Die Enzyklopädie von 1817 (§ 434) erläutert, der Einzelne „ist nur insoweit wirklich Etwas, als er als besonderer Mitarbeiter an dem allgemeinen Werke anerkannt ist, und daran wirklich arbeitet“. Dieses allgemeine Werk ist in der Tat das Erzeugnis einer doppelten Arbeit. Wenn sich im Leben einer politischen Gemeinschaft diejenigen Bedingungen verwirklichen, durch welche die Selbstverwirklichung der einzelnen Person garantiert wird, „so vollbringt sie ohne die wählende Reflexion ihre Pflicht als das Ihrige“ (Enz. § 514). In einer Gemeinschaft, in der das allgemeine Interesse genauso gepflegt wird wie das der Einzelnen, verwirklicht sich die gegenseitige Anerkennung zwischen Institutionen und Individuen, da erstere ihre Gültigkeit durch die Akzeptanz letzterer erlangen, welche sich wiederum vertreten fühlen und mit einer Vertrauenshaltung reagieren (Enz. § 515). Zu dem beschriebenen Projekt im Sinne einer Zusammenarbeit an einer allgemeinen Aufgabe gehören alle Ausdrucksformen der Gegenseitigkeit der Anerkennung, jener Gegenseitigkeit, die den Einzelnen davor rettet, in Solipsismus abzugleiten, und die jede Form von gelungenem Gemeinschaftsleben kennzeichnet. Dieses Ideal, auf dessen Definition die Lehre ruht, die Hegel

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dem von der platonisch-aristotelischen Tradition ausgearbeiteten ethischpolitischen Modell entnommen hat, gestattet es, die Unzulänglichkeiten und Misserfolge vieler existierender Realitäten zu bemessen, und macht die hegelsche Philosophie zu einem guten Kandidaten für die Interpretation nicht weniger sozialer Pathologien. Eben weil Hegel das individuelle Handeln in seiner Verflechtung mit der normativen Dimension von Institutionen und sozialpolitischen Praktiken auffasst, stellt sein Ansatz ein Gesamtbild vor, in dem sich die individuelle Selbständigkeit und die vom Recht institutionell garantierte Objektivität nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr wechselseitig ergänzen10. 4

Die Tätigkeiten des absoluten Geistes

Was passiert also beim Übergang von der Ebene der individuellen und kollektiven absichtlichen Handlungen zu der des absoluten Geistes? Bei diesem Übergang tritt ein Perspektivwechsel auf, der die Anwendung eines neuen Beschreibungsapparats und anderer Bewertungsmaßstäbe mit sich bringt. Wir haben daran erinnert, dass die Handlung, unter dem Gesichtspunkt der Moralität betrachtet, in ihren Komponenten beschrieben, nach ihren Beweggründen analysiert und nach ihrer Zurechenbarkeit bewertet wird. In der Perspektive der Sittlichkeit überwiegt hingegen der Gesichtspunkt der Intersubjektivität, der die Anerkennung des sozialen und politischen Wertes von Handlungen, die nicht mehr nur einzelne Individuen, sondern die Mitglieder von pluralischen Einheiten betreffen, mit sich bringt: das Paar, die Familie, die Gesellschaftsklasse, die Institutionen. Während sich der moralische Standpunkt durch einen das handelnde Subjekt betreffenden subjektiven Blick auszeichnet, überwiegt in sittlicher Hinsicht ein objektiver Blick, der die Handlungen in Bezug auf die jeweiligen Rollen, Beziehungen und Institutionen beurteilt. Wir sprechen dabei von inneren Gründen, die die Beschreibung und Beurteilung der Handlung je nach dem Vorsatz des Handelnden, seiner Kenntnisse der Umstände, der Qualität des beabsichtigten Zwecks, der Ausdehnung seiner persönlichen Verantwortung und dem Niveau der Zurechenbarkeit seiner Handlung ermöglichen, aber auch von äußeren Gründen, die demgegenüber die Beschreibung und Beurteilung der Handlungen und Taten erlauben, die nicht mehr auf einer subjektiven, sondern auf einer objektiven – oder besser noch: intersubjektiven – Ebene ausgeführt werden. 10  Vgl. Quante 2011.

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Auf diese Weise können wir einsehen, wie in Hegels Perspektive das auf das Handeln angewandte Wort ‚objektiv‘ unterschiedliche Bedeutungen erlangt. Einerseits ist ‚objektiv‘ ein Synonym für ‚wirklich‘ und bedeutet die Übertragung der subjektiven Vorsätze und Absichten in die Objektivität der Wirklichkeit. Es bedeutet also den Austritt aus dem subjektiven und inneren Standpunkt des Handelnden und den Eintritt in den von wirklichen Beziehungen bestimmten intersubjektiven Standpunkt. In Hegels Worten entspricht das dem Verlassen der moralischen Perspektive und dem Übergang in die sittliche. Andererseits ist ‚objektiv‘ in Hegels Vokabular, das in diesem Fall dem kantischen entliehen ist, auch das, was sich durch die Abwesenheit von besonderen oder egoistischen Interessen auszeichnet. Demzufolge definiert Hegel als ‚objektiv‘ nicht nur die bestimmte und wirkliche Handlung, sondern auch jene besondere Form der Handlung, die die allgemeine Handlung ist, da sie frei von der Besonderheit der willkürlichen und egoistischen Entschlüsse ist11. Um zu verstehen, was diese zweite ‚Objektivität‘ impliziert, muss man zur Ebene des absoluten Geistes übergehen. Wie das Ergebnis des subjektiven Geistes der freie Geist ist, so ist das Resultat des objektiven Geistes jene Freiheit des Geistes, die dessen Absolutsein bestimmt, d.h. sein Gelöstsein von Bedingtheiten, Zwecken und besonderen Interessen. Diese Freiheit und dieses Absolutsein müssen sich jedoch offenbaren – und das geschieht in den Tätigkeiten des absoluten Geistes, das heißt in der Kunst, in der Religion und in der Philosophie, die nicht von ungefähr in der ersten Ausgabe der Enzyklopädie (§ 5) als die „Wissenschaft der Freiheit“ definiert wird. 4.1 Das Kunstwerk Im Kunstwerk finden wir das verständlichste und unmittelbarste Beispiel für die Koexistenz der beiden Bedeutungen des Wortes ‚objektiv‘. Als bewusstes und gewolltes Erzeugnis teilt das Kunstwerk nämlich alle Eigenschaften der menschlichen Tätigkeiten und ist Ausdruck der schöpferischen Begabung und der freien Rationalität des Menschen, auf der jedes Wissen und Handeln gründet und von der es stammt. Wie jedes Handeln ist auch das Kunstwerk Frucht der Vereinigung von Innerem und Äußerem und bewusste Übertragung von subjektiven Inhalten in die äußere Objektivität. Unabhängig von Erkenntnis- oder praktischen Zwecken hat es in sich selbst und nicht im Anderen seine Bedeutung. Es verfolgt keine besonderen Zwecke wie Belehrung, moralische Verbesserung, Wunsch nach Gewinn, Ruhm oder Ehre – und selbst wenn diese Zwecke vorhanden sind, so fungieren sie als Mit- und nicht als Hauptursachen, denn das Kunstwerk hat seinen Zweck in sich selbst. Wenn 11  Hegel, Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse (1810 ff.), in: Werke 4, 260.

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Hegel unterstreicht, dass das Kunstwerk Zweck seiner selbst und unabhängig von Erkenntnis- oder praktischen Zwecken ist, wiederholt er die Lehre Kants, der als Grundlage des künstlerischen Schönen einen innerlichen und allgemeinen Zweck feststellt, der frei von besonderen Zwecken und Interessen ist. Schön ist nämlich laut der dritten Kritik Kants das, was ohne Interesse, ohne Begriffe und ohne die Vorstellung eines Zwecks, allgemein und notwendig, gefällt. Die Grenzen des Kunstwerks als Ausdruck der Freiheit werden von seiner Verbindung zu der Zeit und dem Umfeld, die es erzeugen, von der Persönlichkeit des Künstlers, dessen Inspiration wie eine fremde Kraft in ihm wirkt, von dem verwendeten Stoff und den technischen Kunstgriffen, die es bestimmen, gesetzt. Da es von der individuellen Persönlichkeit des Künstlers, von seinem technischen Können und von dem verwendeten Material bedingt wird, drückt das Kunstwerk also nicht vollendet den absoluten Geist aus, weil es „nur dann Ausdruck Gottes [ist], wenn kein Zeichen von subjektiver Besonderheit darin [ist]“ (Enz. § 560). Wie jedes menschliche Handeln bewahrt auch die künstlerische Tätigkeit eine Spur der Endlichkeit des menschlichen Geistes. Die sinnliche und wirkliche Seite einerseits und die geistige und ideale andererseits koexistieren in ihr nicht friedlich, sondern erzeugen verschiedene Kontrast-, Fremdheits- und Gegenseitigkeitserscheinungen, von denen die unterschiedlichen Kunstformen Zeugnis geben. Die symbolische Kunst bringt den Konflikt zwischen sinnlich und geistig, außen und innen, Form und Inhalt am offensichtlichsten zum Ausdruck, da sie sich im Wesentlichen durch die Unangemessenheit der äußeren Form im Vergleich zum Inhalt, den sie bedeuten soll, auszeichnet. Die romantische Kunst ist im Gegenteil von einem Übermaß an innerer Geistigkeit im Vergleich zur Äußerlichkeit gekennzeichnet. Nur die klassische Kunst ist in der Lage, das sinnliche Element zum Ausdruck des Geistes zu erheben, und dennoch stellt auch sie „nur eine Befreiungsstufe, nicht die höchste Befreiung selbst“ dar (Enz. § 562 Anm.). Kann die Religion diese höchste Befreiung ausdrücken? 4.2 Die Religion als Versöhnung 4.2.1 Die Religion drückt schon den ältesten Formulierungen der hegelschen Systementwürfe gemäß das Bedürfnis aus, die Trennung zwischen Endlichem und Unendlichem zu überwinden, die in einer der kantischen folgenden Lehre als gegensätzliche Welten aufgefasst werden. Diese rigorose Gegenüberstellung kann nur ausgehend von der Idee einer ursprünglichen Einheit aufgehoben werden, die Hegel seit den Frankfurter Jahren als Leben begreift, wobei er

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eben der Religion die Aufgabe verleiht, den Übergang nicht vom Endlichen zum Unendlichen, sondern vom endlichen Leben zum unendlichen Leben zu verwirklichen. Von dort an begleitet diese Intuition die verschiedenen Phasen von Hegels Werk und spiegelt sich auch in der dem absoluten Geist eigenen Terminologie und Begrifflichkeit wider. Wenn zum Beispiel der Sprachgebrauch der christlichen Religion versucht, die Verbindung zwischen Gott und der Welt mit Verben wie ‚zeugen‘ oder ‚schaffen‘ in Worte zu fassen, so ist dies eine unangemessene Ausdrucksform. Daher stammt die Bemühung, sich nicht solcher Ausdrücke zu bedienen, die durch Endlichkeit und Relativität kompromittiert sind. Der Begriff der Schöpfung aus dem Nichts verfolgt diesen Zweck. In der Schöpfung aus dem Nichts stellt sich Gott nicht einem Anderen-seiner-selbst wie innen und außen gegenüber, und seine Tätigkeit beabsichtigt auch keinen Zweck oder übt sich an einer Materie. Die göttliche Handlung ist absolute Tätigkeit, actus purus, unendliche Unterscheidung ihrer selbst von sich, Erzeugung. Diese absolute Tätigkeit, die, während sie sich von sich selbst unterscheidet, bei sich selbst bleibt, kann nur als dem bei-sich-selbst-Bleiben des Denkens entsprechend beschrieben werden, welches das Freie schlechthin ist, weil es für seine Ausübung von nichts Äußerem abhängig ist, keine gegebene Materie braucht und in sich selbst seinen Inhalt und seinen Zweck hat. 4.2.2 Auch die Andachtsübungen sind Ausdruck des Versuchs, die Trennung zwischen Endlichem und Unendlichem im Hinblick auf die Verwirklichung der Versöhnung zwischen Menschlichem und Göttlichem aufzuheben. Die Versöhnung erfordert vonseiten des Frommen den Verzicht auf seine Besonderheit, einen Verzicht, der am Beispiel desjenigen Handelns ohne Nutzen, ohne Interesse und ohne Zweck verdeutlicht wird, welches das Opfer ist. Doch derjenige Aspekt der Religion, der am besten die veränderte Perspektive beleuchtet, die im Übergang vom objektiven zum absoluten Geist auftritt, ist mit dem Thema der Erhebung des Menschengeistes zu Gott verbunden, der Gegenstand der Gottesbeweise ist12. Denen, die behaupten, dass wir nichts über Gott erfahren können, dass wir ihn nicht kennen können, hält Hegel entgegen, dass die Religion, wenn sie ein sich-an-Gott-Wenden, ohne ihn zu kennen, wäre, nichts Anderes wäre als Linien ins Leere zu zeichnen oder auf gut Glück zu schießen. Ebenso jedoch, im Gefolge der (warnenden) Lehre Kants, derzufolge eine Verdinglichung, Hypostasierung und Personalisierung des Begriffs vom transzendentalen Ideal aus 12  Hegel, Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, in: Werke 17.

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Gott ein bestimmtes Objekt zu machen droht – anders als das Subjekt, das ihn darstellt –, behauptet Hegel, dass die Existenz Gottes nicht auf dieselbe Weise bewiesen werden kann, wie man die Existenz eines konkreten Gegenstands beweist. Auf methodologischer Ebene zwingt ihn das dazu, nicht das zu beweisende Objekt, sondern das Beweisen an sich zu betrachten. Die Gottesbeweise besagen nichts anderes als die Erhebung des denkenden Geistes zum höchsten Gedanken: Gott zu denken. Es handelt sich im Übrigen um einen ganz besonderen Beweis; denn in diesem Beweis ist das Beweisen nicht dem demonstrandum äußerlich, sondern es ist vielmehr das sich-Entfalten der Bewegung, die dem behandelten Ding eigen ist (Beweise 358). Die Besonderheit dieses Beweises ist deshalb mit seinem Objekt verbunden, das alles andere als ein ruhiges Objekt ist, eine res oder ein Gegenstand, sondern die Erhebung des menschlichen Geistes zu Gott und somit eine Tätigkeit, ein Weg, ein Prozess (Beweise, 357). Um diesen Prozess auszudrücken, ist jenes subjektive Beweisen absolut unangemessen, das dem Objekt fremd, seinem Werden äußerlich bleibt und als solches nur fähig ist, Phänomene zu erfassen (Beweise, 362). Hegels Rehabilitierung der Gottesbeweise gehört in dieses Bild, dessen Ziel in erster Linie die Überwindung von Kants Auffassung der endlichen Erkenntnis ist. Die Kreisförmigkeit, die Voraussetzungslosigkeit und die Vermittlung, die die Beweise kennzeichnen, bilden den tragenden Kern von Hegels Argumentation, einer Argumentation, die sich um die Natur der Erhebung als solcher dreht. Deshalb schreibt der spekulative Satz dem Subjekt-Begriff ‚Gott‘ kein wirkliches und objektives Dasein durch das Prädikat der Existenz zu, sondern er zerstört die Prädikation, da der Begriff in sich die Objektivität beherbergt. Die Identität von Denken und Sein, die den Angelpunkt des ontologischen Beweises bildet, besteht nicht im Übereinkommen eines Subjektes mit einem Prädikat, sondern drückt die Bewegung des absoluten Denkens aus, deren Ausübung weder einen mystischen Sprung oder eine ekstatische Erfahrung noch, am gegenüberliegenden Pol, die Verneinung der Transzendenz oder die Verabsolutierung der endlichen menschlichen Natur verlangt. Diese Bewegung erzeugt sich selbst und verlangt nur die Vernichtung der Fixierung des Endlichen, da diese Fixierung darauf hinausläuft, das Endliche zu verabsolutieren und aus dem Endlichen das Unendliche zu machen. Da diese Bewegung sowohl dem Denken als auch dem Sein angehört, ist sie niemals gesetzt oder ein für allemal vollendet, sondern drückt vielmehr die Notwendigkeit des Übergangs von all dem aus, das die Eigenschaft der Endlichkeit hat, die notwendige Überwindung der Einseitigkeit des endlichen Erkennens und der Subjektivität im Allgemeinen. So erscheint offensichtlich, dass das erste Ziel der Beweise für Hegel nicht so sehr der Beweis der Existenz Gottes als vielmehr der Beweis der Notwendigkeit

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der Selbsttranszendierung des Endlichen ist. Wenn der Beweis es nicht schafft, die Existenz des ens entium zu beweisen, so kann er doch die Notwendigkeit dessen beweisen, das es in höchstem Maße wert ist, gedacht zu werden. Die absolute Notwendigkeit der Selbsttranszendierung des Endlichen drückt den Sinn und das Wesen der Erhebung des Geistes zu Gott aus. Die Erhebung bedeutet die Notwendigkeit des Prozesses der Selbstaufhebung des Endlichen. Objekt des Beweisens ist kein Wesen, sondern das Denken selbst. Hegel ist schon seit der Zeit der Abfassung des Systemfragments von 1800 klar, dass, wenn die Erhebung, die sich in der Religion vollendet, ins Innere des Denkens übertragen wird, diese Übertragung eine Gegenüberstellung zur Folge hat, die für den menschlichen Geist unerträglich ist, welcher nicht ertragen kann, dass das, was er als konstitutiv für sein Wesen betrachtet, die lebendige Verbindung von Endlichem und Unendlichem, im Inneren eines unüberwindlichen Widerspruchs festgesetzt wird. Die Ausarbeitung der Wissenschaft der Logik und die Reflexion über die Religion, die die ganze sodann folgende philosophische Arbeit begleiten werden, bringen ihn dazu, diese Erhebung als etwas zu interpretieren, was nicht mit Formen des unmittelbaren Fühlens zu tun hat, sondern mit Erkenntnis und Vermittlung. Das Beweisen ist im Wesentlichen Vermittlung, und die Syllogismusstruktur selbst, die die in den Gottesbeweisen enthaltene logische Struktur stützt, unterstreicht, dass sie Vermittlung sind. Im Übrigen ist die Vermittlung dem Gottesbegriff mitnichten fremd, oder zumindest ist sie nicht der Idee von Gott fremd, die Hegel an den Höhepunkt seiner Reflexion über die Religion stellt, wenn er die vollendete und absolute Religion mit dem Christentum identifiziert. Der christliche Gott ist nämlich in seinem Wesen Vermittlung. Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit besagt nicht nur, dass Gott der Schöpfer der Welt ist, dass seine frei erzeugende Handlung ein aus-sich-Heraustreten ist, um im Anderen-seinerselbst zu enden, sondern sie besagt auch, dass Gott Liebe ist, die sich mit sich selbst vermittelt, dass er Geist ist. Wenn Gott Vermittlung seiner selbst mit sich selbst ist, wird Gott niemals ein Objekt sein, sondern unerschöpfliche Tätigkeit, und all das, was die christliche Dogmatik seinem Begriff zuschreibt (die Selbstoffenbarung, die Schöpfung der Welt, das Menschwerden sowie den Tod und die Auferstehung dieses Menschen), ist gleichfalls Tätigkeit und Vermittlung seiner selbst durch sich selbst (Beweise, 368). 4.3 Die Philosophie als Tätigkeit 4.3.1 Auch die Idee der Philosophie zeigt sich in einer speziellen Tätigkeit, der Hegel eine entscheidende Bedeutung beimisst und die durch das Zitat aus Aristoteles’

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Metaphysik hervorgehoben wird, welches das ganze Werk besiegelt. Die noesis noeseos, d.h. „die sich wissende Vernunft“, ist Tätigkeit, die „sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt“ (Enz. § 577). Diese Worte, denen der Abschluss des letzten Paragraphen der Enzyklopädie zukommt, haben eine besondere Bedeutung für unser Thema. Es ist bekannt, dass gerade der abschließende Moment des absoluten Geis­ tes, der in den drei philosophischen Schlüssen ausgedrückt wird, als eine Art Symbol für die Geschlossenheit des Systems und als eine Art Triumph des in der Selbstbetrachtung des Denkens gipfelnden Panlogismus interpretiert worden ist. Dennoch hat es nicht an Interpretationen umgekehrten Vorzeichens gefehlt, die die Gründe für Hegels Modell verteidigt haben. Indem sie die Ähnlichkeiten zwischen der Tätigkeit des Denkens, das sich selbst denkt, und der aristotelischen Auffassung der praxis teleia zum Ausdruck gebracht haben, haben diese Interpretationen die Tätigkeit der noesis noeseos als das Modell der perfekten Handlung betrachtet, eben weil Hegel in der Idee, die sich ewig betätigt, erzeugt und genießt, eine absolut freie Tätigkeit beschreibt, die sich dadurch kennzeichnet, dass sie in sich selbst und nicht im Anderenihrer-selbst ihren Zweck hat und somit in jedem Moment ihrer Entwicklung perfekt und vollendet ist13. Um diese Interpretation zu stützen, genügt es daran zu erinnern, dass Hegel, nachdem er zur Behandlung des absoluten Geistes fortgeschritten ist, nicht mehr davor warnen muss, die spekulative oder absolute Idee, die die Vollendung der begrifflichen Bewegung des Erkennens ausdrückt, mit der allgemeinen und abstrakten Idee zu verwechseln. Im Gegensatz zur abstrakten Idee ist die spekulative Idee nämlich Einheit von Begriff und Objektivität und Identität von Substanz, Subjekt und Geist. Die Idee kann „als Subjekt-Objekt, als die Einheit des Ideellen und Reellen, des Endlichen und Unendlichen“ gefasst werden (Enz. § 214). Sie ist nicht nur Substanz oder nur Subjekt oder nur Geist, sondern sie ist ein Prozess – und als solcher ist sie Leben, Erkennen, Wollen, Tätigkeit. Wenn Hegel meint, den Schluss der Enzyklopädie durch die Stelle der Metaphysik (XII, 7) besiegeln zu müssen, an der Aristoteles das Primat des Denkens behauptet, so kann diese Wahl kein Zufall sein. Der Grund dieser Wahl kann sich jedoch nicht im erneuten Vorschlag des Primats der kontemplativen Tätigkeit erschöpfen; denn wenn es so wäre, wäre Hegel keinen Schritt über Aristoteles hinausgegangen. Ganz im Gegenteil hätte er schon vor dem von Aristoteles erklommenen spekulativen Gipfel Halt gemacht, welcher 13  Chiereghin 1990.

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entelecheia und energeia als Worte versteht, die diejenige Tätigkeit bezeichnen, die in sich ihren Zweck und ihr Erzeugnis hat. Hegels Identifizierung der vollendeten und perfekten Tätigkeit mit der Idee, die sich betätigt, erzeugt und genießt, stellt das Modell der absoluten Tätigkeit dar, eben weil sie perfekt und vollendet ist. Diese Tätigkeit stellt also das Modell dar, an dem alle Handlungen und Tätigkeiten gemessen werden, in denen sich das Leben des Geistes offenbart; aber sie kann sich nicht auf eine absolut andere Ebene stellen als all das, was dem Tun des Geistes angehört. „Die sich wissende Vernunft“, d.h. die Vernunft, die zu ihrem Selbstverständnis gelangt ist, stützt sich und besteht aus den theoretischen und praktischen Erzeugnissen des subjektiven Geistes und des objektiven Geistes. Der erste gipfelt in der Freiheit des Geistes als Einheit des theoretischen Geistes und des praktischen Geistes, das heißt im „freien Willen“ oder, anders ausgedrückt, im „Willen als freier Intelligenz“ (Enz. § 481). Dieser „Wille als freie Intelligenz“ ist dazu bestimmt, „sich zur Gegenständlichkeit, zur rechtlichen, sittlichen und religiösen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit zu entwickeln“ (Enz. § 482 Anm.). Das ist der Grund, warum auch die Tätigkeit des absoluten Geistes einige strukturelle Eigenschaften der absichtlichen Handlung aufweisen muss, während letztere die Eigenschaften der perfekten Handlung als eine Art Modell ansehen muss, nach dem sie streben und mit dem sie sich auseinandersetzen kann. 4.3.2 Wenn man den Blick in den am schwersten zu verdauenden Kern von Hegels System versenkt, der aus den drei Schlüssen der Philosophie besteht, muss man anerkennen, dass absolute Tätigkeit nicht nur die eines Denkens ist, das aus seinem sich-Betätigen und Erzeugen seine Seligkeit schöpft, sondern auch die eines Denkens, das immer im Verhältnis zu seinem Anderen steht, das heißt in Hegels Worten: zu der Natur. Die Überwindung des abstrakten Denkens impliziert für das Denken, das sich betätigt, erzeugt und genießt, nämlich die Notwendigkeit, Platz für sein Anderes zu machen. Dass dieses Andere hier im dritten Schluss als ‚Natur‘ definiert wird, ist unwesentlich: Wesentlich ist die Botschaft als solche; denn die Natur bildet das exakte ‚Andere‘ im Vergleich zum Geist. Der erste der drei abschließenden Schlüsse (Enz. § 575) hat als Grund das Logische, als Mitte die Natur und als dritten Begriff den Geist (L-N-G) – und fasst in sich den ganzen enzyklopädischen Weg zusammen, wobei er jene grundlegende konstitutive Handlung verwirklicht, welche die Erinnerung ist, durch die der Verstand zurück auf sein Wissen schaut. Der zweite Schluss, der

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Schluss der Reflexion, hat als Grund die Natur, als Mitte den Geist und als dritten Begriff das Logische (N-G-L) – und stellt schon ein anderes Wissensmodell dar, das von der Subjektivität der Seele, des Gewissens und des Geistes ausgeht und nach der Wissenschaft drängt, d.h. einerseits nach der Verbindung der Natur mit der Logik, die der wissenschaftlichen Form zugrunde liegt, andererseits nach dem Erzeugen der Wissenschaft ausgehend von einem subjektiven Erkennen, sodass „die Wissenschaft wie ein subjektives Erkennen [erscheint], dessen Zweck die Freiheit und es selbst der Weg ist, sich dieselbe hervorzubringen“ (Enz. § 576). Im dritten Schluss (G-L-N), der die Idee der Philosophie verwirklicht, entzweit sich die Mitte, d.h. der Begriff oder die Vernunft, die zum Wissen gelangt sind, in Geist und Natur. In der Mitte der sich wissenden Vernunft (Enz. § 577), Verwirklichung des Logischen, sind sowohl der Geist als Voraussetzung als auch die Natur als Extreme, mit der sich die Vernunft auseinandersetzen muss, gegenwärtig. Hier durchdringen sich Subjektivität und Objektivität, Erzeuger und Erzeugnis gegenseitig. Das ist die schönste Verbindung, um einen Ausdruck aus Platons Timaios zu gebrauch, den Hegel sich zu eigen macht; denn sie verwirklicht die perfekte Einheit der auf dem Spiel stehenden Begriffe. Da sie als Voraussetzung den Geist hat, der sich in allen Tätigkeitsformen des Menschen offenbart, und da sie sich mit der Natur auseinandersetzen muss, deren vollendeter Ausdruck der lebendige Organismus ist, kann die selbstbewusste Vernunft keine andere Struktur haben als die des biologischen oder sittlichen Lebens. Auch in dieser Hinsicht macht sich Hegel die aristotelische Lehre zueigen, nach der auch das biologische Leben eine Form von praxis ausdrückt, da das Lebewesen ein Organisations- und Unterscheidungsprinzip der eigenen Lebensfunktionen und eine Tätigkeit ist, die in Abwesenheit von äußeren Hindernissen sich selbst verewigt. Folglich entdeckt Hegel, wie Aristoteles, gerade im Prinzip der Selbstdifferenzierung die Struktur der einzig dem Lebewesen eigenen praxis und der vielen praxeis, aus denen das individuelle und gesellschaftliche Leben besteht. Im Inneren des dritten Schlusses liegt das Prinzip der Selbstdifferenzierung, der Entzweiung der Mitte der sich wissenden Vernunft in Geist und Natur, zugrunde. Das zwingt zum erneuten Nachdenken darüber, was es bedeutet, dass am Ende der enzyklopädischen Darstellung alle Formen der menschlichen Tätigkeit in der spekulativen Tätigkeit gipfeln. Was sie kennzeichnet und aus ihr ein Modell für alle Tätigkeiten macht, die den Anspruch erheben, absolut, also nicht relativ, zu sein, ist das Bewusstsein des unauslöschlichen Andersseins, das sie ausmacht. Wenn die Erscheinungen des künstlerischen Schaffens und die Andachtsübungen einem von besonderen Absichten und Interessen

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freien Zweck nachkommen, so bleibt in diesen Kontexten dennoch ein nicht überwundener Dualismus, der als Riss zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen Form und Bedeutung empfunden wird. Das ist in der Kunst deutlicher als in der Religion, die mit dem Wissen als philosophischer Wissenschaft denselben Inhalt der Wahrheit teilt, welcher als notwendige Selbsttranszendierung des Endlichen auszudrücken ist. Nur die Idee der Philosophie drückt die „Befreiung von der Einseitigkeit der Formen und Erhebung derselben in die absolute Form, die sich selbst zum Inhalte bestimmt“, aus (Enz. § 573). Die Philosophie als „Wissenschaft der Freiheit“ ist eine sich selbst differenzierende Tätigkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass sie in sich selbst ihren Zweck und ihr Organisationsprinzip hat und in sich selbst ihre Befriedigung findet. 4.3.3 Diese Befreiung, die aus der Philosophie die „Wissenschaft der Freiheit“ macht, enthält meiner Meinung nach einen wesentlichen impliziten Verweis auf Spinozas philosophische Auffassung, der mir am Schluss des enzyklopädischen Kompendiums ebenso präsent zu sein scheint wie der ausdrücklich zitierte Aristoteles. Es ist insbesondere der Bezug auf den Genuss, der die Vernunft auszeichnet, die zu einem vollständigen Selbstbewusstsein gelangt ist, der an Spinoza erinnert, näherhin daran, dass sich ihm zufolge Wohlgefallen, Genuss und Seligkeit in der Fähigkeit des Einzeldings verwirklichen, sich der Macht der äußeren Ursachen zu entziehen und die Selbstbefriedigung in der acquiescentia in se ipso zu erlangen. Diese animi acquiescentia ist ein Selbstvertrauen, das nichts mit Resignation zu tun hat und den conatus nicht niederdrückt: Sie ist eine Freude, die aus der Tatsache entspringt, dass der Mensch sich selbst und seine Macht zu handeln betrachtet, und sie hat ihren rechtlich-politischen Gegenwert in der Fähigkeit, sui juris, frei, zu sein. Die abschließenden Worte der Enzyklopädie, mit dem Bezug auf die „ewige an und für sich seiende Idee“, die „sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt“ (Enz. § 577), erinnern an den Schluss der Ethica und rechtfertigen die Definition der Philosophie als Wissenschaft der Freiheit, weil sie die perfekte Tätigkeit verwirklicht, die als Modell und Maßstab für alle Handlungen wirkt14.

14  Aus dem Italienischen von Nina Meyer.

Fokus 2.A Recht, Moralität, Sittlichkeit



Das Verschwinden der Moralphilosophie

Zum Verhältnis von subjektivem, objektivem und absolutem Geist in Hegels Rechtsphilosophie Christoph Jamme

Entwicklungsgeschichte der Vorstellungen Hegels von einer praktischen Philosophie

Beim jungen Hegel tauchen zwei – sehr disparate – Vorstellungen von einer praktischen Philosophie auf: Einmal die Auffassung, dass die Menschen Rechte haben (individualistischer Ansatz beim modernen Naturrecht). Sodann knüpft Hegel an Aristoteles und Montesquieu an mit dem Vorrang des Ganzen vor dem Einzelnen. Beides wird von ihm in seinem Kommentar zu Kants Metaphysik der Sitten zusammengeführt. In Jena setzt sich Hegel dann sehr schroff mit dem neuzeitlichen Naturrecht auseinander (Hobbes). An Potenzen, die einen Staat aufbauen, nennt er Interaktion, Arbeit und Fortpflanzung1. Die Realphilosophie von 1805/06 sucht nach einem einheitlichen Gesichtspunkt dieser Potenzen und findet ihn im Ich-Begriff (Philosophie der Intelligenz und des Willens). Daraus entspringt, dass es 1814/15 in Nürnberg eine eigene Philosophie des subjektiven Geistes gibt und diese Dinge der Rechtsphilosophie entzogen werden (öffentlich angekündigt im 3. Bd. der Logik). In der Enzyklopädie gibt Hegel nur an, wie das Staats-„Werk“ im Ganzen aussehen wird; er hat hier noch nicht den Ansatz der Rechtsphilosophie von 1820. In der Nachschrift von 1817/18 macht Hegel den sonst nirgends bezeugten Schritt, dass er der Rechtsphilosophie als einem Aufweis der entscheidenden Formen der bürgerlichen Gesellschaft (nur exemplarisch!) eine Ableitung der Elemente vorausschickt, die nötig sind, damit überhaupt sittliche Formen auftreten können (und zwar in rechtlicher Hinsicht). In Nürnberg hatte Hegel (wie schon in Jena) Rechtslehre (I. Privatrecht: bürgerliches Recht [Eigentum + Vertrag]; peinliches oder Criminal-Recht [Unrecht + Strafe]; II. Öffentliches Recht) und Pflichtenlehre (nach Kant: Pflichten gegen sich selbst und gegen andere) gelehrt. Hegel muss aber sehen, dass das, was er nach dem Niethammer’schen Normativ lehren muss, nicht mit seiner eigenen Auffassung übereinstimmt, dass der Staat mehr ist: der Staat ist Sittlichkeit, Leben [Legalität und Moralität sind nicht getrennt] und kann überhaupt nicht nur vom Recht gewonnen werden2. Nun 1  Vgl. dazu Habermas 1968. 2  Vgl. Hartmann 1976 (Repr. 2011).

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_008

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hat sich Hegel noch einmal sehr genau mit der Rechtslehre beschäftigt; in Heidelberg tut er den entscheidenden ersten Schritt. Vom bürgerlichen Recht hat er Prinzipien gefunden, nämlich Eigentum, Vertrag, Strafe, die für ihn die Prinzipien des abstrakten Rechts ausmachen, von denen her man einen Staat überhaupt erst als rechtlich ansehen kann (er geht um die Rechtsfähigkeit des Menschen). Von der Moralität her kommt keine Tugendlehre mehr dazu, sondern das Kapitel „Moralität“ wird zu einer moralischen Handlungslehre ausgebaut (Unterscheidung von ‚Wohl‘ und „Gutem“ etc.). Hegel geht es um die Leitfrage, was den Menschen befähigt, in rechtlich verfassten Gemeinschaften zu leben. Das ist ein Neuansatz. Hegel denkt konsequent bürgerlich: nicht Adel und Herkunft, sondern einzig die Leistung definiert den Menschen. Diese Leistung muss rechtlich abgefasst und rechtlich gesichert werden.

Eigenheiten der Rechtsphilosophie von 1817/18

Die sog. Wannenmann-Nachschrift3 enthält keine Einleitung: erstmalig in Berlin 1818/19 (Homeyer) schaltet Hegel seiner Vorlesung eine Einleitung (im Paradestil) vor. Inhaltlich fallen zwei Charakteristika auf: Zunächst die Ausbildung des Privatrechts (eine rechtliche Absicherung des Eigentums wie im „Code civil“), womit Hegel sich von Savignys Recht des Besitzes distanziert. Zum anderen ist das öffentliche Recht vom Privatrecht geschieden und Privilegien sind gefallen4; der Fürst ist nur Funktionär des öffentlichen Rechts, dies ist nicht sein Privatrecht. Hegel orientiert sich am Vorbild des englischen Zweikammersystems. Mit der Ausarbeitung der Rechtsphilosophie ist er in den preußischen Verfassungskampf hineingeraten (sein Plan einer Staatspädagogik, die im Winter 1820/21 erscheinen sollte, wird aufgegeben). Besonders die Vorrede der fertigen Rechtsphilosophie ist durch die Aktualität bestimmt (Kritik an Fries und den Wartburgfestlern, womit Hegel seine eigene Position der Frankfurter Zeit widerruft). Zur Gliederung der Weltgeschichte gebraucht Hegel hier erstmalig (wie in der Enzyklopädie-Privatvorlesung für den Prinzen Gustav) die Lehre von 3  Hegel, Vorlesungen 1. 4  Vgl. schon Verfassungs-Schrift.

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den vier Reichen in eigener Fassung (orientalische, griechische, römische und germanische Welt)5. Dies bleibt für die letzten Paragraphen der gedruckten Rechtsphilosophie grundlegend. Außerdem zieht Hegel Schillers Ausspruch „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ heran6 sowie den Satz „Was vernünftig ist, muss geschehen“ (was Heine wohl später von Gans hat). Hegel argumentiert stets aus der Sicht einer vergleichenden Verfassungsgeschichte und kann deshalb kontinuierlich an seine früheren Arbeiten (Verfassungs-Schrift) wieder anknüpfen. Im Winter 1817/18 kommt Hegel zu seiner endgültigen Systematik (die Heidelberger Enzyklopädie folgte in der Sache noch einem anderen Konzept); tendenziell waren die Inhalte allerdings schon 1805 voll ausgebildet (der Mensch findet seinen Ort in der Arbeit und muss seinen Stand in der Bildung bestimmen). Neu in der Vorlesung vom WS 1817 ist die Ausgestaltung der Moralität als Handlungslehre. Hegel arbeitet dreierlei zusammen: Jurisprudenz, Ökonomie und Geschichte. Beim Aufbau fällt auf, dass der § 69 (Sittlichkeit, Moralität, Recht) singulär ist7. Hegel sagt hier, der entscheidende Schnitt liege vor dem dritten Abschnitt. Die Potenzen als die Ermöglichungsbedingungen des Rechts werden abgedrängt in die Philosophie des subjektiven Geistes, dagegen wird die Rechtsförmigkeit der Sittlichkeit streng herausgestellt. In der Heidelberger Enzyklopädie von 1817 unterschied Hegel noch – recht überzeugend – zwischen theoretischem und praktischem Geist. Dass es im abstrakten Recht um Privatrecht gehe, ist eine irrige (aber oft gehörte) Ansicht; Privatrecht gibt es erst in der bürgerlichen Gesellschaft. Familie und Staat gehören für Hegel nicht in die Rechts- bzw. Vertragssphäre (Staat ist ein geschichtlich gestiftetes Werk)8. Sein Ausgangspunkt ist Hugos naturrechtliche Verarbeitung des römischen Rechts; Savignys Recht des Besitzes wird kritisiert. Nach Savigny ist Besitz nie ein Recht, sondern nur ein Faktum. Diebstahl gehört demzufolge nicht in das Sachenrecht, sondern ins Obligationenrecht. In der Moralität schaltet Hegel die Tugendlehre aus; es geht hier nur noch darum zu sagen, was eine Handlung ist. Der § 135 definiert die Tugend als Rechtschaffenheit (der Citoyen wird nicht mehr gegenüber dem Bourgeois ausgezeichnet). Die Sphäre der Sittlichkeit ist nicht mehr aufgebaut in Oikos und Polis, sondern dazwischengeschoben ist die societas civilis (weil das Eigentumsprinzip so beherrschend geworden ist). Es bleibt das Problem der Stellung des Adels. Die Verfassung muss eine konstitutionelle Monarchie sein. Nach Napoleons Sturz sollen die arrondierten 5  Vgl. Collingwood 1955, 66; und 1927, 311–325. 6  Vgl. dazu Lucas 1982 (Roma 1986), 82–96. 7  Vgl. Hegel, Vorlesungen 1, 82–84. 8  Vgl. dazu Pöggeler 1983, XXXVI ff.

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europäischen Staaten als Fürstentümer konstituiert werden, aber als konstitutionelle Fürstentümer mit 2-Kammer-Systemen (schon in der VerfassungsSchrift kannte Hegel Fürsten- und Städtebank, sprach aber – mit Sieyès – noch von dem ‚Repräsentationssystem‘). Der § 160 erwähnt das Sehnen der Deutschen nach einem Mittelpunkt (im § 320 der Rechtsphilosophie von 1820 macht Hegel sich darüber lustig). Hegel gründet hier den Staat noch nicht auf die Souveränität (wie in der Homeyer-Nachschrift). Gefährlich sind in seinen Augen die politischen Einflussmöglichkeiten der Juristen9. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wannenmann-Nachschrift die These von der Zweiteiligkeit der Hegelschen Rechtsphilosophie stützt: Auf die Lehre von den formalen Elementen zur rechtsförmigen Sittlichkeit (Recht und Moralität) folgt die Lehre von den exemplarischen repräsentativen sittlichen Institutionen (Familie, bürgerliche. Gesellschaft, Staat; Annex: Geschichtsphilosophie [Sittlichkeit]). Die Rechtsphilosophie fügt sich durchaus nicht völlig bruchlos in die hegelsche Systematik ein (so ist etwa die Ästhetik ganz anders aufgebaut: die konkreten Künste folgen auf die Geschichtsphilosophie, nicht – wie in der Rechtsphilosophie – umgekehrt. Die Religionsphilosophie ist wieder anders aufgebaut als die Ästhetik.) Das hegelsche System ist nicht so stringent, wie es erscheinen könnte. Hegel ist nicht so weit gekommen, sich Rechenschaft über sein System abzulegen (die Enzyklopädie wurde stetig umgestaltet). So gibt es keine Begründung bei ihm, warum die einzelnen Disziplinen sich jeweils unterschiedlich herausgebildet haben10. Die Zweiteiligkeit der Rechtsphilosophie ist eine Neuauflage der Jenaer praktischen Philosophie, in der die Potenzenlehre vorgeschaltet war. Es geht Hegel nicht um Gemeinschaften (so behandelt er weder Kirche noch Geselligkeit), sondern um die Rechtsförmigkeit von Gemeinschaften. Diese Rechtsförmigkeit wird begründet durch die Prinzipien des abstrakten Rechts und durch eine rein formale Handlungslehre. Im abstrakten Recht geht es um die Rechtsfähigkeit der Person (in Bezug auf die äußeren Dinge, in Bezug auf eine andere Person und in Bezug auf seine eigene Negation). Es geht hier nicht ums Privatrecht, ein solches gibt es erst in der bürgerlichen Gesellschaft11.

9   Vgl. seine Kritik an den Schreibern in der württembergischen Landstände-Schrift von 1817. 10  Vgl. dazu jetzt Jamme/Kubo 2012. 11  Anders sehen dies Rosenzweig, Ritter.

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Hegels Nürnberger Rechtsphilosophie (Ausgestaltung einer Philosophie des subjektiven Geistes)

In Nürnberg findet eine entscheidende Modifikation der Jenaer praktischen Philosophie statt, und zwar an zwei Stellen: in der Enzyklopädie und in der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre. Im Jenaer Systementwurf I12 war die Geistphilosophie ganz differenziert entwickelt als Drittes neben Logik und Natur. Im Systementwurf II (1804/05) fehlt die Geistphilosophie (nicht ausgearbeitet). Im Systementwurf III (1805/06)13 findet sich eine fast vollständig ausgeführte Geistphilosophie (bisher ausführlichste Deutung von Rosenzweig: Hegel und der Staat). Die Regierung geht aus dem alten Stand (Adel) hervor. Unsicher ist die Gliederung14. Der „wirkliche Geist“, später der objektive Geist, trennt sich vom subjektiven und absoluten Geist. In Nürnberg hat Hegel viermal die Enzyklopädie behandelt: 1808/09 nur die Logik, 1809/10 die Naturphilosophie und 1810/11 erstmals die Geistesphilosophie vollständig ausgearbeitet und im Unterricht behandelt; das Heft von 1811/12 ist nicht erhalten. Die Geistphilosophie teilte sich in drei Abschnitte: 1) Der Geist in seinem Begriff: theoretischer Geist: Gefühl, Vorstellen, Denken (Psychologie) 2) Der praktische Geist/Realisierung des Geistes in Staat und Geschichte oder: Der Wille: a) Das Recht; b) Moralität; c) Der reale Geist ([Familie], Staat, Geschichte) 3) Der Geist in seiner reinen Darstellung (= absoluter Geist): Kunst, Religion, Wissenschaft. Die §§ 65 und 66 vor der Geisteslehre lassen die Phänomenologie herausfallen; es gibt den Unterschied von Anthropologie und Psychologie noch nicht. Nach Kant wird der Staat behandelt unter Recht. Hegel weicht hiervon ab, weil er den Staat unter dem öffentlichen Recht behandeln will. So gibt es ein Sonderkapitel „Der reale Geist“. Das Recht unter dem Abschnitt „Praktischer Geist“ umfasst nur das Privat-(Zivil)- und Kriminalrecht, was für Kant selbstverständlich war; das öffentliche Recht zieht Hegel hier zum realen Geist.

12  GW 6. 13  GW 8. 14  Horstmann verweist A in den Apparat (GW 8, 276).

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Am Rande des Heftes finden sich Tinten- und Bleistiftnotizen, wohl vom Ende der Nürnberger Zeit; Hegel schreibt sich die Gliederung der Logik (1816) an den Rand: 1) 2) 3) 4)

Anthropologie [nachträglich eingefügt] Phänomenologie [später eingefügt] Psychologie: Geist in seiner Realisierung Vollendung des Geistes (absoluter Geist)

1812/13 gliedert sich die Geistphilosophie wie folgt: 1) Phänomenologie 2) Psychologie 3) Praktischer Geist (zuerst umfasst der praktische Geist alles das, was wir später aus der Rechtsphilosophie kennen: Recht, Moral, Staatsrecht, Geschichte) 4) Vollendeter Geist (Kunst, Religion, Wissenschaft) Hegel hat das Niethammer’sche Normativ von Anfang an unterlaufen, indem er den kantischen Entwurf modifizierte (er schiebt zwischen Privat- und öffentliches Recht die Moralität). Begriffe wie „subjektiver Geist“ bzw. „objektiver Geist“ tauchen in Nürnberg nicht auf.

Die Grundlinien der Philosophie des Rechts

Hegel hat das, was er in Jena „praktische Philosophie“ genannt hat, zu einer Rechtsphilosophie umgebildet. Diese starke Verschulung der Philosophie sollte bestimmend bleiben. In Heidelberg hat Hegel 1821 die uns vorliegende Rechtsphilosophie veröffentlicht. Sie trägt zwei Titel: „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ und „Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse“. Der erste Titel zeigt, dass Hegel einen sehr weiten Rechtsbegriff hat. Er umfasst die eigentliche Rechtsphilosophie (erster Teil), die Theorie des modernen Staats (Institutionenlehre und Philosophie der Gesellschaft) und die aristotelische Ethik. Im Kapitel „Das abstrakte Recht“ behandelt Hegel Fragen des Eigentums, des Vertrags und der Strafe, im Kapitel „Moralität“ wird keine Moralphilosophie, sondern eine Handlungslehre entwickelt (es geht um die Frage, wie das Recht in den subjektiven Willen aufgenommen werden kann, z.B. in das Problem der Zurechnungsfähigkeit). Ganz zum Schluss kommt eine Geschichtsphilosophie

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hinzu. Die Moralphilosophie verschwindet. Dahinter steht Hegels These, die Moral solle immer gebunden sein an Institutionen, und die entscheidende Institution ist für ihn der Staat. Zum zweiten Titel: „Staatswissenschaft“ ist das, was bei Aristoteles „Politik“ heißt, und bei „Naturrecht“ denkt Hegel an die neuzeitliche Naturrechtslehre (Hobbes), die zu einer den Staat und seine Souveränität begrenzenden Disziplin wurde. In der Tradition steht das Naturrecht der Staatslehre antagonistisch gegenüber, Hegel dagegen nimmt die beiden Begriffe in der einen Rechtsphilosophie zusammen. In seinem rechtsphilosophischen Ansatz geht Hegel von einem Vorrang des politischen Ganzen vor dem Individuum aus. Die Änderung des Titels von „Praktischer Philosophie“ in „Objektiver Geist“, die von heutigen Einführungen15 übernommen wird, bringt die Gefahr des Verlustes des Normproblems mit sich. Es gibt heute keine Rechtsphilosophie, nur positives Recht und Rechtsgeschichte. Hegel sieht keinen Gegensatz zwischen Naturrecht und positivem Recht; er interpretiert das Naturrecht so, dass es bloße ordnende Macht im positiven Recht ist. Dadurch, dass das Recht einer geschichtlichen Gemeinschaft zugehört und der Form nach differenziert ist, wird es positiv (§ 3). Interessant ist das in § 2 angesprochene Methodenproblem. Hegel fordert für die Rechtsphilosophie als formelle Methode Definition und Beweis und seine Dialektik16. Die juristische Tradition neigt dazu, das definitorische Verfahren auszuschließen. Heute haben Viehweg (und Larenz) eine sog. „topische Methode“ entwickelt17: Das Recht ist kein abgeschlossenes System, sondern man kann nur zu kleinen Subsystemen kommen, die dauernd an die Rechtswirklichkeit angepasst werden müssen. Hegel behauptete von dieser Topik, dass sie der eigentliche Beweis sei. Die heutige Jurisprudenz weicht davon ab, vor allem in der Ablehnung der Dialektik. Wenden wir uns dem Moralitäts-Kapitel zu. Unter Freiheit versteht Hegel den unendlichen freien Willen, der eine abstrakte Spitze hat: die Willkürfreiheit. Diese Willkürfreiheit untergliedert Hegel in einer dreifachen Weise: a) als Zueignungsrecht auf alle Sachen (Eigentum) b) als Zusammentreten zweier Willen zu einem Vertrag c) als Unterscheidung des Willens in sich selbst in ein An-sich und Für-sich.

15  Henkel 1964/1977; Radbruch 2003. 16  „Worin das wissenschaftliche Verfahren der Philosophie bestehe, ist hier aus der philosophischen Logik vorauszusetzen.“ (Hegel, Werke 7, 32) 17  Otte 2006 (2008); vgl. a. Larenz 1960.

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§ 103 vollzieht den Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität. Hegel unterscheidet zwischen der bloßen Rache und der strafenden Gerechtigkeit. Wenn es eine strafende Gerechtigkeit geben soll, muss es einen Willen geben, der ganz mein eigener subjektiver Wille ist, aber trotzdem will, was an sich Recht und damit allgemein ist. Wenn wir diesen Gedanken fassen wollen, dann brauchen wir die Moralität, dann brauchen wir die Willkürfreiheit des einzelnen, aber nicht als ein Recht, sondern auch als Wollen des Allgemeinen. Das, was hier behandelt wird, ist so etwas wie eine „Handlungslehre“18: wir werden darüber informiert, wie die Willkürfreiheit sich in unterschiedliche Weisen ausbildet und zu dem kommt, was wir „Handlung“ nennen. Kants Metaphysik der Sitten gliederte sich in einen juridischen Teil (Rechtslehre) und einen ethischen Teil (Moralphilosophie). Das ist eine sehr alte Unterscheidung. In der Rechtssphäre gibt es bestimmte Rechtsgüter, die mit Zwang eingefordert werden. Anders in der Moralität. Hier muss ich das Gesetz, nach dem ich handle, mir innerlich zu eigen machen, internalisieren. Daher nennt Kant diesen Teil auch eine „Tugendlehre“. An Tugenden nennt er u.a.: die Pflichten des Menschen gegen sich selbst als einem animalischen Wesen (Selbstentleibung, Selbstschändung, Nahrungsmittelmissbrauch), die Pflichten des Menschen gegen sich selbst als einem moralischen Wesen (Lüge, Geiz, Kriecherei), die unvollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst in Anschauung seines Zweckes, die Tugendpflichten gegen andere (Menschenliebe, Vermeidung von Hochmut) und Umgangstugenden (Freundschaft, Liebe). Bei Hegel haben wir einen viel formaleren Begriff von Moralität. Sie sichert die Einheit der gesamten Rechtsordnung und die Einsehbarkeit dieser Ordnung als Freiheits-, nicht als Zwangsordnung. Es geht um den Begriff der Pflicht überhaupt, ein System von Einzelpflichten wird nicht aufgestellt. Kant behandelt den Staat in der Rechtslehre, Hegel erst im dritten Teil der „Sittlichkeit“. Die Staatsphilosophie gehört für Hegel nicht wie für Kant einfach in die Rechtsphilosophie (der Staat ist ein Garant des bürgerlichen/privaten Rechts und eine Institution, die ein öffentliches Recht ausbildet), sondern er fordert für den Staat Sittlichkeit und Gesinnung (was bei Humboldt auf Kritik stieß). Dennoch macht Hegel Moralität nicht einfach zu einer Staatsangelegenheit. Es gibt nämlich verschiedene Formen von Sittlichkeit: die Sittlichkeit der Familie (Pietät) und die der bürgerlichen Gesellschaft (Bourgeoisegoismus). Der Staat muss den kirchlichen Bereich freigeben (Religionsfreiheit). Ethik bzw. Moralphilosophie als etwas Selbständiges im kantischen Sinne kommt bei Hegel nicht mehr vor. Das, was bei Kant die Tugendpflichten sind, ergibt sich für Hegel dann, wenn man die Individuen betrachtet im Hinblick auf die sittlichen Institutionen, in die sie 18  So Derbolav 1975.

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hineingehören. Moral ist für Hegel mithin nur der Versuch des Einzelnen, sich in die Institutionen hineinzustellen. In den §§ 148 und 150 begründet Hegel seine Abweichung von der Tradition der Moralphilosophie mit ihren Disziplinen Güterlehre (heute: Wertethik19), Pflichtenlehre, Tugendlehre20. Der § 148 zeigt, dass die sittliche Substanz sich in einen Kreis der sittlichen Mächte (Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat) gliedert und diese Mächte die Substanz sind, die die Individuen als die bloßen Akzidenzien bestimmen, und indem die Individuen in diesem Verhältnis stehen, haben sie Pflichten. Die Pflichtenlehre kann man somit aus der Rechtsphilosophie herauskristallisieren. Auch Hegel führt also den Begriff der Pflicht ein, nur bleibt er leer und abstrakt, weil er den Begriff der Moralphilosophie zu einer bloßen Handlungslehre formalisiert. Das Individuum, das Pflichten zu erfüllen hat, muss Zustände in sich ausbilden, in denen es seinen Pflichten gerecht werden kann. Diese habitualisierten Verhaltensweisen sind in der traditionellen Lehre die Tugenden. Wie fasst Hegel Moralität dann auf? Er denkt über das Recht hinaus, indem er den Gedanken des „Wohls“ (§ 123) hinzunimmt. Der moralische Standpunkt ist „unendlich“, d. h. man kommt an keine Grenze, von der her man beschränkt ist (§ 105). Das Recht ist an sich, die Moralität für sich unendlich. In der Moralität bin ich nicht nur eine „Person“, die Rechte hat, sondern ein „Subjekt“, das moralisch sein soll, nämlich Pflichten hat. Diese Subjektivität kann man als „Handlung“ bezeichnen. In den §§ 110–113 fasst Hegel zusammen, was er unter „Handlung“ versteht: Ein Inhalt ist in mir, und jetzt kann ich diesen Inhalt in die Äußerlichkeit (Objektivität) übersetzen. Der Inhalt hält sich dann als das „Identische des Zwecks einer Handlung“ durch. Ich verfolge einen bestimmten Zweck und realisiere ihn, indem ich ihn in der Wirklichkeit durchsetze. Damit vollziehe ich eine Handlung. Ich treffe dabei auch auf den Willen der anderen, mit dem ich meinen Willen vereinen muss, d.h. es muss ein gemeinsamer Wille hergestellt werden, eine Objektivität. Im Folgenden führt Hegel drei Aufstufungen der Handlung aus: 1) Vorsatz und Schuld: Hegel unterscheidet die Handlung von der bloßen Tat (§ 118). Das heroische Selbstbewusstsein (Antike) kennt eine Tat, so wenn Ödipus seinen Vater erschlägt und seine Mutter heiratet, aber das ist keine Handlung, weil Ödipus nicht weiß, was er tut. Die antike Tragödie aber macht keinen Unterschied zwischen Tat und Handlung: Ödipus wird bestraft. Die Tat

19  Vgl. M. Scheler, N. Hartmann. 20  Heute Bollnow 1958, Macintyre 1981.

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zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit Vorsatz geschieht und der Täter sich schuldig machen kann. Kritisieren könnte man in diesem Zusammenhang, dass Hegel das Problem der Zurechnungsfähigkeit erst hier abhandelt, obwohl sie schon zur Rechtsperson gehören würde. Hegel kann das aber tun, weil er in der Philosophie des subjektiven Geistes eine Lehre der „Anerkennung“ ausgearbeitet hat21. 2) Absicht und Wohl: Hegel will hier zeigen, dass man die vielen Endlichkeiten und Zwecke, die der Mensch verfolgt, zusammenbringen kann zu einem „Wohl“, dass man aber auf diese Weise nicht zu einem Abschluss des Reflexionsprozesses kommt. Der Begriff des „Wohls“ nämlich ist ein Reflexionsbegriff: zu Vielem gibt man etwas Allgemeines an, aber man kann das Allgemeine nicht so mit dem Vielen verbinden, dass es ausbestimmt wäre (Krösus: Man kann einen Menschen nicht vor seinem Tode glücklich nennen.) Hegel unterstreicht damit, dass das Wohl immer etwas Subjektives bleibt und deshalb vom „Guten“ nochmals unterschieden werden muss. 3) Das Gute ist kein Reflexionsbegriff, sondern ist etwas eigentlich Sittliches, das dem Zufälligen enthoben ist (platonische Idee des Guten). Im Abschnitt „Sittlichkeit“ gibt es zwei Bereiche, wo der Mensch nur das Wohl verfolgen kann, nicht das eigentlich Gute: in der bürgerlichen Gesellschaft (man kann Unterscheide im Eigentum nicht sittlich bewerten) und im Verhältnis der Staaten zueinander. Im § 142 bestimmt Hegel die Idee der Sittlichkeit als die Idee des Guten (Platon). Der Inhalt der Idee der Sittlichkeit wird also abgeleitet aus dem Modell der antiken Polis (republikanischer Staatsbegriff). Der § 157 teilt die Sittlichkeit in drei Teile: die Familie, die bürgerliche Gesellschaft, den Staat. Eine Besonderheit dieser hegelschen Einteilung ist die Aufspaltung des Allgemeinen in die formelle Allgemeinheit der Gesellschaft und die substantielle Allgemeinheit des Staates. Das widerspricht der Tradition der praktischen Philosophie: in der gesamten griechischen Wirklichkeit, besonders bei Aristoteles, gab es nur eine Zweiteilung: die Hausgemeinschaft und die Staatsgemeinschaft. Die Hausgemeinschaft stellt in dieser Theorie nicht nur die Familie dar, sondern der oikos umfasst auch Gesinde (Sklaven) sowie Gruppen von Handwerkern u.ä., die alle dem Hausherrn (despotes) unterstehen. Der Staat (societas civilis) ist eine Verbindung der Bürger, die aber nach antiker Auffassung nicht arbeiten dürfen (Anti-Banausie). Das Haus ist auf Gewalt gegründet, während es Herrschaft im Staate nicht gibt, ist er doch definiert als ein Zusammenschluss der Freien. Ein großes Problem ist für die antiken Staaten der Händler (der schon bei 21  Vgl. Hegel, Werke 3, Kap: Herrschaft und Knechtschaft. Vgl. dazu Siep 1979.

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Homer verachtet wurde). Diese Unterscheidung wird von Hegel aufgehoben, weil nach seiner Auffassung jeder Mensch frei ist (noch für Kant waren dagegen Barbiere keine Bürger). Das Problem allerdings stellt sich dann, wie diese freien Menschen dennoch ein gegliedertes Ganzes darstellen können, in dem jeder verschiedene Aufgaben hat. Hegel unterscheidet daher Familie, Gesellschaft und Staat nach Aufgaben. Er entökonomisiert die Familie (sie hat nur ökonomische Restaufgaben), vielmehr hat sie die Aufgabe, die Naturgebundenheit der Menschen sittlich zu machen. Die Wirtschaftssphäre bekommt eine Eigenständigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft: sie ist die Sphäre von Arbeit, Gewerbe und Handel („Das System der Bedürfnisse“), der Absicherung dieser Verhältnisse durch das Recht („Die Rechtspflege“) und der ständischen Repräsentation („Die Polizei und Korporation“). Der eigentliche Staat hat politische Direktiven nach Innen und nach Außen zur Aufgabe.

Die Stellung der Rechtsphilosophie im System des Hegelschen Denkens

Alle, die Hegel als einen liberalen Denker ausgeben (vor allem Ritter), berufen sich vor allem auf seine Geschichtsphilosophie, wo Geschichte definiert wird als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. Aber Hegel behauptet daneben auch, dass der Staat Selbstzweck sei (§ 258), denn er sei die Verwirklichung des sittlich Guten. Das Gute ist der „absolute Endzweck der Welt“ (§ 129). Um das zu verstehen, bedarf es eines kurzen Blicks auf Hegels Logik der Idee22. Das Gute ist vom Wahren, Praxis von Theorie fundamental unterschieden: die praktische Idee nimmt nicht nur Strukturen der Wirklichkeit auf wie die theoretische, sondern sie erkennt diese als verbindlich an. In den sittlichen Institutionen des Staates geht es nun darum, dieses Gute zu verwirklichen. Die Idee des Guten ist hier aber nur Leitinstanz, sie kommt nicht voll und ganz zum Durchbruch, denn es brechen Reste des Naturzustandes auf, wo nicht das Gute, sondern vielmehr das partikulare Wohl sich durchsetzt (Reichtum). Neben den Ideen des Wahren und Guten kennt Hegel noch die absolute Idee, die er aber in der Rechtsphilosophie merkwürdigerweise nicht näher zu charakterisieren unternimmt. In der Einleitung der folgenden Vorlesungen über die Ästhetik aber greift er auf die Rechtsphilosophie zurück, wenn es dort von der Sphäre des Staates heißt, dass in ihr der Mensch letztlich unbefriedigt bleibt. Also kann der Staat auch nicht „absoluter unbewegter Selbstzweck“ sein, wie es im § 258 22  Vgl. Hegel, Werke 6, 462 ff., bes. 541–548.

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der Grundlinien in deutlicher Anlehnung an die antike Theologie (Aristoteles’ unbewegter Beweger) heißt. D. h. im Staat vermag sich das Gute nicht voll durchzusetzen, das Sittliche kann nicht völlig sittlich gestaltet werden. Deshalb muss über die Staatssphäre zu Kunst, Religion und Philosophie hinausgegangen werden (so kann ich z.B. aus religiösen Gründen die unterschiedliche Eigentumsverteilung durchaus kritisieren). Was kann dann aber noch „Freiheit“ heißen? Sicher hat Hegel nicht – wie Kant – einen formalen Freiheitsbegriff im Sinne der liberalen Tradition (Emanzipation). Freiheit ist für ihn nicht Willkürfreiheit, sondern Hegel geht es um die Frage, wie überhaupt die maßgeblichen Institutionen möglich sind. Hegel will zeigen, dass ein Staat für Freiheit nötig ist, nicht, wie Freiheit im Staate möglich ist. Bei dem Wahren geht es darum, dass die Strukturen der Wirklichkeit ins Bewusstsein gehoben werden; in der Idee des Guten geht es darum, dass dieser Ordnungszusammenhang in der sittlichen Einsicht als etwas erfahren wird, was das Handeln verpflichtet. „Freiheit“ meint nun eben dies, dass der Ordnungszusammenhang (die „Gesetze“ im weitesten Sinne des Wortes) zur verpflichtenden sittlichen Einheit wird und das Leben der Menschen regelt. „Freiheit“ meint also nicht ein Maximum an Entscheidungsmöglichkeiten, sondern dies, dass der Ordnungszusammenhang der Welt den Menschen nicht nur bewusst wird, sondern auch ihr Handeln leitet. Alle Menschen haben nur in begrenzter Weise an diesem sittlichen Guten Anteil. Daher müssen Institutionen geschaffen werden, die die Menschen sozusagen stufenweise dahin führen, dass ihnen Freiheit durchsichtig wird: Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat werden so sittlich notwendig. Bei Kant waren sie einfach vorausgesetzt; Hegel fragt nicht wie dieser, ob es in der Familie oder im Staat freiheitlich zugehen solle, sondern grundsätzlicher, warum es Familie und Staat überhaupt geben solle.

Übersoziale Kriterien in der Theorie sozialer Geltungen Zur pluralistischen Logik der hegelschen ‚System‘-Form des objektiven Geistes Rainer Adolphi Zu den Traditionsbildungen des philosophischen Denkens gehören auch die Linien der Bezugnahme, die mit den Namen einiger großer Programme und Konzeptionen verbunden sind. In ihnen, gemeinhin zu einem jeweiligen „-ismus“ verallgemeinert, bündeln sich Anknüpfungen wie Abgrenzungen, mit denen das Weitere sich zu formieren unternahm. Hier nimmt in der neueren Epoche Hegel zweifellos noch einmal eine Sonderstellung ein. Es gibt wenig, mit dem das Spätere eine solch immer neue Auseinandersetzung betrieb, um das betreffend Eigene zu fassen1. Das berührt spezifisch die großen Konzeptions-Titel und -Themen, die Hegel selbst seinem Denken gegeben hatte, die Titel und Themen, mit denen er es eingeführt hatte: von der mit dieser Weise des Denkens assoziierten Theorie des ‚Begriffs‘ und der ‚Idee‘ bis zur Konzeption der Philosophie als ‚System‘ (und dem damit verbundenen Vorrang der philosophischen ‚Wissenschaft‘ gegenüber aller anderen menschlichen Wirklichkeitserfahrung und Selbstdeutung), von den Konzepten der ‚Totalität‘ und des ‚Konkreten‘ bis zum Gedanken der ‚Vermittlung‘ und dem des ‚Spekulativen‘, vom „Geist“ als dem ‚Zurückkommen aus der Natur‘ bis zur ‚Verwirklichung der Vernunft‘ in der Geschichte. Unter den Positionierungen und Bewertungen hat die Distanzierung von Hegel bzw. ‚Hegelianismus‘ dabei stets einen spezifischen allgemeinen Punkt. Seit der frühen Wendung gegen Hegel und die Erbschaft seines Denkens macht sich dies immer wieder daran fest, in dieser Philosophie, in exemplarischer Verabsolutierung, einen Primat des Logischen verkörpert zu sehen2. 1  Das gilt sicher nicht für alles im gleichen Maße. Manche Identifikationen sind in der Tat als Klischees aus Programm-Debatten und Kämpfen früherer Zeiten, die inzwischen ihrerseits keine besondere Brisanz mehr haben, bewusst geworden und werden nur noch am Rande wiederholt. Doch allgemein ist stets die Bedeutung geblieben, die ‚Hegel‘ bzw. ‚Hegelianismus‘ hatte bei programmatischen Orientierungen in jeweiligen Themenfeldern. – Noch wirkungsbedeutsamer in den neueren Jahrhunderten wohl höchstens der Bezugspol ‚Descartes‘. 2  Oder gar, dass das Schema des logischen Baus oder das Schema der Kategorien regelrecht dazu dienstbar gemacht sei, um eine bestimmte (sachinhaltliche) Begründungsabsicht zu thetischen Aussagen kommen zu lassen. – Dies in zwei frühen Mustern dafür etwa beim

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_009

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Typologisierende Abgrenzungen und Feindbilder haben sicher auch ihre unverzichtbare und konstellational gute, orientierend-heuristische Funktion. Aber in diesem Fall ist der Preis wohl bei weitem zu hoch. Das Bild und die Funktionsstelle ‚Hegel‘ in Prozessen der Selbstverständigung scheinen hier entscheidende Potentiale geradezu zu blockieren. Ich verstehe den konkreten Beitrag Hegels vielmehr so, dass er gerade die Möglichkeit eines offenen Programms gezeigt hat. Dies soll im Folgenden anhand seiner Theorie des „objektiven Geistes“ erörtert werden. In ihr bildet das Logische – und das macht ein Entscheidendes seiner Konzeption wie Bedeutung aus – die weitreichende Einsicht Hegels ab, dass diese Formen des Sozialweltlichen etwas Eigenes sind – in der Sache wie als Theorie – gegenüber der Struktur, Begründung sowie den Gestaltungen des „absoluten Geistes“: damit die Bestimmung einander freigeben kann. Durch eine bestimmte, dabei keineswegs formal angewandte oder geschlossene Logik soll der modernen Entwicklung Rechnung getragen werden, dass Sozialweltliches – darunter wesentlich dessen endliche Prozesse und Realitäten in subjektiven Alltäglichkeiten, Wichtigkeiten und Wertungen – und zum andern die allgemeinen Selbstverständnisse des Menschen als „Geist“, wie es in den Gestaltungen des „absoluten Geistes“ seine Manifestation hat, nicht mehr als ein Einziges verwoben sind, als ein kulturalistisch „Volksgeist“-haftes, sondern als beiderseitig dynamisch-kritisches Verhältnis aufeinander bezogen sind. Die Aspekte der Logik des ‚Systematisch‘Dargelegten, und was ihre Wirklichkeitshaltigkeit ist, die Aspekte von ‚System‘und-Wirklichkeit, sind, wie gezeigt werden soll, hier3 allgemein: Dimensionen von Geschichtshaftigkeit. Es hat denn auch seine systematische wie theorieargumentative Bedeutung, dass bei Hegel die thematische Geschichte – als „Weltgeschichte“ – dazwischensteht zwischen der Theorie der sozialweltlichen Ordnungen des „objektiven Geistes“ und der Theorie des „absoluten Geistes“4. Diese Bewandtnisse ins Bewusstsein zu heben bedeutet einen veränderten Blick. Die differenzierte Reformulierung von Begründungsstücken und Theoremen, die man z. B. Kant immer wieder hat angedeihen lassen, oder in diesem Themenfeld gleichermaßen Locke und Rousseau und selbst Hobbes jungen Marx (Kritik des Hegelschen Staatsrechts, [Ms.] 1843) oder bei R. Haym (Hegel und seine Zeit, Berlin 1857) ausgestaltet. 3  Nicht allein hier, doch hier in herausragendem und vor allem sachinhaltlichem Maße. 4  Innerhalb des Baus des ‚Systems‘ ist – verknüpft über das Zwischenstück der Thematisierung der „Weltgeschichte“ – der „objektive Geist“, mit seinen Formen und seiner wesensmäßigen inneren Dynamik, das Primäre dessen, was ein Eigenständiges gegenüber den Wirklichkeiten „absoluten Geistes“ ist: und zeigt dadurch nicht zuletzt auch indirekt vieles über den „absoluten Geist“ bei Hegel.

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wie Marx, muss dabei auch für Hegel gelten. Hegel darf und muss weitergedacht werden, gegebenenfalls gegen ihn selbst, gegen einzelne seiner eigenen Äußerungen und Einschätzungen. Was dies heißen kann und an Potential enthält, sei hier an einigen Bausteinen verdeutlicht, die Bedingungen einer zureichenden – zureichend komplexen – Theorie, wie sie von Hegel begründet wurde, darstellen: Bausteine dieses offenen Programms, zugleich Differen­ zierungen der Geschichtshaftigkeit5. ‚System‘ zeigt sich als ein KonzeptionsRahmen, der lebensweltliche Erfahrungsdimensionen und desgleichen andere maßgebliche Wissenschaftszugänge nicht nur nicht ausschließt, sondern sie vielmehr problemeröffnend begründet, sie verortet und in Beziehung setzen lässt.

Entsorgung des ‚Systems‘? (Die Idee einer Theorie des „objektiven Geistes“)

Die These vom Primat des Logischen hat stets nur noch einen bestimmten Hegel sehen lassen. Aus der Strömung der Lebensphilosophie heraus war dies dann seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts um die Deutungsfigur potenziert worden, zwischen zweierlei Hegel zu unterscheiden: zwischen der – sei es gerühmten, oder doch zugestandenen – lebendigen Einsicht Hegels und dem Korsett des ‚Systems‘, dem Toten der Theorie-Methode seiner großen Systemschriften. Der Quell der lebendigen Einsicht sollte wieder freigelegt werden hinter den Zwängen, in deren Arme sich der ‚System‘-Hegel begeben habe. Wo in konstruktiver Einstellung, sollte dieser Quell gereinigt werden, um damit den inzwischen dominierenden Wissenschaftlichkeits-Programmen des philosophischen Denkens, etwa den neukantischen Theorien und ihrem als ebenfalls verfehlt angesehenen Transzendental-Logizismus, entgegenzutreten6. Hegel, um ihn zu retten bzw. zu aktualisieren, wurde auseinanderdividiert, bis eine im Letzten als tiefes Metaphysisches verstandene Einsicht und ein falsches Wissenschaftlichkeitsziel des Logischen einander gegenüber standen, Metaphysik vs. ‚Logik‘ (qua Methode, Theorie, ‚System‘). Ein positives Potential der ‚System‘-Methode wurde so gerade auch in dieser Deutungskonstellation nie in Erwägung gezogen, niemals etwas, das in direktem argumentativem 5  Dazu ist zum Zweck der Erörterung einiges analytisch aufgruppiert, was bei Hegel – und auch in der Sache – naturgemäß einen Zusammenhang ausmacht. Manches muss dabei kurz angebunden behandelt bleiben. 6  So die Motivation und die Perspektive der Neuaneignung Hegels seit W. Diltheys Die Jugendgeschichte Hegels (Berlin 1905).

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Gegenüber zu anderen Theorien als ein positiver sachinhaltlicher Ertrag dieser Methode gezeigt werden könnte und sich zu reformulieren lohnte. Alle Vorbehalte galten dabei stets auch der Thematisierung von Sozialität, Gesellschaft, Recht, Staat und Geschichtsprozess bei Hegel. Der Vorwurf lautete dort in einem besonderen Maße auf: ‚Idealismus!‘, Anti-Sozialwissenschaft, Anti-Empirie7. Was Hegel im betreffenden Systemteil „objektiver Geist“ seiner Enzyklopädie und dann dem parallelen eingänglichen separaten Werk der Grundlinien der Philosophie des Rechts ausführe, sei, in Inhalt wie Argumentation, durch ‚Panlogismus‘ und ‚Geschichtsmetaphysik‘ gekennzeichnet, beides gleichermaßen verhängnisvoll. Mit manchen gegenwärtigen Neuaneignungen Hegels, sei es der Konzeption der ‚Anerkennung‘ oder der der Intersubjektivität, die beim jungen Hegel noch nicht den selbstverordneten Schemata des ‚Systems‘ erlegen seien8, oder auch in der vor allem amerikanischen HegelRenaissance aus dem Geist des Pragmatismus9, ist dies im Grunde allenfalls noch zementiert. Im Zustand eines – in Theorie-Bau oder/und Inhalten – universellen Nichtso-wie-Hegel ist es freilich auch müßig, sich noch und noch einmal in die Brust zu werfen mit der Perhorreszierung irgendwelcher ‚Hegel‘ zugeschriebener Theorie-Ziele oder Methoden-Gebote. Zudem ist das meiste der Einschätzungen über die Logik der ‚System‘-Form, einmal genauer besehen, in belangvollen Hinsichten schlicht unberechtigt; und ist auch einfach unfruchtbar in seinen Polarisierungen. Diese Muster eines etablierten Hegel-Bildes und das Potential, das sein Denken birgt, gehen aneinander vorbei. Hegel hatte in der wesenhaften ‚System‘-Gestalt seiner Werke eine veränderte Art Theorie zu begründen unternommen, und diese hat schon allein in jedem Sachfeld eine durchaus spezifische, eigene Bewandtnis10. Für die Thematisierung der Formen von Sozialität, Gesellschaft, Recht, Staat und Geschichtsprozess ist 7   Hegel selbst hatte dem freilich Vorschub geleistet, als er vor allem in der Rechtsphilosophie die Sachthematisierung als begründet aus dem Systemteil der spekulativen ‚Logik‘ einführte: vgl. Hegel, Werke 7, §§ 31, 2/33; auch §§ 141, 280/302. Was die Erläuterung der Hegel’schen Theorie des „objektiven Geistes“ mittels der Struktur der ‚Logik‘ zu verstehen vermag (meines Erachtens: wie wenig), zeigt der Versuch von de Vos 1981. – Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 1830 (Enz) und Grundlinien der Philosophie des Rechts (RPh) werden zitiert unter Angabe der Paragraphen (und ggf. den aus Hegels betreffenden Vorlesungen stammenden mündlichen Zusätzen: ‚Zus.‘); wo wörtliche Zitatstelle, ist der Text entnommen Hegel, Werke in 20 Bänden. 8   Zu Letzterem vgl. etwa Theunissen 1982. 9   Vgl. dazu auch die Perspektive von Hösle 2005. 10  In Bezug auf den zu allen Zeiten wohl am meisten geschmähten ‚System‘-Teil Hegels, seine Naturphilosophie, habe ich dies – Idee, das offene Programm, das produktive

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dies das – durch die ‚System‘-Gestalt zu verwirklichende – Theorie-Programm, statt einer Ableitung aus einer Urform des Es-gibt-überhaupt-Normatives (modern vor allem kontraktualistisch: Normgeltungsansprüche bzw. -Interessen von Entitäten-Subjekten)11 der strukturellen Vielheit von Dimensionen des Normativen, die gerade den entwickelten modernen Zustand ausmacht, zu entsprechen. Es ist kein schematischer Aufbau aus einer – ihrerseits durch Formalcharakteristika zu fundierenden – Basisgestalt von Normativität und ebensowenig ein System im Sinne einer formalen Ordnung oder Rubrizierung. Das würde nur, von je einer Dimension her, die substantielle Pluralität der Normativitäten in der Moderne – plural in den Gründen und Weisen und betreffenden Sozialinstitutionen – vermengen oder nivellieren, unreflektiert oder ggf. auch absichtsvoll. Die ‚System‘-Gestalt vielmehr unternimmt ein Gefüge zu explizieren, ein Gefüge von Mehrerem, irreduzibel Verschiedenem, Gefüge des auch sozialitätsmäßig plural Verfassten12. – Es gibt denn eine Reihe oft wenig beachteter Hinsichten, in denen mit dem Rahmen der Hegel’schen „Geist“-Philosophie und der ‚System‘-Gestalt der Theorie hier gerade Stärken verbunden sind. Im Zustand der Rechte (Der „objektive Geist“ innerhalb der Theorie des Geistes). Wenn Hegel die Formen der menschlichen Sozialwelt als Ausführung über den „objektiven Geist“ – dessen Manifestationen – thematisiert, bringt dies einen weiten und einen engeren Begriff von Normativität zusammen. Der weite fließt aus dem „Geist“-Charakter der menschlichen Sozialwelt und ihrer Identitätswie Integrations-Bildungen; und ist verschränkt, ‚system‘-intern, mit einerseits dem Aufbau der Geistigkeit innerhalb des einzelmenschlichen Bewusstseins, Fühlens, Wollens und Wirkens (Theorie des „subjektiven Geistes“) sowie in anderer Richtung den kulturellen Schöpfungen der Darstellung bzw. Selbstbegegnung des Geistigen in Kunst, Religion und philosophischem Denken (Theorie des „absoluten Geistes“). Der zweite, engere ist der klassisch Verhältnis zu lebensweltlichen Erfahrungsdimensionen und zu den szientifischen Wissenschaftsunternehmungen – darzulegen versucht in Adolphi 1989. 11  Oder umgekehrt: einer dogmatisch organizistischen Bestimmung – Bestimmung aller Formen wie auch Bestimmung von deren Bezügen untereinander nach einem organizis­ tischen Modell. 12  Dies produktive Potential der Hegel’schen Weise von Theorie, Potential gegenüber anderen Ansätzen, ließe sich auch – und Hegel als eine kritische Alternative gegenüber gegenwärtig verfolgten Konzeptionen davon – in einem heutigen Begriff als ihre ‚Sozialontologie‘ darlegen, ihre sozialontologische Bewandtnis qua Gefüge-Bau. – In den durch die Lebensphilosophie gekommenen Mustern sind die verschiedenen bei Hegel eingerechneten Dimensionen von Geschichte eingeschmolzen: eingeschmolzen in ein großes Ganzes von globaler ‚Geschichtlichkeit‘, eben der ‚Geschichtlichkeit‘ von allem.

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‚rechtsphilosophische‘ Begriff des Zugesprochenen und Einklagbaren – was innerhalb des Gefüges der bestehenden Ordnung einer Sozialwelt einem Pol zugesprochen ist als gegenüber einem anderen, und was entsprechend einklagbar ist. Der weite Begriff lässt diese spezifische, gewöhnliche Rede von „Rechten“ eingebettet sein in eine Theorie des Geistigen der menschlichen Wirklichkeit überhaupt. – Im Bezug, d. h. Dimensionsraum dieser beiden Bewandtnisse von Normativität, geht es dem ‚System‘ sachkonkret dabei um den Typus von „Rechten“. Es geht um Bestimmung der pluralen, in Gründen und Weisen und betreffenden Sozialinstitutionen ganz differenten Typen und auch deren Verhältnisse sowie Grenzen gegen einander13. Eine Grundlegung hat dies bei Hegel in einigen rahmenmäßigen Theoriebestimmungen: – Geist ‚ist‘, als was er sich selbst versteht, und dies ist im Letzten, als was und in welcher Dimension seiner Wirklichkeit er seine wesenhafte „Freiheit“ manifestiert: die Mächtigkeit zur Souveränität der Nicht-Naturbedingtheit seiner Formen und Verhältnisse. Und die Gestaltungen des „objektiven Geistes“, diese Formen der menschlichen Sozialwelt, sind das Dasein der Freiheit – die machtvolle Wirklichkeit dessen, dass bzw. in welchen Hinsichten Freiheit ein Sein hat. In ihren sich entfaltenden Formen ist „Recht“ das, was als Freiheit(en) anerkannt (sowie umgekehrt: gefordert, zugemutet) ist; die jeweiligen „Rechte“ sind das, in welchen Hinsichten Freiheit dies ist. Sozialweltlich ist Geisthaftigkeit hier da, eine fest-verlässliche Wirklichkeit und den betreffenden Subjekten entgegen kommend. Geisthaftigkeit steht hier als „eine von ihm [sc. dem Geist] hervorzubringende und hervorgebrachte Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist“ und insofern als in den Gegebenheiten sedimentierte Regel und Imperativ14. – Wir bewegen uns immer schon in einer Welt des Zugesprochenen (oder des demonstriert Aberkannten, von den anderen Nicht-Zugelassenen), gestaltet als bestimmte qualitative „Rechte“. Durch das „Rechte“-Haben sind wir Subjekt, nämlich Subjekt auch im Konkreten; im Letzten sind es jeweilige 13   Unter der (vorblickend-umschreibend gemeinten) Bezeichnung des ‚Übersozialen‘ mögen dabei die Zusammenhänge verstanden werden, die sich durch einige ein- und abgrenzende Bestimmungen umreißen lassen: dieses im Konzept des „Geistes“ Wurzelnde und mittels der Logik der ‚System‘-Gestalt Eingebrachte, was weder konsequentialistisch (oder in präsentischer Aushandelung oder nach einem System-in-Umwelt/Milieu-Modell) begründet ist noch nach Maßgabe eines Kulturalismus oder Historismus; und was weder bloß allgemein-anthropologisch wäre noch metaphysisch. Sondern was geschichtliche Prozesse von Verständnissen (Selbstverständnissen) von „Geist“ verkörpert. 14  Zu diesen allgemeinen Bestimmungen vgl. zentral Enz § 385 (u. Zus.), § 484; Zitat: Werke 10, 32.

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Rechte – typenmehrfache Rechte –, Mit-Subjekt zu sein: Mit-Subjekt in der Sozialwelt. Und umgekehrt ist diese Orientierungswelt der dauerhaft-festen Geltung durch die Einzelnen, in ihren Handlungsweisen, zu affirmieren. In dieses eingefügt – und als ein bestehendes So-verhält-man-sich, eine gelebte Handlungsweise einsozialisiert –, zehre ich nicht nur von dem, dass in den Belangen meiner sozialweltlichen Existenz, Tun und Lassen und Widerfahren, die je meinige geistige Subjektivität anerkannt ist, sondern wir behandeln auch die anderen dergestalt15. Wenn innerhalb der Ordnung etwas – durch Recht – fundiert gegen mich geltend gemacht wird, so ist dies nur ein Sozialitätsstandard, den ich selber in Anspruch nehme und von Anderen erwarte. – Menschliche Sozialwelt, durch ihren „Geist“-Charakter konstituiert, ist denn allgemein der Zustand der „Rechte“. In den Einzelnen, in deren konkretem Willen das Geistig-Vernünftige „das unmittelbare und eigentümliche Element der Betätigung“ hat, ist sie als „Gewohnheit, Sinnesart und Charakter“ – eine in den Sozialverhältnissen regelnde Habituierung, die das Komplement der manifesten Gesetze, der Institutionen und des Machthandelns der Ordnung ist16. Konkret geschichtlich gesehen, ist das, was sozialweltlich gilt und als Formen das humane Miteinander vermittelt, nicht ein durch göttliche (oder metaphysische) Absolutheit Gesetztes; und es sind auch nicht nur Instantiierungen eines einen Meta-Prinzips, sondern ist der Prozess des unter Menschen Erreichten und Errungenen, und da hält nach Hegels Einsicht sich auf Dauer nur, was Anerkennung von Freiheit(en) ist und seine Anerkennung aus Freiheit hat. Das System der Rechte. Das Vielfache der sich differenzierenden „Rechte“, die eine Sozialwelt formen, ist in Hegels Theorie nicht – vormodern – die alte Pluralität von gewordenen Anrechten, jeweilige hochkonkrete materiale Anrechte-auf-…, wie sie im historischen Prozess zusammen gekommen sind, ein jeweiliges Er/Sie-darf (traditionelle Befugnis) von empirischen Einzelpersonen oder besonderen Gruppen. Sondern als Formen ist die Pluralität, das Mehrere des Gefüges – modern – eine der Prinzipien. Und diese wiederum stehen unter dem neuzeitlichen Kollektivsingular ‚Das Recht‘: dass der legitime Sozialzustand einer des Rechts, der Geltung von

15  Insofern ist die Logik der „Rechte“ für Hegel zugleich eine dem Subjekt-Sein inhärente Sozialontologie der Verpflichtungen (und entsprechend Klassen von Gütern): Verpflichtungen, wie ich als Subjekt ‚bin‘ und mich gebe, Verpflichtungen zu einem verlässlichen Sozialhabitus. Vgl. Enz § 486. 16  Enz § 485.

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Recht, ist17. In der Einbeziehung des zu Explizierenden ist es dabei im Großen eine der „Stufe[n]“ von grundlegenden Typen des „Rechts“. Jede hat ihre nicht zu überspringende und auch keineswegs global – von einem etwaigen Absolutheitspunkt aus – revozierbare Berechtigung18.  So auch die Argumentation. Die Argumentation der ‚system‘-mäßigen Explikation ist, auf die den betreffenden Formen von „Rechten“ – anerkannten Aspekten von Freiheiten – entsprechenden Sozialformen abzuheben: und ihr Übergehen in, Umschlagen in jeweils andere zu zeigen. Jeder Typus von „Rechten“ zeigt sich als in seiner Logik zwangsläufig (bzw. als im Prozess seines sozial Wirklichen: in „Wirklichkeit“, „in seiner Wahrheit“) mit einem weiteren, anderen und dessen Logik verwoben. Die Theorie entfaltet sich als: „Rechte“-und-ihre-Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit erweist sich als eine vielschichtige Abfolge, die zusammenkommend dann ein komplexes Gefüge der geistig verfassten menschlichen Sozialwelt bildet. – Wenn Hegel dabei die (mehrfachen) „Rechte“ und ihren Zusammenhang unter die drei großen Typenfelder des „abstrakten Rechts“ von PersonFähigen auf (ver-eignete) Sachen, der innerlichen „moralischen“ Freiheit des Subjekts (im Sinne von Reflexionsfähigkeit und Selbstbestimmung) und der Verhältnisse der „Sittlichkeits“-Gemeinschaften zwischen konkreten Individuen fasst, so sind dies Aufstufungen von Bestimmtheit in den Aspekten der Freiheit19. Im ersten Typenfeld erwachsen Formen des Sozialweltlichen, bei dem im allerersten Anfang das „Recht“ – die anerkannte Freiheit – noch gänzlich unbestimmt in sich ist. Die Generalsubjektivität eines Willkür-Willens entwesentlicht etwas auf sich hin, verakzidentalisiert es zu einer je ‚meinigen‘ „Sache“ (die dadurch zum anerkennungsbeanspruchenden „Eigentum“ wird); darin schafft die Subjektivität eines Einzelnen die „Sphäre ihrer [exklusiven] Freiheit“, die „Rechte“, ihre zugehörigen

17  Vgl. zur Bedeutung der Entstehung des Kollektivsingulars programmatisch Koselleck 1972, XVII f.; dort auch insgesamt der Artikel ‚Recht, Gerechtigkeit‘ (Brunner/Conze/ Koselleck 1984). 18  Vielmehr, dass im Falle von Unvereinbarkeiten oder vorderhand Widerstreitung dem entwickelteren Typus, in seinen Aspekten durch anerkannte, aus Geistigkeit stammende Freiheit bestimmt zu sein – d. h. eine vernunftinhaltlich komplexere, weiter gefasste Freiheit –, eben das sachentscheidende, d. h. betreffend „höhere Recht“ zukommt. Vgl. RPh §§ 30, 33 (u. Zus.); auch §§ 75, 132, 258, 261. 19  Diese Aufstufungen von Bestimmtheit sind zugleich für die Theorie – in einer zweiten, parallelen Bewandtnis von „Bestimmtheit“ – die Entwicklung eines immer bestimmteren Begriffs des Willens.

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Typen, sind von relativ erst „beschränkt[en]“ Anerkennungswirklichkeiten der Freiheit20. Sowohl nach „Sache“ wie nach Subjektivität (Vereignungs„Person“) ist das, was anerkennungsbeanspruchend „Recht“ ist, hier „ausschließend individuell“21 – d. h. die Ansammlung der ereigneten Tatsächlichkeiten dessen. Als geistig verfasste Wirklichkeit ist es der Kosmos der Geltungen, worin Ego und Alter, in ihrer Gleichheit des generellen Als„Person“, Ansprüche auf ein Drittes, entwesentlichte „Sachen“ verhandeln bzw. ausagieren. – Dem gegenüber geht das humane „Geistigkeits“-Wesen, das wir sind, im Typenfeld der anerkannten Freiheiten des „Moralischen“ nicht nur als solche generelle „Person“ ein, sondern wie wir als „Subjekt“ uns immer schon aus inneren Ansprüchen konstituieren – innere Ansprüche auf Bestimmung (Wollen und Wissen) der Selbst/Nichtselbst-Schwelle, mit denen jedes Subjekt aber zugleich eine Normativität in und auch über seinem Sein inthronisiert. Sozialweltlich ist es die ganz andere Logik des Willens in sich, Logik der Handlung (Handlung-meines-Subjekts) und der (geistigen) Zurechenbarkeit22. – Schließlich das Typenfeld der anerkannten Freiheiten der „Sittlichkeit“. Hier lebt, genießt, wird gehalten, wirkt mit und verwirklicht sich der konkrete exis­ tierende Mensch als „Individuum“ einer Wir-Gemeinschaft: die Einzelnen als die Glieder eines Wir, die durch verwandt-harmonischen – oder doch einander als gleichartige und zugehörige Selbstseins-Weise respektierten – intellektuellen und praktischen Habitus, der ihnen zur „zweite[n] Natur“23 geworden ist, verbunden sind. Die drei solchen Sozialwirklichkeiten der 20  Enz § 488; RPh § 30. Was das Sozialweltliche betrifft, so zeigt die Argumentation, wie subjektive Ansprüche, Daseiendes der Welt (Dinge [darunter z. B. auch andere Lebewesen: vgl. RPh § 44 (u. Zus.)], Leistungen, Als-wertvoll-Geschätztes) auf mich als souveränes Verfügungswesen hin zu verakzidentalisieren – insofern auch alle solche Verprivatisierung, alles Exklusive –, nur in einer Welt des Sozialen ihre Wirklichkeit haben (In-Besitz-Genommenes als anerkanntes „Eigentum“); und sie zeigt, wie gerade diese Welt des abstrakten Rechts, des erst formalen Rechts einzelner Subjekt-Parteien, zugleich eine Welt des geschehenden Unrechts ist – sie zeigt auch die zu diesem Recht gehörende Logik von Unrecht (vgl. Enz §§ 492–501 / RPh §§ 82–103). 21  Enz § 496. 22  Zu diesem, zu diesem hierin als berechtigt anerkannten „Subjekt“-Horizont, gehört ebenfalls eine Entwesentlichung: die Entwesentlichung des Kosmos des Bewirkten und Ereigneten auf die Besonderheit meiner innerlichen „moralischen“ Wirklichkeit des Bewussten und Gewollten hin (mit der Kehrseite der möglicherweise sich ergebenden Selbstgerechtigkeit oder statt dessen der Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit). 23  RPh § 151 (u. Zus.), § 4; auch § 161.

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„Familie“, des Systems der „bürgerlichen Gesellschaft“ und der Organe des „Staates“ verkörpern die Einlösung der allgemeinen Verfasstheit des Geistigen im Bestehen der Sozialwelt, auch Ausgleich von einzelmenschlichem Geist („subjektiver Geist“, in den vielen der konkreten Gruppierungen) und je bestehender, gegebener Objektivität der Geistigkeit des Sozialen. Die besondere Subjektivität eines jeden Einzelnen ist hier, anders als bei den Prozessen von abstraktem Recht und Moralität, die – betätigende und genießende sowie ihren Wert empfangende – Form („unendliche Form“24) des Geistes der gemeinschaftlichen Lebensordnung; und erstmals kommt die Dimension von Institutionen mit herein – die Einzelnen als Inhaber einer sozialen Rolle, ihr Tun und Lassen als eine generelle Funktion des sozialen Systems einnehmend bzw. ausführend. Die Einzelnen, wiewohl je sie selbst als konkrete Menschen und im Hier und Jetzt, agieren hier als etwas Allgemeines (Sozialallgemeines). Es ist ein verbindend Geistiges, welches in ihnen – durch die vergemeinschafteten Subjekte hindurch – webt und wirkt; und das genau so lange und genau dort wirklich ist, wo seine Sittlichkeit, in ihrem geschichtlich und gesellschaftlich qualitativen Gepräge, auch gelebt wird. Habituell, sie erfüllend, ist das Tun und Sinnen der Subjekte eines „ohne […] wählende Reflexion“ – nach Hegel die Realisierung ihrer „wirkliche[n] Freiheit“25; so wie umgekehrt sie sich in dem, was die Wirklichkeit ihrer Welt ist, wiedererkennen. Als Sozialwelt ist es eine Welt des Vertrauens. Die Einzelnen26 sind verbunden durch Vertrauen, Vertrauen in einander und Bauen auf die vertraut-festen Formen des als Subjekte Lebens. Was der von Hegel begründete Ansatz als sachliche Aufgabe aufgerissen hat, wird sich denn schon konzeptionell nicht ohne argumentative Einbußen durch eine einfachere Theorieform ersetzen oder entsorgen lassen. Hegels ‚sys­ tematisch‘ gebaute Theorie der Sozialwirklichkeiten des „objektiven Geistes“ zeigt dreierlei – als Gesamtwirklichkeit zusammenspielende – ‚Ontologien‘ des menschlichen Selbst im Sozialen: die ‚Ontologie‘ der „Person“ im Sozialen und ihrer Prozesse; die ‚Ontologie‘ des (zur Selbstbestimmung fähigen) „Subjekts“ sowie seiner Besonderheit, Selbstbehauptung und Stimme; und die ‚Ontologie‘ des „Individuums“ in der Ordnung einer gesellschaftlichen und politischen Gemeinschaft (bzw. ‚Ontologie‘ dieser Gemeinschaften27). 24  Enz § 512. 25  Enz § 514. 26  Die gleichwohl auch dort als verschiedene und partikulare Selbste sich wissen (vgl. Enz § 483), nicht als Masse oder ‚Bewegung‘ oder Zeitgeist resp. Tendenz. 27  Einschließlich deren natürlicher Basis- und Primärgestalt Familie.

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Person, Subjekt, Individuum: im ersten Typenfeld meiner anerkannten Geisthaftigkeit bin ich ein Irgendeiner (faktisch auftretender „Person“-Pol von auf sie zugeordneten „Sachen“ der Welt) und darin wie ein Jeder; im zweiten bin ich dieser Besondere (in sich wollendes und wählendes Subjekt in seinem Sozialen); im dritten bin ich Glied einer Gemeinschaft – im Theorie-Teil der „Sittlichkeit“ geht es um Gemeinschaften. Das dergestalt schon in der elementaren Konstruktion Mehrfache steht für die Einsicht, dass diese zusammenspielenden Anerkennungen bzw. „Rechte“ nicht durch einander ersetzbar sind oder eines als die Subform des anderen ableitbar ist (und vollends nicht alles als Auffächerung einer einen, z. B. kontraktualistisch gestifteten Grund- und General-Normativität).

Wie ‚logisch‘ ist das Logische?

Die Komplexität setzt sich fort ins Einzelne. Indem Hegel das Gefüge der manifesten gesellschaftstheoretischen (‚rechtsphilosophischen‘) Normativitäten, die die Wirklichkeiten des Sozialweltlichen bilden, in den begründend überlagerten weiten Begriff – „Rechten“ eines Wesens qua Geist gegenüber allem, was erst bzw. noch „Natur“ ist – theoretisch eingeordnet hat, zeigt er eine Logik, die gar nicht das ist, was zum allseits fungiblen Feindbild taugt. Diese Theorie ist nicht allein Explikation von (‚rechtsphilosophischen‘) Kategorien, nicht allein Logik der konsistenten Basis- und Erfassungs-Begriffe, sondern ist zugleich Ausführung darüber, was die Wirklichkeit der betreffenden Art Normierung ist: und darin kann es nach Hegels Einsicht keine geradewegs geschlossene Logik geben28, gar mit Unterstellung einer Panlogizität in diesem Sachbereich und eines ontologischen Vernunftmonismus, d. h. geschlossen im Sinne der Vorhaltungen der nachhegelschen Abwendung. – Hierin hat Hegel allem voran zwei grundlegende Grenzen des Logischen gesehen und in die Theorie eingezeichnet. In beidem ist die Theorie gewissermaßen Begründung der Schranken des Begründbaren, ist Theorie als Aufweis des Nicht- bzw. Anderweitig-zu-Begründenden. Logik der Endlichkeiten (Grenzen des Logischen I). Die Konzeption des „Geistes“ und dessen, was dort Erfordernisse und Formen der Theorie sind, hat den einzelmenschlichen „subjektiven Geist“ und das Dasein der Freiheit 28   Sie ist insofern strukturell vielschichtiger als solche Explikation der allgemeinen Begriffsformen („Denkbestimmungen“, „Denkformen“) im ‚System‘-Teil ‚Logik‘ und auch vielschichtiger als die Explikation der Theorie-Formen (angefangen bei der Theorieform ‚Mechanik‘) im ‚System‘-Teil ‚Naturphilosophie’.

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in den Bildungen des „objektiven Geistes“ als Wirklichkeiten endlichen Geistes vermerkt29, und jene Bildungen des „objektiven Geistes“ sind wie überhaupt jeder relativ ‚mittlere‘ Teil innerhalb eines 3-gliedrigen Gefüges30 dabei sogar noch potenzierter dadurch charakterisiert, in ihren (geisthaften) Idealitäten mit Endlichkeit verwoben zu sein (s. u.). Das prägt auch die Logik des ‚Systematischen‘ hier. Eine geschlossene Logik, bei der das philosophischbegrifflich nach Kriterien theorieinterner Entwicklung Explizierte auch alle maßgebenden Prozesse der Wirklichkeit abbildete, kann dieses ‚Systematische‘ schon wegen dieser in der Dimension des „objektiven Geistes“ konstitutiven Endlichkeit nicht sein – allgemein einer Welt der endlichen „Geistigkeits“Wesen (innerhalb einer für sie gegeben-bestehenden „Natur“ und deren Faktizitäten) und der Sozialitäts-Prozesse zwischen ihnen31. Es ist eine gesehene nicht unterbindbare beständige Relativierung überhaupt der Logik einer Ordnung, weil „objektiver Geist“ durch Verhältnisse von Endlichkeiten hindurch sich entfaltet. Und es ist auch bei dieser Endlichkeit – und ihren Folgen für den Typus der Logik – wiederum ein mehrfaches Konkretes dessen. Die Grenzen sind hier nicht allein die Faktizität der Endlichkeits-Subjekte, welche die Einzelnen sind, d. h. was eintritt durch ihre Verwirklichung, eintritt durch ihr (faktisches/zuständliches) Vermögen der Geistigkeit gegenüber „Natur“ (und andererseits unter beeinflussenden Situations-Lagen innerhalb des erfahrenen „Natur“-mäßigen). Es gibt vor allem prinzipiell auch logisch ein zu bedenkendes Recht der Positivität in ihrer Kontingenz – vieles kann gar nicht theorie-allgemein bestimmt werden, sondern bleibt auf ewig eine Sache entweder der Dezision einer Festlegung oder ohnehin besser den gemeinhin unproblematischen ad-hoc-Verständigungen überlassen32. – Hinzu kommen 29  Vgl. bes. den Aufriss Enz § 386 (u. Zus.). 30  Vgl. etwa Enz § 85. 31  Endlichkeiten, die aber zugleich eigene Subjektivitäten sind mit je in sich entspringenden Kausalitätslinien. Das Geistige ist als „objektiver Geist“ „auf dem Boden der Endlichkeit [und darum] behält [dessen] wirkliche Vernünftigkeit die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr“ (Enz § 483). 32  Bei vielem reicht die Logik nur bis zum prinzipiellen Dass, aber nicht bis zur Bestimmtheit eines Was, und das ist auch als genügend anzuerkennen. Ausprägung solcher Berechtigung der Positivität in ihrer Kontingenz sind etwa die Elemente dezisiver Festlegungen in den Gesetzen (bes. wo es um irgend Quantitatives geht), das Urteils-Ermessen der Judikative (oder überhaupt Richterrecht) oder allgemein behördliche Anordnungen. – Hegel hatte dies, mit offener Ironie, vor allem gegen den Reglementierungsfuror, in dessen Fieber die fichtesche Theorie hineintreibt, vorgebracht. Vgl. Hegel, Gesammelte Werke 4, 53 ff. (in: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie), 441 ff. (in: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts).

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dann wenigstens dreierlei weitere wesenhafte Endlichkeiten und entsprechend Grenzen. So zum einen die endliche Dynamik, die resultiert aus etwa der Ausweitung der „Sachen“, d. h. Ausweitung des mit einem „Eigentums“-Status Versehenen der Lebenswelt; oder aus der Fortentwicklung der – die Sozialwelt regelnden – förmlichen „Gesetze“; oder nicht zuletzt aus der Entwicklung der Differenzierung und Spezialisierung („Teilung der Arbeiten“)33. Ferner bestehen Grenzen des Logischen zweitens wegen der nicht (apriorisch) voraussehbaren Mentalitäten des „Moralischen“, dem jeweiligen Stand einer ‚Kultivierung‘ der subjektinternen Reflexionswelt, welche teils als der in Gemeinschaftsformen und Institutionen geronnenen Sittlichkeit entgegenkommend steht oder teils wiederum als diese Sittlichkeit herausfordernd; desgleichen solcherart Grenzen wegen des von Hegel hellsichtig erkannten Nicht-Einzudämmenden der Ökonomie und deren innerer Widersprüche34. Schließlich drittens die Endlichkeit der einzelnen Staatsgebilde als besonderer, die – und der ganze jeweilige „objektive Geist“ ihrer Sozialwelt – damit in profanen äußeren Verhältnissen und Zufälligkeiten zu anderen ebensolchen gelagert sich findet35. Und auch in geistiger Hinsicht stehen wesensmäßige „Kollisionen“ und Konfligierungen gegen eine etwaige Geschlossenheit des Logischen. Auch in geistiger Hinsicht durchbricht die von Hegel gesehene strukturelle Vielheit von Dimensionen des Normativen, wie sie die Theorie ‚systematisch‘ darzulegen und dabei in ihrer differenten Logik zu explizieren unternimmt, eine etwaige Geschlossenheit des Logischen dergestalt, dass im Feld der Realitäten eine Pluralität der sozialweltlichen Koordination wie Integration fungiert, bei der zwangsläufig Fronten von „Kollisionen“ und überhaupt geistigen Konfligierungen eintreten36. Weil alles zuerst einmal Geistigkeit und allgemein „Rechte“ sind und jedes insofern in seinem (je situativen) Horizont als ein Absolutes sich den agierenden Subjektivitäten darstellt, bedeutet die Ordnung der Theorie gerade keine Harmonie in den gelebten Realitäten. „Kollisionen“ sind das dabei keineswegs bloß im äußerlich soziologischen 33  Diese Dynamik betrifft die Sozialwelt der endlichen Einzelnen als inneres System. Sie bedeutet empirische Vorgänge und Schübe einer Verdichtung des objektiv Geistigen, wie sie, nämlich über das systematisch Explizierbare hinaus, lebensweltentscheidend mit hereinspielen in die Wirklichkeit des Sozialen. Über die Dynamik von Prozessen der „Teilung der Arbeiten“ vgl. RPh §§ 197 f. 34  Vgl. RPh §§ 243–245; dieser Prozess bis hin zur Auslagerung des im Innern NichtEinzudämmenden nach außen, als ‚Kolonialismus‘: vgl. § 248 (u. Zus.). 35  Vgl. RPh §§ 331–340. 36  Vgl. RPh §§ 30, 127 (u. Zus.), 171, 289; auch § 150.

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Sinne oder im Sinne einer ethischen Kasuistik, sondern als Divergenz und wechselseitige Relativierung des Pluralen, Divergenz und gewisse wechselseitige Relativierung allgemeiner „Rechts“-Kriterien37, auch innergesellschaftliche Quellen der Artikulation von Erfahrungen und Kritik. Die geschichtlichen Randbedingungen des Logischen (Grenzen des Logischen II). Wie sehr Hegel von vornherein, schon konzeptionell dem entgegengetreten ist, was ein späteres Denken seiner Weise von ‚systematisch‘ gebauter Theorie immer wieder vorwerfen sollte, manifestiert sich auch noch in einer ganz anderen Gestalt. Es ist eine angesichts all der liebgewordenen Klischees ganz unerwartete Gestalt. Eingelagert in die Logik der Formen nämlich sind in der Theorie mehrfache Bezüge – Relativierungen – auf die Wirklichkeit als Geschichte. In höchstem Rang dabei sind dies wohl fünf. Das Erste ist überhaupt der epochale Einschnitt der Voraussetzung der allgemeinen Geistigkeit der Verhältnisse zwischen den Menschen, d. i. die Geschichte der Kämpfe („Kampf des Anerkennens“), in denen das „Natur“-Stadium von Sklaverei, Leibeigenschaft, Fron-Macht, Einziehung des Eigentums, ‚Bauernlegen‘, Handel mit Untertanen usw. durchbrochen wird38. Zweitens markiert Hegels Theorie offen ebenso das aus allem herausfallende, gewissermaßen vor der Klammer des dann Logischen des Gefüges stehende „Heroenrecht zur Stiftung von Staaten“ (Recht!), welche Heroenpersönlichkeiten es aber in der (bestehenden) Sozialordnung und ihren Institutionen nicht mehr mit besonderem Status geben kann, sondern sie zu normalen Bürgern egalitarisiert sind39. Dann drittens der geschichtlich-kulturelle Index des allgemeinen Bewusstseins der Unabdingbarkeit der subjektiven Freiheit und der Besonderheit: wie jeder sich durch seine „moralische“ Reflexion ein eigenes und verantwortliches Handlungsbewusstsein ausbildet und darin auch anerkannt ist – Hegel identifiziert dies, das Typenfeld der Freiheiten der „Moralität“ einführend, bekanntlich als den Unterschied von alter und moderner, konkret „europäischer“ Welt40. Ein vierter zur Theorie gehörender, essentiell in sie eingelagerter Bezug auf die Wirklichkeit als Geschichte betrifft die Entstehung eines Systems „gesellschaftlicher“ Relationen und Prozesse ‚neben‘ bzw. ‚in‘ dem des rein Staatlichen, d. h. Entstehung dessen, dass nicht mehr alle Integration der Glieder und Einzelnen eine durch die politische Einheit, den politischen Organismus ist: Entstehung von Sozial-Formen des Relational-‚Unpolitischen‘ – nach Hegel die Entstehung 37  Bei dem höchstens in geschichtsbezogenen Erwägungen zu Lage und Bedingungen tendenzielle Urteile möglich sind. 38  Vgl. etwa RPh §§ 57 (u. Zus.), 349; Enz §§ 431–436 (jeweils mit Zus.). 39  RPh § 350, vgl. § 93 plus Zus. 40  Vgl. etwa RPh § 124, Enz § 503.

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der „bürgerlichen Gesellschaft“, ausgelöst durch die „Teilung der Arbeiten“41. Schließlich fünftens die höchste weltliche Macht, über allem, über jeder Gestalt einer Sozialwirklichkeit und ihres (besonderen) „objektiven Geistes“ – der Gang der „Weltgeschichte“, als das große „Weltgericht“ über das Dasein des die je besonderen Menschensubjekte in ihrem Zusammenleben verbindenden „objektiven Geistes“42. Es sind charakteristisch Schlüssel- bzw. Wendestellen der Theorie, an denen bezeichnend gerade diese geschichtlichen Thematisierungen, Bezüge auf Geschichte stehen. Mit diesem mehrfachen offen Geschichtlichen präzisiert und zugleich differenziert Hegel seinen Anspruch als Theorie. Alle fünf sind sichtlich notwendig, sachgestaltlich notwendig wie theorienotwendig; und alle fünf haben zugleich unterschiedlichen Status43. Diese Botschaft wollte eine nachhegelsche Denkentwicklung nicht hören. Sie hätte die allzugünstige Abstoß-Vergangenheit ‚Hegel‘ stärker gemacht, als dass die Profilierung des ganz Neuen der Programme, Profilierung eines Epocheneinschnitts so geradewegs möglich gewesen wäre. – Dies hat auch tiefgreifende konzeptionelle Bewandtnisse. Sie sollen in den folgenden Abschnitten in ihren argumentativen Zusammenhängen rekonstruiert werden.

Versuch über die 3-Gliedrigkeit des Systems

Theorie, wie sie von Hegel begründet ist, ist in der bekannten Weise gebaut als ‚systematisch‘ ein Gefüge jeweiliger drei-gestaffelter Sachthematisierungen, so auch hier im Phänomenfeld der Formen des Sozialweltlichen. Diese Charakteristik der Ausführung dieser Konzeption, gemeinhin unter dem Schlagwort ‚Dialektik‘ simplifiziert, betrifft darin nicht nur die drei großen Typenfelder des an Eigentums-„Sachen“ hängenden „abstrakten Rechts“, des subjektiv-selbstverantworteten Handelns („Moralität“) und des Verhältnisses von Gemeinschaftsformen und Rechtsformen („Sittlichkeit“), sondern auch die Unterthematisierungen davon im Konkreten sowie weithin wiederum deren Unter-Untergliederungen. 41  Vgl. RPh §§ 182–201. 42  Vgl. RPh § 340; „nur das Recht des Weltgeistes ist [in der ganzen Logik der pluralen Formen] das uneingeschränkt absolute“ (§ 30). Dieses steht gewissermaßen spiegelbildlich zu dem dem Bau des Logischen der Formgestaltungen vorausliegenden Heroenrecht und dem in Kämpfen um Anerkennung erworbenen Selbstbewusstsein der Geistigkeit. 43  Zum Vierten und Fünften s. unten (Abschnitte Dynamik der Voraussetzungen und Soziale Ordnung und der Fortschritt der kulturellen Errungenschaften).

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Dies jedoch ist kein Formalismus, auch nicht ‚System‘ als schematische Rubrizierung. Wenn das jeweilige Erste als die betreffende „Unmittelbarkeit“ dargelegt ist, das Zweite als Äußerlichkeit, Endlichkeit usw., das Dritte als wahre Einheit und Allgemeinheit der betreffenden geistigen Phänomenalität44, so sind diese – von den Haupt-Typenfeldern bis in die Unter-Untergliederungen – jeweiligen dreifach-zusammengehörenden Darlegungen vielmehr eine Verklammerung verschiedener Sachdimensionen. Dies als Thematisierungsentwicklung, Begründungsgang wie ontologische Bestimmung gefasst, ist der Blick schon argumentativ ungleich komplexer, als es so gut wie sämtliche Hegel-Klischees kolportieren. – Dazu sei hier eine Hypothese entwickelt: ein Versuch, den Sinn der Dimensionalität des (geschachtelt) Dreifachen zu verstehen. (1) Alle jeweiligen drei Teilstücke eines Thematisierungszusammenhangs (bzw. Thematisierungsbogens) sind schon nicht in einem einfachen Sinne linear. Als eine erste (innerhalb eines betreffenden Dreier-Zusammenhangs relativ erste) Dimension expliziert die Theorie jeweilig die Unmittelbarkeit des Auftretens, Unmittelbarkeit des – auftretenden – Daseins von „Geistigem“ ‚in‘ der (Sozial-)Welt: Form eines (betreffenden neuen) Es-gibt. Es ist die Unmittelbarkeit einer betreffenden Phänomenalität, das Überhaupt dieser ihrer Geltungsweise und der dahinterstehenden anerkannten Freiheiten – die Geistigkeit, wie sie sich darstellt als ein Es-ist-so, die jeweilige (neue) Dimensionalität oder Formart betreffenden Geschehens. Gegenstand dieser Theorieteile ist das jeweilige Es-gibt-…, wie es dies deshalb gibt – als Tatsachen der Sozialwelt –, weil es ein bestimmtes („geistiges“) Wollen, genauer eine bestimmte Ausprägungsart von Wollen gibt, ein bestimmtes Wollen in ihm liegt – ein bestimmtes Wollen dabei nicht nur bei Konstituierung-seines-Seins, Geltungsbeanspruchung, Affirmation, sondern zugleich auch bei Akten der Negierung oder des Missbrauchs, der parasitären Ausnutzung45. Ein bestimmtes strukturelles Wollen macht eine jeweilige sozialweltliche Formtatsächlichkeit des Es-gibt. In den jeweiligen Thematisierungszusammenhängen sind diese 44  Dies will selbstredend nicht – und kann vor allem hier auch nicht – die ganze Menge der jeweiligen an den konkreten Sachgegebenheiten herausgestellten logischen Bestimmungen umfassen. 45  Zum Beispiel ganz am Anfang bei der Explikation des (persönlichen) „Eigentums“ – mit der Bedeutung, „Eigentum“, wie immer zustande gekommen in konkreten Fällen, gibt es in der Sozialwelt (vgl. RPh §§ 40–58), und dies als die Basis der sozialen Anerkennung von Freiheitssphären, d. h. des Daseins des Mein-und-Dein, der Einigung über eine Veränderung darin, aber auch Gegenstand von Dissens und Verletzung und der gesellschaftlichen Instanzen des Schutzes und des Ausgleichs sowie der Wiederherstellung.

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ersten Bestimmungen das, was für alles Betreffende gilt – nämlich wenn ein Fall-von-… eintritt, was aber ansonsten von (diesbezüglich) zufälligen Faktoren bedingt und geprägt ist. Innerhalb des zugehörigen Dreier-Kontextes thematisieren sie, in welcher Gestalt die Geistigkeit als – relativ – zweite Natur ist, verschmolzen mit einem Erstseienden46. Die Explikationen des jeweiligen zweiten Theorie-Stücks kreisen stets um die Ereignung des betreffend dahinterstehenden Wollens, Art des Wollens – das, worin das Geistige sich darstellt und vermittelt. Die ontologische Charakteristik der betreffenden Phänomene macht sich fest an: Erscheinung, (relativ) Äußerlichkeit, Sein-im-Verhältnis, Endlichkeit (die vielen Endlichen), Besonderheit (Besonderheiten gegen das einbettende objektive Ganze), Partikularität47, Existenz (Existenz des Vielen der Instantiierungs-Fälle), sowie ferner Entwicklung. Innerhalb des Feldes des „objektiven Geistes“ sind die hier in diesen zweiten Theorie-Stücken thematisierten Phänomene insgesamt die Dimensionalität des betreffend Subjektiven: Sozialweltlichkeit als spezifisch durch Momente des Subjektiven ausgezeichnet, die in den Phänomenen herein- und zum Tragen kommen. – Schließlich das jeweilige dritte TheorieStück eines aufeinander bezogenen Thematisierungszusammenhangs. Es gilt stets dem Prozess, Prozess als solchem: dem Geistigen, welches durch den zugehörigen Prozess sozialweltlich wirklich wird, sich im Prozess, gleichsam performativ, in die zweite Natur des Sozialweltlichen einschreibt – Prozess 46  Etwa was die drei Hauptteile, d. h. drei großen Typenfelder betrifft: dass eine Gegenständlichkeit der Wirklichkeit als „geistig“ (sozialweltlich „geistig“) zugleich mit einer bestimmten Geltungsbedeutsamkeit, zu Verhältnissen des Mein-und-Dein, zur Freiheitssphäre einer exklusiven Person zu gehören (real-faktisch oder potentiell), belegt ist, nicht allein sein außer-menschliches naturales (üblicherweise: physikalisches oder biotisches) Sein umfasst; dass eine manifeste Verursachung in der Welt (sowie auch Nicht-Verursachungen: Unterlassungen) zugleich als die eines bestimmten besonderen Subjekts verstanden (d. h. wahrgenommen, zugeschrieben sowie anerkannt) wird, als seine (gewollte und zurechenbare) Tat; dass ein Zusammen-Leben von menschlichen Individuen, im Unterschied zu allem, was dies naturgemäß auch mit einer Tier-‚Familie‘ oder einer menschlichen Horde teilt, zugleich eine durch geistig gegründete Verbindlichkeiten, Regeln, ‚Institutionen‘ und Wertbindungen verbundene – integrierte – „sittliche“ Gemeinschaft bildet; oder z. B. auch innerhalb des Sub-Prozesses der „bürgerlichen Gesellschaft“, dass die Einzelnen nicht nur allgemeine Mit-Subjekte (Mit-Bürger) eines politisch verfassten Ganzen sind, sondern zugleich Markt-Teilnehmer in einem arbeitsteilig strukturierten System der Güter (warenmäßige Güter für Subsistenz, Lebensverwirklichung, Selbstdarstellung und Sozialprestige) und Träger einer betreffenden „bürgerlichen“ Verbindlichkeit und Lebensweise. Die zweite Natur liegt jeweils in dem typenfeldspezifisch zur Sozialwelt hinzukommenden Dass (Dass eines verschmolzenen Zugleich). 47  Insofern auch: „Entzweiung“ (so bes. in dem Gesamtaufriss RPh § 33).

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des Geltendmachens, Zur-Geltung-Bringens des entsprechenden impliziten „Rechts“, der implizierten Anerkennungen48. Es sind Sozialphänomene im ontologischen Status des Geschehens. (2) Auch haben die – von den Haupt-Typenfeldern bis hinunter in die Unter-Untergliederungen – drei jeweiligen Theorie-Teile, die zusammen einen Thematisierungszusammenhang bilden, im Hinblick auf die eigentlich Agierenden, die Einzelsubjekte („Geist“ in seiner Einzel-Verkörperung) oder GliedGruppierung, einen charakteristisch unterschiedlichen Status. Die Aussagen eines ersten Theorie-Teils bringen hier häufig die Schwelle von (normativgeistiger) Sozialwelt und den vor-rechtlichen Gütern und Wichtigkeiten – den Faktizitäten, was die Ordnung der Anerkennungen zu befestigen und zu sichern hat – in den Blick. Sie behandeln häufig das, was sich zuträgt als Fallvon-…, aber bei dem seinerseits nichts förmlich geltend zu machen ist gegen die mich „geistig“ anerkennenden Anderen, dass mir etwas Bestimmtes zuteil werde. Und es ist, umgekehrt, jeweils das Subjektweltliche, welches Rechte und Anerkennungen hat (bzw. „geistig“ berechtigterweise erwartet) – nämlich so, wie es faktisch auftritt als Lebenstatsachen –, aber wo Andere, mit ihren Rechten und Ansprüchen, schlechterdings nicht eingreifen dürfen in das, wie etwas sich bei mir ergeben hat und ich es will. Es sind gewissermaßen die Räume des Personalen. Für die Einzelnen ist das jeweilige hier charakteristische Es-gibt in Gestalt einer Selbstverständlichkeit und Gewohnheit ihres sozialweltlichen Lebens, Gestalt einer Vertrautheit und eines Rechnens-auf: als natürlich stehende Materialitäten ihres sozialweltlichen Lebens. Strukturell anders die Bewandtnis des jeweiligen zweiten Theorie-Teils. Das Alltagsweltliche der Horizonte der Subjekte, und auch die Erscheinung resp. die Vorgänge des sozialen Geschehens, bewegt stets sich wesenhaft in diesem Zweiten. Und in den Ereignungen des Betreffenden haben – unthematischerweise – affirmierte Anerkennungen statt. Doch zugleich verliert das manifest Geistige sich hier in diesem Dasein auch in der Vielheit der Instantiierungen, verliert sich auch für seine Erkennbarkeit und damit es geschätzt werden könnte. Das konkrete Einzelne ist in manchem an der Schwelle zum nur-Äußerlichen, bloße nur implizit geistige Vollzüge innerhalb eines fes­ ten Systems (welches sie dadurch ihrerseits befestigen und fortschreiben). – 48  Dabei in manchem in erheblichen Bereichen gerade auch das thematisierend, was durch diese Prozesse des Geistigen überformt oder niedergehalten oder eingegrenzt bzw. korrigiert wird, weil – in den Realitäten – unterstellte (und beanspruchte) Anerkennungen und praktizierte Nicht-Anerkennungen natürlicherseits im Widerspruch sind: thematisierend das, wozu diese Prozesse, nämlich als ein als machtvoll manifeste Wirklichkeit Hereinkommendes, erforderlich sind.

Übersoziale Kriterien in der Theorie sozialer Geltungen

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Schließlich im jeweilig zugehörigen dritten der Theorie-Teile sind die thematisierten Sozialphänomene solche, bei denen (bzw. an denen) sich zeigt, wie das Subjektive und dessen Freiheiten, gerade damit sie in ihrem Prinzip wirklich anerkannt bleiben, sich nicht nach betreffenden Eigenurteilen verselbständigen, nicht überhand nehmen dürfen, sondern vielmehr begrenzt und eingebunden bleiben müssen49. Ansonsten gelten die Thematisierungen hier jeweils der Einheit von Welt und (substantialem) Willen, der Einheit von (Sozial-)Welt – deren zuständlichem Dasein von Geistigem, Dasein anerkannter Freiheiten – und Substantialität des Wollens der die Sozialformen praktizierenden Subjekte, letztlichem Wesenscharakter all ihres (betreffenden) Wollens50. Soweit die kleine Hypothese. Sie mag die Weite eines Blicks öffnen, der sehen lässt, wie – über die (eingelagerten) äußeren Geschichts-Bezüge hinaus – eine ganz eigene Art von Geschichtlichkeit in die Theorie qua Theorie hereinkommt.

Dynamik der Voraussetzungen

In allen Feldern seiner ‚systematisch‘ gebauten Philosophie, in herausstechendem Maße aber beim Geist – den Wirklichkeiten des Geistes – und dort im Feld des „objektiven Geistes“, des „Daseins“ anerkannter Freiheiten (geistig freiem Willen) ist in Hegels Theorie der Thematisierungsbogen dreier zusammengehöriger Stücke so, dass er das jeweilige Dritte als „Wahrheit“, als „Grund“ und real als „Voraussetzung“ des betreffenden Ersten und auch des Zweiten – der vielfältigen Besonderheiten des Zweiten und dessen Entwicklung – charakterisieren kann. Explizit ist dies von Hegel hier für die drei strukturellen 49   Zum Beispiel das Subjektive in der Ausprägung als „Unrecht“ und potenziert als „Verbrechen“ wider das Eigentum und den Willen (personale Integrität) eines Anderen (vgl. RPh §§ 92 ff.); das Subjektive in der Berufung aufs „Gewissen“ (vgl. §§ 136 ff.: Umkippen in Selbstgerechtigkeit und bloße Subjektrelativität von gut und böse); oder auch bei der „Familie“, dass das Private dieser natürlichen Gemeinschaft nicht so weit gehen darf, aus irgendwelchen Gründen den Kindern die Erziehung, die Heranbildung zur Mündigkeit und die Freilassung zur Selbständigkeit vorzuenthalten (vgl. §§ 174 f.). 50  Darin zugleich Selbstauflösung einer betreffenden bisherigen Gestaltdimension und Übergang in die (neue) Unmittelbarkeit eines nächstübergreifenden Es-gibt, welches eine Basis entsprechender solider Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten sein muss: eine neue höhere Unmittelbarkeit, damit machtvolle Manifestationen dieses Dritten nicht über Gebühr und allzu häufig heraustreten und das Leben vielmehr in den Alltäglichkeiten des Zweiten fortlaufen kann.

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Gestaltdimensionen seines Theoriegefüges über Gemeinschaften, die gemeinschaftsformend-„sittlichen“ Wirklichkeiten „objektiven Geistes“ herausgehoben: „In der Wirklichkeit ist […] der Staat überhaupt vielmehr das Erste, innerhalb dessen sich erst die Familie zur bürgerlichen Gesellschaft ausbildet, und es ist die Idee des Staates selbst, welche sich in diese beiden Momente dirimiert.“ Und dabei wiederum ist „die bürgerliche Gesellschaft […] die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt; denn als die Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als ein Selbständiges vor sich haben muss, um zu bestehen.“51 Vollends für das, was als einzelne Momente zusammenkommt in einer höheren Form geistig basierten Soziallebens, gilt, dass dies gerade nicht bedeutet, dass sie „[im Sinne einer] zeitlichen Entwicklung als Gestalten“ das Höhere hervorgebracht hätten52: die ‚systematisch‘ gebaute Entfaltung der Theorie folgt mit ihren Teil-Thematisierungen einer Logik, die ein Werden beinhaltet, indes in vielem dem Gang des rein Historischen vielmehr geradezu gegenläufig ist. Doch auch der Primat des ‚system‘-logisch Späteren bedeutet hier keine lineare Abfolge, Genese in einer einzigen zugrundeliegenden Entwicklungsdimension, etwa als logische Re-Konstruktion einer Herausdifferenzierungsgeschichte – stattgehabter einsinnig-etappenweiser Herausdifferenzierungen von Dimensionen des Sozialweltlichen aus dem logisch und ineins real Höchs­ ten, d. h. der Gemeinschaft (Ordnungs- bzw. Integrationsgemeinschaft) des „Staates“. Das Gefüge der drei so unterschiedlichen Thematisierungs-Teile eines jeweiligen Sachzusammenhangs ist vielmehr in einer Weise komplex, 51  RPh § 256 Anm. / § 182 Zus. (Hervorh. von mir). – Dies desgleichen für die anderen Teile der ‚systematischen‘ Explikation der die Sozialwelt konstituierenden Bildungen „objektiven Geistes“ und meist analog auch der Argumentations-Zusammenhang bis zu den Unter-Untergliederungen. Bei den anderen Theorie-Teilen etwa: Dass auf – jemandes Eigen verletzende – Verbrechen der restituierende Rechtszwang folgen würde, ist die Voraussetzung dafür, dass die subjektiven, im sozialen Gegenüber-Verhältnis geltend gemachten Ansprüche-auf-… zu befestigten Sphären des Privaten werden (u. z. als „abstraktes Recht“, d. h. für jedermann, ohne Ansehen dessen, von wem es kommt) und als Gewissheiten des Anerkanntseins eine Alltäglichkeit des Lebens stiften; und ist die Voraussetzung dafür, dass dazwischentretend das große Feld der „Verträge“ beiderseitigen Willens sich entwickelt, als der Form des nicht-verletzenden Übergangs zwischen Mein-und-Dein bzw. der Abklärung von Grenzen. (Wobei Hegel durch die Verschränkung der Theorie-Teile hier von vornherein denjenigen Rechtszwang, den die Instanzen eines modernen verfassungsmäßigen Staates ausüben würden, ansetzt und nicht das Geschichtliche der Vorformen von magischem, religiösem, Sippen- oder Standes-Recht explizit mit einbezieht.) 52  RPh § 32 (Hervorh. von mir).

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dass gerade in dem Ontologischen (Sozialontologischen), welches der logische Bau des ‚Systematischen‘ zu explizieren und zuzuordnen unternimmt, zugleich eine betreffende innere Dynamik eingeräumt ist. Genauer sind es mehrfache Dimensionen von Dynamik. Um dies an den hauptsächlichen Polen des Sozialweltlichen und entsprechend der sachlichen Spannweite der Theorie festzumachen, so ließe sich allem voran auf drei einschneidende Zusammenhänge geschehenshafter Dynamik verweisen. Zuerst etwa der dynamische Bezug von Unmittelbarstem und Höchstem der ‚systematischen‘ Konstruktion. Im Staat erst wird, und in einer durchaus langen und verschlungenen Geschichte, der gewisse zwischenmenschliche Respekt des Dein-und-Mein, der auch im Vor- und Außerstaatlichen dies keineswegs einen Zustand beständigen Raubs sein lässt, zum geltenden „Eigentum“, werden die alltagsweltlichen Austarierungen und die punktuellen Vereinbarungen (per Handschlag oder bei ‚Ehre des Worts‘) zu allgemeinen Anerkennungen sowie Geltungen und zur Entwicklung der Kultivierung von „Verträgen“. Ebenso ein zweiter dynamischer Zusammenhang, der allgemein die Subjektivität des „Moralischen“ betrifft. Denn auch dies ist von Hegel genau als ein strukturelles Werden angesetzt. Das Eigenempfinden und der Eigensinn jedes Einzelnen, die in jedem Zustand sich regen, in dem die Menschen nicht dumpf dahinleben (oder durch soziale Lebensverhältnisse irgend zur Dumpfheit erpresst werden), werden in den verlässlichen Ordnungen eines differenzierten politischen Ganzen sukzessive zu einem allgemein Anerkannten: sich selbst Wert zu sein und das eigne Wohl berücksichtigt sehen zu wollen; und mit der Geltung dieses Subjektiven wiederum entfalten und kultivieren das Empfinden und der Eigensinn sich. Oder drittens bezüglich der natürlichen Gemeinschaftsbildung des Familialen. Für sie ist eine Dynamik impliziert, dass mit der Herausbildung der dazwischentretenden Systeme der „bürgerlichen Gesellschaft“ zugleich gerade auch das Familiale sich wandelt53: und zum anerkannt Privaten der (Klein-) „Familie“ und deren herausgehobener emotionaler Bindungen wird. U. a. m. – Ein übergreifender Zusammenhang der Dynamiken innerhalb des Gefüges der explizierten Gestaltungen sowie deren jeweiliger sozialontologischer Form ließe sich wohl dahin charakterisieren: Ausgangspunkt sind patriarchal verfasste Gruppierungen. Lokale Bildungen, von mal engerem, mal weiterem Umfang, machen das aus, was vor dem Eintritt in die Geschichte steht. Es ist der Zustand der patriarchal integrierten Sippen, deren Leben 53  Was Hegel an der angeführten betreffenden Stelle RPh § 256 Anm. / § 182 Zus. allerdings nicht explizit anführt.

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und Begebnisse das weite Feld der Vorgeschichte füllen54. Den Einschnitt macht dann zuerst, dass das Familiale von Sippenverbänden und demgegenüber so etwas wie Staatlichkeit sich differenzieren. Die primären Schritte sind die Differenzierung von zweiem55. Die Schübe dieser Differenzierung erst geben Bildungen eines sozialweltlichen Daseins „objektiven Geistes“; und sie erst formen den Weg ins tatsächlich Geschichtliche, Beginn von Auseinandersetzungen um Geistiges und Beginn entsprechender kultureller Erbschaften. Es kommt, auch wo anfänglich als Ganzes noch Despotie, zu eigenen Wirklichkeiten eines Politischen; in den Prozessen der Sozialwelt spielen politische Akteure eine Rolle und Funktionen politischer Ordnung, die sich dann zu Traditionen kristallisieren. – Was dabei die Entwicklungen sind, so betreffen sie das, welche Anerkennungen gewährt werden müssen (bzw. verteidigt werden müssen) seitens der übergeordneten Herrschaft, damit die darunter befassten Gebilde des Lebens sich fügen oder dann auch Loyalitäten üben, und betreffen umgekehrt die Etappen des Ringens um das Gebührende. Damit kreisen sie im Letzten um Abklärungen in den Sphären von Willen-und-„Sachen“-der-Welt und dem, was oder wer als Subjekt einer persona Geltung bekommt, d. h. um Abklärungen darin, was im schließlichen ausgebildeten System der Freiheiten zu Sachverhalten von „Eigentum“ wird. – Mit der Dynamik des dort dann wiederum zwischen jene 2er-Polarität dazwischentretenden Systems der „bürgerlichen Gesellschaft“ treten sowohl Wirkungen ein auf die Gestalt wie Legitimität des Staatlichen als auch eben rückwärtige Wirkungen auf die natürliche Unmittelbarkeit des Familialen. Die Staatlichkeit steht nun neben der Emanzipation und den selbstregulatorischen Formen von Produktion, Handel, Gewerbe und „Geselligkeit“ und den ‚systemintegrativen‘ Leistungen dieses Neuen der „bürgerlichen Gesellschaft“; so wird diese Staatlichkeit mehr und mehr zum modernen konstitutionellen und partizipatorischen Gemeinwesen. Und Familie wird mehr und mehr zum Raum besonderer emotionaler Bindungen, während sie zugleich den Einzelnen zum mündigen Teilnehmer an den Märkten der wirtschaftlichen wie geistigen Güter heranbildet. Die natürlichen familialen Bande und Verbindlichkeiten werden hier zur genuin modernen Familie; und zur Sozialfunktion dieser modernen Familie. – Auch diese von der „bürgerlichen Gesellschaft“ ausgehende übergreifende Dynamik gestaltet eine neue 54  S. etwa Hegels geschichtsphilosophische Zuordnung von patriarchalen Sippen- und dann – tendenziell theokratischen – Herrschaftsstrukturen in Hegel/Hoffmeister 1955, 118 f. 55  Dies geschieht gemeinhin durch Einigung oder Unterwerfung einzelner Sippen und dann Völker.

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Dimension des Geistigen als geltender Wirklichkeiten. Die Abklärungen, die mit dieser Entwicklung verbunden sind, sind solche bezüglich des anerkannten Rechts des „Moralischen“, eine zivilgesellschaftliche Kultivierung der „Moralität“, der „moralischen“ Innenwelt des Einzelnen. In der voll ausgebildeten Struktur kommt dann auch Subjektivität-überhaupt integral zur Verwirklichung und zur Erfahrung ihrer Anerkennung.

Soziale Ordnung und der Fortschritt der kulturellen Errungenschaften

Die alle Vormeinungen so auflaufen lassende Konzeption der Verschränkung von Begründungen der Theorie und Geschichte, Geschichte als Prozess, ist im Gesamtbau des ‚Systems‘ des Geistigen in einer ganz bestimmten Weise festgeschrieben. Es ist dies die Thematisierung, für die Hegels Wort von einem über allen sozialweltlichen Wirklichkeiten – allen machthabenden Ordnungen, Geltungen, Normativitäten – stehenden „absoluten“ „Recht“ steht: ein absolutes Urteil über das „geistig“, d. h. aufgrund von und kraft Freiheit Gelten-­ Sollenden, das bekanntlich gerade nicht von einer metaphysischen (oder religiösen, oder auch individualanthropologischen) Wahrheit, von einem überzeitlichen Nullpunkt aus gefällt wird, sondern eben von einem fundamentalen Zusammenhang innerhalb der Geschichtsprozesse. Das „absolute“ ist „das Recht des Weltgeistes“ – des Weltgeistes in seinem alles übergreifenden „weltgeschichtlichen“ Prozess56. Innerhalb des ‚Systems‘ eingeführt über die äußeren Verwicklungen der Ordnungsgebilde des Sozialweltlichen57 – ihrer Mehrheit, Verschiedenheit, Ringen untereinander –, entwickelt Hegel aus diesem Übergang zur nun übergreifend thematischen Stelle der Geschichte in der Theorie des Geistes eine nochmalige bestimmte Art von Geschichtshaftigkeit. Sie ist die offene, bekannte, die unter ‚Hegels Geschichtsphilosophie‘ firmiert, sich aber nun im Kontext ebenfalls neu darstellt. – Diese Stelle, die an so prominenter Zwischenposition steht, insgesamt zwischen „objektivem Geist“ – dessen Gestaltungen – und „absolutem Geist“, sucht einzubringen, wie in der Bewegtheit und den Schicksalen der Geschichte, weil Verwicklungen von geistig integrierten, Verständnisse von Geist verkörpernden Einheiten58, es auch etwas Allgemeineres, Geistiges gibt, worum es sozusagen in den Prozessen geht und was 56  Vgl. RPh §§ 30/340. 57  Wie Hegel sie in seinen damaligen Werken mit den politischen „Staaten“ gleichsetzt. 58  Alles andere liegt vor oder außerhalb der Geschichte.

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auf lange Sicht betrachtet bleibt59  – für die Dynamik und Differenzierung der Gestaltformen und Geltungen innerhalb einer Ordnung ein je faktisches Bedingungsfeld ihrer realen Entwicklung. Das Geschehen bringt, in Akkumulation, ein allgemeines Dasein von Verständnissen von geistiger Freiheit und Anzuerkennendem – es bringt Errungenschaften von „Rechten“, Standards von als Anerkennungen Erwartetem, Erinnerungen des Wo-stehen-wir und Was-ist-heute-das-Sicherzustellende. Alles als Momente einer „Weltgeschichte“ (und deren „absolutem“ „Recht“), sind die Manifestationen der in ihrer prinzipiellen Logik theoretisch‚systematisch‘ explizierbaren Gestalten der Normativitäten der Sozialwelt – mit all ihrer inneren Dynamik der Endlichkeiten – so denn eingegliedert in einen großen kulturellen Prozess: dass das Logisch-Strukturelle, als ein jeweiliges Gefüge und Ganzes, zugleich übergreifend eine ‚Evolution‘ seiner geis­ tigen Verfasstheit durchläuft. Von den ersten Anfängen an, bedeutet darin jedes Weitere, einmal zur Wirklichkeit geworden, auch einen doch höheren – relativ zu Vormaligem höheren – Stand des Sozialweltlichen, Stand der Integration und Identität, der dann auf lange Sicht tendenziell irreversibel, nicht einfach umkehrbar ist. Alles musste, durch gleich welche kontingenten Faktoren, in der Tat zuerst einmal entstanden sein: ist jedoch von da an eine Faktizitätsbedingung im Prozess der Geschichte, nicht zuletzt auch für die Behauptungsfähigkeit sowie die innere Organisationsmächtigkeit gesellschaftlich-politischer Ordnungen. Diese Schritte heben strukturelle Stadien des Prozesses voneinander ab – in ihrer höchsten Typik sind es „weltgeschichtliche“ Epochen. Sie markieren jeweilig Bedingungen des einer Logik der Normativitäten gemäß wirklichkeitsweltlich Eintretenden, markieren einen strukturellen Stand des – genauer: des verheerungslos – Möglichen und NichtMöglichen (Noch-nicht-Mögliches oder Nicht-mehr-Mögliches). In dieser Hinsicht stehen Hegels viel besprochene vier „welthistorische Reiche“ (das orientalische / griechische / römische / germanische Strukturstadium)60 59  Genauer erwogen, macht die Stelle indirekt wohl zugleich als Komplement geltend: dass innerhalb der einzelnen Ordnungsganzheiten sich, weil geistig, in allem der Gestaltungen auch ein gewisser allgemeinerer Horizont eines Geschichtsbewusstseins herausbildet, das das je Wirkliche begleitet. 60  Vgl. RPh §§ 350–360. Die Zuordnungen, Benennungen und weiteren Implikationen in der konkreten Deutung sind hier nicht von Belang. Entscheidend ist die Konzeption einer solchen ‚Evolution‘ des Geistigen – der geistigen Verfasstheit – der Sozialwelt. – S. auch die leicht anderen, hinzukommenden Bestimmungen in der thematischen Geschichtsphilosophie: Hegel/Hoffmeister 1955, 242–257 (dort auch die passendere Rede von „Welt[en]“, statt der von „Reichen“ aus den Begriffskonnotationen von Geschichtstheologie und traditioneller ‚Geschichtsphilosophie‘).

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für ein Evolutionsgeschehen, das gleichsam rückwärtig in die allgemeinlogische Struktur des Sozialweltlichen, wie die Theorie sie expliziert, eingreift – parallelgeht und sich in die Dynamik hinein abbildet. Diese vier „welthistorischen Reiche“, in welche Geschichtshaftigkeit die Gestaltungen „objektiven Geistes“ insgesamt eingebunden sind, sind in einer allgemeineren Bedeutung auch jeweilige Aufgaben, das die Menschen verbindende Geistige – was Leben und Zusammenleben sind als geistig – sozialweltlich zur festen Wirklichkeit zu bringen, jeweilige Transformationen des Geistigen in seinem Verhältnis zu „Natur“. Wenn (nach dem bekannten Diktum) ihre strukturellen Unterschiede einen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ abbilden – die Betonung liegt hier auf „Bewußtsein“61 –, so bedeutet dies, dass die betreffende Verfasstheit der Sozialwelten, die Ordnungen, Geltungen, Normativitäten auf strukturell auf einander aufbauenden „Prinzipien der Gestaltungen [des] Selbstbewußtseins“ des Geistigen basieren62, d. h. des Selbstbewusstseins davon, in seinem Wesen Freiheit zu sein: Freiheit gegenüber „Natur“ und darin Selbstbestimmung. Geschichte kommt hier in den Stand des „Rechts“ und der zugrundeliegenden Anerkennungen nicht nur als historisch-lokale Ausprägung und als empirische Entwicklung, sondern als strukturelle ‚Evolution‘ des geistigen Charakters der sozialweltlichen Geltungen. Die vier „weltgeschichtlichen“ Epochen – und jede hat dabei ihre je charakteristische innere Dynamik – sind eine Entwicklung auch des Rechts (d. i. Entwicklung von Geltung), sie stehen als grundlegende Stufen der Rechts-Förmigkeit. Mit ihren jeweiligen Gegebenheiten verändern sich die prinzipiellen Prozesse – Horizonte – von Integration, von Handlungsfähigkeit/Funktionalität und von Identität. Um eine evidente Seite davon herauszugreifen, so ist es im Ganzen eine Entwicklung, in der das grundlegende Normativitätsverhältnis, das zu aller Entstehung und Etablierung von Anerkennungen und Geltungen gehört, zum Austrag kommt: die Spannung zwischen Inklusion und Identität. Und in jedem der Stadien geht es dabei um Errungenschaften, die erst in Auseinandersetzungen und in Bewährung sich haben durchsetzen müssen. Im Stadium, das Hegel weltgeschichtlich als das der „orientalischen Welt“ ausmacht, ist dies charakteristisch der Kampf um Einigung und ihre Aufrechterhaltung – Vereinigung zu einem herrschaftlichen Zweck, Führerschaft, Unterwerfung zu Gehorsam und Dienstbarkeit; im Zentrum steht das Problem der Handlungseinheit, Einrichtung von (befriedeter und intern herrschaftsfunktionaler) oberhoheitlicher Ordnung, Bildung von Staatlichkeit und deren Handlungsmacht. Die 61  Hegel/Hoffmeister 1955, 63; vgl. RPh § 352 / Enz §§ 548 f. / Hegel/Hoffmeister 1955, 59 ff., 155–157. 62  RPh § 352.

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Herrschaftsgebilde („Naturstaaten“) sind theokratisch, ohne Unterscheidung von Religiösem, Moralischem und Politischem. Anders als diese Reiche (meist Großreiche) mit sich ausspannender Inklusion sind die Gesellschaften des „griechischen“ Stadiums ausgerichtet auf kulturelle Identität und die darüber vermittelte substantielle Integration. In ihnen entwickeln sich Partizipation und Elemente von Deliberation, eine daraus erwachsende innere Selbstgestaltung. Das Sozialmodell ist die Stadt, die jeweiligen Poleis im Plural. Doch sind gesellschaftliche wie politische Partizipation und Deliberation weithin noch traditional begrenzt, eingeschränkt auf die je eigene Identitätstradition und restriktive Definitionen des Status als (vollen) Mit-Subjekts63. Das Stadium der „römischen Welt“ dann und ihre Erbschaft bringen die Errungenschaften der formal-bürokratischen Administration, Entpersonalisierung von Funktionen und Ämtern, Ordnung nach öffentlichen Verwaltungs- und ‚Rechts‘-Regeln ein64. Es ist der Zustand, der für die Entstehung des Rechts im modernen Sinne steht. Unter dem Druck der erstrittenen anerkannten Berücksichtigung – besiegelte ‚Rechte‘ stehen hier in einer Entwicklung, erwachsen im Allgemeinen in einem Prozess des innergesellschaftlichen Kampfes-um-Rechte – entsteht indes eine Dynamik der unendlichen Inklusion, die zunehmend keine bestimmte Identität (Identität des Ganzen) mehr auszubilden bzw. zu wahren erlaubt. Es ist der Staat als Verwaltungsstaat und sein inhärenter Laizismus, ja Indifferentismus – die Ausbildung von Systemrationalität und ihrer seither fungierenden Institutionentraditionen, nach Hegel bei einer gleichzeitigen Atomisierung des Privatlebens, Schwinden eines Bürger-Ethos, zunehmender Sprödigkeit der Einzelnen untereinander, die auch vor dem Innern der Familie nicht Halt macht65. Und schließlich in der von Hegel als „germanische Welt“ bezeichneten Epoche kommt es, hervorgehend aus dem Ringen zwischen den Institutionalitäten des Lebens im (bestehenden) Weltlichen und den zunächst im Religiösen gegebenen Werten wie Selbstwert der Einzelnen, zur Herausbildung der Zivilgesellschaft. Ihre innere Dynamik macht nach Hegel die jeweiligen besonderen Gemeinwesen zum ers­ ten Mal strukturell krisenstabil. Die vier von Hegel bezeichneten großen, epochendefinierenden Stadien des „weltgeschichtlichen“ Geschehens bedeuten eine jeweilige grundlegend 63  Die Naturseite und Alltäglichkeit etwa bleiben von den Wichtigkeiten des Geistigen und der Prozesse der Identität dadurch ferngehalten, dass sie von dem – zwangsläufig zu dieser Stufe gehörenden – Stand von Nicht-Mitsubjekten, dem Heer der Sklaven (aus heutiger Sicht muss man hinzufügen: und den Frauen), besorgt werden. 64  Anders als das persönliche Erfordernis des ‚Kulturstaats‘ wie in den griechischen Poleis. 65  Vgl. Werke 12, 348 f.; RPh § 180.

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differente Verfasstheit der Sozialwelten bzw. deren Ordnung, Verschiedenheit auch im zugrundeliegenden Verständnis menschlicher Geistigkeit und anzuerkennender Freiheiten. Sie mussten, auf einander aufbauend und mit ihrer je charakteristischen inneren Dynamik, zusammenkommen im historischen Prozess, damit das Gefüge der vielen Normativitäten, welche zu explizieren die Aufgabe der Theorie ist, in seine volle, in sich differenzierte Gestalt kommt. Die vier weltgeschichtlichen „Welten“ stehen für – durch die Geschichte belegte und in den Traditionen der Bedingungen einer entfalteten sozialweltlichen Wirklichkeit zur Festigkeit gewordene – allgemeine Strukturerrungenschaften der Geistigkeit des Sozialweltlichen.

Das System als Kritik

Hatte die Fundamentalabgrenzung gegen Hegel ihm wegen der Stellung der Logik der Methode in der Konstruktion des ‚Systems‘ eine generell verfehlte Bestimmung der Phänomene des Sozialweltlichen vorgehalten, so ist umgekehrt aus dem erkannten (mehrfach geschichtlichen) Sinn des Logisch‚Systematischen‘ ein prinzipieller Blick auf das angesetzt Logische qua Methode zu werfen. Dazu hier, um einen Bogen zu schlagen, drei perspektivische Bewandtnisse. – (1) Wenn bei Hegel der Aufbau der Theorie sich als die Darlegung von „Stufen“ von charakteristischen „Rechten“ und „Reihe von Gestaltungen“ begründet66, beinhaltet dies klarerweise auch eine tiefe metatheoretische Aussage. Es stellt sich allgemein gegen das aus den neuzeitlichen Naturwissenschaften und der daran ausgerichteten (szientistischen) Erkenntnistheorie übertragene Modell der analytisch-synthetischen Wissenschaftsmethode: gedachtem Aufbau alles Höheren aus ontologischen Elementar-Entitäten oder -Kräften, sei es als tatsächliche realhistorische Entwicklung verstanden oder als universalisierbare geltungs- und legitimitätslogische Begründung. Statt dass der Rückgang auf ein ontologisch Einfaches, wie es hier in diesem Phänomenfeld die Subjekt-Souveränität wäre, von der, in Schritten, alle weitere Geltungszusprechung bzw. -anerkennung sich ableitete, der archimedische Punkt der Begründung sein könnte, hat nach Hegels Argumentation das theorielogisch Frühere sein Bestehen – nämlich in der phänomenwirklichen Typus-von-„Rechten“- und Anerkennungs-Gestalt – vielmehr nur zusammen mit dem Letzten und Höchsten einer „geistig“-normativen Struktur des Sozialweltlichen und gerade durch dieses. 66  Vgl. RPh § 30 / § 32.

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Die logisch elementareren Ausprägungen von sozialweltlicher Normativität, nämlich wie an ihnen viele Theorien sich festgemacht haben, um von dem her die höheren Bildungen zu begründen, d. h. aufzubauen, sind in Hegels Bestimmungen in einer Realbewandtnis entwickelt, worin sie, gerade indem sie ‚systematisch‘ eingebunden sind und als etwas Notwendiges wie Berechtigtes aufgenommen sind, sich als letztlich „unwahre“ und als „nicht für sich bestehend“ zeigen, sondern als bestehend nur in einem Höheren67. Ohne in einem gemeinschaftlichen gelebten Dasein der „geistig“ vermittelten Freiheiten vereinigt zu sein – in der Habitualität von Zutrauen und als selbstverständlich erfahren sowie auch einem entsprechenden ‚hermeneutischen‘ Wissen um diese „sittlichen“ Wirklichkeiten und ihre Institutionalitäten –, wird aus der Normativitätsdimension elementarerer Manifestationen menschlicher Geistigkeit sich ein Ganzes der Integration und Koordination nicht synthetisch herstellen lassen. Doch eben keine der dargelegten Freiheiten wird in diesem Gang des ‚Systematischen‘ der Theorie als schlechthin grundlos und geistig un-berechtigt negiert, d. h. herauskritisiert, vielmehr nur in ihrer jeweiligen Absolutheit eingeschränkt. Weder Zwecke des Abgrenzend-Privaten noch Bewertungen und Zwecke des Weil-ich-das-als-gut-und-berechtigt-so-sehe, weder Interessenhorizonte des (exklusiv) Mein-Eigen noch mein subjektiv bewertetes persönliches, besonderes „Wohl“68 sind denn Selbstzwecke – können ein Letztes der Normierungen und Legitimität sein. Sondern es geht darum, wie das Verständnis und die Anerkennung meines besonderen Wohls, mich in etwas wiederzuerkennen, und wie Privatheit, Eigentum und Freiraum-meinerSelbstgestaltung angesetzt werden müssen, damit sie als integriert, als eingefügter Bestandteil positiv beitragen zum Leben des Mit-einander69. Ansonsten sind, so darf man Hegels Einsicht in heutiger Theoriesprache verallgemeinern, das Anfängliche Normierungs-Gedanken: reflexive Gedanken, die unter Realbedingungen des Höheren (sowie bei Bedingung von Freiheitsgraden der Reflexion) sich formen, Gedanken der Selbstverständigung und auch des sozialen Kampfes-um-Errungenschaften. Das von Hegel ausgestaltete Theorie-Programm ist insofern auch eine Kritik – Relativierung und zugleich Rekonstruktion – von theoretischen Normativitätskriterien und von Theorie-Standpunkten. Darin steht es nicht nur gegen alle in einer 2er-Relation denkenden Modelle von Phänomenbestimmung und Begründung, 2er-Relationen von Legitimierendem-und-Legitimiertem bzw. 67  RPh § 32 Zus. 68  So im Hauptteil über ‚Moralität‘, d. h. Hauptteil über die (anzuerkennenden) „Rechte“, besonderes Subjekt zu sein. Vgl. RPh §§ 122–127 / Enz §§ 505 f. 69  Vgl. etwa in RPh § 130.

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Elementarzwecken-und-dienenden/sichernden-Gesellschaftsinstitutionen. Die komplexe Verschlungenheit der „Voraussetzungs“-Verhältnisse – und die (mehrfältige) Offenheit der Logik für die eigenwertigen Prozesse geschichtlicher Entwicklung und nicht zuletzt einfach Faktizität (s. o.) – wird auch generell sich nicht in ein Begründungs-Modell analog dem des Theorieaufbaus von auf Gesetzes-‚Erklärungen‘ abhebenden Standard-Naturwissenschaften und deren Erkenntnistheorie bringen lassen. Die ‚systematische‘ Darlegung der Ausprägungsformen und Kategorien des Sozialweltlichen, und darin zugleich Darlegung der prinzipiellen theoretischen Normativitätskriterien und Theorie-Standpunkte, wird sich nicht entschränken lassen: wird sich nicht auflösen lassen in einzelne lineare Konstitutions- resp. Legitimierungs-Beziehungen70. Was die Logik der Theorie ist, die Weise der ‚systematischen‘ Darlegung, wird sich denn nicht zu einem irgend universellen Begründungs-Schema, gleich welcher Art, formalisieren lassen. Es kann nirgendwo, in keiner Dimension des Sozialweltlichen oder eines Typus-von-„Rechten“, am Ende ein einziges Letztes stehen71; und das Ganze und seine Dynamik, als Gestalten des „objektiven Geistes“, d. h. des „Daseins“ (Geltungs-„Daseins“) unserer menschlichen Freiheit, lässt sich nicht – es sei denn um den Preis, alle von Hegel gesehenen und eingerechneten geschichtlichen Perspektiven zu verlieren – auf irgendeine Generalrelation zurückführen, vollends keine nur 2-gliedrige. Das ‚Systematische‘ der hegelschen Konzeption von Theorie vielmehr hat stets ein in sich Mehreres – und unter den Mehreren: das (dynamische) Verhältnis und den (niemals ganz reinen) Ausgleich – im Blick. Es ist ein Mehreres, in dessen sozialontologischem Gefüge nicht eine eine Allgemeinheit dominant ist, sondern eben verschiedene Normativitäten zusammenkommen – dynamisch zusammenkommen: verschiedene teils subjektweltlich basierte, teils gelebte

70  Letzteres etwa weder in einer Begründung aus ursprünglichem (Privat-)Eigentum noch einer Moralitäts-Begründung der sozialweltlichen Geltungen wie Institutionen (sei sie utilitaristisch oder kantisch-fichtesch), weder in einer Begründung aus der patriarchalen Autorität eines unumschränkten Oberhaupts-der-Gruppe und dessen zugleich (materialem) Paternalismus, paternalistischer Sorge, noch aus den Erfordernissen des (arbeitsteilig-pluralen) gesellschaftlichen Systems und dessen ökonomischer Prosperität. 71  Auch die Rolle von ‚Geist‘ und ‚Freiheit‘ ist gerade nicht, dass alles nach einem einzigen (durchlaufenden) Parameter zu begreifen – und seine Realitäten zu begründen – wäre, alle Sozialwelten (und ebenso geschichtliche Entwicklung) in einem gleichsam modularen Verständnis von Aufschichtungen autorisierter Sozialinstitutionen. – Im Übrigen ist in Hegels Theorie des „objektiven Geistes“ in signifikant mehrfacher Hinsicht und Bedeutung von „Stufen“ die Rede. Das entsprechend aufzuschlüsseln wäre aber noch einmal ein ganz eigenes Thema.

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Gemeinschaftswirklichkeiten verkörpernde Normativitäten eines übersituativ als Geltungsprinzipien „geistig“ Etablierten. Statt des verschrienen ‚Panlogismus‘ sucht die Hegel’sche Konzeption von Theorie – mittels der ‚systematischen‘ Darlegung – darum im Gegenteil das Defizitäre anderer Verständnisse wie Kriterien von handlungspraktischer ‚Allgemeinheit‘ und normativitätslogischer Begründung zu zeigen. Dies ist sowohl das Defizitäre in der konkreten Sache, d. h. den sozialweltlichen Wirklichkeiten der Prozesse, wie das Defizitäre in der implizierten Logik, was das Betreffende jeweils als Theorie (Gesamttheorie) bedeuten würde. Es ist gemeinhin gerade das in seiner Absolutheit Eingeschränkte untergeordneter Prinzipien und Theorie-Standpunkte, an dem sich eine Formalität der betreffenden ‚Allgemeinheit‘ erweist: formale und abstrakt logische (abstrakt handlungslogische) Kriterien einseitig über die – allemal komplexen und dynamischen – Zusammenhänge sozialweltlicher Wirklichkeiten zu stellen. Hegel zeigt kritisch an anderen Standpunkten das, was man ihm immer wieder unterstellen wollte. (2) Die in Hegels Theorie des „objektiven Geistes“ ausgestaltete einschneidend veränderte Weise von Begründung bedeutet zugleich insgesamt einen charakteristischen Begriff der Subjekthaftigkeit des Subjekts: einen Begriff, der mit der Konzeption des „Geistigen“ verbunden ist und sich von dem Binnenverständnis des Einzelnen, von dem andere Theorien ausgehen (bzw. das sie begründungsheischend ansprechen), unterscheidet. Bis zu Hegel schien es ein Erfordernis, den geschichtlichen Gegebenheiten der Moderne – Gegebenheiten persönlicher Anerkennung eines Jeden (unabhängig von Geburt, Stand und Vermögen), freier Lebensgestaltung und faktischer Pluralität – dadurch zu entsprechen, einen Begriff von Subjektivität vor den sozialen Formen, gegenüber denen (bzw. in denen) dem Einzelnen daraus absolute Rechte erwüchsen, anzusetzen, so wie andere Theorie-Programme dies in ihren verschiedenen Weisen denn auch getan haben. Hegel unterläuft dies scheinbare Erfordernis. Die geistig vermittelten Anerkennungen und Geltungen lebend sowie umgekehrt erfahrend, ist das Subjekt das Betätigende und als dies muss es auch in der Tat mit seinen Interessen sich in den bestehenden Sozialwirklichkeiten wiederfinden können72. Doch ist es Subjekt nicht als die Gedankenchimäre eines atomisierten Willkür-Ursprungs, sondern ist in seiner konkreten Subjektivität je ein qualitatives, sozialisiertes, situiertes, integriertes. Die Regungen – und dann Selbsterfassungs-Gedanken wie normativen Ansprüche – der Subjektivität sind (gewordene) Bildungen innerhalb eines Ganzen von zugesprochener und erfahrener Geistigkeit. Statt eines NullstellenBegriffs von ‚Subjektivität‘, statt überhaupt einer einseitig gerichteten 72  Vgl. Enz § 475 (u. Zus.).

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Begründung, sucht Hegel die komplexen Gestaltungen – und deren dynamische Verhältnisse – zu explizieren, wie Subjektivität, nämlich als bewusste wie gelebte Subjektivität, und „Rechte“ sich nur zusammen herausformen, in jeweiliger qualitativer Ausprägung. Als dies hat das Geistige Dasein in seiner Tätigung, als entsprechend geistiges Tun und Lassen, Sich-Benehmen und In-eine-Legitimität-sich-Fügen: Dasein in „Gewohnheit, Sinnesart und Charakter“ der vergemeinschafteten Einzelnen73. Und die Allgemeinheiten sind welche, dass das sozialweltlich Wirkliche, das Faktische des SchonBestehens der Anerkennungen die Einzelnen zur Allgemeinheit heranbildet74. Als gelebte Geltungen und Anerkennungen wird es zur jeweiligen ‚kulturellen‘ Umwelt der nachfolgenden, hineinwachsenden Wesen. Zusprechungen und freilich auch Zumutungen erziehen zur Sozialität der Handlungsweisen, des gelebten Denkens und der habituellen Gesinntheit. Das Wechselverhältnis von Subjektivität und „Rechten“ ist insofern zugleich auch ein Wechselverhältnis von Subjektivität und sozialweltlichen Wirklichkeiten, und die Einzelnen machen (resp. lassen werden) nur das zur Gestalt ihrer Subjekthaftigkeit, was auch ihre wahre Substanz ausmacht: Verhältnisse von Geistigkeit und Freiheit. (3) Man kann Hegel vieles vorwerfen, und die Selbstverständigungen der seitherigen Theoriediskussionen haben all ihre neuen Programme immer wieder an dem zum Abstoßpunkt stilisierten Hegel aufgerichtet. Die Kritik an einem mit dem Namen ‚Hegel‘ identifizierten großen Abweg der vormaligen Denkgeschichte gehört zu den Gemeinsamkeiten aller seitherigen Reflexion und Wissenschaft. Eine Theorie, die so umfassend ist und zugleich so konkret zu werden wagt wie die Hegel’sche, gibt sich zwangsläufig weite Flanken, Flanken gerade auch gegen Veränderungen von Schwerpunkten der Erfahrung und des Zeitbedürfnisses75. – Doch ist die These vom irrigen ‚Idealismus‘, Anti-Sozialwissenschaft, Anti-Empirie eben bei genauer Betrachtung mehr als zweifelhaft. Der ausgerufene epochale Paradigmenwechsel ist durchaus nicht so zwingend, wie er sich allenthalben gibt. Das Hegel’sche Modell von Theorie, und spezifisch in den Leitgedanken seiner ‚System‘-Gestalt, ist keineswegs 73  Vgl. Enz § 485. 74  Wie der gesellschaftliche Kampf um Rechte innerhalb der gesellschaftlichen Schichtung in der römischen Welt und wie die im christlichen Menschenbild verbürgte SubjektivitätsGewissheit in der neuen „germanischen Welt“ zeigen, bedeutet dies nicht, dass Hegel deshalb nur das voll integrierte, gesellschaftlich konforme Subjekt kennen – und anerkennen – würde, nicht auch das sperrige, einfordernde, sich auflehnende und kämpfende Subjekt. Unbestreitbarermaßen ist davon jedoch in seinen Schriften zu wenig die Rede. 75  Alles, was spezifische einzelne Aussagen und Bewertungen bei Hegel betrifft, bleibt um der vorliegenden Erörterung dieses Aufsatzes willen dahingestellt.

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unkompatibel mit vielen seither entwickelten Konzeptionen und gerade auch mit lebensweltlichen Erfahrungsdimensionen und desgleichen anderen maßgeblichen Wissenschaftszugängen, und die Wendung gegen Hegel, die Verabschiedung seiner Weise von Theorie hatte vor allem stets auch eine miss­ liche Kehrseite, einen erheblichen Preis. Hegel ist noch allemal weiter als das Gros seiner Verächter. Und weiter auch als viele seiner erklärten Parteigänger. Das betrifft in vorderster Linie wohl die charakteristische Verschränkung von Theorie und Geschichte. Das ‚System‘ der Hegel’schen Theorie argumentiert vom voll Ausgebildeten der pluralen Gestaltungen der Sozialwelt her – dem Eingetreten-Gewordenen der pluralen Weisen der Anerkennungen der („geis­ tigen“) Freiheit und von dadurch etablierten „Rechten“. Dass dies strukturell Höchste eingetreten ist, zeigt die „Weltgeschichte“. Die Geschichte belegt das Dass des Vollen und Pluralen. Dies sind die Prozesse – Stufen von Schüben –, dass etwas Natürliches, und ohne dadurch seines Seins in den konkreten Realitäten der Welt verlustig zu gehen (oder zur Entität einer ‚spiritualistischen‘ Wesenswirklichkeit zu werden), geistig wird: zur Verkörperung eines Geis­ tigen (und insofern Akteur des „Daseins“ der Freiheit)76. Fungierend sind dabei mehrere Dimensionen von Geschichtshaftigkeit, die als bei Hegel in den Bau der Theorie eingerechnet sich differenzieren lassen. In Schlagworten: neben dem Übergreifenden von Geschichte („Weltgeschichte“) qua struktureller ‚Evolution‘ des geistigen Charakters sozialweltlicher Geltungen und neben Geschichte als Gesellschaftsdynamik, übergeordnet der Dynamik der „Voraussetzungs“-Strukturen (in heutiger Konzeptionssprache wohl als ‚Entwicklungslogik‘ o. Ä. zu bezeichnen), auch Geschichte als Sozialgeschichte, Geschichte als Kämpfe (bes. Kämpfe um Freiheiten, Anerkennungen, „Rechte“), Geschichte als Selbstbestimmung und Vertiefung-in-sich, Geschichte der Konkretionen im Endlichen, Fortschreibung, Anpassung und Ausweitung der Regelungen (Rechtsförmigkeit) sowie der gesellschaftlichen Teilung (und in der Folge Ökonomisierung), Geschichte der Anwendung und Spezifizierung der jeweilig herausgearbeiteten Normierungsprinzipien, Geschichte des in Lebenswelt Thematisierten und mit Bestimmungen Belegten, Geschichte der Aneignung der Natur, Geschichte als Erbschaften und als Präsenz eines Erinnerten, schließlich natürlich Geschichte als einfach Faktizitäten. Es ist eine ‚Ontologie‘ (Sozialontologie) mit Dynamik. Dies von der Ordnung im Großen bis zu den Prozessen der Selbstverwirklichung und Sinnerfahrung der Einzelnen; in der gewordenen vollen Ausbildung ist schließlich auch 76  Vor allem erfährt in mehreren Hinsichten ein Sozialnatürliches Transformationen ins Geistige (d. h. Komplex-Geistige) – so der gewisse Respekt des Dein-und-Mein, das sich regende Eigenempfinden und Eigensinn, die natürlichen Gemeinschaftsbildungen des Familialen (s. o.).

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Subjektivität organisch eingebunden77. Diese Konzeption von Theorie zeigt darin vor allem überhaupt die Eigenbedeutung der sozialen (sozialweltlichen) Prozesse und Institutionen, das – trotz oder gerade wegen seiner Endlichkeiten – Irreduzible des zwischen verschiedenen Subjektivitätspolen sich vollziehenden Geschehens und der betreffenden Gestaltungen. Dies macht die theoretische Positionierung, macht die Bedeutung dieser Ausführungen über den „objektiven Geist“ als grundlegendes Programm78. Im Sozialweltlichen, als „geistig“, machen Selbstverständnisse und Deutungsgedanken der Subjekte – und betreffend Zugesprochenes und Erwartetes – zugleich Wirklichkeiten aus. Die Habitualität und Verkörperung der Vermittlungen, Geltungen und Institutionen sind weder von ‚unten‘ her ableitbar, aus einer irgend gedachten vor-sozialen, atomistischen Ego-Subjektivität, noch aus einem ‚metaphysischen‘ Ursprung. Sie sind auch in Hegels Sinn weder einfach von individuellem „subjektivem Geist“ gesetzt, von Subjektiver-Geist-Entitäten als solchen, noch sind sie vornehmlich Abbild von Prinzipien und Normativitäten „absoluten Geistes“. Wenn eine Auseinandersetzung mit Hegel sich dem öffnet und wenn sie sich losmacht von dem krampfhaften Wehren gegen einen vermeinten Totalitarismus der Theorie des „objektiven Geistes“ und deren ‚System‘-Form: dann ergibt dies auch einen neuen Blick auf den „absoluten Geist“. Am Ende befreit die Geschichte beides. Durch das zwischengelagerte Theoriestück über die „Weltgeschichte“ können sowohl der „objektive Geist“ als auch der „absolute Geist“ zu ihrer jeweiligen angemessenen Theorie-Konzeption kommen. Und „objektiven“ und „absoluten Geist“, ihre Prozesse wie Gestaltungen, in ihren Theorien klar voneinander abzuheben erlaubt es, bei beiden Genese und Geltung („geistige“ Geltungen) reflektiert zu unterscheiden. Zu Hegel gehört die Vorkehr gegen die Versuchungen des Historismus wie des Kulturalismus. Dass Sozialwelten und auch die Bildungen und Erbschaften von Kunst, Religion und philosophischem Denken Ausprägungen von „Geist“ sind, lassen Hegels Theorien sehen als Errungenschaften von Einsichten – Selbstverständnissen – in das uns Menschen ausmachende Geistige und seine wesenhafte Freiheit: Einsichten, Überlieferungen und geronnene Formen. Und sie sind in der Selbstbegegnung, welche der Geist im „absoluten Geist“ erfährt, als eigene menschliche Schöpfungen begriffen. 77   Subjektivität ist dann nicht mehr Faktor einer desintegrierenden Gegendynamik, nicht mehr (wie in der „griechischen Welt“) Grund der Auflösung von Verbindendem, Gemeinschaft und Identität und nicht mehr (wie in der „römischen Welt“) der Rückzug ins allseits Private. Sondern ist gelebte Geistigkeit des Bürger-seins (einschließlich des Verlangens nach eigener „Moralität“). – S. auch Anm. 49. 78  Noch vor der damit dann ermöglichten Einsicht in die plurale Verfasstheit.

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Ein offenes und dennoch nicht bloß formales Programm zu sein, gilt so auch für die Gestalt von „subjektivem“, „objektivem“ und „absolutem Geist“ im Ganzen. An dieses Potential anzuknüpfen muss nicht heißen, darum unkritisch zu sein. Doch alles andere, alles konzeptionell anti-hegelsche Programm, wären wohl Reduktionismen.

„Unvollkommene Gerechtigkeit“ Hegel, Antigone und die Menschenrechte Alberto L. Siani Sophokles’ Antigone ist zweifellos eine der mächtigsten erdichteten Figuren aller Zeiten. Ihre Tapferkeit und ihr tragischer Untergang haben Künstler und Philosophen inspiriert, genauso wie ihr Widerstand gegen den Tyrannen Kreon zum politischen Symbol der Menschenrechte, der weiblichen Selbstbehauptung, der Unantastbarkeit der menschlichen Würde geworden ist. Unter den komplexesten Deutungen des Sophokleischen Meisterstücks finden wir diejenige Hegels, die auf den ersten Blick sogar befremdlich aussehen mag, da Hegel zufolge Antigone und Kreon gleichermaßen schuldig und gleichermaßen unschuldig sind, und beide sowohl Recht als auch Unrecht haben. Diese Auffassung beruht auf Hegels Verständnis der Sittlichkeit der griechischen Polis und der tragischen Gerechtigkeit, einem Modell, das zugleich Diskontinuität als auch Kontinuität zum modernen, prosaischen, auf dem Prinzip der subjektiven Freiheit begründeten Staat aufweist. Eben die Berücksichtigung von Kontinuität und Diskontinuität zum tragischen Modell erlaubt es, Hegels Verständnis der Gerechtigkeit im modernen Staat auf offene und anschlussfähige Art und Weise zu interpretieren, und dabei die vielen Varianten des Klischees von Hegel als Theoretiker eines absoluten, vergöttlichten Staats, in dem die Geschichte zum Ende gekommen sei, zu untergraben. Wie ich zeigen werde, bleibt Hegel zufolge die Gerechtigkeit im modernen Staat immer unvollkommen und der Kontingenz der zwischenstaatlichen Beziehungen ausgesetzt. Nur durch die die Grenzen jedes einzelnen Staats sprengende Dimension der Weltgeschichte ergibt sich das einzige uneingeschränkte Recht, nämlich das Recht des Weltgeistes, das am Schnittpunkt von objektivem und absolutem Geist und von Politik und Philosophie verortet ist. Dieses Recht, das jedem anderen besonderen Recht (einschließlich des Staatsrechts) überlegen ist, wird von Hegel, anders als das von Antigone verteidigte Recht, nicht als einseitig und begrenzt, sondern als übergreifend und absolut präsentiert und bietet m.E. einen attraktiven Ausgangspunkt für eine Philosophie der Menschenrechte, die nicht abstrakt kosmopolitisch sein will, sondern nach einer reflektierenden Vermittlung verschiedener einseitiger Dimensionen und Instanzen des Rechts strebt. Indem ich diesen ganzen Zusammenhang, von Hegels Deutung der Antigone bis zu seiner Idee des Rechts des Weltgeistes als absolutes Recht über seine Auffassung des modernen Staats, rekonstruiere

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_010

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und erläutere, werde ich auch versuchen, das Potenzial des Hegelschen Denkens für die Philosophie der Menschenrechte – wenn auch nur ansatzweise – zu erschließen. Meine Argumentation ist dementsprechend in fünf Schritte gegliedert. 1) Zunächst erläutere ich den Hegelschen Begriff des Tragischen und daran anschließend die ethisch-politisch grundlegende Rolle der Tragödie in der griechischen Sittlichkeit. Danach wird 2) die Auflösung der griechischen Sittlichkeit durch die nämlichen Prinzipien der Tragödie erörtert. In Teil 3) setze ich mich mit Recht und Gerechtigkeit in der modernen Welt, in welcher Hegel zufolge das tragische Schicksal der Politik Platz gemacht hat, auseinander. Zum Schluss widme ich mich 4) der Wiederkehr des Tragischen im zwischenstaatlichen Recht, der Weltgeschichte als Weltgericht und 5) der Rolle der Menschenrechte in der Auseinandersetzung mit der tragischen Gegenüberstellung von vermeintlich absoluten einseitigen Rechten in der zeitgenössischen Welt.

Die Tragödie im Sittlichen und die Sittlichkeit im Tragischen

Es könnte prima facie so aussehen, als würde die in Sophokles’ Antigone geschilderte tragische Opposition einen Kontrast von staatlichem positivem Recht und ewiger ungeschriebener Gerechtigkeit darstellen. Der König Kreon verbietet die Beerdigung von Polyneikes, der Krieg gegen die Stadt Theben geführt hatte. Antigone, Polyneikes’ Schwester, bricht das Verbot und beerdigt ihn. Kreon verurteilt sie zum Tode und lässt sie lebendig einmauern. Antigones Verlobter Haimon, der zugleich Kreons Sohn ist, tötet sich selbst und so auch Eurydike, Kreons Ehefrau. Es scheint die perfekte Tragödie zu sein: Einerseits haben wir eine tyrannische Staatsmacht (Kreon), andererseits die Behauptung einer ewigen ungeschriebenen Gerechtigkeit, die im Familienblut fließt und dem Staatsrecht überlegen ist (Antigone), und am Ende den unvermeidbaren tragischen Ausgang. Dieser Lektüre zufolge macht Antigones Figur ein Urparadigma des menschlichen, angeborenen Widerstands gegen staatliche Unterdrückung im Namen einer natürlichen, nicht abschaffbaren ewigen Gerechtigkeit aus1. Zumindest in Hegels Interpretation stellt die Antigone jedoch keineswegs einen Konflikt zwischen ewiger Gerechtigkeit und tyrannischer Staatsmacht dar2. Ihm zufolge wäre dies eine einseitige und abstrakte Lesart. Im Gegensatz 1  Vgl. Ferrone 2014, 18. 2  Das Sophokleische Werk wurde von Hegel höchst geschätzt, nicht nur im Rahmen seiner Ästhetik, sondern auch im Rahmen der Phänomenologie, der Rechtsphilosophie, der

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dazu schildert Hegel eine Opposition von zwei gleichermaßen berechtigten und gleichermaßen einseitigen Gesetzen bzw. sittlichen Mächten: Antigone hat „eine würdige Veranlassung zur Handlung, und ebenso ist Kreons Gebot berechtigt, insofern der Bruder als Feind des Vaterlandes kam und es zu zerstören suchte“; und „die beiden sittlichen Mächte sind dort Familie und Staat, Gemeinwesen, Staatsinteresse und der Familienwille“3. In der Antigone findet die Opposition zwischen zwei Rechten statt, die beide einer höheren Gerechtigkeit untergeordnet sind. Diese höhere Gerechtigkeit fordert, dass beide Seiten eben als Seiten anerkannt werden, und nicht jeweils als sittliches Ganzes. Der tragische Konflikt ist somit das Zustandekommen der sittlichen Gerechtigkeit4. Ich werde im Folgenden diesen Zusammenhang in genauerem Detail erläutern – und zwar mit Bezug auf Hegels Deutung der Tragödie im Allgemeinen und der Antigone in der Phänomenologie des Geistes und in den späteren Geschichtsphilosophie, der Religionsphilosophie und sogar der Philosophie der Sprache. Hegel, der in seinen frühen Jahren die Antigone aus dem Griechischen übersetzt hatte, bezeichnete das Werk später als das „vollendetste […] Kunstwerk“ (Hegel, Vorlesungen 2, 306). Seine Deutung des Werks zählt zu den bekanntesten Tragödiendeutungen aller Zeiten. Da ich ein philosophisch-systematisches Erkenntnisziel verfolge, ist die Frage der philologischen und literarischen Adäquatheit der hegelschen Interpretation der Tragödie im Allgemeinen und der Antigone im Besonderen hier irrelevant. Dazu siehe u.a. Houlgate 2007, 146–178. Siehe auch Iannelli 2006. Zu Hegels Theorie der Tragödie im Allgemeinen siehe, auch für weitere Literaturhinweise, meinen einführenden Aufsatz, den ich hier weiter entwickle, Siani 2014a. Es sollte auch daran erinnert werden, dass Hegels Antigonedeutung einflussreich und zugleich polarisierend auch für Debatten im Rahmen der feministischen Philosophie und der Gender Studies ist: dazu u.a. Ferrini 2002. Zu verschiedenen philosophischen Deutungen der Antigone siehe Montani 2001. 3  Vorlesungen 2, 95 und 168. Vgl. auch GW 14.1, 149, Anmerkung, wo der Gegensatz als „der höchste sittliche und darum der höchste tragische“ beschrieben wird. 4  Hegels Interpretation der tragischen Kollision und Gerechtigkeit in der Antigone ist schön zusammengefasst in dieser Passage: „Auf eine plastische Weise wird die Kollision der beiden höchsten sittlichen Mächte gegeneinander dargestellt in dem absoluten Exempel der Tragödie, Antigone; da kommt die Familienliebe, das Heilige, Innere, der Empfindung Angehörige, weshalb es auch das Gesetz der unteren Götter heißt, mit dem Recht des Staats in Kollision. Kreon ist nicht ein Tyrann, sondern ebenso eine sittliche Macht. Kreon hat nicht Unrecht; er behauptet, daß das Gesetz des Staats, die Autorität der Regierung geachtet werde[n muß] und Strafe aus der Verletzung folgt. Jede dieser beiden Seiten verwirklicht nur die eine der sittlichen Mächte, hat nur die eine derselben zum Inhalt. Das ist die Einseitigkeit, und der Sinn der ewigen Gerechtigkeit ist, daß beide Unrecht erlangen, weil sie einseitig sind, aber damit auch beide Recht. Beide werden als geltend anerkannt im ungetrübten Gang der Sittlichkeit; hier haben sie beide ihr Gelten, aber ihr ausgeglichenes Gelten. Es ist nur die Einseitigkeit, gegen die die Gerechtigkeit auftritt“ (Werke 17, 132).

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Vorlesungen über die Philosophie der Kunst5 im Besonderen. Hegels Theorie der Tragödie ist zunächst eine Hermeneutik der Erfahrung des Tragischen, wobei letztere nicht im generischen Sinne eines menschlichen Phänomens oder Gefühls zu verstehen ist, sondern als dialektisches Moment und eine Gestalt der Geschichte des Bewusstseins6. Wir befinden uns im Kontext der griechischen Sittlichkeit und der Phänomenologie des Ursprungs der modernen Subjektivität. Die griechische Sittlichkeit wird präsentiert als unmittelbarer, unreflektierter Geist, der aber innerlich gespalten ist, zunächst auf unbewusste Weise, in „ein menschliches und göttliches Gesetz“7: das Menschliche, männliches Staatsprinzip, und das Göttliche, weibliches Familienprinzip. Dies verweist natürlich auf Sophokles’ Antigone. In einem ersten Moment befinden sich die beiden Gesetze in einem Ruhezustand zueinander. Es tritt aber die Notwendigkeit der Spaltung ein, die durch die „sittliche Handlung“ zustande kommt8. Die handelnde Individualität (der Heros) wird zum Träger von jeweils einem der beiden Gesetze – und zwar auf eine absolute Weise, d.i. ohne das Recht des anderen anzuerkennen, da das sittliche Leben als unmittelbar kompakt und nicht spaltungsfähig gilt. Es gibt, bedeutet dies, noch nicht das Prinzip der Subjektivität, gemäß dem verschiedene, ja entgegengesetzte Mächte bzw. Werte auf eine reflexive Weise koexistieren können. Anders als im Epos ist in der Tragödie der Heros der Protagonist, der als Ichperson redet. Es fehlt ihm aber die Reflexionsfähigkeit. Er stellt einseitig eine einzige sittliche Macht dar, der andere mit gleichem Recht gegenüberstehen. Keine davon kann Recht im absoluten Sinne haben, da alle Recht haben. Wichtig ist dabei, darauf aufmerksam zu machen, dass die Entwicklung der sittlichen Handlung der Heroen (in unserem Fall: Antigone und Kreon) nicht nur von einem externen Zuschauer (dem Publikum der Tragödie) beobachtet, sondern auch von einem 5  Da ich diese zwei Texte nur hinsichtlich der hegelschen Theorie der Tragödie berücksichtigen werde, werde ich von den verschiedenen Zielen und Methoden der zwei Texte absehen. Hier sei nur am Rande angemerkt, dass das hegelsche Verständnis der griechischen Sittlichkeit in der Phänomenologie und in den späteren Texten, anders als das klassizistische Modell von Harmonie und Schönheit seiner frühen Schriften, eben am Modell der Tragödie orientiert ist. Die griechische Sittlichkeit ist zwar als unmittelbar und kompakt präsentiert, aber zugleich als vom Anfang an zum Untergang verurteilt, da sie um den tragischen Konflikt herum strukturiert ist, worin die moderne Subjektivitätsform ihre Wurzel hat. Vgl. Chiereghin 1998, 122 und Olivier 2008, 57–71, hier 68, der diesbezüglich Hegels Nähe zu Hölderlin unterstreicht. 6  Vgl. Düsing 1988, 55–82, insbes. 71. 7  G W 9, 241. 8  G W 9, 251.

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internen Zuschauer-Koprotagonisten begleitet wird: dem Chor. Diesen drei Akteuren (Heroen, Chor und Publikum) entsprechen drei ethisch-geschichtliche Ebenen, deren Interaktion zu analysieren wesentlich dafür ist, das Zustandekommen der tragischen Gerechtigkeit und der darauf begründeten politisch-geistigen Welt erläutern zu können. Der Chor macht die Grundlage der Tragödie und der sittlichen Handlung aus: er ist „keine bloß äußerliche Reflexion, sondern er ist der Boden der Heroen selbst […]. Der Chor kann mit der geistigen Architektur verglichen werden, die die Götterbilder, die Heroen umschließt“9. Der Chor stellt die unmittelbare und unreflektierte Sittlichkeit dar, also den Zustand der ruhigen und konfliktlosen Immobilität. Er ist einfache, begriffslose, affirmative Macht, die, „der Macht des Negativen entbehrend, […] den Reichtum und die bunte Fülle des göttlichen Lebens nicht zusammen zu halten und zu bändigen [vermag], sondern […] es auseinanderlaufen [lässt], und […] jedes einzelne Moment als einen selbständigen Gott [preist], bald diesen, bald wieder einen anderen, in seinen verehrenden Hymnen“10. Der Chor ist der Ausdruck des abstrakten Ideals, in dem das Allgemeine und das Individuelle unmittelbar miteinander zusammenhängen, da die Pluralität der Götter (und der sittlichen Mächte, für die sie stehen) nicht im Gegensatz zur kompakten Einheit der Sittlichkeit steht, denn die Götter treten noch nicht in gegenseitige Handlungen ein. In jedem Gott wird der substantielle sittliche Inhalt verehrt, ohne dass die Pluralität zur Einheit (durch die negative Form des Begriffs bzw. des Ichs) zurückgeführt würde. Der ideale Ausdruck dieses idealen, zeitlosen Zustands ist der Gott in der Form der klassischen, schönen Statue: Nichts verbietet, jede Statue so zu verehren, als ob sie die einzige Gottheit wäre. Sobald aber der Kontrast zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz entsteht, entsteht auf diesem nämlichen Boden der Sittlichkeit der Heros, der eine der vielen Seiten einseitig darstellt. Die Tragödie basiert also auf einer polaren Opposition und dreht sich um dieselbe: diejenige von Chor und Heroen11. Die Handlung der letzteren macht nur vor dem Hintergrund des ersteren Sinn. Die Tragödie beginnt mit einer Verletzung des Ruhezustands, in Bezug auf die die Heroen sich ein Ziel vorgeben. Lesen wir Hegel hierzu: „Die sittliche Mächte sind verschieden. Im ruhigen Zustande sind sie als Götterkreis in Harmonie. Aber es muss auch geschehen, 9   Vorlesungen 2, 303. 10   G W 9, 393. 11  In diesem Teil meiner Argumentation stütze ich mich vor allem auf Menke 1996, insbes. 85–93.

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dass sie verletzt werden, dadurch werden sie zur erscheinenden Tätigkeit aufgerufen; Individuen erscheinen so als das πάθος, als die Verwirklichung einer sittlichen Macht“12. Es ergibt sich somit eine doppelte Spaltung: einerseits zwischen der sittlichen Unmittelbarkeit des Chors und dem einseitigen Pathos des Heroen, andererseits zwischen den verschiedenen entgegensetzten Einseitigkeiten der verschiedenen Heroen13. Durch die Handlung der Heroen spaltet und individualisiert sich die einst kompakte, unterschiedslose Einheit der sittlichen Mächte: Es ergibt sich eine Betätigung der Mächte, die bisher in einem unreflektierten Ruhezustand waren. Dadurch ergibt sich auch ihre gegenseitige Feindseligkeit: Die subjektive Handlung und die Zwecksetzung des Heroen führt notwendig zum Konflikt mit den anderen Mächten. Dies ist jedoch in der klassischen Tragödie, anders als im modernen Drama, kein von Zufälligkeit oder bloßer Bösartigkeit verursachter, sondern ein notwendiger Konflikt – denn beide sittlichen Mächte sind gerechtfertigt: „Kein böser Wille, kein bloßes Unglück bringt die Kollision hervor, sondern sittliche Berechtigung von beiden Seiten. Abstrakt Böses ist weder wahr noch interessant“14. Zusammenfassend: zunächst haben wir das friedliche (weil tatenlose) Koexistieren einer Pluralität sittlicher Mächte, die aber, da sie noch nicht voneinander differenziert sind, noch nicht als solche existieren, sondern als eine einzige statische Masse. Im zweiten Moment werden die Mächte betätigt durch die subjektive Handlung und individualisiert im Pathos der Heroen. Da der Boden, d.i. der Chor, als sittliche Grundlage das Recht der Sittlichkeit als solches differenzlos verteidigt, kann der Heros, der auf jenem Boden geboren wird und handelt, nichts anderes als die von ihm selbst betätigte Macht als absolut gerechtfertigt auffassen, und tritt somit notwendigerweise in Konflikt mit den anderen Mächten, die ihrerseits ihr eigenes Recht genauso absolut auffassen. Der Heros ist eine plastische Figur, die keine Spaltung und Schwankung kennt, sondern lebt, handelt und aufgrund eines einseitigen Prinzips untergeht. Hierin besteht übrigens ein deutlicher Unterschied zwischen dem klassischen und dem modernen Schuldbegriff: „Die Heroen sind ebenso schuldig wie unschuldig. Die Schuld stellen wir uns [scil. die Modernen, A.S.] vor als dann eintretend, wenn das Individuum wählen konnte. […] Aber in den plastischen Figuren ist solche Wahl entfernt, das Individuum ist, was es ist, es 12  Vorlesungen 2, 302. 13  „Der Chor [repräsentiert] den ruhigen Zustand […], der in ungestörter Sittlichkeit lebt und die Entzweiung der sittlichen Mächte fürchtet, neutral für sich bleibt. Die zweite Seite des sittlichen Bewusstseins tritt zur besonderen Gestalt heraus und ist somit gegeneinander feindlich auftretend“, Vorlesungen 2, 303. 14  Ibidem.

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handelt aus diesem Charakter, diesem Pathos, und es ist Charakter, weil es gerade dieses ist“15. Die zu bestrafende Einseitigkeit der Heroen ist also nicht das Ergebnis ihrer reflektierten Wahl, sondern ihre eigene Natur: Insofern sind die Heroen gleichzeitig schuldig und unschuldig. Hierin besteht auch ihre ästhetische Wirkungskraft: „Dies ist die Stärke der alten Charaktere, dass sie nicht wählen, sondern was sie tun, sind“16.

Vom Tod der Antigone zum Tod der Polis

Der Schluss und der Kern der Tragödie ist die Anerkennung der Gleichberechtigung der konfligierenden Mächte und die Überwindung der individuellen Einseitigkeit17. Die substantiellen Zwecke werden erhalten und gerechtfertigt, aber nicht mehr als absolut: Dazu ist das Opfer des Individuums notwendig (wenn auch nicht unbedingt das physische Opfer, wie im „vollendetsten“18 Fall der Antigone). Es ist nicht das Individuum, das die Versöhnung auf bewusste Weise vollbringt, sondern eine die Individualität überfordernde und vernichtende höhere Macht: das Schicksal, das als unbegreifbare, aber (anders als das blinde Fatum) notwendige und wahrhafte Gerechtigkeit eintritt. Der tragische Konflikt wird nur auf negative Weise versöhnt: „Erst in der gleichen Unterwerfung beider Seiten ist das absolute Recht vollbracht und die sittliche Substanz als die negative Macht, welche beide Seiten verschlingt, oder das allmächtige und gerechte Schicksal aufgetreten“19. Es handelt sich also um eine Versöhnung, die eigentlich die innere Schwäche der griechischen Sittlichkeit und die

15  Ibidem, 305. 16  Ibidem. 17   Diese Anerkennung findet Hegel zufolge ihren exemplarischen Ausdruck in den Eumeniden. 18  Ibidem, 306. 19   G W 9, 256. Siehe auch Werke 17, 131–132: „Das Fatum ist das Begrifflose, wo Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der Abstraktion verschwinden; in der Tragödie dagegen ist das Schicksal innerhalb eines Kreises sittlicher Gerechtigkeit. Am erhabensten finden wir das in den Sophokleischen Tragödien. Es wird daselbst vom Schicksal und von der Notwendigkeit gesprochen; das Schicksal der Individuen ist als etwas Unbegreifliches dargestellt, aber die Notwendigkeit ist nicht eine blinde, sondern sie ist erkannt als die wahrhafte Gerechtigkeit. Dadurch eben sind jene Tragödien die unsterblichen Geisteswerke des sittlichen Verstehens und Begreifens, die ewigen Muster des sittlichen Begriffs. Das blinde Schicksal ist etwas Unbefriedigendes. In diesen Tragödien wird die Gerechtigkeit begriffen“.

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Notwendigkeit ihres Untergangs sowie des Übergangs zur nächsten Gestalt des Bewusstseins offenbart, nämlich dem „Rechtszustand“ der römischen Welt20. Durch das Schicksal tritt die Gerechtigkeit ein, als Behauptung der Gleichberechtigung verschiedener sittlicher Mächte. Es ist aber immer noch nur eine Behauptung in negativer Form, die die Handlungen nicht als Ausdruck von reflexiv rekonstruierbaren und begründbaren Werten, sondern als für das Individuum unergründliche Notwendigkeit darstellt. Es fehlt noch das Prinzip, nach dem allein man dafür zur Verantwortung gezogen werden kann, was man auf bewusste Weise gewollt und getan hat, nämlich das für die Moderne typische Prinzip der Moralität. Der tragische Heros leidet und geht zugrunde – unabhängig von seiner individuellen Verantwortung. Er kennt seine Schuld, für welche er bestraft wird, nicht auf positive Weise, sondern erfasst seine Schuld nur auf negative Weise, aufgrund der Tatsache seines Leidens, nach Antigones berühmtem Satz: „Weil wir leiden, anerkennen wir, dass wir gefehlt“ haben21. Dies führt uns direkt zur dritten Ebene der Tragödie, nämlich derjenigen des externen Zuschauers, d.i. des Bürgers, der der Aufführung zusieht. Die Versöhnung in der Tragödie führt zu einer Versöhnung durch die Tragödie. Die Schicksalsunterwerfung des Heroen innerhalb der Tragödie bringt die Zuschauer außerhalb der Tragödie zur reflexiven Anerkennung des Daseins verschiedener Mächte, die gewiss zueinander in Gegensatz stehen, denen aber Gleichberechtigung zukommt, da sie alle das Leben der Polis strukturieren. In der Inszenierung ihrer eigenen sittlichen Genesis sieht die Polis ihre Werte und Sitte gerechtfertigt und bestätigt, doch auf einer höheren (weil schon teilweise reflexiven) Ebene als derjenigen der unmittelbaren Sittlichkeit des Chors. Dieser sittlichen Unterscheidung der Ebene entspricht eine geschichtliche: Die Handlung der Tragödie findet in einer dem gegenwärtigen Zustand der Polis gegenüber früheren Zeit statt, nämlich in einem vorstaatlichen Zustand, in welchem die Heroen Träger von Prinzipien und Werten sind, die sie durch ihre Handlung durchzusetzen versuchen. Die Zuschauer dagegen leben schon in einem späteren Zustand, in welchem die normative Ebene objektiviert worden ist, d.i. sie wird nicht in den individuellen Handlungen verkörpert, sondern in den Sitten und Gesetzen des sittlichen Gemeinwesens. Die klassische Tragödie ist somit zuallererst eine grundlegende Erfahrung der politischen

20   G W 9, 260. Eine Diskussion der römischen Welt und des Rechtszustands als Bindeglied zwischen klassischer griechischer und christlich-moderner Welt muss hier aus Platzgründen unterlassen werden. 21  Vgl. GW 9, 256 und Vorlesungen 2, 307.

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Teilnahme und der sittlichen Gemeinschaft22. Durch die Tragödie erkennt und eignet sich der Bürger das Recht und die Pflicht an, zu den Grundlagen des Zusammenlebens durch seine subjektive Evaluierungsfähigkeit beizutragen. Die Ebene der unmittelbaren und unreflektierten Sittlichkeit wird dadurch schon überwunden: die durch die tragische Erfahrung verursachte Gemeinsamkeit begründet und orientiert in der Tat die Polis in ihrer Einheit und Sittlichkeit aufgrund der Anerkennung des gleichen Rechts verschiedener normativer Ansprüche. Dadurch aber ist die Polis schon zum Untergang verurteilt. Denn dieselbe reflexive Erfahrung, die die Polis in ihrer Einheit begründet, führt am Ende zur Spaltung der sittlichen Einheit und, vor dem äußeren Zusammenbruch aufgrund der Eroberung durch die Römer, zum inneren Zusammenbruch der Polis anhand der Individualität, die die sittliche Substanz als solche in Frage stellt und das höchste Recht der Subjektivität einfordert. Hier ist natürlich auf Sokrates zu verweisen, der von den Athenern zum Tode verurteilt wurde, weil er philosophisch das kommende Prinzip der subjektiven Freiheit, und somit den Tod der Polis, ankündigte. Da Sokrates jedoch ein Prinzip ankündigte, das in der Polis schon eine feste Wurzel hatte, sind Hegel zufolge sowohl Sokrates als auch die ihn verurteilenden Athener, genauso wie Antigone und Kreon, gleichzeitig schuldig und unschuldig – wie lebendige Charaktere einer hohen politischen Tragödie23. Aber noch vor Sokrates zeigt die Tragödie schon, dass die Mächte, die die sittliche Gemeinschaft zerstören werden, die Tragödie selbst und ihr reflexives Potential speisen24. 22  „Das interpretierende Begreifen des tragischen Schicksals als Bewegung der Gerechtigkeit, das Dichter wie Zuschauer durch die Tragödie erlernen, ist nichts anderes als das (sittliche) Begreifen der Gerechtigkeit – der Theaterbesuch zugleich Regierungsbeteiligung“, Menke 1996, 107. 23  Vgl. Vorlesungen 12, 382. 24   „Dieses Schicksal vollendet die Entvölkerung des Himmels, der gedankenlosen Vermischung der Individualität und des Wesens – einer Vermischung, wodurch das Tun des Wesens als ein inkonsequentes, zufälliges, seiner unwürdiges erscheint; denn dem Wesen nur oberflächlich anhängend, ist die Individualität die unwesentliche. Die Vertreibung solcher wesenlosen Vorstellungen, die von Philosophen des Altertums gefordert wurde, beginnt also schon in der Tragödie überhaupt dadurch, daß die Einteilung der Substanz von dem Begriffe beherrscht, die Individualität hiermit die wesentliche und die Bestimmungen die absoluten Charaktere sind“ (GW 9, 396). Dadurch wird das Pantheon dem Lachen der Komödie und der Prosa der philosophischen Sprache ausgeliefert. Der Vernunftgehalt der Tragödie wird in der Philosophie aufbewahrt und aufgehoben – Hegels eigenes Selbstverständnis der Philosophie wurde bekanntlich im Sinne sowohl eines Pantragismus als auch eines Panlogismus charakterisiert. Zu diesem

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Insofern sind die Charaktere der Tragödie aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive tatsächlich sehr komplex. Man könnte z.B. auf den ersten Blick glauben, dass Antigone ein überwundenes und obsoletes Moment darstellt, nämlich das ungeschriebene, dunkle Recht der Familie und des Bluts – gegen das geschriebene, durchsichtige Gesetz des Staats. Zugleich nimmt sie jedoch eine durchaus moderne Figur vorweg: die Individualität, die sich von der Tyrannei der politischen Macht abhebt und Widerstand leistet aufgrund eines gültigen Rechts, das der Staat nicht anerkennt (also eine Art Vorwegnahme des modernen Widerstandsrechts). Natürlich sollte man hier auch nicht zu weit gehen: Antigone behauptet sich selbst gegen den Staat nicht als modernes, als solches freies Individuum, sondern als „Weib“ und Schwester, die ein uraltes Recht und eine uralte Form der Gemeinschaft vertritt. Und trotzdem ist schon hier klar, wie viel weiter die Macht der tragischen Darstellung reicht, als nur bis zur Handlungsorientierung der griechischen Polis. Wie ich in den nächsten Abschnitten nahelegen werde, kann Hegels Antigonedeutung in der Tat sogar zur begrifflichen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Konfliktformen beitragen.

Die Moderne und das Verschwinden des Tragischen

Im strikten Sinne des Wortes kann in Bezug auf die tragische Sittlichkeit von „Recht“ noch nicht die Rede sein, denn dieses ist „das Dasein des absoluten Begriffes, der selbstbewussten Freiheit“25, und letztere fehlt hierbei ja noch. Die Gerechtigkeit selbst nimmt in der menschlichen Handlung nicht die Form staatlich sanktionierter Gesetze, sondern die der Rache26 an. Recht liegt zwar schon im Begriff, aber nicht wirklich, denn wirklich kann es nur durch die menschliche Tätigkeit werden. Die menschliche Tätigkeit ist aber hier noch nicht selbstbewusst und reflektiert. Deswegen tritt die Gerechtigkeit in Form des Schicksals ein: als absolute Notwendigkeit – und noch nicht als Freiheit. Die klassische Tragödie ist die Darstellung des Vollzugs der Gerechtigkeit ganzen Zusammenhang vgl. u.a. Hyppolite 1964, 9–15; Pöggeler 1973, insbes. 101–102; und Olivier 2008, 70–71. Westphal 2003, Kap. 3–4, macht überzeugend geltend, dass Sophokles’ Antigone eine Vorfahrin zu Hegels phänomenologischer Methode von innerer Kritik, Selbstwiderlegung und Selbstverständnis ist. 25   G W 14.1, 46. 26  Dabei ist aber „von der Privatrache […] die Racheübung der Heroen, abenteuernder Ritter usf. verschieden, die in die Entstehung der Staaten fällt“ (GW 14.1, 95, Anm.).

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in einer Form, die für die Menschen noch dunkel und undurchschaubar ist. Die Heroen erkennen ihre Schuld wie gesagt nur auf negative Weise an, durch die Erfahrung des Leidens, nicht aber, weil sie eine klare, positive Einsicht in Notwendigkeit und Gründe des Leidens als Strafe hätten. Die Zuschauer andererseits erfahren dadurch das tragische Geschehen als den Mechanismus, durch welchen sich die Gerechtigkeit als Schicksal ergibt. Der tragische Ausgang gilt als Gerechtigkeit und die Tragödie ist ihre Darstellung zum Zwecke der sittlich-politischen Selbstanerkennung sowie der Handlungsorientierung der Bürger/Zuschauer, ohne dass jedoch das selbstbewusste Individuum eine zentrale Rolle spielen würde. Damit kommen wir zur modernen Welt. Beginnen wir mit einer bekannten und prägnanten Charakterisierung des Unterschieds zwischen Antike und Moderne: „Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden“27. Die moderne Welt ist dadurch gekennzeichnet, dass das Subjekt als solches frei ist – und nicht als Teil einer kompakten sittlichen Gruppe. Dies hat unter anderem das Bewusstsein, dass alle Menschen frei sind, zur Folge, wohingegen dies in der Antike nur für einige, aufgrund ihrer familiären, ethnischen, religiösen Zugehörigkeit usw., gilt28. In der Moderne ist also nicht mehr vom Recht dieser oder jener sittlichen Macht, sondern vom Recht des Subjekts als solchem die Rede. Der sittliche Inhalt ist jetzt internalisiert worden: Das handelnde Subjekt ist nicht mehr der unbewusste Auslöser bzw. Träger des Rechts einer ihm äußerlichen sittlichen Macht, sondern der Träger seines eigenen Rechts. Das führt zur Spaltung des sittlichen Gemeinwesens: Die moderne Gesellschaft ist notwendig durch Konflikt und Entfremdung gekennzeichnet. Folglich tritt die Gerechtigkeit nicht mehr als ausgleichendes Schicksal ein, sondern als immerzu prekärer reflektierender Versuch, die verschiedenen Interessen und Einsichten der Subjekte zusammenzuhalten.

27   G W 14.1, 110, Anm. 28   „Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf ist“, GW 14.1, 175, Anm. Ich werde zum Schluss dieses Beitrags auf diese Passage zurückkommen.

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Mit einem Wort tritt in der Moderne die Gerechtigkeit vornehmlich in politischer Form ein. Um diese These einzuführen, verweise ich auf das berühmte Gespräch Napoleons mit Goethe, das Hegel in seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte aufnimmt: „Napoleon sagte zu Goethe, dass das Interesse der Tragödie das Schicksal sei, und bei uns, da wir dieses Fatum der Alten nicht mehr hätten, könne an die Stelle desselben die Politik treten“29. Die Moderne ist eine Zeit ohne Schicksal, oder besser gesagt ist die Politik ihr Schicksal. Das ist eine direkte Folge der Selbstbehauptung des Prinzips der subjektiven Freiheit gegen die alte kompakte Sittlichkeit. Was die Tragödie angeht, entspricht dieser Änderung die Tatsache, dass „bei der modernen Tragödie […] der Chor nicht [passt]“30. Da wir gesehen haben, welches Gewicht Hegel zufolge dem Chor in der alten Tragödie zukommt, dürfte klar sein, dass die Unverträglichkeit des Chors mit der modernen Tragödie keine bloß dramentheoretische Bemerkung ist, sondern dafür steht, dass das moderne Gemeinwesen nicht mehr die Form einer kompakten sittlichen Einheit haben kann. Der „Internalisierung“ der sittlichen Mächte im menschlichen Subjekt entspricht die „Internalisierung“ der Gerechtigkeit im politischen Subjekt, nämlich dem Staat31. Dass der Staat der Träger nun internalisierter sittlicher Bestimmungen ist, heißt somit nicht, dass er zu einem absoluten, quasi-göttlichen Subjekt wird, dem gegenüber die Individuen unterlegen sind, sondern ganz im Gegenteil, dass Individuen nunmehr über einen Rahmen für die Verwirklichung und Ausübung ihrer konkreten und selbstbewussten Freiheit verfügen. In der Moderne ist die Gerechtigkeit nicht mehr die äußerliche, undurchschaubare Macht des Schicksals, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen und Verhandlungen, um es zunächst in einem nicht-Hegelschen Vokabular zu formulieren. In Hegels Worten: „Die Verfassung ist [die] Gliederung der Staatsmacht. […] [Die Verfassung] ist die existierende 29  Hegel, Vorlesungen 12, 393. 30  Hegel, Vorlesungen 2, 303. 31  Die Internalisierung äußerlicher Bestimmungen im Subjekt bzw. das Werden der Substanz zum Subjekt durch die Internalisierung äußerlicher Bestimmungen ist wohl der Kern der ganzen hegelschen Philosophie. Durch diesen Prozess der Internalisierung kommt das Subjekt zum Bewusstsein und zur Wahrheit seiner selbst bzw. wird der Begriff realisiert. Dementsprechend werden jene Bestimmungen nun nicht mehr als abstrakte äußerliche Notwendigkeit, sondern als konkrete innerliche Freiheit erfasst. Dieser Prozess, der in der Gleichstellung von subjektiver Logik und Logik des Begriffs in der Wissenschaft der Logik seine logische Grundlage hat und der das Ganze des hegelschen Systems durchzieht, hängt mit dem Prozess der Wiederversammlung dessen zusammen, was der Geist in seiner Entwicklung entäußert hat. In Hegels Worten: Er ist Er-Innerung.

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Gerechtigkeit als die Wirklichkeit der Freiheit in der Entwicklung aller ihrer vernünftigen Bestimmungen“32. Im Klartext: Die Gerechtigkeit existiert im modernen Staat als Verfassung. Da die klassische Tragödie das Eintreten der Gerechtigkeit in der Gestalt der Notwendigkeit des Schicksals als ihren substantiellen Inhalt darzustellen hatte, und da im modernen Staat die Gerechtigkeit nun die Form der Verfassung annimmt, folgt, dass das moderne Drama keinen substantiellen Inhalt mehr haben kann. So inszenieren z.B. Shakespeares Tragödien Charaktere, die lediglich von besonderen Leidenschaften geleitet werden: die Liebe in Romeo und Julia, die Eifersucht in Othello, die Machtbegierde in Macbeth, die Torheit im König Lear usw33. Repräsentativ für Hegels Auffassung des modernen Dramas ist auch der Fall Schillers: in seinen Dramen, vor allem in den Räubern und im Wallenstein, wird gezeigt, wie in einem schon von objektiven normativen Bindungen strukturierten sozialen Zusammenhang der subjektive Versuch, die bestehende Sittlichkeit zu verändern, nicht zu einer – wenn auch leidvollen – Versöhnung und Anerkennung neuer Werte führt, wie das in der klassischen Tragödie der Fall war, sondern zum Scheitern des Protagonisten, dessen Handlung trotz der guten Absichten nun in einem verzweifelten Verbrechen resultiert34. Um Brecht zu paraphrasieren, braucht die moderne Sittlichkeit in ihrem normalen Zustand keine Heroen. Die heroische Handlung im modernen Drama führt Spaltung ein, ohne ein Versöhnungsschauspiel darzubieten, mit dem der Bürger/Zuschauer sich sowohl ethisch als auch ästhetisch identifizieren kann. Es kann einerseits die Geistaussöhnung nicht erbringen, die dem Ausgang der klassischen Tragödie eigen war, andererseits kann es zumindest auf direkte Weise kein Paradigma für die Rechtfertigung der Sittlichkeit und die Handlungsorientierung darstellen. Dem Scheitern der individuellen heroischen Handlung entspricht die Unzulänglichkeit der Tragödie und allgemein der Kunst als Gestalt des absoluten Geistes – angesichts der Handlungsorientierung und der Sittlichkeitsrechtfertigung in der modernen Welt35. Das ist eine Implikation von Hegels sogenannter und oft missverstandener These vom Ende der Kunst36. Die klassische Tragödie und allgemein die klassische Kunst sind schließlich nur ihrer Zeit angemessen, da sie auf einer substantiellen Sittlichkeit basieren, die 32   G W 20, 509. 33  Hegel/Gethmann 2004b, 233–234. 34  Hegel/Gethmann 2004a, 87–88. 35  Vgl. Weisser-Lohmann 2005. 36  Ich kann hier nicht ausführlich auf dieses weitreichende Thema eingehen, mit dem ich mich an anderer Stelle auseinandergesetzt habe: Vgl. Siani 2011a, 2011b, 2013.

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dem Zuschauer als solche vermittelt werden kann. Demgegenüber ist das moderne Drama nicht selbstgenügsam: Um die Motivationen der Handlung und des Scheiterns des Heroen nachzuvollziehen, schreiten wir über die Form der Kunst hinaus auf eine andere Ebene: diejenige der Reflexion und der Philosophie, der Form des absoluten Geistes der modernen Welt37. Die höchsten Inhalte können nicht mehr durch eine ästhetisch-mythologische Form erfasst, gerechtfertigt und vermittelt werden, sondern nur durch die begrifflichphilosophische Rekonstruktion. Das bedeutet auch, dass sie für den Menschen durchschaubar geworden ist; oder vielleicht besser gesagt, dass alle höchsten Inhalte jetzt menschlich geworden sind: ja, vielleicht allzumenschlich – die Politik ist nun das Schicksal. Somit nehmen Recht und Gerechtigkeit eine andere Gestaltung an. Recht wird zum Dasein des freien und selbstbewussten Willens, das argumentativ und rational gerechtfertigt werden kann: ich kann ein Recht beanspruchen, wenn es tatsächlich ein Dasein meiner Freiheit darstellt, was nur begrifflichdiskursiv geprüft werden kann. Gewiss können verschiedene Rechte miteinander in Konflikt geraten, und zwar nicht nur im Sinne des horizontalen Konflikts der Rechte von privaten Individuen miteinander, sondern auch und vor allem im Sinne des vertikalen Konflikts verschiedener Rechtsebenen, welcher in Hegels Rechtsphilosophie thematisiert wird – abstraktes Recht gegen Moralität, Moralität gegen Sittlichkeit, Recht der Familie gegen Recht der bürgerlichen Gesellschaft, Recht des Staats gegen bürgerliche Gesellschaft usw.: „Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist. […] Die Moralität, die Sittlichkeit, das Staatsinteresse ist jedes ein eigentümliches Recht, weil jede dieser Gestalten Bestimmung und Dasein der Freiheit ist. In Kollision können sie nur kommen, insofern sie auf gleicher Linie stehen, Rechte zu sein […]. Aber die Kollision enthält zugleich dies andere Moment, daß sie beschränkt und damit auch eins dem anderen untergeordnet ist“38. Gerechtigkeit wird zum allgemeinen Rahmen, innerhalb dessen diese Konflikte auf bewusste und rationale Weise verwaltet werden können: Sie existiert, wie schon gesehen, als Verfassung – als Resultat politischer Entscheidungen und Abmachungen. Aber, wie ich im nächsten Abschnitt erläutern werde, ist die Gerechtigkeit als Verfassung, die dem modernen Staat eigentümlich ist, keineswegs die letztgültig abgeschlossene und allmächtige Gestalt der Gerechtigkeit. Im Gegenteil bleibt sie immer etwas partikuläres und unvollendetes, da sie, wie jedes andere Recht bis auf eines, einem höheren Recht untergeordnet ist. Dieses eine Recht, 37  Vgl. Gethmann-Siefert 2005, 330f. 38   G W 14.1, 46, Anm.

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das allein keinem anderen untergeordnet ist, ist das Recht des Weltgeistes, wie dem Schluss der zuletzt zitierten Passage zu entnehmen ist: „Nur das Recht des Weltgeistes ist das uneingeschränkt absolute“.

Die Weltgeschichte ist das Weltgericht

Mit dem Weltgeist als einzigem Träger eines absoluten Rechts kommen wir zu den letzten beiden Abschnitten, die auch der Widerlegung des veralteten, aber noch nicht völlig aufgelösten Bildes von Hegel als Theoretiker eines absoluten Staates, in dem die Geschichte an ihr Ende gekommen sei bzw. kommen werde, dienen sollen. (Ob in diesem Bild das Ende der Geschichte die Gestalt des preußischen Staats, der klassenlosen Gesellschaft oder der westlichen liberalen-kapitalistischen Demokratien annimmt, ist schließlich gleichgültig). Wie wir gesehen haben, ist auch der Staat nur eine der begrenzten Stufen der Verwirklichung des Rechts – wenn auch die höchste. Dass das Recht des Staats keinen Anspruch auf Absolutheit hat, wird an Hegels Erläuterung des „äußeren Staatsrechts“ deutlich. Auf der Ebene des äußeren Staatsrechts sind Staaten „im Naturzustande gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit“39. Staaten verhalten sich zueinander als besondere Individuen40; deswegen kann kein Staat einen Anspruch auf ein absolutes Recht erheben. Da es zwischen Staaten „keinen Prätor“ gibt41, ist klar, dass Hegel zufolge das innere Staatsrecht die höchste politische Instanz der Gerechtigkeit ausmacht. Die Ebene des äußeren Staatsrechts ist, um Hegels Charakterisierung der bürgerlichen Gesellschaft zu paraphrasieren42, das System der verlorenen Gerechtigkeit. Es gibt keine interstaatliche Verfassung, die Konflikte auf prosaische, prozedurale Weise regulieren kann. Interstaatliche Übereinkünfte bleiben immer der Kontingenz des guten Willens der Regierungen ausgesetzt. Fällt der gute Wille aus, bleibt nur der Krieg als Mittel zur Lösung der Konflikte: „Der Streit der Staaten kann deswegen, insofern die besonderen Willen keine Übereinkunft finden, nur durch Krieg entschieden werden“43. Die allgemeine 39   G W 14.1, 270. 40   G W 14.1, 272–273. 41   G W 14.1, 270, Anm. 42  Mit der bürgerlichen Gesellschaft haben wir „das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“ (GW 14.1, 160). 43   G W 14.1, 270.

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Bestimmung kehrt hier zur Gestalt des Sollens zurück44. Interessant im Hinblick auf meinen Antigonebezug, beschreibt Hegel das Verhältnis der Staaten gegeneinander fast wie ein dramatisches Theaterspiel: „In das Verhältnis der Staaten gegeneinander, weil sie darin als besondere sind, fällt das höchst bewegte Spiel der inneren Besonderheit der Leidenschaften, Interessen, Zwecke, der Talente und Tugenden, der Gewalt, des Unrechts und der Laster wie der äußeren Zufälligkeit, in den größten Dimensionen der Erscheinung – ein Spiel, worin das sittliche Ganze selbst, die Selbständigkeit des Staats, der Zufälligkeit ausgesetzt wird“45. Das Verhältnis der Staaten gegeneinander ist von Endlichkeit, Empirie und Zufälligkeit gekennzeichnet, und nicht von der (bedingten) Allgemeinheit, Rationalität und Notwendigkeit, die dem inneren Staatsrecht eigentümlich sind. Das Thema der politischen Gerechtigkeit kommt also in den interstaatlichen Beziehungen nicht vor. Dabei entsteht jedoch dialektisch eine höhere Ebene, die des Geistes der Welt, wobei klar wird, dass das Recht der Staaten nicht in den Staaten selbst, sondern in deren Beitrag zur Weltgeschichte seine wahrhafte Vollendung findet: „Die Prinzipien der Volksgeister sind um ihrer Besonderheit willen, in der sie als existierende Individuen ihre objektive Wirklichkeit und ihr Selbstbewusstsein haben, überhaupt beschränkte, und ihre Schicksale und Taten in ihrem Verhältnisse zueinander sind die erscheinende Dialektik der Endlichkeit dieser Geister, aus welcher der allgemeine Geist, der Geist der Welt, als unbeschränkt ebenso sich hervorbringt, als er es ist, der sein Recht – und sein Recht ist das allerhöchste – an ihnen in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt“46. Die Allgemeinheit und das unbeschränkte Recht, welche auf der Ebene der Weltgeschichte etabliert werden, sind aber nicht im engeren Sinne politischer Natur, da keine entsprechende politische Institution dafür zuständig ist. Nach der politischen Gerechtigkeit des inneren Staatsrechts und ihrem Verlust im äußeren Staatsrecht kehrt die Gerechtigkeit in einer im oben genannten Sinne nicht-politischen Form zurück. Hegels Trennung der beiden Ebenen des „äußeren Staatsrechts“ einerseits und der „Weltgeschichte“ andererseits erlaubt es, das notwendig transitorische und mit Zufälligkeit behaftete Wesens des Staats zu denken und dennoch zugleich anzuerkennen, dass Staaten nichtsdestotrotz zum Recht des Geistes der Welt (man könnte auch sagen: der Menschheit) beitragen. Die Sphäre der Weltgeschichte markiert den Übergang 44  Vgl. GW 14.1, 270. 45   G W 14.1, 272. 46   G W 14.1, 272–273.

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vom objektiven Geist und dem Recht der Politik zum absoluten Geist, wobei das Recht der Politik seine Wahrheit findet47. Einerseits gibt es ein objektives Recht, das der Souveränität des Staats innewohnt, andererseits eine endgültige Gerechtigkeit, die jenem Recht überlegen ist. Die politische Gerechtigkeit, die im Staat verwirklicht wird, bleibt immer beschränkt, anders als die nichtpolitische Gerechtigkeit, die am Übergang vom objektiven zum absoluten Geist zutage tritt: „Gerechtigkeit und Tugend, Unrecht, Gewalt und Laster, Talente und ihre Taten, die kleinen und die großen Leidenschaften, Schuld und Unschuld, Herrlichkeit des individuellen und des Volkslebens, Selbständigkeit, Glück und Unglück der Staaten und der Einzelnen haben in der Sphäre der bewussten Wirklichkeit ihre bestimmte Bedeutung und Wert und finden darin ihr Urteil und ihre, jedoch unvollkommene Gerechtigkeit. Die Weltgeschichte fällt außer diesen Gesichtspunkten“48. Wie weise, tugendhaft und rational Staaten oder Individuen auch immer sein mögen: ihr Recht ist immer ein beschränktes und die von ihnen verwirklichte Gerechtigkeit immer unvollkommen. Die Weltgeschichte ist die letzte, definitive Instanz der Gerechtigkeit, die vor keiner Verfassung Ehrfurcht hat: Weltgeschichte ist das Weltgericht, wie Hegel, Schiller zitierend, schreibt. Die Weltgeschichte als Weltgericht ist wohlgemerkt keine transzendente Macht wie das Schicksal der Antigone. Die Gerechtigkeit, die sich in der Weltgeschichte realisiert, wohnt nun der menschlichen Welt inne und ist philosophisch rekonstruierbar als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit: „Die Weltgeschichte ist ferner nicht das bloße Gericht seiner Macht, d. i. die abstrakte und vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals, sondern […] die aus dem Begriffe nur seiner Freiheit notwendige Entwickelung 47  Es wäre hier der Ort für eine Diskussion des hegelschen Gebrauchs des Wortes „absolut“, und insbesondere der Frage, ob „absolut“ als Attribut des Rechts des Weltgeistes Absolutheit im Sinne des absoluten Geistes impliziert. Während Hegel das Wort „absolut“ mit Bezug auf Recht m.E. nicht im technischen Sinne des „absoluten Geistes“ verwendet, ist jedoch auch unbestreitbar, dass die Weltgeschichte nicht nur das letzte Moment des objektiven Geistes darstellt, sondern auch den Übergang zur Absolutheit des absoluten Geistes. Ein Ausführen dieses Themas ist hier nicht möglich, jedoch will ich zumindest die relevante Passage aus dem letzten Paragraphen des objektiven Geistes in der Enzyklopädie anführen: „Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besonderen Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abstreift, erfaßt seine konkrete Allgemeinheit und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich ist“ (GW 20, 530). 48   G W 14.1, 275.

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der Momente der Vernunft und damit seines Selbstbewusstseins und seiner Freiheit“49. Mit anderen Worten behauptet der Lauf der Geschichte also nicht das bloße Recht des Mächtigsten (das wäre auch keine Gerechtigkeit), sondern das Recht des jeweils höheren Moments des Bewusstseins der Freiheit. Dabei wird deutlich, was die Trennung von „innerem Staatsrecht“, „äußerem Staatsrecht“ und „Weltgeschichte“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Obwohl das Recht der subjektiven Freiheit im modernen Staat verwirklicht und institutionell gesichert wird, entsteht dabei die Gefahr, dass der moderne Staat auf diesem Grund ein absolutes Recht für sich beansprucht. Dass das Recht der einzelnen Staaten jedoch nur partiell und der Kontingenz ausgesetzt ist, zeigt die Tatsache, dass das Verhältnis der Staaten zueinander die Naturzustandsform annimmt. Nun, wäre Hegel ein Skeptiker oder ein Relativist, dann wäre diese zweite Naturzustandsform der Schluss des objektiven Geistes. Aber im Gegenteil: Oberhalb des äußeren Staatsrechts (und jedes anderen Rechts) gibt es das Weltgericht der Weltgeschichte, worin alle besonderen Rechte ihre Wahrheit und Allgemeinheit haben.

Antigone und die Menschenrechte

Da die Weltgeschichte die letzte Instanz der Gerechtigkeit ausmacht – eine Gerechtigkeit, die aber nicht mehr im strengen Sinne „politisch“, sondern das Scharnier zwischen objektivem und absoluten Geist ist –, ist es von höchstem Belang, die vollendete Gerechtigkeit der Weltgeschichte auf eine möglichst anschlussfähige und attraktive Weise zu interpretieren. In diesem Sinne werde ich zum Schluss meines Beitrags einen interpretatorischen Vorschlag machen, wobei dies aus Gründen des Umfangs nur thetisch geschehen kann und die genauere Argumentation auf eine andere Gelegenheit verschoben werden muss50. Durch diesen Vorschlag wird der Gedankengang, den ich hier verfolgt habe, abgeschlossen, indem ich skizzenhaft eine Verbindung von Hegels Antigonedeutung zur Frage nach der Rolle und Natur der Menschenrechte herstelle. Ich will vorschlagen, dass die Trennung der zwei Ebenen des Verhältnisses der Staaten gegeneinander und der Weltgeschichte gemäß dem tragischen Modell der Unterscheidung von Opposition einseitiger, aber sich Absolutheit anmaßender Rechte einerseits und höherer Gerechtigkeit andererseits gedeutet 49   G W 14.1, 274. 50  Für einige Anregungen verweise ich auf meinen Aufsatz: Siani 2014b.

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werden kann. Das heißt natürlich nicht, dass das Hegelsche Verständnis von Gerechtigkeit auf globaler Ebene meines Erachtens dem dunklen, undurchsichtigen Schicksal der klassischen Tragödie gleichen würde. Vielmehr meine ich, dass die dialektische Bewegung, die in Hegels Deutung der Antigone zustande kommt, zur Erläuterung des Hegelschen Verständnisses von interstaatlichen Beziehungen und Gerechtigkeit auf der globalen Ebene angewandt werden kann, und dass dadurch dieses Verständnis an Aktualität und Attraktivität gewinnt. Der Hegelsche Parallelismus von Individuen und Staaten könnte als Beweis für seinen Nationalismus und Bellizismus karikiert werden. Dem entgegen glaube ich, dass durch diesen Parallelismus ein Nerv unserer zeitgenössischen Welt getroffen wird. Kurz: die interstaatlichen Beziehungen sind der Boden eines Kampfes um Anerkennung auf globaler Ebene, parallel zum Kampf um Anerkennung seitens einzelner Individuen und Mächte, der, in der westlichen Welt, von Antigones Schicksal zur politischen und immanenten Konzeption der Gerechtigkeit und zum Rechtsstaat geführt hat51. Unser zeitgenössischer globaler Kampf um Anerkennung nimmt offensichtlich oft beunruhigende Formen an: ethnische und religiöse Konflikte, ideologische Unverträglichkeit, Verhältnisse reiner ökonomischer oder militärischer Macht, Clashes of Civilizations usw. In all diesen Formen wird der Kampf zu einem absoluten Zusammenstoß, der den Fortschritt in der Verwirklichung der Freiheit bedroht, indem das Recht der Freiheit des Subjekts verletzt wird. Eben hier tritt der Menschenrechtsdiskurs ein. Die Aufgabe des Menschenrechtsdiskurses besteht darin, den Kampf um Anerkennung soweit wie möglich in Richtung eines Kampfes der Behauptung sittlich-politischer Formen zu lenken, in denen das Recht der Freiheit des Subjekts als vorrangig und grundsätzlich unantastbar gilt. Man kann diese Aufgabe natürlich als Utopie zurückweisen, oder aber man kann danach streben, die begrifflichen Mittel zum Entwurf einer „realistischen Utopie“52 auszuarbeiten. In diesem Sinne ist es vor allem wichtig, an der Lehre von Hegels Antigonedeutung festzuhalten, derzufolge der Konflikt von Individuen, die sich als integralistische Träger absoluter Werte oder Rechte verstehen, zu tragischen Ausgängen führt. Meinem Vorschlag zufolge ist die letzte Instanz der Gerechtigkeit, die in der Weltgeschichte verwirklicht wird, eine globale Gerechtigkeit, die in der Idee von Menschenrechten verkörpert ist. Mit anderen Worten ist das einzige Recht, das jedem anderen überlegen ist, das Recht des menschlichen Subjekts 51  Siehe schon Schmidt 1999, insbes. 312–313. 52  Ich benutze den Ausdruck im Sinne von Rawls 1999, 5–7.

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als solchem, d.i. das Menschenrecht, und die einzige Gerechtigkeit, die vollendet ist, diejenige internationale Gerechtigkeit, die das Menschenrecht schützt und stärkt. Wohlgemerkt mag dieser Interpretationsvorschlag nicht hegelsch klingen, da Hegel weder Menschenrechte und Weltgeschichte verbindet, noch eine explizite Theorie der Menschenrechte verfasst hat53. Jedoch glaube ich, dass es gute Gründe gibt, Hegels Geschichtsphilosophie durch einen gezielten Verweis auf die Idee der Menschenrechte zu aktualisieren – aber auch umgekehrt dafür, einen hegelsch-dialektischen Ansatz in die philosophische Debatte um die Menschenrechte einzuführen, als Alternative oder Ergänzung zum rationalistischen Kosmopolitismus. Der Menschenrechtsdiskurs beruht nämlich auf dem Prinzip der Freiheit des Subjekts als ultimativer normativer Quelle. Dies ist wohlgemerkt potenziell ein universelles Prinzip, jedoch wurde es historisch und kulturell in der modernen westlichen Welt entwickelt. Die Frage, ob und wie dieses Prinzip in anderen historischen und kulturellen Realitäten (aber auch in manchen Gemeinschaften oder Lehren im Westen selbst) anerkannt und konkret durchgesetzt werden kann, ist ein heikles Thema. Denn dabei kann das Prinzip der subjektiven Freiheit und Handlung, ähnlich wie in Hegels Deutung der klassischen Tragödie, einen Konflikt zwischen sittlichen Mächten in Gang setzen, der keine „konstitutionelle“ Lösung finden kann, d.i. keine Lösung durch die prosaische immanente Gerechtigkeit des Rechtsstaats. Der Konflikt zwischen kommunitaristischen Werten und dem auf dem Recht der subjektiven Freiheit und auf der westlichen Rationalitätsform beruhenden Kosmopolitismus kann seinerseits eine tragische Gestalt annehmen. Beiden Seiten droht die tragische Einseitigkeit, derzufolge jeder als Träger absoluter, unvermittelbarer Werte auftritt. Indem jede Seite ein absolutes Recht beansprucht und die jeweils andere Seite als das absolut Andere essentialisiert, fällt die Gerechtigkeit außerhalb beider Seiten. Genau wie Hegel zufolge Antigone keine abstrakte Opposition von positivem Recht und ungeschriebener Gerechtigkeit darstellt, ist auch der Konflikt von Kosmopolitismus und kommunitaristischen Werten als eine Kollision zwischen verschiedenen Dimensionen des Rechts zu verstehen, die im Rahmen einer höheren Gerechtigkeit versöhnt werden muss, welche beide Seiten anerkennt und schützt54. Der 53  Siehe aber u.a. Schmidt 2012, 462–464; und Buchwalter 2013. 54  In einer schon erwähnten Passage macht Hegel deutlich, dass die Zurückweisung eines abstrakten Kosmopolitismus dem Prinzip der subjektiven Freiheit nicht nur nicht widerspricht, sondern für seine konkrete Verwirklichung sogar notwendig ist: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist. Dies Bewußtsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit, – nur

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Unterschied zu Antigone ist hier aber auffällig: Dort nahm die versöhnende Gerechtigkeit eine negative, ästhetisch mächtige, aber der Reflexion nicht völlig zugängliche Form (das Schicksal) an, während wir über die philosophische Form verfügen, die allein zur Verwirklichung und Verteidigung der subjektiven Freiheit adäquat ist. Einen angemessenen Rahmen zu entwickeln mit dem Ziel, beide Seiten zu versöhnen, ohne auf die universelle Leistungsfähigkeit des Menschenrechtsdiskurses zugunsten eines reinen Relativismus zu verzichten, ist die zentrale Aufgabe der Philosophie der Menschenrechte (und, selbstverständlich, eines der größten offenen Probleme unserer Zeit). Meines Erachtens impliziert dieser Versöhnungsversuch notwendigerweise eine tiefgehende Revision des westlichen Kosmopolitismus, sowohl seiner begrifflichen Grundlagen als auch seiner praktischen Anwendungen55. Gegen einen abstrakten und eitlen Kosmopolitismus muss die Philosophie der Menschenrechte den geographisch und historisch veränderbaren Charakter der Reflexion zur Natur des Menschen berücksichtigen, wobei sich empirische Kontingenz und das Bedürfnis nach politisch-philosophischer Vermittlung treffen. Insofern macht mein Interpretationsvorschlag einen günstigen Ausgangspunkt aus, demzufolge der Menschenrechtsdiskurs eben an der Schnittstelle praktisch-politischer Handlung und kulturell-begrifflichen Hinterfragens der Natur des Menschen und seiner Freiheit situiert ist, was der hegelschen Verortung der Weltgeschichte am Übergang vom objektiven zum absoluten Geist entspricht. Ein auffälliger Unterschied ist natürlich, dass es anders als zu Hegels Zeiten heute politische Institutionen gibt, die sowohl für die Verwaltung internationaler Angelegenheiten als auch für die Durchsetzung und den Schutz der Menschenrechte zuständig sind. Eben in der Gestaltung und Entwicklung solcher Institutionen entsteht eine Kollision zwischen Staatssouveränität und globaler Gerechtigkeit, die eine ständige reflektierende Vermittlung zwischen verschiedenen Instanzen und zwischen universellem Menschenrecht und lokalen Interessen und Wertsystemen notwendig macht. Dieser ständige Vermittlungs- und Anpassungsprozess muss auf einer rigorosen philosophischen Basis vonstatten gehen; denn vor- bzw. nachkonzeptuelle Vorgehensweisen der Verwirklichung des Rechts der Freiheit des Subjekts sind nicht adäquat, da sie nur ein begrenztes Reflexionspotential aufweisen, wie der Fall der Tragödie und ihre Unzulänglichkeit in der modernen Welt zeigen56. Die Alternative

dann mangelhaft, wenn es etwa als Kosmopolitismus sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen“, GW 14.1, 175, Anm. 55  Dazu verweise ich nochmals auf Siani 2014b. 56  Siehe auch meinen Aufsatz: Siani 2014c.

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zum tragischen Modell ist die Prosa der philosophischen Reflexion – und Antigones Erbe ist, immer noch, die Mühe des Begriffs57. 57  Ich habe frühere Fassungen dieses Beitrags bei einer Ringvorlesung an der Universität Hildesheim (21/11/2013), einer Internationalen Tagung an der Università degli Studi di Padova (15/07/2014), einer Gastvorlesung an der Universidad Autónoma de Madrid (11/03/2016) und einem Humboldt-Kolleg an der Aristoteles Universität von Thessaloniki (07/10/2016) vorgetragen. Ich bedanke mich bei den Zuhörern, die mir wertvolle Hinweise gegeben haben, sowie bei Leonardo Amoroso für seine Kommentare zur letzten Fassung. Schließlich gilt mein Dank den Herausgebern dieses Bandes sowie Michael Städtler für die sprachliche Hilfe und die vielen wertvollen inhaltlichen Vorschläge.

Zweite Natur und Sittlichkeit Über Hegels Auffassung von Inhabitanz Elisa Magrì Einleitung Mein Aufsatz konzentriert sich auf das Problem der Gewohnheit in Hegels Philosophie. Wie hinreichend bekannt ist, hat Hegels Philosophie dem Problem der Habitualität viel Aufmerksamkeit geschenkt. So geht Hegel in der Philosophie des subjektiven Geistes (Werke 10) und in der Philosophie des Rechts (Werke 7) davon aus, dass Habitualität für zweite Natur steht, insofern sie die Inbesitznahme des Geistes und somit den Übergang von der Natur zum Geist vermittelt. Während in der Philosophie des subjektiven Geistes Gefühlsbestimmungen durch Gewohnheit verleiblicht und zu Willensbestimmungen werden, legt die Philosophie des Rechts die Verbindung zwischen Gewohnheit und ethischer Gesinnung dar. Bemerkenswerterweise verbindet Hegel Gewohnheit in der Philosophie des Rechts mit der Sittlichkeit, indem er zeigt, dass das Sittliche an die Stelle des ersten, bloß natürlichen Willens gesetzt ist und als allgemeine Handlungsweise erscheint (Werke 7, 301). Das heißt, dass anhaltende ethische Dispositionen notwendig sind, um Moralität zu aktualisieren. Somit kann mit Recht behauptet werden, dass Hegel eine Theorie der Habitualität vorgelegt hat, die im Reich der Subjektivität verankert ist, ohne dabei das Feld der allgemeinen Handlungsfähigkeit zu ignorieren. In dieser Hinsicht können drei Hauptlinien einer Interpretation der Gewohnheit als zweite Natur in Hegels Philosophie identifiziert werden: (a) Eine Interpretation, die den Prozess der Befreiung von der Natur betont (McCumber 1990), derzufolge Gewohnheit zur Befreiung des Geistes von natürlichen Beschränkungen beiträgt, sowie zwei weitere Positionen, die sich aus aktuellen Debatten zum Naturalismus speisen. Naturalismus ist ein breites Konzept, das verschiedene philosophische Positionen umfasst, die zumeist von einem Problem ausgehen, welches McDowell in Mind and World in Bezug auf das Verhältnis von Erfahrung und Konzeptualität aufgeworfen hat. In diesem Sinne ist Gewohnheit (b) entscheidend für die Entwicklung von Fertigkeiten und Fähigkeiten, die letztendlich den Weg zum Bewusstsein ebnen (Pinkard 2012, Menke * Danksagung: Ich bedanke mich bei dem Irish Research Council (Fördermittelgeber) für die finanzielle Unterstützung dieser Arbeit und bei Andreas Giesbert für die Hilfe bei der Übersetzung dieses Beitrags aus dem Englischen.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_011

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2013, Peters 2016). Nach einem aristotelischen Modell behaupten Vertreter von (b), dass Hegels Auffassung der Gewohnheit die eines verleiblichten Prozesses sei, der keine strenge Trennung zwischen Geist und Natur beinhaltet. So schreibt Menke, „habit is the praxis of an ontological transformation: habituation turns the body, a given or predefined being that determines who I am and what I do, into a site of possibilities“ (Menke 2013, 36). In Bezug darauf betont eine weitere Position (c), dass der Begriff der Gewohnheit nicht so sehr mit der Erklärung des Überganges von Natur zu Geist befasst sei, sondern vielmehr mit dem Problem der Entwicklung und der Selbstaneignung der Vernunft (Halbig 2006, Forman 2010). In diesem Sinne stellt der Begriff der zweiten Natur das Medium dar, durch welches sich die Vernunft in konkreter Erfahrung verwirklicht. Das bedeutet nicht, dass natürliche Rezeptivität notwendigerweise konzeptuell ist, sondern suggeriert eher, in Formans Worten, dass „the world-directedness of empirical consciousness is initiated by the habitual unity of the I, not by the sensations themselves“ (Forman 2010: 352). Anders formuliert, verfügt die Subjektivität für Hegel über ein verbindendes Vermögen, das durch die Gewohnheit etabliert wird und durch das wir kohärente Erfahrungen machen, ohne auf den Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität zurückgreifen zu müssen. Während sich die meisten dieser Debatten auf den normativen Status von Gewohnheit und sozialen Praktiken konzentrieren (zum Beispiel, in welchem Sinne Natur als normativ oder geistig – oder vice versa – in welchem Sinne soziale Praktiken und Verhaltensweisen als natürlich gelten können), werde ich die Analyse in diesem Aufsatz auf das allgemeinere Problem beschränken, inwieweit praktische Freiheit überhaupt sinnvoll unter Bezugnahme auf Habituskonzepte diskutiert werden kann. Dieses Problem ist neuerlich von Houlgate (2016b) und Lumsden (2016) aufgegriffen worden. Houlgate zufolge ist die Beziehung von Individuen und der Sittlichkeit im Wesentlichen durch Vertrauen geprägt. Er betont, wahres Vertrauen „is not blind, but it is the immediate or educated recognition that right is actualized in the world. It is the understanding in the form of feeling, that right and the good – which include my right and my well-being – are embodied in the laws and institutions around me“ (Houlgate 2016b, 113). Während nach Houlgate für den Bürger gilt, dass „[he] can, so to speak, relax and does not need constantly to take responsibility for actualising right, because his life is informed by trust in the existing institutions of ethical life“ (Houlgate 2016b: 113), warnt Lumsden: „without dissent and contestation habits and customs become stagnant“ (Lumsden 2016: 83). Das Problem der Gewohnheit in Bezug auf die Sittlichkeit besteht also genau darin, die Grenze zwischen bewusster und passiver Akzeptanz von Normen zu bestimmen.

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Im Folgenden werde ich zeigen, dass die Gewohnheit zwar nicht die Grundlage für das Vertrauen legen kann, welches für die Sittlichkeit maßgeblich ist, aber dass Habitualität dennoch entscheidend für die Bildung der Subjektivität und der Sittlichkeit ist. Tatsächlich ist es ein Zeichen für das Aufkommen einer tieferliegenden sozialen Krise, wenn Habitualität zu bloßer Gewohnheit und zu einem bloßen Automatismus wird. Um meine Behauptung klarer zu machen, werde ich zuerst näher auf die Bedeutung der Gewohnheit in Bezug auf Subjektivität eingehen. Danach werde ich mich auf die Verbindung von Gewohnheit und Sittlichkeit konzentrieren, indem ich eine alternative Lesart vorschlage, die sich auf das Konzept der Inhabitanz stützt. Mit Inhabitanz bezeichne ich die spezifische Form, in der Habitualität im Gegensatz zu einem begründenden Vermögen tatsächlich durch die Normen und Traditionen des Staates in einer Weise instituiert ist, die kompatibel mit praktischer Freiheit ist. Wie Lumsden (2016) und Pinkard (2012) anmerken, ist es kein Zufall, dass das Wort „Gewohnheit“ in vielen Sprachen eine etymologische Verbindung zu „Leben“ und „Wohnen“ hat. Dies unterstreicht die Idee von Gewohnheiten als „lived expressions of a posited material character“ (Lumsden 2016, 79), was von den Subjekten auch so empfunden wird. Wer mit Heidegger vertraut ist, wird dieses Thema sicherlich auch mit dessen bekannten Überlegungen zu Bauen, Wohnen, Denken in Verbindung bringen (Heidegger [1951] 2000). Für Heidegger enthüllt das Verhältnis von Wohnen und Bauen das Wesen des Menschen auf eine Weise, die sich nicht auf den bloßen Wohnort reduzieren lässt. Meiner Auffassung nach enthält der Begriff des Wohnens auch bei Hegel weitere wichtige ethische Implikationen, die ich im Verhältnis zur Idee der Inhabitanz betrachten möchte. Weit davon entfernt, lediglich eine Verortung im Raum anzuzeigen, bezieht sich Inhabitanz auf die Stiftung eines Freiheitsraumes, der wesentlich sozial und politisch ist. Genauer möchte ich zeigen, dass der Begriff der Inhabitanz (a) einen subjektiven Sinn von Selbstbesitznahme umfasst, der sowohl mit Handlungsfähigkeit verbunden ist wie auch (b) mit einem kollektiven Sinn von Beteiligung an mit Verantwortung verbundenen sozialen sinnstiftenden Prozessen.

Habitualität und Subjektivität

Hegels Auffassung von Habitualität im Hinblick auf leibliche Fähigkeiten wird in den Sektionen zur Anthropologie in der Philosophie des subjektiven Geistes der Enzyklopädie entwickelt. Bekanntlich ist Hegels Verständnis von Subjektivität nicht auf bloße Tatsachen des Bewusstseins gestützt. Ferner – und im Gegensatz zu Kant – unterscheidet Hegel nicht zwischen transzendentalen

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und empirischen Vermögen. Dennoch folgt Hegels Methode in der Philosophie des subjektiven Geistes einer strengen Form, indem er Subjektivität nicht als eine Anhäufung von Vermögen, sondern als ein System fasst, deren letztes Ziel die Realisierung subjektiver Freiheit ist. Was Hegel mit „subjektivem Geist“ bezeichnet, ist die systematische Darstellung derjenigen Vermögen, durch die wir die Welt und unsere eigenen Leistungsfähigkeiten erfahren. Nur mittels solcher Vermögen können Menschen überhaupt zu Subjekten und verantwortlichen Akteuren werden. Hegels Idee der Subjektivität umfasst verschiedene Schichten: die Seele (Anthropologie), das Bewusstsein (Phänomenologie) und verschiedene theoretische Vermögen, die er in den der Psychologie gewidmeten Sektionen behandelt. Die Aufteilung in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie ist eine spezifisch hegelsche Aufteilung, welche der übergreifenden und komplexen Entwicklung von Subjektivität entspricht, die sich von der Natur zur praktischen Bestimmung von Freiheit entwickelt. Dabei sollte die Dreiteilung nicht so sehr als eine Trennung der unterschiedlichen Bestimmungen von Subjektivität verstanden werden, sondern vielmehr als Entfaltung des Begriffs des Geistes. Dennoch: Wie man leicht am allgemeinen Vorgehen der Philosophie des subjektiven Geistes sehen kann, neigt Hegel dazu, Denken und Willen gesondert zu behandeln. Auch in der Psychologie unterscheidet Hegel zwischen einer theoretischen und einer praktischen Entwicklung des Geistes (Werke 10, 287 ff.). Diese Trennung soll jedoch keine Kluft zwischen Theorie und Praxis bedeuten, da Hegel betont, dass es keinen Willen ohne Denken geben kann (Werke 10, 288). Also vertritt er, dass die Einheit der theoretischen Vermögen wesentlich dafür ist, unsere praktische Freiheit in der Welt zu begründen. Folgt man diesen Voraussetzungen und nimmt man an, dass Seele und Bewusstsein notwendig sind, um überhaupt handeln zu können, bleibt immer noch offen, in welchem Sinne Seele und Bewusstsein etwas anderes als praktische Manifestationen der Vernunft sind. Dies liegt daran, dass der Wille aus hegelscher Perspektive kein gegebenes Faktum sein kann, da er verschiedene Schichten von Vermögen und Fähigkeiten voraussetzt, die die Muster für mögliche Handlungen liefern. Solange Individualität sich diese Handlungsmuster nicht als Handlungsgründe aneignet, qualifiziert sich Subjektivität nicht als praktische Vernunft. Für Hegel umfasst praktische Freiheit eine Form des Besitzes, die auf den Stufen von Seele und Bewusstsein nachdrücklich fehlt. Die gesamte Darstellung des subjektiven Geistes soll zeigen, dass die systematische Organisation von Gewohnheit, Bewusstsein und Denken eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für praktische Handlungsfähigkeit ist. In dieser Hinsicht ist Hegels Beurteilung der Gewohnheit in der Anthropologie von besonderer Bedeutung, da sie zeigt, dass subjektive Erfahrung zwar immer leiblich und in der Natur verankert ist, aber im Gegensatz zu

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sozialen Normen nicht als praktisch im normativen Sinn gelten kann. Nach Hegel erlaubt es Gewohnheit der Seele, in einem Feld erlernter Handlungen und leiblicher Bewegungen aufzugehen; daher umfasst die Gewohnheit unterschiedliche leibliche Verhaltensweisen wie Abhärtung, Gleichgültigkeit gegen die Befriedigung und Geschicklichkeit (Werke 10, 185 ff.)1. Insbesondere ermöglicht uns Gewohnheit – im Sinne von Geschicklichkeit oder skillful coping –, zu lernen wie man schreibt, läuft oder ein Instrument spielt, aber auch die Internalisierung religiöser und ethischer Normen. Darüber hinaus erwerben wir durch beständige Wiederholung von Bewegungen und Handlungen einen eigenen Stil, beispielsweise eine bestimmte Art zu laufen, zu sprechen oder zu gestikulieren. Aus diesem Grund ist Gewohnheit nicht bloß eine Reihe geistloser Wiederholungen, sondern trifft mit der Fähigkeit der Seele zusammen, den Körper von innen heraus zu beherrschen. Bei Hegel wird das Erlernen, Musik zu spielen, beispielsweise folgendermaßen bestimmt: „Auf solche Weise ist dann in der Geschicklichkeit die Leiblichkeit durchgängig und zum Instrumente gemacht, daß, wie die Vorstellung (z.B. eine Reihe von Noten) in mir ist, auch widerstandslos und flüssig der Körper sie richtig geäußert hat“ (Werke 10, 186). Mit anderen Worten, die Gewohnheit spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, den Ausdruck des Körpers zu formen – und zwar in einer Art und Weise, die Wissen und praktisches Räsonieren ausschließt, aber dennoch zur Selbsterkenntnis befähigt. Tatsächlich impliziert Habitualität eine nach außen gerichtete Projektion, was die Seele befähigt, ein Gefühl für das eigene Selbst zu entwickeln, ohne Selbstbewusstsein zu erlangen. Durch Gewohnheit besitzt die Seele sich selbst, frei von der Kontingenz der Sinneseindrücke und Gefühle. Präziser formuliert, organisiert die Gewohnheit die Mannigfaltigkeit der Erfahrung, indem sie eine permanente Verbindung zwischen der Seele und ihren Erfahrungsinhalten herstellt. In dieser Perspektive spielt Gewohnheit die gleiche Rolle wie Kants Apperzeption, wenngleich Hegels Modell sich vom transzendentalen Schematismus verabschiedet. Insofern die Seele ursprünglich in das vielfältige Gefühlsleben versunken ist, stellt die Gewohnheit den ersten grundsätzlichen Schritt zur Selbstapperzeption dar. Solch ein Übergang bedarf keiner Synthese, da er durch wiederholtes Verhalten erlangt wird, also durch einen Prozess der Sedimentierung die verschiedenen Erfahrungen kohärent zusammenfallen lässt und dadurch spontan Selbstidentität erzeugt, d.h. das wirkliche Gefühl, jemand zu sein. In dieser Hinsicht ist Habitualität sowohl passiv als auch aktiv. Während es notwendig ist, dass eine Handlung automatisch wiederholt wird, um als habitualisiert gelten zu können, wird 1  Vgl. dazu auch Testa 2009, 362–363; und Ranchio 2016, 217–229.

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ein solcher Automatismus durchaus angeeignet. Selbst wenn wir einem Pfad routiniert folgen, ohne reflexives Bewusstsein davon zu haben, was wir tun, handeln wir nicht blind, da kinetisches Bewusstsein und Selbstgefühl immer involviert sind. Daher ist beim Erwerb einer Fähigkeit wie Lesen oder Fahrradfahren Selbstvertrautheit entscheidend, um eine Situation zu bewältigen und das Ergebnis anstrengungslos hervorzubringen. Obwohl wir Gewohnheit nicht erwerben, indem wir jeden Moment eine neue Entscheidung fällen, ist sie entscheidend, um Selbstapperzeption und Selbstvertrautheit herauszubilden. Dies ist sodann nicht das Ergebnis vorhergehender Entscheidungen; Gewohnheit liegt kein „Ich tue“, sondern ein „Ich kann“ zugrunde, das ein Feld möglicher Bewegungen eröffnet. Daher ist für Hegel der habituelle Leib eine Vorbedingung des Bewusstseins, aber Gewohnheit selbst keine Eigenschaft praktischer Befreiung. Habitualität trifft gerade deshalb mit zweiter Natur zusammen, da sie die Seele mit einem konkreten Feld leiblicher Erfahrungen ausstattet, das es ermöglicht, eine einfache Stufe von Selbstapperzeption und Selbstidentität zu entwickeln. Aus diesem Grund sagt Hegel, dass die Gewohnheit „der Existenz aller Geistigkeit im individuellen Subjekte das Wesentlichste [ist]“ (Werke 10, 187). Durch Gewohnheit internalisieren wir Überzeugungen und folgen spezifischen Regeln, da Habitualität verantwortlich für die Art und Weise ist, wie eine Vorgehensweise oder eine Reihe von Gedanken zu uns gehört. Dennoch ist es wichtig anzumerken, dass die Gewohnheit nur für die Beständigkeit der Verbindung verantwortlich ist, die zwischen dem Selbst und dem Inhalt der Erfahrung hergestellt wird, nicht aber der Grund, aus dem diese Bewegungen oder Überzeugungen internalisiert wurden. Gewohnheit ist wichtig um zu erklären, wie bestimmte Inhalte beständige Attribute unseres Stils und Verhaltens werden, aber sie stellt keine Erklärung für die Validität dieses Inhalts oder unserer Überzeugungen dar. Daher ermöglicht Gewohnheit im Sinne der Anthropologie alleine kaum eine Rechtfertigung unserer praktischen Beteiligung an der Gemeinschaft und an der Sittlichkeit. Denn Habitualität fällt nicht unmittelbar mit Selbstwissen und Persönlichkeit zusammen. Auch wenn Gewohnheit nötig ist, um Selbstidentität überhaupt zu ermöglichen, ist sie nicht zureichend für die Bildung von Persönlichkeit, da diese auch Selbstbewusstsein, Denken und Willen erfordert. Im Hinblick darauf lohnt es sich anzumerken – wie ich an anderer Stelle näher gezeigt habe (Magrì 2016) –, dass die Gewohnheit Ähnlichkeiten zum Gedächtnis aufweist, denn „die Gewohnheit ist der Mechanismus des Selbstgefühls wie das Gedächtnis der Mechanismus der Intelligenz“ (Werke 10, 184). Gleichzeitig zeigt Hegel, dass das Gedächtnis zu einer höheren Stufe gehört, da es in großer Nähe zum Denken steht (Werke 10, 282 ff.). Meiner Ansicht nach vertritt Hegel einen geschichteten Ansatz der Subjektivität, um

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verschiedene Schichten der Habitualität zu berücksichtigen. Während die Gewohnheit im Sinne der Anthropologie für die intrinsische Kohärenz unserer sinnlichen und leiblichen Erfahrung verantwortlich ist, weist das Gedächtnis darauf hin, dass auf der Stufe des Denkens eine höhere Form der Habitualität involviert ist, die Denken und Selbstbestimmung ermöglicht. Genauer enthält das Gedächtnis verschiedene Vermögen, wie Retention, Reproduktion und mechanische Erinnerung (Werke 10, 277–283). Solche mnemonischen Vermögen sind sowohl verantwortlich für die Assoziation von Namen und Bedeutungen als auch für die Weise, wie wir sprachliche Regeln internalisieren, ohne auf Bilder und Repräsentationen angewiesen zu sein. In diesem Sinne trifft Gedächtnis mit dem Mechanismus der Sprache zusammen und ermöglicht dadurch dem Denken eine höhere Ausdrucksfreiheit. Dadurch ist das Gedächtnis nicht darauf beschränkt, vergangene Geschehnisse oder Erinnerungen aufzubewahren, sondern Erfahrungen in kohärente und strukturierte Bedeutungen umzuwandeln. Das entscheidende Element des Gedächtnisses ist, dass das Denken einem Weg folgt und dabei routiniert Namen und Bedeutungen verknüpft. Dies bedeutet, dass das Gedächtnis dem Selbst ermöglicht, Bedeutung zu generieren, ohne sich auf eine Synthese von Repräsentationen stützen zu müssen, sondern auf einen Mechanismus der Sedimentierung. Man kann sagen, dass das Gedächtnis die Gewohnheit in einem höheren Sinne aufnimmt, indem es unter Verwendung von Sprache Bedeutung internalisiert. Hegel zufolge ist die wichtigste Eigenschaft von Habitualität die Fähigkeit, eine Regel zu setzen, die universell auf eine Vielheit potentiell unterschiedlicher Situationen angewendet werden kann. Im Falle des Gedächtnisses entwickelt die Intelligenz die Fähigkeit des Denkens, indem es immer wieder der Sprache ausgesetzt ist. Aus dieser Perspektive ist nicht anthropologische Gewohnheit, sondern Gedächtnis die höchste Form der Habitualität, da Gedächtnis Aufmerksamkeit, Verständnis und Sprache integriert, wodurch dem Selbst die Möglichkeit der Selbstintuition gegeben wird. Im Kontrast zur anthropologischen Gewohnheit, welche die Fähigkeit des Selbstgefühls voraussetzt, aber zur Folge hat, dass man durch die eigene leibliche Erfahrung absorbiert wird, festigt das Gedächtnis – mittels Sprache – eine bleibende Verbindung zwischen dem Selbst und dem Inhalt der Erfahrung. Dies ist die Vorbedingung für Denken und Wissen, da es die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, Abstraktion und Verallgemeinerung erlaubt und damit die Möglichkeit, universelle Begriffe zu bilden. In diesem Sinne schließt das Gedächtnis Selbstbezugnahme ein, die zwischen dem Selbst und anderen Subjekten konstituiert ist2. Dementsprechend besteht 2  Quante 2011, 237–242. Wie Quante gezeigt hat, ist der Akt der Selbstbezugnahme sozial und nicht nur epistemisch konstituiert. „Deshalb ist die Struktur des Selbstbewusstseins nur unter

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die Relevanz von Habitualität darin, dass diese keinen Selbstverlust bedeutet. Ganz im Gegenteil ist Habitualität auf unterschiedlichen Stufen erfahrungsstrukturierend und befähigt das Selbst, sich selbst zu erleben und damit eine feste Basis für Selbstverhältnis und Selbstbestimmung zu legen. Dieser Aspekt ist hinsichtlich praktischer Freiheit von äußerster Wichtigkeit, da keine praktische Realisierung des Geistes ohne eine Form von Selbstheit möglich ist. Durch die ganze Philosophie des subjektiven Geistes legt Hegel einen geschichteten Ansatz des Selbst vor, der unterschiedliche Formen von Selbstapperzeption und Selbstverhältnis umfasst. Nicht zufällig ist die Spitze theoretischer Bildung “das Denken, als der freie Begriff” (Werke 10, 287), was auch bedeutet, dass der Geist seine „Besitznahme“ vervollständigt und „in seinem eigenen Eigentume“ ist (Werke 10, 287). Durch Habitualität aktualisiert sich der Geist selber und besitzt sich auf eine Weise, die nicht für selbstverständlich gelten kann, da das Erlangen der Erfahrung, jemand selbst zu sein, ein extrem verwundbarer Prozess ist. Tatsächlich weisen Geistesstörungen und mentale Entfremdungen darauf hin, dass das Fehlen oder die Beschädigung von Selbstgefühl verantwortlich für psychische Erkrankungen sind (Werke 10, 163 ff.). Bekanntlich leitet sich Habitualität vom lateinischen habere („haben“) ab. Hegel scheint die Idee sehr ernst zu nehmen, dass Habitualität die Aneignung von Fertigkeiten und Fähigkeiten umfasst, welche die natürlichen Vermögen stärken. In diesem Sinne legt Hegel nahe, dass Habitualität mit einer Sedimentierung von Erfahrungen einhergeht, welche die eigene Identität erzeugen und formen. In dieser Hinsicht sind sowohl Gewohnheit als auch Gedächtnis essentiell für geistige Besitznahme, was die Vorbedingung für die Einheit von Denken und Willen ist, die praktischer Freiheit zugrunde liegt. Während Hegel Eigentum in der Philosophie des Rechts im legalen Sinn behandelt, argumentiert er in der Philosophie des subjektiven Geistes, dass es keine Freiheit geben zwei Bedingungen instantiiert: Der aufzuhebende Gegenstand des Selbstbewusstseins muss erstens gleichartig, das heißt ein Selbstbewusstsein, sein (sonst wäre die Identitätsannahme und die dadurch implizierte Annahme der Gattungsidentität nicht gewährleistet). Und da qua Voraussetzung Autonomie zum Wesen der erstpersönlichen Selbstbezugnahme gehört, darf die durch die Begierde erfolgende Negation der Selbständigkeit des Gegenstandes zweitens kein äußerer Ein- oder Übergriff sein. Denn würde das Ich qua wollendes Subjekt seinen Gegenstand als von außen bestimmt begreifen, verfehlte es die adäquate Selbstkonzeptualisierung als sich selbst bestimmendes Wesen.“ (Quante 2011, 241.) Während die Phänomenologie des Geistes (1807) die Konstituierung der Selbstbezugnahme im Rahmen des Prozesses der Anerkennung darstellt, liefert die Philosophie des subjektiven Geistes die Explikation derjenigen Vermögen, die jeder subjektiven Realisierung des Geistes, inklusive der Anerkennung, zugrunde liegen.

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kann, die nicht auf geistigem Besitz gründet. Nachdem die Rolle der Habitualität in Bezug auf Subjektivität geklärt wurde, ist es nun möglich zu beleuchten, welche Rolle sie für die Sittlichkeit spielt.

Habitualität und Sittlichkeit

Seit seinen frühen Schriften ist Hegel mit der Idee des Ethos oder der Sittlichkeit befasst. Mit Sittlichkeit bezeichnet Hegel eine Gemeinschaft von Menschen, die durch etwas verbunden sind, das sie nicht bewusst erzeugt haben; eine Bindung, die in Institutionen wie der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat gefunden werden kann, und die gleichzeitig die Bedingung für ihr gemeinsames Handeln ist. In diesem Sinne deckt der Begriff der Sittlichkeit sowohl subjektive Verhaltensweisen als auch objektive Institutionen ab. Hegels Konzept der Sittlichkeit gründet sich auf die Vorstellung, dass Persönlichkeit nicht ohne ein Verständnis der die Gemeinschaften und Staaten formenden sozialen, politischen und kulturellen Prozesse gewonnen werden kann. In dieser Hinsicht betont Hegel in seinem Essay Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, welcher 1802/3 im Kritischen Journal veröffentlicht wurde, die Affinität des Wortes „Sitte“ zum ursprünglichen griechischen „ethos“, und merkt die Abhängigkeit von Allgemeinheit und Besonderheit an: „Die absolute Sittlichkeit aber ist nach dem Bisherigen so wesentlich die Sittlichkeit aller, daß man von ihr nicht sagen kann, sie spiegle sich als solche am Einzelnen ab. […] Sie kann sich fürs erste nicht im Einzelnen ausdrücken, wenn sie nicht seine Seele ist, und sie ist es nur, insofern sie ein Allgemeines und der reine Geist eines Volkes ist. […] Alsdann, insofern sie im Einzelnen sich als solchem ausdrückt, ist sie unter der Form der Negation gesetzt, d. i. sie ist die Möglichkeit des allgemeinen Geistes […]“ (Werke 2, 504–5). Hegel zeigt, dass die Begriffe Subjekt und Person Abstraktionen von der Sittlichkeit sind und dass die Sittlichkeit so in gewisser Hinsicht mit dem Volksgeist übereinstimmt. Die Griechen stehen exemplarisch für solch ein Zusammenleben, in dem Selbstbewusstsein durch Kunst, Religion und Philosophie erreicht wird. Jedoch ist weitaus weniger klar, in welchem Sinne dieser Volksgeist auch die „Seele“ ihrer Individuen ist. So weist Peperzak auf Folgendes hin: „by integrating morality as one of its elements into the ‚ethical’ – i.e., familial, economic, and political – life of the state, he found a way to concretize his moral abstractions; but his transition from the abstract form to the concrete content of moral behavior does not seem to offer a rigorous deduction. Instead, he likewise appeals to a factual reality whose necessity he has not proved: the people“

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(Peperzak 2003, 142). Taylor zufolge würde Hegel dem Begriff der Sittlichkeit moralische Verpflichtung zuschreiben, die jedes Individuum insofern umfasst, als es einer Gesellschaft angehört (Taylor 1975, 376). Solch eine Verpflichtung gründet sich auf geteilte Normen und Werte, sodass es keine Kluft zwischen Sein und Sollen geben kann. Nach Taylors Lesart hält die Erfüllung der individuellen Pflichten das gesamte ethische System aufrecht. Auf der anderen Seite haben neuere Interpretationen eine anti-­kantische Lesart vorgeschlagen, die sich auf Hegels Begriff der zweiten Natur konzentriert. So geht beispielsweise Italo Testa davon aus, dass das KörperGeist-Problem eine „glocal“ Bedeutung hat. Mit „glocal“ meint er, dass die Körper-Seele-Relation nicht bloß systematisch auf den Übergang von Natur zu Geist bezogen ist, sondern eine breitere Konzeption der Natur einführt. Indem er die Funktion der Seele in Bezug auf Gewohnheit und embodiment in der Anthropologie betont, argumentiert er, dass Hegels Verständnis von zweiter Natur mit einem breiten Verständnis von Natur übereinstimmt, das soziale Institutionen umfasst. Das bedeutet darüber hinaus, dass es möglich ist, auch dem sozialen Körper der Sittlichkeit eine bestimmte Weise von Naturalität zuzuschreiben (Testa 2013, 32)3. Interessanterweise weist ein solcher Zugang bemerkenswerte Parallelen zu gegenwärtigen Konzeptionen des erweiterten Geistes (extended mind) auf, wie die Idee, dass sich Kognition nicht auf einen mentalen Raum beschränkt, sondern auch Teile der Außenwelt umfasst (Clark und Chalmers). Nach Crisafi und Gallagher (2010) können beispielsweise die Institutionen, die Hegel mit den Begriffen des objektiven Geistes (Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat) beschreibt, als „mentale Institutionen“ betrachtet werden, wodurch sie eine bestimmte Form erweiterter Kognition vertreten4. Sowohl Testas als auch Crisalfi & Gallagher’s Lesart betonen auf 3  Vgl. dazu auch Ranchio 2016, 231: „Die Macht der Gewohnheit stabilisiert nicht nur der inneren, seelischen Haushalt der Individuen, sondern auch die ‚objektive’ Ordnung ihrer sozialen Lebensform. Hegel nimmt dabei eine zentrale Intuition der heutigen Sozialwissenschaften praktisch schon vorweg, indem er ein übermäßig ‚idealistisches’ Bild der Grundstruktur sozialer Praktiken deutlich ablehnt und dem Automatismus der Gewohnheit eine wichtige Rolle für die Reproduktion objektivierter zwischenmenschlicher Interaktionen zuspricht.“ 4  „In a court of law, evidence and testimony are produced, and judgments are made following a set of rules that are established by the system. The process in which the judgments get made will depend on a body of law, the relevant parts of which may only emerge (because of the precise particulars of the case) and we remain cognitively engaged as the proceedings develop. Judgments are not confined to individual brains, or even to the many brains that constitute a particular court. They emerge in the workings of a large institution. Yet these legal proceedings are cognitive processes – they produce judgments that may then contribute to the continued processes of the system. The practice of law, which is constituted by just such

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unterschiedliche Weise einen Assimilationsprozess, durch den Individuen am Leben einer Gemeinschaft teilhaben. Meiner Ansicht nach gibt es jedoch zwei wichtige Schwierigkeiten mit beiden Ansätzen: (1) Sowohl der liberale Naturalismus als auch die Theorie des erweiterten Geistes arbeiten mit der Annahme, dass die Sittlichkeit eine strukturelle Entität darstellt, die entweder einen selbstbewegenden Charakter (im von Testa hervorgehobenen Sinne) aufweist oder einen supervenient-­ kognitiven Charakter hat. Dadurch vertreten diese Interpretationen implizit einen ontologischen Holismus, der wenig Platz für reflexive und individuell selbstbewusste Handlungsfähigkeit lässt. (2) Außerdem können sie nicht ausreichend erklären, wie bestimmte, in soziale Institutionen eingebettete Handlungen und Verhaltensweisen modifiziert werden können. Dies ist von besonderer Wichtigkeit, wenn man berücksichtigt, dass Hegel selber die Ambivalenz habitueller Praktiken betont. So schreibt er beispielsweise in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: Diese Gewohnheit (die Uhr ist aufgezogen und geht von selbst fort) ist, was den natürlichen Tod herbeiführt. Die Gewohnheit ist ein gegensatzloses Tun, dem nur die formelle Dauer übrig sein kann und in dem die Fülle und Tiefe des Zwecks nicht mehr zur Sprache zu kommen braucht – eine gleichsam äußerliche, sinnliche Existenz, die sich nicht mehr in die Sache vertieft. So sterben Individuen, so sterben Völker eines natürlichen Todes; wenn letztere auch fortdauern, so ist es eine interesselose, unlebendige Existenz, die ohne das Bedürfnis ihrer Institutionen ist, eben weil das Bedürfnis befriedigt ist – eine politische Nullität und Langeweile. Werke 12, 100

Hegel zufolge ist ein Leben ohne Motivation eine Realität, die dem natürlichen Tod geweiht ist. Dies legt nahe, dass der Begriff der Sittlichkeit weder lediglich einen gut organisierter Körper bedeutet, noch eine autarke kognitive Erweiterung des individuellen Geistes, da subjektive Partizipation und Verständnis notwendig sind. Daher darf die „Seele“, die die Sittlichkeit antreibt, nicht im Sinne der Körper-Seele-Relation verstanden werden, sondern im entwickelteren Sinne von denkendem Geist, der praktische Vernunft umfasst. cognitive and communicative processes, is carried out via the cooperation of many people relying on external (and conventional) cognitive schemas and rules of evidence provided by the legal institution itself. It is a form of cognition that supervenes on a large and complex system, an institution, without which it could not happen.“ (Crisafi und Gallagher 2010, 127.).

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Es ist sinnvoll anzumerken, dass Hegel die Sittlichkeit mit den Konzepten der Bildung und Verfassung verbindet. In seinem System der Sittlichkeit (1802) wird die Sittlichkeit beispielsweise durch den Begriff der Bildung bestimmt. In diesem Kontext betont Hegel, dass Sittlichkeit nicht Liebe zu seinem eigenen Heimatland, Menschen und Gesetzen bedeutet, sondern das absolute Leben im Vaterlande und für das Volk (GW 5, 328–329). In diesem Sinne ist Sittlichkeit mit der Verfassung und Konstitution verbunden, da diese auf die dynamische Einheit einer Gemeinschaft hinweisen, in der jedes Individuum seine eigenen Anlagen entwickeln kann. In seinen Vorlesungen von 1817/18 ist in einem in den Vorlesungen von 1821 fehlenden Zusatz zu § 127 zu lesen: Ein Volk ist nur vernünftig, insofern seine Verfassung es ist. Unter Volk versteht man eine Einheit hinsichtlich der Sitte, der Kultur etc, und diese Einheit ist die seiende Substanz. Das Volk, als einfache, gediegene Masse, hat noch keine Vernünftigkeit; die Vernünftigkeit ist nur das ganze System. So ist die Sonne, die Erde, nichts Vernünftiges; aber das Sonnensystem und die Organisation, in der Zeit und dem Raum ausgedrückt, ist die Vernünftigkeit. Vorlesungen 1, 177

Hegel zufolge kann eine Nation nur insoweit mit dem Staat identifiziert werden, als seine Verfassung vernünftig ist. Aber nicht jede Gemeinschaft ist ein Staat, denn nur dieser hat eine vernünftige Form, welche vom Gleichgewicht und der Kohärenz seiner inneren Institutionen abhängt. In seiner Philosophie des Rechts betont Hegel außerdem, dass die Verfassung sowohl die feste Basis des Staates als auch das Vertrauen des Individuums in den Staat und dessen Zuneigung zu ihm ausmacht. Wie Hegel schreibt, repräsentiert die Verfassung „die feste Basis des Staats sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen für denselben und die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit“ (Werke 7, 412). Ohne eine Verfassung kann es keine öffentliche Freiheit geben. Vertrauen und gute Neigung entsprechen dem, was Hegel anderswo „Sicherheit“ nennt (Werke 7, 414). Genauer gesagt: „Das Zutrauen haben die Menschen, daß der Staat bestehen müsse und in ihm nur das besondere Interesse könne zustande kommen, aber die Gewohnheit macht das unsichtbar, worauf unsere ganze Existenz beruht. Geht jemand zur Nachtzeit sicher auf der Straße, so fällt es ihm nicht ein, daß dieses anders sein könne, denn diese Gewohnheit der Sicherheit ist zur andern Natur geworden, und man denkt nicht gerade nach, wie dies erst die Wirkung besonderer Institutionen sei“ (Werke 7, 414). Dies unterscheidet Hegels Position meiner Ansicht nach deutlich von den Annahmen des liberalen Naturalismus und der Theorie des erweiterten

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Geistes. Wenn wir auf das Problem der Sittlichkeit im Hinblick auf den Begriff der Verfassung blicken, welcher die „Grundsäulen der öffentlichen Freiheit“ darstellt, wird deutlich, warum die Verbindung von Habitualität und Sittlichkeit sich nicht auf eine kollektive Aktivität (sei sie proto-intentional oder erweitert) stützt, sondern auf die tieferliegende subjektive Legitimation der Institutionen, die sich auf die individuelle Anwendung der Vernunft bezieht. Weit davon entfernt, im Habitus begründet zu sein, stiftet die Sittlichkeit eine spezifische Form der Inhabitanz, die der bewussten Übernahme der Normen und Gesetze, die den Staat strukturieren, unterliegt. In Bezug darauf möchte ich Redding’s Interpretation der Sittlichkeit als cognitive styles hinzuziehen. So schreibt er: „As spheres of modern Sittlichkeit, the family and civil society are educative realms within which agents’ culturally transmitted ‚second natures’ are acquired“ (Redding 2005, 194). Redding zufolge bieten Familie, bürgerliche Gesellschaft und der Staat unterschiedliche Kontexte für die Bildung von Individuen. Näher bedeutet diese Form der Bildung, dass „theoretical and practical intentionality is developed in direction of an ‚objective’ movement away from the local, perspectival, and immediately evaluative culture and thought“ (Redding 2005, 196). Daher ist die wesentliche Eigenschaft des der Sittlichkeit zu Grunde liegenden Prozesses die Übertragung eines substantiellen Inhalts, den sich Individuen aktiv durch die Partizipation an unterschiedlichen Lebensformen aneignen. Gleichzeitig zeigt solche Entfernung vom Lokalen, dass das Subjekt eine tiefere und substantiellere Form von Freiheit genießt, je größer die Gleichheit ist, die von den Mitgliedern einer sittlichen Dimension geteilt wird. Ein bemerkenswerter Aspekt der Sittlichkeit ist, dass jede folgende Lebensform eine noch höhere Gleichheitsbedingung aufweist als die vorherige: Während die Familie nach dem Modell der Asymmetrie zwischen Eltern und Kindern gebildet ist, erlauben bürgerliche Gesellschaft und der Staat eine unabhängige Entwicklung der Partikularität, die eintritt, wenn die Bürger selbst „ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen“ (Werke 7, 343). Reddings Lesart der Sittlichkeit als cognitive styles setzt keine KörperSeele-Relation als Modell für das Verständnis der Sittlichkeit voraus. Ganz im Gegenteil betont er, dass die Sittlichkeit bestimmte allgemeine Kriterien der Weltdeutung hervorbringt, die über Generationen weitergegeben werden. Dies ist eine Sedimentierung von Normen und Handlungen im Sinne MerleauPonty’s. In seinen Kursen über Passivität und Institutionen am Collège de France (1954–55) verbindet Merleau-Ponty die Idee der Institution mit dem Begriff der Urstiftung und der Zirkulation von Vergangenheit und Gegenwart (Merleau-Ponty 2003). Es ist diese Zirkularität oder Historizität, die, während sie Erfahrung mit Beständigkeit versieht, gleichzeitig eine denkbare und

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unabgeschlossene Fortsetzung der Geschichte bildet. Institutionen sind nicht das Resultat einer isolierten Tat, sondern die Hervorbringung einer Möglichkeit der Fortdauer, welche zwar Wiederholung und Stagnation enthält, aber auch die Möglichkeit von Reaktivierung, die sich aus der instituierenden Kraft selber speist. Mit Merleau-Ponty’s Begriff der Institution lässt sich meiner Ansicht nach auch das hegelsche Verhältnis von Habitualität und Sittlichkeit verstehen. Hegel leistet wie Merleau-Ponty eine genetische Rekonstruktion der Möglichkeit praktischer Freiheit. Hegels Idee ist, dass die je eigene zweite Natur in den Institutionen der Sittlichkeit, denen sie zugehört, realisiert wird – und zwar in dem Sinne, dass die Sittlichkeit den Individuen die Bedingungen der Möglichkeit bietet, ihre konkreten Persönlichkeiten auszubilden, d.h. nicht nur als Subjekte, sondern auch und grundsätzlich als moralische Personen. Auf dieser Stufe wird deutlich, dass Sittlichkeit die Subjektivität nicht auf die gleiche Weise formt, wie die anthropologische Gewohnheit den Leib bildet. Sittlichkeit ermöglicht die Realisierung der individuellen Persönlichkeit innerhalb der Grenzen der historisch gegebenen Institutionen (und in dialektischem Verhältnis zu diesen) gemäß den eigenen Zielen. Um eine zweite Natur zu entwickeln, ist es aus diesem Grund notwendig, die eigene Existenz bereits zu besitzen und zu meistern. Gleichzeitig hängen die Institutionen eines solchen Prozesses entscheidend von der Fähigkeit jedes Bürgers ab, Träger eines Sinngebungsprozesses zu sein, der die Rationalität dieses Prozesses anerkennt und einsieht. Dabei ist anzumerken, dass Hegel in seiner Philosophie des Rechts nicht mit einem Begriff der Gewohnheit operiert, wie er in der Anthropologie Verwendung findet, sondern eher mit dem Begriff des Gedächtnisses: […] Insofern gehört zum Sittlichen die Gewohnheit, wie sie auch zum philosophischen Denken gehört, da dieses erfordert, daß der Geist gegen willkürliche Einfälle gebildet sei und diese gebrochen und überwunden seien, damit das vernünftige Denken freien Weg hat. Werke 7, 302

Oberflächlich gelesen, scheint diese Passage nahezulegen, dass Gewohnheit eine Form der Verhärtung sei, durch welche Bürger auf ihre natürlichen Instinkte verzichten und einen höheren Sinn für ihre ethische Zugehörigkeit entwickeln würden. Es verhält sich jedoch ungleich komplexer, da Hegel hier auf philosophisches Denken Bezug nimmt. Wie ich vorher gezeigt habe, ist das Gedächtnis selbst eine Form von Habitualität, die den Weg für das Denken und so auch das philosophische Denken ebnet. Daher lässt sich behaupten, dass Hegel in der Philosophie des Rechts nahelegt, dass Gewohnheit auf die gleiche

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Weise ein Teil der Sittlichkeit ist, in der das Gedächtnis sich zum philosophischen Denken verhält, nämlich indem Habitualität assoziative Verbindungen in objektive Bedeutungsverhältnisse überführt. Während die anthropologische Gewohnheit primär den Verlust der Partikularität reflektiert, deutet das Gedächtnis darauf hin, dass ein Objektivierungsprozess stattgefunden hat. In der Sittlichkeit korrespondiert solch eine Objektivierung mit den Normen, die die Intelligibilität der jeweiligen Institution strukturieren. Individuen bewohnen den Staat durch das Anerkennen (oder Nichtanerkennen) dieses Inhalts und erzeugen dadurch ein geteiltes Gefühl von Vertrauen in die Institutionen (bzw. eben gerade nicht). Auf diese Weise begleitet Habitualität unsere gemeinsame Partizipation an den Normen und Werten der Gemeinschaft, d.h. sie werden eine Form der bewussten Inhabitanz. In diesem Sinne ist die Rolle der Gewohnheit für die Sittlichkeit nicht die, verschiedene Neigungen zu der Kohärenz eines selbstbewegenden Körpers zu integrieren. Ganz im Gegenteil betont Habitualität die Tatsache, dass die Sittlichkeit unterschiedliche Handlungsfelder, inklusive des Staates, zu inhabitieren ermöglicht. Daher ist Habitualität keine begründende Instanz, sondern selber gesetzt und durch beständige Bedeutungssedimentation für das Gefühl verantwortlich, in dem Staat „zu Hause zu sein“. Ebenso wie Gedächtnis Denken durch Sprache ermöglicht und dadurch beständige und permanente Zeichen erzeugt, die es dem Geist erlauben, seinen Inhalt zu objektivieren, weist das Konzept der Inhabitanz auf eine beständige und sichere Umgebung hin, in der Bürger frei sein können.

Der Begriff der Inhabitanz zwischen objektivem und absolutem Geist

Der Begriff der Inhabitanz ist der Schlüssel, um das Verhältnis von Gesinnung und Sittlichkeit zu verstehen. In der Enzyklopädie betont Hegel, dass die individuelle Gesinnung die Sittlichkeit substantiell und konkret macht (Werke 10, 318–19). Insofern sich Individuen aufeinander beziehen und aktiv sind, erzeugen sie Vertrauensverhältnisse, welche eine authentische Gesinnung erzeugen. Der Begriff der Gesinnung ist für seine Schwierigkeiten berüchtigt, die sowohl in Kants Moralphilosophie als auch in seiner Religionsphilosophie auftreten. Für Kant ist Gesinnung eine Form der Überzeugung, die durch das Befolgen unserer Prinzipien (d.h. Maximen) entsteht (Palmquist 2015). Wie Palmquist bemerkt, differenziert Kant dabei zwischen zwei verschiedenen Weisen von Überzeugungen: Überzeugung im strengen Sinn, welche intersubjektiv kommunizierbar ist und Gesinnung, welche sich auf den subjektiven

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Geisteszustand bezieht, der eine theoretische Einstellung begleitet, die objektive Gültigkeit besitzt. In § 515 der Enzyklopädie betont Hegel, dass die Gesinnung mit substantiellem Wissen und der Identität von kollektiven Interessen, die als eine Totalität gesehen werden, zusammentrifft (Werke 10, 318). Dies legt nahe, dass ethische Überzeugungen sowohl eine theoretische als auch eine praktische Hingabe des Individuums bedeuten. Eine ethische Neigung zu besitzen, bedeutet nicht nur, dass sich jemand seiner Rolle in der Gesellschaft bewusst ist, sondern auch, dass er in der Lage ist, seine eigenen Interessen in der Gemeinschaft zu befriedigen. Daraus folgt, dass man Verantwortung für Pflichten übernimmt, die sich aus zwischenmenschlichen Interaktionen ergeben. In diesem Sinne partizipiert man an intersubjektiven Interaktionen, indem man die eigenen Intentionen mitteilt und sie durch Handlungen konkretisiert und sichtbar macht. Während eine solche Verwendung des Begriffs Gesinnung bewusste Anerkennung zwar nicht ausschließt, ist es wichtig zu sehen, dass er individuelle Absichten mit einer praktischen Beteiligung im Interesse der Gemeinschaft verbindet. Diese zwei Aspekte sind die Bedingungen für ethisches Vertrauen, also die Bindung, die sowohl die Individuen in ihrer Beziehung zueinander als auch die Gemeinschaft als Ganze zusammenhält5. Für Hegel ist ethisches Vertrauen das Gegenteil von blindem Gehorsam, da es den Bürgern erlaubt, ihre Selbstbestimmung auf Grundlage ihrer Überzeugungen und der Befolgung kollektiver sozialer Bindungen zu erwerben. In dieser Perspektive darf Vertrauen nicht mit Sicherheit verwechselt werden. Auch wenn wir des Nachts die Straße entlanggehen und sicher sein können, uns auf das Recht verlassen zu können – was auch immer uns widerfährt, sei es Raub oder ein Angriff –, garantiert dies noch nicht die Realisierung der Freiheit. Tatsächlich kann Sicherheit auch das Ergebnis eines hohen Maßes an Sicherheitsmaßnahmen und Kontrolle sein, wodurch andere wesentliche Bedürfnisse der Bürger außer Acht gelassen werden. Die Idee der Gesinnung ist ein wesentlicher Teil des Begriffs der Inhabitanz, da sie zeigt, dass sittliche Bindungen nicht einfach dadurch entstehen, dass man das gleiche Gebiet bewohnt und die gleiche Sprache spricht, sondern mittels der bewussten Zustimmung des Individuums zu den Aktualisierungen der Freiheit. Auch wenn solche Zustimmung internalisiert werden muss, um effektiv und praktisch umgesetzt zu werden, ist sie kein Akt bloßen Gehorsams. Indem man sich tugendhaft zu Gesellschaft und Staat verhält, nimmt Gesinnung andere Formen an (Werke 10, 319). In Bezug auf die Sittlichkeit als Ganzer ist Vertrauen wesentlich, wohingegen Gerechtigkeit und Güte im Umgang 5  Vgl. dazu Kervegan 1988.

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mit anderen Personen notwendig sind. In diesem Kontext möchte ich auf den Aspekt, vom „substantiellen Leben durchdrungen zu sein“ (Werke 10, 319), aufmerksam machen. Es lohnt sich anzumerken, dass Hegel – wenn er die Sphäre der Sittlichkeit diskutiert – die beherrschende Rolle des objektiven Geistes betont, als ob Individuen an sich nicht die gleiche Relevanz zukäme. In § 516 argumentiert er: „in Beziehung auf die substantielle Objektivität, das Ganze der sittlichen Wirklichkeit, ist sie [die Tugend] als Vertrauen absichtliches Wirken für dieselbe und Fähigkeit, für sie sich aufzuopfern“ (Werke 10, 319). Hegel selber behauptet: „Weil die Substanz die absolute Einheit der Einzelheit und der Allgemeinheit der Freiheit ist, so ist die Wirklichkeit und Tätigkeit jedes Einzelnen, für sich zu sein und zu sorgen, bedingt sowohl durch das vorausgesetzte Ganze, in dessen Zusammenhang allein vorhanden, als auch ein Übergehen in ein allgemeines Produkt“ (Werke 10, 318). Hegel legt wohl nahe, dass – auf der Stufe der Sittlichkeit – die Sphäre der Individualität nur vom Standpunkt der Institutionen berücksichtigt wird, durch welche die Individuen ihre Freiheit realisieren. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass Individuen an sich keine soziale oder politische Bedeutung hätten, sondern nur, dass die Intelligibilität ihrer Rolle in der Sittlichkeit dem Verständnis ihres Lebenshorizonts vorausgeht. Um es in anderen Worten auszudrücken: Für Hegel werden Individuen nicht in abstracto geboren, sondern auf verschiedene Weisen durch ihre Kultur, Sprache, Familie und ihren Staat beeinflusst. In jeder dieser objektiven Konfigurationen genießen Individuen je spezifische Rechte, während sie für jeweils spezifische Verpflichtungsbereiche verantwortlich sind. Während sie individuell ihr Leben führen und ihre eigenen Ziele verwirklichen, instanziieren sie das Staatsleben, erzeugen also die konkrete Aktualität des Staates. So betrachtet, meint „von sittlicher Substanz durchdrungen zu sein“ nicht, passiv von den Institutionen und Formen des Staates absorbiert zu werden. Ganz im Gegenteil: Das Verhältnis von Individuen und sittlicher Substanz ist ein Verhältnis von wechselseitigen Wirkungen, wobei die notwendige Relation der Inhabitanz statthat. Für Hegel ist Inhabitanz nicht einfach eine Weise, ein Gebiet zu bewohnen, sondern die Form, in welcher und durch welche Individuen ihre Freiheit im Staat aktualisieren und dadurch die Vernünftigkeit der Institutionen bestätigen. Dementsprechend meine ich mit Inhabitanz eine konkrete und gegenseitige Umwandlung, die Institutionen und Individuen involviert und vernünftig in der Verfassung eines Staates begründet liegt. Diesbezüglich hat Duso (2013: 238) gezeigt, dass Hegels radikal neuer Beitrag zur Debatte der politischen Philosophie der Moderne darin besteht, dass er lange bestehende Traditionen, die sich um den Begriff der Gerechtigkeit gedreht haben, neu formuliert, indem er sich auf die Sphäre der Freiheit konzentriert. Jedoch, so Duso, ist es für Hegel nicht die Freiheit an sich, welche

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die unmittelbare Beziehung zwischen Individuen und Institutionen begründet, sondern die Idee der Freiheit. Das bedeutet, dass Freiheit nicht mit der Freiheit des Individuums, alles tun zu können, was man will, zusammenfällt und auch nicht durch die Staatsgewalt beschränkt wird, sondern dass Freiheit ein System realisierter Freiheit ist, das konkrete Interaktionen von Bürgern ermöglicht und ausdrückt. Um in diesem Sinne vernünftig, also frei zu sein, muss die Entwicklung und innere Organisation des Staates die Idee der Freiheit selber reflektieren. Das heißt, was die Sittlichkeit objektiv macht und was es wert macht, für sie Opfer zu erbringen, ist die Frage, ob die Staatsverfassung Freiheit auf allen Stufen ermöglicht. Die Schwierigkeit eines solchen Vorschlages liegt in der Tatsache, dass Hegels Behandlung der Freiheit in der Philosophie des Rechts zumeist genetisch und rekonstruktiv, aber nicht präskriptiv ist. Hegel gibt uns weder ein Manifest noch ein Regelwerk in Bezug auf die bestmögliche Verfassung an die Hand. Stattdessen gibt er uns eine Linse, um soziale und politische Verhältnisse im Hinblick auf die Frage zu beurteilen, welche Art von Freiheit sie ermöglichen. Meiner Auffassung nach kann dieser Aspekt durch den Begriff der Inhabitanz verstanden werden, der sowohl genetisch als auch regulativ ist. Auf der einen Seite erzeugt der habituelle Charakter der Sittlichkeit eine formative Relation zwischen individueller Handlungsfähigkeit und Institutionen. Weit davon entfernt, passiver Gehorsam gegenüber Gewohnheiten und sozialen Normen zu sein, stellt die Inhabitanz ein wichtiges Element des Staatslebens dar, da sie dazu beiträgt, den Charakter einer Gemeinschaft zu formen. Auf der anderen Seite reflektiert die Mechanisierung der Inhabitanz, beispielsweise durch Bürokratisierung oder Restriktionen, die Abwesenheit von Freiheit und die Ungerechtigkeit der Verfassung selbst. Neben seiner sozialen und politischen Bedeutung kann der Begriff der Inhabitanz auch auf die Entwicklung des absoluten Geistes bezogen werden. Indem die Sittlichkeit über ein System von Gesetzen und Gewohnheiten verfügt, welches die historische Entwicklung einer Gemeinschaft bewahrt, ermöglicht sie das absolute Wissen des Geistes. So heißt es auch in § 552 der Enzyklopädie, dass absolutes Wissen darin besteht, dass die konkrete Allgemeinheit des Geistes „sich zum Wissen des absoluten Geistes [erhebt], als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich ist“ (Werke 10, 353). Es ist wichtig anzumerken, dass bewusstes Wissen nur erlangt werden kann, wenn sowohl der Inhalt des Wissens als auch das Subjekt des Wissens vollends bestimmt sind. Anders als Intuition und Reflexion umfasst die wissende Vernunft nicht nur eine epistemische Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, sondern auch einen konkreten Prozess der Selbstbestimmung, der durch die Aktualität des Weltgeistes möglich ist.

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Daher stellt die wissende Vernunft die Sphäre des Wissens dar, welche die Kontingenz des gegebenen Ethos überschreitet und dennoch in der Bildung des Staates verankert ist, um ihre eigene Entwicklung als realen Inhalt zu gewinnen, durch welchen die Idee der Freiheit bestimmt werden kann. In diesem Sinne ähnelt die wissende Vernunft der Form der Rationalität, die sich selbst als in und durch eine spezifische historische und sozio-politische Entwicklung entstanden weiß. Dies ist die Form des Wissens, die in Staaten vorherrscht, deren Bürger selbstbewusste Akteure sind, die im Prozess der Verwirklichung und Konkretisierung von Freiheit Stellung beziehen. Für Hegel bedeutet dies grundsätzlich, in Organisationen und Zusammenschlüsse involviert zu sein, welche die Beiträge von Individuen bedeutsam machen. In diesem Sinne ist die bloße Möglichkeit absoluten Wissens abhängig von der Substanz der Sittlichkeit, da kein Inhalt des absoluten Wissens ohne die Aktualisierung der Sittlichkeit bestehen kann. So betrachtet hilft der Blick auf Sittlichkeit sub specie Inhabitanz, um einige zentrale Eigenschaften der Rolle der Habitualität im Hinblick auf den objektiven und den absoluten Geist neu zu denken. In Bezug auf den ersteren verbindet die Inhabitanz Handlungsfähigkeit mit einem Sinn von Selbstbesitznahme, die sich nicht nur auf Gefühl als solches (d.h. Gewohnheit im Sinne der Anthropologie) stützen kann, da der objektive Geist ein stärkeres Konzept von Handlungsfähigkeit benötigt, das auch im Gedächtnis und im Denken verankert ist. In dieser Hinsicht kann Sittlichkeit als zweite Natur betrachtet werden, insoweit sie die Bedingung der Möglichkeit für die Realisierung von individueller und kollektiver Freiheit darstellt. In Bezug auf den absoluten Geist zeigt der Begriff der Inhabitanz an, dass die Realität des Inhalts des absoluten Wissens durch die Entwicklung der Sittlichkeit im Rahmen der Weltgeschichte konkret instituiert ist. Solche Beständigkeit macht die Grundlage für die Entwicklung der spekulativen Vernunft aus. Schluss Durch alle unterschiedlichen Formen der Sittlichkeit (Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat) hindurch inhabitiert jedes Individuum die Idee von Freiheit und aktualisiert und konkretisiert diese. Individuen, die dem Staat vertrauen, sind keine passiven Bürger, sondern bewusste Akteure, die sich ihrer in der Verfassung ausgedrückten Rechte und Pflichten bewusst sind. Dies stiftet eine geschützte Umgebung, die sowohl individuelle als auch kollektive Freiheit gewährleistet. In dieser Hinsicht ist Habitualität bereits auf der Stufe der Individualität beteiligt, da sie dem Gefühl von Vertrauen in die Verfassung zu Grunde

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liegt. Darüber hinaus bedarf Habitualität, auch in Bezug auf die Sittlichkeit, maßgeblich der Fähigkeit zu denken und zu verstehen, da sie auf eine von allen Bürgern internalisierte Zustimmung hindeutet. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass Habitualität grundsätzlich ein schwer zu fassendes Konzept ist, da es auch ein trügerisches Gefühl geben kann. Daher kann die Validität einer Verfassung nicht am Sicherheitsgefühl seiner Bürger bemessen werden, da ein solches auch aus einer bloß passiven Routine hervorgehen kann, welche Sicherheit mit Freiheit verwechselt. Genau aus diesem Grund ist die zweite Natur nicht in Gewohnheit gegründet, sondern durch die Verfassung erzeugt. Wenn Bürger den Staat ausschließlich durch passive Nachahmung von jeder bewussten Anerkennung entleerten Praktiken inhabitieren, sind politische und soziale Krisen die notwendige Folge.

Die praktischen Möglichkeiten des Individuums in posthistorischer Zeit Olivér István Tóth Erzsébet Rózsa hat in mehreren Büchern das breite Themenfeld der Beziehung zwischen Individualität und Modernität in der hegelschen Philosophie un­ tersucht. Ihrer Interpretation nach hat Hegel das Wesen der modernen Zeit aus zwei Perspektiven aufgefasst: aus der objektiven Perspektive von institu­ tionalisierter Freiheit und aus der subjektiven Perspektive von unendlicher subjektiver Freiheit. Idealiter setzen diese beiden Perspektiven einander als zwei Aspekte der Freiheit voraus. Das Individuum erreicht seine unendliche subjektive Freiheit dadurch, dass es die institutionalisierte Freiheit als seine Freiheit erkennt und verwirklicht. Der die Institutionen der Freiheit konstitu­ ierende Staat kann dadurch funktionieren und legitim bleiben, dass er der ihn in der Wirklichkeit erhaltenden freien Selbstverwirklichung des Individuums Raum lässt. Wie Rózsa feststellt, hat Hegel selbst in vielerlei Hinsicht beob­ achtet und erkannt, dass diese gegenseitige Abhängigkeit ein zerbrechliches Gleichgewicht erzeugt. Dieses Gleichgewicht kann leicht gestört werden, wenn die Individuen aus unterschiedlichen Gründen verschiedene, für die moderne Gesellschaft destruktive Werte anstatt der Freiheit durchsetzen1. Dass dieses durch den Begriff des modernen Staates und der modernen Frei­ heit überhaupt implizierte Gleichgewicht bzw. die Suche nach diesem Gleich­ gewicht die globalisierte spätmoderne Zeit charakterisiert, braucht wohl kaum ausführlicher dargelegt zu werden. Einerseits scheint es ein offensichtlicher Zustand der zeitgenössischen Welt zu sein, dass die unendliche Freiheit des Individuums und die die Möglichkeit der freien Wahl von Identitäten antas­ tenden autoritären Regimes sich von Natur aus instabil zueinander verhalten. Man denke nur an die Ereignisse des Arabischen Frühlings oder an die sich ständig erneuernden Protestwellen für demokratische Freiheiten in China und Russland. Andererseits scheint klar, dass in Gesellschaften der institutionali­ sierten Freiheit die Zahl der Individuen, die diese institutionalisierte Freiheit in ihren Handlungen verwirklichen, abnimmt. Immer mehr Individuen wäh­ len Werte – man denke nur an die verschiedenen religiösen Fundamentalis­ men oder populistischen Extreme –, aufgrund derer sie Handlungsmustern 1  Rózsa 2005, 2007 u. 2012.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_012

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folgen, die zur ihre Wahl allererst ermöglichenden Freiheit im Widerspruch stehen. In ihrem neuesten Buch, Modern Individuality in Hegel’s Practical Philosophy, untersucht Rózsa ausführlich, welche Optionen dem mit „sekundärer Begrifflichkeit“ erfassbaren modernen Individuum zur Verfügung stehen, die am Schnittpunkt von Recht, Moralität und Religion liegen und die prakti­ schen Möglichkeiten für seine Lebenswelt bieten, welche als solche von dem endlichen Gesichtspunkt bestimmt ist. Die vorliegende Arbeit möchte diese Frage, auf Rózsas Antworten aufbauend, im Zusammenhang mit der hegel­ schen Deutung des Verhältnisses zwischen objektivem und absolutem Geist untersuchen. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Erstens soll der Fokus auf die systema­ tische und geistphilosophische Architektonik des Verhältnisses zwischen Indi­ viduum und objektivem Geist gerichtet werden. Dabei versuche ich die Frage nach der Rolle des Individuums zu beantworten, d.h. wie die soeben skizzierte Divergenz überhaupt möglich ist, inwieweit der endliche Gesichtspunkt von dem unendlichen unabhängig werden kann. Indem ich die geistphilosophi­ sche Begründung der Rolle und der Wertpräferenzen von Individuen in den Vordergrund stelle, versuche ich zu klären, wie und inwieweit das Individuum in einer posthistorischen Zeit Werte wählen kann, die von den im objektiven Geist auftretenden und legitimen Werten unabhängig sind. Dabei vertrete ich die These, dass eine solche Wahl nur dann möglich ist, wenn sich die Individu­ en nicht denkend auf die Welt beziehen. Zweitens erörtere ich die Rolle des Individuums an der Grenze von ob­ jektivem und absolutem Geist. Im Lichte einiger Überlegungen von Hegels Geschichtsphilosophie versuche ich die Frage zu beantworten, welche prakti­ schen Möglichkeiten das Individuum in der posthistorischen Zeit hat. Welche Handlungsstrategie(n) kann Hegel, vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Individuum und objektivem Geist, “empfehlen”? Welche praktischen Mög­ lichkeiten sind für das Individuum des endlichen Gesichtspunktes verfügbar? Die Hauptthese dieses Teils ist, dass die Zeit der wirklichen Politik mit dem Ende der Geschichte begonnen hat. Diese Zeit hält für das Individuum sowohl unendliche Gefahren als auch unendliche Möglichkeiten bereit. Drittens lege ich die konstruktiven und die destruktiven Aspekte dieser unendlichen Möglichkeiten dar. Welche Perspektiven hat das Individuum des endlichen Gesichtspunktes im Raum der Möglichkeiten, der wohl durch die Ambivalenz des Denkens oder sogar das Fehlen des Denkens bestimmt ist? In diesem Teil vertrete ich die These, dass, obwohl die Wirklichkeit und die Bedin­ gungen der institutionellen Stabilität mit begrifflicher Notwendigkeit gegeben sind, die vorhandenen politischen Strukturen sich, je nach Wertpräferenzen

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der Individuen, im breitesten Spektrum bewegen – was Anlass sowohl zur Angst als auch zur Hoffnung sein kann.

Die Freiheit des Individuums im objektiven Geist in einer posthistorischen Zeit

Von Hegels Werken ist die enzyklopädische Philosophie des Geistes das am meis­ ten von der Metaphysik und Seelenlehre des Aristoteles beeinflusste. Am real­ philosophischen Inhalt ist dieser Einfluss offensichtlich. Der subjektive Geist ist voller expliziter Verweise auf Aristoteles. Der Begriff der Freiheit im objekti­ ven Geist beruht teilweise ebenfalls auf ihm, und der absolute Geist ist – unter anderem – eine Weiterentwicklung der aristotelischen Theorie des Intellekts2. Auch das metaphysische Muster der Philosophie des Geistes ist grundsätzlich aristotelisch. Es ist vielsagend, dass das Buch mit einem Verweis auf Aristoteles beginnt und endet. Die Eröffnung mit der Selbsterkenntnis in § 377 ist eine Paraphrase aus Aristoteles’ De Anima (Werke 10, 9). In § 378 erklärt Hegel dann, selbiges sei „noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulati­ vem Interesse“ (Werke 10, 11), das sich mit der Philosophie der Seele beschäftigt. Am Ende des absoluten Geistes, nach § 577, zitiert Hegel eine der spekula­ tivsten Passagen der Metaphysik des Aristoteles, die vom Selbstdenken und vom ewigen Glück des unbewegten Bewegers handelt (Werke 10, 395). Dieser Rahmen markiert einen theoretischen Anspruch der hegelschen Philosophie: zu zeigen, wie die in jedem Denkenden realisierte Auswirkung der göttlichen Vernunft die Tätigkeit des menschlichen Geistes (den subjektiven Geist), die Werke des Geistes (den objektiven Geist) und die Selbsterkenntnis des Geistes (den absoluten Geist) strukturiert. Die Erkenntnis dessen ist Selbsterkenntnis, die neben wissenschaftlichen Kenntnissen den praktischen Anspruch der Geistphilosophie mitkonstituiert: Durch Versöhnung erkennt der Geist seine Werke als eigenes Produkt, er versöhnt sich mit ihnen und fühlt sich in ihnen zu Hause. Dieser von Aristoteles beeinflusste metaphysische Anspruch ermög­ licht es Hegel, seine eigene Philosophie zu entwickeln, auch wenn sie sowohl in theoretischen als auch in praktischen Aspekten seiner Philosophie in we­ sentlichen Punkten weit von Aristoteles abweicht. Daraus ergeben sich allerdings zwei Fragen. Erstens: Wenn die geistige Tätigkeit von Individuen vom gegebenen Zustand des Geistes strukturiert wird – entweder vermittelt und vom Individuum in bewusster oder unvermit­ telt und vom Individuum nur in implizit bewusster Weise –, ist nicht klar, wie 2  Ferrarin 2001.

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es zum in der Einleitung erwähnten Bruch kommen kann. Es ist ja vorausge­ setzt, dass es dieselbe Vernünftigkeit ist, die im Erkennen der Individuen tätig ist und die ihre gesellschaftliche Wirklichkeit strukturiert; und die zudem als Selbsterkenntnis in der Kunst, der Religion und der Philosophie der jeweiligen Epoche am Werk ist. Dann scheint es zwar möglich zu sein, dass das Individu­ um die in seiner Tätigkeit verwirklichte Vernünftigkeit nicht erkennt, aber es scheint nicht möglich zu sein, dass das Individuum die Grundwerte der gesell­ schaftlichen Wirklichkeit der Moderne leugnen kann. Natürlich verhielte es sich anders, wenn das Individuum in einer geschicht­ lichen Konstellation existieren würde. Dann könnte das Individuum die ge­ sellschaftliche Wirklichkeit der jeweiligen Epoche wirklich leugnen und neue, der gesellschaftlichen Wirklichkeit entgegengesetzte Inhalte hervorbringen. In der hegelschen Geschichtsphilosophie spielt der Fall, dass das welthistori­ sche Individuum den kommenden Zustand des Weltgeistes erahnt (z.B. Cäsar: Werke 12, 45), eine wichtige Rolle. Auch in der hegelschen Geschichte der Philosophie wird der Fall diskutiert, dass die der gegenwärtigen Sittlichkeit entgegengesetzte Moralität des Einzelnen die zukünftige Gestalt des Geistes vorwegnimmt (z.B. Sokrates: Werke 18, 491). Für die spätmoderne Zeit jedoch scheinen diese Möglichkeiten keine mehr zu sein. Nach Hegels Auffassung ist die Geschichte beendet, und es gibt keinen der Wirklichkeit gegenüber trans­ zendenten geistigen Gesichtspunkt, der die Möglichkeit eines dem Bestehen­ den substantiell entgegengerichteten Widerstandes begründen könnte. Mit anderen Worten: Obwohl das Individuum stur beschließen kann, von einer bestimmten früheren Gestalt des Geistes nicht fortzugehen, geht der Weltgeist seinen (eigenen) Weg. Die frühere Gestalt ist aufgehoben und in der gegen­ wärtigen Gestalt als frühere Stufe inbegriffen; deswegen kann das Individuum keinen wirklichen Widerstand leisten. Und es gibt keine Gestalt, die in der ge­ genwärtigen Gestalt nicht aufgehoben wäre (Werke 12, 105). Der hartnäckige Widerstand des Individuums gegen die letzte, am Ende der Geschichte verwirklichte und die Vollendung der Freiheit einschließende Gestalt des Geistes hat also keine reale Macht. Seine systematische Rolle ist dieselbe wie die der nicht mehr lebendigen zeitgenössischen Kulturen. So ver­ hielte sich nach Hegel das die institutionalisierte Freiheit leugnende Indivi­ duum wie China in und zu der Weltgeschichte (Werke 12, 147)3: Es existiert, aber wirkliche geistige Leistungen kann es nicht erbringen, und mit welthisto­ rischer Notwendigkeit unterliegt es den Gesellschaften, die die höhere geistige Stufe verkörpern. Allerdings ist nicht klar, wie die Individuen überhaupt einen solchen Wi­ derstand leisten können, da ein jedes von ihnen das Kind seiner Zeit und 3  Zur Rolle Chinas in Hegels Weltgeschichte siehe: Takó 2012.

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seiner Gesellschaft ist. Hegel stellt in § 380 das Prinzip auf, dass die einzelnen Stufen in der Entwicklung des Geistes im Gegensatz zur Natur als besondere Existenzen nicht zurückbleiben, sondern nur als Momente der höheren Ent­ wicklungsstufen und in Bezug auf diese zu betrachten sind (Werke 10, 16–17). Dieses Prinzip ist auf den ersten Blick überraschend, da China für Hegel doch eine zurückgebliebene besondere Existenz zu sein scheint. Die Existenz der besonderen Entwicklungsstufen scheint also für die räumliche Ausdehnung der Weltgeschichte notwendig zu sein. Dies kann für eine Lesart sprechen, der zufolge dieses Prinzip nur für den subjektiven Geist (oder für die endliche geis­ tige Wirkung des einzelnen empirischen Individuums) gilt. Eine Begründung dafür könnte sein, dass jedes Beispiel in § 380 vom subjektiven Geist handelt. Nun können jedoch mehrere systematische Argumente gegen diese Lesart und somit für die Interpretation vorgebracht werden, dass der § 380 für den Geist im Ganzen gültig ist. Erstens wäre im Hinblick auf die Theorie des abso­ luten Geistes zu fragen4, warum, wenn der Inhalt und deshalb auch die Wahr­ heit der drei Formen des absoluten Geistes identisch sind, Kunst und Religion nicht in derselben Weise wie die Philosophie enden. Diese Gestalt hätte dann einen analogen systematischen Platz in der Geschichte wie China. Sie könnte keinen neuen Inhalt hervorbringen, und deshalb würde ihre bloße Existenz keine substantielle Wahrheit tragen. Die Philosophie hätte alles gesagt – auf einer höheren Ebene, begrifflich –, was Kunst und Religion sagen konnten, und deshalb wäre ihre Existenz überflüssig. Wir wissen jedoch, dass Hegel dies an­ ders gedacht hat5. Die Begründung dafür ist tatsächlich das Prinzip von § 380: Die weniger entwickelten Gestalten des Geistes sind die Momente der höhe­ ren Entwicklungsstufe, so auch im Falle von Kunst und Religion. Es ist nicht so, dass ein Volksgeist sich erst in der Kunst, danach in der Religion und endlich in der Philosophie erkennt, oder dass es zuerst die antiken künstlerischen, dann die mittelalterlichen religiösen und endlich die neuzeitlichen philosophischen Völker gegeben hätte, sondern dieselbe Selbsterkenntnis findet auf den ver­ schiedenen Stufen, in unterschiedlichen Formen und Phänomenen der geisti­ gen Tätigkeit der ein bestimmtes Volk konstituierenden Individuen statt. Zweitens können wir zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist dasselbe Verhältnis erkennen wie zwischen den Gestalten des absoluten Geistes, wie es Hegel in § 562 auch erklärt: Die Momente der Wirklichkeit eines Volkes – alle Gestalten sowohl des objektiven als auch des absoluten Geistes – stellen eine systematische Totalität dar (Werke 10, 370). Folglich ist die Selbsterkenntnis eines Volksgeistes, die in seiner Kunst, seiner Religion und seiner Philosophie wirksam ist, nicht unabhängig von dem Recht, der 4  Hösle 1998, 594. 5  Rózsa 2012b, 228.

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Moralität und der Sittlichkeit, die seine gesellschaftliche Wirklichkeit darstel­ len und strukturieren. Aus diesem Grund können wir die „niedrigere“ Stufe, den objektiven Geist, nicht unabhängig von der „höheren“ Stufe, dem abso­ luten Geist, thematisieren, da die erste ein Moment der zweiten ist, und um­ gekehrt. Die Kreisstruktur des Geistes macht dies strukturell möglich und inhaltlich sinnvoll. Darum sind die die Philosophie des Geistes rahmenden Verweise auf Aristoteles nicht nur Ehrerbietungen gegenüber einem alten, bewunderten Vorgänger. Die Metaphysik und die Seelenlehre in Hegels Geistphilosophie lässt sich vielmehr als die Weiterentwicklung und Vollendung der aristoteli­ schen Theorie des Intellekts interpretieren, auch wenn die hegelsche prakti­ sche Philosophie von der aristotelischen durchaus weit entfernt ist. Nach der mittelalterlichen aristotelischen Tradition beinhaltet die unendliche göttliche Vernunft, der aktive Intellekt, alle aus dem göttlichen Wesen mit logischer Not­ wendigkeit folgenden substantiellen Formen: alle Begriffe, die das Wesen der endlichen Dinge beschreiben. Im Entstehen und Vergehen wird die endliche physikalische Welt durch natürliche Notwendigkeit – heute würden wir sagen: durch Naturgesetze – bestimmt. Diese Notwendigkeit manifestiert sich im in der Natur entstehenden Reichtum der entwickelten Formen sowie deren Ver­ hältnisse. Diese Formen und Verhältnisse werden von dem aktiven Intellekt durch die das Wesen der natürlichen Gattungen konstituierende Funktion der substantiellen Formen bestimmt. Im Rahmen der vernünftigen Erfassung des Individuums ergibt sich weiterhin eine dreifache Identität: Das Verständ­ nis des Subjekts und die intelligible Form werden identisch, und diese Identität wird auch mit der in der unendlichen Vernunft beinhalteten Urform iden­ tisch6. Darum wird man, wenn man denkt – das heißt, wenn man begrifflich versteht –, mit der Selbsterkenntnis des göttlichen Intellekts identisch. Das ist die göttliche Selbsterkenntnis, die Hegel am Ende der Enzyklopädie „beschwört“. Das also ist die philosophische Psychologie, die im Wesentlichen auch Spi­ noza übernommen hat7. Und gegen diese argumentiert Hegel schon in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, wo er das Wahre als Substanz und Subjekt beschreibt. Hegel sah genau, dass die spinozistische Substanz kein Subjekt ist8. Und er führt die Subjektivität in die Substantialität unter Rekurs auf die aristotelische Form und die Zweckmäßigkeit der Substanz ein9: 6  Davidson 1992. 7  Tóth 2016. 8 Dies wurde in der neuesten Spinozaforschung dargelegt: Renz 2010. 9 In der Philosophie des Geistes verfolgt er eine andere systematische Begründungsstrategie, wie man gleich am Anfang in § 380 erfährt. Die Subjektivität als subjektive Freiheit erhält hier ihren systematisch starken Stellenwert.

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Gerade weil die Form dem Wesen so wesentlich ist als es sich selbst, ist es nicht bloß als Wesen, d.h. als unmittelbare Substanz oder als reine Selbstanschauung des Göttlichen zu fassen und auszudrücken, sondern ebensosehr als Form und im ganzen Reichtum der entwickelten Form; dadurch wird es erst als Wirkliches gefaßt und ausgedrückt. Werke 3, 24

Die Innovation Hegels, die er gegen Spinoza und mit Hinweis auf Aristoteles einführt, durch die er aber angesichts seiner theologischen und ethischen Schlussfolgerungen sodann auch von Aristoteles divergiert, ist die Abhängigkeit der Wirklichkeit der Substanz von deren Verwirklichung durch endliche existie­ rende Wesen. Damit akzeptiert Hegel bezüglich der Wesen-Akzidenz-Struktur der Substanz die spinozistische Behauptung, dass das unendliche Wesen der Endzweck der Welt ist, wie der aristotelische unbewegte Beweger. Aber weit entfernt von einer externen Teleologie mit geringem Erklärungswert10, kann das unendliche Wesen Hegel zufolge nur dann der Endzweck der Welt sein, wenn es das Wesen der Welt ist (§ 573, Werke 10, 384). Die aristotelische Kritik an Platon habe jedoch, so Hegel, gezeigt, dass das Wesen keine wirkliche, von den es instantiierenden Individuen unabhängige Existenz hat. Deshalb ist das als Selbsterkenntnis verstandene göttliche Wesen nur insofern wirklich, als es von seiner Schöpfung – den sich-selbst-Erkennenden – instantiiert wird, d.h. insofern, als diese sich selbst erkennen. In diesem Ansatz liegt die Relevanz des aristotelischen Rahmens der hegelschen Philosophie des Geistes: Die Selbsterkenntnis, mit der das Buch beginnt, ist die Erkenntnis davon, dass jede geistige Tat des Individuums notwendigerweise die Form der Substanz konsti­ tuiert und deshalb zur Wirklichkeit ihres Wesens, d.h. Freiheit, beiträgt11. Die Metaphysik und die Seelenlehre des Aristoteles werden von Hegel nicht nur weiterentwickelt, sondern auch kritisiert. Kritik und Weiterentwicklung zusammen erlauben es ihm, in seiner praktischen Philosophie den systema­ tischen Platz sowohl der institutionalisierten als auch der unendlichen sub­ jektiven Freiheit zu begründen. (Es soll also nicht gesagt sein, dass Hegels Philosophie des Geistes grundsätzlich aristotelisch ist. Einige Aspekte seiner Philosophie, die diese Arbeit behandelt, können jedoch besser beleuchtet werden, wenn Hegels kritischer Dialog mit Aristoteles zum Ausgangspunkt genommen wird.) Um die Ausgangsfrage noch einmal zu stellen: Inwieweit ist das Individuum fähig, unabhängig von der gegenwärtigen Gestalt des Geistes – die jetzt, am

10  Findlay 1970. 11  Hösle 1998, 590.

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Ende der Geschichte, die vollendete Gestalt der Selbsterkenntnis des absoluten Geistes ist –, Werte zu wählen? Die Antwort ist, dass das Individuum, sofern es denkt, auf diese Weise selbstverständlich keine Werte wählen kann, da das In­ dividuum im Denken den Begriff benutzt, der jetzt vollendet, somit einzig und unveränderlich ist. Meiner Auffassung nach aber ist hier die Einschränkung „sofern das Individuum denkt“ besonders zu betonen: Soweit sich das Indivi­ duum nicht denkend auf die Welt bezieht, d.h. der Grund seiner Handlungen nicht die konkreten und wesentlichen, sondern die abstrakten und zufälligen Aspekte der Dinge sind, kann es durchaus unabhängig vom Substantiellen und damit gegensätzlich zu diesem handeln. Deswegen sind die Individuen, die in der Gesellschaft der institutionalisier­ ten Freiheit dieser Freiheit entgegengesetzte Werte annehmen, systematisch in derselben Lage wie sich der Geschichte nicht denkend nähernde Historiker. Solche Historiker können, weil sie sich ihrem Objekt nicht denkend nähern, das Wesentliche und das Unwesentliche nicht unterscheiden (§ 549, Werke 10, 347–352); ähnlich wie auch die Ironiker, deren Freiheit Gehaltlosigkeit und Eitelkeit ist (§ 571, Werke 10, 377). Diese Freiheit führt dann zu vielen willkür­ lichen Erfindungen: im Falle der Historiker über das römische Epos und die Priestervölker (Werke 10, 348; 12, 22), im Falle des Individuums über Verschwö­ rungstheorien und wundersame politische „Lösungen“, die die ökonomischen Gesetze leugnen. Weil diesen Handlungen der Gedanke fehlt, erkennt sich der absolute Geist in ihnen nicht, und deshalb sind sie vom Substantiellen unabhängig.

Die Praktischen Möglichkeiten des endlichen Gesichtspunktes

Der zweite Teil dieser Arbeit geht der Frage nach, welche praktischen Möglichkeiten das Individuum in einer globalisierten spätmodernen Zeit hat. Um diese Frage beantworten zu können, muss aber zuerst klargemacht wer­ den, welche Möglichkeiten das Individuum aufgrund seiner welthistorischen Verortung nicht hat: Erstens kann uns die Philosophie als praktische Disziplin sicherlich nicht weiterhelfen. Wie wir bereits gesehen haben, folgt aus der Tatsache, dass der Inhalt des absoluten Geistes derselbe ist, dass nicht nur die Kunst und die Reli­ gion, sondern auch die Philosophie zu Ende sind. Keine von diesen kann neue innovative Inhalte präsentieren. Auf der einen Seite erleichtert das die Situation. Obwohl nach Wölfflin nicht alles zu allen Zeiten möglich ist, ist jetzt, in der posthistorischen Zeit, alles begrifflich möglich, d.h. jetzt sind alle Möglichkeiten begreifbar. Allgemeines

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Wahlrecht z.B. war in der athenischen Demokratie schlicht keine Option, weil es die kulturellen und auch die epistemischen Voraussetzungen nicht gab. Jetzt ist es anders. Auf der anderen Seite bedeutet diese Möglichkeit eine große Verantwortung für das Individuum. Es ist nicht mehr möglich, im Falle einer schlechten po­ litischen Maßnahme den noch fehlenden weltgeschichtlichen Moment dafür verantwortlich zu machen. Da alles möglich ist, hängt die Verwirklichung nur von der Handlung und der Wahl des Individuums ab. Das impliziert natürlich die Gefahr des Zerfallens spätmoderner Gesellschaften: Das reale Eintreten dieser möglichen Gefahr kann nur von den Individuen und deren Wahl ver­ hindert werden. Zweitens folgt daraus, dass uns auch die Weltgeschichte nicht helfen kann. Man kann in einer historischen Zeit hoffen, dass die vernünftige und substan­ tielle Notwendigkeit eine neue oder andere Form produziert, die die Möglich­ keit einer höheren Stufe der Freiheit gewährt (Werke 12, 104). Nach dem Ende der Weltgeschichte jedoch kann man das nicht mehr hoffen. Früher konnten Staaten und Kulturen unwürdig aufsteigen – oder trotz ihrer Würde unterge­ hen (Werke 12, 35) –, aber die Weltgeschichte hat jetzt kein Interesse an einem bestimmten Volk: Jedes Volk kann dieselbe institutionalisierte Freiheit ver­ wirklichen. Deswegen ist jedes Volk „seines Glückes Schmied“, die Verwirk­ lichung hängt nicht von der vernünftigen Notwendigkeit, sondern von den eigenen Anstrengungen ab. Darauf verweist der berühmte Satz im Vorwort der Grundlinien der Philosophie des Rechts, „hier ist die Rose, hier tanze“ (Werke 7, 26): In der posthistori­ schen Zeit kann die Philosophie nur das Verstehen sichern, aber Verstehen ist nur die Voraussetzung der Handlung. Hegels Philosophie wird oft als Theore­ tizismus und Passatismus gedeutet. Philosophie kann nur die Vergangenheit und das bereits Verwirklichte verstehen, und hat deswegen auch keine unmit­ telbar praktische Auswirkung. Sollen und Wirklichkeit fallen also zusammen12. Meines Erachtens sind dieser Theoretizismus und Passatismus der Theoreti­ zismus und Passatismus der Philosophie, d.h. der Wissenschaft. Hegel behaup­ tet nicht, dass das Bestehende, wie es ist, vernünftig und wirklich ist13, sondern dass man nur das verstehen kann, was ist. Objekt der wissenschaftlichen Forschung kann nur sein, was wirklich ist, d.h. wesentlichen und begrifflich artikulierbaren Inhalt hat. Die Schreibfeder des Herrn Krug ist nur insofern eine solche, als sie das Substantielle ausdrückt (Werke 2,194–196). Deswegen bedeuten der Theoretizismus und Passatismus der Wissenschaft nicht, dass 12  Ibidem, 423–26. 13  Fackenheim 1994; Yovel 1996; Jackson 1996.

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alles gut ist, wie es ist, sondern dass die Philosophie nur die allgemeinen Prinzipien und nicht etwa spezifische “Aktionspläne” bereitstellen kann: Die ideale Typographie der Reisepässe etwa ist keine philosophische Wahrheit (Werke 7, 25). Unter Politik verstehe ich nach Hegel die Teilnahme des Willens und des Geschäfts der Individuen an der Bestimmung der Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft sowie des Staates (Werke 10, 335). Das bedeutet, dass die Politik für Hegel ein existierender und unabhängiger Bereich ist (Werke 7, 366–367; 10, 323–325); und deshalb ist es möglich, dass zwei vernünftige Politiker bezüg­ lich derselben Frage verschiedene Meinungen haben. Deshalb kritisiert Hegel nicht nur diejenigen, die sich der Politik nicht denkend nähern, sondern auch die, die die philosophische Art von Expertenregierung, die rein vernünftige Utopie, verkünden14. Die Tatsache, dass man frei ist, ist eine philosophische Wahrheit, und der diese Wahrheit nicht institutionalisierende Staat ist kein wirklicher. Die Frage jedoch, welche Strafen der Staat verhängt, ist keine philo­ sophische Wahrheit und gehört in den Bereich der Politik. Hier möchte ich kurz auf die bekannte These von Hegels angeblichem Nihilismus eingehen. Nach dieser Lesart ist das Verstehen des modernen Staates – weil man das Seiende nur verstehen kann, wenn es nicht mehr gültig ist – dessen Schwanengesang. Die Grau in Grau malende Philosophie wäre dann das Zeichen für die vollkommene Vernünftigkeit des modernen Staates. Dieser Staat ist jetzt eine tote Form und wird von einem noch nicht verständlichen New Age und dessen noch nicht verständlichem Prinzip abge­ löst15. Meiner Meinung nach hätte diese Lesart nur recht, wenn Hegel nicht von einem posthistorischen Gesichtspunkt sprechen würde. In jener früheren Zeit stimmte es, dass das Verstehen der Zeit das Ende jener Zeit bedeutete, dass die Philosophie also ein Krisensymptom war. Nun sind wir aber am Ende der Geschichte. Hegels Philosophie ist keine posthistorische Philosophie, weil nach Hegel Philosophie immer der Ausdruck einer historischen Epoche ist, ihr Gesichtspunkt aber am Ende der Geschichte ist. Philosophie malt nicht Grau in Grau, weil sie ungültig ist, sondern weil sie ihre Arbeit zu Ende brach­ te und zur Wissenschaft wurde (Werke 3, 14; 5, 16). Das Ende der Geschichte ist gleichwohl das Ende der Kunst, das Ende der Religion, das Ende der Phi­ losophie – und der Beginn der wirklichen Politik. Ab jetzt wird die Zukunft der Staaten nicht von den großen Männern entschieden, die die zukünftigen wissenschaftlichen Wahrheiten vorherwissen, sondern von denselben prakti­ schen Fähigkeiten – d.h. von der die theoretische Erkenntnis gebrauchenden, 14  Pippin 2001. 15  Hösle 1998, 433–36.

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aber von dieser auch unabhängigen Fähigkeit –, die die Kritiker, die Hegels Philosophie als Passatismus und Theoretizismus lesen, vermissen. Es wäre ge­ radezu verwunderlich, wenn Philosophie, d.h. die Wissenschaft im hegelschen Sinne, praktische Erkenntnisse produzieren würde. So gäbe es nämlich eigent­ lich keine Politik: Jede offensichtliche politische Frage wäre schließlich eine mit wissenschaftlichen Normen zu entscheidende Frage. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Raum der Möglichkeiten für das Individuum durch das Ende der Weltgeschichte geöffnet wurde. Da die weltgeschichtliche Entwicklung beendet ist, kann man keine das Bestehen­ de transzendierende Wahrheit mehr vorherwissen, keine substantiell neuen philosophischen Kenntnisse mehr aufbringen. Deswegen aber ist die Aufgabe des Individuums – ganz im Gegensatz zur nihilistischen Lesart – nicht die in sich zurückkehrende Kontemplation des göttlichen Geistes, sondern die politi­ sche Tat. Da die Weltgeschichte beendet ist und Philosophie zur Wissenschaft wurde, hat die Zeit der wirklichen Politik begonnen. Politische Fragen sind jetzt keine welthistorischen Entwicklungsstufen, die politische Dilemmata zu sein scheinen, sondern wirkliche politische Fragen. Daraus folgt eine schreck­ liche Leere, weil man fortan an keine Providenz und keinen Gang des Geistes mehr appellieren kann. Aber diese schreckliche Leere ist auch der Raum der unendlichen Möglichkeiten, da innerhalb der gegebenen vernünftigen Gren­ zen die Freiheit des Individuums von seinen Entscheidungen abhängt.

Die Freiheit der wirklichen Politik

Wie ich im zweiten Teil behauptete, ist die wirkliche politische Freiheit in der posthistorischen Zeit in der Freiheit der Individuen begründet. Das Ende der welthistorischen Entwicklungsstufen ermöglicht es ihnen, die Zukunft ihrer politischen Gemeinde zu bestimmen. Die Chance, ihre Welt zu gestalten, wurzelt subjektiv in der Fähigkeit der Individuen, sich der Welt denkend oder nicht denkend zu nähern. Diese objektive und subjektive Freiheit schließt sowohl die apolitische Mentalität als auch die revolutionä­ re Utopie aus. Einerseits schließt sie eine Lebensstrategie aus, die die reine Kontemplation über die Politik erhebt, weil die Kontemplation ohne neue sub­ stantielle Innovationen keine Lebensstrategie mehr darstellen kann. Religion, Kunst und Philosophie sind wichtig als kulturelle Medien, die Spielräume für politische Handlungen darstellen. Aber sie können keine grundsätzlich neuen Innovationen bzw. innovativen Ideen oder Verhaltens-und Handlungsmuster produzieren. Andererseits schließt die objektive und subjektive Freiheit die revolutionäre Utopie aus, weil die Gestalten des absoluten Geistes nur die

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abstrakten Strukturen für die politische Tat zeigen können. Die politische Tat nämlich ist kein theoretisches Programm. Theoretische und praktische Einsichten sind auf zweierlei Weise vonein­ ander getrennt. Erstens in Bezug auf ihr Objekt. Einerseits bezieht sich das theoretische Denken auf das konkrete Allgemeine, das in der Reinheit des Be­ griffs zeigt, was die Gründe der vernünftigen Staatsstruktur sind. Andererseits bezieht sich das praktische Denken auf die Bedingungen des Moments, wie diese vernünftige Staatsstruktur verwirklicht werden kann. Zweitens sind sie getrennt in Bezug auf ihren Geltungsbereich. Die theoretischen Erkenntnisse beziehen sich auf die allgemeinen theoretischen Zusammenhänge, die prakti­ schen Erkenntnisse hingegen auf die Details der Verwirklichung. Diese zweifa­ che Trennung bestimmt die zwei Räume der wirklichen Politik: Erstens, in Bezug auf die Identifizierung des Objekts der theoretischen Einsichten ist es die Aufgabe der wirklichen Politik zu bestimmen, was keine politische Frage ist, worüber also wissenschaftliches Erkennen und Experten­ wissen entscheiden müssen. Das Expertenwissen der zeitgenössischen Politik­ wissenschaft und das Expertenwissen der Politikwissenschaft zu Hegels Zeit können z.B. bezüglich der Frage divergieren, ob für das optimale Funktionie­ ren von Gerichten Geschworenengerichte nötig sind. Eine solche Frage jedoch soll nicht politisch, sondern philosophisch, d.h. wissenschaftlich entschieden werden. Die vollendete Vernünftigkeit macht es notwendig, dass jedem, der sich der Welt denkend nähert, wenn zwar nicht die bestimmte Lösung, doch aber die Methode der Lösung klarwerden muss. Wie es sich in Lars von Triers Manderlay zeigt: Es ist nicht vernünftig, über die genaue Uhrzeit durch Volks­ abstimmung zu entscheiden. Natürlich gab es immer populistische Politiker, die die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik bezweifeln und wissenschaftliche Fragen in politi­ sche umzumünzen versuchen. Verschiedene Bewegungen wollen entweder wissenschaftliche Fragen mit politischen Mitteln entscheiden, oder politische Fragen als wissenschaftliche darstellen. Beispiele auf der einen Seite wären die Theorie des Intelligent Design, derzufolge die Wahrheit der Evolutionstheorie keine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage sei, oder die Argumen­ te im britischen Plebiszit über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, denen zufolge die Bestimmung der ökonomischen Folgen des Brexits keine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage sei. Beispiele auf der ande­ ren Seite können etwa jene Bewegungen sein, die die Rechte von Transidenten oder von Rauchern beschränken wollen, indem sie diese Beschränkungen als wissenschaftliche Notwendigkeit auffassen wollen. Die Bekämpfung dieser Bewegungen und die richtige Bestimmung der Grenze zwischen Politik und Wissenschaft wird immer eine wirkliche politische Frage sein, da es keine

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Garantie für den Sieg des vernünftigen Standpunktes gibt. Wie der Fall von Manderlay zeigt: Es ist natürlich so, dass eine Gesellschaft, die die genaue Uhr­ zeit durch Volksabstimmung entscheidet, schlechter funktioniert, als eine, in der sie von Experten bestimmt wird; sie kann aber dennoch existieren. Zweitens müssen die nicht durch theoretische Einsichten bestimmten Fra­ gen von der wirklichen Politik beantwortet werden, und hier gibt es sodann immer politische Auseinandersetzungen. Der endliche Gesichtspunkt enthält immer Unterschiede in den Interessen und Meinungen, die theoretisch nicht aufgelöst werden können. Es ist vernünftig, dass ein Land eine Müllverbren­ nungsanlage hat, und sie muss in irgendeiner Siedlung sein. Doch die Frage, in welcher Siedlung die Müllverbrennungsanlage gebaut werden soll, ist keine wissenschaftliche Frage. Jede Siedlung hat das vernünftige Interesse, ihren Müll zu verbrennen, und auch den Anspruch, die dieses Interesse verwirklichende Müllverbrennungsanlage nicht innerhalb ihres eigenen Gebietes zu haben. Die Aufgabe der wirklichen Politik ist es, die partikulären Interessen und Wün­ sche zu koordinieren und die Verwirklichung praktischer Vernünftigkeit zu ermöglichen. Es ist das Scheitern der wirklichen Politik, wenn das allgemeine Interesse durch das lokale besiegt und die Müllverbrennungsanlage nirgend­ wo gebaut wird. Solche und ähnliche, von der Spieltheorie gut beschriebene Entscheidungssituationen (z.B. Tragödie der Allmende, Trittbrettfahrerproble­ me usw.) werden immer neue wirkliche politische Probleme produzieren, die nicht mit technischen und theoretischen Mitteln gelöst werden können. An dieser Stelle ist besonders zu betonen, dass die Aufgabe der Politik in ihren beiden Bedeutungen eine wirkliche politische Aufgabe ist, weil ihr Erfolg keineswegs vorher feststehen würde oder garantiert wäre. Die Lösung einer wissenschaftlichen Frage kann auf sich warten lassen. Obwohl der Große Fer­ matsche Satz über 300 Jahre nicht bewiesen wurde, war garantiert, dass es einen Beweis gibt. Im Gegensatz dazu ist die Lösung im wirklichen politischen Bereich, da wir in der posthistorischen Zeit sind, stets fraglich. Das ist die unendliche Freiheit der wirklichen Politik. Obwohl die Bestimmung dessen, was die theoretischen Grundlinien des vernünftigen Staates sind, eine wissen­ schaftliche Wahrheit ist, ist das Individuum nicht verpflichtet, sich der Welt denkend zu nähern und diesen Staat zu verwirklichen. Obwohl die Weltge­ schichte gezeigt hat, dass die feudale Welt für die Mehrheit nicht akzeptabel ist, können sich dennoch manche Gruppen ihre Gesellschaft nach feudalen Handlungsmustern organisieren. Obwohl in der modernen Zeit jeder weiß, dass der Mensch frei und Sklaverei deswegen in der Wirklichkeit unmöglich ist, ist die Welt trotzdem voll von unwirklichen, aber durchaus real existieren­ den Sklaven. Ihre theoretische Emanzipation wurde von der Philosophie be­ reitgestellt, die praktische Emanzipation aber ist die Aufgabe der wirklichen

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Politik. Und die in beide Richtungen unendliche Freiheit der posthistorischen Zeit konstituiert die Möglichkeitsbedingung für die Lösung dieser Aufgabe. Diese Freiheit hat eine konstruktive und eine destruktive Seite. Die kon­ struktive Seite ist die Freiheit des von seiner welthistorischen Pflicht freige­ kommenen Individuums, seinen eigenen subjektiven Motivationen zu folgen. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in der Weltgeschichte (Werke 12, 42), aber die Weltgeschichte ist beendet. Deswegen setzt die Suche nach dem Glück keinen insubstantiellen Zustand voraus, sondern kann eine substantiel­ le Sorge sein. Die posthistorische Zeit ist eine, in der es keine welthistorischen Individuen mehr gibt. Das heißt nicht, dass jedes Individuum wertlos ist. Im Gegenteil, jedes ist, wie vorhin, Selbstzweck, weil es in ihm Vernunft und Frei­ heit gibt, und jedes nimmt an Sittlichkeit und Religion teil (Werke 12, 49). Vorher war es zufällig, ob besondere Wünsche und Begierden erfüllt wurden, ob es den vom subjektiven Standpunkt aus günstigen, vom welthistorischen Standpunkt stagnierenden, ephemeren Moment von Frieden und Stabilität gab. Jetzt aber, in der posthistorischen Zeit, ist das nicht mehr zufällig. Natür­ lich wird es auch in Zukunft Kriege geben, die das Leben der Bürger auf den Kopf stellen16. Die Verwirklichung dieser konstruktiven Seite jedoch zieht Verantwortung nach sich. Das Glück hängt von der vernünftigen Koordination der Motivatio­ nen ab und setzt Allgemeinheit voraus (Werke 10, 299–300). Darum können wir nur glücklich sein, wenn wir unsere Freiheit und unseren Willen denkend, d.h. nach allgemeinen Strukturen, nutzen (Werke 10, 288–290), d.h. wenn wir nur unter den theoretisch reflektierten Möglichkeiten wählen. Es ist, triviali­ ter, nicht vernünftig, mein Glück davon abhängig zu machen, dass ich morgen Abend ins Kino gehe und gleichzeitig zu Hause studiere, weil beides einander ausschließt. Es ist auch nur für manche vernünftig, ihr Glück davon abhängig zu machen, dass sie Olympiasieger im Langstreckenlauf werden. Die prakti­ schen Möglichkeiten werden von theoretischen Einsichten reflektiert. Es ist theoretisch unmöglich, dass jemand gleichzeitig an zwei unterschiedlichen Plätzen ist, und es ist eine wissenschaftliche Wahrheit, dass nur wenige den anatomischen Aufbau zum Olympiasieg im Langstreckenlauf haben. Hegel zufolge aber hat jeder die Fähigkeit, ein moralisches Wesen zu werden – unab­ hängig von seiner Bildung: Die Religion und Sittlichkeit haben eben, als die in sich allgemeinen Wesenheiten, die Eigenschaft, ihrem Begriffe gemäß, somit wahrhaftig, in der individuellen Seele vorhanden zu sein, wenn sie in derselben auch 16  Avineri 1996, 131–141.

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nicht die Ausdehnung der Bildung, nicht die Anwendung auf entwickelte Verhältnisse haben. Die Religiosität, die Sittlichkeit eines beschränkten Lebens – eines Hirten, eines Bauern – in ihrer konzentrierten Innigkeit und Beschränktheit auf wenige und ganz einfache Verhältnisse des Lebens hat unendlichen Wert und denselben Wert als die Religiosität und Sittlichkeit einer ausgebildeten Erkenntnis und eines an Umfang der Beziehungen und Handlungen reichen Daseins. Werke 12, 54

Das Individuum kann vernünftig daran glauben, dass es Glück findet, inso­ fern das Individuum der in Sittlichkeit unvermittelt gefundenen praktischen Vernunft folgt. Hegel wusste – und das muss hier betont werden –, dass nicht jeder zum Philosophen werden kann17. Die denkende Annäherung an die Welt und das Bedürfnis des Verstehens sind jedoch unausweichlich, um vernünftige Wün­ sche zu haben. Der Hirte und der Bauer bekommen dieses Denken idealerwei­ se von der Sittlichkeit, aber diese unvermittelte Erkenntnis ist nicht reflektiert wie die Erkenntnis des Philosophen. Und dies ermöglicht sodann eine Um­ kehrung zur destruktiven Seite der Freiheit, nämlich, wenn das Individuum aufhört, sich der Welt denkend zu nähern, und es auf das Bedürfnis des Verste­ hens verzichtet. Das ist nicht verwunderlich, weil das theoretische Wissen den Raum der praktischen Überlegung Hegel zufolge oft eng begrenzt – besonders, wenn das Individuum als Hirt und Bauer, und nicht als Aristokrat oder Kriegs­ herr geboren ist. Die Notwendigkeit dieser Begrenztheit kann von manchen besonders schwer akzeptiert werden, wenn das Individuum die theoretische Einsicht nur unvermittelt als Sittlichkeit und nicht vermittelt als Wissenschaft gelernt hat. Es kann eine wissenschaftliche Wahrheit sein, dass ich kein Olympiasieger im Langstreckenlauf werde, aber ich kann es trotzdem sehr wollen. Die Nicht­ übereinstimmung von Wille und Möglichkeit führt dann zum unglücklichen Leben und zur revolutionäre Utopien generierenden Frustration. Wenn man auf das Bedürfnis des Denkens und Verstehens verzichtet, sind Wesentliches und Unwesentliches nicht mehr unterschieden. Obwohl wissenschaftliches, „explizites“ Denken und alltägliches, „implizites“ Denken dasselbe Objekt haben, ist nur explizites Denken eine Form des reflexiven Erkennens. Im expli­ ziten Denken wird die Erscheinung durch ein Begriffsraster distanziert und als Instanziierung eines Begriffs angeeignet18. Das heißt natürlich nicht, dass nur 17  Rózsa 2012b, 228. 18  Halbig 2002, 152–159.

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Philosophen denken. Aber ohne das reflexive philosophische Erkennen ist es schwerer, das Denken und das Nichtdenken zu unterscheiden. Und im Nicht­ denken gibt es immer einen illusorischen, unwesentlichen Moment, der die gewollte, aber unmögliche Alternative als möglich darstellt. Deshalb erdich­ tet das nicht-denkende Individuum – wie der Historiker, der das verlorene rö­ mische Epos postuliert – Ursachen, um die offensichtliche Unmöglichkeit zu erklären. Das Individuum frönt Verschwörungstheorien, freiheitsfeindlichen Ideologien und einem autodestruktiven Verhalten; und weil es auf das Bedürf­ nis nach Denken und Verstehen verzichtet, wird es zum Feind der Freiheit, die dieses Verzichten ermöglichte. Diese Feindschaft ist in der posthistorischen Zeit ein viel ernsthafteres Phänomen als in der geschichtlichen Zeit. Es gibt keine vernünftige Notwen­ digkeit mehr, die den Missbrauch der Tyrannei möglicherweise korrigieren könnte: Die politische Regierung wird so, wie die die bürgerliche Gesellschaft konstituierenden Individuen sie gestalten. Das bedeutet natürlich nicht, dass repressive Regimes zu vernünftigen und wirklichen werden. Es ist eben des­ halb möglich, solche auch in einer posthistorischen Zeit zu erzeugen, weil ihre Erzeuger nicht vernünftig verfahren. Trotzdem existieren diese Regimes, was für ihre Bürger schon genug des Unglücks ist. Die Möglichkeit der post­ historischen Zeit ist in beiden Richtungen unendlich geöffnet: Die Individu­ en sind frei, den völlig vernünftigen Staat der institutionalisierten Freiheit zu erzeugen, in dem es zwar Auseinandersetzungen gibt, aber nur politische. Und die Individuen sind auch frei, im Verzicht auf das Bedürfnis nach Denken und Verstehen freiheitsfeindliche Regimes einzurichten. Es kann den Bürgern solcher Regimes Hoffnung geben, dass man begrifflich frei ist, ewig so bleibt und das – im Gegensatz zu den alten Völkern – in dieser posthistorischen Zeit auch weiß. Deshalb ist die Möglichkeit zum Sturz dieser Regimes immer gegeben, sie bedarf „nur“ der politischen Tat. Die politische Tat ist keine wissenschaftliche, d.h. keine philosophische Frage. Die Philosophie kann uns zeigen, welche Zwecke zu wählen vernünf­ tig ist, und wenn einmal diese Zwecke angenommen sind, welche Mittel zu wählen vernünftig sein wird. Sie kann uns aber nicht zwingen, Vernünftigkeit anzunehmen, und sie kann keine bestimmten Zwecke für uns auswählen. Die Wahrheit, wer einen zum Olympiasieg im Langstreckenlauf fähigen Körper hat, kann eine wissenschaftliche sein, aber das Annehmen dieser Wahrheit ist keine wissenschaftliche Wahrheit. Das Annehmen ist eine eigentümliche psy­ chologische Tat, die vernünftige Einsicht. Nun ist zu betonen, dass Hegel nicht die Erhaltung des Bestehenden vorschlägt: Ihm zufolge sollen der Hirt und der Bauer ihren Zustand nicht als von Gottes Gnaden gegeben akzeptieren. Sie

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müssen jedoch Zwecke aufgrund des Bestehenden wählen: In der vernünftigen Einsicht müssen sie eine solche rationale und emotionale Identität gewinnen, die das Allgemeine für das besondere und eigene Leben des Einzelnen als be­ deutend und gültig darstellt19. Wer sich der Welt nicht denkend nähert, ist in Bezug auf sein Denken unendlich frei, wie die Ironischen: Frei von den Tatsachen und von der Ver­ nünftigkeit kann er irgendetwas behaupten. Er hat eine negative Freiheit von den gesellschaftlichen Regeln, aber keine positive Freiheit für vernünftige Handlungen. In Bezug auf seine Handlungen ist er Sklave, weil die wirkliche Handlung sich an der Vernünftigkeit orientiert. Die unvernünftigen und un­ wirklichen Wesen werden instabil, da ihre Existenz keine Vernünftigkeit und Wirklichkeit hat. Kurzfristig können sie jedoch eine sehr reale und wirksame Alternative sein. Dann hat das denkende Individuum keine negative Freiheit von der existierenden gesellschaftlichen Repression, es hat aber eine positive vernünftige Freiheit für seine Handlungen. In diesem Fall kann das vernünfti­ ge Individuum in seinem endlichen Gesichtspunkt nichts anderes tun, als in der bestehenden neuen Konstellation seine praktischen Zwecke für sein Glück vernünftig neu zu bestimmen. 19  Rózsa 2005, 220–229.

Fokus 2.B Staat und Religion



Die Religion als Grundlage der Sittlichkeit und des Staates bei Hegel Tobias Dangel

Der moderne Staat

Beim modernen Staat, wie er sich seit der Neuzeit ausgebildet hat und zu dessen prägenden Erfahrungen die konfessionellen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts sowie die französische Revolution im Ausgang des 18. Jahrhunderts gehören, handelt es sich für Hegel um eine sittliche Ordnung, deren immanenter Zweck die Verwirklichung konkreter Freiheit ist1. Diese Ordnung und die spezifische Konkretion der in ihr liegenden Freiheit auf den Begriff zu bringen, gehört zu den herausragenden Leistungen der Grundlinien der Philosophie des Rechts (= GPR)2. Diese erheben den Anspruch auf eine vollständige Erkenntnis dessen, worin die innere Vernünftigkeit des Staates besteht. Die Frage nach der Vernünftigkeit des Staates ist dabei gleichbedeutend mit der Frage nach dem Prinzip seiner Organizität, mithin nach dem Prinzip seiner inneren Verfassung, in dem die Gesetze und die staatlichen Institutionen den Grund ihrer Einheit haben und das man in einem allgemeinen Sinne den Geist der Verfassung nennen kann. In den GPR entwickelt Hegel in einem systematischen Gedankengang Bestimmungen, die der geschichtlich existierende Staat erfüllen muß, um als wahrhaft vernünftig gelten zu dürfen. Im Folgenden sollen einige dieser Bestimmungen namhaft gemacht werden, um von ihnen her Hegels Verständnis des modernen Staates als der Wirklichkeit konkreter Freiheit zu profilieren. Mit Blick auf diese Bestimmungen und mit Blick auf das Prinzip, von dem diese Bestimmungen abhängen, läßt sich Klarheit darüber gewinnen, inwiefern für Hegel das Prinzip des modernen Staates mit dem religiösen Wissen von Gott, bei dem es sich um das Bewußtsein der absoluten Wahrheit handelt, intrinsisch zusammenhängt. Es ist dieser Zusammenhang, der es für Hegel unmöglich werden läßt, die Frage nach der dem Staat innewohnenden Vernunft und die Frage nach der Wirklichkeit der konkreten Freiheit von der Frage nach dem Bewußtsein der absoluten Wahrheit in der Religion abzutrennen.

1  Vgl. die immer noch grundlegende Studie von Ritter 1965. 2  Hegel, Werke 7.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_013

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Der moderne Staat zeichnet sich für Hegel wesentlich dadurch aus, daß in ihm die Ausübung aller staatlichen Gewalt und damit die Wirksamkeit seiner Einrichtungen und Organe durch gesatztes Recht gebunden ist. Er muß sich – und zwar um seiner Modernität und seiner inneren Vernünftigkeit willen – auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit stellen. Ebenso wesentlich wie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist ferner das Prinzip der Teilung der Gewalten. In GPR § 272 geht Hegel sogar soweit, genau dieses Prinzip als „das Moment der vernünftigen Bestimmtheit“ im Staat zu identifizieren und sein korrektes Verständnis in den Rang einer „Garantie der öffentlichen Freiheit“ zu erheben. Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung sind somit wesentliche Artikulationsmomente dessen, was im Staat wahrhaft vernünftig ist. Wenn Hegel jedoch insbesondere von der Gewaltenteilung als dem Moment der vernünftigen Bestimmtheit spricht, liegt dies daran, daß er in ihr die unendliche Subjektivität des spekulativen Begriffs als den inneren Bilder sowohl der Unterscheidung der staatlichen Gewalten als auch der in ihrer Unterscheidung liegenden Einheit erkennt. Der tiefere Sinn der modernen Gewaltenteilung besteht für ihn nämlich nicht darin, daß sich die Gewalten in ihrer Wirksamkeit wechselseitig beschränken und kontrollieren, wodurch sie sich für den Staat als bloß nützlich erwiese. Vielmehr handelt es sich bei der Allgemeinheit der gesetzgebenden Gewalt, der Besonderheit der Regierungsgewalt, die für Hegel neben der Exekutive bekanntlich auch die Judikative einschließt, sowie bei der Einzelheit der fürstlichen Gewalt um einen Ausdruck der sich frei in sich bestimmenden Vernunft und d.h. für Hegel eben nichts anderes als der unendlichen Subjektivität des spekulativen Begriffs. Nur die Selbstbestimmung des Begriffs in sich, nicht irgend andere Zwecke und Nützlichkeiten, ist es, welche den absoluten Ursprung der unterschiedlichen Gewalten enthält und um derentwillen allein die Staatsorganisation als das in sich Vernünftige und das Abbild der ewigen Vernunft ist. Werke 7, 433

Mit der Unterscheidung der Gewalten ist für Hegel aber uno actu ihre Einheit gesetzt, weil jede Gewalt nur durch die Wirksamkeit aller anderen Gewalten selber Wirksamkeit hat und somit die Beziehung auf das Ganze der Gewalten an ihr selber immer schon enthält. Jede Gewalt ist darum an ihr selber die konkrete Totalität aller Gewalten unter je spezifischer Hervorhebung nach dem Aspekt ihrer Allgemeinheit, ihrer Besonderheit oder ihrer Einzelheit. Die Unterscheidung der Gewalten bewirkt zugleich ihre Einheit, weshalb es vor allem die Gewaltenteilung ist, in der Hegel das wahrhaft vernünftige und organische Moment der Verfassung des Staates erblickt.

Die Religion als Grundlage der Sittlichkeit

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Neben den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung hat der moderne Staat auch seine Trennung von der Autorität der institutionalisierten Religion, der Kirche, zu vollziehen. Letzteres impliziert für Hegel, daß kirchliche Amtsträger oder überhaupt offizielle Vertreter einer Religionspartei über keine Regierungsgewalt verfügen dürfen und somit von der politischen Herrschaft im Staat ausgeschlossen sind. Liegt hingegen die Einheit von Kirche und Staat vor, hat sich mithin der Staat von der institutionalisierten Autorität der Religion nicht gelöst, so „ist der Staat nicht vorhanden – nicht die selbstbewußte, des Geistes allein würdige Gestaltung in Recht, freier Sittlichkeit und organischer Entwicklung.“ (Werke 7, 428) Darum weist Hegel in GPR § 270 darauf hin, daß religiöse Gemeinden, die erstens gemeinschaftliche Handlungen des Kultus begehen, zweitens eine Lehre ausbilden und zu diesem Zweck Eigentum besitzen, die Sphäre der bloßen Innerlichkeit des religiösen Gefühls und der religiösen Vorstellungen verlassen. Durch ihr Handeln treten sie in die weltliche als die durch den Staat regulierte Sphäre ein, so daß sie auch seiner weltlichen Gesetzgebung unterworfen sein müssen. „Insofern die religiöse Gemeinschaftlichkeit von Individuen sich zu einer Gemeinde, einer Korporation erhebt, steht sie überhaupt unter der oberpolizeilichen Oberaufsicht des Staats.“ (Werke 7, 422) Mit der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung sowie der Trennung von Kirche und Staat geht für Hegel überhaupt einher, daß der moderne Staat auf dem Standpunkt der vertieften Subjektivität steht und diese zu seinem Prinzip erhoben hat. Der Staat, der auf einem solchen Standpunkt steht, weiß um den unendlichen Wert des Individuums und bringt dieses Wissen durch seine Gewährleistung eines Rechts auf subjektive Freiheit zum Ausdruck. Dabei handelt es sich für Hegel bei der vertieften Subjektivität um diejenige Bestimmung des Selbstbewußtseins auf Seiten der Bürger wie auch der Gesetze und staatlichen Institutionen, in der die Frage nach der Modernität des Staates wie in einem Brennglas gebündelt in Erscheinung tritt. Denn ohne das Wissen um die vertiefte Subjektivität kann der Staat in seiner Sittlichkeit nicht die Wirklichkeit der konkreten Freiheit sein. So heißt es im Zusatz zu GPR § 260: Das Wesen des neuen Staates ist, daß das Allgemeine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen, daß also das Interesse der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft sich zum Staate zusammennehmen muß, daß aber die Allgemeinheit des Zwecks nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr Recht behalten muß, fortschreiten kann. Werke 7, 407

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Und noch eindrücklicher in der schriftlichen Fassung desselben Paragraphen: Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten. ibid.

Die subjektive Freiheit, die im modernen Staat vollumfänglich zur Geltung kommt, indem er die „persönliche Besonderheit“ in ihrer Selbständigkeit anerkennt, durch die das Individuum ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft wird, findet für Hegel ihren wichtigsten Ausdruck im Recht der Person auf privates Eigentum und dessen Schutz durch den Staat, weil das private Eigentum dasjenige Mittel ist, durch das sich die Person in freier Willkür nach allen Seiten ihrer besonderen Subjektivität entwickeln und ergehen kann. Die Anerkennung eines Rechts auf subjektive Freiheit setzt aber voraus, daß der Staat die konkrete Person in ihrer besonderen Subjektivität als unendlich wertvoll weiß und diesem Wissen im Recht auf subjektive Freiheit Objektivität und Verbindlichkeit verleiht. Eine staatliche Einschränkung z.B. des Eigentumsrechts mit dem Ziel, den eigenverantwortlichen Gebrauch der freien Willkür seitens der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft einzuschränken, wäre für Hegel eine Verletzung der Subjektivität des Menschen in seiner Besonderheit. Es gehört somit zur Vernünftigkeit und damit zur Modernität des Staates, die Befriedigung der besonderen Subjektivität der Person in ihren Bedürfnissen und Neigungen durch die bürgerliche, marktförmige Gesellschaft zuzulassen und durch einen Ordnungsrahmen einzuhegen, der auch die legitimen wohlfahrtsstaatlichen Interessen seiner Bürger berücksichtigt, um darüber die Sittlichkeit vor Verwerfungen zu schützen, die sich z.B. aus einer extrem ungleichen Vermögensverteilung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ergeben können3. Die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört übrigens der modernen Welt an, welche allen Bestimmungen der Idee erst ihr Recht widerfahren läßt. Wenn der Staat vorgestellt wird als eine Einheit verschiedener Personen, als eine Einheit, die nur Gemeinsamkeit ist, so ist damit nur die Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft gemeint. In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Werke 7, 339

3  Vgl. dazu Riedel 1970 (orig. 1969).

Die Religion als Grundlage der Sittlichkeit

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Neben dem Recht auf privates Eigentum zählt für Hegel aber auch das Recht auf freie Religionswahl zu den subjektiven Freiheitsrechten der Staatsbürger. Dieses Recht hat für die Wirklichkeit der konkreten Freiheit insofern eine besondere Bedeutung, als der Staat in ihm die Freiheit des Gewissens seiner Bürger anerkennt und somit den tiefsten Punkt ihrer Innerlichkeit, nämlich die Beziehung ihres Bewußtseins zu Gott als der absoluten Wahrheit, unter seinen Schutz stellt4. Wenn Hegel die sittliche Ordnung des modernen Staates als eine Ordnung konkreter Freiheit begreift, dann hat das seinen Grund letztlich also darin, daß der moderne Staat überhaupt auf dem Boden der vertieften Subjektivität steht, den unendlichen Wert des Individuums anerkennt und dieses sich in der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft entfalten läßt. Darüber versäumt der moderne Staat aber nicht, die mit dem Gedanken vom unendlichen Wert des Individuums sich verselbständigende Besonderheit in die vernünftige, in sich substantiellen Allgemeinheit des Staates zurückzuführen – eine Besonderheit, die der Gefahr ausgesetzt ist, durch das Verfolgen ihrer partikularen Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft ihres sittlichen Zusammenhangs mit dem Staat verlustig zu gehen. „Das Recht der Individuen an ihrer Besonderheit ist ebenso in der sittlichen Substantialität enthalten, denn die Besonderheit ist die äußerlich erscheinende Weise, in welcher das Sittliche existiert.“ (Werke 7, 304) Mit der Einsicht in das Wesen der vertieften Subjektivität, die dem Selbstbewußtsein der modernen Welt angehört, unterscheidet sich für Hegel die Sittlichkeit des modernen Staates fundamental von der Sittlichkeit der antiken Polis. Denn der Geist der antiken Sittlichkeit beinhaltet noch kein Wissen von der bis in die konkrete Einzelheit des Menschen vertieften Subjektivität, was für Hegel den grundsätzlichen Mangel an subjektiver Freiheit in der antiken Poliswelt begründet, deren Sittlichkeit darum auch noch nicht die Wirklichkeit der konkreten Freiheit ist. So heißt es in § 552 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (= Enz.)5: Platon, gemeinschaftlich mit allen seinen denkenden Zeitgenossen, diese Verdorbenheit der Demokratie und die Mangelhaftigkeit selbst ihres Prinzips erkennend, hob das Substantielle hervor, vermochte aber nicht 4  Die Religionsfreiheit, die sich für Hegel aus der modernen Freiheit des Gewissen herleitet, wird von ihm vor allem in der Anmerkung zu GPR § 270 verhandelt. Dabei geht er jedoch nicht so weit, die Freiheit des Gewissens als eine Instanz anzuerkennen, auf die sich auch die negative Religionsfreiheit berufen kann. 5  Hegel, Werke 8–10.

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seiner Idee des Staates die unendliche Form der Subjektivität einzubilden, die noch vor seinem Geiste verborgen war; sein Staat ist deswegen an ihm selbst ohne die subjektive Freiheit […]. Werke 10, 363 f.

Entsprechend erteilt Hegel in den GPR jeglichem Gedanken an eine Rückkehr zu den sittlich-politischen Verhältnissen der antiken Polis eine Absage, weil ein solcher Gedanke nur unter der Bedingung eines Rückfalls unter das Niveau der in der modernen Welt zu sich gekommenen konkreten Freiheit gedacht werden kann. Denn wenn das Prinzip der vertieften Subjektivität, wie Hegel zu betonen nicht müde wird, der modernen Welt angehört, dann besagt dies, daß mit diesem Prinzip den Menschen das Bewußtsein aufgegangen ist, daß nicht nur ein einzelner Mensch oder eine Gruppe von Menschen frei ist, sondern daß alle Menschen frei sind und zwar insofern sie Menschen sind6. Das Wissen um die vertiefte Subjektivität kommt dem Staat aber nicht ursprünglich, kraft eigener Vernunft zu, sondern fällt in die Religion, genauer in das Christentum, zu dessen Offenbarungsinhalt diese Vertiefung gehört. Im Christentum erkennt Hegel folglich den Träger und Verbreiter des Gedankens einer universalen menschlichen Freiheit, den es im Laufe seiner eigenen Geschichte der Welt eingebildet hat. Diese Idee ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis, diesen in sich wohnen zu haben, d.i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist. Werke 10, 301 f.

In den GPR, in der Enz., aber auch in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte sowie in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion entwickelt Hegel ein Verständnis vom modernen Staat, zu dem gehört, daß er einerseits die Wirklichkeit der konkreten Freiheit ist, die im Prinzip der vertieften Subjektivität gründet, und daß andererseits dieses Prinzip sich der geistigen Welt des Christentums verdankt, in der es zum Bewußtsein und zur Ausbildung in Form einer Lehre gekommen ist. „In der christlichen Religion ist vornehmlich das Recht der Subjektivität aufgegangen, wie die Unendlichkeit des Fürsichseins […].“ (Werke 7, 343) Insofern sich diese Vertiefung der Subjektivität im 6  Vgl. hierzu die großangelegte und aus der Geschichte der Metaphysik rekonstruierte Synopse bei Kobusch 1996 (orig. 1993), bes. 158–171.

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Staat als der prinzipientheoretische Dreh- und Angelpunkt erweist, um den es bei der Frage nach dessen Modernität geht, ist diese Frage von der christlichen Religion, der das Wissen um die Vertiefung innerlich angehört, unabtrennbar. Dies besagt für Hegel aber wiederum nichts anderes, als daß es sich bei der Freiheit und der Vernunft, die die Substanz der Institutionen des modernen Staates in der Form gewußter Allgemeinheit ausmachen, um dieselbe Freiheit und Vernunft handelt, die der Vorstellungsinhalt der christlichen Religion sind und die – so der Anspruch Hegels – in der spekulativen Philosophie als der philosophischen Wissenschaft von Gott bzw. vom Absoluten begriffen werden7.

Freiheit und Christentum

Hegels maßgebliche Auseinandersetzung mit dem Christentum findet sich in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion, die Hegel vier Mal – 1821, 1824, 1827 und 1831 – in Berlin gehalten hat. Gemäß der in den Vorlesungen sukzessive entwickelten und in den Details immer wieder überarbeiteten Deutung kommt im Christentum der weltgeschichtliche Religionsprozeß, bei dem es sich um den Prozeß der Selbstentfaltung und des Zu-sich-Kommens des absoluten Geistes handelt, zu seinem Ende. Das Christentum ist für Hegel diejenige Gestalt der Religion, in der alle anderen Religionen momenthaft aufgehoben sind und auf die der gesamte Religionsprozeß immanent hinausläuft8. Eine solche Vollendungsgestalt kann das Christentum aber nur deswegen sein, weil in ihm Gott bzw. das Absolute nach seinem wahren Inhalt gewußt wird. Gott bzw. das Absolute nach seinem wahren Inhalt zu wissen, heißt für Hegel aber, Gott in der Bestimmung des Geistes zu wissen. Dieses Wissen, daß Gott Geist ist, ist im Christentum entstanden, weshalb das Christentum von Hegel

7  Daß die in der Geschichte aufgetretenen Religionen bei Hegel den Ausgangspunkt bilden, von dem aus die Staaten sowie die Prinzipien ihrer Verfassungen weltgeschichtlich zu begreifen und letztlich sogar als eingebettet in eine geistige Entwicklung des allgemeinen Freiheitsbewußtseins zu dechiffrieren sind, wird prägnant von Ulrich Thiele herausgestellt: „Die geschichtsphilosophische Theorie schlägt allerdings einen sehr anspruchsvollen Weg ein, der mit einem mechanischen Evolutionismus staatsrechtlichen Heils nicht das Geringste gemein hat: Denn sie orientiert sich maßgeblich an der Theologie und behauptet, daß die Theorie des absoluten Geistes nicht nur den Schlußstein des enzyklopädischen Systems bildet, sondern ebenso zur Aufklärung spezifischer Problemkonstellationen innerhalb des objektiven Geistes beiträgt.“ In: Thiele 2008, 65. 8  Friedrich Hemanni spricht in diesem Zusammenhang von der Hegelschen Religionsphilosophie als einem kritischen Inklusivismus. Vgl. Hermanni 2013.

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nicht nur als die Religion der Wahrheit und der Freiheit, sondern eben auch als die Religion des Geistes angesehen wird9. Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten. – Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen. – Das Wort und die Vorstellung des Geistes ist früh gefunden, und der Inhalt der christlichen Religion ist, Gott als Geist zu erkennen zu geben. Werke 10, 29 f.

Daß das Christentum Gott als Geist weiß und somit diejenige Religion ist, die über den wahren Inhalt verfügt, hängt für Hegel an zwei zentralen Bestimmungen des im Christentum gegenwärtigen Gottesgedankens. Das Christentum denkt erstens Gott als eine ewige Einheit, die noch vor der Schöpfung einer endlichen Welt sich in sich selbst unterscheidet und im Unterschied uno actu zu sich selbst zurückkehrt. Mit anderen Worten: Gott ist keine abstrakte von aller Differenz befreite Einheit, sondern er ist eine Einheit, die die Differenz in sich selbst erzeugt und zwar so, daß er in der Differenz mit sich selbst identisch bleibt. Gott ist somit der ewige, trinitarische Selbstbezug von Vater, Sohn und heiligem Geist. Für den Sohn als das Moment der Differenz in Gott gilt: γεννηθέντα οὐ ποιηθέντα bzw. genitus non factus est10. Das Sich-in-sichUnterscheiden Gottes ist ebenso sehr seine Rückkehr zu sich, so daß Gott in sich selbst die konkrete Totalität aller seiner trinitarischen Momente ist. Gott wird folglich genau dann als Geist gewußt, wenn die Einheit Gottes ihre Identität mit sich selbst in der Differenz bewahrt. Denn eine Einheit, die in der Differenz nur auf sich selbst bezogen ist, ist Geist11. Die Struktur des Geistes ist für Hegel in der christlichen Lehre von der trinitarisch gegliederten Einheit Gottes ausgesprochen (μία οὐσία ἐν τρίσιν ὑποστάσεσιν). Das bedeutet, daß 9   Vgl. die in ihrer Übersichtlichkeit und Tiefenschärfe brilliante Darstellung der Hegelschen Christentumsdeutung von Rohls 2015. 10  Siehe zum nicaeno-constantinopolitanischen Symbol Denzinger 2014 (orig. 1854), 381. 11  Die platonisch-neuplatonische Herkunft des Geistbegriffs bei Hegel, die dessen Begreifen des Geistes im Christentum überhaupt erst ermöglicht hat, weil die Ausbildung der christlichen Trinitätslehre etwa durch Marius Victorinus, Augustinus, Boethius und andere ohne den trinitarischen Begriff des Geistes als absoluter denkender Selbstbeziehung im Neuplatonismus nicht verstehbar ist, ist am intensivsten und gelehrtesten untersucht worden von Halfwassen 2005 (orig. 1999).

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Hegel im Christentum diejenige monotheistische Religion sieht, die Gott nicht bloß allgemein als den Vater (πατήρ oder ἀρχή) weiß, sondern als die lebendige Einheit von Vater und Sohn (ὑιός oder λόγος) und zwar dergestalt, daß diese aus dem Vater und dem Sohn ( filioque) hervorgehende lebendige Einheit der Geist (πνεῦμα oder νοῦς) ist. Die christliche Lehre von der trinitarisch gegliederten Einheit Gottes mit sich selbst beinhaltet zunächst aber nur das Wissen von der innergöttlichen Einheit der Momente. Damit aber Gott auf vollendete Weise Geist und somit wahrer Gott sein kann, bedarf es einer zweiten Bestimmung, die für Hegel in der johanneischen Rede von der Fleischwerdung des eingeborenen Sohnes bzw. des Logos: καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο ausgesprochen ist12. Die johanneische Rede von der Fleischwerdung des Logos wird von Hegel ihrem eigentlichen Inhalt nach als der Gedanke von der Selbstverendlichung des Geistes begriffen – einer Selbstverendlichung, die sich religiös als Vorstellung von der Schöpfung der Natur und des Menschen als des endlichen Geistes, der sich einer von ihm getrennten Natur gegenübersieht, artikuliert und die ihre äußerste Spitze im neutestamentlichen Bericht über das Kreuzesgeschehen, also über Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi, hat. Erst durch das Kreuzesgeschehen vermögen laut Hegel die Vertiefung der Subjektivität und die dieser Vertiefung entsprechende wahre Bestimmung des Geistes zu Bewußtsein zu kommen. Denn die innere Bewegung des Kreuzesgeschehens betrifft in Hegels Deutung sowohl das Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit als auch darüber das Verhältnis von Gott und Mensch, die beide durch den neutestamentlichen Bericht über das Kreuzesgeschehen innerhalb des weltgeschichtlichen Religionsprozesses neu ausgerichtet werden. Die Pointe, die Hegel in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen dem Kreuzesgeschehen entnimmt, besteht darin, daß sich Gott in einer konkreten Person, einem „einzelnen Diesen“, auf den Menschen und damit auf die Endlichkeit, genauer auf die radikale Endlichkeit einläßt, die als die Nichtigkeit des Todes nicht nur das menschliche Leben, sondern letztlich auch den Sinn dieses Lebens bedroht. Der Bericht über die Auferstehung markiert für Hegel darum einen grundstürzenden Wendepunkt im Wissen des Menschen von Gott und von sich selbst, weil er zu verstehen gibt, daß Gott nicht nur Mensch geworden ist, das Absolute sich aus seiner Unendlichkeit in die Endlichkeit hineinbegeben, sondern die Endlichkeit in ihrer Nichtigkeit auch überwunden und zu einem Moment in der Unendlichkeit des Absoluten aufgehoben hat. Im Christentum stehen sich Gott und Mensch, Unendlichkeit und Endlichkeit nicht mehr im Modus der Trennung gegenüber, sondern der Mensch weiß sich 12  Vgl. Joh 1,14. Siehe dazu neuerdings Ringleben 2014, bes. 80–96.

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nun als versöhnt in Gott, weil er seine eigene Endlichkeit als in der Unendlichkeit Gottes aufgehoben weiß. Der moderne Gedanke vom Tode Gottes ist nach Hegel ein essentielles Moment des christlichen Gottesgedankens selber, weshalb Hegel das Kreuz in Anlehnung an die theologia crucis als das Symbol dafür versteht, daß zur Wahrheit über das Sein Gottes Gottes eigener Tod bzw. Gottes eigenes Nichtsein gehört13, wie auch der wahre Begriff der Unendlichkeit erfordert, daß die Endlichkeit als ein immanentes Moment der Unendlichkeit selber erkannt wird. Nur die christliche Religion weiß den Menschen als mit Gott wahrhaft versöhnt, weil sich Gott mit dem Menschen versöhnt hat. „Gott selbst ist tot“ heißt es in einem lutherischen Liede; damit ist das Bewußtsein ausgedrückt, daß das Menschliche, Endliche, Gebrechliche, die Schwäche, das Negative göttliches Moment selbst sind, daß es in Gott selbst ist, daß die Endlichkeit, das Negative, das Anderssein nicht außer Gott ist und als Anderssein die Einheit mit Gott nicht hindert. Es ist das Anderssein, das Negative gewußt als Moment der göttlichen Natur selbst. Die höchste Idee des Geistes ist hierin enthalten14. Die innere Bewegung des Kreuzesgeschehens stellt für Hegel nicht nur die Verendlichung Gottes im Menschen, sondern auch umgekehrt – wenn man den etwas sperrigen Ausdruck gebrauchen möchte – die Verunendlichung des Menschen in Gott vor15. Es ist dieses Hervortreten der göttlichen Natur des 13  Ähnlich heißt es bei Peter C. Hodgson: „The ‚speculative Good Friday‘ means that the death of God must be taken up into the concept of God itself. On the one hand, this death is dysteleological and tragic; on the other hand, it is a negation of negation and the most radical, daring example of Hegel’s speculative teleological holism.“ In: ders. 2012, 174. 14  G.W.F. Hegel, Vorlesungen 5, 249 f. Siehe zum Gedanken vom Todes Gottes in Hegels Christentumsdeutung die wichtigen Ausführungen von Jüngel 2001 (orig. 1977), bes. 83–137. 15  Daß Hegel hiermit altkirchliche Gedanken zur Christologie aufgreift, wird besonders deutlich, wenn man an die 3. theologische Rede des Kirchenvaters Gregor von Nazianz erinnert: „Am Anfang war er ohne Grund; denn welchen Grund gibt es schon für Gott? Später fing er wegen eines Grundes an zu sein – dieser bestand darin, daß du, der du ihn verunglimpfst und seine Gottheit deswegen verachtest, weil er dein dichtes Fleisch angenommen hat, gerettet werden solltest – und hat sich unter Vermittlung des Geistes mit Fleisch zusammengetan, und der irdische Mensch ist Gott geworden, da er sich mit Gott vermischt hat und mit ihm einer geworden ist, wobei das Stärkere den Sieg davon getragen hat, damit ich soweit Gott werde, wie jener Mensch geworden ist [Herv. T. D.].“ (Übers. nach Hermann Joseph Sieben) ἐν ἀρχῇ ἦν ἀναιτίως· τίς γὰρ αἰτία Θεοῦ; ἀλλὰ καὶ ὕστερον γέγονε δι᾿ αἰτίαν· ἡ δὲ ἦν τὸ σὲ σωθῆναι τὸν ὑβριστήν, ὃς διὰ τοῦτο περιφρονεῖς θεότητα, ὅτι τὴν σὴν παχύτητα κατεδέξατο, διὰ μέσου νοὸς ὁμιλήσας σαρκί, καὶ γενόμενος ἄνθρωπος ὁ

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Menschen in der Verklärung der Endlichkeit, aus der sich nach Hegel der dem modernen Staat als Gewißheit zugrundeliegende Gedanke vom unendlichen Wert des Individuums herleitet – eine Verklärung, die als die Versöhnung von Gott und Mensch bzw. als die Versöhnung des unendlichen Geistes mit dem endlichen Geist zugleich die Vorstellung der wahren Bestimmung menschlicher Freiheit beinhaltet. Gerade mit Blick auf Enz. § 482 muß man sich darum klar vor Augen führen, daß Hegels Rede vom Christentum als der Religion der Freiheit die Freiheit von der Versöhnung des unendlichen Geistes mit dem endlichen Geist her verstanden wissen will. Die Wahrheit über die Freiheit des Menschen als des zunächst nur endlichen Geistes ist darum die gottmenschliche Einheit oder die Einheit des endlichen und des unendlichen Geistes, die der absolute Geist ist16. Zu „Gott als Geist sein absolutes Verhältnis, diesen in sich wohnen zu haben […]“ (Werke 10, 302), wie es in Enz. § 482 heißt, ist für Hegel die höchste Bestimmung menschlicher Freiheit. Entsprechend gründet der Gedanke des unendlichen Werts des Individuums im Christentum nach Hegel gerade nicht in der durchaus hohen und würdigen Vorstellung des Alten Testaments, daß der Mensch das Ebenbild Gottes ist, sondern darin, daß der zunächst endliche Geist, mithin überhaupt die Endlichkeit des Menschen in die Einheit mit dem unendlichen Geist zurückgeführt ist. Hierdurch allein kann – so Hegels These in den religionsphilosophischen Vorlesungen, aber auch in der Enz. – das Individuum einschließlich seiner Endlichkeit, zu der die Seite seiner besonderen Subjektivität gehört, als vergöttlicht und somit als von unendlichem Wert angesehen werden. D.h. von unendlichem Wert ist die konkrete Person in ihrer leib-seelischen Ganzheit, nicht etwas an der Person. Absoluter Geist als gottmenschliche Einheit, konkrete Freiheit und unendlicher Wert des Individuums sind Bestimmungen, die wechselseitig aufeinander verweisen17. κάτω Θεός, ἐπειδὴ συνανεκράθη Θεῷ, καὶ γέγονεν εἷς, τοῦ κρείττονος ἐκνικήσαντος, ἵνα γένωμαι τοσούτον Θεός, ὅσον ἐκεῖνος ἄνθρωπος. (Gregor von Nazianz, oratio theol. 3, 19). 16   Die wichtigste Untersuchung zum christologischen Dogma der gottmenschlichen Einheit, das auf das Konzil von Chalcedon (451) zurückgeht, im Zusammenhang mit Hegels Lehre von der absoluten Idee und des absoluten Geistes findet sich bei Wendte 2007, bes. 220–288. 17  In Bezug auf Hegels These über den systematischen Zusammenhang von christlicher Religion und modernem Verfassungsstaat, die in den GPR sowie in der Enz. entwickelt wird und die einem auch in den geschichtsphilosophischen, ästhetischen (vgl. die romantische Kunstform), religionsphilosophischen und philosophiegeschichtlichen Vorlesungen begegnet, schreibt Ulrich Thiele: „Mit der gebührenden historischen Distanz kann und muß man heute fragen, ob nicht, systematisch betrachtet, Hegel allen monotheistischen Religionen, die die Kriterien des Erlösungs- und Offenbarungsglaubens erfüllen, also

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Die christliche Religion als Grundlage wahrhafter Sittlichkeit

In Enz. § 552, dessen Anmerkung zum Verhältnis von Religion und Staat sich nur in der dritten Auflage von 1830 findet, geht es um den Hervorgang des absoluten Geistes aus dem denkenden Geist, der in der Weltgeschichte tätig ist und der sich selbst dadurch absolut wird, daß er sich in der konkreten Allgemeinheit der unendlichen Subjektivität des spekulativen Begriffs erfaßt, bei der es sich um die „ewig wirkliche Wahrheit“ handelt, „in welcher die wissende Vernunft frei für sich ist“ (Werke 10, 353). Dieser Paragraph ist für ein Verständnis der Verhältnisbestimmung von christlicher Religion und modernem Staat bei Hegel besonders wichtig, weil er Hegels späteste schriftliche Einlassung zum besagten Thema enthält. Dabei greift Hegel seine bereits in GPR § 270 explizit vertretene These wieder auf, daß der Staat und die ihm zugehörige sittliche Ordnung in der Religion ihre Grundlage hat18. In Enz. § 552 führt Hegel seine Einsicht in das Wesen des modernen Staates als der wirklich gewordenen konkreten Freiheit mit seiner Einsicht in das Wesen des Christentums als der Religion des Geistes äußerst pointiert zusammen, der sich der Gedanke vom auch dem Islam und dem Judentum, prinzipiell dasselbe Potenzial zur „Bildung“, d.h. zur Anerkennung der rechtssetzenden und -durchsetzenden Autonomie des Politischen, die mit einer ethischen Rationalisierung der entsprechenden Glaubenslehre und -praxis einherginge, zusprechen müßte, wie er es in Hinblick auf das Christentum getan hat. Nirgends wird (jedenfalls für den heutigen Leser) stichhaltig begründet, wieso ausschließlich das Christentum und zwar ausschließlich in seiner protestantischen Ausprägung die Voraussetzung für eine synergetische Beziehung zum modernen Verfassungsstaat erfüllen kann.“ In: ders. 2008, 145. Ähnliche Bedenken erhebt z.B. auch Wallace 2005, bes. 315 f. Angesichts Hegels detaillierten und systematischen Ausführungen zum Christentum in den religionsphilosophischen Vorlesungen, die darauf hinauslaufen, daß die christliche Gottesvorstellung ihrem Inhalt nach die wahrhaft vernünftige ist, und die in bedeutender Weise das Spezifische des christlichen Freiheitsgedankens im Zusammenhang mit der Frage nach dem Prinzip der Moderne, nämlich der unendlichen Subjektivität, erschließen – eines Freiheitsgedankens, der nach Hegel seine Grundlage in dem Wissen um die gottmenschlichen Einheit hat – wird alsbald klar, daß Erlösungs- und Offenbarungsglaube nur formale Kriterien sein können. Es kommt für Hegel aber primär nicht auf solche Formalitäten an, sondern auf den konkreten Inhalt einer Gottesvorstellung, mit der bspw. ein Erlösungsgedanke im Zusammenhang steht. Einen solchen konkreten Inhalt philosophisch zu erschließen und auf seine Vernünftigkeit hin zu beurteilen, ist sehr viel schwieriger, wie die religionsphilosophischen Vorlesungen zeigen, als nur formal vom Erlösungs- und Offenbarungsglauben zu sprechen, ohne die inhaltliche Bestimmtheit der jeweiligen Vorstellungen zu untersuchen. 18  Zu Hegels verschiedenen Akzentuierungen bei der Verhältnisbestimmung von Religion und Staat in GPR § 270 und Enz. § 552 vgl. Jaeschke 2009.

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unendlichen Wert des Individuums auf der Grundlage der gottmenschlichen Einheit verdankt – einer Einheit, in der der endliche Geist als Moment in den unendlichen Geist zurückgeführt ist und in dieser seiner Einheit das Wissen von seiner wahrhaften Freiheit hat. Gerade weil der § 552 den Übergang des objektiven Geistes in den absoluten Geist verhandelt, kommt Hegel hier noch einmal auf ein Grundproblem seines Begriffs sittlicher Ordnung zu sprechen. Denn der Staat, bei dem es sich ja um die Wirklichkeit sittlicher Freiheit handeln soll, setzt sich aus zwei Seiten zusammen. Zu der einen, der subjektiven Seite, gehören die Bürger, die als konkrete Personen mit einer unüberschaubaren Pluralität von Neigungen, Bedürfnissen, Interessen und mehr oder weniger reflektierten Meinungen ausgestattet sind. Die andere Seite besteht in den Gesetzen und staatlichen Institutionen, die das allgemeine Wissen und Wollen des Staates, seine objektive Vernünftigkeit, verkörpern und die in ihrer Verbindlichkeit gegenüber der besonderen Subjektivität der Bürger das Machthabende sind. An dieser objektiven Vernünftigkeit hat der Staat seinen festen Inhalt, „der für sich notwendig und ein über das subjektive Meinen und Belieben erhabenes Bestehen ist, die an und für sich seienden Gesetze und Einrichtungen.“ (Werke 7, 293 f.) Der Staat ist aber erst dann die Wirklichkeit des Sittlichen, wenn in ihm das Wissen und Wollen der besonderen Subjekte bzw. der einzelnen Staatsbürger mit dem allgemeinen Wissen und Wollen in den Gesetzen und staatlichen Institutionen affirmativ zusammengeschlossen ist. Nur dann – so lautet Hegels freiheitstheoretische Diagnose des Sittlichen – vermag der Staat die uneingeschränkte Verwirklichung der Freiheit zu sein, wenn die einzelnen Subjekte als Bürger und die in den Institutionen zu fester Objektivität geronnene Allgemeinheit nicht bloß Andere für einander sind, die sich fremd oder sogar polemisch gegenüberstehen. Vielmehr gilt: Im sittlichen Staat vermögen die einzelnen Subjekte ihr eigenes substantielles Wissen und Wollen in den Institutionen wiederzuerkennen sowie sie sich umgekehrt durch die Institutionen als Träger bürgerlicher Rechte und Pflichten anerkannt wissen. Bei einem solchen auf der sittlichen Substanz wechselseitiger Anerkennung beruhenden Verhältnis von Bürger und Staat, von Einzelnem und Allgemeinem, das von seiner Struktur her der prozedurale Einheitszusammenhang eines Sich-Wissens-imAnderen ist, handelt es sich um ein gelungenes Verhältnis von Geist zu Geist. Der affirmative Zusammenschluß der Bürger mit ihrem Staat, der seinen Grund darin hat, daß die Substanz bzw. das vernünftige Allgemeine der Institutionen von den Bürgern als ihrem eigenen Selbstbewußtsein innewohnend gewußt wird, so daß umgekehrt der Staat im substantiellen Wissen und Wollen der Bürger die Garantie seiner Wirklichkeit hat, führt für Hegel aber noch nicht auf die wahrhaft sittliche Ordnung. Der bloße affirmative Zusammenschluß ist

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selbst nämlich nur formal, wenn man vom Inhalt dieses Zusammenschlusses absieht. Damit der Staat die Wirklichkeit der wahrhaft sittlichen Ordnung sein kann, muß für Hegel das Prinzip, die vernünftige Allgemeinheit, die in der sittlichen Ordnung als Wissen vorliegt, an ihm selber das wahre sein. Die wahrhaft sittliche Ordnung ist in ihrer Wirklichkeit bedingt erstens durch die subjektive Seite, der die Bürger angehören, und die objektive Seite als die den Bürgern gegenüberstehenden Institutionen. Beide Seiten müssen sich ineinander finden. Erst dieses Sich-ineinander-Finden macht den Staat zu einem gelungenen Verhältnis von Geist zu Geist. Aber die wahrhafte Sittlichkeit ist darüber hinaus zweitens durch die Wahrheit des Prinzips bedingt, die ihr zugrundeliegt. Nicht jede sittliche Ordnung kann für Hegel darum als die Wirklichkeit der Freiheit beurteilt werden, was er vor allem mit Blick auf die freiheitstheoretisch defizitäre Sittlichkeit der antiken Polis betont. Entsprechend kann es vorkommen, daß das substantielle Wissen und Wollen seitens der Bürger, d.h. dasjenige, was ihnen als das Wahre gilt, sich auf einem höheren Standpunkt befindet, mithin einer entwickelteren Vernunft angehört als dasjenige Allgemeine, das durch die Institutionen des Staates verkörpert wird. In einem solchen Falle wären die Bürger in ihrem Selbstbewußtsein und dem ihm angehörenden Gewissen bereits über die Institutionen des Staates und ihre Wirksamkeit hinaus. Sie könnten sich in ihnen nicht mehr wiedererkennen, was auf ein inneres Absterben der Sittlichkeit führt, das für Hegel über kurz oder lang auch das Absterben eines solchen entsittlichten Staates in der äußeren Welt etwa durch Revolutionen zur Folge hat. Aber auch der umgekehrte Fall kann eintreten, daß nämlich das in sich gegliederte Institutionengefüge des Staates die rechtliche Artikulation einer höheren Vernünftigkeit als diejenige ist, die dem Selbstbewußtsein der Bürger innewohnt. In einem solchen Fall kann sich der Staat ebenfalls nicht als sittliche Ordnung verwirklichen und ist damit in seiner Existenz bedroht. Einem Volk eine, wenn auch ihrem Inhalte nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, – dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre. Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört. Werke 7, 440

Das Prinzip der wahrhaft sittlichen Ordnung ist für Hegel das Prinzip der bis in die Einzelheit vertieften Subjektivität, d.h. der Subjektivität in ihrer wahren Unendlichkeit, in der das Endliche in die Unendlichkeit, das Einzelne in die Allgemeinheit zurückgeführt und somit in seiner konkreten Totalität

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wieder hergestellt ist. Aus der Wahrheit der unendlichen Subjektivität ergibt sich denn auch die bürgerliche Gesellschaft als ein notwendiges Moment des modernen Staates. Denn es ist der moderne Staat, der um den unendlichen Wert des Individuums weiß und dieses Wissen in der Gewährleistung eines Rechts auf subjektive Freiheit zum Ausdruck bringt – eines Rechts, ohne das die bürgerliche Gesellschaft für Hegel nicht zu ihrer vollständigen Entwicklung gelangen kann. Die unendliche Subjektivität liegt aber nicht nur der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch der Lehre von der organischen Verfassung als dem Moment der vernünftigen Bestimmtheit des Staates zugrunde19. Nur deshalb kann Hegel den gewaltenteiligen Verfassungsstaat ein Abbild der ewigen Vernunft nennen, weil seine Verfassung gemäß den Momenten der unendlichen Subjektivität des spekulativen Begriffs – der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit – in sich zu einer konkreten Totalität triadisch gegliedert ist. In einer solchen konkreten Totalität ist jedes Moment an ihm selber das Ganze wie sich auch das Ganze in alle seine Momente entfaltet, um in wechselseitiger Durchdringung von Moment und Ganzem eine Einheit zu sein, die die Identität mit sich in der Differenz wahrt. Nur wenn der Staat auf dem Prinzip der bis in die Einzelheit vertieften und darum unendlichen Subjektivität basiert, die in der Sphäre des Weltlichen den ihr adäquaten Ausdruck im gewaltenteiligen Verfassungsstaat hat, der die bürgerliche Gesellschaft überwölbt, ist seine sittliche Freiheit objektiv konkret. Das Problem, das Hegel in der Anmerkung zum Verhältnis von Religion und Staat in Enz. § 552 aufgreift, gilt nun dem Umstand, daß selbst wenn die objektive Seite des Staats auf dem wahren Prinzip der unendlichen Subjektivität basiert, die Gesetze und staatlichen Institutionen sich dennoch nicht von selber tragen. Obgleich sie in sich objektiv vernünftig sind, wächst ihnen ihre Macht und Stabilität nicht aus sich selbst zu. Vielmehr muß das Selbstbewußtsein der Bürger und damit ihr substantielles Wissen und Wollen zum Prinzip, auf dem der Staat beruht, emporgebildet sein. Der Staat als sittliche Ordnung und die Wirklichkeit der konkreten Freiheit hängen darum wesentlich vom gebildeten Selbstbewußtsein der Bürger ab, weil ohne diese Bildung der sittliche 19  Interessanterweise schreibt Martin Wendte mit Blick auf Hegels Verständnis des trinitarischen Gottesgedankens im Christentum: „Die Monarchie des Vaters führt durch die Gewaltenteilung im Absoluten zur Monarchie des Geistes: zu derjenigen Monarchie also, die jede Form der Alleinherrschaft einer der Momente negiert, weil jedes Totalität ist.“ In: ders. 2007, 239. Damit wird von Wendte die verfassungsrechtliche Relevanz des trinitarischen Gottesgedankens klar benannt, auf die Hegel in GPR § 272 ja selber anspielt, wenn er sagt, daß die wahre Verfassung das Prinzip der Gewaltenteilung befolgt und genau darin das Abbild der ewigen Vernunft ist.

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Zusammenschluß der Bürger mit ihrem Staat gefährdet ist, wodurch der Staat als ganzer wankend wird. Der Staat beruht nach diesem Verhältnis auf der sittlichen Gesinnung und diese auf der religiösen. Indem die Religion das Bewußtsein der absoluten Wahrheit ist, kann das, was als Recht und Gerechtigkeit, als Pflicht und Gesetz, d.i. als wahr in der Welt des freien Willens gelten soll, nur insofern gelten, als es Teil an jener Wahrheit hat, unter sie subsumiert ist und aus ihr folgt. Daß aber das wahrhaft Sittliche Folge der Religion sei, dazu wird erfordert, daß die Religion den wahrhaften Inhalt habe, d.i. daß die in ihr gewußte Idee Gottes die wahrhafte sei. Werke 10, 355

Wenn die Frage nach der sittlichen Ordnung mit der Frage nach der Bildung des Selbstbewußtseins der Bürger verknüpft ist, dann geht es für Hegel genauer um die Frage, was den Bürgern im Rahmen ihrer Bildung die absolute Wahrheit ist, d.h. in welcher inhaltlichen Bestimmtheit sie von Gott wissen. Das religiöse Wissen der Bürger kann für Hegel zu einem politischen Problem für die Sittlichkeit des Staates werden20. Die Frage nach der Bildung des Selbstbewußtseins der Bürger ist darum auch keine Frage nach substanzlosen Bildungsinhalten, sondern die Frage danach, in welcher inhaltlichen Bestimmtheit dem Selbstbewußtsein das Wissen von Gott bzw. vom Absoluten innewohnt. Für Hegel ist die Frage nach dem Wissen von Gott bzw. vom Absoluten für das Bestehen der sittlichen Ordnung des Staates die alles entscheidende Frage – und sie ist zugleich die Frage danach, welche Religion im Staat die vorherrschende ist. Denn es ist für ihn die Religion, die das Bewußtsein der absoluten Wahrheit enthält, so daß in sie das Höchste des Gewissens und der Gesinnung der Bürger fällt. Das Verhältnis von Religion und Staat dreht sich für Hegel folglich um die Frage nach der Gesinnung und dem Gewissen der Bürger. Hegel zieht aus dieser Problemstellung weitreichende Konsequenzen. Erstens identifiziert er generell die Religion als die Grundlage der Sittlichkeit und 20  Dieser Aspekt wird prägnant von Thomas A. Lewis umrissen: „Hegel accepts the claim that religion constitutes the foundation of the state […]. Despite his concern to ground the state in appeals to reason, Hegel provides religion between with a more expansive role in social and political life than does much modern Western reflection on religion and politics. He attributes to religion and religious institutions a major role in shaping character and dispositions. Though philosophy can express spirit more adequately than religion can, Hegel credits religion with a decisive influence on the formation of our initial feelings and attitudes toward others, society, and political life.“ In: ders. 2011, 233.

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des Staates. Und damit zusammenhängend, widerspricht er zweitens der liberalen Ansicht der Aufklärung, daß die Religion und die Zugehörigkeit zu einer Kirche staatlicherseits als eine nur private Sache der Bürger zu behandeln sei. So ist das Verhältnis der Religion zum Staate so betrachtet worden, daß dieser für sich sonst schon und aus irgendeiner Macht und Gewalt existiere und das Religiöse als das Subjektive der Individuen nur zu einer Befestigung etwa als etwas Wünschenswertes hinzuzukommen hätte oder auch gleichgültig sei und die Sittlichkeit des Staates, das ist vernünftiges Recht und Verfassung für sich auf ihrem Grund feststehe. Werke 10, 356

Die Erwartung, daß die religiösen Überzeugungen der Bürger dauerhaft privat bleiben und ihre praktischen Konsequenzen nur innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, nicht aber innerhalb der Sphäre des politischen Staates und seiner Institutionen entfalten, ist für Hegel wenig mehr als ein gedankenloser Wunsch. Denn eine solche Erwartung verkennt schlichtweg die Tatsache, daß sich das Gewissen in der Tiefe seiner Innerlichkeit aus dem Bewußtsein der absoluten Wahrheit, also der Religion, bestimmt. [E]s ist nur eine abstrakte, leere Vorstellung, sich als möglich vorzuspiegeln, daß die Individuen nur nach dem Sinne oder Buchstaben der Gesetzgebung und nicht nach dem Geiste ihrer Religion, in der ihr innerstes Gewissen und höchste Verpflichtung liegt, handeln. Die Gesetze erscheinen in diesem Gegensatz gegen das, was von der Religion für heilig erklärt wird, als ein von Menschen Gemachtes; sie könnten, wenn sie auch sanktioniert und äußerlich eingeführt wären, dem Widerspruch und den Angriffen des religiösen Geistes gegen sie keinen dauerhaften Widerstand leisten. Werke 10, 360

Vernünftiges Recht und Verfassung stehen für sich nicht auf festem Grund, sondern ruhen in der Religion als dem Bewußtsein der absoluten Wahrheit. Es ist für Hegel darum undenkbar, daß sich eine sittliche Gesinnung auf Seiten der Bürger ausbilden kann, indem die Bürger das, was ihnen als vernünftig gilt, in den Institutionen des Staates wiederzuerkennen vermögen, wenn die sittliche Gesinnung und das religiöse Gewissen unvereinbar sind, weil sie unterschiedlichen Prinzipien unterstehen. Für Hegel kann es kein bloß privates religiöses Gewissen geben, das sich innerhalb der öffentlichen Sphäre des Staates nicht irgendwann geltend machen würde. „Beides ist untrennbar; es kann nicht

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zweierlei Gewissen, ein religiöses und ein dem Gehalt und Inhalt nach davon verschiedenes sittliches geben.“ (Werke 10, 355 f.) Und an anderer Stelle heißt es: Grundsätze der rechtlichen Freiheit können nur abstrakt und oberflächlich daraus hergeleitete Staatsinstitutionen müssen für sich unhaltbar sein, wenn die Weisheit jener Prinzipen die Religion so sehr mißkennt, um nicht zu wissen, daß die Grundsätze der Vernunft der Wirklichkeit ihre letzte und höchste Bewährung in dem religiösen Gewissen, in der Subsumtion unter das Bewußtsein der absoluten Wahrheit haben. Werke 10, 360

Die inhaltliche Bestimmtheit Gottes, die im Wissen der Religion gegenwärtig ist, muß für Hegel mit dem Prinzip übereinstimmen, durch das die Sittlichkeit des Staates bedingt ist. Die wahrhaft sittliche Ordnung als die Wirklichkeit der konkreten Freiheit des modernen Staates kann für Hegel darum auch nur in einer Religion der Freiheit ihre Grundlage haben. „Es hülfe nichts, daß die Gesetze und die Staatsordnung zur vernünftigen Rechtsorganisation umgeschaffen würden, wenn nicht in der Religion das Prinzip der Unfreiheit aufgegeben wird.“ (Werke 10, 359) Die Religion der Freiheit ist aber, wie wir gesehen haben, ausschließlich das Christentum, weil in dessen Zentrum der trinitarische Gott steht, der mit der Natur und dem endlichen Geist versöhnt und darum Gott als die Freiheit des in sich konkreten Geistes ist. Von Gott als Geist zu wissen und die Vorstellung der Freiheit des Geistes in seinem Selbstbewußtsein gefaßt zu haben, ist für Hegel die Grundlage der wahrhaften Sittlichkeit des Staates – eine Grundlage, welche die Sittlichkeit nicht aus sich selbst erzeugen oder rein für sich selbst sein kann. Der Staat kann sich gerade um der Wahrheit seiner sittlichen Ordnung willen nicht selbst genügen21. Der Begriff einer 21  Ernst-Wolfgang Böckenförde kommt in seinem wichtigen Aufsatz zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel zu folgendem Résumé: „Wenn der von Hegel dargelegte notwendige Zusammenhang von entfaltetem Staat und christlicher Religion mehr als eine bloß subjektive Hypothese ist, steht der von der Verankerung in der (christlichen) Religion gelöste Staat, der ohne Bindung an einen vorausliegenden, unverfügbaren Inhalt existiert, was seine eigene Grundlage angeht, in einer prekären Situation. Er kann sich zwar auf die Erfordernisse der Bedürfnisnatur und die Gewährleistung der formellen subjektiven Freiheit berufen, aber darüber hinaus ist er ohne geistiges Prinzip, steht wie Hegel sagt, „in der Luft“. Er hat insoweit Grundlage und Halt nur im aktuellen Konsens der Bürger. Dieser Konsens ist indes kein objektiver, normativ geforderter Konsens, der sich auf ein Staat und Bürger gemeinsam verpflichtendes objektives Prinzip bezieht, sondern ein subjektiver Konsens, der von den tatsächlich vorhandenen gemeinsamen Auffassungen bestimmt wird.“ In: ders. 2006 (orig. 1991), 141.

Die Religion als Grundlage der Sittlichkeit

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solchen Ordnung weist darum immer schon, wie von Hegel in den GPR und der Enz. herausgestellt wird, über sich selbst hinaus auf die Religion, weil von ihr als dem Bewußtsein der absoluten Wahrheit abhängt, worin das Subjekt und damit der Staatsbürger den höchsten Punkt seiner Gesinnung und seines Gewissens hat. Eine Religion, die Gott nicht als mit dem endlichen Geist versöhnt weiß, so daß sich das Subjekt zu Gott nur in der Weise der Unfreiheit seines GetrenntSeins von ihm im Kultus und in der Reflexion des Verstandes zu verhalten vermag, muß für Hegel mit der vernünftigen Freiheit in Recht und Verfassung in Konflikt geraten. Eine solche Unfreiheit kann in der Religion unterschiedliche Gestaltungen annehmen. In Enz. § 552 schreibt Hegel sie innerhalb der Sphäre des Christentums dem Katholizismus zu. Dieser, obwohl selber die Religion der Freiheit in sich tragend, hält am Prinzip der Unfreiheit fest, weil er – so Hegels Diagnose – nur über ein äußerliches Verständnis vom Geist verfügt und damit den Geist in seiner konkreten Innerlichkeit verkennt. Mit dem Letzteren hängen für Hegel alle weiteren Trennungen innerhalb des Katholizismus zusammen – etwa die Trennung eines Priesterstandes vom Laienstand, die eine auf keine äußere Vermittlung angewiesene Beziehung des Subjekts zu Gott verneint und gegen die sich bekanntlich der Protestantismus mit seinem Gedanken vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen gewendet hat. Der Katholizismus erhebt die Heiligkeit der Ehelosigkeit und Keuschheit über die Sittlichkeit der Ehe und der Familie, die Heiligkeit der Armut über die Sittlichkeit der Erwerbstätigkeit, die für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und damit für die Ausbildung des modernen Staates unabdingbar ist, sowie die Heiligkeit des Gelübdes des Gehorsams über die Sittlichkeit der rechtlichen Gesinnung als Gehorsam gegenüber Gesetz und Staatseinrichtungen. Einer solchen noch unfreien Geistigkeit innerhalb der Religion der Freiheit hält Hegel aber entgegen, daß es gerade das rechte Verständnis der konkreten Innerlichkeit des Geistes ist, das allererst die Einsicht ermöglicht, daß es sich bei der wahrhaft sittlichen Ordnung als der Wirklichkeit der konkreten Freiheit um das immanent die Weltlichkeit durchdringende Heilige handelt. „So wird zuletzt das Prinzip des religiösen und des sittlichen Gewissens ein und dasselbe in dem protestantischen Gewissen […].“ (Werke 10, 365) Die Objektivität der konkreten Freiheit im Staat in der Form von Gesetzen und Staatseinrichtungen hat zur Garantie ihrer Wirklichkeit das religiöse Gewissen seitens der Bürger, und hängt insofern von der Religion als ihrer Grundlage ab. Die Freiheit im Staat ist auf eine Religion der Freiheit angewiesen, durch die die Bürger in den Stand gesetzt sind, einen Rechtsgehorsam auszubilden, der sie nicht in den Konflikt mit ihrem religiösen Gewissen treibt. Eine

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solche Harmonisierung von Staat und Religion ist für Hegel aber grundsätzlich nur dann möglich, wenn es sich bei der Vernunft, die dem Staat in Form von Gesetzen und Staatseinrichtungen eingeschrieben ist, und bei der Vernunft, die ihren Ausdruck als religiöses Wissen von Gott hat, um ein und dieselbe, den Staat und die Religion übergreifende Vernunft handelt. Die Wahrheit über eine solche den Staat und die Religion übergreifende Vernunft, die beide als Ausdruck ihrer freien Selbstbestimmung begreift, ist der absolute Geist oder die unendliche Subjektivität des spekulativen Begriffs. Der Gegensatz von Staat und Religion, ihr polemisches Verhältnis zueinander kann freilich aber auch dann noch auftreten, wenn Staat und Religion tatsächlich Ausdruck ein- und desselben Vernunftprinzips sind22. Daß es dazu kommen kann, hat für Hegel seinen Grund letztlich darin, daß der Ausdruck der Vernunft im Staat und der Ausdruck der Vernunft in der Religion unterschiedliche Formen annehmen muß. Dem Inhalt nach sind Staat und Religion jedoch nicht verschieden, weil es sich bei der Vernunft im Staat und in der Religion um ein- und dieselbe Vernunft handelt. Dasselbe gilt dann auch für die Philosophie. Letztere begreift den absoluten Geist als die Wahrheit über die Vernunft und erkennt ihn als den absoluten Inhalt des Staates und der Religion und darüber die Einheit beider trotz ihrer Formverschiedenheit. Mehr noch. Indem die Philosophie das Begreifen der Wahrheit über die Vernunft ist, hat auch sie denselben Inhalt wie der Staat und die Religion. Diese Identität des Inhalts in Staat, Religion und Philosophie wird aber nur durch die Philosophie selbst erkannt, in deren Erkenntnis darum auch die wahre Versöhnung von Staat und Religion als Teil der Lehre vom absoluten Geist fällt. Entsprechend resümiert Hegel am Ende von Enz. § 552, daß nur auf der Grundlage der Lehre vom absoluten Geist und seiner an und für sich absolut freien Tätigkeit die absolute Möglichkeit und Notwendigkeit vorhanden ist, daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie in eins zusammenfallen, die Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt mit dem Geiste, des Staates mit dem religiösen Gewissen, ingleichen dem philosophischen Wissen sich vollbringt. Werke 10, 364

22  Die Möglichkeiten eines solchen Konflikts werden von Hegel detailliert in GPR § 270 verhandelt. Vgl. dazu Schick 2009.

Religion als Grundlage, und nur als Grundlage des Staats Über Quietismus, Fanatismus, Tyrannei, und … Freiheit Paul Cruysberghs „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“1. Mit dieser Antwort auf die Frage des jüdischen Volks, ob sie den Römern Steuer zahlen sollten oder nicht, hat Jesus von Nazareth, mindestens in der christlichen Welt, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Staat sowohl gelöst wie auch problematisiert. Wenn man sich bewusst macht, dass das römische Kaiserreich in Israel als Besatzungsmacht fungierte, dann ist klar, dass diese Frage eine aktuelle Frage war, und dass Jesus dabei eine besondere Behutsamkeit walten lassen musste. Wie gewöhnlich war Jesu Lösung der Frage kurz, und nur scheinbar klar. Prima vista scheint Jesus nämlich eine radikale Scheidung von Kirche und Staat zu vertreten, da er suggeriert, dass beide nicht miteinander interferieren sollen. Zugleich jedoch bleibt eine virulente Frage, was es eigentlich bedeutet, dass etwas „Gott gehöre“, und auch, ob man tatsächlich einer fremden Besatzungsmacht, welche nicht nur im politischen, sondern auch im religiösen Leben einzugreifen versucht, gehorchen soll. Es erweist sich also einmal mehr, dass derartige Probleme sich nicht mit einem einfachen Satz lösen lassen. Jesu aphoristischer Satz bedurfte der Kommentierung und Verfeinerung. Wir können hierzu auf Augustin von Hippos De civitate Dei Bezug nehmen, wo er Jesu berühmten Satz näher zu erklären versucht. Er unterscheidet dabei das irdische Gesetz des untergehenden römischen Reichs und das göttliche Gesetz der himmlischen Stadt Gottes. Durch diesen Unterschied zwischen der Stadt des Menschen und der Stadt Gottes war Augustin sich vollkommen des möglichen Konflikts zwischen beiden bewusst, sobald ein und dieselbe Person zugleich Mitbürger beider Städte sein sollte. Als Bewohner der Stadt des Menschen hat sie sich nur um irdische, d.h. zeitliche Sachen, Sorgen und Vergnügungen zu kümmern, wohingegen sie sich als Bürger der himmlischen Welt ausschließlich den ewigen Wahrheiten und Werten widmen soll. Wie kann so ein und dieselbe Person Mitbürger beider Städte zugleich sein? Wenn die Aufgabe darin besteht, die Mitbürgerschaft beider miteinander zu versöhnen, so ist diese zumindest alles andere als einfach. Möglicherweise vertragen 1  Markus 12, 17; cf. Matthäus 22, 21; Lukas 20, 25 und Römerbrief 13, 7.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_014

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sich beide Arten von Bürgerschaft überhaupt nicht miteinander? Welche eine Lebenshaltung soll man in diesem Fall wählen: ein angenehmes, glückliches, gutes, aber wesentlich an innerweltlichen Vergnügungen orientiertes Leben, oder aber ein Leben, das sich ausschließlich um die ewige Seligkeit kümmert und deshalb Entsagung und Rückzug zu fordern scheint? Wie schon die Versöhnung, so wäre auch die Wahl zwischen diesen beiden Alternativen alles andere als eine einfache Sache. Ich werde mich nun nicht weiter mit Augustin beschäftigen, sondern mich vielmehr Hegel zuwenden und fragen, wie er, als moderner Philosoph, besagte Frage Augustins zu lösen versucht. Dass Hegel das Verhältnis zwischen Religion und Staat problematisiert hat und dieses Problem auch zu lösen versucht hat, hängt nicht nur mit der damaligen politischen und religiösen Situation Badens und Preußens (wo er eben lebte und arbeitete) zusammen, sondern auch mit der spezifischen Architektonik seines Systems. Einerseits scheint Hegel, besonders in seiner Rechtsphilosophie, zu betonen, dass der Staat vor allem als Verwirklichung der Freiheit aufzufassen ist – Freiheit, welche als die letztendliche Bestimmung des Menschen aufzuzeigen ist, wesentlicher als Glückseligkeit, wie in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ausdrücklich hervorgehoben wird2. Andererseits betrachtet Hegel die Religion, zusammen mit Kunst und Philosophie, als die höchste Form von (Selbst-)Bewusstsein, als absoluter Geist, wobei der menschliche Geist sein eigenes Wesen erblickt. Insbesondere in der letzten Ausgabe der Enzyklopädie (1830) betont Hegel, dass der absolute Geist, und besonders die Religion, das höchste Prinzip des menschlichen Lebens ist, sowohl als B ­ ewusstsein der Natur wie auch als Selbstbewusstsein des subjektiven und objektiven Geistes. Die Frage bleibt jedoch, was die Religion eigentlich mehr bieten kann als der Staat. Wenn der Staat als die höchste Verwirklichung der Freiheit anzusehen ist und die Freiheit selbst das Höchste ist, dem der Mensch als subjektiver Geist nachzustreben hat, kann es dann noch etwas Höheres geben? Wie kann Hegel so noch die Religion als höchstes Prinzip des menschlichen Geistes behaupten, gleichsam als ob es noch etwas Höheres als die Verwirklichung der Freiheit geben könnte? Wie kann man diese beiden hierarchischen Bestimmungen zusammenbringen, wenn beide die höchste Verwirklichung des menschlichen Geistes zu repräsentieren scheinen? Man hat dieses Problem bisweilen so zu lösen versucht, dass Hegel eine typische Entwicklung in seinem Denken durchgemacht habe. Als er 1820/21 seine Grundlinien der Philosophie des Rechts publizierte, habe er tatsächlich in der 2  Cf. E §§ 479–482, GW 20, 475–481.

Religion als Grundlage, und nur als Grundlage des Staats

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berühmten Anmerkung (A) zu § 270 den Staat als die höchste Instanziierung der Freiheit angesehen und deshalb auch darauf bestanden, die Religion unter der Kontrolle des Staats zu halten. Als Hegel jedoch 1827 die zweite und 1830 die dritte Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften vorlegte, habe er in der Anmerkung zu § 563 in der zweiten und zu § 552 in der dritten Auflage der Religion, als Erscheinungsweise des absoluten Geistes, einen höheren Platz zugewiesen und vor allem betont, dass die Religion das Prinzip des Staats und deshalb über den Staat erhoben sei3. Meiner Auffassung nach geht es hier weder um einen Gegensatz noch um eine Entwicklung, sondern um einen Unterschied in der Betonung, nicht um einen begrifflichen Unterschied. Vom Gesichtspunkt des Staats aus, also in der Rechtsphilosophie, war Hegels Interesse vor allem der Autonomie des Staats gewidmet. Diese wird in der Enzyklopädie nicht negiert, aber selbstverständlich hat Hegel dort vor allem versucht, den Begriff des absoluten Geistes, und darin den der Religion, in den Vordergrund zu stellen. Sein Interesse war dabei vor allem, den Übergang vom objektiven zum absoluten Geist klar darzustellen. Der Staat und die Weltgeschichte sollten dabei vom absoluten Geist aus begriffen werden – gleich wie auch der Staat selbst als Prinzip der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden muss, obwohl Familie und bürgerliche Gesellschaft selbst einen eigenen Begriff haben. Im Folgenden gehen wir deshalb davon aus, dass wir es mit einer kohärenten Auffassung zu tun haben, welche sich durch die Jahre hindurchgezogen hat4. Ich behaupte damit, dass einerseits schon in der Rechtsphilosophie die Religion als Prinzip oder Grundlage des Staats angesehen wird (und sei es vor allem, um zugleich deren Beschränkungen anzuzeigen), dass andererseits aber auch in der Enzyklopädie die Autonomie des Staats einen besonderen Platz hat. Ich werde dafür die verschiedenen Jahrgänge der Vorlesungen über Rechtsphilosophie, Philosophie der Religion, der Geschichte etc. heranziehen und hoffe so zeigen zu können, dass Hegel seine ursprüngliche Haltung, was das Verhältnis von Staat und Religion betrifft, bewahrt hat.

3  E (1827) § 563 A, GW 19, 395–400; E (1830) § 552 A, GW 20, 531–541. Weil der Text der zweiten fast integral in die dritte Auflage integriert ist, beziehe ich mich im Folgenden ausschließlich auf die dritte Ausgabe. 4  In meinem Beitrag gehe ich nicht näher auf die verschiedenen alternativen Interpretationen ein. Im Literaturverzeichnis findet der Leser eine Auswahl möglicher Deutungen.

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Quietismus und Fanatismus

Auch Hegel hat sich zu Jesu berühmter Aussage, dass man dem Kaiser geben solle, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört, geäußert. Schon in den Frankfurter Manuskripten Zur Christlichen Religion kommentiert (und kritisiert) Hegel Jesu Aussage5. Nicht zufällig finden wir diese Äußerung auch in der Enzyklopädie wieder, stellt sich doch dort die Frage nach dem Übergang vom Staat zur Religion, wodurch also sowohl „der Kaiser“ wie auch „Gott“ in Betracht kommen6. Hegel suggeriert, man soll das Wort Jesu in dem Sinn interpretieren, dass (zumindest prima vista) der Staat und die Religion zwei ganz verschiedenen Sphären angehören. Einig mit Augustin behauptet Hegel, dass die Religion dem göttlichen Reich des Himmels, und der Staat der profanen, irdischen Welt angehört7. Als solcher hat der Staat sich um endliche Bedürfnissen, Wünsche und Interessen zu kümmern. Religion dagegen hat keine endlichen Bedürfnisse im Sinn, sondern will ausschließlich Gott, welcher weit über alle Trivialitäten des irdischen Lebens erhaben ist, ehren. Im Himmel verschwinden auch alle irdischen Unterschiede zwischen Menschen: „Dann kommt es nicht mehr darauf an, ob ihr Juden oder Griechen seid, beschnitten oder unbeschnitten, ob euer Volk zivilisiert oder primitiv ist, ob ihr Sklaven oder freie Bürger seid“, sagt Paulus in seinem Brief an die Christen in Kolossai8. Für Gott sind alle Menschen gleich. Falls dies die richtige Interpretation des Wortes Jesu ist, dann sind Staat und Religion einander entgegengesetzt und, als solche, auch voneinander geschieden. Diese vom Stifter der christlichen Religion suggerierte Scheidung beider Sphären ist, ihrer Simplizität wegen, attraktiv, aber der dualistische Charakter dieser Auffassung bringt die Gefahr mit sich, der Religion jede Relevanz für das irdische Leben und umgekehrt dem irdischen Leben jede religiöse Relevanz abzusprechen. Dies birgt sodann die Gefahr, ein „doppeltes Leben“ zu führen: ein religiöses Leben am Sonntag und ein profanes Leben während der Woche. 5  Frankfurter Manuskripte zur christlichen Religion, Text 60 ‚Mit dem Muthe …‘, GW 2, 286 ff. 6  E § 552 A, GW 20, 535; cf. Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 523; (Griesheim 1824/25), GW 26.3, 1415. 7  PhR § 270 A, GW 14.1, 219; cf. Vorl PhR (Hotho 1822/23), GW 26.2, 1004; Vorl GeschPh (Meyer 1819), GW 30.1, 144. 8  Kolosser 3,11; cf. Paulus, Brief an die Christen in der Provinz Asia, 6,9: „Denkt daran, dass ihr im Himmel einen gemeinsamen Herrn habt, vor dem alle Menschen gleich sind“; oder auch im Brief an die Gemeinden in Galatien 3,28: „Da gibt es keine Juden oder Nichtjuden mehr, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen, denn durch eure Verbindung mit Jesus Christus seid ihr alle zu Einem geworden“.

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Eine solche Doppelwelttheorie wird von Hegel sowohl in seiner Rechtsphilosophie als auch in der Enzyklopädie radikal zurückgewiesen9. Nicht nur deshalb, weil jeder Dualismus, der dialektischen Methode nach, nicht standhält, sondern auch, weil das tatsächliche Resultat eines solchen Dualismus katastrophal ist. Zwei Haltungen gehen daraus nämlich hervor: Quietismus und Fanatismus. Hegel charakterisiert beide Haltungen zusammen als „Kampf und Fliehen“10. Fliehen ist die Daseinsweise des Quietismus; Kämpfen ist die Haltung des Fanatismus. Beide sind gleichermaßen verwerflich. Die Gefahr geht beidesmal von der Religion aus. Wenn die Religion jede profane Angelegenheit aus ihrer Welt ausschließt, verliert sie jegliche Relevanz auf der politischen Bühne. De facto bekräftigt sie dadurch die bestehenden politischen Verhältnisse ohne sich zu fragen, ob diese gut seien oder schlecht. Das Resultat ist Quietismus. Dabei geschieht es, dass die Religion die Neigung hat, das politische Leben als ein schmutziges Spiel anzusehen, worin nur Leidenschaften und Gewalt die herrschende Rolle spielen. Eine mögliche Reaktion darauf kann sein, dass die Religion eine gleichgültige Haltung dem Politischen gegenüber empfiehlt und vorschlägt, sein Leben erhabeneren Sachen zu widmen: „Im Staate mag es zugehen, wie es will, in der Religion hat man die Entschädigung. Man wird an einen Himmel, an ein Jenseits verwiesen“11. Was kann dies meinen? Bisweilen ist die Indifferenz gegenüber dem irdischen Leben von einer radikalen Verinnerlichung begleitet: das wahrhaft Wertvolle im Leben findet man in seinem inneren Verhältnis zu Gott, nicht in der äußeren Welt. Das Resultat ist eine innere Ablehnung der Welt und eine äußere Anpassung an die herrschenden Einstellungen und Gesetze. Man fügt sich der aktuellen Situation, um es „bei der Ergebung und dem Seufzen oder dem Verachten und Wünschen bewenden [zu] lassen“12. Daraus kann man zumindest schließen, dass, wenn Religion und Staat vollkommen auseinandergehalten werden, die Religion, besonders in historischen Perioden von Armut und Unterdrückung, auf eine Form bloßer Vertröstung reduziert wird. Fungiert Religion so als ein ausgleichender Trost für das Unrecht, welches man zu durchleiden hat, und für Verluste, welche man im wirklichen Leben zu erleiden hat, dann hatten die Aufklärungsphilosophen des 18. Jahrhunderts recht, wenn sie die Religion verurteilten. Religion predigt so nur Resignation, und eine jede mögliche Rebellion gegen ein tyrannisches Regime

9   PhR § 270 A, GW 14.1, 214–216; E § 552 A, GW 20, 531–534. 10  Vorl Rel (Sekundär 1831) (blaue Reihe), Vorlesungen 3, 342. 11  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 518. 12  PhR § 270 A, GW 14.1, 216.

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wird schon im Keim erstickt13. Auch wenn die Religion noch eine andere, eigene, spezifischere Bedeutung hat, kann es geschehen, dass die Religion de facto, wie wir sagen könnten, als ideologische Waffe in den Händen eines Regimes fungiert, sei es gut oder verkehrt. Vor allem ist dies (überraschenderweise) dann der Fall, wenn die Religion exklusiv persönliche Innerlichkeit und Frömmigkeit predigt, ohne ausdrücklich eine Verbindung zur äußeren Wirklichkeit herzustellen. De facto unterstützt sie dann, nolens volens, die bestehende politische Situation. Indifferenz und Passivität gegenüber dem irdischen Leben machen diese Art quietistischer Frömmigkeit somit höchst verdächtig14. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass der religiöse Mensch nicht zufrieden damit ist, sich vollkommen in sich selbst zu kehren, und sich daher umgekehrt der Welt zuwendet. Es kann dann sein, dass man einen himmlischen, utopischen Staat auf Erden zu errichten versucht15. Hegel hat dabei historische Beispiele im Sinn, wie etwa das Auftreten der Quäker, die Aktivitäten der Münchner Anabaptisten im 16. Jahrhundert und die der Presbyterianer in England, welche damals Charles I. zum Schafott geführt haben16. In all diesen Fällen lässt die Religion den Staat nicht in Ruhe, sondern versucht selbst seine Stelle einzunehmen und „sich als ein irdisches Reich im Staate dar[zu]stellen“17. Die Religion beansprucht dabei, die einzige Instanz zu sein, welche bestimmen kann, was richtig ist und was nicht. Wenn dabei dem Staat jede Kompetenz, selbst, unabhängig von irgendwelchem religiösen Anspruch, zu bestimmen, welchen Gesetzen die Bürger zu gehorchen haben, abgesprochen wird, riskiert man, dem Staat eine religiöse Konstitution aufzuzwingen, wodurch die Religion den Staat faktisch verdrängt. Weil Religion auf diese Weise den Staat auf eine äußere Autorität (z.B. die Autorität eines Gottes oder eines Religionsstifters) zu gründen versucht, charakterisiert Hegel dergleichen religiöse Ansprüche als Fanatismus18. In der Ringier-Nachschrift erläutert Hegel diesen Fanatismus so, dass die Religion sich dabei nach ihrer negativen Seite zeigt19. Negativ ist sie, wenn sie sich nicht mehr mit der wirklichen Welt zufriedengibt und diese durch eine 13  PhR § 270 A, GW 14.1, 213–214; cf. Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 517–518. 14  Siehe auch Vorl PhR (Griesheim 1824/25), GW 26.3, 1415, wo Hegel auf Quäker, Wiedertäufer und Herrnhuter hinweist. In Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 520 nennt Hegel, neben den Wiedertäufern, auch die Presbyterianer. 15  Vorlesungen 3, 342. 16  PhR Vorl (Ringier 1819/20), GW 26.1, 520. 17  Vorl PhR (Wanneman 1817/18), GW 26.1, 209. 18  PhR § 270 A, GW 14.1, 215; cf. auch Vorl PhR (Griesheim 1824/25), GW 26.3, 1416. 19  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 519–520.

Religion als Grundlage, und nur als Grundlage des Staats

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idealere zu ersetzen versucht. Theokratische Religionen zeigen sich immer als polemisch den anderen Lebenssphären gegenüber. Sie versuchen die ganze Gesellschaft zu beherrschen und zu kontrollieren: Familienleben, Erziehung, bürgerliche Gesellschaft, Politik, Kunst … Religion scheint dabei eine das ganze Leben umfassende Ideologie zu sein, welche keiner Lebenssphäre einen eigenen, autonomen Raum zugesteht. Das Problem dabei ist, so Hegel in der Hotho-Nachschrift, dass Religionen eine globale, allgemeine Vorstellung des Lebens haben, welche jedoch mehr die Form der Empfindung und des Gefühls (im Gemüt) hat als die des Begriffs. Der Staat dagegen bewegt sich im Medium der Verwirklichung und muss seine Bestimmungen differenzieren. Damit droht die Religion tatsächlich ein negatives Verhältnis zu den Bestimmungen des Staats anzunehmen und die differenzierte Organisation des Staats umzuwerfen. Sofern man in konkreten Situationen immer die Totalität des religiösen Gefühls realisiert sehen möchte, ist man nie mit den Beschränkungen des konkreten Lebens zufrieden. Sobald man die Totalität des religiösen Gefühls realisiert sehen will, kann man gar nicht anders, als mit dem Gegebenen unzufrieden sein. So riskiert die Religion ein totalitäres Regime zu begünstigen, worin alles Besondere im Namen der Totalität zerstört werden muss. „Der Fanatismus ist nichts anderes, als daß er nicht will die besondern Unterschiede gewähren lassen“20. Und dieser Fanatismus wird dadurch untermauert, dass eine solche globale Sicht auf die Welt zudem überhaupt keine Begründung oder rationale Rechenschaft erträgt. Die Gesetze würden so einfach auf einem subjektiven Gefühl, und somit auf bloßer Willkür beruhen. Und selbst wenn man, mehr objektiv statt auf subjektiver Frömmigkeit beruhend, Gott selbst geltend macht, muss man damit rechnen, dass auch Gott bloß dieselbe „allgemeine Idee“ ist, „und in dieser Rücksicht das Unbestimmte, das nicht dahin gereift ist das zu bestimmen, was im Staat als entwickelt da ist“21. Theokratische Religionen haben einen subjektiven, idealistischen, ja erhabenen Weltbegriff, der sich jedoch ohne irgendwelchen Respekt für die eigene Logik anderer Lebenssphären durchzusetzen versucht. Die Religion soll vielmehr eine allumfassende Perspektive auf die Welt bieten. Aber sie ist und bleibt die Perspektive einer besonderen Religion, welche sich jedoch eine universelle Kompetenz anmaßt. Eine solche Religion, welche sich jedem profanen Verhältnis zur Welt gegenüber negativ verhält, ist entweder rebellisch gegen 20  Vorl PhR (Hotho 1822/23), GW 26.2, 1006. Hegel erwähnt, dass dieselbe Logik des Fanatismus auf der politischen Ebene im Spiel ist, wenn die Freiheit keine Differenzierungen oder besonderen Bestimmungen duldet (Hotho 1822/23), GW 26.2, 1007. Cf. auch Vorl PhR (Griesheim 1824/25), GW 26.3, 1416. 21  Vorl PhR (Hotho 1822/23), GW 26.2, 1007.

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jede bestehende Ordnung oder aber gründet und unterstützt bestehende theokratische und deshalb tyrannische Regimes22. Wir halten fest, dass Hegel überhaupt kein Verständnis dafür, was er polemische Arten von Frömmigkeit nennt23, aufzubringen weiß, seien sie quietistisch oder fanatisch. Beide Arten stellen sich entweder außerhalb der profanen Welt oder gegen sie. In seiner Ablehnung einer Religion, welche sich entweder im Innern des Herzen einschließt oder sich theokratisch in der Welt durchzusetzen versucht, zeigt er sich modern. Er hat die sogenannte Entzauberung der Welt ernst genommen. Das Politische ist nicht Sache der Religion, es nimmt eine eigene Sphäre ein und ist darin autonom. Dies scheint jedenfalls die Schlussfolgerung aus seiner Ablehnung beider Formen von religiösem Zelotismus zu sein. Dabei versucht er, das Verhältnis von Religion und Staat aufs Neue zu untersuchen und ein adäquateres Verständnis beider Sphären und ihres Verhältnisses vorzuschlagen. Keinen Dualismus beider – und deshalb auch keinen Quietismus oder Fanatismus. Beide schlicht auseinanderzuhalten, wie Jesus es prima vista zu suggerieren schien, scheint also nicht zuzureichen. Es ist nach einem differenzierteren Verständnis zu fragen.

Religion ist die Grundlage des Staats: nicht mehr, nicht weniger

In der Anmerkung zu § 270 der Rechtsphilosophie führt Hegel die (traditionelle) Auffassung der Religion „als Anschauung, Gefühl, vorstellende Erkenntniß, die sich mit Gott, als der uneingeschränkten Grundlage und Ursache, an der Alles hängt, beschäftigt“, ein24. Für das religiöse Bewusstsein soll alles tatsächlich in Gott „die höchste Bewährung und die höchste Verbindlichkeit“ finden25. Dies schließt auch den Staat ein, wenigstens nach dem Selbstverständnis der Religion. Zugleich aber darf der Staat nicht vollständig von der Religion absorbiert werden; sonst scheint die theokratische Tyrannei wieder am Horizont auf. Ein philosophisches Verständnis verlangt also eine verfeinerte Explikation des Verhältnisses von Staat und Religion. Untersuchen wir deshalb also genauer, wie es mit dem Verhältnis beider steht. Ausgangspunkt ist der traditionelle Anspruch, die Religion sei die Grundlage, die Basis des Staats. Dieser Anspruch wird von Hegel ausdrücklich in der dritten Auflage der Enzyklopädie (1830) und auch in den meisten seiner 22  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 518–519. 23  PhR § 270 A, GW 14.1, 216. 24  PhR 270 A, GW 14.1, 214. 25  Ibid.

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Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, z.B. in der Hotho-Nachschrift von 1822/23 oder in der Griesheim-Nachschrift von 1824/25, affirmiert26. Auch in den Grundlinien scheint Hegel diesen Anspruch zu akzeptieren, sei es auch mit einem gewissen Vorbehalt. Vieles, so argumentiert er dort, hänge davon ab, was man unter ‚Grundlage‘ versteht. Dieser Begriff hat ja bestimmte Beschränkungen. Sowohl in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts wie auch in der Ringier-Nachschrift (1819/20) warnt Hegel vor einer sogenannten Grundlage, welche den Anspruch erheben würde, den ganzen Inhalt des Begründeten in sich zu enthalten. Was die Religion als Grundlage des Staats betrifft, würde dies besagen, dass die Religion den ganzen Inhalt und Umfang des Politischen (Konstitution, Gesetze, etc.) einschließen würde. Dies würde ein theokratisches Regime implizieren. Hegel hat, so kann man sagen, eine bescheidenere Auffassung der Religion als Grundlage. Dies heißt zuerst nur, dass die Religion für den Staat „ein Nothwendiges“ sei27. Hegel sieht somit die Religion nur als notwendige, nicht als hinreichende Bedingung des Staats an. Entsprechend ist Hegel kritisch gegenüber einem Denken, das von vielerlei Gründen statt von einer einzigen Grundlage spricht. Er warnt vor einem Räsonieren, mit dem man auf der Suche nach vielerlei Gründe sei, während er selbst sich „einen substantiellen Grund“ vor Augen hält28. Schon in der Hotho-Nachschrift von 1822/23, also ein Jahr nach der Publikation der Grundlinien, gibt Hegel jedoch eine erste ausdrücklich positive Interpretation der Religion als Grundlage: „Die Staatsgewalten sollen dem Menschen als im Höchsten wurzelnd erscheinen. Dies giebt außer der Philosophie die 26  E § 552 A, GW 20, 531 ff.; Vorl PhR (Hotho 1822/23), GW 26,2, 1005 und Vorl PhR (Griesheim 1824/25), GW 26.3, 1414. Vgl., obwohl weniger explizit, Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 514: „Man hat nun einerseits gesagt, der Staat besteht durch göttliche Autorität: Obrigkeiten sind von Gott eingesetzt. Auf der andern Seite hat man gesagt, der Staat ist Einrichtung menschlicher Willkühr. Beydes ist einseitig. Die Idee des Staats vereinigt beyde Principien in sich. Allerdings kann man sagen, daß die Könige von Gott eingesetzt sind und ebenso die Obrigkeit“. 27  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 516–517. In PhR 270 A, GW 14.1, 214 sagt Hegel, dass die Religion zwar Grundlage, aber auch „nur Grundlage“ ist. Dafür, was er unter ‚Grundlage‘ versteht, verweist er auf die erste Auflage der Enzyklopädie § 453, GW 13, 240. Obwohl er dort den Terminus ‚Grundlage‘ nicht benutzt, weist er dort darauf hin, dass einerseits der subjektive und der objektive Geist als der Weg angesehen werden müssen, auf welchem sich der absolute Geist gestaltet. Als letztendliche Gestalt, als Endziel eines zurückzulegenden und zurückgelegten Wegs, so dürfen wir vielleicht interpretieren, funktioniert der absolute Geist als Grundlage, als Erstes. Andererseits betont Hegel, dass, umgekehrt, der subjektive Geist als Erstes angesehen werden kann. 28  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 517.

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Religion, und in so fern bedarf der Staat der Religion als seiner Grundlage, und muß auf dieser beruhen“29. Die Religion teilt ihre grundlegende Funktion also mit der Philosophie und Hegel suggeriert sogar, dass zumindest bestimmte Religionen (sprich: die christliche, oder genauer noch: die protestantische) mit Vernünftigkeit zu identifizieren seien. Obwohl er, wie auch anderswo, der Religion ihre Stelle im „Inneren des Gemüths“ zuweist, behauptet Hegel: „Sagt man nun, der Staat müsse auf Religion sich gründen, kann dieß heißen, der Staat müsse auf der Vernünftigkeit beruhen, aus ihr hervorgehen“30. Hegel bleibt jedoch behutsam, denn es bleibt bei einem ‚können‘ („Sagt man, … kann dieß heißen“). Die Möglichkeit eines Missverständnisses bleibt, so lehrt uns die Geschichte, als eine reale Möglichkeit. Gleich darauf mahnt Hegel deshalb zur Vorsicht, da das Volk so leicht zum blinden Gehorsam geschickt gemacht werden kann. Dies ist eine Gefahr, wenn man es mit einer sogenannten ‚unfreien‘ Religion zu tun hat, in welcher der Aberglaube noch die Oberhand hat. Eine solche Religion kann die Leute leicht dazu bewegen, sich, gleich wie von der Religion, so auch vom Staat unterdrücken zu lassen. Hegel dagegen will den Satz über die Religion als Grundlage vielmehr so interpretiert wissen, dass der Staat nicht als nur endlich oder willkürlich angesehen werde31. Er kehrt sich m.a.W. auch hier gegen den schroffen Dualismus von Himmel und Erde, Unendlichem und Endlichem, von Religion und Staat. Wenn die Menschen Achtung für den Staat haben sollen – und das sollen sie –, dann soll dies vor allem in Form des Begriffs geschehen. Es ist die Philosophie, welche uns einen allgemeinen Begriff des Staats liefert, d.h. uns zu verstehen gibt, wie der Staat die Verwirklichung der Freiheit ist. Aber „diese Einsicht kann keine Allgemeine sein“, oder: „Der Begriff kann nicht im Bewußtsein Aller sein“32. Hier kommt die klassische Überlegung zum Vorschein, dass Philosophie ein zu elitäres Geschäft ist, demgegenüber die Religion eine allgemeinere Alternative sein sollte. Zwar wird in dieser der Staat als etwas „durch die Äußerlichkeit Entstandene[s]“ präsentiert – der Staat als von Gott gewollter –, aber nichtsdestotrotz wird er so als „im Höchsten wurzelnd“ gedacht; und darauf kommt es letztendlich an. Bevor wir weiter verdeutlichen, wie die Religion Grundlage des Staats sein kann, müssen wir darauf reflektieren, dass und wie die Frage nach dieser Grundlage aus zwei Perspektiven zu beantworten ist: Wenn Philosophie im Versuch besteht, den notwendigen Zusammenhang der Dinge aufzuzeigen, 29  Vorl PhR (Hotho 1822/23), GW 26.2, 1005. 30  Ibid. 31  Ibid. 32  Ibid.

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muss sie einerseits zeigen, wie der Begriff einer Sache sich von anderen, „niedrigeren“ Begriffen aus entwickelt, andererseits, wie der Begriff der Sache selbst ein Moment in der Entwicklung wieder anderer, „höherer“ Begriffe ist. Deshalb ist die Frage nach der philosophischen Grundlage einer Sache bei Hegel immer eine gedoppelte. Einerseits muss man untersuchen, welche Begriffe für den Begriff einer Sache konstitutiv sind; andererseits muss man fragen, welche Begriffe den zu untersuchenden Begriff in einem höheren, umfassenderen Begriff integrieren. Die Frage nach der Grundlage des Staates muss deshalb von beiden Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Einmal, sozusagen, von unten, einmal, sozusagen, von oben her. Beide Perspektiven müssen als Anweisungen dessen angesehen werden, was die Prinzipien des Staats eigentlich sind. Und nur beide zusammen bieten eine adäquate philosophische Explikation. Von unten her wird der Staat als das Resultat einer begrifflichen Entwicklung innerhalb der Philosophie des objektiven Geistes verstanden. Im Besonderen ist er als die Verwirklichung der Sittlichkeit zu verstehen. Dies beinhaltet das Funktionieren eines familialen und ökonomischen Lebens, dessen Prinzipien in den Staat integriert werden müssen. Im Staat funktionieren beide als Momente eines beide umfassenden Ganzen. Zugleich erhält der Staat eine Begründung von unten her, und zwar dergestalt, „daß die Sittlichkeit der auf sein substantielles Inneres zurückgeführte Staat, dieser die Entwicklung und Verwirklichung derselben“ ist33. Es muss dies als eine erste Grundlegung des Staates angesehen werden, wobei die Religion noch vollkommen abwesend ist. In diesem aus der Enzyklopädie stammenden Satz suggeriert Hegel, dass die Notwendigkeit des Staates aus der inneren Dynamik des ethischen Geistes selbst aufgewiesen werden muss. Eine zweite Fundierung macht die entgegengesetzte Bewegung. In ihr wird der Staat von einer höheren Perspektive aus verstanden. Sie stellt den Staat innerhalb eines globalen Kontextes und versteht ihn als ein Moment innerhalb eines Ganzen, welches ihn wesentlich umschließt. Dieser globale Kontext ist der des absoluten Geistes, der sich als Totalität darstellt in Kunst, Religion und Philosophie. In der Griesheim-Nachschrift der rechtsphilosophischen Vorlesungen von 1824/25 kann Hegel deshalb die Religion als „die Wahrheit des Staats“ ansehen: sie ist das, „wodurch der Staat gilt, die geistige Substanz, als geistig, Gegenstand ihrer selbst seiend, die geistige Substanz die sich selbst betrachtet, von sich selbst weiß“34. Der Staat dagegen ist der Geist, der in der Welt steht. Als solcher 33  E § 552 A, GW 20, 531–532. 34  Vorl PhR (Griesheim 1824/25), GW 26.3, 1414.

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ist er nicht die höchste Form des Geistseins; diese ist vielmehr der Geist, der sich seiner bewusst ist in der Religion – und in der Kunst und der Philosophie. Auch als Staat ist der Geist sich seiner bewusst, aber nur in seinem „weltlichen Dasein“35. Der Staat als solcher fragt nicht nach dem letzten Ende der Dinge, er fragt nur, wie die Freiheit zu verwirklichen ist. Die Religion, die Kunst und die Philosophie dagegen erreichen und integrieren das ganze Gebiet des Lebens. Es geht jedoch immerzu um denselben einen Geist. Dieser Gesichtspunkt erlaubt es Hegel, in der 1830er Enzyklopädie zu behaupten, dass, wenn Sittlichkeit der auf sein substantielles Inneres zurückgeführte Staat ist, „die Substantialität aber der Sittlichkeit selbst und des Staats die Religion ist.“36 Offensichtlich denkt Hegel sowohl das Verhältnis von Staat und Sittlichkeit als auch das von Staat und Religion als Substantialitätsverhältnis. Einerseits ist Sittlichkeit die Substantialität des Staates, insofern sie dessen innere Wesenheit konstituiert; andererseits ist die Religion die Substantialität sowohl der Sittlichkeit wie auch des Staates, insofern sie sich als die Integration des ganzen Reichtums des sittlichen Lebens herausstellt. Substantialität scheint dabei eine doppelte Bedeutung zu haben. Einerseits bedeutet Substantialität eine immer noch abstrakte Idee, welche sich in ihrer Verwirklichung konkretisiert; andererseits deutet der Terminus auf eine höhere Wirklichkeit hin, welche ein Ganzes trägt und erhält. Beide Seiten zeigen sich als Dimensionen der Logik der Substanz. Die Frage nach der Grundlage des Staates entpuppt sich also als besonders komplex. Insofern der Staat die Verwirklichung der Sittlichkeit ist, hat er eine besondere Konstitution, wobei die Religion überhaupt keine (konstitutive) Rolle spielt. Die Idee des Staats, wie auch die der Sittlichkeit im Allgemeinen, kann ohne jede Involvierung der Religion entwickelt werden. In diesem Sinn sind sowohl die Sittlichkeit im Allgemeinen als auch der Staat im Besonderen autonom gegenüber der Religion. Noch stärker: insofern ihre Idee vor der der Religion entwickelt ist, sind beide in der Gründung der Religion vorausgesetzt. Keine Religion ist möglich, wenn nicht gegründet in der Sittlichkeit, und besonders, so können wir hinzufügen, im Staat37. Religion entsteht und entwickelt 35  Ibid. 36  E § 552 A, GW 20, 532. 37  In den Jenaer Schriften, z.B. im Naturrechtsaufsatz, ist die substantielle Rolle des Staats für die Religion noch ausdrücklich vorhanden. In der Religion erhält gerade die Idealität der Sitten eines Volkes „eine reine absolute Gestalt“ und wird „als Gott des Volkes angeschaut und angebetet“ (4, 470). Dass Hegel hier vor allem die antike Polis im Sinn hatte, ist überdeutlich. Später hat Hegel doch immer auch den übernationalen Gehalt der christlichen Religion betont.

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sich nur als Heiligung der sittlichen Welt, auch wenn sie nicht darauf reduziert werden kann: „Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität geht nur aus der Sittlichkeit hervor und ist die denkende, d. i. der freien Allgemeinheit ihres concreten Wesens bewußtwerdende Sittlichkeit. Nur aus ihr und von ihr aus wird die Idee von Gott als freier Geist gewußt; außerhalb des sittlichen Geistes ist es daher vergebens wahrhafte Religion und Religiosität zu suchen“38. Keine wahrhafte Religion ohne Sittlichkeit, bleibt also festzuhalten. Der Grund dafür ist gerade, dass nach Hegel die Religion „denkende […] Sittlichkeit“ ist39. Religiosität ist somit weit entfernt von einem sich-Abwenden von der Sittlichkeit. Im Gegenteil: Religiosität ist sich selbst denkende Sittlichkeit. Die Verlockung des Dualismus, womit wir unsere Überlegungen im Sinne Hegels angefangen haben, ist mit diesem Begriff der Religion ausgeschlossen. Religion ist Sittlichkeit, welche sich selbst denkt, und sei es auch nur in vorstellender Weise. Man könnte auch sagen, die Religion sei eine Form von Selbstbewusstsein: in ihr ist die sittliche Welt sich ihrer eigenen Wesenheit bewusst: „Die Verfassung und Gesetzgebung wie deren Bethätigungen haben zu ihrem Inhalt das Princip und die Entwicklung der Sittlichkeit, welche aus der zu ihrem ursprünglichen Princip hergestellten und damit erst als solcher wirklichen Wahrheit der Religion hervorgeht und daraus allein hervorgehen kann“40. Dieses Prinzip wird von der Religion Gott genannt, dessen Begriff der Geist ist. Aber Geist ist nichts Anderes als „die wirksame Vernunft, d. i. der sich bestimmende und realisirende Begriff selbst, – die Freiheit“41. Religion ist Prinzip der Sittlichkeit, insofern sie den Begriff des Geistes, d.i. der Freiheit, darstellt. Eine Religion, welche sich von der Sittlichkeit ablöst, vernichtet sich selbst oder hat sich nicht vollkommen entwickelt. Deshalb sind auch die traditionellen Gottesbeweise mangelhaft. Sie denken Gott nur als Seiendes (z.B. im kosmologischen Beweis) oder als absichtliche Aktivität (wie im physikotheologischen Beweis), niemals als freien Geist. Aus dieser Perspektive ist Kant, da er den Glauben an Gott von der praktischen Vernunft aus verstanden hat, im Vergleich zu seinen Vorgängern als ein bedeutender Schritt zu würdigen; daher muss man Hegel nicht nur als Kritiker, sondern auch als Nachfolger Kants ansehen42. Das Wesen der Religion findet man also nicht außerhalb der Sittlichkeit. Religion stellt Sittlichkeit in ihrem allgemeinsten Wesen vor. Dies erlaubt 38  E § 552 A, GW 20, 531. 39  Ibid. 40  Id., 541. 41  Id., 530. 42  Ibid.

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uns zu verstehen, weshalb die Verbindung zwischen Gott, dem eigentlichen Inhalt der Religion, und der Sittlichkeit ein explizites Thema in der Religion selbst ist. Es genügt nicht, das Herz zu Gott zu erheben und sich in Gebet oder Andacht aus der Welt zurückzuziehen. Auch Religion selbst fordert, dass das innere Verhältnis zu Gott sich im konkreten Alltag materialisiert. Religiosität bedeutet, dass man den Willen Gottes zu vollbringen hat. Religion erwartet nicht von uns, dass wir uns aus der profanen Welt zurückziehen. Sie ist nicht polemisch gegen die Welt; sie ist die Heiligung derselben und fordert, dass wir sie unbedingt ernst nehmen. Als die Vollziehung des Willens Gottes muss die Sittlichkeit als „der wahrhafteste Kultus” angesehen werden43. Vom religiösen Standpunkt aus müssen wir den Staat und seine Institutionen und Gesetze als Ausdruck des Willens Gottes lesen: „Der Staat ist göttlicher Wille, als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist“, so argumentiert Hegel in den Grundlinien44. In diesem Sinne kann Hegel in seinen Ringier-Vorlesungen (1819/20) sagen, dass „der göttliche, der vernünftige Geist in den Staatseinrichtungen seine Offenbarung“ haben soll45. „Der Staat ist selbst die Offenbarung Gottes in der Gegenwart und in der Wirklichkeit“46. Und Hegel geht gar so weit, zu behaupten: „Wenn der Inhalt der Religion entwickelt wird, so ist dies selbst die Organisation des Staats“47. Obwohl Hegel in der Ringier-Nachschrift gegen den traditionellen Gedanken, dass der Staat „durch göttliche Autorität“ besteht und die „Obrigkeiten von Gott eingesetzt“ sind, gleich wie gegen die modernere Auffassung, dass der Staat auf bloßer Willkür beruht, ihrer jeweiligen Einseitigkeit wegen polemisiert, sympathisiert er jedoch mit der Behauptung, „dass die Könige von Gott eingesetzt sind und eben so die Obrigkeit“48. Hegels Begründung dafür ist jedoch überraschend: „denn es ist der objective Geist, der das Thätige und Wirkende im Staat aus macht. Dieser Geist ist der Göttliche“49. Die Göttlichkeit des Staates hängt also mit dem objektiven Geist selbst zusammen und hat ihren Grund nur darin, dass der Staat „an sich ein Vernünftiges ist“50. Wenn man von einem Staat erwarten darf, dass er vernünftig ist, darf man auch, in religiöser Sprache, sagen, dass er ein Göttliches ist. Für Hegel decken sich Göttlichkeit 43  Vorl Rel (blaue Reihe) (1827), Vo 3, 334. 44  PhR § 270 A, GW 14, 214. 45  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 517. 46  Id., 524. 47  Id., 519. 48  Id., 514. 49  Ibid. 50  Ibid.

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und Vernunft. Nur insofern ein Staat vernünftig ist, kann man ihn auch göttlich nennen. Sich auf Gott zu berufen, um eine unvernünftige Verfassung oder eine unvernünftige Gesetzgebung zu legitimieren, wäre ein Missbrauch der Religion. Man darf deshalb die Gegenwart Gottes in einem Volk nicht als etwas Mystisches oder Übervernünftiges betrachten. Hegel verlangt vom Gott eines Volkes, dass er ‚gewußt’ werde, d.h. dass er als vernünftige Staatsordnung anerkannt werde. Übervernünftig ist für Hegel gleich unvernünftig51. Eine magische Interpretation der göttlichen Autorität eines Landesherrn ist für ihn gleichermaßen verwerflich wie eine auf vollkommener Willkür gegründete Autorität. Letztendlich legitimieren beide gleichermaßen die Willkür. Für Hegel ist der Staat, als menschliche Organisation des Allgemeinen, eine Sache des Wissens und des Wollens52. Die Göttlichkeit des Allgemeinen soll ein diesem wissenden Wollen Immanentes sein. „Das Wahre darin ist, daß ein Immanentes im Menschen ist, wodurch der Staat besteht, daß es dessen eignes Wesen ist, welches hier auf eine objective Weise wirklich wird“53. Unser nächstes Ergebnis ist also, wie Hegel es in der Enzyklopädie darstellt, dass die Religion aus der Sittlichkeit hervorgeht. Sie ist sich selbst denkende Sittlichkeit. Zugleich aber behauptet Hegel, dass wir uns dessen bewusst sein müssen, „daß das zunächst als Folgendes und Hervorgegangenes gestellte vielmehr das absolute Prius dessen ist, durch das es als vermittelt erscheint, und hier im Geiste als dessen Wahrheit auch gewußt wird“54. Mit dieser dialektischen Umkehrung macht die Enzyklopädie klar, dass das Resultat einer begrifflichen Entwicklung sich als ein absoluter Anfang herausstellt. Die ganze Gegenwart (Natur, Staat, Weltgeschichte) muss als ein Prozess begriffen werden, in welchem der absolute Geist sich verwirklicht und sich selbst offenbart. Gleich wie auf der Ebene des objektiven Geistes der Staat aus der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht und von diesen aus zu begreifen ist, sich jedoch zugleich als das Prinzip derselben erweist, so muss auch die Religion, obzwar aus der Sittlichkeit hervorgehend, zugleich als Grundlage der Sittlichkeit und des Staates begriffen werden. Letztendlich ist der Staat, gleich wie die Natur und der endliche Geist im Allgemeinen, als das 51  Ibid. 52  In der Hotho-Nachschrift von 1822/23 heißt es deshalb: „Der Staat ist der sich bewußte und wollende Geist, der nichts will, was er nicht weiß“ (GW 26.2, 1003). 53  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 515. Es ist trotzdem verdächtig, dass Hegel, zurückblickend auf die Geschichte, das Auftreten einer äußerlichen Gewalt, wie die eines Heros, doch als zum Inneren der Bevölkerung Gehörendes interpretiert. Damit wird die Äußerlichkeit einer Gewalt zum Schein reduziert. 54  E § 552 A, GW 20, 531. Cf. Logik, GW 21, 57–58.

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Leben und Werk des absoluten Geistes zu verstehen, d.h. des Geistes, insofern er sich selbst, inklusive seines ganzen Wissens und Tuns, anschaut, vorstellt und denkt. Trotzdem müssen wir damit rechnen, dass die Weise, in welcher die Religion die Sittlichkeit als Fortsetzung des eigenen Kultus weiß, einen anderen Status im Vergleich zum ethischen Wissen selbst hat. Das ethische Wissen ist wesentlich an der empirischen, endlichen Welt interessiert. Es ist der allgemeine Wille, der sich selbst bestimmt als die Gesetzgebung dieses bestimmten Staates in dieser bestimmten, historischen Situation. Religion dagegen erhebt sich über den weltlichen Gehalt des sittlichen Geistes und denkt letzteren in seinem reinen Wesen. Mehr als diese rein wesentliche Darstellung und Legitimierung des Sittlichen braucht die Religion nicht zu leisten. Der konkrete Inhalt desselben gehört der autonomen Sphäre des Staates an. In diesem Sinn ist es nicht unsinnig zu behaupten, dass die Religion eigentlich nicht in dieser (endlichen) Welt ihren Sitz hat. Zwar verweist sie auf diese Welt, sie denkt die Sittlichkeit als Wille Gottes, der in dieser Welt, nicht anderswo, vollführt werden muss, aber das ‚wer‘, das ‚wie‘ und das ‚wo‘ ist Sache des sittlichen, nicht des absoluten Geistes. Die Religion hat ihren Sitz in der Welt des Wesens, der Prinzipien, der Grundlage des sittlichen Lebens. Sie ist, sagt Hegel, „das Bewußtseyn der absoluten Wahrheit“55. Von diesem Standpunkt aus jedoch kann man nicht deduzieren, wie der Inhalt des sittlichen Lebens konkret aussehen soll. Sittlichkeit ist innerweltlich und die Religion hat sich von dieser Innerweltlichkeit geläutert. Zu bestimmen, was getan werden muss, ist exklusive Sache des sittlichen Bewusstseins. Religion kann uns dazu herausfordern, den Willen Gottes zu vollführen, aber die Bestimmung dessen, was dieser Wille konkret beinhaltet, ist der ausschließliche Auftrag des rationalen Denkens und Willens, wie es sich im politischen Entscheidungsprozess vollzieht. Auf der Ebene der Sittlichkeit haben wir tatsächlich mit dem „ungeheure[n] Ueberschritt des Innern in das Aeußere, der Einbildung der Vernunft in die Realität“ zu tun, „woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet, und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewußtseyn des vernünftigen Daseyns, der Staatseinrichtungen und der Gesetze gewonnen hat“56. Der Übergang vom inneren Bewusstsein des Wesens der Sittlichkeit zur äußerlichen Verwirklichung, zur Objektivität, ist nicht die Aufgabe der Religion als 55  E § 552 A, GW 20, 532. 56  PhR § 270 A, GW 14.1, 215; cf. Vorl PhR (Ringier 1819/1820), GW 26,1, 520: „Es tritt hier der ungeheure Ueberschritt zum Bewußtsein ein, zur Objectivität; […]“. Cf. auch Vorl PhR (Hotho 1822/23), GW 26.2, 1006–1008, wo Hegel argumentiert, dass Religion Sache der Innerlichkeit und der Staat eine der Äußerlichkeit ist.

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solcher. Es geht dabei um die – so rationale wie mögliche – Durchführung desjenigen, was im Staat als Recht und Pflicht gilt. Obwohl manche Religion dies schwerlich hinnehmen wird, ist Hegel in diesem Punkt radikal: Religion darf sich auf dieser Ebene nicht rühren. Ihr Medium – die Vorstellung – eignet sich nicht dazu: ihre Vorstellungen sind noch zu sehr ans Äußere gebunden (an die Idee einer göttlichen, d.h. äußeren Autorität zum Beispiel). Ihr Inhalt ist das Wesentliche, nicht das Konkrete. Die Religion hat die Sittlichkeit zu kultivieren: sie zu denken (in der Form religiöser Vorstellungen) und die Gläubigen zur Sittlichkeit aufzufordern, nicht mehr und nicht weniger57. In der Ringier-Nachschrift geht Hegel tiefer auf die Problematik des ethischen Gehalts der Religion ein. Interessant ist dabei, dass Hegel der Religion hier mehr als eine rein formelle Bedeutung für die Ethik zuerkennt. Bisher habe ich argumentiert, dass für Hegel die Religion nur zur Sittlichkeit ermutigen soll, inhaltlich jedoch nichts Konkretes beizutragen habe. Dies ist eher kontraintuitiv, denn die meisten Religionen enthalten eine mehr oder weniger entwickelte Ethik. Und auch Hegel erkennt dies in den 1819/1820-Vorlesungen gewissermaßen an, verweist allerdings auf ganz allgemeine ethische Prinzipien wie die Sprüche Salomos oder die Zehn Gebote in der jüdisch-christlichen Tradition. Von den letzteren sagt er, so scheint mir, etwas zynisch, dass sie zwar „wahre Vernunftgebote“ enthalten – aber sie reichen nicht hin zu einem „CriminalCodex“58. Und „mit den Sprüchwörtern Salomonis, die allerdings Vortreffliches enthalten, kann man die Welt nicht regieren“59. Sobald man vom Subjektiven ins Allgemeine und vom Allgemeinen ins Konkrete übergeht, ist man auf menschliches Denken angewiesen. „Wenn man sagt, man müsse Gott mehr gehorchen, als den Menschen, so ist eben die Frage: was befiehlt Gott, wer weiß es? Das Göttliche offenbart sich allerdings, aber auf allgemeine, geistige Weise. Was Gott wahrhaft offenbart und befiehlt, wird menschlich aufgefaßt, 57  Cf. auch Vorl Rel (blaue Reihe 1824), Vorlesungen 3, 240–241, wo Hegel gegen Moses Mendelssohn, welcher – typisch jüdisch – die Sittlichkeit, in der Form der Zehn Gebote, zum Wesen der Religion machte, polemisiert. Er argumentiert dabei, dass eine Überbetonung der Gebote in der Religion als hart und sogar irreligiös anzusehen ist. Religion betrifft das Wesen der Sittlichkeit, aber die Bestimmung des konkret Sittlichen gehört nicht zum Wesen der Religion. „Die Religion muß […] nichts anderes als Religion enthalten“, betont Hegel hier, „und enthält als solche nur ewige Wahrheiten des Geistes“ (241). Der sittliche Geist als solcher ist Teil der „ewigen Wahrheit“, aber die Beantwortung der Frage, wie man konkret sittlich handeln soll in der Welt, ist Sache des sittlichen Geistes selbst, nicht der Religion (ebenso wenig wie der Kunst oder der Philosophie, können wir hinzufügen). 58  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 520. 59  Id., 520–521.

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und damit es wahrhaft aufgefaßt werde, muß es die Form der Allgemeinheit annehmen, so aber ist es das Gesetz“60. Das Gesetz, und das heißt der Staat, ist also letztendlich die Instanz einer Allgemeinheit, welche jenseits des religiösen Ethos liegt. Die Religion bleibt, jedenfalls insofern sie Offenbarungsgehalt hat, bei abstrakten Allgemeinheiten. Insofern sie weitere Bestimmungen anbietet, riskiert sie, entweder subjektive Ansichten aufzudrängen oder sich im politischen Feld zu bewegen, wobei sie sich dann der Logik des denkenden Argumentierens zu unterwerfen hätte. Hegel ist vor allem höchst kritisch, sofern die Religion sich auf eine Frömmigkeit beruft, welche sich „feindselig und polemisch“ gegen das autonome Denken verhält: „Um den Staat zu begreifen muß man es übernehmen, durch die Arbeit des Studiums, des Nachdenkens seine Meinung zu bezwingen“61. Es ist auffallend, dass Hegel sich sowohl in den Grundlinien als auch in der Ringier-Nachschrift bemüht, die Autonomie des Sittlichen im Allgemeinen und des Politischen im Besonderen zu betonen. Trotzdem bleibt ein besonderer für die Sittlichkeit relevanter Auftrag der Religion vorbehalten. Die Aufforderung zur Sittlichkeit, welche zugleich einen grundlegenden wie auch einen legitimierenden Gehalt hat, ist eine Funktion, welche jenseits der Autorität des Staats selbst liegt. Als Verwirklichung der Sittlichkeit in der konkreten Welt setzt der Staat die Idee der Sittlichkeit voraus, aber macht diese Idee nicht selbst zum Thema. Das ist Sache der Kunst, der Religion und der Philosophie, jede innerhalb ihres besonderen Mediums. Die Sittlichkeit, und insbesondere der Staat, bedarf künstlerischer Darstellungen, religiöser Vorstellungen und philosophischer Begriffe um seine Grundlage zu thematisieren. Künstler, Priester oder Philosophen sollten keinen Platz auf dem Thron haben, wie Plato es sagt, aber sie haben doch eine eigene, spezifische Funktion in der Gesellschaft. „Der Staat“, sagt Hegel in der Ringier-Nachschrift, „hat in Rücksicht auf die Subjectivität die letzte und höchste Bestätigung in der Religion“62. Subjekte können in ihrer Subjektivität und Einzelheit beharren, obwohl sie eigentlich in der Allgemeinheit des Staates ihre Substanz und ihren Gehalt haben. Da die Religion das Subjekt über seine Einzelheit erhebt und es auf den Allbefassenden bezieht, macht sie das Subjekt ebenso für den Staat empfänglich. In diesem Sinn hat die Religion auch eine politische Funktion: den Einzelnen

60  Id., 520. 61  Id., 521. 62  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 517.

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zum Allgemeinen zu erziehen und die Staatseinrichtungen gegen die Willkür des Einzelnen zu schützen63. Auch in der Hotho-Nachschrift weist Hegel auf diese Funktion der Religion hin. Der Staat hat nämlich auch seine Beschränkungen. Er erzielt keine Wirkung auf die Herzen der Menschen. Damit nimmt Hegel ein Thema auf, welches man auch bei Kant thematisiert findet. Der Staat kann nur äußerer Gerechtigkeit nachstreben; auf das Herz der Menschen Einfluss zu nehmen, darauf soll er verzichten. Dies ist Sache der Moralität und der Religion. Der Staat darf niemals das Recht der Innerlichkeit gefährden. „Eine moralische Regierung ist despotisch“, heißt es64. Obwohl der Staat nur mit dem Äußeren zu tun hat, braucht er trotzdem die Religion. „Der Staat kann nicht sein ohne die Gesinnung der Bürger für ihn“65. Die Subsistenz eines Staats ist von ideologischen Staatsapparaten, wie der Religion, bedingt, so würde es Louis Althusser fassen66. Zugleich darf der Staat selbst sich nicht mit dem Innern der Bürger einlassen, gleich wie auch die Religion sich nicht äußerlich, z.B. strafend, gegenüber den Gläubigen verhalten darf. Im letzteren Fall wird die Religion tyrannisch. Der Staat darf sich nicht mit der Religion einlassen: das ist Privatsache, Sache des Herzens; man soll die Leute darin frei lassen, so heißt es. Zugleich jedoch soll ein Staat, der sich selbst achtet, nicht nur der öffentlichen „Erziehung und Bildung der Individuen zu Staatszwecken“ einen Platz einräumen, sondern auch der „Kunst, Religion, und Wissenschaft [Philosophie]“, nicht im Namen eines abstrakten Rechts auf Meinungsfreiheit, sondern weil sie „die Anschauung, das Gefühl, Vorstellung und Wissen des absoluten Wesens des Staates […] sind“, so Hegel in der Wannemann-Nachschrift (1817/18)67. Der Staat braucht also nicht nur Instanzen, welche Menschen zu gediegenen Bürger und, gegebenenfalls, Militärs und Beamten erziehen und bilden, sondern auch solche, welche sein Wesen denken. Als solche liefern diese Instanzen, ohne welche das Wesen des Staats unbewusst und ungedacht bleibt, einen Beitrag zur Rechtfertigung des Staates und haben eine politische Relevanz68. Wahre Freiheit erfordert nicht nur eine objektive Verwirklichung 63  Ibid.: „Wenn Staatseinrichtungen betrachtet werden als in diesem Allbefassenden begründet, so sind sie gegen die Willkühr des Subjects geschützt.“ 64  Vorl PhR (Hotho 1822/23), GW 26.2, 1006. 65  Ibid. 66  Althusser 1976. Selbstverständlich sollten wir hier auch, oder vielmehr, auf den rousseauischen Begriff einer ‚religion civile [Zivilreligion]‘ hinweisen. Cf. Rousseau 1964 (orig. 1762), 336–342. 67  Vorl PhR § 158 (Wannenmann 1817/18), GW 26.1, 208. 68  Id., 209.

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in einer besonderen Gesellschaft; sie muss auch auf die Ebene des Selbstbewusstseins erhoben werden. Solche Erhebung verlangt nach einer weiteren, allgemeineren Perspektive als der eines sittlichen Geistes, der die Verfassung und Gesetze in einem Staat gründet. Sie verlangt nach einer Überschreitung der Besonderheit eines konkreten Staates. So ist die Perspektive nicht mehr die des Geistes oder der Geschichte eines besonderen Volks, nicht die des Weltgeistes oder der Weltgeschichte im Allgemeinen. Freiheit, wenn sie in einer adäquaten Weise zum Selbstbewusstsein kommen soll, hat zuerst die Besonderheit und Beschränkungen eines besonderen Volksgeistes aufzugeben, aber, zweitens, auch die Weltlichkeit des Weltgeistes überhaupt. Was geschehen muss, ist, dass „der denkende Geist [der Weltgeschichte …] seine concrete Allgemeinheit“ erfasst, und sich „zum Wissen des absoluten Geistes [erhebt], als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich und die Nothwendigkeit, Natur und Geschichte nur seine Offenbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind“69. Die hier eröffnete Sicht auf Religion, Kunst und Philosophie ist eine Totalperspektive. Der Geist konzipiert sich in seiner radikalen, jedoch konkreten Allgemeinheit. Nur von dieser Perspektive aus bekommt der Geist eine adäquate Sicht auf sich selbst und seine Verwirklichung in der Natur und der Geschichte. Diese Sicht ist Resultat der Arbeit der Kunst, der Religion und der Philosophie. Sie erheben den Menschen über die Endlichkeit ihrer Existenz, sie fokussieren auf das Absolute. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Endliche abgewiesen wird, es bekommt von den höheren Instanzen der Kunst, Religion und Philosophie vielmehr seine Legitimation. Der Staat, das Leben der einzelnen Individuen mit ihren Wünschen und Sorgen, die Geschichte und sogar die Natur werden in diesen drei Sphären anerkannt als „ein Wiederschein des Absoluten in der Wirklichkeit“70. Sie sind die Diener seiner Offenbarung und „die Gefäße seiner Ehre“.

Kirche und Staat

Aus dem Auseinandergesetzten können wir schließen, dass die Religion eine privilegierte Position innerhalb des Staates verdient. Als Kirche verdient sie „ausdrückliche Bestimmung[, ] Sphäre[, ] und Stand“71. Der Staat soll deshalb 69  E § 552, GW 20, 530. 70  Vorl PhR § 158 (Wannenmann 1817/18), GW 26.1, 208; 209. Cf. Vorl Gesch (Hotho 1822/23), GW 27.1, 48–50; Vern (1830) (grüne Reihe) 128. 71  Vorl PhR § 158 (Wannenmann 1817/18), GW 26.1, 208.

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der Kirche als wirklicher Stelle des religiösen Denkens einen eigenen Platz zuweisen, „unabhängig vom Staate, aber eins mit ihm“72. Gleich wie Hegel früher im Naturrechtsaufsatz73 schon die Reduktion des Staats auf ein Zwangssystem kritisierte, so kritisiert er in der Wannemann-Nachschrift die gemeine Auffassung, dass der Staat „als bloß zum Schutze der Underthane sorgend“ zu betrachten sei74. Es ist ebenso sehr ein wesentlicher Auftrag des Staats, Kunst, Religion und Philosophie zu hegen und zu fördern. Damit nimmt Hegel auf der Ebene von Kirche und Staat eine typische Zwischenposition zwischen Dualismus und Monismus ein. Einerseits verteidigt er eine gegenseitige Unabhängigkeit von Kirche und Staat, aber, insofern die Religion zugleich auch ideologische Grundlage des Staats ist, fordert er andererseits zugleich eine Einheit von beiden. Er ist sich bewusst, dass mit diesem doppelseitigen Charakter der Kirche auch eine Gefahr verbunden ist. Die Kirche, welche doch in den Händen von Menschen ist, hat Gebote in Ansehung dessen, was geglaubt werden soll75. Manche dieser Gebote beruhen auf göttlicher Autorität und dulden deshalb keinen Widerstand. „Abweichung in der Gesinnung, in der Vorstellung, im Meinen und Handeln ist eine Abweichung vom Unendlichen, ist ein unendliches Verbrechen“76. Auch die Kirche selbst hat daher die Neigung, sich eine Autorität zuzueignen, „gegen die nichts bestehen kann“77. Es wird so eine Theokratie eingeführt, welcher man keinen privaten Willen, keine eigene Freiheit mehr entgegensetzen kann. „Man hat die Menschen auf diese Weise härter und ärger erniedrigen sehen, als es je vom Staate geschehen ist“, so Hegel78. Die Konsequenzen solcher theokratischer Regimes machen Hegel übrigens auch misstrauisch gegen eine fehlerhaft begriffene Gründung des Staates in der Religion. Ein eigener Platz jedoch soll der Kirche trotzdem eingestanden werden, verbunden mit dem Verständnis, dass sie nicht ganz unabhängig vom Staat fungieren darf. Religionen sollen, was ihre Lehre und ihren Kultus betrifft, unabhängig vom Staat fungieren. Insofern ihre Lehre aber auch Lehrer braucht, insofern sie über ein Vermögen verfügen, etc. sollen diese Angelegenheiten vom Staat nicht nur akzeptiert, sondern zugleich auch reguliert werden. Die 72  Id., 209. 73  Cf. ‚Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts‘ in: Philosophisches Journal der Philosophie, GW 4, 443. 74  Vorl PhR § 158 (Wannenmann 1817/18), GW 26.1, 210. 75  Vorl PhR (Ringier 1819/20), GW 26.1, 518. 76  Ibid. 77  Ibid. 78  Id., 519.

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Kirche hat ein Recht auf Eigentum, welches vom Staat garantiert werden soll, aber zugleich warnt Hegel davor, dass die Diener der Kirche auch Verbrechen begehen können – und daher auch vom Staat abgeurteilt werden können sollen79. Weiter scheint Hegel, z.B. in der Ringier-Nachschrift, vor allem an der Lehre der Kirchen und den möglichen daraus folgenden Konflikten mit dem Staat interessiert zu sein. „Wenn beide auf rechtem Wege sind, so müssen sie sich einander begegnen“, sagt er, aber warnt gleichzeitig auch davor, dass die Religion dem „Prinzip des Vernünftigen“, welches ja doch das Prinzip des Staats sein soll, widerspricht. Die Religion, „wenn sie ächter Art ist“, kann nicht mit dem Staat im Widerspruch stehen80. Aber wenn sie auf ihrem subjektiven Prinzip beharrt, droht doch die Gefahr des Gegensatzes und des Widerspruchs. Wer hat in solchen Fällen zu entscheiden? Hegel erkennt das Problem an. Wenn Religion „das Höhere“ ist, weil sie „einen höheren Inhalt“ hat, es „mit dem allbefassenden Geiste“ zu tun hat, könnte man dazu verführt sein, schon deshalb dem Religiösen den Vorrang zu geben. Aber es sollte klar geworden sein, dass dies für Hegel keine befriedigende Entscheidung sein kann. Des subjektiven Charakters der Religion wegen ist der Staat die entscheidende Instanz, „denn er ist das Denkende und das Wissende“81. Was wir daraus lernen können ist, dass letztendlich die Religion den Staat zu respektieren hat und dass sie, wenn sie nicht mit den Gesetzen des Staates einverstanden ist, ihre Form der Subjektivität aufgeben muss und die Form der Allgemeinheit, des Denkens annehmen muss. Es gibt nur eine Wahrheit, so Hegel, und es ist der Staat, welcher entscheidet bei vorliegenden Widersprüchen. Selbstverständlich erkennt Hegel an, dass innerhalb eines Staates vielerlei Kontroversen über irgendwelche besonderen Angelegenheiten auftreten können. Damit hat er überhaupt kein Problem. Wenn es jedoch auf allgemeine Grundsätze ankommt, ist Hegel strikt: Dort hat der Staat einfach „gebietend“ aufzutreten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man dem Staat blind gehorchen soll. Der Staat soll vielmehr die Individuen davon überzeugen, dass die Gebote die richtigen sind. Mit Befehlen allein scheint jedenfalls der moderne Staat, der Staat eines gebildeten Volkes, nicht auszukommen82. In dieser Perspektive kehrt Hegel wieder zum Problem der wesentlichen Einheit von Religion und Staat zurück. Er erinnert dabei an das Wort Jesu, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Abgesehen davon, dass damit gesagt wird, dass 79  Id., 525. 80  Id., 522. 81  Ibid. 82  Id., 523.

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die Religion ihre eigene Wahrheit für sich hat, bedeutet es auch, dass der Staat nicht von der Religion angegriffen werden darf. Zugleich betont Hegel jedoch wieder, dass die (christliche) Religion auf die Welt bezogen bleibt, auch wenn ihr Reich selbst nicht von dieser Welt ist. Hegel erkennt an, dass das Christentum eine wichtige Rolle in der Geschichte der politischen Kultur gespielt hat: „Das Reich Christi hat die Welt umgestaltet und die Principien der christlichen Religion sind Principien des Staats geworden“83. Im Laufe der Geschichte sind diese religiösen Prinzipien säkularisiert worden („in die Form des Denkens erhoben“) und fungieren so als die eigenen Prinzipien des Staates. Diese Beziehung auf die endliche Welt verhindert, dass die Religion sich quietistisch oder fanatisch gegenüber dem Staat verhält. Demgegenüber behauptet Hegel: „Der Staat ist selbst die Offenbarung Gottes in der Gegenwart und in der Wirklichkeit“84. Damit affirmiert er zugleich den substantiellen Gehalt des Staates. Auf dieser Ebene begegnen sich Religion und Staat: beide haben mit dem Substantiellen, nicht mit Zufälligkeiten oder Privatinteressen zu tun. Deshalb kann der Staat sich auch darauf berufen, dass „seine Existenz und seine Zwecke durch die Religion gefördert werden“85. Es bleibt jedoch so, dass die Religion zuerst auf subjektiven Vorstellungen beruht, und nicht immer von sich aus, sondern manchmal auch von außen, „von der weltlichen Seite“ aus zum Denken gekommen ist86. Vor allem scheint Hegel betonen zu wollen, dass die Grundsätze des Staats nicht lauter Meinungen sind, sondern die Basis des Handelns ausmachen. Deshalb kann der Staat nicht indifferent oder tolerant sein, wenn es um seine eigenen Prinzipien zu tun ist. Die Religion kann sich niemals auf ihren besonderen Inhalt berufen um z.B. den Staat zu kritisieren. Dieser duldet nur rationale Argumente, keine äußere Autorität. Sonst hebt Hegel durchaus hervor, dass „in unseren Staaten“ doch eine große Toleranz gegenüber „Secten“ wie den Quäkern und den Mennoniten herrschen kann, obwohl diese Konfessionen eigentlich mit dem Prinzip des Staats unverträglich sind. „Der in seiner Organisation ausgebildete und darum starke Staat“87 könne sich erlauben, tolerant zu sein und zu akzeptieren, dass die Mitglieder bestimmter Sekten nur bourgeois seien, nicht auch citoyens mit 83  Id., 523–524. 84  Id., 524. 85  Ibid. 86  Hegel weist hier darauf hin, dass die Universitäten sich in den protestantischen Ländern unabhängig von der Religion entwickelt haben. 87  PhR § 270 A, GW 216; cf. Vorl PhR (Wannenmann 1819/20), GW 26.1, 526; (Griesheim 1824/25) 26.3, 1415–1416.

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übereinstimmenden Rechten und Pflichten, wie z.B. der Wehrpflicht. Nur falls diese Konfessionen oder Sekten allzu große Ausbreitung erfahren, werden sie für den Staat gefährlich. Trotzdem sieht Hegel es sogar als einen Vorteil an, dass verschiedene Konfessionen zugleich im Staat bestehen können. Historisch ist der Staat gerade erst dank dieser Pluralität von Religionen als Staat konstituiert worden. „Der Staat erhält erst seine wahre Ausbildung, in dem er sich von der Form des Geglaubten, des Empfundenen losreißt. In Despotien ist Staat und Kirche eines“88. Letzteres ist differenziert zu verstehen: Hegel widersetzt sich einer zu unmittelbaren Einheit beider, nicht jedoch einer mittelbaren. Staat und Kirche, sagt Hegel in der Hotho-Nachschrift von 1822/23, „sind an sich Eins aber in der Wirklichkeit ein Anderes, Bestimmtes gegen einander“89. Wo beide in der Wirklichkeit zusammenfallen, wie „bei den Türken“, so Hegel, ist, „was Staatsgebot ist“, auch „Religionsgebot und umgekehrt“90. Dadurch dulden „die Türken“ auch keine Vielfalt von „Religionssecten“. Jede Verletzung der Religion ist dort auch zugleich ein Staatsvergehen. Dies kann Hegel nicht akzeptieren. Die Religion hat in der Innerlichkeit ihren Platz, der Staat in der Äußerlichkeit – und beide sollen auch so behandelt werden.

Christentum, Katholizismus und Protestantismus

Christentum, eine Religion der Freiheit Bisher haben wir das Verhältnis von Staat und Religion nur im Allgemeinen diskutiert, wobei wir uns vor allem auf das Wesen beider konzentriert haben. Dies genügt aber nicht. Faktisch hat Hegel, wenn er über das Verhältnis von Religion und Staat spricht, meistenteils die christliche(n) Religion(en) im Sinn. Dies ist nicht zufällig so. Das Verhältnis bleibt abstrakt, solange wir nicht näher spezifizieren, um welche Art von Religion und welchen Art von Staat es geht. Wir müssen auch die faktische Bestimmtheit ihrer historischen Erscheinung mit in Betracht ziehen. Es gibt keine Religion und kein Staat im Allgemeinen. Sie existieren nur als besondere und einzelne. In seinen historischen Überlegungen geht Hegel davon aus, dass einer besonderen Art von Staat auch eine besondere Art von Religion entspricht. Die Vorstellung, welche ein Volk von seinem Gott hat, entscheidet, wie das Volk sich seiner Freiheit bewusst ist91. In der Vorstellung seines Gottes drückt 88  Vorl PhR (Wannenmann 1819/20), GW 26.1, 526. 89  Vorl PhR (Hotho 1822/23), GW 26.2, 1007. 90  Ibid. 91  Vorl Gesch Phil (blaue Reihe 1827/28), Vorlesungen 6, 307.

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das Volk aus, wie es sich selbst auffasst, seine Wesenheit. Das Bewusstsein, das ein Volk von seinem Gott oder seinen Göttern hat, ist recht eigentlich der Ausdruck seines Selbstbewusstseins. Deshalb wird die Weise, wie ein Volk sich selbst und seine Freiheit in der Religion vorstellt, zugleich die Grundlage der Weise sein, wie Gesetze und Institutionen eines Staats diese Freiheit gestalten. Hegel ist besonders radikal in seinen Folgerungen: „Das Volk, das einen schlechten Begriff von Gott hat, hat auch einen schlechten Staat, schlechte Regierung, schlechte Gesetze“92. Ein Volk, dessen Religion nicht das Bewusstsein hat, dass Freiheit die Bestimmung des Menschen ist, wird als unfrei erscheinen, auch in seiner Verfassung und seinen Gesetzen. Deshalb wird nach Hegel auch jeder Versuch, die Gesetze und Verfassung eines Staats in ein vernünftiges, freies, gesetzliches System zu verwandeln, notwendigerweise scheitern, wenn nicht auch die Religion des Volkes eine freie Religion ist. Religion ist solchermaßen ins innere Gewissen des Menschen eingebrannt, dass jedwede Ordnung, die der Religion entgegengesetzt ist, als äußere Konstruktion angesehen werden muss. Gesetze, welche demjenigen, was die Religion heilig nennt, entgegengesetzt sind, sind letztendlich nicht zu halten93. Die ideologische Kraft und Macht einer bestimmten Religion in einem bestimmten Staat ist also nicht zu unterschätzen. Deshalb können wir uns nicht erlauben, ausschließlich über Religion im Allgemeinen zu sprechen94. Nicht alle Religionen haben ein gleiches Verhältnis zur Freiheit, wie auch nicht jeder empirische Staat die Freiheit zum Prinzip seiner Verfassung hat. Es könnte sein, dass einmal eine „rettende Macht“ gefordert wird, um die Rechte der Vernunft und des Selbstbewusstseins, welche am engsten mit dem Begriff der Freiheit verbunden sind, zu gewährleisten95. Die Religion ist aber nur dann die richtige Grundlage des Staates, insofern sie „einen wahrhaften Inhalt“ hat, d.h. insofern „die in ihr gewußte Idee Gottes die wahrhafte sey“96. Solange die Religion eine inadäquate Vorstellung von Gott hat, solange ist auch der Staat inadäquat. Nur eine Religion, welche die Freiheit umschließt, ist wahre Religion; und nur wahre Religion kann als Grundlage eines freien Staates fungieren. Hegel ist weit davon entfernt, alle Religionen als gleichrangig anzusehen, wie er auch nicht alle Konstitutionen empirischer Staaten als gleich beurteilt. Obwohl er den Feudalismus des Mittelalters als eine adäquate Selbstorganisation der Gesellschaft betrachtet, 92  Vorl Rel (1831) (blaue Reihe), Vorlesungen 3, 340. 93  E § 552 A, GW 20, 536. 94  PhR § 270 A, GW 14.1, 213–214. 95  Ibid. 96  E § 552 A, GW 20, 532.

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erachtet er das System aus der Warte der Neuzeit als veraltet, ‚positiv‘, und deshalb verwerflich97. Nun ist für Hegel klar, dass das Christentum mehr als jede andere Religion eine Religion der Freiheit ist. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion hat er eine hierarchische Geschichte der Religionen entwickelt, wobei das Christentum als die „absolute Religion“ zugleich auch die „Religion der Freiheit“ ist98. Es ist nahezu evident, dass z.B. eine sogenannte Naturreligion, eine Religion, welche die Natur oder bestimmte Gestalten der Natur (Berge, Ströme, Pflanzen, Tiere) als göttlich verehrt, keine Religion der Freiheit genannt werden kann. Nur insofern Gott ausdrücklich als Geist vorgestellt wird, ist die Religion auch eine Religion der Freiheit99. Zwar ist die Freiheit nicht ganz abwesend in den Naturreligionen, da Magie ja doch ein, wenn auch zwar primitiver, Ausdruck der Macht, und deshalb der Freiheit des Geistes über die Natur ist. Doch geht es letztendlich um die Frage, wie der Geist und die Freiheit repräsentiert werden. Wenn Gott z.B. nur als „abstrakt höchstes Wesen, [als] Herr des Himmels und der Erde“ vorgestellt wird100, wenn Gott nur jenseits der Welt, abgeschieden von der Wirklichkeit des Menschen, existiert, dann haben wir auch keine wahre Religion der Freiheit vor uns. Darum, aufgrund der exklusiven Transzendenz Gottes in der jüdischen Religion, der „Religion der Erhabenheit“, ist auch die jüdische Religion schließlich keine richtige Religion der Freiheit. Nur wenn nicht nur die Transzendenz, sondern auch die Immanenz Gottes vorgestellt wird, kann Religion Grundlage der Freiheit und Grundlage eines freien Staates sein. Der Idee der Inkarnation verdankt das Christentum ihren Status einer Religion der Freiheit. Dadurch, dass das Chris­ tentum die Einheit der göttlichen und der menschlichen Natur (in Christus) zum Kern des Glaubens gemacht hat, kann das Christentum sich selbst als eine Religion der Freiheit betrachten. Nur dann ist Gott wirklich als Geist vorgestellt. Geist ist dabei der unendliche Geist, der sich selbst in und durch den endlichen Geist verwirklicht, das substantielle Sein, welches als sich verwirklichendes Subjekt sich selbst gestaltet in der endlichen Welt. Im Christentum ist die Idee Gottes so die Idee des freien Geistes. Umgekehrt erhebt der endliche Geist sich in der Vorstellung der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes, erhebt der endliche Geist sich über seine eigene Endlichkeit hin und findet sich selbst in seiner eigenen Wesenheit. So befreit er sich von aller Andersheit und 97  Cf. ‘Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts’ in: Philosophisches Journal der Philosophie, GW 4, 480. 98  Vorl. Rel. (blaue Reihe 1824), Vorlesungen 5, 106–8. 99  Vern (grüne Reihe 1830), 126. 100  Ibid.

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findet auf der ideellen Ebene die Grundlage und den Anfang der tatsächlichen Verwirklichung seiner Freiheit in der Welt. Nur ein Volk, welches Freiheit zum Kernpunkt seiner Religion hat, findet darin die Grundlage eines freien Staates. Nur eine christliche Kultur bietet, zumindest im Prinzip, die Garantie eines freien Staates. Andere Religionen bleiben hinter diesem Maß zurück. Katholizismus, eine Religion ohne Freiheit Soeben haben wir zu zeigen versucht, dass nur das Christentum eine Religion der Freiheit ist und als Grundlage eines freien Staates fungieren kann. Diese These, welche das Christentum mit dem modernen Staat verbindet, verlangt nach weiteren Belegen, welche man vor allem in den späteren Jahren Hegels, also in der dritten Ausgabe der Enzyklopädie sowie in den spätesten Vorlesungen über Philosophie der Weltgeschichte finden kann. Grosso modo kann man seit dem 16. Jahrhundert zwei Varianten im Christentum unterscheiden: Katholizismus und Protestantismus. Hegel sieht die Unterschiede zwischen beiden Richtungen innerhalb des Christentums nicht als theologische Haarspalterei an. Die Reformation war für ihn ein entscheidender Schritt nach vorne in der historischen Entwicklung des Christentums. Im Protestantismus findet er ein wesentliches Moment religiöser Verinnerlichung und deshalb auch der Freiheit. Auf die Äußerlichkeiten des katholischen Ritus verweisend (und unter Verkennung z.B. der katholischen mystischen Bewegungen im Rheinland und in Flandern (Eckhart, Ruusbroeck, Hadewych, Hildegard von Bingen, etc.)) beurteilt Hegel den Katholizismus auch insgesamt als sich an der Äußerlichkeit festmachend – was in seinen Augen schwerwiegende Folgen hat für das Verhältnis von Religion und Staat. Weshalb bleibt der Katholizismus eine Religion der Äußerlichkeit? Hegel wirft ihm vor, die Implikationen der Menschwerdung Gottes nicht voll verstanden zu haben. Selbstverständlich erkennt der Katholizismus die Inkarnation an, aber trotzdem entbehrt er eines adäquaten Verhältnisses des Menschen als Selbstbewusstsein dieses Inhalts. Menschwerdung bedeutet nach Hegel gerade die Anerkennung der Immanenz des Geistes im menschlichen Selbstbewusstsein: gerade als menschliches Selbstbewusstsein ist der Geist wirklich. Deshalb muss der Mensch den Geist (Jesu) als sein Wesen, als seine Substanz betrachten, und darin seine Selbstsicherheit und Freiheit finden. Der Christ weiß den göttlichen Geist innerhalb seiner, vor allem in seinem vernünftigen Denken und Willen. Damit sind wir weit von der frommen Spiritualität sowohl des Katholizismus als auch des Protestantismus entfernt, aber Hegel versucht ja, christliche Vorstellungen für ein philosophisches Publikum verständlich zu machen. Vielleicht kommt man dann um vernünftiges Denken und Willen nicht umhin.

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Hegel zufolge ist diese Bewegung hin zur Immanenz des Geistes im Menschen vom Katholizismus nicht vollzogen worden. Er stellt den göttlichen Geist dem Menschen als selbstbewussten Geist fix gegenüber101. Dieser Entgegensetzung wegen erscheint der menschliche Geist in seinem Verhältnis zu Gott wesentlich außerhalb seiner selbst. Hegel führt hier gerne die Beispiele der Anbetung der Hostie („ein äußerliches Ding“), des Unterschieds zwischen Laien und Priester (wobei die letzteren den Laien imperativ ihre Erkenntnis von Gott aufzwingen), der Leitung des Gewissens der Laien vom Priesterstand her, der Verehrung der Reliquien und mirakulösen Bilder, des Glaubens, dass äußerliche Werke allein rechtfertigend sein können, etc. an. Es sind dies die traditionellen Vorwürfe des damaligen Protestantismus an die Adresse des damaligen Katholizismus102. Überzeugend wirkt es nicht ganz. (Übrigens haben damals Hegels katholische Studenten in Berlin heftig gegen seine eher undifferenzierte Auffassung des Katholizismus protestiert.) Insofern als Äußerlichkeit dem Katholizismus inhärent ist, bleibt dieser eine Religion der Unfreiheit, so lautet jedenfalls Hegels Schlussfolgerung103. Der Begriff des Geistes ist dort wesentlich verkannt und verkehrt, sodass auch „Recht und Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Gewissen, Zurechnungsfähigkeit und Pflicht in ihrer Wurzel verdorben sind“104. Wenn dies der Fall ist, sind die Konsequenzen für die Entwicklung des Staates katastrophal. Einer Religion der Unfreiheit entsprechen eine Verfassung und Gesetzgebung, welche ebenso als unfrei zu charakterisieren sind. Katholizismus, so Hegel, setzt wesentlich voraus, dass alles Wesentliche, auch der Inhalt der Sittlichkeit, dem Selbstbewusstsein äußerlich bleibt. Der selbstbewusste Mensch wäre nicht imstande, aus sich selbst, vom eigenen Gewissen, d.h. vom eigenen vernünftigen Willen aus, zu bestimmen, was sittlich gut ist. Nur eine als äußerlich vorgestellte Offenbarung (von außen her kommend) und ihre Interpretation durch einen privilegierten Priesterstand (dank einer äußerlichen und magischen Weihe) hat das Privileg der absoluten Wahrheit auf der Ebene von Glauben und Ethos. Solch eine Religion, welche zwar die Freiheit zum Inhalt hat (es ist ja eine Form von Christentum), gestaltet diesen Inhalt in einer äußerlichen Form, in einer Form also, welche der Freiheit entbehrt und deshalb nur die Grundlage eines Staates sein kann, dem dieser Mangel an Freiheit in seinen Institutionen und seiner Gesetzgebung eingeschrieben ist.

101  E § 552 A, GW 20, 533. 102  Ibid. 103  Ibid.; cf. Vorl Rel (1831) (blaue Reihe), Vorlesungen 3, 362. 104  E § 552 A, GW 20, 533.

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Die Suggestion, dass nur der Katholizismus die Stabilität einer Regierung verbürgen kann, wird von Hegel strikt verworfen. Mit ihr ist suggeriert, dass nur ein Bürger, der gelernt hat, einer religiösen Macht zu gehorchen, imstande sei, unbedingt der weltlichen Macht zu gehorchen. Nach Hegel ist dies jedoch nur der Fall, wenn Regierungen „unter der Knechtschaft des Unrechts und der Immoralität befangen bleiben“105. Parallel mit der Verwerfung der Subjektivität des selbstbewussten Menschen, so fährt Hegel scharf fort, verwirft der Katholizismus auch „die innere Gerechtigkeit und Sittlichkeit des Staates“106. Diese Bemerkung im 1830/31er Manuskript zu den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte macht jedenfalls deutlich, dass auch der spätere Hegel offen die immanente Substantialität der Sittlichkeit und des Staates anerkennt – und dass dies nicht im Gegensatz zur Religion als dem Prinzip der Sittlichkeit steht. Es ist nicht so, dass die Sittlichkeit, weil die Religion als ihre Grundlage gilt, dadurch ihren substantiellen Gehalt und ihre Unabhängigkeit verlieren würde. Innerhalb des Christentums ist es jedoch ein Problem, dass der Katholizismus den wesentlichen Gehalt der Sittlichkeit nicht (an)erkennt. Hegel verweist dabei auch auf die bekannten drei Gelübde der Keuschheit, Armut und des Gehorsams, welche besonderen Gelübde des mönchischen Lebens er mit der Spiritualität des Katholizismus als solchem identifiziert. Obwohl es sich hierbei um eine allzu grobe Gleichsetzung handelt, kann man diese asketischen Ideale des mönchischen Lebens doch als exemplarisch für eine typische Verwerfung der Modernität halten, d.h. der Autonomie und des Werts der Familie (Keuschheit), der bürgerlichen Gesellschaft (Armut) und des Staats (Gehorsam), d.h. der drei sittlichen Instanzen, welche das Ethos des modernen Menschen ausmachen. Zurecht, sagt Hegel, hat die Reformation das gute Recht des familialen Lebens, der bürgerlichen Gesellschaft und des Politischen, als Verwirklichungen der Freiheit, vertreten, wobei sie dies auf die Immanenz des göttlichen Geistes in der Welt gründet. Selbstverständlich fordert das Leben im Staat ebenso Gehorsam gegenüber der Verfassung und dem Recht, aber dieser Gehorsam ist wesentlich unterschieden von einem sklavischen Gehorsam, wie er sich im Katholizismus findet. In der katholischen Spiritualität, so Hegel, gibt es keinen Platz für Rechte und Pflichten. Im Staat dagegen sind Rechte und Pflichten koextensiv. Gerade deshalb bedeutet Gehorsam gegenüber den Gesetzen des Staates die Verwirklichung der eigenen,

105  Ibid. 106  Vorl PhW (Manu 1830/31), GW 18, 173.

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wahrhaften Freiheit. Der Staat ist ja doch die Verwirklichung des eigenen vernünftigen Willens107. Nicht nur in den protestantischen Ländern haben die Bürger gegen das sogenannte katholische Ideal, den Himmel auf Erden zu realisieren108, revoltiert. Das Ideal verweigert es, den substantiellen Gehalt der irdischen Wirklichkeit anzuerkennen. Die Französische Revolution, so Hegel, war die katholische Antwort auf eine Religion der Weltentsagung. Das Resultat dieser Revolution war eine radikale, zu radikale Scheidung von Religion und Staat. Prima vista ist eine solche Scheidung ein wichtiger Fortschritt. Dank dieser Scheidung hat der Staat und, durch ihn, die Vernunft sich von der Religion emanzipiert. Letztere hat ja doch die natürliche, der Religion inhärente Neigung, das ganze Leben in allen seinen Dimensionen zu umfassen und zu orientieren. Hegel hat jedoch ernsthafte Einwände gegen eine solche Entwicklung. Sobald der Staat seine eigenen Rechte gegen die Religion einfordert, wird die letztere als Kirche zu einer Partei inmitten anderer Parteien reduziert. Religion wird dann privat, ohne noch Relevanz auf der politischen Ebene zu haben. Die Entgegensetzung des profanen, an der zeitlichen Existenz orientierten Ideals der Sittlichkeit und des auf die Ewigkeit gerichteten religiösen Ideals der Heiligkeit wird so erhärtet. Möglicherweise kann der Staat sich erlauben, die Entgegensetzung zu lassen, wie sie ist, und, wenn nach einer Grundlegung der Verfassung und der Gesetze gefragt wird, einfach auf die Vernunft zu verweisen. Nicht Religion, sondern die Philosophie würde so eine Grundlegung des Staates abgeben. Wenn Philosophie jedoch nicht bloß formal ist, sondern nach ihrem letzten Grund gräbt, findet sie schließlich die „absolute Wahrheit“, welche von der Religion als Gott anerkannt und verehrt wird. Schließlich, in letzter Analyse, kann der Staat also nicht ohne Religion. Gott, ob religiös oder philosophisch gedacht, ist und bleibt der letzte Grund des Staates109. Hegel betrachtet diese Anerkennung als besonders wichtig, weil ohne sie der Staat durch Formalismus bedroht ist. Es besteht durchaus die Gefahr, den Inhalt der Gesetze allein dadurch zu legitimieren, weil diese formell als Gesetze gelten. Es genügt jedoch nicht, dass ein Gesetz formell einen allgemeinen Charakter hat, um wahrhaft im Dienst der Freiheit und wirklich legitim zu sein. Wahrhafte Legitimität setzt letztendlich eine Prüfung des Gesetzes an dem, was die Religion den Willen Gottes nennt, und an dem, was die Philosophie als die Idee der Freiheit versteht, voraus. Hegel ist sich deutlich bewusst, dass die 107  E § 552 A, GW 20, 535; cf. Vorl. Rel. (1831) (blaue Reihe), Vorlesungen 3, 342–3; 361–2. 108  Mit diesem Verweis auf die Errichtung eines Himmels auf Erden stellt Hegel den Katholizismus de facto auf die Ebene der fanatischen Religionen (siehe oben). 109  Vorl Rel (1831) (blaue Reihe), Vo 3, 345.

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positive wie die formelle Gültigkeit eines Gesetzes nicht genügen. Gleichermaßen notwendig ist, was er die innere Gesinnung nennt, den inneren Gehorsam gegenüber dem Gesetz, und besonders gegenüber dem Geist des Gesetzes. Es wäre eine Illusion zu denken, dass der moderne Staat ohne diese innere Dimension bestehen könnte. Es ist klar, dass ein Richter nicht einfach das Gesetz appliziert, als wäre er ein logischer Automat. Seine innere Überzeugung, sein Gewissen, spielen eine wesentliche Rolle. Und Religion ist gerade auf dieser Ebene der Innerlichkeit zu situieren. Ein Staat ist deshalb nicht indifferent gegenüber der Frage, ob jemand Religion habe oder nicht – und welche. Ein Staat, der überhaupt nichts mit Religion zu tun zu haben möchte, verneint seinen eigenen Grund110. In diesem Sinne kann Hegel sich eigentlich keinen atheistischen Staat denken. Insofern Religion mehr ist als eine zufällige Gestalt des absoluten Geistes, insofern sie, gleich wie die Kunst und die Philosophie, eine wesentliche Form ist, worin das Selbstbewusstsein des Geistes sich ausdrückt, bedarf der Staat – infolge der Logik des hegelschen Systems – wie auch jedes einzelne Individuum einer Religion. Ein Staat kann und darf überhaupt nicht Sache bloßer Willkür sein. Ein jeder Staat setzt ein Absolutes voraus, besonders die Anerkennung der Freiheit als etwas an und für sich Seiendes, das verwirklicht werden soll. Der spezifische Begriff des Staats ist gerade die konkrete Verwirklichung derselben notwendigen Idee. Die Aufgabe der Religion im Verhältnis zum Staat ist nicht diese konkrete Verwirklichung – denn dann würde sie die Stelle des Staates einnehmen –, sehr wohl aber die Anerkennung, das Hegen der Idee der Freiheit als solcher. Keine Revolution ohne Reformation Einer der Gründe, weshalb die Französische Revolution von 1789 nicht gelungen ist, so Hegel, ist, dass sie nicht zugleich eine religiöse Reformation gewesen ist: keine Revolution ohne Reformation, könnte man schlagwortartig sagen111. Die Menschen werden immer die profanen Gesetze als tote Buchstaben interpretieren, wenn diese demjenigen entgegengesetzt sind, was sie religiös als heilig betrachten. Hegel ist davon überzeugt, dass nur der Protestantismus den Kontext bietet, in welchem die Harmonie van Staat und Religion verwirklicht werden kann. „Das Wahrhafte ist […] daß die Prinzipe des Staats und der Religion in Einheit sind, dieß ist in protestantischen Staaten der Fall“112. Im Protestantismus seien 110  Id., 345–346. 111  E § 552 A, GW 20, 536–537. 112  Vorl PhR (Griesheim 1824/25), GW 26.3, 1417.

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religiöses und ethisches Gewissen nicht starr einander entgegengesetzt, sondern eins113. Der Protestantismus erkennt ja an, dass „nur im Princip des sein Wesen wissenden, des an sich absolut freien und in der Thätigkeit seines Befreiens seine Wirklichkeit habenden Geistes, […] die absolute Möglichkeit und Nothwendigkeit vorhanden [ist], daß Staatsmacht, Religion und die Principien der Philosophie in eins zusammenfallen, […]“114. Der Protestantismus hat die Freiheit des individuellen Menschen in sein Programm eingeschrieben. Nur in der Reformation, argumentiert Hegel, nach einer langen Geschichte, hat das Christentum das Wesen seiner Botschaft vollständig verwirklicht: eine Religion des Geistes zu sein, oder, exakter, eine Religion der Befreiung. An sich, d.h. als Prinzip, ist der Geist frei. Dies ist seine Bestimmung und sein Ziel. Die Freiheit unterscheidet ihn von der Natur und macht sein eigenes Wesen aus. Dieser Begriff des Geistes existiert nicht an sich. Er existiert und verwirklicht sich immanent in der historischen Welt des Menschen. Diese Verwirklichung ist Befreiung, Befreiung von aller naturhaften Gebundenheit, eine Aktivität, welche vom Geist selbst vollbracht werden muss. Das Resultat ist eine sittliche Welt, welche die eigene Welt des Geistes ist, eine Welt, welche vom Geist selbst gestaltet worden ist und in welcher er sich als frei wissen kann. Versöhnung, eine zentrale Kategorie des Christentums, ist kein äußerer Prozess, der dem Menschen, trotz seiner selbst, widerfahren würde. Die substantielle Allgemeinheit des Göttlichen und des Guten ist nicht mehr der für sich selbst seienden Subjektivität entgegengesetzt. Letztere ist absolut identisch mit ihr115. Auch hier zeigt sich wieder, wie weit Hegel vom Pietismus und eben von der traditionellen Orthodoxie entfernt ist. Der Mensch schafft sich seine eigene Versöhnung. Versöhnung ist seine eigene Tat, nicht das Resultat einer göttlichen Gnade, welche man nur passiv und demütig zu empfangen hat. In Hegels Perspektive verschwindet jede Entgegensetzung von Glauben und Wissen, sowie von Religion und Staat. Im Protestantismus, behauptet Hegel, glaubt man, was man weiß. Deshalb ist für den Protestantismus auch das Gewissen unantastbar, wenngleich unter der Bedingung, dass das Gewissen nicht mit bloßer Subjektivität oder Willkürlichkeit identifiziert wird, sondern mit dem, was Wissen wesentlich ist, Wissen des Allgemeinen116. Und weil die Religion

113  E § 552 A, GW 20, 541. 114  Id., 540; cf. Vorl PhR (Griesheim 1824/25), GW 26.3, 1417: „Abstrakt genommen ist das Prinzip des protestantischen Geistes die Freiheit des subjektiven Geistes in sich, daß der Geist des Menschen frei ist, daß der Geist des Menschen dabei sein muß wenn es ihm gelten soll, daß keine Autorität statt findet.“ 115  E § 552 A, GW 20, 540. 116  Vorl Rel (1831) (blaue Reihe), Vorlesungen 3, 344.

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keine eigenen Prinzipien mehr hat, welche denen des Staates entgegengesetzt wären, ist auch die Einheit van Religion und Staat vorhanden117. Der ganze Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus konzentriert sich in den Augen Hegels um die wesentliche Anerkennung des Selbstbewusstseins und der Subjektivität. Im Katholizismus ist die göttliche Gnade ohne die Intervention der menschlichen Freiheit wirksam. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch bleibt deshalb äußerlich. Im Protestantismus ist die Immanenz der göttlichen Gnade in der menschlichen Subjektivität und Freiheit wesentlich. Sie ist nur wirksam im und durch das menschliche Handeln selbst. Es ist durch die Anerkennung der Immanenz des Göttlichen in den Handlungen des Menschen, dass die protestantische Religion als Grundlage par excellence eines freien Staats gelten kann. Trotzdem ist Hegel nicht geneigt, den Protestantismus zur Staatsreligion zu erheben. Im Gegenteil. Religionsfreiheit bleibt für ihn höchst wichtig. Dies hängt nicht nur mit dem Wesen der Religion selbst, da sie vor allem an die Innerlichkeit, an das Herz, an das Gemüt des Menschen appelliert, zusammen. Auch für den Staat selbst ist eine Vielheit von Religionen wichtig. Nur so vermeidet man die Gefahr, dass Religion in ihrem Rekurs auf die göttliche Autorität die Autonomie des Staates ableugnen würde und sich selbst zur höchsten Autorität, auch auf politischer Ebene, aufschwingen würde. Gerade die Pluralität der Religionen, und besonders das Auseinanderfallen der verschiedenen christlichen Glaubensbekenntnisse, zeigt den Unterschied zwischen der Form der Autorität und des Glaubens einer bestimmten Religion oder Kirche und der Universalität des Denkens, welches als Prinzip des Staates fungiert. Von einem historischen Gesichtspunkt aus betrachtet, konnte der moderne Staat als „die sich wissende, sittliche Wirklichkeit des Geistes“ nur dank des Auseinanderfallens des christlichen Glaubens in eine Pluralität von Kirchen entstehen118. Kurz gesagt, ist eine unmittelbare Einheit von Kirche und Staat, gleich wie eine vollständige Scheidung, kein Ideal für Hegel. Sein Ideal ist ein Staat, der in religiösen, insbesondere christlichen Prinzipien, d.h. in den Prinzipien des Geistes und der Freiheit, gegründet ist, ohne darum ein christlicher Staat zu werden. Kirche und Staat müssen eine besondere Existenz bekommen. Sonst hätten wir Situationen zu begegnen, welche mit denen des östlichen Despotismus zu vergleichen wären. Dort sind ja Staat und Religion unmittelbar eins. Und dann würden wir auch nicht mehr über den Staat als „die selbstbewußte, des Geistes allein würdige Gestaltung in Recht, freyer Sittlichkeit und organischer Entwicklung“ sprechen können119. 117  Id., 341. 118  PhR § 270 A, GW 14.1, 223; cf. PhR Vorl (Ringier 1819/20), GW 26.1, 526. 119  PhR § 270 A, GW 14.1, 223; cf. Vern (grüne Reihe 1826/27), 246 ff.

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Cruysberghs

Zum Schluss

Wir rekapitulieren noch einmal und fragen, inwiefern Hegels Auffassung des Verhältnisses von Staat und Religion heute noch Relevanz haben kann. Wir meinen gezeigt zu haben, dass Religion im Allgemeinen bei Hegel als Grundlage, und nur als Grundlage des Staates, fungiert. Es ist dies eine ausgewogene Position, welche zwischen zwei Extremen balanciert. Ein Extrem erwartet von der Religion, mehr als bloße Grundlage zu sein; das andere Extrem entzieht der Religion jede gründende Relevanz für den Staat. Im ersten Fall haben wir es mit einem theokratischen Regime zu tun; im zweiten ist der Staat atheistisch und wird die Religion zur reinen Privatsache reduziert. Hegel scheint sowohl die Scylla der Theokratie als auch die Charybdis eines atheistischen Staats zu vermeiden. Es ist deshalb wichtig, die typische Zwischenposition Hegels richtig zu verstehen. Diese Zwischenposition wird am schärfsten ausgedrückt, wenn Hegel in der Wannenmann-Nachschrift von der Kirche sagt, sie solle „unabhängig vom Staate, aber eins mit ihm“ sein120. Unabhängig vom Staat soll die äußere Organisation einer Religion sein. In einer modernen Gesellschaft haben Volksreligionen ausgedient. Religionen haben ihre eigene Stelle im Staat, eben diejenigen Religionen, welche sich bestimmten bürgerlichen Aufgaben, wie z.B. dem Militärdienst, entziehen. In diesem Sinne könnte man dazu verführt sein zu sagen: ‚Religion ist Privatsache, Sache des Herzens, der persönlichen Überzeugung‘. Sie hat eine eigene Stelle, eine eigene Logik. Sie integriert die Besonderheiten des Lebens innerhalb einer Totalperspektive, aber bestimmt nicht, darf nicht bestimmen, wie die Besonderheiten konkret realisiert werden sollen. Das ist Sache der Sittlichkeit, der Organisation des Familienlebens, der bürgerlichen Gesellschaft, und letztendlich des Staats. Zugleich erwartet Hegel, dass Kirche und Staat eins seien. Also doch eine Volksreligion? Religion doch nicht Privatsache? Nein, nicht lauter Privatsache. Ein moderner Staat hat sich die Freiheit auf seine Fahnen geschrieben. Idealiter benötigt er dazu auch eine Religion der Freiheit. Eine solche Religion und ein solcher Staat sind in Harmonie miteinander. Wenn religiöse Gesinnung und Staat einander im Ideal der Freiheit finden, können wir vielleicht von einer glücklichen Konstellation in der Geschichte sprechen. Bedeutet dies, dass es dann keine Stelle für religiöse Pluralität mehr gibt? Doch, denn religiöse Pluralität ist ein wesentliches Element im modernen Staat; er verdankt dieser Pluralität gerade sein Entstehen. Die Frage ist vielmehr, ob einem Staat 120  Vorl PhR § 158 (Wannenmann 1817/1818), GW 26.1, 209.

Religion als Grundlage, und nur als Grundlage des Staats

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mit einer radikalen Pluralität geholfen sei, oder ob es nicht besser wäre, dass eine freie Religion zwar nicht die einzige, aber doch die dominante sei. Dies alles gesetzt den Fall, dass eine solche Religion die konkrete Bestimmung desjenigen, was es im Allgemeinen als Wille Gottes versteht, dem Staat überlässt. Überfliegen wir noch einmal kurz die Alternativen. Eine radikale Abhängigkeit des Staates von einer Religion, wobei die Religion auch den konkreten Gehalt von Konstitution und Gesetzen bestimmt, resultiert in einem theokratischen Staat, mit dem Risiko, dass eine Regierung und ihre Bürger von besonderen, idiosynkratischen Bestimmungen einer besonderen Religion abhängig sind. Theokratische Tyrannei ist dadurch impliziert. Im Namen der Freiheit ist dies vollkommen verwerflich. Was mit einer vollkommenen Unabhängigkeit des Staates von irgendwelcher Religion? Ein atheistischer Staat? Nein, diese allermodernste Alternative wird von Hegel ebensosehr abgewiesen. Für Hegel spielt die Religion eine wesentlich unterstützende, heute würden wir sagen: ideologische Rolle – auch für einen modernen Staat. Für Hegel scheint es schwierig, diese Rolle andere ideologische Apparate, wie die Kunst oder die Philosophie, übernehmen zu lassen. Beide hatten und haben nicht dieselbe Wirkung, wie sie die Religion jedenfalls gehabt hat. Die Kultur der Seele scheint doch vor allem die Sache der Religionen gewesen zu sein. Der rousseauische Vorschlag einer Zivilreligion ist doch allzusehr künstliches Machwerk. Vielleicht subsistiert ein postmoderner Staat mittels allgemeiner Slogans wie ‚Liberté, Égalité, Fraternité‘ (vgl. die Weise, wie die Wahl eines Präsidenten in Frankreich gefeiert wird) und gibt sich mit fragmentierten, gegebenenfalls inkohärenten Rollenmodellen zufrieden, wie man sie in der populären Kultur (Fernsehen, Sport, Popfestivals, …) findet. Ob diese Modelle in gleicher Weise wie die christliche(n) Religion(en) funktionieren, ist die Frage. Die Gefahr, dass Religionen bei völliger Unabhängigkeit von Staat und Religion quietistisch werden, ist vielleicht immerhin reell, obwohl Quietismus nur selten zu einer vollen Massenbewegung auswachsen wird. Gefährlicher ist vielleicht die Möglichkeit des Fanatismus, wenn Religionen sich polemisch gegenüber dem Staat verhalten und ein Reich Gottes auf Erden errichten wollen. Falls fanatische religiöse Bewegungen größere Volksmassen zu mobilisieren imstande sind, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Idee eines modernen, freien Staats von einem theokratischen Staat verdrängt werden kann. Besser wäre da eine Religion „unabhängig vom Staate, aber eins mit ihm“121.

121  Ibid.

Elemente von Hegels politischer Theologie

Ziviler Republikanismus, soziale Gerechtigkeit, Konstitutionalismus und universelle Menschenrechte Andrew Buchwalter In seinem jüngst veröffentlichten Buch Der Staat als irdischer Gott1 stellt Ludwig Siep umfassend die Beziehung zwischen Religion und Politik in der Moderne dar. Seine wesentliche These ist, dass die Vergöttlichung des Staates, die im Werk moderner politischer Denker ihren Ausdruck findet, die Vielfalt der religiösen und anderen Weltanschauungen innerhalb einer bestimmten politischen Gemeinschaft möglich macht und unterstützt. Für Siep vermittelt eine solche Vergöttlichung dem Staat die nötige Autorität, damit er als neutraler Körper dienen kann, der die unterschiedlichen Forderungen und Werte der Individuen und Gruppen, aus denen moderne Gesellschaften bestehen, reguliert und ausbalanciert. Für die Entwicklung dieser These betrachtet Siep eine Auswahl verwandter Themen, einschließlich der Idee der individuellen Rechte, der Regelungen der Sozialhilfe, der Sittlichkeit moderner Staaten, der Religionsfreiheit und der Konsequenzen für die individuellen Rechte, die auf den Niedergang der Macht und Autorität des neutralen Staates folgen. Er geht diesen Fragen anhand der Gedanken richtungsweisender moderner politischer Theoretiker nach, darunter Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Fichte. Sein Schwerpunkt liegt jedoch auf Hegel, dessen Vorstellung von einem irdischen Gott am besten ausdrückt, was Siep als die Beziehung zwischen Religion und Politik in der Moderne ansieht. Bezeichnenderweise lautet der Untertitel des Buchs: Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee. Im Großen und Ganzen stimme ich Siep zu, was seine Sicht der Beziehung zwischen Religion und Politik und besonders was die Bedeutung Hegels für die Erklärung dieses Verhältnisses angeht. Dabei weiche ich jedoch in bestimmten Kernpunkten von Siep ab. Im Folgenden werde ich einige dieser Unterschiede erläutern. Es geht mir aber weniger darum, einzelne Behauptungen von Siep in Frage zu stellen, vielmehr möchte ich seine Erkenntnisse heranziehen, um weitere Wege für eine mögliche Auslegung der Elemente von Hegels Vorstellung von der Beziehung zwischen Religion und Politik zu finden. Vier Punkte leiten meine Analyse ganz besonders. Erstens: Obwohl ich der Behauptung zustimme, dass Hegels Idee des Staates als eines irdischen Gottes eine neutrale politische Autorität bekräftigt, die zumindest im Idealfall 1  Siep 2015.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_015

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die in modernen Gesellschaften enthaltenen unterschiedlichen Interessens-, Ansichts- und Glaubenssysteme berücksichtigt und überwacht, liegt bei mir die Betonung auf einer zivilen Religion, welche dazu dient, die Institutionen des neutralen Staates zu erhalten und zu pflegen. In dieser Hinsicht folge ich Sieps besonderer Beachtung der sittlichen Grundlagen des modernen Staates, jedoch appelliere ich nicht an die Idee des ethischen Krieges, sondern an einen politischen Republikanismus, der die Realisierbarkeit eines modernen Gemeinwesens ermöglicht. Zweitens: Ich stimme zwar zu, dass Hegels Idee von einem irdischen Gott zur Verpflichtung gegenüber einem „neutralen Staat … mit den gleichen Rechten aller seiner Bürger“ (Siep 2015, 11) führt, behaupte aber, dass sein tragendes Prinzip der Gleichheit nicht nur formal, sondern auch inhaltlich ausgelegt werden muss, und auf eine Weise, die materielle Ungleichheiten und Formen der sozialen Benachteiligung berichtigt, die üblicherweise rein formale Vorstellungen der Gleichbehandlung begleiten. Hier konzentriere ich mich auf Hegels Konzept der Korporation, die meiner Meinung nach von einer gewissen sozialen Gerechtigkeit und einer religiösen Untermauerung gestützt wird. In dieser Hinsicht sehe ich eine engere Verbindung zwischen Hegels Idee der religiösen Gemeinschaft oder Gemeinde und der weltlichen, sozioökonomisch konzipierten Korporation als Siep. Drittens behaupte ich, dass die Analyse von Hegels Konzept der Korporation genau das offenbart, was Siep bei ihm zu vermissen glaubt: eine Verpflichtung gegenüber einer politischen Theologie, die auf gemeinsame Ziele und Werte ausgerichtet ist. Ich finde jedoch, dass eine solche Verpflichtung, obwohl sie in einer Bestätigung des protestantischen Christentums verwurzelt ist, eine Reihe substantieller Werte oder eine bestimmte umfassende Doktrin nicht enthält, was im Widerspruch zum modernen politischen Pluralismus steht. Stattdessen, und in Übereinstimmung mit seinem Verständnis von Protestantismus als dem Geist des Nachdenkens, erweist sich Hegel als jemand, der für einzigartig reflexive gemeinsame Ziele eintritt, die von der anhaltenden Reflexion der Gemeindemitglieder über die Bedingungen ihrer gemeinsamen Gemeinschaft getragen werden. Hier beziehe ich mich auf Hegels Verfassungstheorie, um einen Staat zu skizzieren, der nicht nur als Quelle politischer Autorität verstanden wird, sondern als eine weltlich realisierte Version von Spinozas Konzept der göttlichen Substanz als causa sui. Viertens stelle ich Sieps Behauptung in Frage, dass der gegenwärtige Fokus auf die Menschenrechte ein Ende der Idee des Staates als eines irdischen Gottes zur Folge hat (Siep 2015, 188 ff.). Ich argumentiere stattdessen, dass eine robuste Darstellung sowohl der globalen Gerechtigkeit als auch der universellen Menschenrechte nicht nur mit Hegels Verständnis eines derartigen Staates

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Buchwalter

kompatibel ist, sondern sein Verständnis sogar eine solche Darstellung enthält, auch wenn sie ein Konzept begrenzter politischer Gemeinschaften affirmiert.

Religion, Unparteilichkeit des Staates und moderner Republikanismus2

Hegels Sicht der Beziehung zwischen Religion und Politik ähnelt in vielen Aspekten den konventionellen liberalen Positionen zu dem Thema3. Er lehnt eine Staatsreligion ab; er verurteilt die religiöse Einmischung in die Staatsangelegenheiten und das politische Leben im Allgemeinen; er erkennt die Religionsvielfalt an; er fordert, dass der Staat unabhängig von jeglicher religiösen Überzeugung sein muss; er weist dem Staat die Aufgabe zu, das Recht auf ein Gewissen und die freie Glaubensäußerung zu schützen. Er lehnt es ab, kirchlichen Organisationen die Befreiung von staatlichen Gesetzen zu gewähren; und er erklärt, dass die religiöse Argumentation nur eine Rolle im politischen Leben spielen darf, wenn sie die öffentlichen Normen der Vernunft anerkennt. In anderer Hinsicht liefert Hegel jedoch eine Darstellung der Beziehung zwischen Religion und Politik, die von den gewöhnlichen liberalen Ansichten abweicht. Das ist nicht nur deshalb so, weil er die Versuche, Trennwände zwischen Religion und Politik zu errichten, für unsinnig hält4, sondern auch, weil er der Meinung ist, dass Religion eine entscheidende Rolle im Leben einer modernen politischen Gemeinschaft spielt. Er glaubt tatsächlich, dass ein modernes Gemeinwesen zu einer kollektiven Identität führt, die aus religiösen Ressourcen schöpft, und behauptet sogar, dass der Staat religiöse Überzeugungen und Praktiken fördern soll (siehe Werke 7, § 270). Die Anerkennung der Bedeutung der Religion für das öffentliche Leben untergräbt jedoch in keiner Weise Hegels Verpflichtung gegenüber Kernelementen eines liberalen Gemeinwesens. Stattdessen geht Religion mit dieser, zumindest teilweise, Hand in Hand. Hegel entwickelt dieses Argument auf verschiedene Weise, wovon eine die von Siep erwähnte ist: Die Vergöttlichung des Staates ist ein Mittel, um ihm die Unabhängigkeit und souveräne Autorität zu übertragen, die benötigt wird, um das Vorhandensein und die Interaktion der Überzeugungen, Doktrinen und Glauben in den Gesellschaften zu 2  Für eine vergleichbare Besprechung dieser Themen siehe Buchwalter 2003 und 2006. 3  Hegel äußert sich am deutlichsten zu diesem Thema in: Hegel, Werke 7, § 270. 4  Siehe Hegel, Werke 10, § 552.

Elemente von Hegels politischer Theologie

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überwachen, denen eine gemeinsame Vision des Guten fehlt. Zusätzlich leitet sich jene Vorstellung von den individuellen Rechten, zusammen mit der „unendlichen“ Würde der Person, für Hegel von der Religion, insbesondere vom Christentum her. Hegel behauptet ferner – und das wird hier betont –, dass eine wirklich liberale politische Ordnung von einem Ethos und einer gemeinsamen kulturellen Geistesart abhängt, die in der Religion verwurzelt ist. Hegel hält im Einklang mit vielen modernen politischen Denkweisen daran fest, dass der Niedergang der theologisch definierten Auffassung von einem Staat die Politik von der traditionellen Beachtung einer vorgegebenen Vorstellung des Guten befreit hat. Fortan beachtet die Politik die für die Gewährleistung der individuellen Rechte und Freiheiten erforderlichen institutionellen Strukturen und Mechanismen. Dazu zählen die privaten Freiheiten, die es Individuen ermöglichen, ihre eigenen Vorstellungen des Guten zu definieren und zu verfolgen, und die öffentlichen Freiheiten, die ein Volk in die Lage versetzen, gemeinsam sich selbst zu definieren und zu formen. Dennoch sind für Hegel solche Mechanismen nicht selbstregulierend. Sie benötigen eine begünstigende öffentliche Kultur, die sich durch die Anerkennung und Unterstützung der Grundsätze auszeichnet, die den liberalen politischen Institutionen zugrunde liegen, wie z.B. Persönlichkeitsrechte, Fairness, gegenseitiger Respekt, öffentliche Beratung und eine allgemeine rechenschaftspflichtige politische Autorität. Die Strukturen einer gerechten Gesellschaft müssen in ein gemeinsames Ethos eingebettet sein – in der Tat eine Sittlichkeit –, das sich durch ein kollektives Engagement für ihren Wert und ihre Attraktivität auszeichnet. Nur wenn sie so verankert sind, können moderne Gesellschaften Bedrohungen abwehren, die aus der Autonomisierung ihrer eigenen Prinzipien entspringen – wie die individuelle Freiheit, die gegen die öffentlichen Strukturen ankämpft, die jene Freiheit voraussetzt, oder die institutionellen Strukturen, die von den individuellen Interessen losgelöst sind, denen zu dienen sie eigentlich entwickelt wurden. Hegel mag jede präexistente Vorstellung von einem Allgemeinwohl ablehnen; dennoch ist er der Meinung, dass die so befreite politische Ordnung nicht richtig aufrechterhalten werden kann, es sei denn ihre Mitglieder sind gemeinsam bereit, die Grundsätze und Werte zu bestätigen, auf denen sie beruht und zu denen sie sich verpflichtet hat. Diese Überlegungen belegen die Bedeutung der Religion für Hegels politische Philosophie, indem sie die Aufmerksamkeit auf die kulturellen Bedingungen lenken, die Voraussetzung für ein modernes Gemeinwesen sind. Religion ist im Allgemeinen das kulturelle Phänomen, das die Funktion hat, zwischen subjektivem Gefühl einerseits und objektiven Normen und Werten andererseits

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zu vermitteln. Mit Konzentration auf das „innerlich geoffenbarte Ewige“5, ist es der Vorgang, bei dem empfangene Werte und Pflichten als subjektiv bedeutungsvoll begriffen werden und bei dem gewöhnliche Überzeugungen und Einstellungen die Unterstützung für objektiv bindende Normen erkennen lassen und diese begrüßen. Religion ist für Hegel wie die tägliche Konkretisierung öffentlich verbindlicher Grundsätze und die subjektive Verpflichtung der Gemeindemitglieder ihnen gegenüber. Wie nach ihm Durkheim, erkennt Hegel in religiösen Gemeinschaften Praktiken der Verpflichtung, die deren Mitglieder gleichzeitig binden und motivieren. Solche Gemeinschaften instantiieren ein Ethos, das selbst als der Kern eines Gemeinwesens dient, das durch die Vermittlung objektiver Institutionen und subjektiver Gefühle definiert wird. Sie kristallisieren Hegels These heraus, dass „die Substantialität … der Sittlichkeit und des Staates die Religion ist“ (Werke 10, § 552). Religion bedeutet jedoch mehr als die zentrale Eigenschaft eines echten Gemeinwesens und politischen Ethos. Sie ist die Quelle der Stabilität und Integration einer politischen Ordnung. In ihrer ausdrücklichen Verpflichtung gegenüber der Wechselbeziehung von Allgemeinem und Besonderem fördert Religion die Geistesarten und kulturellen Sensibilitäten, die erforderlich sind, um eine politische Ordnung unter modernen Bedingungen und Umständen aufrecht zu erhalten. Sie unterstützt nicht nur die Sensibilität dafür, wie entwickelte soziale Beziehungen und öffentliche Institutionen die individuelle Freiheit bedingen, die für moderne Gesellschaften wesentlich ist, sondern sie macht deutlich, dass die gegenseitige Abhängigkeit, die grundlegend für moderne Gesellschaften ist, nur aufrechterhalten werden kann, wenn sich Individuen dazu verpflichten, die Institutionen und Strukturen zu tragen, die zwischen dem öffentlichen und privaten Leben vermitteln. Und insofern ein Gemeinwesen a limine in der Verknüpfung von objektivem Empfinden und Stärken des subjektiven Gefühls besteht – wenn ein Gemeinwesen nur als Volksgeist Bestand hat –, hilft Religion dabei, die Realität einer echten politischen Ordnung zu erzeugen. Religion stützt als Quelle der bürgerlichen Erziehung und des Engagements den Staat, indem sie die Institutionen trägt und deren Grundstruktur unterrichtet, „indem Religion das ihn für das Tiefste der Gesinnung integrierende Moment ist“ (Werke 7, § 270A). Hegels Haltung ist derjenigen Rousseaus ähnlich, dessen Auffassung von politischem Leben ebenfalls von einer Religiosität abhängt, die inter alia das Konzept des Politischen verdeutlicht, der Struktur des Letzteren zugrunde liegt und für dessen Nachhaltigkeit verantwortlich ist. Es gibt aber auch wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Einstellungen. Während 5  Hegel, Werke 3, 585.

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beide Denker für eine Art von republikanischer Religion eintreten (wofür sich auch der Zeitgenosse de Tocqueville ausspricht)6, formuliert Rousseau ein „rein ziviles Glaubensbekenntnis“7. Im Gegensatz dazu verbindet Hegel seine zivile Religion mit dem Christentum, von dem Rousseau glaubte, dass dessen Weltfremdheit die republikanische politische Kultur untergrub. Das Christentum, besonders das protestantische, ist für Hegel ein grundlegendes Element einer gewachsenen republikanischen politischen Kultur. Vorerst soll Hegels Sicht der besonderen Beziehung zwischen dem protestantischen Christentum und einem weltlichen Gemeinwesen außer Acht gelassen werden. An dieser Stelle genügt es festzuhalten, dass das, was als Hegels „bürgerlicher Protestantismus“8 bezeichnet wurde, mit seiner Version von einem politischen Liberalismus und seinen Forderungen nach Staatsneutralität vereinbar ist. Zwei Punkte verdienen hier besondere Aufmerksamkeit, wobei der erste weitgehend strategischer Natur ist. Indem Hegel für eine ethisch-religiöse Kultur als Voraussetzung für eine liberale Politik eintritt, stellt er nicht nur eine theoretische Forderung auf, sondern nimmt praktisch am öffentlichen Leben seiner Zeit teil. Ebenso wie in seinen Vorlesungen bemüht er sich auch hier, in seinen Landsleuten ein Bewusstsein für die politische Verantwortung zu fördern. Im Einklang mit seinen allgemeinen Forderungen nach verkörperter Sittlichkeit ist er der Meinung, dass dieses Ziel am besten durch Appellieren an bestehende Werte und Auffassungen erreicht wird. Durch das Einbinden solcher Überzeugungen, selbst wenn diese vom herkömmlichen Verständnis abweichen, kann sich Hegel auf Werte berufen, die seine Mitbürger bereits akzeptiert haben, und vermeidet damit das ohnmächtige Moralisieren von außen, gegen das er so oft polemisiert. Für Hegel waren jene Werte mit dem „protestantischen kulturellen Kontext“9 seiner Zeit verflochten. In dieser Hinsicht bedeutet das Appellieren an den Protestantismus keine Befürwortung eines bestimmten Glaubens, sondern ist Teil einer praktisch-politischen Bemühung, bei den Landsleuten die Geisteshaltung zu fördern, die benötigt wird, um moderne politische Institutionen zu stärken und zu erhalten. Man kann selbstverständlich bezweifeln, dass in einem protestantischen Wertesystem verwurzelte Institutionen die gewünschte religiöse Neutralität erkennen lassen. Dennoch glaubt Hegel, dass diese ohne motivierte Bürger nicht realisierbar sind, und dass ein solches Engagement selbst von einer Reihe begünstigender Werte

6  Tocqueville 1990, 220–226. 7  Rousseau 1972 (orig. 1762), 230. 8  Harris 1993, Anm. 49. 9  Die Formulierung stammt von Dickey 1987, insbesondere S. 1–32.

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abhängt, die in den täglichen Überzeugungen und Praktiken gewöhnlicher Individuen wirksam sind. Hegels Befürwortung des Protestantismus ist sicher nicht nur strategischer Art. Und das ist der zweite Punkt: Er setzt sich ebenso für dessen substantiellen Wert ein, indem er behauptet, dass dieser moderne Vorstellungen von Freiheit und ein liberales Gemeinwesen allgemein begründet. Protestantismus ist in der Tat die „Religion der Freiheit“ (Werke 7, § 270Z). So wie er zum Priestertum aller Gläubigen verpflichtet ist, hat er seine Wurzeln im und unterstützt das „Prinzip der selbstständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit“ (Werke 7, § 185A). Protestantismus ist umgeben von modernen Vorstellungen von menschlicher Würde und individuellen Rechten. Er garantiert auch die allgemeine Erwartung der öffentlichen Verantwortlichkeit der politischen Autorität und insbesondere, dass alles, was im Staat gültig ist, aus „Einsicht und Gründe[n]“ entspringen muss (Werke 7, § 316Z). Mit dem Protestantismus ist „in das Weltliche selbst das Prinzip Freiheit eingedrungen“10, mit dem Ergebnis, dass Phänomene, wie zum Beispiel „Recht, Eigentum, Sittlichkeit, Regierung, Verfassung usw. … nun auf allgemeine Weise bestimmt werden [müssen], damit sie dem Begriffe des freien Willens gemäß und vernünftig seien“11. Es verdient jedoch hervorgehoben zu werden, dass Hegel selbst bei einer so substantiellen Befürwortung des Protestantismus keinem bestimmten Glauben oder einer Doktrin verpflichtet ist. Vielmehr ist an Hegels Einstellung die Art besonders charakteristisch, auf die allgemeine Bedingungen eines liberalen Gemeinwesens unterstützt werden. Im Zentrum von Hegels Vorstellung von Protestantismus als einer „Religion der Freiheit“ steht dessen Selbstreflexivität. In der Tat bezeichnet er den Protestantismus selbst als de[n] Geist des Nachdenkens12. Auf einen politischen Kontext übertragen bedeutet das, dass Protestantismus eine Praxis befürwortet, bei der sich Individuen nicht auf ein bestimmtes Ziel, sondern auf die Prozesse der kollektiven Selbstinterpretation und Selbstdefinition an sich konzentrieren. Wie Hegel bereits in seinem frühen System der Sittlichkeit erklärte, liegt die „Göttlichkeit des Volkes“13 in seinem Wesen als einem „besprechende[n] und bewußte[n] Volk“14. Ganz ähnlich argumentierte er in seinen Vorlesungen 10  Hegel, Vorlesungen 5, 264. 11  Hegel, Werke 12, 496 f. 12  Brief an Niethammer vom 3. November 1810 (Hegel, Briefe 1, 337). 13  Hegel, System der Sittlichkeit, zitiert nach Hegel/Göhler 1974, 62. 14  Ibidem, 101.

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über die Philosophie der Weltgeschichte, wo er behauptet, dass Religion der Ort ist, „wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält“15. Christlicher Republikanismus führt nach Hegel nicht zur Unterstützung einer bestimmten Doktrin oder Glaubensrichtung, sondern vielmehr dazu, dass Individuen für sich selbst und zusammen die Natur und Bedingungen ihrer gemeinsamen Existenz definieren. Ein solcher christlicher Republikanismus bestätigt gewiss eine starke Auffassung von kollektiver oder gemeinsamer Identität. Hier ist Religion ebenfalls „das Sprechen der Gemeinde über ihren Geist“ (Werke 3, 482). Dennoch ist eine solche Verpflichtung noch immer keine Bestätigung einer bestimmten substantiellen Doktrin, Vision des Guten oder Konzeption kollektiver Identität. Hier lassen wir die Frage beiseite, wie für Hegel eine geteilte Identität mit dem politischen Pluralismus Hand in Hand geht16. Es reicht aus, noch einmal zu betonen, dass die Befürwortung des Protestantismus hier eine starke kollektive Identität möglich macht, die antagonistisch zu substantiellen Darstellungen dessen ist, was diese Identität sein könnte. Verstanden als der „Geist des Nachdenkens“ und daher auch als die Reflexivität des Geistes an sich, ist im Protestantismus eine charakteristische Vorstellung von kollektiver Identität erlaubt und vorgeschrieben, die nicht durch bestimmte Werte definiert wird, sondern durch das anhaltende Nachdenken über die Bedingungen für die gemeinsame Gesellschaft selbst. Es ist kein Zufall, dass Hegel in der Enzyklopädie die Gemeinsamkeit einer irdischen Gottheit als „inwohnende[s] Selbstbewußtsein“ (Werke 10, § 552) charakterisiert, wo das gemeinschaftliche Nachdenken über die Bedingungen der gemeinsamen Identität die Identität selbst ist. In demselben Werk definiert er Religion auch als bewußtwerdende Sittlichkeit (Werke 10, § 552). Es geht hier aber nicht um die Bewusstmachung einer bereits existierenden Vorstellung von Sittlichkeit. Im Einklang mit seiner These über die ontologische Kreativität der Selbstreflexivität des Geistes, tritt Hegel für eine besondere reflexive Vorstellung von Sittlichkeit ein, für die die gemeinsame Beachtung der Bedingungen des Gemeinwesens die Gemeinschaft selbst ist.

15  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1, 125. Nachfolgend im Text in Klammern als VPWG angegeben. 16  Siehe Buchwalter 2011.

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Religion, Sozialrechte und die Korporation17

In seinem Bericht über den neutralen Staat, der durch Hegels Idee von einem irdischen Gott bedingt ist, verweist Siep darauf, dass dieser „den gleichen Rechten aller seiner Bürger“ entgegenkommt (Siep 2015, 11). Hegels Haltung wird klarer, wenn man erkennt, dass er nicht nur eine formale Vorstellung von gleichen Rechten unterstützt, sondern sich dafür ausspricht, dass eine formale Gleichheit – die auf die abstrakt einheitlichen Personen-, Eigentums- und Vertragsrechte ausgerichtet ist – leicht zu zahlreichen sozialen Ungleichheiten führen kann, die jene Rechte untergraben und sogar verwehren, zu denen moderne Individuen formell berechtigt sind. Wie er in seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft darlegt, fördern moderne Gesellschaften Formen des Wohlstand maximierenden Verhaltens, die nicht nur starke Ungleichheiten der Besitzverhältnisse zwischen Reich und Arm schaffen und aufrechterhalten, sondern wirtschaftliche Boom-Bust-Zyklen erzeugen, welche die systematische Verarmung einer Vielzahl von Menschen zur Folge haben. Damit gehen Formen der politischen Entrechtung einher, die viele Menschen der Freiheits- und Wohlfahrtsrechte berauben, auf die sie als Mitglieder der modernen Industriegesellschaften eigentlich ein Anrecht hätten. Daher kann eine Verpflichtung gegenüber gleichen Rechten nicht einfach die Form einer Bindung an das Prinzip formaler Gleichheit annehmen, sondern muss auch die Ungleichheiten, Entbehrungen und das tatsächliche Unrecht ansprechen, die gewisse Individuen in modernen Gemeinschaften üblicherweise erfahren – teilweise wegen der strengen Befolgung jenes Prinzips. Hegel behandelt diese Themen im letzten Abschnitt der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, in dem es um die Polizei und Korporationen geht. Während er im vorhergehenden, der Rechtspflege gewidmeten Teil eine abstrakte Auffassung von Gerechtigkeit und Gleichheit erläutert, haben Polizei und Korporation die Aufgabe, die materiellen Ungleichheiten und Formen der politischen Benachteiligung anzusprechen, die durch den Ablauf von Marktmechanismen benachteiligte Individuen erfahren. Die „Polizei“ ist eine zentralisierte, öffentliche Autorität, die nicht nur dafür zuständig ist, den Handel zu regulieren, sondern auch Ressourcen zu garantieren, die es Individuen ermöglichen, an Marktgesellschaften zu partizipieren, und den Armen und Notleidenden Hilfe zu leisten. „Korporationen“ sind sich selbst organisierende und auf die Arbeit bezogene Verbände, die sich dem Wohlbefinden ihrer Mitglieder widmen. Im Falle der Polizei bleibt das Verhältnis von Allgemeinund Einzelinteressen weitgehend „äußerlich“ und stützt sich auf formale 17  Für eine verwandte Besprechung siehe Buchwalter 2013.

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Institutionen, welche die Wohlfahrtsbedürfnisse gewöhnlicher Individuen verwalten. Im Gegensatz dazu weist die Korporation ein internes oder „immanentes“ Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem auf, wie die Gemeinschaft dem Wohlbefinden jedes einzelnen Mitglieds Beachtung schenkt, und wie einzelne Mitglieder es schätzen lernen, dass ihr persönliches Wohlbefinden mit dem der Gemeinschaft verflochten ist (Rph § 249). Im Folgenden wird die Auffassung von sozialer Gerechtigkeit in Hegels Theorie der Korporation untersucht, mit Augenmerk darauf, wie sie seine Sicht der Beziehung zwischen Religion und Politik beeinflusst. Eine zentrale Aufgabe der Korporation ist es, sich um die lebensnotwendigen Dinge der Armen und anderer zu kümmern, die durch die Dynamik der Marktmechanismen beeinträchtigt sind. Indem die Korporation aber gegenüber dem Wohlbefinden ihrer einzelnen Mitglieder verpflichtet ist, befasst sie sich dabei ausdrücklich mit den konkreten Bedürfnissen, die in rein formalen Vorstellungen gleicher Rechte vernachlässigt werden. Bezeichnenderweise ist jenes Engagement selbst jedoch in religiösen und besonders in protestantischen Überzeugungen verwurzelt. Hier lassen wir Hegels allgemeine Ansicht außer Acht, dass laut Christus für die „Armen … das Evangelium gepredigt“ werde18, weshalb ihn manche als einen christlichen Sozialisten bezeichnen19. Es genügt stattdessen, den Rang festzustellen, den der „unendliche“ Wert des Individuums in Hegels Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit einnimmt. Das Appellieren an diese garantiert das „Recht auf Leben“ („das absolut Wesentliche im Menschen“), das im Recht auf Lebensunterhalt vorausgesetzt wird. Es ist auch eine Quelle für Rechte ganz allgemein, einschließlich des Rechts auf Freiheit der Person, und auf Eigentum, die nach Hegel alle von einem absoluten Recht auf Leben abhängen20. Eine zweite Überlegung betrifft die Bedrohung der unendlichen Würde des Menschen durch die normalen Abläufe der Marktgesellschaften. Jene Abläufe und die Wohlstandsungleichheiten, die sie erzeugen, können die Lebenssituation der Armen so sehr von derjenigen der Reichen absetzen, dass die Mitgliedschaft der Ersteren in einer gemeinsamen Menschheit in Frage gestellt wird, und zwar nicht nur von den Reichen, sondern von den Armen selbst, die ihre soziale Benachteiligung zunehmend verinnerlichen. Laut Hegel befasst sich die Korporation mit diesem Problem, die ihre Mitglieder nicht für bestimmte Leistungen anerkennt, sondern allein durch den Mitgliedsstatus. Die gleiche Anerkennung erstreckt sich sogar auf die Reichen, die in der 18  Hegel/Henrich 1983, 194. Nachfolgend im Text in Klammern als PRH angegeben. 19  Harris 1983, 52. 20  Hegel, Vorlesungen 1, § 118.

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Korporation auch als solche gewürdigt werden, und nicht – wie es typischerweise in Marktgesellschaften der Fall ist – durch das äußerliche zur Schau stellen von Wohlstand. In beiden Fällen reflektiert die „körperschaftliche“ Unterstützung der innewohnenden Würde des Individuums eine weltlich realisierte religiöse Kultur, die durch die Verpflichtung gegenüber der „in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen“ belebt wird (Werke 7, § 185A). Ähnlich verhält es sich mit der Wertschätzung des Individuums in seiner Besonderheit, der in der Korporation entsprochen wird. Diese Ehre, die von Korporationen verliehen und in ihnen empfangen wird, zeichnet sich dadurch aus, dass das Individuum nicht als Träger abstrakter Rechte angesehen wird, die alle Bürger besitzen, sondern als eine Person, die sich durch besondere Fertigkeiten, Talente und das Können auszeichnet, die typisch für Mitglieder einer Korporationsgemeinschaft sind. Auf diese Weise dient die Korporation dazu, eines der zentralen Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft zu verwirklichen: die „besondere Person“ mit konkreten Wünschen und Bedürfnissen (Werke 7, § 182). Aber sie realisiert auch das protestantische Christentum, das durch die Lokalisierung des Göttlichen „in das Innerste des Menschen“21 ebenfalls den grenzenlosen Wert bestätigt, den „das Individuum als Besonderes“ hat22. Die Mitgliedschaft in einer Korporation unterscheidet noch stärker, weil das Individuum in ihr nicht nur wegen besonderer Fertigkeiten und Talente anerkannt wird, sondern als eine allgemeine Sache, die als der Anerkennung wert erachtet wird. In der Korporation wird das Individuum in seiner Besonderheit geehrt, nicht nur für ein bestimmtes Attribut, sondern weil angenommen wird, dass es ein allgemeines Recht der Besonderheit instantiiert. Diese Fähigkeit zur „vermittelte[n] Vorstellung“23 – die das Besondere als den Ausdruck von etwas Universellem erkennt (PRH 204–206) – macht den besonderen esprit de corp einer Korporationsgemeinschaft aus. Dennoch wird diese Sensibilität – die allgemeine Wertschätzung des Individuums als etwas Besonderes – auch durch das protestantische Christentum begünstigt, das „ein[en] vollkommen neue[n] Geist“ eingeführt hat (Vorlesungen 1, 415). Der Protestantismus leitete als Teil seiner „Einbildung der Vernunft in die Realität“ einen allgemeinen Bildungsprozess ein, bei dem Mitglieder einer gebildeten Menschheit einander zunehmend als besondere Individuen anerkennen, die ein allgemeines Recht auf subjektive Freiheit haben (Werke 7, § 270). In dieser Hinsicht drückt die Korporation, die selbst durch das geformt ist, was Hegel den „Reflex der 21  Hegel, Werke 20, 52. 22  Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Hegel/Ilting 1974, Bd. 4, § 255. 23  Hegel, Vorlesungen 14, 151.

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Bildung“ nennt (PRH 205), eine Dimension von christlicher Kultur aus, die eine Korporationskultur mit einem stark vermittelnden Verständnis von „allgemein“ und „besonders“ unterstützt24. Die Bedeutung von Korporationen im Hinblick auf Hegels Vorstellung von der Verbindung von Religion und Politik besteht speziell in ihrer Affinität zu seiner Anschauung von Religionsgemeinschaften, Verbände oder Gemeinden, vor allem den Hauptmitgliedern, die laut ihm einen „Kultus“ bilden. Religionsgemeinschaften und insbesondere Mitglieder von kultischen Gemeinschaften haben eine Vorbildfunktion bei der Verwirklichung des Geistes in der Welt, weil es die Aufgabe solcher „Bürger des Reiches Gottes“ (Vorlesungen 5, 254) ist, die Einheit des Menschlichen und Göttlichen in ihrem eigenen Leben und im Leben der religiösen Gemeinschaft als Ganzem zu realisieren. Motiviert durch eine „Liebe der Gemeinde untereinander“ (Vorlesungen 5, 149) versuchen die Mitglieder einer kultischen Gemeinschaft Prinzipien der Gegenseitigkeit in ihren eigenen Beziehungen zu verkörpern und gleichzeitig die Gemeinde betreffende Bedingungen für Gegenseitigkeit ganz allgemein zu formen. In vielen Hinsichten spiegelt die Korporation Merkmale einer Religionsgemeinschaft wider. Sie artikuliert nicht nur die Verbindungen von Gegenseitigkeit und Solidarität (PRH 203), die für eine geistige Gemeinschaft angemessen sind, sondern, was das Fördern einer Genossenschaft durch die Mitglieder betrifft, gelangen Korporation und Kongregation nur durch die Verpflichtung ihrer Mitglieder gegenüber der Gemeinschaft zur vollen Verwirklichung. In dieser Hinsicht ist die Korporation selbst der „Korporationsgeist“ (Werke 7, § 289A), weil sie wie eine Gemeinschaft des Geistes Realität in dem Maße erlangt, in dem diese Gemeinde reflexiv ihre eigene Gemeinschaft zum Objekt des Bewusstseins und Willens macht. Zwischen Religionsgemeinschaft und Körperschaft gibt es jedoch bedeutende Unterschiede. Der wichtigste ist der dezidiert weltliche Charakter, der die Mitgliedschaft in einer Korporation auszeichnet. Während religiöse Vereinigungen vom humanitären Appell an Prinzipien der Bruderliebe durchdrungen sind, bilden und erhalten sich Korporationen als Reaktion auf die durch das System der weltlichen Vergesellschaftung hervorgerufenen Bedrohungen, die sich aus der Dynamik der Marktgesellschaften ergeben25. Sie sind dadurch direkter auf Formen der materiellen Degradierung und rechtlichen Benachteiligung, wie sie von modernen Individuen erfahren werden, abgestimmt. Zudem richtet sich das für die Korporationsgemeinschaft typische soziale Handeln weniger auf die Förderung der sozialen Mitgliedschaft 24  Zur Rolle der Bildung in Hegels Konzept der Korporation siehe Buchwalter 2016. 25  Vgl. Houlgate 2005, 118.

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als solcher, als vielmehr auf die Berichtigung der sozialen Pathologien, die sowohl die Mitgliedschaft als auch das individuelle Wohlbefinden untergraben. Dennoch untergräbt die Anerkennung des weltlichen Charakters der Mitgliedschaft in einer Korporation in keiner Weise ihre religiöse Dimension. Man könnte sogar sagen, dass Korporationen infolge dieses Charakters „religiöser“ als Religionsgemeinschaften selbst sind. Das resultiert aus einer Auffassung von Religion, die sich an der Einheit des Endlichen und Unendlichen orientiert und selbst von einer weltlichen Verwirklichung abhängt. Was Hegel allgemein über das Christentum sagt, gilt hier ebenfalls: „Es ist darum zu tun, daß diese Versöhnung auch in dem Weltlichen vollbracht sei“ (Vorlesungen 5, 263). Es ist bemerkenswert, dass Hegel in seiner Rede zur dritten Säkularfeier der Augsburgischen Konfession 1830 bei seiner Würdigung des Protestantismus nicht explizit Theologen oder kirchliche Führer lobt, sondern jene Individuen – Fürsten, weltliche Autoritäten und Mitglieder der allgemeinen Laiengemeinschaft –, die Verantwortung für die Verwirklichung von Freiheit und Sittlichkeit in der Welt tragen26. In dieser Hinsicht ist Hegels Gemeindetheologie auch politische Theologie – im Gegensatz zu Sieps Behauptung (Siep 2015, 134 f.). Denn Hegel legt nahe, dass eine Gemeinde, die tatsächlich dem „Dienste der Gemeinde“ (Werke 7, § 270A) verpflichtet ist, nicht einfach die Form einer religiösen Körperschaft annehmen kann, die sich von anderen sozialen Einrichtungen unterscheidet. Da Hegel Religion als ein Prinzip der Vermittlung und Realisierung der Welt versteht, muss die Gemeinde ihren eigenen Ausdruck in der sozialen Welt ganz allgemein finden. Ferner basiert Hegels Befürwortung des Protestantismus auf einem Verständnis des Christentums, das nicht auf der für den Katholizismus typischen klösterlichen Absage an die weltlichen Bedürfnisse beruht, sondern darauf, wie sich die Individuen in Alltagsangelegenheiten verhalten (Werke 10, § 552). Außerdem stellt die Bemühung, trotz der unzähligen Konflikte und Spaltungen innerhalb von Korporationen eine ethische Gemeinde zu schaffen, eine lebhafte Bestätigung eines Christentums dar, das so im Begriff ist, sich „als Unterschiedenes seiner zu setzen“ (Vorlesungen 5, 216), die Kluft zwischen dem Endlichen und Unendlichen, der spirituellen Einheit und weltlichen Spaltung zu überbrücken (Werke 7, § 184). Für Hegel wird die „religiöse Gemeinschaftlichkeit“ tatsächlich in der Korporation verwirklicht (Werke 7, § 270A)27. 26  Hegel, „Rede zur dritten Säkularfeier der Augsburgischen Konfession“, in: GW 18, 429˗442. Siehe auch Ritter 1977. 27  Siehe Dickey 1987, 156. Allerdings befasst sich Dickey mit Hegels frühen Schriften und behandelt nicht speziell die religionspolitische Dimension der Korporation.

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Der Staat als irdischer Gott, Konstitutionalismus und die Idee der politischen Selbstverursachung28

Im Zentrum von Hegels Vorstellung von Protestantismus und dessen Idee des weltlich realisierten Geistes steht, wie Individuen zu dieser Verwirklichung beitragen. Für Hegel ist ein Kennzeichen der protestantischen Überzeugung, dass Individuen „durch den Prozeß an ihnen selbst diese Versöhnung vollbringen“29. Das ist auch ein Merkmal des Geistes selbst, der als Einheit der Substanz und Subjektivität für seine Realisierung nicht nur vom objektiven Ausgleich des Unendlichen und Endlichen, des Heiligen und Weltlichen und des Spirituellen und Profanen abhängt, sondern von der bewussten Bestätigung jener Vermittlung durch diejenigen, die jene weltliche Realität verkörpern. Realisierter Geist bestätigt nicht einfach eine empfangene Auffassung von Geist, vielmehr wird dieser erst in seiner bewussten Aneignung verwirklicht. Realisierter Geist ist für Hegel die sich wissende Wirklichkeit des Geistes (Werke 7, § 270A). Dieser Punkt spricht Hegels Idee des Staates als irdischem Gott und die einzigartig kreative Natur eines Gemeinwesens als Ausdruck einer christlichen „Religion der Freiheit“ an. Ein solches Gemeinwesen zeichnet sich durch Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit aus; in ihm wird Freiheit als bei sich selbst Sein verstanden. Als solches artikuliert es das protestantische Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit von Menschen und dem Göttlichen, sowie eine Vorstellung von Freiheit, die durch das Verhältnis von Individualität im Anderssein geprägt ist (Werke 20, 351 f.). Zusätzlich besteht eine politische Gemeinschaft nicht nur aus den ihr innewohnenden Beziehungen, sondern vor allem aus der reflexiven Verpflichtung gegenüber den ihr eigenen Bedingungen. Auf diese Weise artikuliert Hegels irdischer Gott, verstanden als innewohnendes Selbstbewußtsein (Werke 10, § 552), die Idee eines Geistes und besonders eine Auffassung des Protestantismus als des „Geist[es] des Nachdenkens“30. Entsprechend einer Vorstellung von Geist, dessen echte Realität nur in dem Vorgang begründet ist, dass die Substanz sich selbst unterworfen wird, entsteht das wahre Sein der Gemeinde nur in den reflexiven Prozessen der Selbstinterpretation und Selbstdefinition. In dieser Hinsicht verleiht Hegels Vorstellung von einem Gemeinwesen der absoluten Kreativität eine Stimme, die mit der göttlichen Kraft verbunden ist. Verstanden als „die Welt, die der Geist sich gemacht hat“ (Werke 7, § 272Z), oder als „die Welt des 28  Für eine ausführlichere Besprechung siehe Buchwalter 2008. 29  Hegel, Werke 19, 494. 30  Brief an Niethammer vom 3. November 1810 (Hegel, Briefe 1, 337).

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Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur“ (Werke 7, § 4), artikuliert eine richtig realisierte politische Gemeinschaft eine Vorstellung von Menschheit, wobei „der Mensch, als endlicher für sich betrachtet, … zugleich auch Ebenbild Gottes und Quell der Unendlichkeit in ihm selbst“ ist (Werke 12, 403). Hegel beruft sich für die Entwicklung einer politischen Souveränität (Werke 7, § 66; Werke 10, § 17) auch auf Spinozas Konzept der göttlichen Selbstverursachung – „ein Grundbegriff in allem Spekulativen“ (Werke 20, 168). Selbstverständlich sollte die Sprache der Selbstverursachung nicht missverstanden werden. Wenn von einem Volk gesagt werden kann, dass es sich selbst auf diese emphatische Weise bildet, dann geschieht das nicht durch eine au­ tarke Selbsterschaffung, eine Schöpfung aus dem Nichts. Ähnlich wie Edmund Burke betont Hegel, dass politische Selbstkonstitution immer vor dem Hintergrund von überlieferten Bräuchen, Traditionen und Praktiken erfolgt. Im Einklang mit dem Konzept des Geistes selbst, begründet sich eine politische Gemeinschaft tatsächlich nur durch das Erneuern und neu Formulieren ihrer Identität innerhalb der bestehenden und sich oft verändernden Bräuche, Traditionen und Praktiken. Wenn sich eine politische Gemeinschaft selbst erschafft, dann geschieht das durch den historischen Prozess, mit dem sie bestehende Realitäten wiederherstellt und dabei aktualisiert. Es geht hier in der Tat um „das in der Geschichte sich entwickelnde Prinzip eines Volksgeists“. Selbstkonstitution bezeichnet den Vorgang, in dem „ein Volk sich in der Geschichte durch sich selbst“ erschafft (Vorlesungen 1, § 134). Nichts von dem widerspricht jedoch der nachdrücklich „religiösen“ Dimension von Hegels Vorstellung von politischer Selbsterschaffung. Religion wird für Hegel durch das reformierte Christentum veranschaulicht. Für Hegels Sicht der Reformation ist es wesentlich, dass der Geist mit einer Umwandlung der bestehenden Praktiken verflochten ist – die „Durchbildung des weltlichen Zustandes durch dasselbe (das Prinzip der Freiheit)“ (Vorlesungen 1, 62, Einfügung). Die Aufgabe der Reformation ist daher an sich rekonstruktiv, um festzuschreiben: „die Gesetze, Sitten, Staatsverfassungen, und was überhaupt zur Wirklichkeit des geistigen Bewußtseins gehört, soll vernünftig werden“31. Das kann auch nicht anders sein. Wenn das Absolute oder Unendliche nur dann richtig begründet ist, wenn es sich selbst in etwas findet, das ihm fremd ist, dann hängt die göttliche Selbstverursachung von Prozessen ab, durch die sich Menschen neu interpretieren und definieren, in der anhaltenden Bemühung, sich mit den bestehenden Bedingungen ihrer Existenz abzufinden. Die Vorstellung, dass Hegels Idee von einem irdischen Gott die Form einer politischen Selbstkonstitution annimmt, mag widersprüchlich zu seinem 31  Hegel, Werke 19, 501.

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Eintreten für die konstitutionelle Monarchie erscheinen. Siep bringt dieses Argument vor, während er die vorliegende Auslegung von Hegels Position hinterfragt (Siep 2015, 127; 135 f.). Es besteht kein Zweifel daran, dass die Monarchie eine wichtige Rolle in Hegels politischen Gedanken spielt oder dass er ihr sogar einen göttlichen Status zuschreibt. Dennoch verleugnet die Anerkennung der Rolle der Monarchie nicht die wohl größere Bedeutung, die den Prozessen der politischen Selbstkonstitution in Hegels Idee von einem irdischen Gott zukommt. Es ist bemerkenswert, dass, während die Entscheidungen und das Verhalten des Monarchen verfassungsrechtlichen Vorschriften unterworfen sind, der gesetzgebende Zweig, der auf die „neue und weitere Fortbestimmung“ der Gesetze ausgerichtet ist, „selbst Teil der Verfassung“ ist (Werke 7, § 298). Dementsprechend sind die Arten von kollektiver Selbstinterpretation und Selbstdefinition, die der legislativen Entscheidungsfindung zugrunde liegen, tatsächlich Bestandteile von Prozessen der Selbstkonstitution, die im Zentrum der säkularen Theorie der göttlichen Selbstverursachung stehen, was nicht auf die Monarchie zutrifft. Hegel behauptet zwar, dass der Monarch als verwirklichte Vernunft in der Welt eine Art Gott ist, aber das bleibt ein „Naturgöttliches“, das mit der Geburt vererbt wird. Somit hat es einen konstitutionellen Status, der dem eines selbsternannten Gemeinwesens untergeordnet ist, das – mit Einschränkungen – in der Lage ist, für seine eigene Gründung zu sorgen, und die Form eines „Vernunftgöttlichen“ hat (Vorlesungen 1, § 139).

Der Staat als irdischer Gott und die Idee universeller Menschenrechte

Eine von Ludwig Siep in seinem Buch aufgestellte Behauptung ist, dass Hegels Idee von einem irdischen Gott durch jüngste historische Entwicklungen untergraben wird. Entwicklungen des internationalen Rechts und der Weltwirtschaft hätten zum Beispiel Hegels Staatszentrismus und seine Forderung nach der absoluten Autorität des souveränen Staates in Frage gestellt. Siep erwähnt demgegenüber die Rolle der universellen Menschenrechte, die für die Sicherung des Werts und der Würde des Individuums immer wichtiger werden. Dabei behauptet er nicht, dass globale Entwicklungen zum Ende des Nationalstaats führen, er vertritt vielmehr den Standpunkt, dass dieser für den Schutz der Menschenrechte unverzichtbar ist. Dennoch findet er, dass die Weltwirtschaft und die politischen Entwicklungen Fragen zu Hegels Idee von einem Staat als irdischem Gott und die damit einhergehende politische Autorität aufgeworfen haben (Siep 2015, 196–220).

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Es ist unbestreitbar, dass zum einen die Gegebenheiten der Globalisierung traditionelle Vorstellungen von Staatsherrschaft in Frage stellten, und zum anderen, dass die universellen Menschenrechte eine immer bedeutendere Rolle im normativen Diskurs spielen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Entwicklungen zum Ende der Idee von einem irdischen Gott führen, wie er von Hegel verstanden wird. In diesem Abschnitt behaupte ich nicht nur, dass das nicht der Fall ist, sondern auch, dass sie gewissermaßen aus dieser Vorstellung folgen. Dafür gebe ich zwei Gründe an: (i) Obwohl sich Hegel eindeutig für eine nationalstaatliche Souveränität einsetzt, konzentriert er sich dabei nicht ausschließlich auf den Staat, sondern darauf, wie grenzüberschreitende Verbindungen zwischen Staaten und Völkern begünstigt und geformt werden. (ii) Ein übernationaler Charakter geht mit dem hegelianischen Verständnis von universellen Menschenrechten Hand in Hand, selbst wenn dadurch die begrenzten Gemeinschaften erneut betont werden. Wie wir gesehen haben, wird Hegels Idee eines irdischen Gottes durch selbstbegründende Prozesse kollektiver Selbstkonstitution definiert und stimmt als solche mit seinem Verständnis von nationalstaatlicher Souveränität überein. Entsprechend seiner Theorie der Freiheit bedeutet Souveränität nicht einfach die Unabhängigkeit von äußerer Einmischung, wie sie mit herkömmlichen Vorstellungen von territorialer Unantastbarkeit verbunden ist. Sie bezeichnet auch nicht nur interne strukturelle Mechanismen, wie zum Beispiel die institutionellen Maßnahmen, die private und öffentliche Freiheiten der Bürger schützen und fördern. Stattdessen sind Gemeinschaften und Individuen nur dann unabhängig, wenn sie sich dieser Freiheit bewußt sind und diese selbst erschaffen. Ein souveräner politischer Körper ist in der Tat ein „an und für sich Seiendes“ (Werke 7, § 331). In dieser Hinsicht ist Selbstbewußtsein ein bestimmendes Merkmal von unumschränkten politischen Einheiten. Souveränität in einem Gemeinwesen spiegelt sich in dessen „Selbstbewußtsein über seine Wahrheit, sein Wesen und was ihm selbst als das Wahre überhaupt gilt“ (Vorlesungen, 114). Hegel versteht Selbstbewußtsein in etwa nach dem Muster von Kants trans­ zendentaler Einheit der Apperzeption und insbesondere der Idee von der Identität der Identität und des Unterschieds. Das führt zu einer Auffassung von souveräner Identität als Individualität im Anderssein. Dieser Meinung nach ist ein Gemeinwesen souverän, wenn seine Mitglieder sich im Besitz der Bedingungen wissen, die ihre Existenz gestalten, und sich in diesen erkennen. Das bestätigt eine Sicht der Herrschaft, die im Konflikt mit atomistischen und „monologischen“ Anforderungen steht. Entsprechend seiner Ablehnung einer kartesischen Vorstellung von Selbstbewußtsein behauptet Hegel, dass man sich selbst nur im Bezug zu anderen selbst als ein selbst kennen und

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verstehen kann. So in der berühmten Aussage in der Phänomenologie des Geistes: „Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein“ (PdG 144). Hegel stellt diese Behauptung im Hinblick auf die Identität von Individuen auf. Er argumentiert aber ganz ähnlich, was kulturelle Gemeinschaften betrifft, die sich als solche ebenfalls nur in Bezug auf andere Gemeinschaften begründen. Ein Volk ist durch das „Verhältnis zu anderen Nationen“ in der Lage, „sich selbst wahrzunehmen … und sein Wesen vor sich zu haben“ (Vorlesungen 1, 121). Hegel suggeriert nicht, dass eine souveräne Nation einen solchen externen Bezug nur herstellt, um eine bestehende und bereits etablierte Identität zu unterstützen. Sondern er behauptet, dass jene Identität selbst nur dann erstmals richtig gebildet ist, wenn ein Subjekt die Perspektive des anderen in seine eigene Selbstauffassung integriert. Im Einklang mit der Theorie der gegenseitigen Anerkennung, die seiner Vorstellung von zwischenmenschlichen Beziehungen zugrunde liegt, behauptet er, dass eine Gemeinschaft nur eine weitreichende Perspektive auf die eigene Selbstwahrnehmung erlangen kann, wenn sie berücksichtigt, wie sie von anderen wahrgenommen wird und jene Wahrnehmung mit ihrer eigenen Auffassung von Identität verbindet. Eine Nation wird in der Anerkennung einer anderen und durch diese „vervollständigt“ (Werke 7, § 331A). Für Hegel sind souveräne Staaten selbstbewußte Gemeinschaften, die unabhängig sind, indem sie sich ihrer Selbständigkeit bewusst sind und daher „auf der Ansicht und dem Willen des anderen“ beruhen (Werke 7, § 331). Hegels Theorie der gegenseitigen Anerkennung ist aber nicht nur für die Identität der einzelnen Staaten oder Völker wichtig, sondern behauptet auch, dass solch anerkennende Vorgänge – gewiss unbeständig und oft tragisch – eine grenzüberschreitende Form von gemeinsamer Identität, sozusagen einen Weltgeist, zur Folge haben. Der wechselseitige Prozess, durch den sich die Identitäten von Gemeinschaften gegenseitig umwandeln und (neu) gestalten, ist auch ein Vorgang der gegenseitigen Anpassung und Adaptierung, wobei Gemeinschaften dazu tendieren, ein Abkommen über gemeinsame Normen und Werte aufzusetzen und damit sogar eine geteilte Selbstidentität formen. Wie bei den Beziehungen zwischen Einzelpersonen wird auch bei den Gemeinschaften das „Ich“ zu einem „Wir“. Der dialektische Austausch von nationalem Selbstbewußtsein trägt zu einem „Trend … zu Einheit“32 bei, der im „wirkliche[n], allgemeine[n] Selbstbewußtsein“ (Vorlesungen 5, 69) gipfelt, das Hegel abwechselnd als „allgemeine Identität“ (Rph § 331A) oder als „allgemeine[n] Geist“ bezeichnet (Werke 7, § 340). 32  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, zitiert in: Avineri 1972, 207.

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Hegel charakterisiert so eine gemeinsame Identität, auch als in der Welt verwirklichter Ausdruck des Geistes verstanden, im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der „europäischen Nationen“, die zunehmend „gleichsam eine einzige Familie … nach dem allgemeinen Prinzip ihrer Gesetzgebung, ihrer Sitten, ihrer Bildung …“ bilden (Werke 7, § 339Z). Einer solchen Gemeinsamkeit liegt jedoch ein Völkerrecht zugrunde, das von einem allgemeinen Recht unterrichtet ist (Werke 7, § 333). Dieses Prinzip steht im Zentrum der internationalen Rechtsordnung, wie sie Kant in Zum ewigen Frieden skizziert33. Anders als Kant fasst Hegel Recht nicht als ein moralisches Postulat oder Prinzip a priori auf, das den Lebensformen und Selbstverständnissen der individuellen Kulturen entgegengesetzt ist. Sondern das allgemeine Recht wird von den historischen Wechselbeziehungen der Völker selbst hervorgerufen, erklärt und validiert. Hegel folgt Kant darin, die Rechte als ein universelles Prinzip darzustellen, schreibt ihnen aber keine Allgemeingültigkeit zu, weil sie eine wesentliche Eigenschaft oder Fähigkeit des Menschen artikulieren. Die Allgemeingültigkeit des Rechts ist stattdessen eine innere Allgemeinheit (Werke 7, § 339), die sich aus dem realen Vorgang ergibt, dass Personen und Völker der Welt tatsächlich Vereinbarungen über die Normen treffen, die ihre Vergesellschaftung regeln34. Es ist kein Zufall, dass für Hegel das Recht seinen vollständigsten Ausdruck in seiner Darstellung der Weltgeschichte findet, weil das Prinzip des Rechts nur in dem mühsamen Prozess der historischen Entwicklung konkret validiert und verwirklicht wird (Werke 7, § 345). Die Weltgeschichte ist zugleich das „Weltgericht“ (Werke 7, § 340). Hegel suggeriert gewiss nicht, dass das Recht ganz das Produkt von Anerkennungsverhältnissen ist. Das wird durch sein besonderes Verständnis ausgeschlossen, das in seiner Darstellung der Geschichtlichkeit der Vernunft ebenso zentral ist, dass Anerkennungsverhältnisse selbst eine vorhergehende Akzeptanz von Normen des Rechts und kooperativer Gegenseitigkeit voraussetzen. Die Anerkennung dieses Punktes widerspricht jedoch nicht Hegels allgemeiner Ansicht, dass die Gültigkeit des Rechtsprinzips selbst das Produkt von Anerkennungsverhältnissen ist. Für Hegel besitzt allgemeines Recht „an und für sich“ Gültigkeit (Werke 7, § 333). In seinem Denken bezeichnet eine solche Gültigkeit das, was nicht nur für den Beobachter, sondern auch für jene zutrifft, für die es gilt. In dieser Hinsicht erlangt dann das Prinzip der Rechte durch die tatsächlichen Prozesse Gültigkeit, durch welche 33  Kant, Zum ewigen Frieden, Werkausgabe XI, 216 f. 34  Siep folgt Hegel in seinem Geltendmachen einer Art von „historisch belehrter Vernunft“ – die weder „a priori“ noch „bloße Konventionen einer bestimmten Kultur“ ist –, um die Darstellung der Menschenrechte zu erden (Siep 2015, 203 f.).

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die Betroffenen Forderungen formulieren, anerkennen und befürworten, die Bedingungen ihrer Vergesellschaftung betreffen. So sehr diese Beziehungen der Anerkennung dann auch überkommene Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit heranziehen mögen, erlangen diese Auffassungen selbst nur in und durch historisch tatsächliche Prozesse der gegenseitigen Anerkennung Gültigkeit. In diesem Sinne ist Weltgeschichte nicht nur das Weltgericht, sondern auch das letzte Element im rechtfertigenden Programm, das Hegels philosophische Rechtswissenschaft ist, die der „Idee des Rechts“, dem „Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung“ gewidmet ist (Werke 7, § 1). Hegel unterstreicht die große Bedeutung seiner Rechtswissenschaft zusätzlich durch die Behauptung, dass entgegen dem „eingeschränkten“ Prinzip von individuellen Volksgeistern, Weltgeist die „unbeschränkte“ Verwirklichung des Rechts bezeichnet. Dabei wertet er die Bedeutung und Realisierbarkeit einzelner Volksgeister nicht ab. Entsprechend seiner Vorstellung von Dialektiken, bestätigt der Weltgeist die individuellen Gegebenheiten, selbst indem er sie übertrifft. Der Weltgeist ist aber nur insofern „unbeschränkt“, als er als solches wahrgenommen und verstanden wird (Werke 7, § 340). Dennoch hängt eine solche Erkenntnis von der gleichzeitigen Wertschätzung dessen ab, was klar, differenziert und abgegrenzt ist. Während darüber hinaus der Weltgeist für Hegel die endgültige Verwirklichung der Vernunft in der Welt ist, führt seine Erlangung nicht zur Beendigung eines Konflikts oder zur Weiterentwicklung. Als des Geistes „unendlicher Kampf gegen sich selbst“ (VPWG 152) wird dieser in der fortwährenden Interaktion der Völker und Gemeinden fortgesetzt, die die Natur und Bedingungen ihrer Anerkennungsverhältnisse schaffen und wiederherstellen. Als das „absolute“ Recht in der Philosophie des Rechts ist der Weltgeist außerdem keine definitive Darstellung des Rechts selbst, sondern vielmehr – als die Tätigkeit des Geistes, „sich für sich selbst auslegend zu erfassen“ (Werke 7, § 343) – ein Ausdruck der Reflexion der Mitglieder der Weltgemeinschaft, die gemeinsam die Bedingungen ihrer Vergesellschaftung definieren und neu formulieren. Zusammenfassend stellt Hegels Idee des Staates als eines irdischen Gottes eine ausdrückliche Bestätigung der nationalstaatlichen Souveränität dar. Damit präsentiert Hegel aber keine atomistisch-ausschließende Sicht von Staaten oder eine realistische Betrachtung der internationalen Beziehungen. Ausgehend von einer Sicht der Souveränität, die als intersubjektiv aufgefasste Selbstidentität verstanden wird, behauptet er nicht nur, dass Staatssouveränität mit einer starken internationalen Zusammenarbeit kompatibel ist, sondern er fordert auch, dass die Bildung einer richtigen Identität einer Souveränität mit dem Verfassen und Wiedereinsetzen eines Abkommens über grenzüberschreitende Normen und Werte einhergeht. In einer solchen Vereinbarung ist auch

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eine allgemeine Darstellung von gegenseitigen Rechten und Pflichten enthalten – Prinzipien, die sowohl die Prozesse untermauern als auch aus diesen entspringen, in denen die Menschen und Völker der Welt die Bedingungen ihrer Vergesellschaftung schaffen und wiederherstellen. Während solche Rechte und Pflichten dazu dienen, die eng auf den Staat konzentrierte politische Souveränität zu begrenzen und zu hinterfragen, sind sie dennoch mit dem Fortbestehen unumschränkter politischer Einrichtungen vereinbar. In der Tat wird eine verbindliche globale Gerechtigkeit, einschließlich einer, die die universellen Menschenrechte skizziert, genau in dem Vorgang geklärt und konkretisiert, in dem Nationen und Völker die Bedingungen ihrer Vergesellschaftung und ihr Verständnis von souveräner Identität definieren und umformulieren. Diese Überlegungen verdeutlichen die einzigartige Rolle, die Hegel und die auf ihm basierenden Analysen für die Besprechung von Kosmopolitismus, grenzüberschreitender Gerechtigkeit und universellen Menschenrechten spielen können35. Aber sie geben auch Aufschluß über seine Ansichten zur Beziehung von Religion und Politik: Einerseits ist Hegels Vorstellung von einem irdischen Gott mit einer universellen Auffassung von Menschenrechten kompatibel und von dieser abhängig. Andererseits verläuft die Umsetzung einer solchen Vorstellung in gleicher Form wie die korrekte Verwirklichung des Staates als eines irdischen Gottes. In dieser Hinsicht nimmt die Realisierung des Geistes in der Welt nicht nur beschränkte und unbeschränkte Formen an, sondern erfolgt durch deren komplexe gegenseitige Durchdringung. Mit theologischeren Begriffen ausgedrückt führt die Verwirklichung eines bestimmten Volksgeistes zu einem allgemeinen Geist, der in seiner „absoluten“ Dimension die Form eines „göttlichen Geistes“ annimmt (VPWG 60). Dennoch ist es in Hegels Verständnis des Christentums der Fall, dass ein solcher Gott als Einheit von Endlichem und Unendlichem zu individuellen Volksgeistern führt und diese einbezieht. Darüber hinaus hängt die Instantiierung oder „Menschwerdung“ (VPWG 126) des weltlich realisierten Geistes von einer Gemeinschaft von Nationen ab, deren Auffassungen von selbstbewusster Identität nach Hegels intersubjektiver Idee das allgemeine Selbstbewußtsein, das selbst verwirklichter Geist ist, bekräftigen, verfügen und erzeugen. Hegels Idee des Staates als eines irdischen Gottes hat einen göttlichen Geist zur Folge, der das Prinzip von Freiheit und Recht ausdrückt, genauso wie jener Geist von den Erfahrungen einzelner politischer Gemeinschaften gestützt wird, die durch das Formen gemeinsamer Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit als weltliche Gottheit richtig realisiert sind. 35  Siehe Buchwalter 2012.

Elemente von Hegels politischer Theologie

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Schlussbemerkung In diesem Beitrag wurden verschiedene Elemente von Hegels Darstellung der Beziehung zwischen Religion und Politik berücksichtigt und jene hervorgehoben, die sich auf die aktuellen Bedingungen und die Wirklichkeit beziehen lassen. Seine Auffassung stützt ein liberal-pluralistisches Gemeinwesen, das sowohl den Staat als einen neutralen Schiedsrichter gegenüber unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Werten als auch das politische Ethos betrifft, das für die Unterstützung und Erhaltung liberaler Institutionen nötig ist. Außerdem wird ein solches Ethos nicht nur als der abstrakten und formal einheitlichen Vorstellung von Rechten und Freiheiten verpflichtet aufgefasst, sondern als eines, das sich mit den materiellen Benachteiligungen und Ungleichheiten befasst, die bestimmte Individuen in modernen Gesellschaften erfahren. Darüber hinaus führt es zu einer Betrachtung der politischen Legitimität, die mit der Fähigkeit einer Gemeinde verbunden ist, sich an historisch sensiblen Praktiken der Selbstkonstitution zu beteiligen. Es bestätigt auch den Staat als irdischen, weltlichen Gott, der eine Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Gemeinschaften mit sich bringt und fordert, und der selbst zur Förderung und Aufrechterhaltung einer Weltkultur mit gemeinsamen Normen und Werten beiträgt. Im Zentrum dieser Kultur steht eine Vorstellung von einer grenzüberschreitenden Gerechtigkeit und von Rechten, die im andauernden Austausch und in der gegenseitigen Anpassung der nationalen und transnationalen, globalen und lokalen, beschränkten und unbeschränkten Überlegungen geformt, validiert und gepflegt werden. Hegel entwickelt diese Forderungen natürlich durch eine Interpretation und Aneignung des Christentums, vor allem des protestantischen Glaubens. In dieser Hinsicht ist seine Haltung von einer Engstirnigkeit geprägt, die im Widerspruch zur globalen Erweiterung steht, die für eine umfassende und derzeit praktikable Darstellung der Beziehung zwischen Religion und Politik erforderlich wäre. Hegels Auffassung kann hierbei nicht einfach durch Berufung auf u.a. seine heterodoxe Sicht des Christentums, sein universalis­ tisches Verständnis jener Religion oder die Tatsache, dass er vorwiegend in einem protestantischen kulturellen Kontext schrieb, entschärft werden. Diese Beschränkung darf aber nicht von seinem allgemeinen und anhaltenden Wert ablenken, und auch nicht von der Möglichkeit, eine stärker ökumenische Bedeutung herauszuarbeiten, die in Hegels eigener Sicht fehlt. Eine solche Anpassung wird in der Tat von Hegels Philosophie selbst vorgeschrieben. Im Gegensatz zu Denkern wie Schleiermacher stellte Hegel klar, dass der bleibende und „lebendige“ wahre Wert des historisch überlieferten philosophischen

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Inhalts nur in seiner zeitgenössischen Aneignung geklärt wird36. Hier geht es um ein „zugleich Empfangen und Antreten der Erbschaft“37. Das Ziel dieses Beitrags war nicht, systematisch die Elemente einer ökumenischen Wiederaneignung aufzuzeigen. Das Verständnis von Hegels Darstellung der Beziehung zwischen Religion und Politik mit Hilfe von Kernelementen seines Denkens (z.B. die Theorie der Dialektik, Selbstreflexivität und gegenseitige Anerkennung) bietet jedoch einige Hinweise darauf, wie eine derartige Aufnahme und weitere Ausarbeitung aussehen könnte38.

36  Siehe Gadamer 1975, 158–161. 37  Hegel, Werke 18, 22. 38  Dieser Aufsatz erscheint auch in englischer Sprache in der Zeitschrift Symposium: Canadian Journal of Continental Philosophy / Review canadienne de philosophie continentale Bd. 21, Nr. 1 (Frühling 2017), 138–161. Er wurde aus dem Englischen übersetzt von Gudrun Dauner.

Religion in der modernen Demokratie

Ein Vergleich zwischen Hegels offenbarer Religion und Rawls’ öffentlicher Vernunft Arthur Kok Einleitung Wenn Hegel in § 270 der Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) das Verhältnis zwischen Staat und Religion thematisiert, vertritt er zwar die Trennung von Staat und Religion als notwendig, sagt aber zugleich, dass Religion nichtsdestoweniger eine „Grundlage“ des Staates sei1. Nach dieser zweiten Bedeutung des Verhältnisses von Staat und Religion fungiert die Religion als die „sittliche Gesinnung“ der Staatsbürger, den staatlichen Gesetzen nicht bloß äußerlich zu gehorchen, sondern sie ebenso innerlich zu wollen. Sie widerspricht nicht unbedingt der von Hegel vertretenen Trennung von Staat und Religion, doch relativiert gewissermaßen ihre allzu absolutistischen Konsequenzen. Einerseits gründet Hegel den Staat in der Philosophie und im vernünftigen Denken, was der primär mit dem Gefühl verknüpften Religion entgegengesetzt ist, andererseits aber behauptet er auch, dass die Entgegensetzung von Religion und Philosophie bloß ihre Form betrifft: sie haben denselben Inhalt. Der Inhalt, der philosophisch gedacht werden kann, kann also religiös gefühlt werden. Es ist typisch für Hegel, dass er die Seite des Gefühls, die in der Religion kultivierte Empfindlichkeit, für den unentbehrlichen Boden des Selbstbewusstseins der Staatsbürger hält. In diesem Beitrag untersuche ich, inwiefern die Entwicklung des religiösen Geistes, obwohl Teil seiner Philosophie des absoluten Geistes, für die Entwicklung des objektiven Geistes, insbesondere die Bildung, eine Bedeutung haben kann. Ausgangspunkt ist dabei, dass, indem Philosophie und Religion für Hegel Mittel zum selben Zweck sind, die Religion zur Entwicklung des Individuums zum Staatsbürger beitragen kann, wenngleich diese Entwicklung an sich selbst die des Begriffs ist. Diese von mir beabsichtigte Anwendung kommt in Hegels Rechtsphilosophie nicht vor, weil sie mit einem spezifischen Bedürfnis der modernen Demokratie, nämlich Staatsbürger mit einem demokratischen Bewusstsein haben zu wollen, zu tun hat. Das, was dieser Absicht gemäß als ‚Religion‘ zu bezeichnen ist, muss daher zuerst näher abgegrenzt werden. Dazu zwei Vorbemerkungen. 1  Hegel, GW 14, § 270, 257 f.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_016

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Erstens: die philosophische Bestimmung der Religion ist nicht nur von ihrer empirischen Bestimmung zu unterscheiden, sondern hat auch das Primat. Die Tatsache, dass wir überhaupt von Religion sprechen können, ist nicht empirischen Ursprungs. Die empirische Weltanschauung bleibt immer daran gebunden, die objektive Welt quasi als eine unmittelbare, natürliche Wirklichkeit zu betrachten. Sie ist daher nicht im Stande, das Moment der Subjektivität als im Objektiven wesentlich tätiges Element aufzufassen. Doch die religiöse Welt, die hier zu betrachten ist, ist immer Einheit von Objektivität und Subjektivität. Auch die Objektivität der Gesellschaft ist eine mit Subjektivität durchdrungene Objektivität, und in der modernen Gesellschaft ist diese Durchdringung sogar im Selbstbegriff der Gesellschaft explizit geworden. Die philosophische Frage, was Religion ist, kann daher gar nicht empirisch, d.h. unvermittelt, gelöst werden, weil die Religion selbst eine vermittelte Struktur hat und selber Vermittlung ist – zwischen Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft, aber auch zwischen Wirklichkeit und Vorstellung. Zweitens: im Religionskapitel der Phänomenologie des Geistes differenziert Hegel zwischen Naturreligion, Kunstreligion und offenbarer Religion2. Nur die dritte Religionsform, die offenbare Religion, ist eine Religion der Bildung, weil erst in ihr die mythologischen Vorstellungen der Natur- und Kunstreligion getilgt sind und es um die Vorstellung der geistigen Individualität überhaupt geht. Die offenbare Religion ist eine der Modernität angemessene Religionsform, wohingegen die Kunstreligion zu einer Gesellschaft gehört, die das Moment der Bildung noch nicht anerkennt; oder sie gehört zu dem, was ich im Folgenden als „traditionelle Gesellschaft“ bezeichne, deren Konzeption an Hegels „sittlichen Geist“ anschließt3. Ihr allgemeines Kennzeichen ist die unmittelbare und restlose Partizipation des natürlichen Individuums an dem gemeinschaftlich gestalteten guten Leben. In dieser Gestalt kann die geistige Individualität noch nicht adäquat ausgedrückt werden, weil das natürliche 2  Hegel, GW 9, 363 f. 3  Vgl. Hegel, GW 9, 701, wo er den Anfang der offenbaren Religion so beschreibt: „Die Religion der Kunst gehört dem sittlichen Geiste an, den wir früher in dem Rechtszustande untergehen sahen, d.h. in dem Satze: das Selbst als solches, die abstrakte Person ist absolutes Wesen. Im sittlichen Leben ist das Selbst in dem Geiste seines Volks versenkt, es ist die erfüllte Allgemeinheit. Die einfache Einzelheit aber erhebt sich aus diesem Inhalte, und ihr Leichtsinn reinigt sie zur Person, zur abstrakten Allgemeinheit des Rechts. In dieser ist die Realität des sittlichen Geistes verloren, die inhaltsleeren Geister der Völkerindividuen sind in ein Pantheon versammelt, nicht in ein Pantheon der Vorstellung, deren ohnmächtige Form jeden gewähren läßt, sondern in das Pantheon der abstrakten Allgemeinheit, des reinen Gedankens, der sie entleibt und dem geistlosen Selbst, der einzelnen Person, das Anundfürsichsein erteilt.“

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Individuum mit seiner Rolle in einer bestimmten Gemeinschaft zusammenfällt. Eine traditionelle Gesellschaft hat zwar Religion, und vom Gesichtspunkt der Gesellschaft sind ihre religiösen Vorstellungen absolut, aber von außen betrachtet sind ihre mythologischen Vorstellungsweisen und ihre rituelle Praxis mitsamt der bestimmten Werte, die sie ausdrücken, nur von relativer Bedeutung. Für die traditionelle Gesellschaft ist dies kein Problem, weil ihre Werte geteilte sind; aber die moderne Gesellschaft erfordert eine Religion, die diese Außenperspektive gewissermaßen verinnerlicht hat. Eine bildende Religion normiert nicht nur, sondern ihre Normierung ist selbst normiert: sie muss schon durch sich selbst über die Beschränkung ihrer religiösen Vorstellung hinausgehen.

Religion innerhalb der Philosophie des objektiven Geistes

Innerhalb des Ganzen der hegelschen Philosophie präsentiert die Rechtsphilosophie die Philosophie des objektiven Geistes. Die systematische Entfaltung des objektiven Geistes stellt eine dialektische Entwicklung dar: die Philosophie des objektiven Geistes fängt mit einem Gegensatz an, nämlich zwischen dem Subjekt und seiner objektiven Realität, und die Extreme dieses Gegensatzes lassen sich am Ende versöhnen. Im objektiven Geist werden Individuum und Staat, Recht und Moralität vereinigt. Gegen diesen dialektischen Fortgang erhebt Cobben (2001) den Einwand, dass Hegels Rechtsphilosophie eine zu einseitige Ausarbeitung dessen ist, was seine ganze Philosophie eigentlich zu bieten hat. Nach Cobben führt Hegels ganze Philosophie zu einem Verhältnis von absolutem und objektivem Geist, das nicht bloß dialektisch ist. Sowohl in der Phänomenologie des Geistes als auch in der Philosophie des absoluten Geistes im letzten Teil der Enzyklopädie betont Hegel, dass der absolute Geist sich zwar objektiv verwirklichen muss, aber zugleich jede mögliche Verwirklichung übersteigt. Als überhistorischer Begriff bleibt er allezeit prinzipiell von der Sphäre der Objektivität unterschieden, weil er immer über sie hinausgeht. Deshalb ist der Gegensatz nicht in jeder Hinsicht relativ, und daher auch nicht endgültig dialektisch aufzuheben. Cobben schlägt eine Aktualisierung der hegelschen Rechtsphilosophie vor, die als eine aktualisierende Reflexion über das Verhältnis von Gesellschaft und Religion, und damit auch von Staat und Religion, zu verstehen ist. Im Lichte der nach-hegelschen Philosophie ist diese Lesart der hegelschen Philosophie vor allem deshalb überzeugend, weil sie einerseits die Einseitigkeit der dialektischen Entwicklung anerkennt, andererseits aber auch, dass Hegel gerade in seiner Philosophie des absoluten Geistes diese

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Einseitigkeit überwindet. Eine adäquate Aktualisierung der hegelschen Rechtsphilosophie wäre also eine Neukonstruktion der Entfaltung des objektiven Geistes, in der das vollständige Verhältnis des absoluten und objektiven Geistes zum Ausdruck kommt – d.h. sowohl das Dialektische als auch das nichtDialektische dieses Verhältnisses. Die Verhältnisformen des absoluten Geistes (Kunst, Religion, Philosophie) müssen innerhalb der rechtsphilosophischen Institutionen (Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat) eine objektive Gestalt bekommen, ohne der Eigenständigkeit des objektiven Geistes, oder der des absoluten, Abbruch zu tun. Ein solches Vorhaben ist wohl der heutigen Tendenz, die z.B. bei Siep und Honneth zu finden ist, – nämlich den Begriff des absoluten Geistes aus Hegels Philosophie wegzuschneiden – entgegengesetzt; dennoch nimmt es die Einwände z.B. Adornos und Habermas’ gegen das hegelsche dialektische Denken sehr ernst. Bestritten wird aber deren Ansicht, Hegels Begriff des absoluten Geistes sei eine Verabsolutierung dialektischer Verhältnisse. Im Gegenteil, unter dem Gesichtspunkt des absoluten Geistes wird gerade die unauflösbare Endlichkeit des objektiven Geistes als solche anerkannt. Wir können also die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion mit der Frage nach der Erscheinung des Verhältnisses des absoluten und objektiven Geistes auf der Ebene des objektiven Geistes verknüpfen. Dasjenige, was erscheinen muss, ist nicht eine verabsolutierte dialektische Bewegung, sondern vielmehr diejenige Bewegung, in der die kantische Idee der Freiheit (die alles andere bedingt, aber selbst unbedingt ist) sich in der Welt verwirklicht. In der Religion der Bildung ist die Freiheit in diesem doppelten Sinn, als ‚normierte Normativität‘, unbedingter Inhalt der Religion. Gewissermaßen hat Hegel die Religion in dieser Bedeutung in seine Philosophie des objektiven Geistes aufgenommen: Wenn in der Religion als solcher der Mensch das Verhältniß zum absoluten Geiste als sein Wesen weiß, so hat er weiterhin den göttlichen Geist auch als in die Sphäre der weltlichen Existenz tretend gegenwärtig, als die Substanz des Staats, der Familie, u.s.f.4. Diese Religion ist nach Hegel wahre Religion, weil der Mensch, der zu dieser Vorstellung fähig ist, weiß, dass Freiheit das Absolute ist und dass sie sich im Objektiven verwirklichen muss. Hier zeigt sich die bloß förmliche Unterscheidung zwischen Religion und Philosophie, weil Hegel hier religiös ausdrückt, was er in § 4 der Grundlinien der Philosophie des Rechts philosophisch ausdrückt, nämlich, dass die objektive Welt die Verwirklichung der 4  Hegel, GW 20, § 482, 495–6.

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Freiheit sei. Ebenso enthält Hegels berüchtigter Satz aus § 270 der Grundlinien, dass der Staat der göttliche Wille auf Erden sei, nichts, was wir nicht durch die Philosophie für wahr einsehen können. Die Religion hat im objektiven Geist einen Platz, sogar nach ihrem adäquaten Verständnis als Vorstellung des Verhältnisses des objektiven und absoluten Geistes. Sie erklärt uns auf vorstellungshafte Weise, dass es in der Gesellschaft um Freiheitsverwirklichung geht. Ihre Darstellung ist jedoch unbefriedigend, weil Hegel die Religion nicht als Resultat der Bildung entwickelt und die Bildung zur Freiheit nicht primär als Bildung zur Religion auffasst. Es könnte natürlich sein, dass Hegel die Vorstellung der Freiheit für etwas Unwichtiges hält, weil sie im Vergleich zum begrifflichen Verstehen immer inadäquat ist. Doch Hegel würdigt die Religion des Protestantismus als adäquate Vorstellung des philosophischen Inhalts des Rechts explizit und betrachtet sie sogar als historische Bedingung der modernen Gesellschaft. Er hat es dennoch unterlassen zu fragen, an welche institutionellen Bedingungen eine solche Religion der Freiheit gebunden ist. Erstens ist zu betrachten, ob es außer dem Protestantismus im Prinzip auch andere Religionen der Freiheit geben könnte. Die Antwort auf diese Frage scheint mir ein einfaches Ja zu sein. Die religiöse Vorstellung überhaupt ist an die Trennung von Form und Inhalt gebunden, und dass die religiöse Form niemals ihrem Inhalt adäquat ist, ist ein allgemeines Merkmal der Religion. Mannigfaltigkeit der religiösen Formen ist also nicht auszuschließen. Das bedeutet übrigens nicht, dass jede Religion eine Religion der Freiheit ist. Offensichtlich kann eine bestimmte Religion sich anderen Religionen und sonstigen Weltanschauungen gegenüber intolerant verhalten, und diese Intoleranz ist philosophisch nicht zu rechtfertigen. Zweitens ist zu betrachten, ob die kulturelle Errungenschaft einer Gesellschaft, eine Religion der Freiheit entwickelt zu haben, nicht bloß historisch, sondern überhaupt durch die Zeit bedingt ist und also verloren gehen kann, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen ihres Daseins nicht mehr gegeben sind. Könnte Hegel sich den Verlust einer Religion der Freiheit vorstellen, der die Religion als Grundlage des objektiven Geistes, so wie der Protestantismus zu Hegels Zeit funktionierte, untergraben würde? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten.

Hegels Begriff des absoluten Geistes und die Mannigfaltigkeit der Religionen

Im Anschluss an Habermas vertritt Cobben den Standpunkt, dass es unter den Bedingungen der multikulturellen Gesellschaft keine universell geteilte

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Vorstellung der Freiheit und damit auch keine gesellschaftlich geteilte Religion mehr gibt. Religion kommt dadurch heute nicht nur als pluralistisches Phänomen vor, sondern ihr pluralistischer Charakter ist mehr als die bloße Mannigfaltigkeit der Religionen, die z.B. im Hinblick auf die Religionsfreiheit thematisch ist. Pluralismus in diesem Sinn war auch für Hegel schon vorhanden. Pluralismus in jenem Sinn bedeutet aber, dass die Religionen auf eine solche Weise voneinander unterschieden sind, dass sie innerhalb der Gesellschaft nicht länger für kulturellen Zusammenhang sorgen können. Obgleich Hegel die multikulturelle Gesellschaft nicht thematisiert hat, sollten wir nicht denken, dass sie eine seiner Philosophie gänzlich fremde Gestalt ist. Sie ist mit ebenso großem Recht als fortschreitende Entwicklung in der welthistorischen Verwirklichung der universellen Freiheit und Gleichheit aller Menschen sowie der Anerkennung des absoluten Wertes jedes einzelnen Menschen als freie Person anzusehen – eine Entwicklung, die gerade für Hegel historisch mit dem Aufstieg der christlichen Religion angefangen hat5. So betrachtet erwächst gerade unter diesem sozial-historischen Umstand der multikulturellen Gesellschaft die Forderung, dass Religion in zunehmendem Maße offenbare Religion, d.h. Religion der Bildung, sein soll. Selbstverständlich müssen die bestimmten christlichen Religionen im Zeitalter kultureller Vielfalt eine gewisse Relativierung erdulden, aber der Gedanke, dass mit dem Grundgedanken des Christentums, dass jeder Mensch einen absoluten Wert hat, bereits die Möglichkeit der multikulturellen Gesellschaft gegeben ist, ist mit Hegels Philosophie sehr wohl vereinbar. Der religiöse Pluralismus der multikulturellen Gesellschaft lässt sich deshalb nicht mit Bezug auf die empirische Mannigfaltigkeit der Religionen verstehen; aber Hegels Begriff des absoluten Geistes lässt Raum für eine andere Art des Pluralismus. In diesem Begriff des Absoluten ist die Einheit der Philosophie der Mannigfaltigkeit der Religionen entgegengesetzt, im Sinne eines relativen Gegensatzes von Begriff und Vorstellung: diese ist möglich, jener ist notwendig. Dass die Mannigfaltigkeit der Religionen bloß möglich ist, hat mit der innerlich inadäquaten Ausdrucksweise der religiösen Vorstellungen zu tun. Ihr Inhalt ist zwar absolut, aber ihre Form des Ausdrückens nicht. Nur in der Form des Begriffs, in der der absolute Inhalt vollständig zu sich selbst kommt, sind Form und Inhalt letztlich in Einheit zu denken. Den Begriff zunächst als Einheit von Form und Inhalt zu bestimmen, um ihn dann als adäquate Form des absoluten Inhalts zu qualifizieren, scheint auf den ersten Blick tautologisch zu sein. Die Tautologie verschwindet jedoch, wenn wir den absoluten Inhalt auch tatsächlich als absoluten Inhalt, d.h. als Unbedingtes, als 5  Vgl. Hegel, GW 20, § 482, 495.

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Freiheit, betrachten. Da die offenbare Religion deswegen offenbar ist, weil sie zum Ausdruck bringt, dass der Mensch frei ist, macht sie sich ein Ansichsein zum Inhalt, das seiner Natur nach über alle Vorstellung hinausgeht. Indem diese geoffenbarte Einsicht in der offenbaren Religion auf vorstellungshafte Weise konzipiert wird, ist die Einsicht mit ihrem Inhalt nicht identisch. Dieser Widerspruch zeigt die Unmöglichkeit, die innerlichste und tiefste Wahrheit der religiösen Vorstellung selbst noch als religiöse Vorstellung auszudrücken. Der Übergang zum absoluten Wissen, in dem der Widerspruch zwischen der Vorstellung und ihrem Inhalt aufgelöst wird, ist deshalb nicht als ein einmaliger und definitiver Fortschritt von der Religion zur Philosophie zu verstehen. Das absolute Wissen bezieht sich durchaus sowohl auf den Begriff als auch auf die Vorstellung, es umfasst beides, aber sie sind ihm nicht gleichwertig. Es wäre sinnlos, die Vorstellung ausschließlich mit der Religion und den Begriff ausschließlich mit der Philosophie zu verknüpfen: Religion ist vielmehr das begreifende Vorstellen, und Philosophie der Begriff dieser Vorstellung. Die Trennung zwischen Religion und Philosophie verschwindet hier nicht; im Gegenteil, die Philosophie stellt sich gerade als die einzige Garantie dafür heraus, dass es auf der Ebene der Vorstellung überhaupt etwas Wirkliches und Vernünftiges zu verstehen gibt. Solange religiöse Vorstellungen die Wirklichkeit, die sie zu identifizieren haben, nicht wirklich identifizieren, bleiben sie bloß mögliche Perspektiven, die erst Religionen sind, insofern sie das Absolute tatsächlich zu ihrem Inhalt gemacht haben. Mit anderen Worten: nur durch die Philosophie kann es die Gewissheit geben, dass es Religion gibt. Der Unterschied von Religion und Philosophie lässt sich in den Begriffen von Einheit und Mannigfaltigkeit verstehen. Die Mannigfaltigkeit der Perspektiven tritt aus der bloß möglichen Anschauung des Absoluten hervor, dennoch: unter der Voraussetzung, dass in einer Perspektive etwas Wirkliches identifiziert wird, ist diese Perspektive eine Religion. Erstens gilt, dass nur die Philosophie diese Voraussetzung erhellen und ihre Geltung prüfen kann. Zweitens gilt, dass die Philosophie nichts Weiteres ist als diese Erhellung der Voraussetzung der Religion, etwas Wirkliches vorzustellen. Drittens, gerade weil Philosophie bloß diese Erhellung und nichts Weiteres ist, ist sie überhaupt im Stande, die Mannigfaltigkeit der Perspektiven aufzuheben. Indem sie die Mannigfaltigkeit nicht dem religiösen Inhalt, sondern der Form der Religion zuschreibt, zeigt sie zwar die unauflösbare Beschränkung der Religion bezüglich dieser Mannigfaltigkeit auf, aber rettet zugleich die Einheit deren Inhalts mit ihrem eigenen – und damit das Absolute als Inhalt der Vorstellung überhaupt. Religiöser Pluralismus ist demzufolge nicht lediglich die Feststellung der empirischen Mannigfaltigkeit der Religionen, sondern der normierende Anspruch an die Religion, genau diese Reflexion über ihren

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Vorstellungscharakter vollzogen zu haben und den Unterschied zwischen dem vorstellenden Denken und dem Begriff dieser Vorstellung anzuerkennen. Hegel bezeichnet in der Rechtsphilosophie den Protestantismus als die wahre Religion, weil er anerkannt hat, dass das Absolute die Freiheit ist, die sich verwirklichen soll. Zumindest eine historische Religion ist also imstande gewesen, die normativ geforderte Reflexion tatsächlich zu vollziehen. Dass diese wahre Religion die Form des Protestantismus angenommen hat, war offensichtlich nicht unbedingt notwendig, aber dass es historisch eine Religion, in der es explizit um die Offenbarung der Freiheit geht, gegeben hat, ist für die Möglichkeit der modernen Gesellschaftsordnung, ja sogar für die Möglichkeit von Hegels eigener Philosophie absolut unentbehrlich. Darüber hinaus ist heute die Einsicht gewonnen, dass der Protestantismus bloß ein Beispiel für eine Religion der Freiheit ist und dass es immer neue Religionen der Freiheit geben kann. Ebenso ist es nicht vernünftig zu wünschen, dass die Philosophie Religion am Ende überflüssig macht, sondern, dass alle Religionen am Ende Religionen der Freiheit werden. Es ist die Frage, ob dieses Verständnis der Religion heute ausreichend anerkannt wird. Im kulturrelativistischen Verständnis der multikulturellen Gesellschaft wird eine solche reflektierte Religionsform durch die einseitige Bestimmung des religiösen Pluralismus für unmöglich gehalten; in der erneuerten Suche nach geteilten Werten wird der innere Pluralismus nicht ernst genommen. Diesen beiden einseitigen Auffassungen entgegenstrebend, wird hier der Versuch unternommen, die Möglichkeit der wahren Religion über die Grenzen der bestimmten Religionen hinaus zu denken. Die allgemeine Bildung zur Staatsbürgerschaft erfordert in einer multikulturellen Gesellschaft eine religiöse Bildung, in der diejenigen religiösen Vorstellungen, die zu den historischen Möglichkeitsbedingungen des modernen, auf universelle Freiheit gegründeten Staates gehören, auch zu religiösen Vorstellungen der Bürger dieser Gesellschaft gemacht werden.

Über die Möglichkeit der Religion in der demokratischen Gesellschaft

So selbstverständlich es ist, dass die multikulturelle Gesellschaft durch eine empirische Mannigfaltigkeit der Religionen gekennzeichnet ist, so wenig selbstverständlich wäre es, wenn wir uns bei unserer Untersuchung auf die empirische Mannigfaltigkeit beschränken würden. Denn bezüglich unseres Kriteriums, der Freiheit, gibt es gar keinen empirischen Maßstab. Unser Gegenstand sollen zunächst nicht die verschiedenen empirischen Religionen

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sein, sondern die politische Philosophie von John Rawls, weil diese gewissermaßen einen Begriff der Mannigfaltigkeit enthält, die nicht bloß empirisch ist. Sein politischer Liberalismus stellt den Versuch dar, einen vernünftigen Pluralismus zu denken, welcher die empirische Existenz des Pluralismus rechtfertigt und als notwendig anerkennt6. Jeder Mensch, jedes Individuum hat eine ‚umfassende Doktrin‘ (comprehensive doctrine). Diese Doktrin ist vernünftig, insofern die aus ihr hervorgehenden politischen Werte (an anderen Werten als den politischen ist Rawls nicht interessiert) auf allgemeine Zustimmung anderer vernünftiger Wesen rechnen können. Die Gründe und Motive, aus denen Menschen die vernünftigen Werte unterstützen und für sich selbst legitimieren und für wahr halten, sind aber nicht allgemein mitteilbar, sondern gelten nur innerhalb einer gewissen umfassenden Doktrin. Da wir weder über die Perspektive unserer bestimmten Doktrin hinausgehen, noch von ihr unabhängig über die Vernünftigkeit unserer Werte urteilen können, lässt sich bei Rawls nicht leicht feststellen, wie wir uns genau vergewissern können, dass unsere Doktrin vernünftige politische Werte hervorbringt. Die wohlwollendste Lesart ist die: eine umfassende Doktrin wäre vernünftig, wenn sie in ihrem Versuch, eine universelle Vernünftigkeit zu begründen, ein nicht zu befriedigendes Bedürfnis der Argumentation und Begründung erführe, wodurch sie sich ihrer eigenen Beschränktheit bewusst würde. Das ist es, was Rawls als die ‚Last des Urteils‘ (burden of judgment) bezeichnet. Die Tatsache, dass jede umfassende Doktrin vernünftig ist, insofern sie die Last des Urteils anerkennt, ermöglicht den Vergleich mit Hegels Begriff der offenbaren Religion. Ohne die vielen tiefgreifenden Differenzen zwischen Rawls und Hegel ignorieren zu wollen, muss ein produktiver Vergleich beider mit einem positiven Anknüpfungspunkt anheben: Wie die Last des Urteils zwischen den für Rawls letztendlich individuellen Werten und den politischen Werten, die eine gewisse Allgemeingültigkeit haben, vermittelt, so können wir auch die offenbare Religion als eine Vermittlung verstehen, nämlich zwischen der Gesellschaft (unter dem subjektiven Gesichtspunkt betrachtet) und ihrer objektiven Realität im auf vernünftigen Werten gegründeten Staat. Jedoch ist das Problem bei Rawls, dass insbesondere seine Auffassung des Individuums nach hegelschen Maßstäben als zu unreflektiert zu gelten hat – was einerseits in seinem Kontraktualismus, andererseits in seiner Ansicht, dass Moralität, Religion und Philosophie letztendlich Konstruktionen von Werten sind, zum Ausdruck kommt. Aus Sicht der hegelschen Philosophie ist ein Vergleich dennoch fruchtbar, wenn dadurch gezeigt werden kann, dass Rawls’ Ziel, eine 6  Rawls 1993.

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demokratische und multikulturelle, aber ebenso nach vernünftigen Gesetzen funktionierende Gesellschaft zu denken, auch mit Hegels Philosophie zu erreichen ist – und zwar viel besser, als Rawls es selbst getan hat.

Hegels Philosophie des objektiven Geistes als Grundlage demokratischer Entscheidungsprozesse Bereits der frühe Rawls bekennt sich selbst nicht nur zum Liberalismus, sondern auch ausdrücklich zur Tradition des Kontraktualismus7, die Hegel zu seiner Zeit jedoch stark kritisiert hat. Rawls’ Modell der demokratischen Konstitution basiert dabei nicht lediglich auf der Philosophie Lockes, auf welche Rawls’ liberalistische Theorie der Grundrechte (basic rights) offensichtlich zurückgreift, sondern greift ebenso auf Rousseau zurück: eine vernünftige Konstitution muss auf Allgemeinheit Rücksicht nehmen, und gerade in diesem Sinn ist Rawls’ Kontrakttheorie eine modifizierte (rationalisierte) Version von Rousseaus sozialem Kontrakt8. Hegel schätzt Rousseaus Erfindung des Begriffs eines allgemeinen Willens (volonté générale), aber kritisiert seine Vorstellung des allgemeinen Willens als eines Kontrakts. Die anfängliche Genialität des rousseauischen Gedankens, dass eine vernünftige Gesellschaft sowohl ein Allgemeines als auch ein Wille sein soll, geht unmittelbar wieder verloren, indem der allgemeine Wille als durch die voluntative Entscheidung vieler vereinzelter Willen zustande gebracht vorgestellt wird9. Im Grunde trifft diese Kritik auf jede Theorie der demokratischen Konstitution der Demokratie zu. Sie bringt ein nicht zu lösendes Problem mit sich: nämlich, dass demokratische Entscheidungsprozesse immer eine Übereinstimmung des allgemeinen und einzelnen Willens voraussetzen müssen, die jedoch niemals selbst Resultat eines solchen Entscheidungsprozesses sein kann. Der allgemeine Wille ist erst an sich vernünftig und damit in der Tat demokratisch, weil er den einzelnen Willen unmittelbar zum Ausdruck bringt. Dies kann ein Entscheidungsprozess keineswegs leisten, da er eine Vermittlung ist. Dennoch: die unmittelbare Einheit des einzelnen und des allgemeinen Willens ist gerade dasjenige, was Hegel in seiner Philosophie des objektiven Geistes als die dialektische Einheit des Besonderen und des Allgemeinen 7  Rawls 1971. 8  Vgl. meinen Artikel: Kok 2015. 9  Vgl. Hegel, GW 14, § 258: „Allein indem er den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens … und den allgemeinen Willen nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Willen als bewußtem hervorgehe, faßte, so wird die Vereinigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür, Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat …“

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entwickelt und dargestellt hat: sie ist die Einheit von Recht und Moralität. Die grundlegende Einsicht hinter diesem dialektischen Entwicklungsgang ist, dass das rousseauische Paradox – der Mensch sei frei geboren, aber liege überall in Ketten10 – ein falscher Gegensatz ist. Als Naturwesen ist der Mensch nicht frei. Die Verwirklichung der Freiheit erfordert ein freies Verhältnis zur Natur, das nur zustande kommt, indem wir uns zu den Dingen nicht bloß als Naturdingen verhalten, sondern in ihnen unsere Freiheit antreffen. Dazu ist eine Rechtsordnung, in der die Dinge allseitig als Eigentum anerkannt werden, notwendig. Dieses Recht kann zwar als Zwang erfahren werden, weil sie den besonderen Willen der allgemeinen Form des Anerkennens unterwirft, aber es ist offensichtlich keine Kette, weil sie gerade die Natürlichkeit im Willen zurückdrängt, um Freiheit zu ermöglichen. Dies bedeutet nicht, dass das Recht eine vollständig adäquate Verwirklichung der Freiheit wäre. Das Recht, das die Eigentumsordnung und somit die mögliche Verwirkli­ chung der Freiheit sicherstellt, kann sich vielmehr gegen das Individuum und seine Freiheit kehren. Diese Gewalt des Rechts ist nicht ein Missbrauch des Rechts, z.B. die physische Machtausübung des Kollektivs gegen das Individuum, d.h. sie ist keine gewollte Unfreiheit, die sich den Schein der Freiheit anmaßt, sondern ist die Willkür und Zufälligkeit, die der herrschenden Eigentumsordnung wesentlich zugehört – ob nämlich ein Individuum imstande ist, in einer bestimmten Eigentumsordnung seine Freiheit zu verwirklichen, bleibt immer zufällig. Diese Äußerlichkeit des Rechts wird in der Moralität aufgehoben, weil erst in der Moralität die Freiheitsverwirklichung des einen Individuums unmittelbar als diejenige des anderen aufgefasst wird. Hegel vergleicht den Gesichtspunkt der Moralität mit Kants kategorischem Imperativ, dass der besondere Wille die Form eines allgemeinen Gesetzes haben soll, was wir auch so auffassen können, dass die volonté générale zum inneren Ausgangspunkt des individuellen Handelns gemacht wird. Die moralische Freiheit ist der rechtlichen entgegengesetzt, weil in jener der besondere Wille die Allgemeinheit unmittelbar aus sich selbst hervorbringt, wohingegen in dieser der besondere Wille sich einer vorgegebenen allgemeinen Sphäre unterwirft. In dieser unmittelbar gesetzten Einheit des Allgemeinen und des Besonderen geht jedoch die ebenso wesentliche Unterscheidung zwischen Besonderheit und Allgemeinheit verloren. Es ist nämlich nicht mehr zu bestimmen, in welcher Hinsicht ein besonderer Wille, der sich selbst unmittelbar als allgemeiner Wille verwirklicht, noch besonderer

10  Rousseau, Du contrat social, Livre I, Chapitre 1.1: „L’homme est né libre, et partout il est dans les fers.“

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Wille ist, obgleich es zur Verwirklichung des moralisch Guten notwendig ist, dass das allgemein Gute Verwirklichung des besonderen Willens ist. Die Lösung dieses Widerspruchs ist die Sittlichkeit, in der Recht und Moralität immer schon als die einander wechselseitig voraussetzenden Momente innerlich aufeinander bezogen sind. Das Dialektische dieser Lösung ist nicht, dass die sittliche Ordnung das logische Resultat der einseitigen Position des Rechts einerseits und der einseitigen Position der Moralität andererseits ist. Die Sittlichkeit kann nicht logisch-dialektisch abgeleitet werden, sondern beruft sich auf die wirkliche vorhandene Gesellschaft, von der wir sagen können, dass sie, insofern sie überhaupt eine Ordnung darstellt und nicht in Gewalt zerfällt, immer schon die Einseitigkeiten des Rechts und der Moralität überwunden zu haben scheint. Denn gerade wegen ihrer Einseitigkeit müssen Recht und Moralität, als verselbstständigte Momente, immer in Gewalt münden. Dass die vorhandene Gesellschaft tatsächlich auch als die Lösung des Widerspruchs begriffen werden kann, ergibt sich allerdings erst, wenn wir sie als ein dialektisches Verhältnis von Recht und Moralität rekonstruieren. Als Mitglied einer Gesellschaft partizipiert das Individuum immer schon an einem allgemeinen Willen, der dem besonderen Willen nicht entgegengesetzt ist, indem die vorhandene Gesellschaftsordnung ihren umfassenden Gesichtspunkt des allgemeinen Willens mit den existenten Eigentumsverhältnissen versöhnen kann. Dazu ist es erforderlich, dass der allgemeine Wille dieser Gesellschaft so beschaffen ist, dass er die herrschenden Eigentumsverhältnisse als das transformative Element zwischen sich und den besonderen Individuen setzt. Hier entsteht die Institution der bürgerlichen Gesellschaft, als vermittelnde Institution zwischen Familie und Staat, die es den individuellen Bürgern ermöglicht, einen Bildungsprozess zu vollziehen, in dem sie sich durch ihre Besonderheit hindurch den Standpunkt des allgemeinen Willens aneignen können. Diese Bildung ist erst durch die Anerkennung der bürgerlichen Gesellschaft durch den Staat möglich, und der Staat ist zu dieser Anerkennung imstande, weil er die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft als notwendiges Mittel zur Verwirklichung des höchsten Zweckes, der Freiheit, einsehen kann. Folgendes ist festzuhalten: die Dialektik von Recht, Moralität und Sittlichkeit, sowie diejenige von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat, bringt eine Versöhnung des besonderen und des allgemeinen Willens zustande, die lediglich von Gnaden der Verhältnisse der Institutionen zueinander existiert. Es gibt weder einen chronologischen Fortgang, in dem die Institutionen ineinander auf- oder übergehen, noch ist die dialektische Struktur die Blaupause einer ‚machbaren‘ Gesellschaft. Die Philosophie des objektiven Geistes rekonstruiert eine existente Ordnung, was eben am Übergang von der Moralität zur

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Sittlichkeit explizit wird, weil dort erhellt, dass die Einheit des besonderen und des allgemeinen Willens immer schon realisiert sein soll. Trotzdem gibt es in der Philosophie des objektiven Geistes das Problem, dass das Verhältnis der immer schon wirklichen Gesellschaft zur absoluten Idee der Freiheit in diesem dialektischen Verhältnis nicht verstanden, sondern bloß in ihrer Einheit gesetzt wird. So fällt die Einsicht der Bürger in ihre Freiheit praktisch mit der Partizipation an einer Gesellschaft zusammen und wird hierdurch vollständig zu einer Leistung der Gesellschaft, nicht zu der eines Individuums, gemacht. Somit wird die Einsicht, dass die wirkliche Gesellschaft Verwirklichung eines Absoluten ist, d.h. der Inhalt der Religion, im objektiven Geist nicht auf freie und absolute, sondern bloß auf vorgegebene und also endliche Weise zum Ausdruck gebracht.

Die öffentliche Vernunft als freies Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat Es ist die Frage, wie Hegels Philosophie des objektiven Geistes sich zu Rawls’ rationalisierter Version des rousseauischen Gesellschaftsvertrags verhält. In seinem Gesellschaftsvertrag wird die Übereinstimmung des einzelnen Willens mit dem allgemeinen nicht voluntativ zustande gebracht, sondern beruht auf rational überzeugenden Gründen. Obwohl diese rationalen Gründe allgemeingültig und vernünftig sind, macht Rawls insbesondere in seinem politischen Liberalismus geltend, dass es keinen universellen Standpunkt der Vernunft gibt. Die vernünftige Forderung, dem Gesellschaftsvertrag zuzustimmen, impliziert deshalb letztendlich, dass das einzelne Individuum aus seiner bestimmten umfassenden Doktrin heraus, vermittelt über die Last des Urteils, politische Werte hervorbringen kann. Die Möglichkeit, auf diese Weise vernünftige und allgemeingültige Gründe zu erfinden, ist nach Rawls eine Sache der ‚öffentlichen Vernunft‘: What public reason asks is that citizens be able to explain their vote to one another in terms of a reasonable balance of public political values, it being understood by everyone that of course the plurality of reasonable comprehensive doctrines held by citizens is thought by them to provide further often transcendent backing for those values11. Zugunsten von Rawls können wir sagen, dass er mit seinem Begriff der öffentlichen Vernunft versucht, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, d.h. zwischen einzelnem und allgemeinem Willen, prinzipiell als ein freies 11  Rawls 1993, 243.

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Verhältnis zu denken. Diesem Verständnis nach ist Rawls’ Theorie der öffentlichen Vernunft mit dem Gegenstand unserer Untersuchung zu vergleichen, wie das freie Verhältnis des objektiven und absoluten Geistes, welches in der Philosophie des absoluten Geistes thematisch ist, innerhalb der Philosophie des objektiven Geistes adäquat erscheinen kann. Dann ist also die Frage, ob Rawls’ politischer Liberalismus eine adäquate Ausarbeitung dieses Punktes ist. Rawls entlehnt seinen Freiheitsbegriff grundsätzlich der Tradition des Liberalismus, insbesondere von Locke und J.S. Mill. Liberalismus ist nicht selbstverständlich mit Demokratie vereinbar: liberale Grundrechte sind in erster Linie Naturrechte, die – wo nötig – gegen die öffentliche Meinung geschützt werden müssen. Rawls behauptet, eine liberalistische umfassende Doktrin könne zwar demokratische Werte hervorbringen, aber eine wirklich politische Übereinstimmung von Liberalismus und Demokratie sei erst in Form eines politischen Liberalismus möglich. Wie gesagt, ist eine umfassende Doktrin das Ganze der Wünsche und Überzeugungen eines besonderen Individuums. Die vereinzelten Wünsche und Überzeugungen, die sowohl intuitiv als auch rational sein können, heißen ‚Werte‘ (values). Nach Rawls hat ein Individuum eine Menge moralischer, religiöser und philosophischer Werte, die in einem mehr oder weniger zusammenhängenden Entwurf des Lebens (plan of life) zu einem Ganzen zusammengebracht werden. Ein solches Ganzes zu haben ist die eigentliche Bedingung dafür, dass ein Individuum überhaupt politische Werte (die auf allgemeine Zustimmung rechnen können) haben kann. Indem der Liberalismus sich nicht auf Werte überhaupt, sondern lediglich auf politische Werte beschränkt, ist er politischer Liberalismus. Ausgangspunkt des politischen Liberalismus ist, wie gesagt, dass es keine universell gültige umfassende Doktrin gibt. Politische Werte können zwar als Naturrecht behauptet werden, aber dadurch allein haben sie noch keinen Anspruch auf Allgemeinheit. Diesen Anspruch haben sie nur, indem sie demokratisch legitimiert werden. Wahre politische Werte sind deshalb weder rein liberal noch rein demokratisch, sondern müssen sowohl liberal als auch demokratisch sein. Zum Beispiel: im Liberalismus hat jedes Individuum das Naturrecht, durch nichts anderes als die eigene Entscheidung mit einer gewissen umfassenden Doktrin übereinzustimmen. Dieser Wert gilt aber nicht deswegen politisch, weil er ein Naturrecht ist. Innerhalb einer anderen umfassenden Doktrin könnten vielleicht andere Argumente gefunden werden, um dieselben universellen Werte zu rechtfertigen. Die Vernünftigkeit in der umfassenden Doktrin ist gerade diese Offenheit, dass die Gründe, durch welche politische Werte gerechtfertigt werden, immer bloß mögliche Gründe sind. Diese Einheit von Demokratie und Liberalismus nennt Rawls ‚die Priorität des Rechts‘ (the priority of right). Die Kritik des Libertarismus an Rawls, dass die

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Forderung der Vernünftigkeit durch die Priorität des Rechts gegen die Freiheit gerichtet wäre, ist selbstverständlich falsch, weil es ohne Vernunft gar keine Freiheit gibt. Dass Rawls am Ende gleichwohl daran scheitert, Liberalismus und Demokratie zu vereinigen, hat vor allem damit zu tun, dass Liberalismus überhaupt nicht mit Freiheit vereinbar ist: es ist gar nicht möglich, unter der Priorität des Rechts die Wirklichkeit der Freiheit zu denken. Kritik der Priorität des Rechts und des Primats der Werte Dass der Begriff des Rechts im engen Sinn sich wesentlich in Eigentums­ verhältnissen, d.h. in der Sphäre des Meines und Deines, in der meine Freiheit der des Anderen gegenübersteht, ausdrückt, bestreiten weder Rawls noch Hegel. Dieser Begriff des Rechts lässt Raum für besondere Freiheit, aber das Recht selbst ist allgemein. In diesem Sinne ist der Ausgangspunkt des Rechts die Freiheit und Gleichheit aller Bürger, was J.S. Mill in On Liberty genauso sieht wie Hegel. Doch anders als Hegel behauptet Mill, dass mit dem Prinzip des Rechts der formelle Zusammenhang der Gesellschaft, die allgemeine Sphäre in ihrer Totalität, schon erfasst sei. Mill bestimmt diese Priorität des Rechts wie folgt: All that makes existence valuable to any one, depends on the enforcement of restraints upon the actions of other people12. Diese Formulierung ist bei Mill ausdrücklich gegen die Demokratie gekehrt: das Recht soll das Individuum vor der Willkür der Macht der Mehrheit schützen. Diese Willkür ist mit dem zu vergleichen, was bei Hegel als die Zufälligkeit der Eigentumsverhältnisse auftritt. Die Macht der Mehrheit ist überhaupt als eine Willkür zu begreifen, weil es zufällig bleibt, ob die Mehrheit das Dasein des einzelnen Individuums anerkennt. Nun verteidigt Rawls nicht die Diktatur der Mehrheit, sondern will gerade das Prinzip des Rechts als Resultat eines demokratischen Prozesses entwickeln. Doch gerade als dieser Begriff des Rechts im engen Sinne, nämlich als die bloße Begrenzung der Freiheit des Anderen, kann das Recht nicht positiv als Freiheitsverwirklichung verstanden werden. Der Zweck des Rechts im engen Sinne ist der Schutz der Freiheit des Einzelnen. Dazu ist erstens zu bemerken, dass der Schutz des Individuums vor der ungehinderten Freiheit der Anderen ebenso der Schutz der Freiheit der Anderen ist. Denn ohne diesen den Anderen begrenzenden Schutz würde die Freiheit der Anderen nur als Macht der Willkür und somit nicht als Freiheit erscheinen. Ein vollständiger Begriff des Rechts im engen Sinne muss nun diese 12  Mill, 2002 (orig. 1859), 4.

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Wechselseitigkeit adäquat ausdrücken, was erst geschieht, indem die Einheit der eigenen Freiheit mit der Freiheit der Anderen betont wird. Bei Hegel haben wir bereits gesehen, dass erst in dieser Einsicht, die zur Moralität führt, der allgemeine Gegensatz des Rechts aufgehoben wird. Doch in der Priorität des Rechts wird dieser Schluss nicht gezogen. So bleibt es gänzlich unbestimmt, ob die Aktivität der Anderen Freiheit oder bloße Willkür ist. Doch dann weiß ich ebenso wenig, ob meine Freiheit im Verhältnis zu den Anderen als Freiheit oder als Willkür erscheint. Wie ist es noch möglich, unter dieser Bedingung das Individuum positiv als frei anzuerkennen? Wenn mit der Priorität des Rechts gemeint sein soll, das Individuum solle als Individuum geschützt werden, so müsste dies der Fall sein. Doch dann wäre die Entgegensetzung zwischen Mein und Dein im Rechtszustand nicht mehr vorhanden; und es kann von einer wechselseitigen Anerkennung überhaupt nicht mehr die Rede sein. Also: was wird eigentlich durch die Priorität des Rechts bestimmt? Zweitens ist noch ein anderes Element, welches Rawls von Mill übernimmt, näher zu betrachten: die Werttheorie. Letztendlich ist für Rawls’ politische Philosophie nicht relevant, ob eine umfassende Doktrin moralisch, religiös oder philosophisch ist. Eine Doktrin besteht aus Werten, subjektiven Präferenzen, und in diesem Sinne sind alle Elemente einer Doktrin in der Tat gleichwertig. Der Unterschied zu Mill besteht darin, dass Rawls auch die Priorität des Rechts selbst zum Wert macht. Sie stellt einen besonderen Wert dar, weil sie Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat. In diesem Sinne ist Rawls’ Theorie der politischen Werte eine Gestalt der intersubjektiven Werttheorie. Rawls entwickelt diese Position als Kritik an Kant: sein kategorischer Imperativ präsentiere eine bestimmte Handlungsmaxime, die aber gleichzeitig universellen Charakter hat, was nach Rawls andere mögliche moralische Bestimmungen ausschließt. Nun ist es aber ein Missverständnis zu meinen, dass der kategorische Imperativ eine bestimmte Maxime sei (Kant behauptet genau das Gegenteil13), aber dieses Missverständnis ist insofern nachvollziehbar, als Rawls Moralität nach liberalistischem Modell als Wert auffasst. Aufgrund einer solchen Reduktion der Moralität auf subjektive Präferenzen kann bei Rawls der Übergang aus der Beschränktheit des Rechts in die Moralität, wie er bei Hegel vollzogen wird, nicht gedacht werden. Doch dies führt zu einem nicht mehr zu lösenden Problem. Eine sinnvoll mit sich selbst zusammenhängende umfassende Doktrin soll nicht als ein Sammelgefäß voller Präferenzen gedacht werden, sondern die vielen subjektiven Präferenzen müssen in derjenigen Einheit zusammengenommen werden, die die Freiheit des Individuums zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus 13  Vgl. meinen Artikel: Kok 2016.

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muss diese Einheit nicht lediglich an sich, sondern auch für dieses Individuum selbst sein, d.h. sie soll vorgestellt und verstanden werden. Diese Einheit ist nicht beliebig, sondern gerade die notwendige Bedingung dafür, dass eine umfassende Doktrin politische Werte hervorbringen kann. Wer keinen Begriff von sich selbst hat, kann auch nicht frei sein. Mit Hegel bei der Hand können wir gewissermaßen sagen: der anfängliche Begriff des Individuums von sich selbst ist der moralische Standpunkt, die Vorstellung dessen ist die Religion, und das Wahre dieser Vorstellung ist die Philosophie, in der letztlich explizit wird, dass der absolute Inhalt der Moralität in der Welt verwirklicht werden soll. Die allgemeine Einsicht, die diesem Dreischlag zugrunde liegt, ist, dass das Recht ohne diese drei Elemente für das Individuum keine Substantialität hat. Ohne ein solches Selbstverständnis kann kein Individuum wissen, dass es selbst der Inhalt des Rechts ist. Wenn aber Moralität, Religion und Philosophie eine substantielle Bedeutung für die Möglichkeit des Individuums, sich überhaupt als Selbst zu verstehen, haben, sind sie nicht bloß Werte – und deshalb mit der Priorität des Rechts unvereinbar. Indem Rawls die Anerkennung der Priorität des Rechts als Bedingung einer freien und demokratischen Gesellschaft aufstellt, tut er gerade etwas sehr Unvernünftiges. Unter der Bedingung der Priorität des Rechts ist es nämlich unmöglich, eine umfassende Doktrin zu haben, die dazu imstande ist, politische Werte hervorzubringen. Einerseits wird das Individuum aufgefordert, eine Konzeption des guten Lebens zu entwickeln: einen moralisch, religiös und philosophisch durchdachten Lebensentwurf, der vernünftige politische Werte hervorbringt. Andererseits wird behauptet, dass diese Konzeption des guten Lebens erst dann vernünftige politische Werte hervorbringt, wenn die Konzeption des guten Lebens relativiert wird und sich nicht als solche durchsetzt, also nur, insofern eine Konformität mit anderen Konzeptionen des guten Lebens erwartet werden kann. Rawls bemerkt scheinbar nicht, dass dies entgegengesetzte Forderungen sind. Mit Vernunft kann nämlich nichts Anderes gemeint sein, als dass das Individuum in der Ausübung seiner Freiheit auch tatsächlich seine Freiheit, und nicht eine Willkür gegen Andere, ausübt. Freiheit ist absolut. Das Kriterium ist also, ob in der Handlung etwas Absolutes verwirklicht wird oder nicht. Wer durch die Priorität aufgefordert wird, jeden Absolutheitsanspruch unmittelbar zu relativieren, kann niemals seine Freiheit verwirklichen. Die tatsächliche Forderung, sowohl an das Individuum als auch an die Gesellschaft, ist daher: wie lässt sich die Verwirklichung des Absoluten (ohne welche es überhaupt keine wirkliche Freiheit gibt) zugleich als eine bloß mögliche Verwirklichung denken? Hegels Lösung ist im Grundriss die bessere: das Recht muss in die Moralität übergehen, aber das Recht bleibt darin zugleich als

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die Verwirklichung der Moralität aufbewahrt, nämlich als die für die Moralität ebenso notwendige Aufbewahrung des Verhältnischarakters des besonderen und allgemeinen Willens. Es war bei Hegel die Frage, wie nun dieses Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft als ein freies zu denken sei, und es gab Hinweise, dass Rawls genau letzteres zu denken versucht. Jetzt aber sehen wir, dass es Rawls nicht gelingt, die Gesellschaft überhaupt als Bedingung der Erscheinung der Freiheit des Individuums zu denken. Um dieses Problem zu lösen, muss aufgezeigt werden, wie das Handeln des Individuums in der Gesellschaft als etwas Absolutes angesehen werden kann.

Offenbare Religion als transformative Kraft der öffentlichen Vernunft Nun können wir sagen, dass die Möglichkeit einer öffentlichen Vernunft (public reason) nichts anderes ist als die Möglichkeit, dass das Handeln des einzelnen Individuums innerhalb der Sphäre des Objektiven, obgleich es immer etwas Relatives ist, zugleich als etwas Absolutes erscheint. Um näher zu betrachten, was öffentliche Vernunft in dieser Hinsicht bedeuten könnte, sehen wir uns Rawls’ Bemerkungen zur Sklaverei in der Geschichte Amerikas an. Heute ist es für uns selbstverständlich, dass eine aufgeklärte Verfassung wie die amerikanische die Freiheit aller Bürger als ein Grundrecht in Ehren hält, was mit Sklaverei offensichtlich unvereinbar ist. Jedoch hat es in Amerika um die Abschaffung der Sklaverei viel Streit gegeben. Da Rawls die Wirkung moralischer Argumente als transformative Kräfte der herrschenden politischen Verhältnisse systematisch ablehnt, ist es interessant zu rekonstruieren, wie Rawls diesen politischen Fortschritt (auch für Rawls ist die Abschaffung der Sklaverei ein Fortschritt, nur nicht ein moralischer) für möglich hält. Zuallererst behauptet Rawls, dass eine Gesellschaft, welche die Sklaverei aufrechterhält, keine „geregelte Gesellschaft“ (well-ordered society) sei, aber gerade aufgrund dieses Umstands können sich eigentlich keine politischen Werte entwickeln, die die Sklaverei in Frage stellen: Recall that the abolitionists agitated for the immediate, uncompensated, and universal emancipation of the slaves as early as the 1830s, and did so, I assume, basing their arguments on religious grounds14. Erstens stellt Rawls also dar, dass der Verweis auf religiöse Gründe bedeutet, dass die Abolitionisten innerhalb ihrer umfassenden Doktrin gewisse Argumente entwickelten, die auf privaten, nämlich religiösen, Werten 14  Rawls 1993, 249.

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gründeten. Gleichwohl behaupteten die Abolitionisten, dass ihre privaten Werte politische Werte waren. An dieser Stelle beschreibt Rawls die transformative Wirkung der öffentlichen Vernunft: On this account the abolitionists and the leaders of the civil rights movement did not go against the ideal of public reason; or rather, they did not provided they thought, or on reflection they would have thought (as they certainly could have thought), that the comprehensive reasons they appealed to were required to give sufficient strength to the political conception to be subsequently realized15. Wie wird hier der Übergang von privaten zu politischen Werten vollzogen? Rawls meint zurecht, dass Werte, die dem vorhandenen politischen Diskurs absolut fremd sind, sich niemals politisch durchsetzen können. Es muss irgendwo einen Bezugspunkt geben. Politische Werte können nur politisch zustande kommen. Nun ist der Grund, den Rawls dafür angibt, dass die Werte des Abolitionismus sich als politische Werte durchsetzen könnten, dass diese Werte der politischen Konzeption der politischen Verfassung überhaupt mehr angemessen waren als die damals verwirklichte politische Verfassung (die Sklaverei legitimierte). Anders gesagt: obgleich die Werte des Abolitionismus gegen die herrschende öffentliche Vernunft gingen, konnten sie politisch werden, weil sie der eigentlichen Bedeutung der konstitutionellen Werte mehr recht taten. Diese Analyse weist darauf hin, dass Rawls eine verborgene vorpolitische Übereinstimmung privater und politischer Werte voraussetzt – eine ursprüngliche Übereinstimmung zwischen Werten einer umfassenden Doktrin und politischen Werten außerhalb des Prozesses der demokratischen Konstitution. Das freie Verhältnis zur Gesellschaft, d.h. die intersubjektive Übereinstimmung mit ihren Gesetzen, ist in der Tat nur möglich für ein Individuum, das seine Freiheit in der Gesellschaft schon anerkannt hat. Dazu müssen die politischen Werte einer Gesellschaft auf eine gewisse Weise immer schon die Werte der individuellen Bürger sein, nicht bloß auf einer objektiven Ebene, sondern eben auch auf einer absoluten. Diese absolute Anerkennung des demokratischen Prozesses kann niemals in einem demokratischen Prozess objektiviert werden. Rawls hat zwar eingesehen, dass eine politische Konzeption des allgemeinen Willens jenseits sowohl des Objektiven als auch des Intersubjektiven ist, aber den Grund, warum dies so ist, hat er nicht angegeben. Er kam nicht auf den Gedanken, dass das in der Demokratie gesetzte freie Verhältnis zwischen 15  Ibidem, 251.

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Individuum und Gesellschaft impliziert, dass das Individuum sich erst als frei in der Gesellschaft anerkennt, indem es in dieser Anerkennung zugleich anerkennt, dass es nicht mit der bestimmten Gesellschaft, in der er sich anerkennt, zusammenfällt, sondern diese nur eine mögliche Verwirklichung seiner Freiheit ist. Ein solch doppeltes Verhältnis lässt sich auf Basis der Werttheorie überhaupt nicht begreifen. Daraus ergibt sich die Aufgabe, das Verhältnis von Recht und Wert neu zu reflektieren – was im Ausgang der Philosophie Hegels auch möglich ist. Während Rawls versucht, Recht und Wert positiv aufeinander zu beziehen, zeigt Hegel, dass Recht im engen Sinn gerade die Vernichtung aller Werte ist. Dass ein Anspruch auf geteilte Werte unmöglich ist, ist gerade die Einsicht, die in der Darstellung der Gesellschaft als Eigentumsordnung explizit wird. Das Recht schützt die Werte nicht, sondern ist die absolute Negativität aller Werte, das absolute Nichts-Sein der Werte im Lichte der Absolutheit der Freiheit. Jeder Wert kann durch einen anderen ausgetauscht werden. Demzufolge resultiert der Versuch, die an sich negative Kraft des Rechts positiv zu bestimmen, z.B. als Schadensprinzip (Mill) oder Grundrechte (Locke), immer in einem Unding, auch wenn dieses Unding als Resultat eines demokratischen Entscheidungsprozesses gefasst wird (Rawls). Die wahre Anerkennung des Rechts in seiner Positivität besteht daher erstens in der Anerkennung seiner Macht als Negatives, und zweitens in der Anerkennung dieser Negativität als Freiheit. In Hegels Rechtsphilosophie ist die Rechtspflege, das zweite Moment der bürgerlichen Gesellschaft, vielsagenderweise durch den ‚Verlust der Sittlichkeit‘ vermittelt16. Der Verlust der Sittlichkeit ist die absolute negative Macht gegen die Sittlichkeit, aber nicht bloß destruktiv. Im Gegenteil: er ist die Anstiftung, durch die die Sittlichkeit durch eine dialektische Entwicklung zum Selbstbewusstsein gelangen kann. Die Voraussetzung dieser Entwicklung ist nämlich, dass jener absolute Geltungsanspruch der Werte oder jenes Systems der Werte zugrunde gegangen ist; eine Voraussetzung, die erst durch die rein negative Macht des als Zwang (coercion) erscheinenden Rechts wirklich vorhanden ist. Doch diese Möglichkeitsbedingung der dialektischen Entwicklung, dass der Verlust der Sittlichkeit als Zwang auftritt, ist selbst nicht mehr dialektisch zu verstehen. Der Zwang des Rechts ist nämlich sowohl absolute Negation der Sittlichkeit als auch Sittlichkeit in Form der Freiheit. Dasjenige, was Zwang auf eine noch rein formale Weise ausdrückt, ist also, dass die Wahrheit der Sittlichkeit über alle wirkliche Sittlichkeit hinausgeht, weil sie 16  Hegel, GW 14, § 181, 186.

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über alle Wirklichkeit hinausgeht17. Dies erschließt nun die wahre Bedeutung des Übergangs zur Moralität, nämlich, dass der im Recht noch implizit bleibende absolute Inhalt, d.h. der Tatbestand der anfänglich bloß negativen Macht gegen die Sittlichkeit, als das absolute Wesen der Sittlichkeit explizit wird. Dies bedeutet sodann nicht, dass die Moralität den im Zwangscharakter des Rechts scheinbar verloren gegangenen sittlichen Inhalt wiederherstellen würde, sondern: das scheinbar unmoralische Element des Rechts, sittliche Werte nicht herstellen zu können, erweist sich gerade als seine eigentliche Moralität.

Epilog: Offenbare Religion im objektiven Geist als Kritik aller Werte?

Das freie Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft hängt nicht von geteilten Werten ab, aber von einer historisch vermittelten Reflexion über die Bestimmung des guten Lebens. Jede Konzeption des guten Lebens ist eine niemals rein persönliche oder individuelle Angelegenheit, sondern macht immer Anspruch auf geteilte Werte. Das Problem bestand von Anfang an darin, dass innerhalb einer solchen unmittelbaren geteilten Konzeption des guten Lebens ein freies Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht gedacht werden kann. Gerade in der unmittelbaren Wertegemeinschaft fallen Individuum und Gemeinschaft in eines. Eine philosophische Reflexion über die Wertegemeinschaft ist möglich, wenn wir annehmen, dass in der Wertegemeinschaft Freiheit verwirklicht wird. Insofern sie nämlich Freiheitsverwirklichung ist, ist in ihr ein freies Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft möglich. Um die Harmonie der Gemeinschaft innerlich durchschauen zu können, muss sie zuerst für das reflektierende Bewusstsein bloß äußerlich gegeben sein. Die Möglichkeitsbedingung dieser Reflexion ist der (auch historische) Untergang der Wertegemeinschaft, welchen Hegel in der Rechtsphilosophie als Verlust der Sittlichkeit darstellt. Die nicht-dialektische Voraussetzung der dialektischen Entwicklung der Rechtsphilosophie – nämlich, dass es sinnvoll ist, über die objektive Wirk­ lichkeit als Freiheitsverwirklichung zu sprechen – lässt sich innerhalb der Rechtsphilosophie als Verlust der Sittlichkeit wiederfinden. Dieser Verlust ist deshalb ebenso Inhalt der wahren Religion. Die wahre Religion bringt also zur Vorstellung, dass die die Sittlichkeit vernichtende Macht der Anfang des Werdens der wahren Freiheit ist. Indem die wahre Religion auf diese Weise die 17  Vgl. Cobben 2002, 172: „Nur ein Selbst, das aus der Wirklichkeit zu sich selbst zurückgekehrt ist, kann das Gute als sein inneres absolutes Wesen aufbewahren.“

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Wirklichkeit normiert, Verwirklichung der Freiheit zu sein, wird sie zugleich selber normiert – sonst wäre sie nämlich keine wahre Religion. Es ist das gemeinschaftliche Kennzeichen aller Religionen, das Absolute als wirklich vorzustellen, doch dieses Absolute als Freiheit vorzustellen ist das, was eine Religion zur wahren Religion macht. Im Hinblick auf einen besseren Begriff der multikulturellen Gesellschaft ergibt sich daraus einerseits, dass der Säkularismus nicht ausreicht, weil die Werttheorie nicht genügend Transzendenz mit sich bringt. Freiheit kann nicht anders als ein Absolutes, das über alle Werte hinausgeht, vorgestellt werden. Die Überzeugung, dass das Absolute erscheint, ist für eine dauerhafte demokratische Gesellschaft unentbehrlich, und sie braucht institutionalisierte Bildungsprozesse, in denen die religiösen Gefühle und Gedanken der individuellen Bürger, die sonst innerlich und unfrei bleiben, zur selbstbewussten Öffentlichkeit kommen können. Keine Religion trägt mit Gewissheit nicht zur Demokratie bei. Andererseits gibt uns eine undifferenzierte Rede von der ‚Rückkehr der Religion‘ auch keine Auskunft. Eine demokratische Gesellschaft soll freilich nicht die Religionsfreiheit abschaffen, aber sich doch durchaus bewusst werden, dass nur eine Religion, die die Freiheitsverwirklichung ausdrücklich zum Inhalt ihrer Vorstellungen gemacht hat, positiv zu ihrer Realisierung beiträgt. Oder wie Hegel sagt: Es hülfe nichts, daß die Gesetze und die Staatsordnung zur vernünftigen Rechtsorganisation umgeschaffen würden, wenn nicht in der Religion das Prinzip der Unfreiheit aufgegeben wird18. 18  Hegel, GW 20, § 552, 561.

Teil 3 Objektiver und absoluter Geist – vom absoluten Geist aus



Selbstbewusstsein und absoluter Geist Thomas Oehl Es muß ein Standpunkt aufgezeigt werden, worin das Ich in dieser Einzelheit Verzicht auf sich getan hat und Verzicht auf sich tut. Hegel

⸪ In diesem Aufsatz soll Hegels Auffassung von Selbstbewusstsein und endlicher Subjektivität in ihren Grundzügen dargestellt werden, um basierend darauf den Grundzug dessen, was er „absoluten Geist“ nennt, einsichtig zu machen. Dabei wird sich zeigen, dass und warum Hegel die Wirklichkeit eines ande­ ren Subjekts als des endlichen, nämlich eines „Absoluten“, behauptet; und wie vor diesem Hintergrund das verwickelt scheinende Verhältnis zwischen Philosophie und Religion bei Hegel zu verstehen ist. Es soll gezeigt werden, dass Hegels diesbezügliche Argumentation nüchtern, klar und überzeugend ist – allerdings auf einer durchaus starken Prämisse beruht, die aus prinzipiel­ len Gründen nicht im reinen Denken zu etablieren ist.

Präliminarien: Selbstbewusstsein nach Descartes

Unter „Selbstbewusstsein“ soll in diesem Aufsatz folgendes Resultat einer car­ tesischen Meditation verstanden werden: Ich erfasse, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann. Später soll argumentiert werden, dass es sich hierbei um das Erfassen einer Tatsache (T) handelt: eben der Tatsache, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann. Selbstbewusstsein, so verstanden, ist ursprünglich propositional. Wie wir später genauer sehen werden, handelt es sich beim Erfassen dieser Tatsache um etwas, das nicht ohne die Vorarbeit einer cartesischen Medi­tation möglich ist. Deshalb – und zur Ausleuchtung der historischen Zusammen­ hänge – bedarf es einiger Vorbemerkungen zur cartesischen Meditation sowie zu Hegels Verständnis derselben. In einer cartesischen Meditation wird dem methodischen Grundsatz de omnibus dubitandum est gefolgt; dabei wird eingesehen, dass ich an allem

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_017

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zweifeln kann, aber nicht daran, dass ich zweifle, da ich darin ja genau tue, von dem ich uno eodem actu zu denken versuche, dass ich es nicht tue: zweifeln. Anders gesagt: Ich kann mir bei jedem möglichen Inhalt meiner Vorstellungen und Gedanken denken, dass er nicht (so) sei, – mit Ausnahme eben des Inhalts, dass ich denke; denn wenn ich denke, dass ich nicht denke, denke ich eben, hebe sozusagen performativ dasjenige auf, was ich zu den­ ken vermeinte: nämlich, dass ich nicht denke. Mit dem so erreichten Resultat dieser Meditation sieht das Denken sich sozusagen selbst ins Auge – sieht in expliziter und reiner Form ein, was Selbstbewusstsein ist1. Hegel hat dem Erreichen des Selbstbewusstseins bei Descartes philosophie­ geschichtlich und systematisch eine ausgezeichnete Bedeutung beigemessen. Descartes sei „in der Tat der wahrhafte Anfänger der modernen Philosophie, insofern sie das Denken zum Prinzip macht“2. Die Bezeichnung „Anfänger“ muss hier jedoch doppeldeutig verstanden werden: So sehr mit und durch Descartes die moderne, am Selbstbewusstsein orientierte Philosophie beginnt, so sehr war Descartes in ihr ein eben noch unvollkommener „Anfänger“ im Sinne eines Amateurs. Denn, so betont Hegel, Descartes ist zugleich noch ein Vertreter der „alten“ Philosophie, was sich vor allem daran zeigt, dass er das cogito, als Resultat seiner Philosophie, mit der althergebrachten, nicht weiter hinterfragten Kategorie der Substanz fasst und so als res cogitans bestimmt. Er hat aus dem Erfassen, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, in, wie Hegel sagt, „naiver“ Weise gefolgert, dass ich etwas Substantielles sein müsse. Doch dieser Schluss gilt nicht. So sehr Descartes also versucht habe, durch „Hintansetzung aller Voraussetzung“ wirklich rein zu denken, so klar bleibt nach Hegel also zu konstatieren: „[D]ieses Denken kann man nicht spekulatives Denken, spekulative Vernunft nennen. Es sind feste Bestimmungen […], von denen er anfängt und fortgeht; dieses ist die Weise seiner Zeit.“ Diese Zeit wird, wie Hegel anerkennt, durch die kantische Philosophie überwunden. Einen ihrer wesentlichen Unterschiede zur cartesischen charakterisiert Hegel schon in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, indem er diese als „substantielle[s] Leben“ von der kantischen „substanzlosen Reflexion seiner in sich selbst“ unterscheidet (GW 9, 12; Kursivierung T.O.). Kant ist einen notwendigen Schritt über die cartesische Philosophie hinausgegangen, indem er zeigte, dass aus dem Erfassen, dass ich mich selbst nicht als 1  Es wäre interessant und wichtig zu fragen, wie von dieser expliziten und reinen Form her Selbstbewusstsein, sofern es sozusagen implizit alle Vollzüge des endlichen Subjekts durchdringt, zu verstehen ist. Auf diese Frage kann hier nicht weiter eingegangen werden. 2  Dieses und die folgenden Zitate stammen aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Werke 20, 123 ff.).

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nichtdenkend denken kann, nicht folgt, dass ich eine (denkende) Substanz bin. Hegel zufolge ist seine eigene Zeit nun dabei, noch einen weiteren Schritt zu gehen, der über dieses geistige Stadium der substanzlosen Gewissheit seiner selbst hinausführt (vgl. GW 9, 12). Soll es sich hierbei ebenso um einen notwendigen Schritt handeln, muss er immanent, aus dem kantischen Stadium selbst heraus, gegangen werden. Dies drückt Hegel in geradezu blumigen Worten so aus: [Der Geist] gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht, als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, diß ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bey ihm verweilt. GW 9, 27

Ein „Verweilen beim Negativen“ und „ihm ins Angesicht Schauen“ soll es also sein, wodurch über das – negative – kantische Stadium der substanzlo­ sen Gewissheit seiner selbst hinausgegangen wird. Ich interpretiere dies so, dass eine genaue Betrachtung von Selbstbewusstsein – ohne weitere gedank­ liche Zutat „von außen“ – besagten, notwendigen Schritt über das kantische Stadium hinaus in Gang setzt; dass durch eine solche genaue Betrachtung von Selbstbewusstsein das kantische Stadium als verfehlt zu erkennen ist. Eine solche genaue Betrachtung soll im Folgenden unternommen werden, um den Schritt über Kant hinaus zu gehen, der als solcher zum Maximum der hegel­ schen Philosophie, dem absoluten Geist, führt.

Zum Kontext der hegelschen Auffassung von Selbstbewusstsein

Selbstbewusstsein ist, so wurde eingangs gesagt, das (oder: mein) Erfassen, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann. Dass dem so ist, kann man auf zwei grundlegend verschiedene Weisen zu „erklären“ versuchen: Dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, liegt daran, dass ich, qua Denkender, ontologisch eben so „robust“ bin, dass ich mich als Denkenden nicht einmal „wegdenken“ kann – dies ist die cartesische Erklärungslogik; oder man kann sagen: dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, liegt daran, dass es eben so ist, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann; dass es mithin eine (notwendige) Tatsache ist, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann – dies ist die hegelsche Erklärungslogik.

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Bevor wir letztere genauer untersuchen, lohnt es sich, die cartesische noch genauer in den Blick zu nehmen. Ein Wort, das Hegel zur Charakterisierung des cartesischen Philosophierens gebraucht und das auch hier passend ist, ist das der „Naivität“: Descartes’ „naive“ Vorstellung ist, dass ich mit dem Erfassen, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, auf etwas ontolo­ gisch derart „Hartes“ gestoßen bin, das sich nicht einmal als nicht(so)seiend denken lässt. Unfreundlich gesagt, ähnelt diese Vorstellung noch zu sehr der­ jenigen eines Spatens, der auf einen undurchdringlichen Gegenstand stößt. Sachlicher gesagt zeigt sich, dass diese Vorstellung eine noch (zu) objektivis­ tische Vorstellung ist, d.h. eine, die das Verhältnis des Denkens zu sich selbst (sowie dasjenige meiner selbst, als Denkendem, zu mir selbst) (zu) ähnlich demjenigen eines Subjekts zu einem Objekt konzipiert. Eine solche Vorstellung entspricht nicht der radikal anderen inneren Logik von Selbstbewusstsein, in dem ich, als Subjekt, mich, als eben dieses Subjekt, (denkend) erfasse. Dem cartesischen (Rest-)Objektivismus entspricht, dass Descartes das, worauf er im Denken zu stoßen meinte, als „Substanz“ auffasste. Dazu nochmals Hegel: [D]ieses Denken kann man nicht spekulatives Denken, spekulative Vernunft nennen. Es sind feste Bestimmungen […], von denen er anfängt und fortgeht; dieses ist die Weise seiner Zeit. Kant nimmt nun auch Hegel zufolge eine bemerkenswerte Stellung ein, da er diese mangelhafte Vorstellung als solche erkennt und überwindet; erst mit ihm beginnt, wie Hegel klarmacht, diejenige Form der Philosophie, die er „Reflexionsphilosophie“ nennt, d.h. die eine klare Vorstellung der nichtobjektivistischen Logik von Selbstbewusstsein hat; die eine klare Vorstellung davon hat, dass die Selbstbezüglichkeit im Selbstbewusstsein keiner Subjekt-ObjektLogik folgt. Damit wesentlich einher geht, dass Kant den Schluss vom „Ich denke“ auf das „Ich existiere“ im Sinne von „Ich bin eine (denkende) Substanz“ als Schein entlarvt. Damit hat Kant aber auch keine „Erklärung“ mehr für Selbstbewusstsein zur Verfügung, wie Descartes noch eine zu haben meinte. Mein Erfassen, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, ist nämlich nicht mehr durch mein eine-res-cogitans-Sein „erklärbar“. Kant ist sich dessen klar bewusst und vermutet deshalb, dass es eine solche „Erklärung“ (jedenfalls für uns) überhaupt nicht geben könne. Selbstbewusstsein sei als solches vielmehr schon der „höchste Punkt“ der Philosophie3, und das heißt auch, dass hinter es nicht zurückgegangen werden kann, es selbst mithin nicht erklär- oder ableitbar 3  KrV B 133 [Fußnote].

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ist. Die kantische „Erklärungslogik“ von Selbstbewusstsein nimmt somit eine bemerkenswerte Zwischenstellung zwischen einer cartesischen und einer hegelschen ein: Kant erkennt, dass es nicht die ontologische Robustheit einer Substanz, die wir alle gleichermaßen sind (oder an der wir alle gleichermaßen teilhaben), ist, die Selbstbewusstsein „erklärt“. Selbstbewusstsein wird bei ihm vielmehr als selbstständiges Prinzip begriffen, d.h. als etwas, das (erklärungs-) logisch betrachtet von nichts abhängt außer von sich selbst. So lassen sich nunmehr drei Erklärungslogiken unterscheiden: Die kantische: Das (oder: mein) Erfassen, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, ist Selbstbewusstsein und ist als solches Prinzip (der Philosophie). Die cartesische: Das (oder: mein) Erfassen, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, ist Selbstbewusstsein und erklärbar durch eine Substanz, die res cogitans. Die hegelsche: Das (oder: mein) Erfassen, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, ist Selbstbewusstsein und verweist eben auf die Tatsache, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, von der es, als ihr Erfassen, abhängt. In diesem Licht verschiebt sich die eingangs dargestellte Konfrontation „Descartes vs. Hegel“ durchaus zu derjenigen „Descartes und Hegel vs. Kant“; denn Descartes und Hegel sind sich darin einig, dass Selbstbewusstsein er­ klärbar, ableitbar ist und erklärt, abgeleitet werden muss – durch etwas, das selbst nicht schlicht identisch mit Selbstbewusstsein ist; nach Hegel allerdings nicht im Stile einer vorkritischen Objektivierung (unter Rekurs auf eine res cogitans), sondern durch Fundierung in einer Tatsache. Der Unterschied liegt auf der Hand: Eine Tatsache ähnelt einer Substanz darin, dass sie an sich (der Fall) ist; sie unterscheidet sich von einer Substanz allerdings darin, dass sie kein Ding ist, sondern seinerseits begrifflich artikuliert, wesentlich denkbarer Inhalt und (somit) nur für Selbstbewusstsein ist4. Also zeichnet sich Hegels Auffassung von Selbstbewusstsein als Zusammenführung der Wahrheitsmomente derjenigen von Descartes und Kant ab. In diesem Sinne ist auch Hegels früh geäußertes Programm, „das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und 4  Man kann Descartes natürlich viel kantischer lesen, als ich das hier tue; dann aber besteht die Gefahr, dass der Rekurs auf die res cogitans tautologisch wird: wenn diese nämlich gar kein (quasi-)Objekt, sondern eine Art reiner Denkvollzug, reiner Akt, also selbst schon Selbstbewusstsein, sein soll.

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auszudrücken“, zu verstehen (GW 9, 18). Dieses Programm stellt sich nach mei­ ner Lesart so dar: Selbstbewusstsein ist als in etwas Anderem gegründet zu den­ ken, aber so, dass dieses Andere nicht ohne Selbstbewusstsein sein könnte; und das heißt eben, dass Selbstbewusstsein als in einer Tatsache gegründet, als Erfassen einer Tatsache, zu denken ist. Denn das Erfassen einer Tatsache wäre nicht, was es ist, wenn die Tatsache nicht eine Tatsache wäre. Dass sie eine Tatsache ist, kann nicht am Erfassen dieser Tatsache liegen, sondern nur an der Tatsache selbst; und doch ist eine Tatsache – in einem noch zu klärenden Sinne – nicht unabhängig von dem, was das Erfassen einer Tatsache ist, näm­ lich selbstbewusstes Denken, die Maximalform dessen, was mit Hegel „Geist“ zu nennen ist. Zum Abschluss dieser vorbereitenden, kontextualisierenden Bemerkungen sei noch eines hinzugefügt. Es zeigt sich bereits jetzt, was sich später als metaphysischer (und durchaus auch existentieller) Grundton von Hegels Theorie des absoluten Geistes darstellen wird: nämlich dass die hegelsche Auffassung von Selbstbewusstsein ein ganz anderes metaphysisch-existentielles Selbstverständnis des endlichen Subjekts als die kantische impliziert. Während zwar auch nach Kant nicht ich, als Individuum, das Prinzip der Philosophie bin, sondern eben Ich, insofern ich Selbstbewusstsein oder „das Ich“ bin, so weiß ich mich aber als solches Selbstbewusstsein doch in nichts Anderem gegründet. Nach Hegel hingegen ist Selbstbewusstsein gerade als Erfassen einer Tatsache – und somit als abhängig von und gegründet in dieser, als vom Selbstbewusstsein unterschiedener – zu begreifen. Kurz gesagt: Die kantische Auffassung des Selbstbewusstseins will diese Tatsache dadurch „erklären“, dass ich so und so bin: nämlich Selbstbewusstsein (und dadurch in einem gewissen Sinne über­ haupt nicht mehr „erklären“, gründen); die hegelsche hingegen reflektiert dar­ auf, dass es so und so ist, eben dass das, was ich erfasse, eine Tatsache ist. Der höchste – oder besser: anfänglichste, prinzipiellste – Punkt bin somit nicht ich, als Selbstbewusstsein. Bereits von dieser Grundeinsicht her lässt sich in vorläu­ figer Weise verstehen, worin die Parallelisierung von Philosophie und Religion bei Hegel begründet liegt: denn Religion im Sinne Hegels ist zunächst nichts anderes als das vorstellungshafte Einsichtig- und Erfahr­bar­werden dessen, dass nicht ich, als Selbstbewusstsein, der höchste Punkt bin.

Hegels Auffassung von Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein als existierender Begriff

Bislang ist nur ein Vorbergriff von Hegels Auffassung von Selbstbewusstsein gewonnen worden. Um ihn in einen wirklichen Begriff zu überführen,

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bedarf es einer genauen Untersuchung, was darunter zu verstehen ist, dass Selbstbewusstsein das (oder: mein) Erfassen der Tatsache, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, ist. Darüber wäre freilich gerade im Kontext der maßgeblich von Dieter Henrich angestoßenen Debatte um die innere Logik des Selbstbewusstseins im Ausgang von Kant viel zu sagen5; wir werden dies hier nur insoweit tun, als es notwendig ist, um zu verstehen, worin Hegels Auffassung von Selbstbewusstsein im Kern besteht und wie sich von ihr her der absolute Geist (und dessen Theorie) einsichtig machen lässt. Auszugehen haben wir, wie gesagt, von folgender Grundidee, die, wie mir scheint, eine schlichte Beschreibung6 dessen ist, worin das Resultat einer carte­ sischen Meditation besteht: Ich erfasse, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann. Ich erfasse also eine Tatsache, die fortan „(T)“ genannt sei. Was dies näherhin bedeutet – und ob es letztlich plausibel ist –, hängt vor allem davon ab, welchen Begriff einer Tatsache man zugrundelegt. Um die oben an­ gedeutete Gründung von Selbstbewusstsein in etwas Anderem, vom Denken Unterschiedenen durch eine Tatsache realisiert denken zu können, muss man einen realistischen Tatsachenbegriff vertreten: eine Tatsache ist etwas, das an sich – unabhängig vom Denken und seinen Bestimmungen – der Fall ist. Ein solcher Tatsachenbegriff entspricht zunächst weitgehend dem, was wir ganz alltäglich unter einer „Tatsache“ verstehen: eben etwas, das an sich selbst der Fall ist. Ein solcher realistischer Tatsachenbegriff findet sich beispielhaft bei John McDowell expliziert7. Ihm zufolge ist eine Tatsache ein Sachverhalt, der (i) besteht; (ii) unabhängig davon, ob ich oder sonst jemand ihn tatsächlich denkend erfasst, besteht, also an sich selbst besteht; und (iii) unbeschadet (ii) wesentlich ein denkend erfassbarer ist, d.h. etwas, für das es konstitutiv ist, ge­ dacht werden zu können, und etwas, das im begrifflichen Denken voll und ganz zu erfassen ist. Obwohl McDowell diesen Tatsachenbegriff primär als den Begriff einer empirischen Tatsache konzipiert, lässt er sich auf (T), die offenkundig eine nichtempirische Tatsache ist, anwenden – jedenfalls, solange man sich den Unterschied zwischen (T) und einer empirischen Tatsache klar vor Augen führt: (T) ist (T1) 5  Eine solche Untersuchung habe ich vor, an anderer Stelle vorzulegen – insbesondere die zweifellos wichtige Kontextualisierung von Hegels Auffassung von Selbstbewusstsein mit derjenigen Fichtes (im Ausgang von und in Auseinandersetzung mit Henrich 1967) betref­ fend. Zur Eigentümlichkeit von Hegels Auffassung von Selbstbewusstsein gegenüber Fichte, die keineswegs eine geringere Komplexität oder gar Unterlegenheit bedeuten würde, siehe Martin 2012: 185 ff. sowie Stekeler-Weithofer 2005: 182 f. 6  Man denke an Hegels eingangs zitierte Rede vom „ins Angesicht Schauen“. 7  Vgl. McDowell 1996.

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nichtempirisch, d.h. sie hat keinen empirischen Gehalt, (T2) eine notwendig be­ stehende Tatsache und (T3) eine universale Tatsache, d.h. „dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann“ ist trotz des Vorkommens des Wortes „ich“ für alle Erfassenden bedeutungsgleich – und notwendig wahr. Sehen wir uns diese drei Bestimmungsmomente von (T) näher an. (T1) und (T2) sind Bestimmungen, die im Erfassen von (T) unmittelbar evident sind: (T1) deshalb, weil mein Verstehen des Ausdrucks „dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann“, impliziert, zu wissen, dass durch diesen keine empirischen Gehalte ausgedrückt sind. Denn wäre dem so, würden wir (T) na­ türlich nicht für wahr halten, mithin überhaupt nicht erfassen: denn selbst­ verständlich kann ich denken, dass ich nicht denke, wenn ich unter Denken irgendeinen empirischen (z.B. psychologischen) Prozess verstehe. Sofern wir aber – und davon gehen wir als Resultat der cartesischen Meditation aus – (T) erfassen, ist bereits vorausgesetzt, dass wir (T) als nichtempirische Tatsache erfasst haben. (T2) deshalb, weil (T) ja darin besteht, dass ich mich selbst nicht als nicht­ denkend denken kann; d.h. die Tatsache ist intern modal, d.h. es gehört we­ sentlich zu ihr hinzu, eine Denkunmöglichkeit und Denknotwendigkeit zu sein. (T2) hängt mit (T1) insofern eng zusammen, als es sich mit empirischen Tatsachen anders verhält: zwar mag jede empirische Tatsache qua empiri­ scher Tatsache notwendig in dem Sinne sein, dass sie mit naturgesetzlicher Notwendigkeit determiniert ist, aber nicht in dem Sinne, dass ich den kon­ tradiktorischen Gegensatz dieser Tatsache nicht sinnvoll denken könnte. Am Beispiel gesagt: Während es möglich ist, zu denken, dass der Baum eine hellere Blattfarbe hat, als er tatsächlich – und, wir nehmen an, durch naturgesetzliche Notwendigkeit – hat, ist es nicht möglich, zu denken, dass ich mich selbst als nichtdenkend denke(n kann). (T1) und (T2) zusammen betrachtet legen es nahe, (T) als eine logische Tatsache aufzufassen. Denn (T1) und (T2) scheinen notwendige – und gemein­ sam (vielleicht) hinreichende – Bestimmungen logischer Tatsachen zu sein. Für formallogische Tautologien, wie z.B. „A = A“ oder „A v ~A“, gelten sie; und man kann argumentieren, dass die Ausweitung des Begriffs des „Logischen“ auf mehr als bloße Formallogik – wie etwa in Kants „Transzendentaler Logik“ – genau dadurch gerechtfertigt ist, dass die dort jeweils verhandelten Tatsachen (T1) und (T2) erfüllen, ohne deshalb Tatsachen der formalen Logik zu sein. Diese Überlegung ist instruktiv und lässt sich auf Hegel übertragen: (T) ist eine

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logische Tatsache, aber nicht eine der formalen Logik, sondern der – wie Hegel sie nennt – spekulativen Logik. Dass (T) nicht auf eine Tatsache der formalen Logik reduzierbar ist, lässt sich auf zweierlei Weise klar machen: Erstens, (T) besteht darin, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend den­ ken kann, und nicht darin, dass ich mich selbst nicht (zugleich) als nichtden­ kend und als denkend denken kann. Letzteres ist eine formallogische Tatsache. Deren Differenz zur spekulativ-logischen Tatsache lässt sich so ausdrücken: Der Gedanke, dass ich mich selbst als nichtdenkend denke(n kann), ist deshalb unmöglich, weil ich ihn sozusagen performativ immer schon widerlege – und nicht, wie im Falle der formallogischen Tatsache, weil ich einen Widerspruch innerhalb des Gedankens formuliere. Zweitens hat (T) offenkundig einen Inhalt. Insofern ich erfasse, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, erfasse ich in selbstbe­ wusster Weise (den Grund von) Selbstbewusstsein. Ich erfasse also etwas Inhaltsreiches, während das Erfassen formallogischer Tatsachen zwar nicht das Erfassen von überhaupt nichts ist, aber doch nicht das Erfassen von Inhalten – wie der frühe Wittgenstein überzeugend gezeigt hat8. Nun ist noch (T3) zu diskutieren. Das eben Dargelegte könnte die initia­ le Irritation, die (T3) hervorrufen mag, schon weitgehend beruhigt haben. Dennoch bedarf es einer expliziten Klärung von (T3). Die Irritation, die (T3) hervorrufen mag, besteht nämlich in der Vermutung, dass ein Ausdruck, der den indexikalischen Ausdruck „ich“ enthält, keine kontextinvariante Bedeutung hat, dass seine Bedeutung vielmehr mit dem Kontext – mit der Sprecherin oder dem Sprecher – variiert. Dann aber würde (T) nicht in allem Erfassen von (T) durch ein bestimmtes Subjekt dieselbe Tatsache sein. Doch besagte Vermutung ist, wie Wittgenstein und, ihm folgend, Baker/Hacker überzeugend gezeigt haben, falsch9. Sie beruht auf einer Verwirrung bezüglich des Begriffs der Bedeutung eines Ausdrucks: Wenn Immanuel Kant sagt „Ich bin gerade in meinem Büro“, so ist das wahr, wenn Kant in seinem Büro ist, während er dies sagt, während derselbe Satz falsch ist, wenn Hegel, wenn er gerade nicht in seinem Büro ist, ihn äußert. Diese Differenz ist aber gerade nicht so auf den Begriff zu bringen, dass der Satz in den beiden Kontexten verschiedene 8  Siehe Hacker 2017. 9  Siehe Baker/Hacker 2009: 107 ff.

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Bedeutung hätte, sondern dass es abhängig vom Kontext ist, ob er wahr ist oder nicht; die Differenz ist nicht so zu beschreiben, dass das Wort „Ich“ in beiden Fällen etwas je Verschiedenes bedeuten würde, sondern so, dass das Wort „Ich“ in beiden Fällen auf etwas je verschiedenes zeigt. Dass dem so ist, kann man sich durch folgende Überlegung klarmachen: Eine kompetente Sprecherin oder ein kompetenter Sprecher (des Deutschen) kennt offenbar die Bedeutung des Wortes „ich“, kann es richtig verwenden; wäre diese Bedeutung kontextvariant, würde das bedeuten, dass sie bzw. er die Bedeutung des Wortes nur kennt, in­ sofern ihr bzw. ihm der jeweilige Kontext bekannt ist. Da nicht alle Kontexte von – noch dazu: künftigen – Äußerungen bekannt sind, ja bekannt sein kön­ nen, wäre somit niemandem eine unbeschränkte Kenntnis der Bedeutung des Wortes „ich“ zuzuschreiben – und das wäre absurd10. Nun scheint das Dargelegte aber im Hinblick auf (T) ein nicht minder gewichtiges Problem mit sich zu bringen. Denn wir haben zugegeben, dass die Wahrheit einer Tatsache, deren sprachliche Formulierung den indexikalischen Ausdruck „ich“ enthält, – oder die Wahrheit ihres Erfassens – vom Kontext der Äußerung abhängt. Würde das auch auf (T) zutreffen, wäre die Konsequenz diese: Auch wenn die Bedeutung von (T) nicht kontextvariant ist, so ist (T) nicht in allen Kontexten überhaupt eine Tatsache. Doch das ist nicht der Fall; denn anders als im Falle von „Ich bin gerade in meinem Büro“ handelt es sich bei (T), wie gezeigt, um eine Tatsache, der es intern und wesentlich zugehörig ist, dass sie spekulativ-logisch notwendig ist. Damit aber lässt sie keinen Spielraum für eine Kontextvarianz ihrer Wahrheit. Oder anders gesagt: Aufgrund der Tatsache, dass (T) als (T) überhaupt nur als Resultat einer cartesischen Meditation erfasst wird (während der Ausdruck „ich kann mich selbst nicht als nichtdenkend denken“ ohne diese etwa psychologisch verstanden werden könnte), ist durch dieses Erfassen selbst der Kontext gegeben, in welchem es (notwendig) wahr ist, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann – welches individuelle Subjekt, das dies erfasst, ich auch immer bin11. 10  Noch klarer wird die Sache, wenn man sich vor Augen führt, dass ein indexikalischer Ausdruck wie „ich“ kein Eigenname ist. Siehe dazu nochmals Baker/Hacker 2009:107 ff.  Desweiteren könnte man – im hier vorliegenden Fall des Selbstbewusstseins – auch argumentieren, dass die Wahrheit von (T) schon deshalb kontextinvariant sein muss, weil Kontextvarianz von Wahrheit eine Abhängigkeit von Partikularem bedeutet, die nicht mit den (T) inhärenten Bestimmungen der Notwendigkeit und Universalität kompatibel wäre. 11  Andeuten will ich hier noch eine weitere Kontroverse, auf die wir mit der hier vorge­ tragenen Interpretation ein, wie mir scheint, erhellendes Licht werfen können: die Frage, ob und in welchem Sinne in der Logik von Selbstbewusstsein die Rede oder

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Mit diesen analytischen Klärungen im Rücken lässt sich nun Hegels be­ kannte, knappe Bestimmung des (reinen) Selbstbewusstseins – oder „des Ich“, wie er sich im unglücklichen Jargon seiner Zeit ausdrückt – in der Begriffslogik verstehen: Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frey ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtseyn. GW 12, 17

Hegel nennt etwas, das „zur Existenz gediehen ist“, den Grund dieser Existenz12. Das Verhältnis des zur Existenz Gediehenen zu seinem Grund stellt sich im Falle des Selbstbewusstseins so dar, dass ein selbstbewusstes Wesen13 fähig ist, Selbstbewusstsein am Werke sei, die in den „alten“ Hegelinterpretationen Klaus Düsings und Wolfgang Cramers ebenso verhandelt wird wie in den „neuen“, analytischen von Pirmin Stekeler-Weithofer, Robert Pippin und Robert Brandom.  Pippin 1989 hat behauptet, dass der hegelsche Begriff „in terms of self-consciousness“ zu verstehen sei. Dem hat jüngst Christian Martin in seiner umfassenden Studie zu Hegels Logik – wie ich denke: überzeugend – widersprochen (siehe Martin 2012: 185 ff.). Meine Lesart stimmt diesem Widerspruch zu. Denn sie fasst „den Begriff“ als Tatsache (T), deren Erfassen Selbstbewusstsein ist, die aber eo ipso nicht als solche, an sich, Selbstbewusstsein ist – auch wenn, wie auch Martin hervorhebt, dem Logischen freilich keine eigene, vom Geist unabhängige Existenz zukommt.  Die Frage ist nun, woher die Attraktivität des Irrtums rührt, dass „der Begriff“ an sich selbst schon Selbstbewusstsein sei. Meine Vermutung ist, sie rührt daher, dass man nicht intelligibel machen kann, was „der Begriff“ ist, ohne das Wort „ich“ zu gebrauchen. So wurde ja die Tatsache (T) auch in der hier vorgetragenen Lesart durch Gebrauch des Wortes „ich“ bezeichnet; wie gezeigt, bedeutet dies aber nicht, dass die Tatsache (T) keine „objektive“ Tatsache sei, noch, dass sie selbst schon in irgendeinem Sinne Selbstbewusstsein sei. Kritisch gegen Hegel ist allerdings zu bemerken, dass er dies impli­ zit zu bestreiten scheint – und deshalb versucht, die Tatsache (T), den Begriff, in drittper­ sonalem Vokabular zu bezeichnen. Ich beanspruche hier nicht, zeigen zu können, dass das unmöglich ist. Aber es ist doch möglich, dass dies unmöglich ist; dass die Tatsache (T) eben nur durch Gebrauch des Wortes „ich“ zu bezeichnen ist. Und vor diesem Hintergrund will ich die falsche These, der Begriff sei an sich selbst Selbstbewusstsein, als zu weit getriebene Irritation an Hegels Versuch, in der Begriffslogik ohne das Wort „ich“ auszukommen, deuten. 12  Siehe die entsprechenden Abschnitte der Wesenslogik. 13  Es kann durchaus auch von „(einem) Selbstbewusstsein“ anstatt von „(einem) selbst­ bewussten Wesen“ gesprochen werden, da aus der hier eingenommenen philosophi­ schen Perspektive ein selbstbewusstes Wesen nur insofern in den Blick zu nehmen ist, als es Selbstbewusstsein ist. (Der hier einschlägige Zusammenhang von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem wird später noch genauer erläutert werden.).

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auf seinen Grund zu reflektieren, seinen Grund zu erfassen, eben im Erfassen von (T). „Grund“ bedeutet hier dasselbe, was wir in unserer Darstellung „Grund“ nannten: nämlich das, was (so) ist, dass Selbstbewusstsein in ihm gründet, welches das Erfassen eben dieses Grundes ist und ohne diesen Grund somit nicht wäre. Nun haben wir aber gesehen, dass dieser Grund die Tatsache (T) ist; Hegel identifiziert den Grund im obigen Zitat mit dem, was er „den Begriff“ nennt. Es folgt also, dass das, was wir die Tatsache (T) nennen, dasselbe ist, was Hegel „den Begriff“ nennt. Das ist nicht weiter überraschend, wenn man bedenkt, dass wir (T) ja bereits als eine spekulativ-logische Tatsache identifi­ ziert haben. Wir können unsere Darstellung somit (a) zum einen durch das bislang von uns nur angedeutete Verhältnis von Grund und Existenz im Sinne Hegels, zum anderen aber (b) durch eine Verbindung zum Freiheitsbegriff wei­ ter vertiefen: Ad (a). Das (wesenslogische) Verhältnis von Grund und Existenz weist zwei sich dialektisch zueinander verhaltende Aspekte auf: (i) Zum einen besteht es im Gedanken, dass der Grund einer Existenz dasje­ nige ist, ohne welches das Existierende nicht existieren könnte. Das bedeutet, dass Selbstbewusstsein eben nicht wäre, wenn es nicht die Tatsache (T) gäbe, die qua Tatsache an sich selbst besteht. Damit wird durch das Verhältnis von Grund und Existenz auf den Begriff gebracht, was oben – in Konfrontation zu Kants Auffassung von Selbstbewusstsein – ausgedrückt wurde als Hegels Einsicht, dass Selbstbewusstsein nicht in sich selbst, sondern in einem Anderen gründet. (ii) Zum anderen aber besteht sie im Gedanken, dass ein Grund nicht Grund wäre ohne das, was er gründet oder was in ihm gründet. Damit wird durch das Verhältnis von Grund und Existenz auf den Begriff gebracht, was oben als ein Bestimmungsmoment des Tatsachenbegriffs angeführt wurde: dass eine Tatsache ein Sachverhalt ist, der als solcher wesentlich ein im begrifflichen Denken voll und ganz erfassbarer ist. Zu erfassen ist er aber nur durch Wesen, die einer solchen Erfassung fähig sind, also real existierenden – und das heißt nach Hegel immer auch individuell existierenden – Wesen, denen wesentlich ein entsprechendes Begriffsvermögen zukommt. Durch sie und in ihnen „ge­ deiht“, wie Hegel sagt, die Tatsache (T), der Begriff, zur „Existenz“, zur realen Wirklichkeit. Das klingt zunächst befremdlich, nämlich so, als nähme eine Tatsache Fleisch an und würde dadurch ein real existierendes Wesen. Doch in Wahrheit verbirgt sich dahinter zunächst etwas ganz Nüchternes: Die Aussage „Die Tatsache (T) gewinnt in selbstbewussten Wesen Existenz“ impliziert die Aussage „Selbstbewusste Wesen sind solche, die die Tatsache (T) (als ihren

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Grund) erfassen können“. Hegel drückt mit ersterer also (unter anderem) letz­ tere aus, von der ja bereits ausführlich die Rede war. Beide Aspekte ergänzen und klären einander somit: Das in (i) erfasste „Andere“, in dem Selbstbewusstsein gründet, muss aufgrund der in (ii) er­ fassten Abhängigkeit dieses Anderen von Selbstbewusstsein so aufgefasst werden, dass es nicht ein auch ohne (die Existenz von) Selbstbewusstsein be­ stehendes, existierendes Ding ist – etwa im vulgärplatonischen Stile von Freges „Gedanken“ –, sondern ein Moment des Geistes, das nicht ohne Geist und seine Existenzformen wäre. Darauf werden wir noch zurückkommen. Umgekehrt ist durch (i) festgehalten, dass die in (ii) ausgedrückte Abhängigkeit keine sol­ che ist, die den Tatsachencharakter der Tatsache beschneiden würde. Kurz gesagt: Dass es (T) nicht ohne Selbstbewusstsein gäbe, bedeutet nicht, dass Selbstbewusstsein, also das Erfassen von (T), nicht in (T) gründen würde und davon, dass (T) eine Tatsache ist, also an sich gilt, wesentlich abhängig wäre. Dass beide Momente (i) und (ii) zusammengedacht werden müssen, um richtig begriffen werden zu können, sie also – anders gesagt – intern miteinander zusammenhängen, drückt Hegel auch so aus, dass sie eine Selbstausdifferenzierung des Geistes sind14. Damit ist – im Hinblick auf die Maximalform des Geistes, das begriffliche Denken – gemeint, dass dieses in drei intern aufeinander bezogenen Momenten besteht: dem, was begriff­ lich gedacht wird (z.B. einer Tatsache), und das an sich gilt (= Moment der Allgemeinheit); einem konkreten, individuellen Subjekt, das selbiges denkt (= Moment der Besonderheit); und dem somit nicht-psychologisch verstande­ nen Denkvollzug, in welchem dieses individuelle Subjekt das, was an sich gilt, unbeschadet seiner eigenen Besonderheit in allgemeingültiger Weise denkt (= Moment der Einzelheit). Diese dreiteilig-begriffslogische Erweiterung des zweiteilig-wesenslogischen Verhältnisses von Grund und Existenz erlaubt es, als das eigentlich Wirkliche das dritte Moment, das die ursprüngliche Einheit der beiden anderen ist, zu denken. Damit ist gesagt, dass das dritte Moment – hier: das Erfassen von (T) – eben dasselbe, „Geist“, ist – unbescha­ det der Tatsache, dass es immer ein besonderes, individuelles Wesen ist, das das Subjekt dieses Erfassens ist. Und dass somit die These, dass das besondere, individuelle Wesen, insofern es Besonderes ist, nicht das eigentlich Wirkliche ist, nicht impliziert, im Stile Freges die Tatsachen an sich als das eigentlich Wirkliche denken zu müssen.

14   Eben in den drei Momenten des Begriffs, der die logische Form des Geistes ist: Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit.

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Ad (b). Die Freiheit, von welcher im obigen Zitat die Rede ist, besteht in zwei Aspekten, in einem theoretischen und einem praktischen. Wir werden darauf später näher zurückkommen. An dieser Stelle nur ein exegetischer und ein sys­ tematischer Wink: Exegetisch ist klar, dass Hegel den (freien) Geist, von dem wir soeben schon als drittes Moment, als dem eigentlich Wirklichen, gespro­ chen haben, als Einheit des theoretischen und des praktischen Geistes versteht (vgl. Enz. 1830, § 481). Systematisch gewendet bedeutet dies, dass das Erfassen (und das nicht-Erfassen) von (T) eine zugleich – uno eodem actu – theoreti­ sche (intellektuelle) wie praktische (willentliche) Leistung ist. Was dies bedeu­ tet, werden wir später näher einsehen. Wir haben also den spekulativ-logischen Charakter der Tatsache (T) erläu­ tert und das Erfassen von (T) als Reflexion einer selbstbewussten Existenz auf ihren Grund, auf den Grund des Selbstbewusstseins, der die Tatsache (T) ist, charakterisiert, dieses „Erfassen“ als Geist und das eigentlich Wirkliche – das Einzelne gegenüber dem bloß Allgemeinen und dem bloß Besonderen – be­ griffen. Dies erst hat einen klaren Blick auf zwei weitere Problemkomplexe frei­ gelegt, die am Ende dieses Abschnitts unserer Untersuchung kurz besprochen werden sollen: Zur Kritik der Rede von „dem Ich“. Bei Kant, dem frühen Fichte und dem frü­ hen Schelling ist viel von „dem Ich“ als Prinzip (der Philosophie) die Rede. Mit diesem Ausdruck, der ein Hybrid aus erst- und drittpersonaler Rede ist, soll angezeigt sein, dass es sich bei diesem Prinzip um etwas handelt, das wesentlich mit mir und meinem Selbstbewusstsein zu tun hat, allerdings eben nicht einfach „ich“, das Individuum bin, sondern das alle Individuen verbindende Selbstbewusstsein, eben „ein Ich“ oder „das Ich“, ist. Doch es ist – wie etwa der Forschungsstreit um „das Ich“ bei Kant exemplarisch zeigt15 – alles an­ dere als klar, was „das Ich“ eigentlich sein soll. Aus Hegels Perspektive lässt sich – scharf – urteilen: Es ist überhaupt nichts als der verlegene Versuch, das individuelle Selbstbewusstsein eines jeden Einzelnen mit der für den Prinzipiencharakter notwendigen Allgemeinheit zu verbinden – ohne dabei 15  Ich denke hier vor allem an die Kontroverse, ob „das Ich“ bei Kant ein „Gegenstand“ sei oder nicht, sondern vielmehr ein „reiner Akt“. Für ersteres hat – gegen Horstmann 1993, der zweiteres vertritt – Rosefeldt 2006 argumentiert. Mir scheinen aber beide Alternativen, jedenfalls der Sache nach, unattraktiv: Denn „das Ich“ als „reinen Akt“ aufzufassen, ist – wie Rosefeldt zurecht sagt – kategorial problematisch, weil ein trägerloser Akt nichts ist, aus dem wir Sinn machen können. „Das Ich“ aber als Gegenstand aufzufassen, ist insofern unattraktiv, als es dann offenbar neben mir, dem individuellen „Gegenstand“, noch ein zweites „Ich“, ein alter ego gibt. Aber wer oder was sollte so etwas letztlich sein?

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auf das hegelsche begriffslogische Instrumentarium zurückgreifen zu können. Bei Hegel hingegen sind diese beiden Aspekte klar verteilt: allgemein ist die Tatsache (T), qua Tatsache, und insofern wir, als je besondere Wesen, eine Tatsache erfassen, denken wir, und dieses Denken, als Einzelnes, als Geist, ent­ hält das Moment des Allgemeinen unbeschadet dessen, dass es je ein beson­ deres Wesen ist, das denkt. In dieser Auffassung gibt es weder Platz noch Bedarf für die Rede von „dem Ich“, die ein unklares Hybrid aus erst- und drittperso­ naler Perspektive ist. Das, was in Hegels Auffassung des Selbstbewusstseins als das Allgemeine fungiert – nämlich die Tatsache (T) und das Erfassen dersel­ ben, das qua Erfassen einer Tatsache Denken ist und damit auch als Einzelnes Allgemeines bleibt –, ist in keinem Sinne als „(das) Ich“ anzusprechen: Eine Tatsache ist eine Tatsache, und Denken ist Denken – wobei man vom Denken sagen kann, dass es nur Wesen können, die das Wort „ich“ gebrauchen kön­ nen. „Das Ich“ ist nach Hegel also entweder ein harmloser terminus technicus für Selbstbewusstsein (als den er ihn, unglücklicherweise, selbst gebraucht) – oder Unsinn. Zum Charakter des Erfassens von (T). Im Vergleich zum Erfassen etwa empi­ rischer Tatsachen handelt es sich beim Erfassen von (T) um eine andere Art des Erfassens. Im Falle empirischer Tatsachen etwa geschieht das Erfassen mittels der sinnlichen Wahrnehmung (oder ist sinnliche Wahrnehmung), wohingegen das Erfassen von (T) am Ende einer cartesischen Meditation steht, die – im pla­ kativen Kontrast zur nach „außen“ gerichteten sinnlichen Wahrnehmung – als „Insichgehen“ oder „Selbstwahrnehmung“ des Geistes zu bestimmen ist. Eine cartesische Meditation durchlaufen zu haben – wenngleich freilich nicht un­ bedingt in exakt derjenigen Weise und Folge, wie Descartes sie präsentiert –, ist eine notwendige Voraussetzung für das Erfassen von (T). Denn jemand, die oder der mit der Tatsache, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, ohne Vorbereitung durch eine cartesische Meditation konfrontiert wird, wird – und muss – unbefangenerweise sagen, dass es sich hierbei nicht um eine Tatsache, sondern um eine evidente Unwahrheit handelt: freilich kann ich denken, dass ich nicht denke, da ich z.B. denken kann, dass ich schlafe – und ja auch tatsächlich bisweilen schlafe – und dann nicht denke. Aus philoso­ phischer Sicht würde man hier entgegen, dass die betreffende Person die hier einschlägige Bedeutung des Ausdrucks „dass ich mich selbst nicht als nicht­ denkend denken kann“ nicht verstanden hat, sondern, wie man gewöhnlich sagt, dem Ausdruck eine bloß psychologische Bedeutung gegeben hat. Was es aber bedeutet, dem Ausdruck eine nicht-psychologische Bedeutung zu geben, ist der betreffenden Person solange nicht klar zu machen, als sie nicht selbst eine cartesische Meditation durchlaufen hat. Daran zeigt sich, dass der Weg dieser Meditation eine notwendige Voraussetzung für das Erfassen von (T)

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ist und damit im Erfassen von (T) implizit enthalten ist, als eine Erfahrung des Geistes im Geist aufbewahrt bleibt16. Durch den dargelegten Charakter des Erfassens von (T) impliziert ist, dass man (T) nicht neutral erwägen kann, ohne sich auf die Wahrheit von (T) festzulegen; wenn man (T) erfasst, erfasst man (T) als notwendig wahr; erfasst man (T) nicht als notwendig wahr, erfasst man (T) überhaupt nicht.

Absoluter Geist: Philosophie und Religion

Selbstbewusste Wesen sind solche, denen wesentlich das Vermögen zukommt, die Tatsache (T) zu erfassen; vom „bloßen“ Erfassen der Tatsache (T) – also dem Erfassen, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann – ist jedoch das philosophische Begreifen dieses Erfassens der Tatsache (T) zu unter­ scheiden, durch das erst begriffen wird, was Selbstbewusstsein ist. Denn das „bloße“ Erfassen der Tatsache (T) liegt als Ausgangspunkt auch Descartes’ und Kants Auffassungen von Selbstbewusstsein zugrunde; und doch fehlt ihnen, sofern Hegels Kritik zutrifft, eben die Einsicht, dass das, was sie am Ende einer cartesischen Meditation tun, das Erfassen einer spekulativ-logischen Tatsache (T) im explizierten Sinne ist. Zur Folge hat das, dass sie Selbstbewusstsein als schlicht in sich selbst – und nicht in einer Tatsache (T), deren Erfassen es ist – gegründet (miss)verstehen. Unter „absolutem Geist“ ist nach Hegel nun ein solches Begreifen dessen, was dieses Erfassen der Tatsache (T) ist und impliziert, zu verstehen – und nicht 16  Dies impliziert – wie auch Andrea Kern in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band klar und überzeugend herausarbeitet (Kern 2018) –, dass Selbstbewusstsein Hegel zufolge nicht a priori im Sinne von nichtsinnlich ist: denn die cartesische Meditation kann nur von jemandem vollzogen werden, der über ihren Ausgangspunkt – d.h. über sinnliche Vorstellungsinhalte – verfügt. Sie bleiben, als in der Meditation negierte, modo negativo im reinen Selbstbewusstsein aufgehoben. Eine Auffassung des (reinen) Selbstbewusstseins, derzufolge dieses sinnliche Momente voraussetzt und in diesem Sinne auch modo negati­ vo enthält, ist vielen Philosophinnen und Philosophen suspekt. Der Grund dafür ist, dass sie bezweifeln, dass so verstandenes Selbstbewusstsein Prinzip (der Philosophie) sein könne. Es mag gut sein, dass sie das mit Recht bezweifeln – aber die Pointe von Hegels Auffassung des Selbstbewusstsein liegt ja gerade darin, dass das Selbstbewusstsein nicht Prinzip (der Philosophie) ist.  Wichtig ist außerdem zu betonen, dass das Enthaltensein (aufgehobener) sinnli­ cher Vollzüge im Selbstbewusstsein nichts daran ändert, dass (T) eine nichtempirische Tatsache ist. Die (aufgehobenen) sinnlichen Vollzüge sind nämlich nicht in (T) an sich selbst enthalten, sondern in unserem Erfassen von (T).

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bloß das Erfassen der Tatsache (T). Nun hatten wir bereits gesehen, dass und wie Selbstbewusstsein als Erfassen der Tatsache (T) philosophisch begriffen wird. „Dasselbe“ – derselbe „Inhalt“, wie Hegel es ausdrückt – wird nun im Christentum (jedenfalls, wie Hegel es sich zurechtlegt) vorgestellt, weshalb es als „absolute Religion“ zu qualifizieren ist. Wie aber hat man dieses „dasselbe im Modus der Vorstellung“ nun konkret zu verstehen, vor dem Hintergrund des philosophisch Dargelegten? Wie lässt sich nun Hegels religionsphilosophi­ sche Deutung des Christentums verstehen? Skizzenhaft lässt sich diese Frage so beantworten17: Im Christentum wird Jesus Christus als ein Individuum vorgestellt, das sich durchwegs und vollkom­ men als in einem nicht zu seiner Disposition stehenden Anderen gegründet weiß, seinem himmlischen Vater, und aus diesem Wissen heraus lebt, exi­ stiert. In der Religion wird dieses Wissen nun nicht als Wissen davon, dass Selbstbewusstsein das Erfassen der an sich gültigen und bestehenden Tatsache (T) ist, vorgestellt (sonst wäre sie Philosophie), aber – strukturanalog – als eine die menschliche Existenz durchdringende Glaubensgewissheit, dass ich das, was ich bin, nicht aus mir selbst, sondern aufgrund von etwas, das an sich ist und unendliche Macht hat, bin. Auch das, was wir oben den zweiten Aspekt des Grund-Existenz-Verhältnisses genannt haben, wird in der Religion vorstel­ lungshaft vergegenwärtigt: dass nämlich der Vater selbst nicht bestehen würde (sich als Ansichseiender nicht realisieren könnte) ohne seinen Sohn, durch dessen sich-gegründet-Wissen im Vater der Vater als Vater zuallererst offen­ bar wird; allerdings ohne, dass diese Abhängigkeit des Vaters bedeuten würde, dass er nicht mehr der Vater für den Sohn – und damit der Grund von dessen Existenz – wäre. Nun ist das Erfassen von (T) aber, wie wir sahen, „Geist“ und als solcher kein Besonderes, von einzelnen Individuen Abhängiges. Dies wie­ derum stellt das Christentum wie folgt vor: besagte Glaubensgewissheit – die Beziehung zum himmlischen Vater – ist nicht dem Sohn, der ja ein historisch verortetes, einzelnes Individuum ist, vorbehalten; vielmehr ist sie universal, allen Menschen zugedacht. Diese Universalität stellt die Religion nun als Vermittlungsgestalt, als dritte Person – neben dem Vater und dem Sohn – vor. Diese dritte Person ist so aber wesentlich für das Vatersein des Vaters (der sonst nicht der Vater aller Menschen wäre) und das Sohnsein des Sohnes (des­ sen Beziehung zum Vater sonst eine partikulare, nicht eine für das Vatersein des Vaters und das Gottsein Gottes konstitutive wäre). Also gehört diese dritte

17   Ausführlicher habe ich Hegels philosophische Deutung religiöser Vorstellungen in Oehl 2014 dargestellt – eine Darstellung, die ich allerdings im Hinblick auf die genaue Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie nicht mehr für überzeugend halte.

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Person, der Heilige Geist, zum Wesen Gottes konstitutiv hinzu, der somit als dreieinig, als trinitarische Wesenseinheit dreier Personen, vorgestellt wird. Hegel zufolge ist es diese dritte Person, der (Heilige) Geist, in der die christ­ liche Vorstellung von Gott kulminiert18. Vor dem Hintergrund seiner darge­ legten Auffassung von Selbstbewusstsein dürfte dies einleuchten; denn das metaphysische Primat kommt nicht dem Begriff, der Tatsache (T), und auch nicht dem besonderen selbstbewussten Wesen als existierendem Begriff, das (T) als seinen Grund erfasst, zu; denn der Begriff, die Tatsache (T), ist zwar allgemein – und in diesem Sinne an sich, an sich geltend –, aber nicht an sich wirklich; und das selbstbewusste Wesen als besonderes ist zwar wirklich, aber nicht allgemein. Metaphysisch wirklich ist erst der Zusammenschluss beider, also das Erfassen von (T) – ebenso wie das Erfassen, dass Selbstbewusstsein ein Erfassen von (T) ist – durch ein je besonderes Selbstbewusstsein. Dieses Erfassen ist nach Hegel „Geist“ – und das eigentliche Metaphysicum. So überrascht es nicht, dass er auch die christliche Religion so deutet, dass mit der Bestimmung Gottes als Geist nicht nur ein Moment Gottes (die dritte Person), sondern qua dritter Person zugleich die vollständige und eigentliche Bestimmung Gottes angegeben ist19. Nun ist diese Rede vom „Geist“ – als eines Metaphysicums – aber erläute­ rungsbedürftig. Es darf sich nicht vorschnell der Eindruck ein­schleichen, als sei von etwas „Göttlichem“ die Rede; so fasst es zwar das Christentum auf. Aber dieses ist philosophisch nur verbindlich, insoweit es in den philosophischen 18  Vgl. Enz. 1830, § 384: „Das Absolute ist der Geist; diß ist die höchste Definition des Absoluten. – Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, diß kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen. – Das Wort und die Vorstellung des Geistes ist früh gefun­ den, und der Inhalt der christlichen Religion ist, Gott als Geist zu erkennen zu geben. Diß war hier der Vorstellung gegeben, und was an sich das Wesen ist, in seinem eigenen Elemente, dem Begriffe, zu fassen, ist die Aufgabe der Philosophie, welche so lange nicht wahrhaft und immanent gelöst ist, als der Begriff und die Freiheit nicht ihr Gegenstand und ihre Seele ist.“ (GW 20, 382 f.) 19  Man kann bereits an dieser Stelle exemplarisch sehen, wie unorthodox Hegels religions­ philosophische Deutung des Christentums ist: Ihr zufolge sind Vater und Sohn sozusa­ gen abstraktiv-untergeordnete Momente des Geistes, der als eigentliches Metaphysicum durchaus monistisch gedacht wird. Horstmanns an der Phänomenologie des Geistes ent­ wickelte These, Hegels System laufe letztlich auf einen Geistmonismus hinaus, ist in dieser Hinsicht zutreffend (vgl. Horstmann 2008); nicht zutreffend wäre sie, wenn sie in einer Leugnung der gerade vom reifen Hegel affirmierten Differenz des endlichen und des un­ endlichen Subjekts (des Absoluten) bestünde. Darauf werden wir im Folgenden näher zu sprechen kommen.

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Begriff überführbar ist. Der Nachweis, dass dies möglich ist, geht ja gerade damit einher, dass in dieser Überführung auch Defizite der Vorstellung ab­ gestreift werden, die sodann nicht mehr in das philosophische Begreifen eingehen dürfen. Dieses aber kam ja in unserer Darstellung ganz ohne den Gottesbegriff aus. Denn nüchtern besehen besagt „Geist“ in Hegels philoso­ phischem Gebrauch des Wortes nicht mehr, als dass denkendes Erfassen einer (logischen) Tatsache universal ist – unbeschadet der Tatsache, dass es durch – und nur durch – je einzelnes Selbstbewusstsein realisiert sein kann. Natürlich ist damit schon Einiges behauptet: nämlich dass dieses Erfassen eben nicht im (je besonderen) Selbstbewusstsein – auch nicht in endlicher Subjektivität als solcher – begründet ist, sondern im Geist, der als solcher intern ausdiffe­ renziert ist in das besondere selbstbewusste Wesen und die an sich gültige Tatsache. Das ist ein starker Begriff des Denkens – so stark, dass man durch­ aus sagen kann, dieses Erfassen ist als solches metaphysisch wirklich, als Geist. Doch – und das ist nun der entscheidende Punkt – haben wir soweit keinen Grund gesehen, diesen Geist als „Gott“ anzusprechen. Denn er hat keinerlei personalen Zug, ist kein Wesen, zu dem ich als ein Gegenüber im weitesten Sinne in einer Beziehung stehen könnte. Er ist nichts anderes als ein begrifflich strukturiertes Denken, das nicht ein psychologischer Prozess ist, sondern der Vollzug von Geltungszusammenhängen, den jedes einzelne (selbstbewusste) endliche Subjekt mit- und nachvollziehen kann. Es scheint also, dass weder die paradigmatisch rechts-, noch die paradigma­ tisch linkshegelianische Deutung Hegels Recht behält: Erstere nicht, weil kein Gott im Spiel ist, zweitere nicht, weil der starke Geistbegriff Hegels nicht auf die Gattung der Menschheit, als eine Art Eigenschaft derselben, reduzierbar ist. Scharfsinnige Kritiker Hegels – wie Schelling – haben dies, wie mir scheint, klar gesehen: Hegel denkt einen universalen Geist – aber so, dass dieser nichts anderes als ein starker, nicht-psychologischer und nicht auf die endliche Subjektivität als solche reduzierbarer Begriff des (begrifflichen) Denkens ist. Das aber impliziert, dass er absolut nichtpersonal und damit nur in einem sehr uneigentlichen Sinne „Gott“ zu nennen ist. Mit anderen Worten: Es sei Hegel gestattet, ihn „Gott“ zu nennen – doch begreift man, was damit gemeint ist, erscheint die These, Hegels System sei ein „Gottesbeweis“ und „Gott“ sei der einzige Gegenstand der Philosophie, weit weniger spektakulär, als sie klingt, wenn man in solche Thesen auch nur Spuren der traditionellen, Personalität implizierenden Bedeutung des Gottesbegriffs – seiner genuin religiösen Bedeutung – hineinliest20. 20  Gerade in dieser Hinsicht ist – anschließend an die Kontroverse um das Verhältnis von Religion und Philosophie in Hegels System – zu bemerken, dass es soweit kaum möglich

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An dieser Stelle befinden wir uns nun an einem Scheidepunkt: Will man das reine, apriorische, voraussetzungslose Denken nicht verlassen, ist nicht mehr „Gott“ in Hegel als soeben aufgewiesen. Doch wie im Folgenden gezeigt werden soll, kann man dieses Denken in einem gewissen Sinne verlassen – und es gibt Textbefunde, die zeigen, dass Hegel dies aus durchaus transparent zu machen­ den Motiven getan hat. Folgt man diesen, lässt sich mit Hegels Philosophie tatsächlich ein Gott beweisen, der den elementar personalen Zug des Willens aufweist. Diesen weiterführenden Gedankengang – seine Eigentümlichkeit mitsamt den Gründen, die für und die gegen ihn sprechen – wollen wir nun verfolgen.

Hegels „positive“ Philosophie

Ansatzpunkt dieses weiterführenden Gedankenganges ist Hegels schon in der Phänomenologie des Geistes präsente, ab dann zumindest untergründig stets beibehaltene These, dass endliche Subjektivität einen internen Hang hat, sich selbst absolut zu setzen. Die Stellen, an denen Hegel gegen diesen Hang zur Selbstfixieriung des Ich, der endlichen Subjektivität, der Gewissheit seiner selbst etc. geradezu aggressiv anschreibt, sind Legion. Wir können diesen Hang nun präzise auf den Begriff bringen: Er besteht oder manifestiert sich darin, Selbstbewusstsein als solches als Prinzip – ohne Rekurs auf die Tatsache (T) – zu verstehen. Wir hatten diese – nach Hegel falsche – Auffassung von Selbstbewusstsein als die „kantische“ identifiziert. Hegels These ist also die, dass der endlichen Subjektivität der Hang innewohnt, die kantische Auffassung für wahr zu halten. Hegel sieht in dieser seiner These die philosophische Entsprechung einer religiösen Vorstellung, die in der soweit dargelegten philosophischen Deutung der Religion noch gar nicht vorkam: nämlich der Sünde. Sie besteht – in christlicher, vor allem lutherischer Vorstellung – genau im Hang des Menschen, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen, d.h. sich selbst als das Letztgültige und Höchste zu verstehen. Entsprechendes passiert, wenn endliche Subjekte die kantische Auffassung des Selbstbewusstseins vertreten. Hegels These ist nun nicht, dass es eben einige Subjekte gibt, die – sodann kontingenterweise – die irrige kantische Auffassung von Selbstbewusstsein scheint, zwei Thesen Hegels kompatibel zu bekommen: Erstens die These, dass der Inhalt von Religion und Philosophie derselbe sei; zweitens die eben aufgezeigte These, dass in der Philosophie eigentlich nicht von „Gott“ die Rede ist und sein kann, auf welche Hegel mir soweit klar verpflichtet scheint. Wir werden aber gleich sehen, unter welcher Voraussetzung diese Beschränkung aufzuheben ist.

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vertreten, sondern vielmehr – auch darin der christlichen Vorstellung von der Sünde entsprechend –, dass alle endlichen Subjekte (nach christlicher Vorstellung: mit Ausnahme des Sohnes) dies aus sich zu tun tendieren und, sofern sie nichts daran hindert, dies auch tatsächlich tun. Diese These – sowohl ihrem Inhalt nach: dass endliche Subjekte die Tendenz haben, sich selbst als Absolutum (miss) zu verstehen, als auch ihrer Form nach: als Allsatz – ist philosophisch höchst begründungspflichtig. Hegel hat, soweit ich sehe, keine Begründung dafür gegeben. Vielmehr schreibt er dazu in seiner diesbezüglich aufschlussreichen Göschel-Rezension von 1829, die Philosophie habe von der „Sünde“ auszugehen, ohne deren Voraussetzung kein Verständniß der Welt, ohne deren Anerkennung keine Selbsterkenntniß, ohne deren Aufhebung keine Gotteserkenntniß möglich ist […]. GW 16, 206

Für uns ist diese Passage, sofern man sie für voll nimmt, in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Zum einen belegt sie, dass Hegel in der eben beschriebenen Weise eine philosophische Version der Sündenlehre vorschlägt und sich phi­ losophisch darauf verpflichten will; zum anderen zeigt sie, dass Hegel diese philosophische Version der Sündenlehre explizit als eine „Voraussetzung“ be­ zeichnet – und das heißt hier, wie mir scheint: als etwas, von dem auszugehen und hinter das – jedenfalls im reinen Denken – nicht noch einmal im Modus der Begründung zurückgegangen werden kann. (Darauf werden wir nachher zurückkommen.) Die Pointe dabei ist, dass Hegel genau und nur so tatsächlich eine vollkommene philosophische Version der christlichen Sündenlehre unter­ nimmt: denn zu dieser, jedenfalls in ihrer orthodoxen Fassung, gehört ja genau die Vorstellung, dass eigentlich unbegreiflich ist, wie der Mensch in Sünde fal­ len konnte; dass der Sündenfall nicht ableitbar ist; dass die Sünde ein factum brutum ist. Wer also der Auffassung ist, dass eine so starke philosophische These nur dann akzeptabel ist, wenn sie im reinen Denken begründet ist, wird – und muss – den folgenden Gedankengang verwerfen. Allerdings scheint es mir fragwürdig bis dogmatisch, dies ohne weitere Reflexion darauf zu tun, warum sie im reinen Denken nicht begründet – nicht begründbar – ist. Denn es ist ja denkbar, dass zumindest das begründbar ist. Mit dieser Überlegung tre­ ten wir in den Debattenkontext um und nach Hegel ein, der sich insbeson­ dere um Schelling zentriert: Schelling hat in seiner Spätphilosophie genau ein Verständnis von Philosophie vorgelegt, das „positiv“ in dem Sinne ist, dass Gegebenheiten in die Philosophie aufzunehmen sind, die in ihr nicht

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durch einen apriorischen Begründungsgang abzuleiten sind21. Und dies – in abstracto – lässt sich durchaus begründen: nämlich durch den Gedanken, dass es zum Wesen personaler Wirklichkeit gehört, dass diese in ihrer freien Entfaltung nicht Gegenstand eines apriorischen Gedankengangs sein kann, da sie sonst eben nicht frei – sondern notwendig und ewig feststehend – wäre. Mir scheint, dass Hegel – egal ob durch Schelling in Person oder durch ähn­ liche Überlegungen wie Schelling angestoßen – im Laufe der 1820er-Jahre auf diese Art des Denkens gestoßen ist. Die wohl gewichtigste Belegstelle haben wir oben zitiert. Was aber folgt nun aus der These, dass alle Menschen Sünder sind, die – philosophisch gefasst – bedeutet, dass alle endlichen Subjekte aus sich selbst dazu tendieren, sich selbst absolut zu setzen – d.h. in unserem Fall in concre­ to: die kantische Auffassung des Selbstbewusstseins zu vertreten? Daraus folgt zunächst eine weitere Frage: Wie ist es dann möglich, dass zumindest einzelne Menschen die richtige – hegelsche – Auffassung des Selbstbewusstseins haben können? Die – wie wir annehmen – konsequente philosophische Version der (lutherischen) Sündenlehre lässt es weder zu, einen spontanen oder gar freien Entschluss des endlichen Subjekts selbst als Erklärung anzuführen – denn dieses ist ja in und aus sich selbst vollkommen vom Hang, die kantische Auffassung des Selbstbewusstseins zu vertreten, determiniert –, noch, einen zufälligen Umschlag des endlichen Subjekts – denn es wäre vollkommen unklar, worin ein solcher bestehen sollte und woher er die Macht beziehen könnte, den ja willentlichen Hang des endlichen Subjekts zu brechen. Es muss deshalb ein anderer Wille sein, der diesen brechen kann. Bevor wir diesen – erläuterungsbedürftigen –Gedanken im nächsten Abschnitt weiterverfolgen, halten wir abschließend die aufgezeigten Aspekte der (vollständigen) philoso­ phischen Version der christlichen Sündenlehre durch Hegel fest: (1) Der endlichen Subjektivität ist der Hang eingeschrieben, sich selbst – „das Ich“, Selbstbewusstsein – als Prinzip oder Absolutes (miss) zu verstehen. Sofern endliche Subjekte nichts daran hindert, folgen sie diesem Hang tatsächlich22.

21  Siehe dazu Hutter 2012. 22  Hegel charakterisiert die „Sünde“ entsprechend treffend als „Verstandesweise, welche einen abstracten unlebendigen, sinnlichen, maschinenmäßigen Begriff an die Stelle des speculativen Begriffs unterschiebt, die Sünde, welche alle Begriffe verkehrt, und sie ver­ unreinigt.“ (GW 16, 204)

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(2) Besagter Hang ist ein geistiger – und d.h. nach Hegel: einer des theoreti­ schen wie des praktischen Geistes, d.h. der Intelligenz wie des Willens: ein sich-als-Prinzip-und-Absolutes-denken-Wollen. (3) Besagter Hang ist, als geistiger, der endlichen Subjektivität derart einge­ schrieben, dass alle endlichen Subjekte ihn haben. (4) Besagter Hang ist der endlichen Subjektivität derart eingeschrieben, dass endliche Subjekte ihn weder aus sich selbst (aus eigenem Willen) noch zufällig verlieren oder unwirksam machen können. (5) Wird besagter Hang unwirksam gemacht, so handelt es sich um eine Brechung oder Überwindung durch ein anderes geistiges – d.h. theoretisches wie praktisches – Subjekt.

Hegels philosophische Konzeption des „Absoluten“ und sein neuer philosophischer „Gottesbeweis“

Den letzten der aufgeführten Aspekte von Hegels philosophischer Version der christlichen Sündenlehre haben wir nun genauer zu verstehen. Zunächst scheint er nämlich schlicht unverständlich, ja unsinnig zu sein. So plausibel es sein mag, dass ein verfestigter Wille sich nicht aus sich selbst oder zufällig – „einfach so“ – aufgeben, umkehren, verändern mag, so unplausibel ist es, dass ein anderer Wille – ein anderes Willenssubjekt – Einfluss auf meinen Willen nehmen könnte. Das scheint unsere (inter)personale Erfahrung zu belegen: Wenn ich meine (theoretisch-praktische) Haltung zu etwas nicht ändern will, so kann mein Gegenüber meine Haltung auch nicht ändern. Meine theore­ tisch-praktische Haltung zu etwas ist meine, und nicht die meines Gegenüber. Gleich wie mein Gegenüber nicht mein Leben leben kann, kann es nicht für mich wollen. Dieser initiale Einwand ist berechtigt23 und verlangt nach einer Erklärung, welchen Sinn Aspekt (5) im Kontext unserer Argumentation haben soll. Diese können wir geben: Das andere, von uns als endlichen Subjekten unterschiede­ ne Subjekt, das unseren Willen umkehrt, ist der Gang des Gedankens selbst, wie er sich uns in der cartesischen Meditation und darüber hinaus darstellt und aufdrängt. Wir haben einen Gedankengang nach- oder mitvollzogen, durch 23   Natürlich könnte man hier einwenden, es gebe sehr wohl willentlich wirksame Einflussnahme anderer Personen: etwa, wenn mich der Auftritt einer bestimmten Person so mitreißt, dass ich meine theoretisch-praktische Einstellung zu bestimmten Dingen än­ dere. Die Diskussion darüber, wie genau solche „Einflussnahme“ philosophisch zu analy­ sieren ist, soll hier nicht geführt werden.

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den wir zur richtigen Auffassung des Selbstbewusstseins gelangt sind. Dieser Gedankengang, so stellt sich auf Grundlage der philosophischen Version der christlichen Sündenlehre heraus, war nun nicht, wie es schien, ein reintheoretisches Geschehen, sondern ein theoretisch-praktisches Geschehen. Das heißt: Insofern wir in diesem Gedankengang etwas eingesehen und ver­ standen haben, von etwas überzeugt wurden, hat sich dieser Gedankengang selbst Bahn gebrochen und, indem er uns einleuchtete, uno eodem actu un­ seren (aktualisierten) Hang, uns selbst anders zu verstehen, als wir es diesem Gedankengang zufolge sollten, unwirksam gemacht. Kurz und pointiert gesagt: Der Mit- oder Nachvollzug des dargestellten philosophischen Gedankengangs ist zu analysieren als sich-Zeigen eines Zusammenhangs, der, indem er sich zeigt – und zwar so, dass wir von ihm überzeugt sind –, uno eodem actu die Kraft hat, unsere Verweigerung, das, was er zeigt, einzusehen, zu brechen. Anders gesagt: Hinter dem „Es“ in „Es zeigt sich, dass so und so“ oder „Es stellt sich heraus, dass so und so“ steckt Hegel zufolge ein anderes, wirkliches Subjekt als ich; dieses Subjekt ist nichts anderes als der Gedanke, insofern er sich mir erschließt – und zwar so, dass er meinen verfestigten Willen, sich diesem Erschließen zu verschließen, selbst willentlich zu brechen vermag. Es ist also – trotz dieser Wirksamkeit eines anderen Subjekt, das der Gedankengang selbst ist – korrekt zu sagen: „Ich begreife, dass Selbstbewusstsein das Erfassen der Tatsache (T) ist.“ Was das bedeutet, ist al­ lerdings philosophisch erst voll begriffen, wenn festgestellt wird, dass dieser Akt des Begreifens auch wie folgt beschrieben werden kann und muss: „Dass Selbstbewusstsein das Erfassen der Tatsache (T) ist, erschließt sich mir, drängt sich mir willentlich auf.“24 Wie angedeutet, findet sich dieser Gedanke bei 24  Dieses „andere Subjekt“, das „Absolute“, ist also letztlich nichts anderes als das philoso­ phische Begreifen selbst. Ein paar kontextualisierende Bemerkungen dazu: Hegel kann so die aristotelisch-scholastische Rede vom „reinen Akt“ einholen und – anders als bei Kant (vgl. Fn. 15) – intelligibel machen; denn wenn man das „Absolute“ in der dargeleg­ ten Weise als das philosophische Begreifen versteht, impliziert das, dass es sich bei die­ sem „Absolutem“ nicht um ein Wesen handelt, dem die Eigenschaft zukommt, dass es philosophisch begreift, sondern das in diesem philosophischen Begreifen aufgeht. Neu an Hegels Auffassung ist jedoch, dass er dieses philosophische Begreifen als ein auch willentliches Geschehen auffasst. Das aber impliziert, dass das „Absolute“ bei Hegel – anders als Schelling und andere es Hegel unterstellt haben – sehr wohl bereits personal gedacht wird und zu denken ist; denn der Wille ist offenbar ein – wenn nicht gar der – personale Zug schlechthin. Zugleich wird sichtbar, worin sich Hegels so verstandene „Willensmetaphysik“ etwa von derjenigen Schopenhauers unterscheidet: Der Wille von Hegels „Absolutem“ ist kein blinder, widerrationaler, sondern ein wesentlich und intern mit dem philosophischen Begreifen verbundener Wille. Das „Absolute“ nach Hegel ist

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Hegel bereits in der Phänomenologie des Geistes, in deren Einleitung, in nuce so ausgedrückt: Sollte das Absolute durch das Werkzeug [sc. Erkennen als ein Werkzeug aufgefasst, T.O.] uns nur überhaupt näher gebracht werden, […], wie etwa durch die Leimruthe der Vogel, so würde es wohl, wenn es nicht an und für sich schon bey uns wäre und seyn wollte, dieser List spotten […]. GW 9, 53; Kursivierung T.O.

Diesem offenkundig intendierten, bedachten Zusatz „und seyn wollte“ wird von HegelinterpretInnen, soweit ich sehe, selten bis nie ernsthaft Rechnung getragen. Hegel scheint mir darin zum Ausdruck zu bringen, was hier im Anschluss an die Göschel-Rezension entwickelt wurde: Dass sich der Weg des Menschen zur Erkenntnis des Absoluten nur als sich-selbst-Erweisen des Absoluten begreifen lässt, dieses aber aus den dargelegten Gründen ein theo­ retisches (d.h. in Form eines Arguments geschehendes) wie praktisches (d.h. als Willensbrechung geschehendes) sein muss – und zwar so, dass sich beide Momente in einem Akt ereignen und nicht voneinander trennbar sind. Dem entspricht, dass Hegel den (freien) Geist in seiner vollendeten Form in der Enzyklopädie als ursprüngliche, d.h. nicht (mehr) trennbare, Einheit des theo­ retischen und des praktischen Geistes versteht (vgl. Enz. 1830, § 481). Um den Gedanken, dass sich in der Erkenntnis, was Selbstbewusstsein ist, eine Willensbrechung ereignet, weiter zu plausibilisieren, können wir noch zwei weitere, illustrierende Gedankengänge anstellen: (i) Zur Reichweite intellektueller Defizite. Selbstbewusstsein, sagten wir, ist: Ich erfasse, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann. Unbefangen betrachtet ist dies – Selbstbewusstsein – doch offenkundig dadurch zu „er­ klären“, dass es eben so ist, wie es ist und wie ich es erfasse – nämlich, dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann – und wir erfassen können, wie etwas (an sich) ist. Das ist nun kein theoretisch einfacher Gedanke. Und doch scheint es unplausibel, die diesbezüglichen Irrtümer der Aufklärungsund Reflexionsphilosophie durch theoretische – intellektuelle – Defizite zu erklären; plausibler scheint es, sie als eine willentliche (wenngleich freilich nicht absichtliche oder gewählte) Verweigerung, diesen Gedanken einzu­ sehen, zu verstehen. Etwas weiter gefasst: als eine falsche Orientierung der das philosophische Begreifen, insofern es sich kraftvoll, d.h. willentlich, geltend macht und Geltung verschafft.

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oder des Denkenden, die als solche nicht in reintheoretischen Termini zu explizieren ist. (ii) Zur phänomenalen Plausibilität der Willensbrechung. Die These ist, dass es sich beim Begreifen dessen, was Selbstbewusstsein wirklich ist – nämlich das Erfassen der Tatsache (T) – um ein Geschehen handelt, in welchem ein ande­ res, absolutes Subjekt theoretisch wie praktisch wirksam ist. Das aber ist auch phänomenal erfahrbar. Dies zeigt sich an Formulierungen wie „Es geht mir auf, dass …“; „es zeigt sich, dass …“; „es stellte sich heraus, dass es anders ist als …“. Wir haben bei unserer Erläuterung von Hegels Konzeption des Absoluten be­ reits Gebrauch von solchen Formulierungen gemacht – und sie sind keines­ wegs solche, die sich nur bei Hegel finden oder sich nur vor dem Hintergrund seiner Konzeption des Absoluten motivieren ließen, sondern Ausdruck einer Erfahrung, die für das Philosophieren wesentlich ist. Hegel selbst hat eine – besonders griffige, witzige – Formulierung dieser Erfahrung geprägt: [D]ie Meynung erfährt, daß es anders gemeynt ist, als sie menyte […]. GW 9, 44

Eine solche Erfahrung – und das ist nun der entscheidende Punkt – ist eine, in der man nicht nur etwas, gleichsam distanziert, einsieht, was man vorher nicht eingesehen hat. Sondern sie ist eine Erfahrung, in der man bewegt, „um­ gekehrt“ wird, wie Hegel es formuliert. Soweit zur näheren Beleuchtung, was Versionsaspekt (5) in concreto be­ deutet und wie er philosophisch zu plausibilisieren ist. Durch das Verstehen von Hegels philosophischer Version der christlichen Sündenlehre haben wir zugleich seinen Begriff des Absoluten verstanden: Das „Absolute“ im Sinne Hegels ist derjenige Gedankengang, in dem ich erkenne, was ich – als Selbstbe­ wusstsein – wesentlich bin, zusammen mit demjenigen Gedankengang, in dem ich erkenne, dass sich dieser Gedankengang selbst willentlich – gegen meinen Willen – geltend macht und so den personalen Zug des Willens auf­ weist. Deshalb kann Hegel sagen, dass das Absolute Geist ist, und dass der Geist wesentlich und in seiner vollendeten Form Selbsterkenntnis ist (vgl. Enz. 1830, § 377). Selbsterkenntnis ist er sowohl, weil ich in den dargelegten Gedankengängen erkenne, was ich selbst wesentlich bin, als auch, dass ich selbst zunächst so bin, dass ich nicht erkennen will, was ich selbst wesent­ lich bin – und dass Selbsterkenntnis somit nur durch ein anderes Subjekt be­ wirkt möglich ist25. Diese Gedankengänge zusammengenommen machen den 25  Man kann nun im Geiste Schellings soweit gehen zu sagen, dass die Souveränität des Absoluten sich gerade in der Selbsterkenntnis der „Sünde“ maximal zeigt, die eben nicht

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absoluten Geist aus. Während ersterer allein, das philosophische Begreifen von Selbstbewusstsein als Erfassen von (T), sich selbst noch nicht begreift, wird dieser Mangel durch den zweiten, auf die „Sünde“ rekurrierenden, kompen­ siert; aus der Warte des zweiten ist der Mangel des ersten als Abstraktion von der wirklichen Negativität des Geistes, der sich in der „Sünde“ manifestiert, zu bestimmen. (Nach Hegels Deutung des Christentums entspräche der erste Gedanke der Existenz des Menschen vor dem Sündenfall – und wäre, diesen nun einmal gegeben, ohne den zweiten schlicht utopisch, selbstvergessen.) In diesen beiden Gedankengängen zusammengenommen aber lässt sich letztlich ein Beweis für die Wirklichkeit des Absoluten – und, sofern man die­ ses Absolute aufgrund des elementar personalen Zugs des Willens, das ihm wesentlich zukommt, „Gott“ zu nennen bereit ist, ein hegelscher Gottesbeweis – finden, welcher in übersichtlicher Kurzform so darzustellen ist: (I) Das endliche Subjekt will sich nicht selbst erkennen. (II) Die Selbsterkenntnis des endlichen Subjekts ist nur durch Brechung sei­ nes Willens durch den Willen eines anderen, d.h. nicht-endlichen, Sub­ jekts möglich. (III) Dieses andere Subjekt ist der bestimmte Gedankengang dieser Selbster­ kenntnis, insofern er sich selbst – auch willentlich – geltend macht. (IV) Es gibt endliche Subjekte, die sich selbst erkennen. (V) Dieses andere, nicht-endliche, Subjekt ist wirklich. Das Argument, der „Gottesbeweis“, gründet in der Prämisse, dass das endliche Subjekt „Sünder“ ist. Nun ist klar, warum Hegel von der „Sünde“ sagt, dass ohne deren Voraussetzung kein Verständniß der Welt, ohne deren Anerkennung keine Selbsterkenntniß, ohne deren Aufhebung keine Gotteserkenntniß möglich ist […]. GW 16, 206; Kursivierung T.O.

Wer also (an)erkennt, dass er als endliches Subjekt sich nicht selbst erken­ nen will, der kann auch erkennen, dass, insofern er sich selbst erkennt, das Absolute („Gott“) diese Selbsterkenntnis bewirkt haben muss und dadurch, wie erläutert, zugleich sich selbst zu erkennen gegeben hat, sich darin also zu­ gleich eine „Aufhebung“ der „Sünde“, die das Nichterkennenwollen dessen ist, ereignet haben muss. im reinen Denken – im Modus der Notwendigkeit – erzwungen werden kann, sondern uns (vom Absoluten?) „gegeben“ werden muss.

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Man wird nicht umhin kommen, diesem Gedankengang hohe Originalität und – basierend auf seinen Prämissen – Überzeugungskraft zuzuerkennen.

Hegels Begriff von Gott, Selbsterkenntnis und positivem Denken

Nun liegen in der so verstandenen Philosophie des absoluten Geistes zwei philosophische Pointen, die auch unabhängig davon, wie es um den Gottesbegriff und die metaphysische Gesamtanlage von Hegels Philosophie steht, von Interesse sind: (i) Die praktische Dimension von (Selbst-)Erkenntnis26. Hegels Auffassung des Absoluten als eines sich selbst – willentlich – geltend machenden Gedankengangs impliziert eine bestimmte Konzeption von (philosophischer Selbst-)Erkenntnis: nämlich eine solche, in welcher das praktische Moment des Willens eine Rolle spielt. Dieses wäre für sich genommen zu untersu­ chen – auch daraufhin, ob und inwieweit es sich auf andere Erkenntnisfelder als dasjenige der Selbsterkenntnis übertragen lässt. Doch selbst wenn es „nur“ ein Proprium von Selbsterkenntnis ist – oder vielleicht gerade deshalb –, handelt es sich hier um einen über Hegel hinaus interessanten, originellen Gedanken: dass das sich-selbst-(nicht-)erkennen-Wollen in eine Konzeption von Selbsterkenntnis einzuzeichnen ist, dass Selbsterkenntnis also in einem theoretisch und praktisch ist, dass – wie Hegel es ausdrückt – (freier) Geist die ursprüngliche Einheit des theoretischen und praktischen Geistes ist. (ii) Negatives vs. positives Denken. Noch einmal ist auf den Vorausset­ zungscharakter der Prämissen (1)–(5), welche eine philosophische Version27 der christlichen Sündenlehre sind, hinzuweisen. Es wurde bereits ange­ deutet, dass man in ihm eine methodische Volte des späten Schelling wie­ derentdecken kann: Für das reine Denken ist unentschieden – und muss es unentschieden sein –, ob der Mensch „böse“ ist oder nicht, d.h. – für Hegel – sich nicht selbst erkennen will. Die Frage, die sich dann stellt, ist, woher wir 26  Zu einer (solchen) epistemologischen Dimension der Philosophie des absoluten Geistes vgl. auch Christian Martins Beitrag zu diesem Band (Martin 2018). 27  Nun dürfte auch deutlich geworden sein, worauf nachher noch einmal zurückzukom­ men sein wird: dass Hegel die philosophische Version der christlichen Sündenlehre auch unter dem Aspekt konsequent vornimmt, dass „die Sünde“ nicht als moralisches, sondern als metaphysisches (oder auch existentielles) Böses verstanden wird: eben als sich-nicht-selbst-erkennen-Wollen.

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­ hilosophisch davon sodann etwas wissen – oder zumindest gerechtfertigt be­ p haupten – können sollen. Hegels Strategie ist mit Sicherheit nicht, dem Dogma einer Religion zu folgen, weil es das Dogma (s)einer Religion ist. (Und wäre es seine Strategie, wäre sie philosophisch absolut inakzeptabel.) Vielmehr scheint mir die – einzig vielversprechende – Antwort diejenige zu sein, die der Schellingianer Franz Rosenzweig gegeben hat: Philosophie müsse „absolu­ ter Empirismus“28 sein – und das bedeutet im hier relevanten Sinne, dass ein umfassender Blick auf die Wirklichkeit, wie sie sich tatsächlich darstellt (ein „ins Angesicht Schauen“) – und wie sie sich im reinen Denken nicht darstellen muss –, zu den positiven, sodann vorauszusetzenden Prämissen führt. Dadurch bekommt die Philosophie – hier: in ihrer metaphysischen Dimension – das­ jenige, was man mit einem berühmten Wort McDowells „Offenheit zur Welt“ nennen könnte. Zuzugeben ist, dass dieses Verfahren riskant ist. Ein solcher Blick auf die Welt kann falsch sein oder zu falschen Behauptungen einladen. Das ist die Kehrseite dieser Methode positiver Philosophie, die zu (er)tragen ihr zufolge allerdings unvermeidlich ist, wenn man das Tatsächliche, nicht im reinen Denken zu Begreifende, philosophisch aber unbedingt Relevante in die Philosophie integrieren will29.

28  Vgl. Rosenzweig 1925. 29  Die Differenz zwischen dem reinen (negativen) und dem positiven Denken präzise und prinzipiell zu fassen, ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich. Mir scheint aber, dass die eben gegebene Skizze den methodischen Hintergrund dessen, was in diesem Aufsatz in concreto durchgeführt wurde, erhellt. Zu diesem Erhellen beitragen kann desweiteren noch folgende Reflexion, die sich bei Schelling – aber eben auch bei Hegel selbst – finden lässt: der Gedanke, dass endliche Subjekte sich aus sich selbst gerade nicht erkennen wol­ len, also der Gedanke einer prinzipiellen geistigen Verkehrtheit des endlichen Subjekts aus sich selbst, wäre etwa für Platon ungeheuerlich gewesen; nach seiner Konzeption ist jedes geistige Defizit nur aus einem externen Hinderungsfaktor – der Sinnlichkeit – zu verstehen. Mit Schelling – und Hegel – kann man diesen Befund nun so deuten: Dass Platon nicht auf den Gedanken einer prinzipiellen Verkehrtheit des endlichen Subjekts (geschweige denn auf dessen Affirmation) kam, lag oder liegt nicht daran, dass Platon nicht scharfsinnig genug gedacht hätte. Es liegt vielmehr daran, dass ihm dieser positive Gedanke (historisch) noch nicht gegeben war. Auf ihn wäre das reine Denken nie gekom­ men – auch wenn es noch so lange und noch so gut gedacht hätte –, was ein Symptom dessen ist, dass es aus sich selbst eben prinzipiell nicht auf diesen Gedanken kommen kann.

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Zum Verhältnis von Religion und Philosophie bei Hegel – und ein kurzer Blick auf die Kunst

Die verschiedenen Bezüge, die wir mit Hegel zwischen Religion und Philosophie hergestellt haben, bedürfen einer abschließenden Systematisierung in thetischer Form, wodurch das verwickelt scheinende Verhältnis von Religion und Philosophie nach Hegel im Lichte der vorgetragenen Lesart klargestellt wer­ den kann: (i) Die Philosophie ist nach Hegel durch und durch selbstständig; sie über­ nimmt nichts von der Religion – mit Ausnahme der sodann als Voraussetzung der Philosophie gesetzten These, dass das endliche Subjekt aus und in sich selbst geistig verkehrt ist. (ii) Unter dieser Voraussetzung ist Philosophie Selbsterkenntnis: In ihr wird begriffen, was Selbstbewusstsein ist, und in einem, dass dieses Begreifen nur durch die Wirklichkeit des Absoluten, das der begriffene Gedankengang als sich selbst geltend machender ist, möglich ist. (iii) Vor diesem Hintergrund kann die Philosophie Vernunft in der Religion erkennen, da diese dasselbe in vorstellungshafter Form darstellt. (iv) Die Philosophie ist der Religion in Klarheit und Geltung unbedingt überlegen – das heißt, dass nur gilt, was die Philosophie begreift (was nicht be­ deutet, dass die – wenn auch defizitäre, vorstellungshafte – Form der Religion nicht auch eine geistige wäre); unterlegen ist die Philosophie, als negatives Denken, der Religion nur darin, dass sie die in der Religion verfügbare These, dass das endliche Subjekt aus und in sich selbst geistig verkehrt ist, nicht aus sich selbst hervorbringen kann; da diese These aber die Voraussetzung für den dargestellten Gottesbeweis ist, kann die Philosophie ohne einen affirmativen Bezug auf sie auch keinen Gottesgedanken – jedenfalls nicht den Gedanken eines Absoluten, das mit dem elementar personalen Zug des Willens ausge­ stattet ist – fassen. Hat die Philosophie sich aber so weit entwickelt, glaubt sie nicht an Gott, sondern kann ihn beweisen. (v) Wenn hier von „Religion“ die Rede ist, so ist damit natürlich nicht die Menge dessen gemeint, was sich als „Religion“ bezeichnet oder so bezeich­ net wird. Vielmehr lässt sich nach Hegel präzise folgende Definition geben: Religion sind diejenigen geistigen Formen, in denen behauptet und zumin­ dest vorstellungshaft eingesehen wird, dass das endliche Subjekt aus und in sich selbst geistig verkehrt ist, und die Befreiung davon, die Einsicht darein nur durch ein anderes, unendliches Subjekt, Gott, gewinnen kann. Für Hegel ist dieser Zusammenhang nirgends so prägnant gefasst wie in der christlichen Religion protestantischer Prägung, in welcher der erste Gedanke – dass das

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endliche Subjekt aus und in sich selbst geistig verkehrt ist – mit dem zwei­ ten – dass die Befreiung davon, die Einsicht darein nur durch ein anderes, unendliches Subjekt, Gott, möglich ist – in maximaler Weise verknüpft ist in der Vorstellung, dass Gott zur Realisation von zweiterem unter den Vorzeichen von ersterem Mensch wird. (vi) Die Form der Vorstellung, in der die Religion gefasst ist, bringt einen „Vorteil“ mit sich: In ihr werden die Verhältnisse (z.B. dasjenige zwischen Gott und seiner Schöpfung) als wesenslogische Verhältnisse vorgestellt (vgl. Enz. 1830, § 565). Damit aber „passt“ sie gut zum philosophischen Begreifen des Verhältnisses von Begriff und Selbstbewusstsein, das ja – als Verhältnis von Grund und Existenz – zunächst ebenfalls ein wesenslogisches ist. (vii) (v) und (vi) hängen intern miteinander zusammen: In der Religion wird eine starke Differenz zwischen Gott und Mensch sowie – durch die Sünde – ein Riss vorgestellt. Beides eignet den Formen der Philosophie und Kunst (Begriff bzw. Anschauung) nicht. Die Philosophie allerdings kann dieses Defizit durch die Aufnahme der positiven Voraussetzung kompensieren und durch die so verstandene Integration der Religion diese „überholen“; dies ist der Kunst nicht möglich. Hegel betont explizit, dass ihr Ende darin begründet liege, dass sie keine Negativität enthalte und ertrage30.

Subjektiver, objektiver und absoluter Geist

Eine – oder: die – Leitfrage des vorliegenden Sammelbandes ist, wie sich der objektive zum absoluten Geist verhalte. Die Antwort auf diese Frage haben wir performativ gegeben – und müssen sie nun nur noch explizit machen, festhalten: Der objektive Geist spielte in unserer Exposition des absoluten Geistes überhaupt keine Rolle. Daraus lässt sich schließen, dass Hegels These, der objektive Geist sei der „Weg“, auf welchem die Existenz des absoluten Geistes sich ausbildet (vgl. Enz. 1830, § 553), so zu verstehen ist, dass der ob­ jektive Geist seine externe Voraussetzung ist. Ganz analog, wie die Natur die externe Voraussetzung des Geistes überhaupt ist. Unter „x ist eine externe Voraussetzung von y“ verstehe ich: x ist notwendig für (die Existenz von) y, aber zur philosophischen Explikation von y bedarf es nicht des Rekurses auf einzelne Instanzen von x. Es wäre kein Geist ohne Natur – und das ist notwen­ dig so, und als solches eine philosophische Einsicht –, aber zur Explikation dessen, was Geist ist – z.B. Hegels Explikation: Geist als Selbsterkenntnis (vgl. Enz. 1830, § 377) – bedarf es keines Rekurses auf etwas, das Teil der Natur ist 30  Siehe dazu den Beitrag von Gunther Wenz im vorliegenden Band (Wenz 2018).

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(allenfalls auf den Naturbegriff im Ganzen). Analog: Es wäre kein absoluter Geist ohne objektiven Geist – und das ist notwendig so, und als solches eine philosophische Einsicht –, aber zur Explikation dessen, was absoluter Geist ist, bedarf es keines Rekurses auf etwas, das Teil des objektiven Geistes ist (das Recht, die Moralität, die Sittlichkeit). Damit ist insbesondere gemeint, dass die Explikation des absoluten Geistes nicht die „große Erzählung“ von der Weltgeschichte zu ihrem konstitutiven Teil hat. In dieser Hinsicht ist der abso­ lute Geist absolut souverän gegenüber dem objektiven. Nun kann man besagte Analogie – oder Parallele – wie folgt präzisieren: Die drei Systemteile Logik, Natur, Geist verhalten sich so zueinander, dass es zur Explikation des Geistes sehr wohl der Explikation der Momente der Logik bedarf, nicht aber der Momente der Natur. Entsprechend bedarf es, wie sich gezeigt hat, zur Explikation des absoluten Geistes sehr wohl der Explikation eines Moments des subjektiven Geistes (Selbstbewusstsein)31, nicht aber der Momente des objektiven Geistes. Das bedeutet, dass das Verhältnis der drei Systemteile zueinander in dieser Hinsicht analog ist zum Verhältnis der drei Teile der Geistphilosophie zueinander. Seinen prägnantesten Ausdruck findet diese Entsprechung darin, dass Hegel den objektiven Geist denn auch als „zweite Natur“ bezeichnet – und mir scheint, dass die Bedeutung dieses Ausdrucks unvollständig verstanden ist, solange man besag­ te Entsprechung nicht realisiert. Nun sind allerdings drei (mögliche) Vorbehalte zu bemerken: (i) Der erste betrifft die altbekannte und vieldiskutierte Frage, wie sich die Exposition des (Begriffs des) absoluten Geistes in der Enzyklopädie zu derje­ nigen in den Vorlesungen verhält. In diesem Aufsatz wurde Fuldas Auffassung gefolgt, derzufolge die in philosophischer Absicht primär (wenn nicht gar einzig) entscheidenden Geltungszusammenhänge in der Enzyklopädie zu­ reichend und vollständig dargelegt sind32. Ist man hier anderer Auffassung, impliziert dies freilich, dass die Explikation des absoluten Geistes nicht ohne Rekurs auf die historische Entfaltung seiner konkreten Formen möglich ist; diese aber wird wiederum derart intern mit der Weltgeschichte überhaupt

31  Und weiterer Formen und Bestimmungen des subjektiven Geistes, von denen die Explikation des absoluten Geistes Gebrauch macht und machen muss: Anschauung, Vorstellung, Begreifen; theoretischer, praktischer, freier Geist. 32  So Fulda in seinem Beitrag zum vorliegenden Band (vgl. auch Fulda 2003); prominent bestritten wird Fuldas Auffassung etwa von Jaeschke 2016: 294 f.

Selbstbewusstsein und absoluter Geist

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zusammenhängen, dass sie eine konkrete Einlassung auf (konkrete) Momente des objektiven Geistes erfordert. (ii) Der zweite (mögliche) Vorbehalt besteht darin, zu argumentieren, dass es einen internen Zusammenhang zwischen dem dargelegten „metaphysi­ schen Bösen“, der philosophischen Version der „(Ur-)Sünde“, und demjeni­ gen gibt, was man das „moralisch Böse“ nennen kann (religiös: „Tatsünden“). Zumindest letzteres hat seinen Ort (auch) in Öffentlichkeit und Gesellschaft, in den Domänen des objektiven Geistes, von dem somit nicht abgesehen werden kann, wenn eine vollständige Explikation dessen, was die „(Ur-)Sünde“ ist und impliziert, geleistet werden soll. Man kann dem wiederum entgegenhalten, dass zwar alle „Tatsünde“ aus der „Ursünde“ folgt, diese Dependenzrichtung aber gerade nicht bedeutet, dass man erstere verstehen müsse, um letztere zu verstehen. Dieser Gedanke legt nun den Blick auf das frei, was die eigentli­ che Pointe des zweiten (möglichen) Vorbehalts ist: nämlich dass die „Ursünde“ selbst einen Ort im objektiven Geist hat, nämlich als Verabsolutierung des Standpunkts der Moralität, die erst durch intakte Sittlichkeit gebrochen wird. Ich kann diesen Faden hier weder exegetisch noch systematisch weiterverfol­ gen. Angedeutet sei lediglich, dass mir Hegels Theorie des absoluten Geistes nicht schwächer zu werden scheint, selbst wenn Hegels Hoffnung auf die Kraft, die die Sittlichkeit zur Überwindung der Verabsolutierung der Moralität haben soll und durch welche sie ihrerseits eine Art Subfunktion des absoluten Geistes werden würde, nichtig sein sollte – was man, mit oder ohne Kritische Theorie, vertreten kann. (iii) Ein dritter (möglicher) Vorbehalt ist insofern interessanter, als er mit einem Spezifikum der hier vorgetragenen Interpretation zusammenhängt: Man könnte argumentieren, dass die Version der der Philosophie sodann positiv vorausgesetzten These, dass das endliche Subjekt aus und in sich selbst geistig verkehrt sei, im Sinne des mit Rosenzweig so genannten „abso­ luten Empirismus“ dadurch philosophisch zu plausibilisieren ist, dass etwa die Epoche des „Heidentums“ von derjenigen des „Christentums“, die genau durch diese These geprägt ist33, historisch abzugrenzen ist (vgl. Fn. 29). Das aber würde bedeuten, dass es zumindest in diesem spezifischen Punkt einer Einlassung auf eine konkrete Konstellation des objektiven Geistes bedarf. Ob diese allerdings wirklich philosophisch notwendig ist, oder allenfalls illustrie­ renden Charakter hätte, können wir hier offenlassen. 33  Hegel betont die Angemessenheit dieses (zunächst christlichen) Standpunkts nicht nur in seiner Religions-, sondern auch in seiner Rechtsphilosophie (vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 18 Z.: „Die christliche Lehre, daß der Mensch von Natur böse sei, steht höher wie die andere, die ihn für gut hält […].“).

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Zusammenfassung Fassen wir den Gedankengang des Aufsatzes zusammen. Wir haben mit Hegel argumentiert, dass Selbstbewusstsein das Erfassen der Tatsache (T), dass ich mich selbst nicht als nichtdenkend denken kann, ist. Wir haben weiter behauptet – unter Heranziehung einer nicht aus reinem Denken zu gewinnen­ den Voraussetzung – dass das endliche Subjekt aus und in sich selbst nicht willens ist, Selbstbewusstsein so zu verstehen, sondern Selbstbewusstsein, und damit sich selbst, als nicht mehr hintergehbares Prinzip, als Absolutum, verstehen will. Wir haben weiter argumentiert, dass dieser Wille sich entspre­ chend nicht aus und in sich selbst umkehren kann, sondern nur durch einen anderen Willen, den willentlichen Einfluss eines anderen, nicht-endlichen, unendlichen, absoluten Subjekts. Dieses haben wir näher gefasst als den Gedankengang des philosophischen Begreifens selbst, der sich (und insofern er sich) selbst willentlich geltend macht. Da einige endliche Subjekte begrei­ fen können, dass Selbstbewusstsein das Erfassen der Tatsache (T) ist, dies aber nur durch die willentliche Wirksamkeit des absoluten Subjekts möglich ist, konnten wir schließen, dass dieses absolute Subjekt wirklich sein muss. Unter absolutem Geist ist somit in eins das Begreifen, dass Selbstbewusstsein das Erfassen der Tatsache (T) ist, und das Begreifen, dass dieses Begreifen nur möglich ist durch die willentliche Wirksamkeit des absoluten Subjekts, zu ver­ stehen. Absoluter Geist ist in der Religion im Modus der Vorstellung, in der Philosophie im Modus des Begreifens realisiert. Philosophie hängt von der Religion dabei nicht ab – es ist lediglich so, dass sie eine Voraussetzung mit ihr teilt, die sie – qua reinem Denken – nicht selbst aus sich hervorbringen kann. Der nähere Charakter dieser Voraussetzung wurde unter Rekurs auf Schellings und Rosenzweigs Konzeption positiven Denkens verständlich ge­ macht. Die vorgetragene Lesart rückt Hegel näher an seine Kritiker, als diese vermeinten. Sie verteidigt außerdem Hegels starke metaphysische These – nämlich, dass ein „Gott“ ist –, auf Basis einer durchaus starken, in Anbetracht der Verfassung der Welt jedoch nicht abwegigen Behauptung – dass das end­ liche Subjekt von Grund auf verkehrt ist –, und vor dem Hintergrund einer originellen Konzeption des Selbstbewusstseins. Diese allein impliziert noch nicht die Wirklichkeit eines anderen (personalen) Subjekts als des endlichen; dieses, das Absolute, „Gott“, als aufgrund seines anderen Willens Anderes, wird vielmehr erst dadurch bewiesen, dass diese originelle Konzeption des Selbstbewusstseins gar nicht erfasst werden könnte vom selbstbewussten end­ lichen Subjekt, da es aus und in sich selbst geistig verkehrt ist, – dass es von niemandem von uns erfasst werden könnte –, wenn das Absolute „nicht an und für sich schon bey uns wäre und seyn wollte“ (GW 9, 53).

Absoluter Geist als sich vollbringender Skeptizismus Georg W. Bertram Der Begriff des absoluten Geistes gilt als Kernbegriff von Hegels Metaphysik. Der Geist, so scheint es, löst sich hier von seinen materialen Bedingungen und etabliert sich in einer selbstgenügsamen Weise. Der absolute Geist wäre so ein Begriff für ein ganz und gar selbstbezügliches Geschehen, dem es an jeder Bodenhaftung fehlt. Hegel könnte – im Sinne der Analyse erkenntnistheoreti­ scher Grundoptionen, mit der John McDowell Mind and World eröffnet1 – so verstanden werden, dass er einen Kohärentismus vertritt, dem alle Reibung an der materiellen Welt fehlt. Der absolute Geist ist so paradigmatisch für den „absoluten Idealismus“, den Hegel selbst für sich in Anspruch nimmt, den man ihm aber immer wieder im Sinne einer Kritik entgegenhält2. So scheint der absolute Geist ein Theoriestück des hegelschen Idealismus zu sein, das man in nachmetaphysischen Zeiten fallen lassen sollte. Unter an­ derem Jürgen Habermas und Axel Honneth haben Hegel entsprechend auf die Philosophie des objektiven Geistes hin zu zähmen versucht3. Dies ist auch mit einem Rückgriff auf Jenaer Texte vor der Phänomenologie des Geistes (PhG) verbunden und so mit der These, Hegel habe mit der PhG eine bewusstseins­ philosophische Wende vollzogen, mit der er einen überzogenen Idealismus begründet habe. Der Metaphysiker Hegel, der überwunden werden soll, wird dabei gegen den materialistischen Denker ausgespielt, für den so etwas wie ein absoluter Geist irrelevant sein soll. Mir geht es in den folgenden Überlegungen unter anderem darum zu zeigen, dass die mit entsprechenden Rezeptionen Hegels verbundenen Einschätzungen des absoluten Geistes und der angesprochenen Entwicklung von Hegels Philosophie fehlgeleitet sind. Letzterer ist kein Gipfel eines über­ steigerten Idealismus, sondern ganz im Gegenteil Hegels Begriff für eine Struktur, in der sich der Geist für das öffnet, was sein Anderes ist. Der absolute Geist ist so nicht nur ein Kernbegriff von Hegels Idealismus, sondern auch sei­ nes Materialismus, als der sein Idealismus zugleich wesentlich zu begreifen ist.

1  Vgl. McDowell 1996, 1. Vorlesung. 2  Vgl. zu einer Erläuterung dieses Begriffs im Sinne Hegels: Puntel 1983. 3  Vgl. Habermas 1968, 9–48; Honneth 1992.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_018

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Der Witz von Hegels Begriff des absoluten Geistes liegt so in dem Gedanken, dass ein Materialismus ohne Metaphysik nicht zu haben ist. Aber nicht nur in Bezug auf die Interpretation Hegels gilt es, diesen Begriff einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Auch systematisch ist der Begriff des absoluten Geistes von großem Interesse – und zwar mit Blick auf das Verständnis von Vernunft. In neoaristotelischen Zusammenhängen wird Vernunft gerne als eine Form verstanden, die das menschliche Leben aus­ macht. Dadurch erscheint Vernunft als Selbstverständlichkeit menschlicher Praxis (Defekte und Probleme müssen damit nicht ausgeschlossen sein, gehen aber nicht in die Bestimmung von Vernunft ein)4. Hegels Begriff des absoluten Geistes macht Vernunft als eine Praxis der Selbstkritik verständlich. Sie stellt entsprechend keine Selbstverständlichkeit dar, sondern ist grundsätzlich un­ abgesichert, sodass keine bestimmte Form als wesentlich für Vernunft ausge­ zeichnet werden kann. Ich werde das in der Einleitung der PhG geprägte Wort vom „sich vollbringenden Skeptizismus“ (Werke 3, 72) heranziehen, um diese systematischen Gedanken Hegels zu artikulieren. Die PhG wird überhaupt in meiner Interpretation von Hegels Begriff des ab­ soluten Geistes eine zentrale Rolle spielen, da sie ein Scharnier zwischen den Jenenser Arbeiten und den Schriften des reiferen Systems abgibt. Mit Blick auf die Entwicklung von Hegels Denken geht es mir gerade darum zu zeigen, dass es in Bezug auf die mit dem absoluten Geist verbundenen Fragestellungen eine Kontinuität gibt, die von der frühen Jenaer Zeit bis in späte Texte Hegels reicht. Aus diesem Grund gehe ich, nachdem ich zuerst drei Thesen Hegels in Bezug auf den absoluten Geist ausgewiesen habe, die jede Interpretation ver­ ständlich machen und in Einklang miteinander bringen muss, auf das System der Sittlichkeit zurück, um genau dort das Problem zu eruieren, auf das Hegel mit dem Begriff des absoluten Geistes antwortet. Danach beginne ich die ei­ gentliche interpretatorische Arbeit, indem ich den absoluten Geist mit Hegel zuerst als eine Praxis der Selbstverständigung und als eine Rückkehr aus der Natur analysiere. Ich argumentiere, dass erst mit dem absoluten Geist eine Öffnung geistiger Strukturen Widerständen gegenüber verständlich wird, so­ dass er als eine Praxis der Selbstkritik und in diesem Sinn als ein sich vollbrin­ gender Skeptizismus zu begreifen ist.

4  Vgl. für eine einflussreiche neoaristotelische Konzeption in diesem Sinn Thompson 2008.

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Drei Thesen als Ausgangspunkt

Wer sich mit Hegels Begriff des absoluten Geistes auseinandersetzt, muss unterschiedlichen Thesen gerecht werden. Eine Auswahl aus ihnen zu treffen, um eine Interpretation zu stützen, ist keineswegs einfach. Da Hegel ein holistischer Denker ist, hängt letztlich alles mit allem zusammen und ist mit einer These immer gleich auch alles andere im Spiel. Dennoch scheint es mir klärend, drei Thesen herauszuheben. Die Auswahl, die ich treffe, kann ich an diesem Punkt meiner Überlegungen noch nicht sinnvoll rechtfertigen. Die nachfolgenden Erläuterungen aber sollen indirekt zeigen, dass und inwiefern genau die drei von mir herausgegriffenen Thesen für Hegels Verständnis des absoluten Geistes entscheidend sind. Ich formuliere sie erst einmal in knappen Worten, bevor ich sie weiter erläutere: (1) Der absolute Geist verwirklicht Selbstbewegung. (2) Im absoluten Geist hängen Kunst, Religion und Philosophie untrennbar zusammen. (3) Im absoluten Geist kommt der Geist aus seinem Anderen, der Natur, zu sich. Die erste These macht ein entscheidendes Moment des Resümees der Über­ legungen zum absoluten Wissen aus, das Hegel in der PhG gibt. Hegel bezeich­ net es mit dem Begriff der „Selbstbewegung“ (Werke 3, 49). Selbstbewegung ist eine unendliche Bewegung, die der Geist aus sich heraus vollführt, in der er also immer mit sich identisch bleibt5. Diese Bewegung findet, so lässt sich Hegel verstehen, im Medium des Begriffs statt. Wenn der absolute Geist Selbstbewegung realisiert, dann ist er als Subjekt zu begreifen, sodass man den Gedanken der Selbstbewegung auch mit Hegels These in Verbindung bringen kann, es gelte, „das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“ (Werke 3, 23). Die zweite These bringt den Zusammenhang ins Spiel, der in typischer Weise Hegels Begriff des absoluten Geistes ausmacht. Unter ihn fallen drei Formen von Praktiken: die Kunst, die Religion und die Philosophie. Hegel hat den Zusammenhang dieser drei Formen von Praktiken immer wieder be­ tont. Unklar ist aber, worin genau dieser Zusammenhang besteht, da sich bei Hegel genauso eine Betonung der Unterschiede findet. Besonders markant 5  Hegel schließt die Phänomenologie des Geistes entsprechend mit einem Zitat aus einem Gedicht Schillers: „aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm seine Unendlichkeit“ (Werke 3, 591).

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ist der Unterschied zum Beispiel in dem so genannten Satz vom Ende der Kunst festgehalten, der in den Vorlesungen über die Ästhetik formuliert ist. Demnach verliert Kunst ihre „wesentliche Bestimmung“ (Werke 13, 25) in sol­ chen (modernen) gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen Religion oder Philosophie leitend sind. Das klingt nicht nach einem umfassenden Zusammenhang, sondern eher danach, dass die Formen von Praktiken ein­ ander, zumindest in gewisser Weise, ausschließen. Dennoch hat Hegel, nicht zuletzt in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (vgl. Werke 10, §§ 553 ff.), immer wieder geltend gemacht, dass die Formen von Praktiken zu­ sammen den absoluten Geist ausmachen. So lässt Letzterer sich nur begreifen, wenn man den Zusammenhang nachvollzieht, den Hegel herstellt. Die dritte These besagt, dass der Geist als absoluter Geist aus der Natur zu sich zurückkehrt6. Sie ist charakteristisch für die monistische Position, die Hegel vertritt, wurzelt also in dem Gedanken, dass Natur und Geist eine Einheit bilden. Die Einheit aber ist keine bloße Ununterschiedenheit, sondern besteht in einer Differenz dessen, was eine Einheit bildet. Hegel versteht Geist als mit seinem Anderen, der Natur, identisch und nichtidentisch zugleich. Die Formel von der Identität der Identität und der Nichtidentität (die zuerst in der Differenzschrift gebraucht wird; vgl. Werke 2, 96) gilt auch hier: Geist ist von Natur unterschieden und zugleich mit ihr identisch. Als absoluter Geist reali­ siert er die für ihn wesentliche Identität und kehrt so, wie Hegel immer wieder sagt, aus seinem Anderen zu sich zurück. Die drei Thesen sind charakteristisch für wichtige Festlegungen, die Hegel in seinen Erläuterungen des absoluten Geistes eingeht. Er begreift den ab­ soluten Geist als Identität, die aus sich heraus mit Differenzen verbun­ den ist. Dies führt zu widerstrebenden Bestimmungen, die sich nicht leicht miteinander in Einklang bringen lassen. Es passt gut zu dem, was man sich dem ersten Augenschein nach unter absolutem Geist vorstellen mag, ihn als Selbstbewegung zu fassen. Warum aber ruht der Geist dabei nicht in sich, son­ dern ist zugleich auf Natur als sein Anderes bezogen? Wenn der Geist absolut ist: Warum geht er dann doch über sich hinaus? Auch die Subsumierung von Kunst, Religion und Philosophie unter den absoluten Geist ist irritierend. Ist der absolute Geist nicht reines Denken und so als das zu begreifen, worum es in der Philosophie geht? Gilt nicht, dass das reine Denken der Zeit und der Geschichte enthoben ist (wie Hegel unter anderem in seinen Ausführungen zum absoluten Wissen in der PhG darlegt; vgl. Werke 3, 584), was Kunst und

6  In markanter Weise spricht Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von einer „zurückkehrende[n] und zurückgekehrte[n] Identität“ (Werke 10, 366).

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Religion als wesentlich historische Artikulationsformen von Menschen gerade nicht zu sein scheinen? Wie lassen sich die widerstrebenden Momente der genannten drei Thesen in Einklang miteinander bringen? Eine Interpretation von Hegels Begriff des absoluten Geistes muss eine Antwort auf diese Frage geben, also zeigen, warum Hegel den absoluten Geist widersprüchlicher konzipiert, als man – auch und gerade vor dem Hintergrund vieler plakativer Hegel-Bilder – denken sollte. Sowohl die Öffnung zu Kunst und Religion als auch die zur Natur hin muss erklärt werden. Oder anders gesagt: Es muss begreiflich werden, warum der losgelöste Geist gerade nicht für sich besteht, was also seine Absolutheit ausmacht, wenn er doch nicht einfach in sich ruht. Eine solche Erklärung zu gewinnen, ist das Ziel der folgenden Überlegungen.

Hegels Entwurf im System der Sittlichkeit

In dem wichtigen Manuskript aus dem Jahr 1802, das für Hegels Loslösung von Schelling genauso entscheidend ist wie für seine Auseinandersetzung mit Fichtes Naturrechtslehre und das zumeist unter dem Titel System der Sittlichkeit diskutiert wird, hat Hegel einen ersten Versuch unternommen, eine innere Gliederung des Geistes nachzuvollziehen, auch wenn er hier noch nicht diesen Begriff verwendet. Hegel orientiert sich an dem Begriff der Sittlichkeit, an dem er auch später festgehalten, den er aber dann dem Begriff des Geistes untergeordnet hat. In Bezug auf Sittlichkeit unterscheidet Hegel in dem Manuskript zwei Momente, und zwar das, was er „Staatsverfassung“ nennt, von dem, was er „Regierung“ nennt. Was er unter „Staatsverfassung“ versteht, charakterisiert Hegel, indem er unter ihr die „Sittlichkeit als System, ruhend“7 verhandelt. Von ihr unterscheidet er die „Regierung“ als den „Prozeß des sittli­ chen Lebens“8. Diese Unterscheidung lässt sich erst einmal so verstehen, dass es einerseits um die institutionelle Gliederung des Gemeinwesens und ande­ rerseits um den Zusammenhang geht, der alle entsprechenden Institutionen umfasst. Um Hegels entsprechende Überlegungen nachvollziehen zu können, gehe ich ein wenig auf die in dem Manuskript gebrauchten Begrifflichkeiten ein. Es geht mir allerdings nicht um sie, sondern darum, anhand der in ihnen vorgetragenen Thesen Hegels Einführung des absoluten Geistes zu motivieren. Die Institutionen des Gemeinwesens unterscheidet Hegel entlang dreier Kriterien, die er als „absolutes Leben“, „Rechtschaffenheit“ und „Vertrauen“ 7  Hegel, GW 5, 327. 8  G W 5, 339.

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bezeichnet9. Es geht dabei um unterschiedliche Dimensionen der Einbindung von Individuen in ein Gemeinwesen. Das absolute Leben vertritt im Gemeinwesen die Tugendhaftigkeit, die Rechtschaffenheit ist im Sinne einer fürsorglichen Herrschaft zu verstehen und das Vertrauen ist die Bereitschaft der Unterordnung unter die Herrschaft. Hegel analogisiert diese Typen von Einbindung in ein Gemeinwesen auch mit den drei Ständen, wie sie in einer frühneuzeitlichen ständisch verfassten Gesellschaft vorherrschten. Er verpflichtet sich aber damit nicht auf eine Ständeordnung, sondern auf den Gedanken, dass innerhalb eines Gemeinwesens Partizipation – im Sinne einer institutionellen Gliederung – strukturiert ist. Entscheidend ist, dass die Strukturierung von Partizipation eine Ausdifferenzierung in einer Gesellschaft realisiert. Dadurch werden unterschiedliche funktionale Rollen in einer Gesellschaft stabilisiert. Hegel vertritt nun die wichtige These, dass ein Gemeinwesen sich in einer sol­ chen Ausdifferenzierung funktionaler Rollen nicht erschöpft10. Es wird so nur in Ruhe dargestellt, also in einer Statik, die eine einseitige Erscheinungsform von ihm bietet. Aus diesem Grund setzt er gegen das in Ruhe befindliche System der Sittlichkeit die „Bewegung“11, den Prozess der Sittlichkeit. Was damit gemeint ist, sagt Hegel auf folgende Weise, die ich etwas ausführlicher zitiere: Die Bewegung des ersten gegen die andern Stände in den Begriff aufge­ nommen, dadurch daß beide Realität haben, beide begrenzt [sind] und die empirische Freiheit des einen sowie des andern, vernichtet [ist]; – diese absolute Erhaltung aller Stände muß die höchste Regierung sein, und ihrem Begriff nach kann sie eigentlich keinem Stande zukommen, da sie die Indifferenz aller ist. Sie muß also aus demjenigen bestehen, welche das reale Sein in einem Stande gleichsam aufgegeben haben und schlechthin im idealen leben, die Alten und die Priester, welche beide eigentlich Eines sind12.

9  GW 5, 328–332. 10  Axel Honneths Unterscheidung von drei Anerkennungssphären, die sich auf Hegels Jenaer Schriften stützt, vollzieht genau diese These nicht mit (vgl. bes. Honneth 1992). Aus diesem Grund kann Honneth, wie im Folgenden zumindest indirekt deutlich werden sollte, auch nicht die Austragung von Konflikten im Rahmen eines Gemeinwesens verständlich machen. 11  GW 5, 341. 12  Ibidem.

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Hegel zufolge ist es die Aufgabe der Alten und der Priester, die absolute Bewegung in einem Gemeinwesen zu verwirklichen. Er erläutert ihre Bedeutung damit, dass die Alten und Priester nicht den partikularen Perspektiven eines bestimmten Standes angehören. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie eine Perspektive realisieren, die alle partikularen Perspektiven (der unterschiedli­ chen Stände) umfasst. Die partikularen Perspektiven bleiben notwendig einsei­ tig, sodass sie aus sich heraus keinen Zusammenhang in einem Gemeinwesen stiften können. Genau dies ist den Alten und Priestern möglich. Hegel artiku­ liert erst einmal in formaler Weise, wie man über die Einseitigkeit partikularer Perspektiven herauskommt: durch eine Bewegung. Die Bewegung gehört aber nicht dem Typ von Bewegungen an, durch die man sich verändert: von einer partikularen Perspektive zur nächsten. Sie ist vielmehr eine Bewegung, die zu einem Zusammenhang führt: Die Bewegung ist eine Verbindung von partiku­ laren Perspektiven, durch die letztlich alles gleich bleibt. Hegel erläutert dies folgendermaßen: In dieser höchsten Regierung ist schlechthin die Bewahrung [des] abso­ luten Verhältnisses des Ganzen niedergelegt; sie ist die absolute Ruhe in der unendlichen Bewegung desselben, und in Beziehung auf dieselbe; …13 Hegel macht geltend, dass ein Gemeinwesen nur funktioniert, wenn inner­ halb seiner die partikularen Perspektiven in ihrer partikularen Selbständigkeit (Hegel spricht hierfür von „empirischer Freiheit“) nicht das letzte Wort haben. Die Ältesten und Priester überschreiten diese Perspektiven, indem sie artiku­ lieren, was das Gemeinwesen ausmacht. Sie vertreten das Gemeinwesen über alle in ihm vorherrschenden Differenzen hinweg. So beruft Hegel sich auf die Ältesten und Priester, weil sie über alle vorherrschenden Differenzen erha­ ben sind. Sie wissen um die Identität des Gemeinwesens, die sich aus seiner Tradition herschreibt. Hegel geht es also um die These, dass ein Gemeinwesen nur durch eine in ihm realisierte Identität Bestand hat. Die Identität wird in Form eines Wissens davon, was in dem Gemeinwesen leitend ist, artikuliert. Oder noch einmal anders gesagt: Das Gemeinwesen konstituiert sich durch Selbstverständnisse. Diese Selbstverständnisse zu vertreten, schreibt Hegel den Ältesten und den Priestern zu. Die damit skizzierte Konzeption des Systems der Sittlichkeit ist dennoch in mehreren Hinsichten problematisch: Erstens ist es offensichtlich so, dass auch die Ältesten und Priester in einem Gemeinwesen partikulare Perspektiven ver­ treten können. Es ist keinesfalls gesagt, dass sie nicht im Sinne spezifischer 13  GW5, 343.

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Interessen (in Hegels Darstellung: im Interesse eines Standes) agieren. So lässt sich nicht gewährleisten, dass sie für Verständnisse stehen, die alle Mitglieder des Gemeinwesens umfassen. Zweitens können Älteste und Priester sich dahin­ gehend irren, was die Identität des Gemeinwesens ausmacht. Sie können zum Beispiel Entwicklungen, die in dem Gemeinwesen stattgefunden haben, über­ gehen oder übersehen, oder Traditionen und Gründungszusammenhänge des Gemeinwesens falsch deuten. Drittens können die von Ältesten und Priestern geltend gemachten Grundorientierungen für die sonstigen Mitglieder des Gemeinwesens leer sein, sodass sie den Zusammenhalt nicht stiften, den sie stiften sollen. Dann wird der Zusammenhalt in Orientierungen gesucht, die keine Wirkungen mehr entfalten. Es zeichnen sich so gute Gründe dafür ab, dass Hegel in seinem späte­ ren System (wie es sich erstmals in dem dritten Systementwurf von 1805/0614 abzeichnet) den Zusammenhalt eines Gemeinwesens nicht mehr durch Älteste und Priester gewährleistet sieht. Die im System der Sittlichkeit ent­ worfene Konzeption leistet nicht das, was sie leisten soll. Aber sie klärt die Aufgabenstellung, mit der Hegel sich konfrontiert sieht: In einem sittlichen Gemeinwesen müssen partikulare Perspektiven von einer Gesamtperspektive umfasst werden. Diese Gesamtperspektive besteht in Selbstverständnissen, die in dem Gemeinwesen eine (ver)bindende Kraft entfalten. Das Problem der Umfassung partikularer Perspektiven ist aber nicht nur das strukturelle Problem des Herstellens von Einheit. Es handelt sich vielmehr um das existen­ zielle Problem des Umgangs mit Konflikten. Die Bewegung der Stände gegen­ einander, von der Hegel spricht, steht pars pro toto für gegenläufige Interessen und Überzeugungen, die innerhalb eines Gemeinwesens aufeinandertreffen. „[D]ie Bewahrung [des] absoluten Verhältnisses des Ganzen“ besteht so darin, kollidierende Interessen und Überzeugungen in Konflikten so aufzuheben, dass das Gemeinwesen an den in ihm auftretenden Unterschieden nicht zer­ bricht, sondern gerade durch sie ein Zusammenhang gestiftet wird. Wie lässt sich eine Konzeption gewinnen, die dieser Aufgabenstellung gerecht wird? Einer Antwort auf diese Frage kann man sich nähern, wenn man den für Hegel besonders wichtigen dritten Problempunkt verfolgt, den ich angeführt habe. Wie kann es vermieden werden, dass in einem Gemeinwesen Orientierungen blutleer werden, also keine (ver)bindenden Wirkungen mehr entfalten? Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz so einfach, wie man auf den ersten Blick denken sollte. Sie scheint erst einmal lauten zu müssen: Das kann überhaupt nicht vermieden werden. Aber diese Antwort greift zu kurz. Richtiger ist es zu sagen: Das kann vermieden werden, wenn die 14  Vgl. Hegel, GW 8.

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mögliche Wirkungslosigkeit von Orientierungen innerhalb des Gemeinwesens selbst thematisiert und so selbst Gegenstand der Selbstverständigung des Gemeinwesens werden kann. Genau hier liegt das zentrale Defizit der Konzeption, die im System der Sittlichkeit entworfen wird: Der Zusammenhalt im Rahmen des Gemeinwesens wird als Aufgabe verstanden, die von einer spezifischen Gruppe innerhalb seiner geleistet werden muss. Formal gesagt: Die Indifferenz kommt durch Ausdifferenzierung zustande. Einzelne sollen im Rahmen des Gemeinwesens aus sich heraus eine indifferente Perspektive realisieren. Das kann nicht funktionieren. Der Zusammenhalt muss von dem Gemeinwesen insgesamt geleistet werden – von allen seinen Mitgliedern15. Dies ist nur möglich, wenn man Selbstverständigung tatsächlich als nicht ausdifferenziert begreift. Selbstverständigung kann in einem Gemeinwesen überall stattfinden und sie bezieht alle seine Mitglieder ein: Dies ist der zen­ trale Grundsatz einer veränderten Konzeption, die aus den Problemen des Systems der Sittlichkeit Konsequenzen zieht. Es wundert so nicht, dass Hegel eine in diesem Sinn veränderte Konzeption auch tatsächlich entwickelt hat. Sie findet sich erstmals im bereits angesprochenen dritten Systementwurf ar­ tikuliert und ist dort bereits auf den Begriff gebracht, den Hegel dann auch in der PhG und danach immer wieder verwendet: auf den Begriff des absoluten Geistes16. Es handelt sich um den Begriff einer in einem Gemeinwesen verwirk­ lichten Selbstverständigung, die nicht allein irgendeinem seiner Teilbereiche zugetraut wird, sondern in indifferenter beziehungsweise absoluter Weise das Gemeinwesen insgesamt umfasst.

Absoluter Geist als Praxis der Selbstverständigung

Wir gewinnen damit eine erste Idee davon, wie Selbstbewegung als zentrales Charakteristikum des absoluten Geistes zu verstehen sein könnte. Es handelt sich um eine Bewegung, aus der Identität resultiert, also um eine Bewegung, in der das Anderswerden ein Aspekt des Gewinnens einer Identität ist. Gemeinwesen haben nach Hegels Verständnis nur dadurch Bestand, dass sie in diesem Sinn Selbstbewegung realisieren. Dies kommt dadurch zustande, dass

15  Ich will am Rande festhalten, dass der absolute Geist so auch mit dem Gedanken verbunden ist, dass es für die Bestimmung von Orientierungen in einem Gemeinwesen keine privilegierte Position gibt, sondern einen stets offenen Streit, an dem alle Mitglieder des Gemeinwesens partizipieren. 16  Genauer ist in dem Systementwurf von dem „absolut freie[n] Geist“ die Rede (GW 8, 277).

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in dem Gemeinwesen Selbstverständnisse entwickelt sind, die für alle seine Mitglieder einen (ver)bindenden Charakter entfalten. Ein Beispiel mag hilfreich sein, um den Gedanken zu klären: Wenn in einem christlich geprägten Gemeinwesen das Selbstverständnis, Nächstenliebe zu praktizieren, leitend ist, dann können die unterschiedlichen Mitglieder sich auf dieses Selbstverständnis berufen. Dies kann zum Beispiel den Charakter haben, dass die Mitglieder sich ihrer Zugehörigkeit zu dem Gemeinwesen versichern, indem sie das Selbstverständnis artikulieren. „Für uns ist das Praktizieren von Nächstenliebe besonders wichtig.“ Denkbar ist genauso, dass sie das Selbstverständnis geltend machen, um bestimmte Tätigkeiten zu be­ fragen oder zu kritisieren. „Ist das wirklich im Sinne unserer Vorstellung von Nächstenliebe, wenn Du so etwas machst?“ Oder: „Das ist falsch, weil es das Gegenteil von unserem Selbstverständnis ist, uns im Sinne von Nächstenliebe zu verhalten.“ Jede und jeder in dem Gemeinwesen kann sich in dieser Weise auf das Selbstverständnis berufen. Dabei wird es sowohl zur Bekräftigung der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen als auch als Kriterium für die Beurteilung von Handlungen gebraucht. Selbstbewegung erweist sich so erst einmal als durch die stete Rückkehr zu in einem Gemeinwesen etablierten Selbstverständnissen realisiert. Sie ist die stete Bewegung von der Artikulation partikularer Perspektiven in Praktiken (im Sinne von Handlungen) zum Allgemeinen des Gemeinwesens und zurück. Ein Selbstverständnis ist dabei nicht statisch, sondern seinerseits in Bewegung – und zwar aufgrund seiner ständigen Reaktualisierungen, im Zuge derer es sich verändert. Die Struktur dieser Veränderung versteht Hegel als die Struktur des Begriffs. Ein Begriff ist eine sich im Durchgang durch seine Besonderungen konstituierende Allgemeinheit. In der PhG spricht er in diesem Sinn von einer „Bewegung des Allgemeinen durch die Bestimmung zur Einzelnheit“ (Werke 3, 576). Ein Begriff ist eine Bewegung von der Einzelheit zur Allgemeinheit und zurück. So ist die Bewegung immer zugleich eine solche des Gemeinwesens aufgrund seiner Selbstverständnisse und eine solche der Selbstverständnisse selbst. Diese doppelte Bewegung lässt sich mit Hegel genauer fassen, wenn man in Rechnung stellt, dass Selbstverständnisse nicht isoliert auftreten. Sie hän­ gen vielmehr systematisch zusammen – und dies in mehreren Hinsichten. Erstens hängt ein Selbstverständnis wie das der Nächstenliebe konstitutiv mit vielen anderen analog gefassten Selbstverständnissen zusammen. Am Beispiel der Nächstenliebe erläutert: Dieses ist mit den Selbstverständnissen der Mitgeschöpflichkeit genauso wie mit denen der unverdienten Gnade Gottes und des Leidens Christi systematisch verbunden. Das Verständnis von Nächstenliebe ist also nicht nur dadurch in Bewegung, dass die Welt

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diejenigen, die sich an diesem Selbstverständnis orientieren, immer wieder mit Einzelheiten konfrontiert, die das Verständnis von Nächstenliebe her­ ausfordern und verändern. Die Bewegung resultiert auch daraus, dass die Verhältnisse zu anderen Verständnissen immer wieder neu bestimmt wer­ den. So wird deutlicher, dass es sich um eine Selbstbewegung handelt: Eine Bewegung, die aus begrifflicher Aktivität hervorgeht17. Zweitens geht die Selbstbewegung durch Selbstverständnisse über be­ griffliche Aktivitäten hinaus. Selbstverständnisse werden innerhalb von Gemeinwesen auch in anderer Art und Weise artikuliert. Denken wir noch ein­ mal an die Konzeption zurück, die Hegel im System der Sittlichkeit erwogen hat und in der er bereits einen Zusammenhang zwischen Ältesten als denjenigen, die das Gemeinwesen insgesamt vertreten, und Priestern als den Vertretern religiöser Praktiken herstellt. Priester aber artikulieren Selbstverständnisse nicht nur in begrifflicher Weise (zum Beispiel, wenn sie eine Predigt halten), sondern auch in Form religiöser Vorstellungen und auch in Form kultischkünstlerischer Praktiken und Gegenstände. So hat Hegel von Anfang an den Gedanken im Blick gehabt, dass der Zusammenhalt in einem Gemeinwesen nicht nur in Form begrifflicher Artikulation gestiftet wird. Dieser Gedanke wird spätestens in der PhG so gefasst, dass Kunst, Religion und Philosophie als Formen des absoluten Geistes verstanden werden18. Zwar bringt Hegel Kunst und Religion hier unter dem Titel der Religion zusammen. Dennoch versteht er sie als unterschiedliche Formen der Selbstverständigung. Mit der zweiten Hinsicht der Selbstbewegung durch Praktiken der Selbstverständigung komme ich so auf die zweite oben eingeführte These zu sprechen, die ich nun folgendermaßen variieren kann: Im absoluten Geist realisiert sich Selbstbewegung immer auch durch den Zusammenhang, der sich in den Praktiken von Kunst, Religion und Philosophie entfaltet. Diese 17  Wenn man, wie Robert Brandom, Hegels Begriffsholismus nicht vom absoluten Geist her versteht (also primär als einen Holismus empirischer Begriffe), dann wird nicht recht verständlich, inwiefern für diesen Begriffsholismus das Moment der Selbstbewegung entscheidend ist. Vgl. Brandom 2016. 18  Charakteristisch ist, dass Hegel in der Phänomenologie des Geistes nicht von „Philosophie“, sondern vom „absoluten Wissen“ spricht. In ihrer Einleitung ist noch, wie auch im drit­ ten Systementwurf (vgl. nochmals GW 8, 285–287), von „Wissenschaft“ die Rede (vgl. bes. Werke 3, 71). Die Artikulation von Selbstverständnissen in der Form des Begriffs geht so nach Hegels Verständnis über die Disziplin der Philosophie im engeren Sinn hin­ aus und umfasst auch all die anderen Praktiken, in denen es zu einer Artikulation von Selbstverständnissen in der Form des Begriffs kommt. Solche Artikulationen finden sich nicht zuletzt auch in der Religion – zum Beispiel in den bereits erwähnten Predigten – und in der Kunst – in der Kunstkritik.

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Selbstbewegung geht von einem für die Artikulation von Selbstverständnissen konstitutiven Moment aus: Selbstverständnisse müssen sich materiali­ sieren; sie müssen in gegenständlicher Form festgehalten werden. Eine Materialisierung von Selbstverständnissen ist dabei immer mehr als bloße Gegenständlichkeit, da sie mit einem durch sie artikulierten Verständnis ver­ bunden ist. Diese Verbindung einer Materialisierung mit einem Verständnis nun ist aus sich heraus mit einer Entwicklung verbunden19. Sie kann, sehr grob gesagt, eine eher gegenständliche oder eher ungegenständliche Gestalt annehmen. Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit stehen dabei nicht einfach nebeneinander, sondern entwickeln aus sich heraus eine Bewegung. Diese Bewegung hat Hegel in Begriffen der Kunst, Religion und Philosophie analysiert. Dabei geht es ihm nicht nur darum, die Relevanz dieser drei Formen von Selbstverständigungspraktiken für die Konstitution eines Gemeinwesens aufzuklären, sondern auch darum, ihre systematischen Zusammenhänge ver­ ständlich zu machen. Beide Ziele lassen sich nur verstehen, wenn man noch einmal im Sinne der Entwicklung von Hegels Begriff des absoluten Geistes die Struktur von Selbstverständigungspraktiken in Erinnerung ruft: Selbstverständi­ gungspraktiken haben dort Relevanz, wo zwischen Individuen Konflikte aufbrechen und sie sich so der Kriterien versichern müssen, an die sie sich in der Artikulation und der Bewältigung der Konflikte halten20. Wir müs­ sen dabei noch etwas genauer bestimmen, wie ein Konflikt zwischen parti­ kularen Perspektiven beschaffen ist: Er handelt von Sachen, mit denen die konfligierenden Parteien in der Welt konfrontiert sind. Die Sachen stehen zwischen den Parteien als Momente, bezüglich deren ein Dissens aufbricht. So können die Sachen gerade nicht den Zusammenhalt der unterschiedli­ chen Perspektiven sichern. Diesen Zusammenhalt herzustellen, ist so die Aufgabe der Kriterien, derer sich die Streitenden im Konflikt versichern. Durch Selbstverständigungspraktiken artikulieren sie Kriterien, die sie über ihren Dissens hinweg verbinden21. 19  Ich will am Rande hier schon bemerken, was ich unten weiter ausführe: Die Entwick­ lung von Kunst, Religion und Philosophie auseinander und die Ausbildung ihres Zusammenhangs haben für Hegel auch eine irreduzibel historische Seite. 20  Vgl. zu einer Konzeption, die die Relevanz von Kriterien für die Konstitution eines Gemeinwesens betont: Cavell 1979. 21  Letztlich geht es in Konflikten so immer um Konflikte in Bezug auf Konfliktfähigkeit und ist Konfliktfähigkeit dasjenige, worin die streitenden Parteien sich anerkennen müssen. Hegel hat dies besonders im Gewissens-Kapitel der PhG dargestellt. Vgl. hierzu Bertram 2017: Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart (Reclam Verlag), 8. Kap.

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Nun ist es für eine entsprechende Artikulation von Kriterien wesentlich, dass sie ein bleibendes Moment entfaltet. Schließlich sind die im Konflikt orientierenden Kriterien solche, auf die man sich wieder berufen können muss. Nur dadurch können sie ihre (ver)bindende Kraft entfalten. Damit wird die besondere Relevanz der Kunst für den absoluten Geist verständlich. Denken wir zum Beispiel an Skulpturen der klassischen Antike, die bestimm­ te Ideale körperlicher Selbstbeherrschung und Kultivierung zeigen, oder an Gemälde des christlichen Heilsgeschehens. Solche Kunstwerke manifestieren Orientierungen und erlauben es Mitgliedern eines Gemeinwesens, immer wie­ der zu ihnen zurückzukehren, um sich der Orientierungen zu versichern. Die stabilisierende Kraft einer Materialisierung ist aber durch einen erheb­ lichen Nachteil erkauft: Die in Stein gehauene Gestalt und die auf Leinwand gebrachte bildliche Darbietung sind selbst statisch22. Die in ihnen artikulier­ ten Orientierungen können sich so nur in den Interpretationen entwickeln, die diejenigen hervorbringen, die sich mit der Skulptur oder dem Gemälde ausein­ andersetzen. Die Artikulation selbst verändert sich nicht. Dies begreift Hegel als eine Einseitigkeit in der entsprechenden Praxis der Selbstverständigung, die in anderen Selbstverständigungspraktiken aufgehoben ist. Für diese ande­ ren Praktiken gilt, dass sie sich nicht gleichermaßen bleibend materialisieren. Dies gilt zum Beispiel für die religiöse Vorstellung der Gottebenbildlichkeit genauso wie für diejenige vom Tod Christi als der Realisierung der Gnade Gottes. Entsprechende Vorstellungen leben im Geist der Gläubigen und sind so nicht an eine bestimmte Materialisierung gebunden. Sie artikulieren sich in religiösen Kulten (wie zum Beispiel einer Liturgie) und in mit diesen ver­ bundenen Texten23. Auch die Kunst ist für ein Verständnis entsprechender Vorstellungen relevant. Aber die Vorstellungen erschöpfen sich nicht in sol­ cherlei Artikulationen. In diesem Sinn ist ihre Artikulation immateriell. Die Immaterialität religiöser Vorstellungen ist allerdings in gewisser Hinsicht inkonsequent realisiert. Vorstellungen wie die der Gottebenbildlichkeit oder die vom Tod Christi als der Realisierung der Gnade Gottes sind immaterielle 22   Vgl. hierzu Hegels Diagnose der Einseitigkeit der klassischen Kunstform in den Vorlesungen über die Ästhetik; Werke 14, 23. 23  Mir liegt daran, noch einmal zu betonen, dass Hegel religiöse Vorstellungen genauso wie andere Artikulationen von Kriterien für das eigene Tun als kritisch begreift. Der Gedanke eines nachmetaphysischen Zeitalters ist so gesehen aus Hegels Perspektive eine Verkennung des kritischen Potentials von Metaphysik (Hegel ist hier Adorno näher, als Letzterer glauben mag; vgl. Adorno 1966; und letztlich – bei Habermas zweifelsohne: gegen seine eigenen guten Intentionen; vgl. z. B. Habermas 1988b) – ein Türöffner für den Positivismus.

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Materialisierungen. Die Gläubigen kehren immer wieder zu denselben Vorstellungen zurück. Wenn sie sich der Orientierungen versichern, an die sie in ihren Auseinandersetzungen mit anderen und der Welt gebunden sind, dann handelt es sich immer wieder um dieselben Vorstellungen, auf die sie sich berufen. Die Vorstellungen haben so die Rolle immaterieller Skulpturen oder Gemälde, sodass deren Einseitigkeit in den Vorstellungen doch nicht richtig überwunden ist24. Die Einseitigkeit habe ich als Statik bestimmt. Eine Skulptur oder ein Gemälde realisieren eine bleibende Konfiguration. Dies aber gilt, wie wir nun sehen, gewissermaßen auch für religiöse Vorstellungen. Um die fortbe­ stehende Einseitigkeit zu überwinden, ist es erforderlich, Konfigurationen zu realisieren, die sich verändern. An diesem Punkt scheint es mir hilfreich, noch einmal kurz beispielhaft eine Situation zu betrachten, in der Praktiken der Selbstverständigung relevant werden. Wenn es zu Konflikten darüber kommt, wie in einem Gemeinwesen mit der Not von Menschen umzugehen ist, sind eine Vorstellung wie die der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und die damit zusammenhängen­ de Vorstellung der Nächstenliebe hilfreich. Entsprechende Vorstellungen aber stehen denjenigen, die sich über etwas auseinandersetzen, gegen­ über. Sie erwecken so den Eindruck, als bestünden sie unabhängig von den Auseinandersetzungen, um die es geht. Diese Äußerlichkeit aber lässt sich überwinden – und zwar dadurch, dass die Beteiligten Kriterien selbst mitbe­ stimmen. Dies lässt sich realisieren, wenn Kriterien in der Form des Begriffs entwickelt werden. Begriffe sind Konfigurationen, die sich verändern. Dabei ist für ihre Verän­ derung auch ihr Gebrauch in Auseinandersetzungen entscheidend. In einem Konflikt über die Frage, was Nächstenliebe gegenüber jemandem gebietet, der in Not ist, wird das Kriterium nicht einfach als ein gewissermaßen äuße­ rer Fixpunkt zur Orientierung herangezogen. Das Kriterium wird vielmehr in neuer Weise bestimmt. Eine Auseinandersetzung über Nächstenliebe trägt zu einer Neubestimmung der Konfiguration bei, in der dieser Begriff steht. So ist die Auseinandersetzung ein Moment der Entwicklung des Begriffs selbst. Diejenigen, die sich begrifflich über bestimmte Begriffe als Kriterien ausein­ andersetzen, orientieren sich, indem sie Orientierungen durch begriffliche Artikulation ausarbeiten. In einer solchen Praxis der Selbstverständigung, die Hegel als absolutes Wissen beziehungsweise als Philosophie bezeichnet, sind Konfigurationen nicht bleibend, sondern verändern sich stets. Auch wenn auf diese Weise die Einseitigkeiten von Kunst und Religion auf­ gehoben sind, geht dies wiederum nur um den Preis einer neuen Einseitigkeit. 24   Entsprechend diagnostiziert Hegel, dass Religion in der Realisierung von Selbst­ verständigung noch in der „Form der Gegenständlichkeit“ (Werke 3, 575) verbleibt.

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Die Artikulation von Orientierungen verliert in der Form des Begriffs an Materialisierung (auch wenn ein gewisses Moment von Materialisierung immer bleibt). Die Konfigurationen sind nicht in einer gegenständlichen Weise ausgearbeitet – weder, wie in der Kunst, im Material, noch, wie in religiösen Vorstellungen, immateriell. Die sich in begrifflichen Auseinandersetzungen verändernden Konfigurationen sind so nicht anschaulich und weisen keine sinnlich-materiale Ausarbeitung auf. Anschaulichkeit und sinnlich-materiale Ausarbeitung sind aber wichtige Qualitäten der Materialisierung von Kriterien in Praktiken der Selbstverständigung. Diese Qualitäten werden durch die Form des Begriffs nicht überwunden, sondern nur in ihrer Einseitigkeit durchsichtig. Aus diesem Grund ist Selbstverständigung im Sinne des absoluten Geistes so zu verstehen, dass unterschiedliche Einseitigkeiten sich wechselseitig ergän­ zen, sodass Selbstverständigung sich insgesamt durch die Bewegung zwischen unterschiedlichen Formen von Selbstverständigungspraktiken realisiert, die Hegel als Kunst, Religion und Philosophie bezeichnet. Nun wird man einwenden, dass Hegel doch eine Entwicklung von Kunst zu Religion und zu Philosophie behauptet. Der im ersten Abschnitt meiner Überlegungen bereits erwähnte Satz vom Ende der Kunst besagt doch of­ fensichtlich, dass Kunst historisch durch Religion und Philosophie über­ wunden wird. Wenn man aber davon ausgeht, dass Hegel eine solche Überwindung behauptet: Warum versteht er dann den absoluten Geist nicht als allein in Philosophie realisiert? Warum insistiert er auf dem systemati­ schen Zusammenhang von Kunst, Religion und Philosophie? Will man diesem Insistieren Rechnung tragen, ist es erforderlich, den Einwand zu entkräften, also zu überlegen, ob eine andere Lesart des Satzes vom Ende der Kunst mög­ lich ist. Man kann sie gewinnen, wenn man davon ausgeht, dass auch der absolute Geist – wie alle Momente der Natur und des Geistes – aus Hegels Perspektive eine Geschichte hat. Der absolute Geist verändert sich mit der Entwicklung von Praktiken der Selbstverständigung. Diese Entwicklung setzt Hegel zufolge bei der Kunst an und setzt sich über Religion zu Philosophie fort. Am Ende aber ist Kunst nicht einfach überwunden, sondern hat sich verän­ dert. Sie ist jetzt als eine Praxis der Selbstverständigung zu begreifen, die nicht mehr aus sich heraus funktioniert. Wenn Hegel sagt, dass Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes ist (vgl. nochmals Werke 13, 25), so heißt dies also nicht, dass Kunst als Praxis der Selbstverständigung in einem modernen Gemeinwesen keine entscheidende Rolle mehr spielt. Es heißt vielmehr, dass sie nun konstitutiv mit Religion und Philosophie zusammenhängt. Nach der Entwicklung von Religion und Philosophie funktioniert Selbstverständigung in einer Bewegung zwischen unterschiedlichen Formen von Praktiken (Kunst, Religion und Philosophie), die sich wechselseitig in ihren Einseitigkeiten

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korrigieren. In dieser Form ist der Zusammenhang, den Hegel mit dem Begriff des absoluten Geistes herstellt, nicht als historisch, sondern als systematisch zu verstehen. Mit Blick auf eine moderne Kunstpraxis lässt der in Frage ste­ hende Zusammenhang sich ganz praktisch verstehen: Wir setzen uns mit Kunstwerken nicht nur einfach dadurch auseinander, dass wir unmittelbar ihrer Bedeutung im Material durch sinnliche Wahrnehmung gewahr wer­ den, sondern wir diskutieren und kritisieren Kunstwerke. So ist die sinnlichmateriale Ausarbeitung für uns mit begrifflicher Artikulation verbunden. Die Bewegung zwischen der Materialisierung von Selbstverständnissen und ihrer steten Veränderung in begrifflichen Konfigurationen wird so ein Moment der Praxis der Kunst selbst25.

Absoluter Geist als Rückkehr aus seinem Anderen

Nun habe ich soweit erläutert, wie die These, der absolute Geist verwirkli­ che eine Selbstbewegung, mit der These zusammenhängt, er sei in Kunst, Religion und Philosophie verwirklicht. Damit ist aber noch nichts dazu gesagt, warum Hegel den absoluten Geist als eine Rückkehr aus seinem Anderen, der Natur, bestimmt. Einen ersten Ansatzpunkt zu einer Erläuterung auch dieser These aber haben wir bereits gewonnen. Er liegt in dem Gedanken, dass es in Auseinandersetzungen, die im Rahmen eines Gemeinwesens Zusammenhänge realisieren, um Sachen geht. Es ist erforderlich, diese Struktur genauer zu ana­ lysieren. Entscheidend für ein Ringen um Kriterien mit Blick auf umstrittene Sachen ist ein Unterscheiden der Sachen von den begrifflichen Strukturen, in denen sie üblicherweise artikuliert werden. Solange Sachen im Rahmen einer selbstverständlichen begrifflichen Struktur erfasst werden, kann es keine Auseinandersetzungen über Sachen geben, da möglicherweise divergente be­ griffliche Artikulationen nicht als solche thematisiert werden können26. So ist es zu einer Auseinandersetzung über Sachen erforderlich, sich von begriffli­ chen Strukturen, in denen man sie erfasst, distanzieren zu können. Mit einer

25  Dieses wesentliche Moment von Hegels Verständnis moderner Kunst übergeht: Pippin 2014. 26  Dies wird indirekt auch in Hegels Überlegungen zum „geistigen Tierreich“ deutlich, in denen die „Sache selbst“ zwar als Orientierungspunkt eingeführt, aber noch nicht in Auseinandersetzungen fruchtbar gemacht wird (vgl. Werke 3, 304 ff.).

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solchen Distanzierung kommt zugleich die Möglichkeit zustande, sich auch auf andere begriffliche Strukturen im Vergleich zu den eigenen zu beziehen27. Aus Hegels Perspektive ist es zentral, das Distanzieren von Gegenständen als eine Errungenschaft zu begreifen, die aus Praktiken der Selbstverständigung resultiert. Der absolute Geist ist gerade nicht das Tilgen von Objektivität, son­ dern eine Öffnung zur Objektivität als einem Korrektiv geistiger Strukturen28. Diese Öffnung bringt kein Außerhalb ins Spiel, sondern einen zu geistigen Strukturen selbst gehörenden Widerstand, der allerdings innerhalb ihrer entfaltet werden muss, um als solcher zum Tragen zu kommen. Aus diesem Grund spricht Hegel von einem „wahrhafte[n] Gegenstand“ (Werke 3, 580), auf den der Geist sich hier bezieht29. Geistige Strukturen beziehen sich nur insofern auf Gegenständlichkeit als solche, wenn sie sich von ihr als einem ihnen tatsächlich Entgegenstehendem aus sich heraus distanziert haben. Das Unterscheiden von Sachen und begrifflichen Strukturen gehört also ei­ nerseits zu den begrifflichen Strukturen, eröffnet aber andererseits doch die Möglichkeit, dass Sachen eine Andersheit gegenüber den Artikulationen, die ihnen in einem Gemeinwesen zuteil werden, zeigen können. Sie können so diesen Artikulationen gegenüber einen Widerstand entfalten. Um einen solchen Widerstand genauer zu verstehen, sind Experimente in natur- oder sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen als Beispiele hilf­ reich. Wer Hypothesen in Bezug auf Zusammenhänge und Verfasstheiten in der Welt prüfen will, muss sich Widerständen gegenüber diesen Hypothesen öffnen. Es gilt, die experimentellen Settings so anzulegen, dass die untersuch­ ten Gegenstände und Zusammenhänge den Hypothesen widersprechen kön­ nen. Mit der Distanz zwischen Sachen und begrifflichen Strukturen gewinnen Gegenstände und Zusammenhänge der Welt so eine Eigenständigkeit. Hegels Begriff für eine solche Eigenständigkeit im Sinne dessen, was ich mit dem 27  Dies ist eine entscheidende Lektion der Tragödie im Sittlichen, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes analysiert: Im Rahmen der unmittelbaren Sittlichkeit kann auf die Divergenz unterschiedlicher Ordnungen, wie Hegel sie exemplarisch als „menschliches“ und „göttliches Gesetz“ unterscheidet (Werke 3, 329 f.), nicht reflektiert werden, weshalb diese Sittlichkeit notwendig zerbricht, sobald es zu einer Kollision der Ordnungen kommt. 28  Hegels Position ist entsprechend gegen diejenige John McDowells gerichtet, wenn Letzterer geltend macht, es gebe grundsätzlich eine Offenheit des Geistes zur Welt (vgl. z.B. McDowell 2009d). Aus Hegels Sicht ist die Öffnung zur Welt hin eine Aufgabe, die nie­ mals abgeschlossen ist, sondern immer wieder aufs Neue in Angriff genommen werden muss. 29  Dass ein Objektbezug im vollen Sinn erst im absoluten Wissen etabliert ist, betont bezüg­ lich der Phänomenologie des Geistes auch: Lumsden 1998.

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Begriff des Widerstands bezeichne, ist Natur: Natur ist die Eigenständigkeit, die im Rahmen geistiger Praktiken entwickelt werden kann, sodass für Natur zwei Aspekte charakteristisch sind: Zum einen gehört Natur dem Geist an als das, was nur durch die Distanzierung des Geistes von sich selbst zustande kommt. Zum anderen gewinnt Natur gerade aus der besagten Distanzierung heraus das Potential, innerhalb des Geistes Widerstände zu entfalten. So gewinnen wir einen ersten Anhaltspunkt dafür, inwiefern der absolute Geist eine Rückkehr zu sich selbst ist. Er ist dies nicht im Sinne eines Resultats, das mit dem absoluten Geist endgültig erreicht wäre. Der absolute Geist ist nicht nur noch bei sich und hat all sein Anderssein abgeschüttelt. Er realisiert vielmehr eine ständige Rückkehr zu sich selbst. Absolut ist der Geist gerade dadurch, dass hier nicht die Konzeptionen bloßer geistiger Selbständigkeit und bloßer geistiger Selbstbestimmung verfolgt, sondern vielmehr dezidiert ein Moment von Fremdbestimmung durch die – dem Geist als das, was ihm Widerstand leistet, angehörende – Verfasstheit der Welt als wesentlich für die Selbstbewegung zugelassen wird30. So ist der absolute Geist eine ständige Rückkehr zu sich selbst. Die Rückkehr ist nicht abgeschlossen, sondern fin­ det gerade hier erst richtig statt. Die Rückkehr ist keine Heimkehr, sondern ein Sich-selbst-Fremdwerden im Bei-sich-Bleiben. Hegel sagt dies in Bezug auf das absolute Wissen in der PhG unter anderem folgendermaßen: „Das Wissen kennt nicht nur sich, sondern auch das Negative seiner selbst oder seine Grenze. Seine Grenze wissen heißt sich aufzuopfern wissen“ (Werke 3, 590). So ist die Realisierung einer ständigen Rückkehr des Geistes aus der Natur als eine Selbstbegrenzung zu begreifen. Von einer solchen Selbstbegrenzung ist aber hier in einer spezifischen Weise die Rede. Es handelt sich nicht um eine Einsicht in die eigenen Grenzen (wie unter anderem in der Philosophie Kants31), sondern um ein stetes Begrenzen der geistigen Strukturen, also um ein Praktizieren von Begrenzung. Dieses Praktizieren von Begrenzung hebt alle fixen Grenzen auf, ist also gerade nicht mit dem Gedanken des Eingeschränktseins verbunden32. Es führt vielmehr zu einer Entgrenzung 30  Sally Sedgwick hat überzeugend dargelegt, dass es Hegel darum geht, über die bloß subjektive Vermittlung von Subjekt und Objekt hinwegzukommen, die er in Kants Philosophie gegeben sieht (vgl. Sedgwick 2012). Das lässt sich genau als das Vorhaben verstehen, von der Idee bloßer Selbstbestimmung Abstand zu gewinnen, also Selbstbestimmung mit einer Fremdbestimmung durch die Verfasstheit der Welt zu vermitteln. 31  Vgl. zu Kants Verständnis von Selbstbegrenzung die klassische Interpretation: Strawson 1966. 32  So gesehen ist Hegel kein Fallibilist. Er vertritt nicht die These, dass für wahr gehaltene Überzeugungen sich immer als falsch erweisen können. Mit dieser These wird letztlich

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geistiger Strukturen in dem Sinne, dass Natur als ein Widerstand, mit dem Geistiges konfrontiert ist und der in dieser Weise zum Geist gehört, nun ein Teil dieser Strukturen ist. Die Zugehörigkeit bedarf der steten Bewegung, kann also nicht einfach fixiert werden. So gewinnt die Bestimmung des absoluten Geistes als Selbstbewegung noch einmal einen anderen Charakter. Die Bewegung geht nicht nur von Aktivitäten aus, die Mitglieder eines Gemeinwesens hervorbringen, sondern auch von Aspekten der natürlichen Welt, von denen geistige Strukturen bewegt wer­ den. Die Selbstbewegung gewinnt dadurch einen absoluten Charakter. Sie ist nicht eine Bewegung, die unter der Bedingung der Bestimmungen steht, die in einem Gemeinwesen verwirklicht worden sind. Vielmehr gehen in grund­ sätzlich unbedingter Weise Bestimmungen in die Bewegung ein. Der absolu­ te Geist entwickelt Selbstverständnisse als Bestimmungen, die es erlauben, sich – wie man in Anlehnung an Überlegungen von Martin Seel sagen kann33 – bestimmen zu lassen34. Er realisiert damit eine Bewegung, die in grundsätzlich unbeschränkter Weise Impulse in sich aufzunehmen vermag. Selbstbewegung ist damit genauso eine Bewegung, die vom Selbst ausgeht, als auch eine solche, der das Selbst unterliegt – wobei die Bewegung in beiden Sinnen das Selbst ausmacht. Wenn der Geist aus der Natur zu sich zurückkehrt, erleidet das Selbst so keine bloßen Veränderungen, denen es ausgesetzt wäre. Vielmehr begründet es eine Selbstveränderung, also eine Veränderung, der der Geist als Selbst sich unterzieht. Erst dadurch gewinnt das geistige Selbst Konstanz. Mit der Selbstbewegung, die nicht nur eine Bewegung aus sich heraus ist, konstituiert dieses Selbst sich erst im vollen Sinn. Dabei ist von einem Selbst nicht primär in einem individuellen, sondern in einem überindividuellen Sinn die Rede. Das Selbst bildet sich durch intersubjektive Auseinandersetzungen in einem Gemeinwesen aus. Es ist so auch nicht als kollektiv zu begreifen, sondern eher als konfliktiv. Für Konflikte gilt dabei, dass sie nicht isoliert verwirklicht werden können. Einzelne stehen als solche, die in Konflikten engagiert sind, immer in größeren Zusammenhängen. Wir haben bereits geklärt, wie diese größeren die Unterscheidung von Wahr-sein und Für-wahr-halten hinfällig. Eine in diesem Sinn skeptische Position liegt Hegel fern. Ihm geht es vielmehr um den Gedanken, dass Wahrheit sich geschichtlich entwickelt. Die Selbstbegrenzung durch die Distanzierung von eigenen geistigen Strukturen trägt zu genau dieser Entwicklung bei. 33  Vgl. Seel 2002. 34  Insofern bewahrheitet sich im absoluten Geist in einer sehr grundsätzlichen Weise, was in der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft vorgezeichnet ist: dass im Geist Selbstbestimmung und Fremdbestimmung vermittelt sind.

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Zusammenhänge zu begreifen sind: Es handelt sich um Zusammenhänge, die sich durch Praktiken der Selbstverständigung – wie Kunst, Religion und Philosophie – ausbilden und die an solche Praktiken gebunden sind.

Der Skeptizismus des absoluten Geistes

Dem ersten Augenschein nach ist Hegel ein realistischer Philosoph, der für den Skeptizismus nicht viel übrig zu haben scheint. Wie er in der PhG aus­ führt, schätzt er ihn – in seiner antiken Variante – zwar wegen seiner Bejahung der Negativität des Geistes, hält ihm aber seine Realitätsverweigerung vor (vgl. Werke 3, 159–163). In seiner neuzeitlichen Variante charakterisiert Hegel den Skeptizismus als eine Konzeption, die Bedeutung zerstört, und so als Aspekt dessen, was Hegel als „Furie des Verschwindens“ (Werke 3, 436) charakterisiert. Aber Hegels Verhältnis zum Skeptizismus erschöpft sich nicht in dieser Kritik historischer Verwirklichungen von Skeptizismus. Hegel begreift diese histori­ schen Verwirklichungen insgesamt als einseitig – und zwar besonders aus dem Grund, dass der Skeptizismus nicht prozedural gefasst wird. Recht verstanden ist der Skeptizismus für Hegel ein wesentliches Moment der Konstitution von Wissen und damit Geist35. Dazu darf er aber nicht als eine Position verstanden, sondern muss als ein Weg begriffen werden, um zu Wissen zu gelangen. Das zentrale Element dieses Weges haben wir bereits auf­ geklärt: Es besteht darin, dass durch das Etablieren von Kriterien Distanz zu geistigen Strukturen zustande kommt. Eine solche Distanz ist die Grundlage für ein Infragestellen dieser Strukturen und ein solches Infragestellen wie­ derum ist die Voraussetzung dafür, dass Wissen zustande kommen kann. Erst dort, wo Überzeugungen verunsichert werden können, kann Wissen zustan­ de kommen. In diesem Sinn spricht Hegel von einem „sich vollbringenden Skeptizismus“ (Werke 3, 72)36. Verunsicherung – oder wie Hegel auch sagt „Verzweiflung“ (ebd.) – ist die produktive Kraft, aus der Wissen hervorgehen kann. Das absolute Wissen ist eine Praxis ständiger Selbstbegrenzung (im erläuterten Sinn). Mittels der durch Selbstverständigungspraktiken etablierten Kriterien werden immer wieder scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt37. Die Distanz zu den Strukturen eigener Praktiken führt dazu, dass 35  Vgl. dazu Csikós 2008. 36  Entsprechend hat Hegel in einer seiner Habilitationsthesen Kant vorgeworfen, einen „un­ vollkommenen Skeptizismus“ entwickelt zu haben (Werke 2, 533). 37  Insofern lässt sich mit Hegel ein erkenntnistheoretischer Kontextualismus kritisieren, der geltend macht, dass Anforderungen an Wissen nach Kontexten variieren (vgl. besonders

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diese Strukturen immer wieder an ihren Grenzen revidiert werden. Der Prozess einer solchen Begrenzung ist in sich skeptisch verfasst. Die Distanz von eigenen Strukturen führt dazu, dass diese immer wieder in Zweifel gezogen werden. Der Zweifel aber steht nicht (im Sinne einer endgültigen Selbsteinschätzung) fest, sondern ist der Weg, um eine Revision der Strukturen zu erbringen. Keine Revision und kein Selbstverständnis haben dabei das letzte Wort. In diesem Sinn ist Selbstbegrenzung ein Prozess und nicht eine Erkenntnis in eine spezi­ fische Verfasstheit des Menschen. Als sich vollbringender Skeptizismus ist das absolute Wissen genau mit den drei Thesen verbunden, die ich meinen Überlegungen zugrunde ge­ legt habe. Das lässt sich besonders gut nachvollziehen, wenn man sie im Lichte der zurückliegenden Überlegungen reformuliert. Eine entsprechende Reformulierung nimmt sich folgendermaßen aus: (1) Der absolute Geist bewegt sich durch eine ständige kritische Selbst­befragung. (2) Für diese kritische Selbstbefragung sind Artikulationen von Selbstver­ ständnissen in Kunst, Religion und Philosophie konstitutiv. (3) Im Zuge der kritischen Selbstbefragung öffnet sich der Geist für Widerstände der Welt als Momente, von denen er sich bewegen lässt. Die Bewegung des absoluten Geistes ist eine Bewegung, in der aktive und pas­ sive Aspekte untrennbar verbunden sind. Die Identität, die aus der Bewegung resultiert, geht aus der kritischen Befragung hervor. Sie besteht in den Kriterien, die in Auseinandersetzungen von Mitgliedern des Gemeinwesens etabliert werden und in von diesen Mitgliedern vorgenommenen kritischen Befragungen leitend sind. So ist die Selbstbewegung des absoluten Geistes gerade nicht ein selbstsicheres Bei-sich-Sein, sondern ein Bei-sich-Sein im Außer-sich-Sein, in der Verunsicherung. Die Verunsicherung ist aber nicht nur destruktiv, sondern öffnet vielmehr die geistigen Strukturen der Praktiken in­ nerhalb des Gemeinwesens für äußere Impulse. Der Skeptizismus erweist sich gerade in dieser Hinsicht als produktiv38.

Williams 2001). Auch wenn man aus Hegels Perspektive zugestehen kann, dass in einem Gemeinwesen unterschiedliche Kriterien verfolgt werden, so macht er doch klar, dass ohne einen das Gemeinwesen umfassenden Diskurs über Kriterien die Selbstkritik nicht zustande kommt, die für alles Wissen entscheidend ist. 38  Insofern folge ich Jean Hyppolite in der Einschätzung, dass das unglückliche Bewusstsein als skeptische Grundgestalt das „fundamentale Thema“ der Phänomenologie des Geistes ist (vgl. Hyppolite 1979, 190). Das unglückliche Bewusstsein hat allerdings dahingehend

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Entscheidend für die kritische Selbstbefragung im absoluten Geist sind dabei die Artikulationen von Kriterien, wie sie in Kunst, Religion und Philosophie hervorgebracht werden. Dadurch konstituieren sich innerhalb eines Gemeinwesens Identitäten, die sich in unterschiedlichen Praktiken da­ durch durchhalten, dass sie sich immer weiter verändern. Wie dargelegt, sind für die Konstitution der Kriterien Kunst, Religion und Philosophie in ihrem Zusammenspiel relevant. Unumgänglich bewegen sich die Materialisierungen, mittels deren Kriterien für das eigene Tun im Rahmen eines Gemeinwesens eta­ bliert werden, in einer Spannung zwischen Beständigkeit und Unbeständigkeit. Wenn die Materialisierungen Beständigkeit erlangen, geht ihnen als solchen die Bewegung ab, die ihre Wirksamkeit im Rahmen eines Gemeinwesens aus­ macht. Sind sie hingegen unbeständig und als solche beweglich, so drohen sie immer wieder als Kriterien zu entgleiten. So bewahrheitet sich innerhalb der Gestalt des absoluten Geistes selbst, dass aus Hegels Sicht ein Materialismus ohne Metaphysik keinen Bestand hat. Wesentlich für die Öffnung gegenüber materiellen Widerständen der Welt sind die Verunsicherungen, die recht ver­ standen die Metaphysik ausmachen. Vernunft ist kein beständiges Vermögen, sondern eine Praxis kritischer Selbstbefragung, die mit unentwegter Bewegung verbunden ist39. Im Zuge der Exposition der Thesen, auf die ich meine Interpretation des absoluten Geistes stütze, habe ich erwähnt, dass Hegel immer die mögliche Wirkungslosigkeit von Orientierungen in einem Gemeinwesen betont. Hegel begreift dies nicht als eine Äußerlichkeit, sondern vielmehr als wesentlich für die Bewegung im absoluten Geist. Zu dieser Bewegung gehört die stän­ dige Selbstbefragung daraufhin, ob Orientierungen wirkungsvoll sind oder nicht. Gerade in diesem Sinn ist der Geist absolut: Er hat sich von bloßen Selbstverständlichkeiten und Routinen gelöst und steht so immer wieder vor der Frage, welche Selbstverständlichkeiten und Routinen das Gemeinwesen stützen und welche nicht40.

ein entscheidendes Defizit, dass es die Verunsicherung als gegeben und unproduktiv be­ greift. Dieses Defizit wird im absoluten Geist überwunden. 39  Hegels These, alles Sein sei ein Werden, bringt diesen Gedanken auf sehr abstrakte Weise zum Ausdruck. Michael Theunissen interpretiert dies treffend als einen Versuch, sich „kritisch gegen die Ontologisierung der Theologie zu wenden“ (Theunisse 1978, 39). Man kann hier genauso von einer Kritik aller Ontologisierung der Vernunft im Sinne einer ver­ mögenstheoretischen Fassung von Vernunft sprechen. 40  Für Kommentare zu früheren Versionen dieses Textes bin ich Daniel M. Feige, Frank Ruda, Sally Sedgwick und Tobias Wieland zu Dank verpflichtet.

Fokus 3.A Kunst



Art in Times of Historical Crisis – A Hegelian Perspective Angelica Nuzzo The question that I set out to address in this essay is positioned at the intersection of Hegel’s “objective spirit” and “absolute spirit”. It aims at clarifying the relationship of these two systematic spheres in Hegel’s philosophy but is also meant, more generally and broadly, to offer a suggestion concerning the validity and use to which this Hegelian conceptual constellation can be put in our contemporary world. Herein I shall offer the systematic framework in which to approach this broader problem. At stake is not just the issue of the rootedness of the forms of absolute spirit in the world of social, political, cultural institutions and history, i.e., ultimately, the way in which, on Hegel’s account, art, religion, and philosophy are “absolute” not despite but in force of their ‘objective’ rootedness and ongoing necessary historicity. While I have discussed this systematic problem repeatedly elsewhere,1 presently I would like to push the question a step further in the opposite, yet obviously connected, direction. In short, I am now interested in the impact that spirit’s absoluteness has back on the objective world from which it obtains; and I am interested in the efficacy it has precisely on the basis of the way in which Hegel thinks of that absoluteness. The central issue that concerns me in what follows is the relation between art (and, by way of contrast, philosophy) and the changing and historical nature of the objective world considered in the spiritual dimensions constitutive of it, namely, again, political and social structures and successive epochs in world history. How does art, on the ground of the systematic features it owes to being the first immediate form of absolute spirit, address the historical changes occurring in spirit’s objective world? What is it, in its specific Hegelian ‘absoluteness’, that elicits the response art gives to historical transformations in the social and political reality of which it is part? The reverse side of this issue is also significant: does art itself produce change in the objective world – or does it only express it, reflect it and reflect on it in its specific intuitive modality? And if the former is the case, as I maintain it is, how then and on what basis is change brought about by absolute spirit in the objective world? In other words, the question concerns whether Hegel’s absolute spirit is only placed within the objective world with regard to 1  See Nuzzo 2006a.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_019

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the historical and material as well as systematic actualization of forms that are, in addition, beyond history and above the social-political horizon because of their absoluteness; or whether instead absolute spirit is also, and essentially, an active ‘agent’ with regard to the historical transformations undergone by this world. The suggestion offered by the argument developed in this essay aims at making the latter, stronger point. The claim is that the forms of absolute spirit – and I will concentrate here on art and the artwork in particular – precisely on the basis of Hegel’s systematic characterization of spirit’s absoluteness, play a fundamentally active role in shaping and indeed transforming spirit’s objective reality. This role, I maintain, comes to light in a paradigmatic way in situations of historical crisis but cannot be reduced to the different modalities of action that spirit displays in the social and political world (namely, moral, political, economic, utilitarian action). I maintain that the salient traits of Hegel’s aesthetics or theory of art, which are generally discussed and interpreted independently of his conception of objective spirit, are deeply rooted in his view of spirit’s objective reality and consequently display their full range of implications when the issue of historical transformation is at stake. In this essay, however, I will only be able to sketch out the main features of the systematic constellation that will allow me to further develop the argument concerning the activity of art in times of crisis. To be sure, the problem that I just outlined is not a specifically Hegelian one – and is also not a problem of a restricted philosophical import. It is an issue crucial to every artist who reflects on the import of her activity. But it is perhaps particularly relevant for an artist at work in our transitional, unsettled, and indeed critical times. Let me then frame the issue more broadly by appealing to the testimony of the poet W. H. Auden, who famously noticed, with regard to the Spanish Civil War to which he participated in the early months of 1937, “poetry makes nothing happen”. It certainly does not. But then all depends on what is meant by that “something” (that happens or should be made happen). Helen Vendler comments on Auden’s statement as follows: poetry “doesn’t [make anything happen], when the ‘something’ desired is the end of hostilities, a government coup, an airlift, or an election victory. But those ‘somethings’ are narrowly conceived. The cultural resonance of the characters of Greek epic and tragedy […] and the crises of consciousness they embody have been felt long after the culture that gave them birth has disappeared […]. Music makes nothing happen, either, in the world of reportable events […]; but the permanence of Beethoven in revolutionary consciousness has not been shaken. We would know less of New England without Emily Dickinson’s

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‘seeing New Englandly,’ as she put it”.2 Moving in the aftermath of the Hegelian idea that art is the truest expression of the ‘spirit’ of its own historical epoch, yet it is also placed beyond it thereby displaying a validity for all times, this argument challenges us to re-define the sphere of activity and actual efficacy proper to art as a fundamentally active (and not simply reactive or reflective) spiritual form.3 In the face of it, it seems that although art’s activity is placed in the social and political world, it makes nothing happen in this world. Poetry is no direct political action (just as philosophy is not). Political action, however, is not the only type of action capable of generating change in spirit’s world – of making something happen, as it were. Besides, there may be indeed social and political value to an action that is not, directly, political (Beethoven’s music is present in revolutionary consciousness). And I should add that the point herein is also broader than, although not unrelated to, the discussion surrounding the utilitarian argument concerning the instrumental value of the humanities, i.e., in Hegelian terms, the usefulness of Bildung within the sphere of ethical life or Sittlichkeit. Perhaps it is not only true that we would “know less of New England” without Emily Dickinson’s work. It may well be that New England would be less (or not at all) what it is, had Dickinson’s poetry not happened within the context of its social-political-historical reality – and had not contributed to ‘make happen’ what so distinctively characterizes that historical world. In what follows, I suggest that Hegel’s theory of art offers an important intellectual tool to address Auden’s point, namely, to reconceive in a broader way the realm of action proper to poetry and art more generally as products or actions of absolute spirit – i.e., ultimately, to reconceive the realm of that which poetry does in fact make happen in the objective world. In order to approach this set of issues a preliminary clarification is in order concerning the problem of historical change, which I shall further narrow down to a definition of situations of historical crisis. The question concerning the meaning of spirit’s ‘absoluteness’ in relation to its objectivity and worldliness in Hegel’s philosophy is then addressed. Finally, I shall present the initial lines of a reflection on the role that art, conceived in the framework of Hegel’s absolute spirit and contrasted to philosophy, may play within the objective

2  Vendler cites Auden in “Writers and Artists at Harvard. How to Welcome and Nurture the Poets and Painters of the Future”, in: Auden 2012. 3  To be sure, Vendler’s expression here concerning the “cultural resonance” of art is a cautious one. I am interested in pushing the active role a bit further.

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world in situation of historical crisis – a reflection on what it is that art does make happen in the world in force of its proper absoluteness.

Historical Change and Historical Crisis

As trivial as it may at first sight appear, the problem of detecting the transformation occurring in the social and historical world and bringing it to consciousness already constitutes a complex issue in its own right, even before (and ostensibly, as the condition of) raising the question of how change can be brought about (in a general practical sense as well as in a more specific political sense). Hegel’s broadest and systematically foundational answer to this question, which remains central for him starting from the Jena years, lies in his dialectic-speculative logic. Accordingly, I shall briefly consider the problem of change occurring in the objective world by bringing it back to the Logic. But I want to narrow the question further. At stake in the following considerations are those specific moments of historical transformation that mark a “transition” – Übergang – between two different assets of the world. These are the transitional moments in which the objective world of spirit as well as spirit’s subjective dimension undergoes the turmoil of a ‘crisis’ and is caught in a sort of apparent ‘stasis’. The crisis is the embodiment of a real contradiction. It is the state of in-between flux in which contradictory forms of life and contradictory norms are present at the same time. The whirlwind at the center of the contradiction is the point in which movement seems to stall. Crisis manifests itself as stasis; radical change takes on the semblance of a static lack of change. In short: too much is happening (and perhaps also too fast) so that nothing seems to be happening as rational comprehension does not seem able to catch up with the course of events. As we know from the famous Hegelian image of the Owl of Minerva, conceptual understanding arises only when historical distance is possible. It may be different with art. What interests me here is the possibility of making a ‘heuristic’ use of spirit’s predicament in moments of transition-crisis. Since in these moments crisis and transition invest spirit in all its systematic dimensions (namely, most generally, subjective, objective, absolute), they ultimately bring to light the ways in which these dimensions are connected with and dependent on each other in the unity of spirit’s actuality. The crisis, in this way, is made into an interpretive tool to test certain systematic features of Hegel’s philosophy of spirit – here, in particular, the relation between objective and absolute spirit. What is art’s response to crisis on Hegel’s conception of art as the first

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form of absolute spirit? There is indeed a sense in which, quite generally, to-be-a-response-to-crisis can be considered a working definition of art. In what follows, I begin by addressing Hegel’s conception of historical crisis bringing to the foreground the logic underlying the change and transition characterizing the moment of crisis as well as the specific need that such crisis raises for spirit. I cannot avoid taking my cue from an often-quoted passage from the preface to the Phenomenology of Spirit (1807). Herein Hegel indicates that the present time requires a new philosophical way of thinking about the current historical situation and about the subject who lives and acts in it. Such a new way of thinking is provided by the idea of dialectic, which Hegel develops first with regard to the experience of consciousness in the 1807 work, and then in its pure forms in the Logic once the opposition of consciousness is overcome in the phenomenological “absolute knowing”. “It is not difficult to see”, Hegel registers famously in the preface to the Phenomenology, “that our time is a time of birth and transition (Übergang) to a new period. Spirit has come to a break with the previous world of its existence and representation, and is about to sink this world in the past and to start the work of its own transformation (Umgestaltung). Indeed, spirit is never in a state of quiet” as it is caught in a constant progressive movement (Werke 3, 18). This is Hegel’s account of the contemporary world as a moment of historical transition and crisis: a violent, radical break has occurred (the French Revolution) that has fundamentally changed the shape of spirit’s world – of its social, political, juridical institutions but also of the ways in which this world is differently represented and reflected on in individual and collective consciousness. Subjectively, this means, quite simply, that life is no longer how it used to be although it may go on, apparently, as it usually did since new forms of life are not yet in place. Radical change and no change seem to coexist. Objectively, this means that social, juridical, and political institutions no longer have the force and normative validity they previously had although they may still be standing only slightly changed. Indeed, those old ways of life and institutions may still exist, somehow, even though they are dead relics of the past rather than living and lived norms. The new order has not yet emerged – only the ‘need’ for it is there, perhaps the vague conditions for its existence but certainly neither its full-fledged shape or figure, nor the consciousness of what is to come. The crisis is a predicament of fundamental indeterminateness, a moment that is disorienting but also rife of possibilities with regard to the direction in which the new order may develop. Ultimately, this is what it means to be in a “time of birth and transition to a new period”. Writing in the post-World War I Italy, Antonio Gramsci has

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coined an influential term for the historical predicament of crisis described by Hegel in this way, namely, famously, “interregnum”.4 If there is, to be sure, a measure of promise and confidence in Hegel’s portrait of the present age in the cited passage, there is also the awareness of the effort required to carry out its momentous change (the movement of spirit is hard “work”, insists Hegel: Werke 3, 18), of the “price” that one has to pay for every step undertaken along a path that is all but certain and straightforward (Werke 3, 19). But most importantly, there is in Hegel’s remark a sort of puzzlement and a degree of disorientation in front of the task that the present world poses to philosophy. For, Hegel’s real focus is not so much to predict the possible contours of the new epoch about to begin but to comprehend the “transition” itself – to comprehend the Übergang that leads to the new epoch and produces it, to grasp the process of deep transformation or Umgestaltung in which contemporary consciousness is inexorably and uncomfortably caught. In effect, this is the true object of philosophical understanding; this is the chief challenge that the actual world poses to it. How can the historical “transition” itself be understood? Neither the past nor the future but the changing present in its changing quality; neither the origin nor the end-point of the historical process of transformation in their isolated, static occurrence, but the very movement of transformation taking place in the in-between separating the old and the new, the movement in which our lives are presently immersed and engaged. How can transformation be conceptualized when all distance between the process and its apprehension (and hence the possibility of a ‘standpoint’ or a perspective of sort) is erased; when thinking is one with the changing process that is being thought? This is the problem that Hegel addresses from now on in his philosophy; this is the problem, to put it in terms of Hegel’s own theory of Geist, that spirit’s objective world poses to philosophy as the highest form of absolute spirit. Now, while holding on to the challenge posed by a present mired in a historical crisis, I want to change the addressee of the challenge: not philosophy but art is called upon to live up to the present time – art functioning in its own specific medium, namely, intuition and imagination, not art working in the intellectual or conceptual mode close to philosophy, and not art subservient to religious aims. How does art, on its part, come to grip with the crisis of the present? How does art’s specific mode of expression and activity – art as poiesis, as it were – connect with the structural features of the transitional moment of crisis? Speaking to his contemporaries, Hegel can indeed say, “it is not difficult to see” that we live in a time of transition to a new epoch. It is not difficult to see 4  Gramsci 1975, 1727. See my “Living in the Interregnum”, forthcoming in: Philosophy Today.

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because life provides immediate evidence for this claim in lived uncontroversial facts. But he famously warns that what is known to common sense (what is bekannt) is still not conceptually grasped, is not yet philosophical knowledge (is not erkannt) (Werke, 3, 35). On the contrary, what is most easily seen, felt, and lived in its immediate certainty, is the hardest thing to grasp conceptually, is the real challenge to philosophy. This is then the task to be undertaken: to give conceptual, rational form to the mere feeling, perception or indeed “experience” of change. Art’s predicament is clearly different than philosophy’s on this point. For, unlike philosophy, art does not use the concept but intuition in order to grasp and appropriate the reality in which spirit operates. Unlike philosophy, art does operate in the element of feeling and in the dimension of immediacy or intuition. Das Bekannte is its element; art’s task is rather to challenge what is well-known providing a different reality for it. Leaving this question aside for the moment and turning briefly to the way in which Hegel famously addresses the problem with regard to philosophy, we can say that in 1807, with the Phenomenology, Hegel provides a logic of change that takes “consciousness” as its concrete object, i.e., as the place in which change occurs and becomes visible as concrete subjective experience. Accordingly, the philosophical understanding of transition is the understanding of how transition and change take place in and for consciousness, the latter being a concrete “example” or instance of the pure (i.e., logical) form of Übergang (Werke 5, 49). After the Phenomenology, the Science of Logic takes transition as such to its object; it thematizes thinking’s movement in its purely logical form, independently of consciousness (and independently of the object in which change occurs). As I have argued elsewhere, Hegel’s new dialectic-speculative logic is a “logic of change” or a “logic of transformation”.5 In this regard, I want to call attention very briefly to a few features of the internal logic proper of the moment of historical transition viewed as the ‘crisis’ or actual contradiction in which the old social and political order just as the new one is and is not at the same time. The most general outline of such a logic is provided by the second moment of the “absolute method” thematized in the last chapter of the Science of Logic, i.e., the moment of the advancement – Fortgang (Werke 6, 555). This is the negative and properly transformative moment of the process that marks the encounter with a crisis but also entails the “turning point” – the Wendungspunkt or metabole of its course (Werke 6, 563). The resolution of the crisis and the radical change in the development of the action characterize all successful advancement and all true transformation. Incidentally, if we follow the Aristotelian account, these 5  Nuzzo 2006b.

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moments also characterize the structure of ancient tragedy. Art has already captured what philosophy (later) conceptually thematizes. On Hegel’s account of the method, to advance is not simply to proceed in a continuous straight line. For, the advancement combines continuity and discontinuity, and has a more complex geometry, the circle being famously Hegel’s favorite way of describing it. This is the structure proper of all historical processes insofar as the forward movement of the advance takes place by means of a crisis.6 The crucial point for the advancement, however, is to pinpoint the moment in which the linear trajectory encounters discontinuity thereby curving reflexively onto itself on the way to the resolution of the crisis, i.e., in order to return full circle onto itself. For, it is here, in the moment of discontinuity that the true advancement is made. Herein the question addressed by the preface to the Phenomenology should be raised again: how do we gain conceptual knowledge or how do we become conscious or aware of the moment of crisis as crisis? Philosophy and art, I suggest, stand here as two open possibilities. Formally, negativity and contradiction, difference and relation to otherness characterize this second moment of the method, which displays a fundamentally relational structure – the very structure proper of the predicament of being-in-the-middle, connected as it is on both sides with a beginning that no longer is and with an end that is not yet – the old and the new of the changing historical order. According to the methodological character of the advancement, it is the negativity proper to judgment that produces the crisis. Although judgment expresses the concept’s free act of self-determination, it also sanctions the crisis of the unity of its moments that in the division or split of judgment as Ur-Teilung ceases to exist. However, such crisis is itself the development and realization of the concept – its Entwicklung and Realisierung.

Spirit’s Absoluteness and the Historicity of Objective Spirit

In the realm of objective spirit, world history constitutes a split of the substantial unity of ethical life. The logic of this split or Ur-Teilung, which warrants the famous designation of Weltgeschichte as Weltgericht, should be brought back to the methodological moment of the advancement portrayed above (Enz. § 548; R § 341 Werke 7, 503).7 Indeed, what Hegel’s Logic 6  With the designation of ‘advance’ no progressivism is implied: advancing is simply moving on – the axiological question of whether the advance is for the better or worse constituting a separate issue. 7  See Nuzzo 2006a, cit., chapter 4.

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thematizes as methodological Fortgang is the underlying structure of all (real) processes as processes. Systematically, it is from the movement of world history that the transition to absolute spirit – or better, first, the “knowledge of absolute spirit” – arises (Enz. § 552). Thus, although the last sphere of spirit in its most general form is the resolution of the contradiction represented by history, we should expect such contradiction along with the structure of judgment as Ur-Teilung to remain at the core of absolute spirit as constitutive of its genetic story. In other words, spirit’s absoluteness does not consist in its being placed beyond the contradictions of history (and the fundamental contradiction that is history) but in its resulting from the full-fledged experience and consummation of it (from its cognitive Vollendung: R § 343 Werke 7, 504). Ultimately, such an experience remains proper of absolute spirit in all its forms. There is a sense in which history represents, at the same time, the most powerful limiting condition of spirit’s overall development – it is the crisis encountered by Geist taken as a whole8 – and the highest objective modality of freedom’s actualization, which is the meaning of Hegel’s systematic placement of Weltgeschichte as the culmination of Sittlichkeit from which the transition to absolute spirit takes place. The emergence of spirit’s absoluteness is the result of the act whereby spirit comes to negotiate this tension reconfiguring it according to the modality that is to dominate the last sphere of Hegel’s system. At the end of objective spirit, history is the manifestation of spirit’s alienation and exteriority, of its being prey of the highest conflicts and contradictions, of its falling back into the sort of open-ended “state of nature” among nation states, which not even international right is able to definitively settle (R § 333, Werke 7, 499). And yet, at the same time, world history is spirit’s most extensive process of liberation and universalization – it is “the path of liberation (Weg der Befreiung) of the spiritual substance, the act (Tat) through which the absolute end (Endzweck) of the world is actualized in it” (Enz. § 549). On this basis, world history is the ultimate objective dimension in which spirit places the ongoing articulation of the highest forms of its selfcognition (Wissen), namely, art, religion, philosophy. The point is that as much as spirit, at the end of the development of ethical life, is set to overcome the highest limiting condition (i.e., world history) in order to posit itself as truly absolute, the actual manifestation of such absoluteness does not take place beyond history but remains immanent within it. Ultimately, history and the entire development of objective spirit constitute the systematic foundation 8  There is a sense in which world history is the crisis of Geist’s overall development from subjective to absolute spirit, and another sense in which the process of history is marked by internal determinate crises. The general logic of the process is, in both cases, the same.

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and the material basis from which and on which spirit is charged with the further development of its ‘absolute’ forms. A genetic relation as well as a relation of matter and form connects, in this regard, objective and absolute spirit. As absolute spirit emerges from the culmination of ethical life, spirit’s social and historical reality becomes the matter or content of spirit’s absolute activity – a matter and a content that those forms transfigure according to their respective modality. It is on this ground that absolute spirit’s specific development has an influence or indeed an efficacy back on that objective basis. Indeed, the crisis that for Geist as a whole is world history is necessary in order for spirit to gain the reflective, cognitive dimension of self-knowledge in which its absoluteness first consists (still in world history as “Wissen des absoluten Geistes”: E § 552, and in the opening of “absolute spirit” as “Wissen der absoluten Idee”: E § 553). But since the crisis, according to the logic of the advancing process, brings the movement of spirit reflectively back to itself, the transformative moment entailed by the crisis becomes transformative also with regard to spirit’s return from its absoluteness back to the objective world. This second reflection, whereby absolute spirit re-enacts and comprehends its own genesis within the ethical world, now implies an active and conscious and transformative return to the reality of objective spirit. For, if the crisis of the advancement marks the Wendungspunkt of the process, the “turning point” implies a retroactive movement back to where absolute spirit comes from. To be sure, this twofold reflective relation – whereby (i) spirit as a whole becomes absolute by returning to itself through the critical “turning point” of world history, and (ii) through its absoluteness spirit returns back to the world of objective spirit and displays its action in it – is the basis of the ambiguity with which Hegel approaches the relation between ethical life, world history, and the three forms of absolute spirit at the end of the Philosophy of Right. Among the three forms, the case of art seems particularly ambiguous. Hegel introduces the division “C. Die Weltgeschichte” as the conclusion of the sphere of Sittlichkeit by appealing to a sort of seamless continuity between world history, art, religion, and philosophy. Because of such continuity, these latter forms are presented without recurring to the systematic separation dividing objective from absolute spirit but are rather placed side by side within the unity of spirit’s “movement”. The subject that in its action underlies all these forms is “the universal spirit”. At stake is the different configuration of the “element of existence (das Element des Daseins)” in which the universal spirit carries on the “movement” of mediation between the universal and the particular. Those forms constitute the Darstellung of such a mediation in different “elements”. “The element of existence of the universal spirit, which in

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art is intuition and image, in religion feeling and representation, in philosophy free thought is in world history the spiritual actuality in its entire extension of interiority and exteriority” (R § 341, Werke 7, 503). Herein, with a sort of systematic inversion, the nature of the operative “element” characterizing art, religion, philosophy is taken for granted, and the dimension of world history is then established as overarching and comprehensive of them all (instead of absolute spirit’s forms being derived from ethical life). Indeed, there is a sense in which the forms of absolute spirit develop within the same actuality as world history, a point that here seems to warrant their being posited on the same systematic ground as well. But then there is a sense in which those forms also fundamentally differ from each other with regard to how spirit’s objective-ethical reality is further apprehended and practically transformed, consequently becoming a different, somehow ulterior reality than world history. What is relevant then is that in this passage Hegel presents art’s intuition and image, religion’s feeling and representation, and philosophy’s free thought as elements of existence – not just modes of theoretical (self-)apprehension of spirit’s objective existence – thereby hinting at the way in which the historical reality is transfigured into the reality of the artwork (and in that of religion and philosophy, whatever they may turn out to be).

Art’s Work in the Objective World

At the end of the Philosophy of Right, after having sketched out the division of world history in the successive “welthistorische Reiche” (R § 354, Werke 7, 509), Hegel attempts to bring together the different forms of spirit’s existence yet again. This time he does so by presenting them in the historical dimension of the contemporary “Germanic realm”, which he purports to establish as the final moment of “true conciliation” of the ethical world (R § 360, Werke 7, 512). On this account of Weltgeschichte, the Germanic principle emerges from the “absolute negativity” that constitutes the “Wendepunkt” or the “turning point” of historical crisis that follows the Roman world, and is tasked with bringing about the highest Versöhnung (R § 358, Werke 7, 511). The path of this conciliation is admittedly a “hard” one, one in which the “absolute opposition” (R § 360, Werke 7, 512) between the worldly (or secular) and otherworldly (or ‘spiritual’) powers is an ongoing struggle dominated by religion and the state, and involving the need for a higher philosophical comprehension (R § 359, Werke 7, 512). In the last section of the Philosophy of Right, however, art drops out of the picture as it apparently fails to fit too seamlessly with – or

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to contribute anything substantial to – the final conciliation of the present Germanic world. In contrast to the awareness of historical crisis expressed in the 1807 preface (the “time of birth and transition to a new period”: Werke 3, 18), Hegel now presents the following satisfied and settled view: “The present has cast off its barbarism and unjust arbitrariness, and truth has cast off its otherworldliness and contingent force, so that the true conciliation, which reveals the state as the image and actuality of reason, has become objective”. And here is the way in which the ethical life of the state is seen as coexisting in perfect harmony and organic unity with the forms of absolute spirit – again, significantly, all of them except art: “In the state, the self-consciousness finds the actuality of its substantial knowledge and volition in organic development; in religion, it finds the feeling and representation of this truth as ideal essentiality; but in science, it finds the free and comprehended cognition of this truth” (R § 360, Werke 7, 512). State, religion, science. What happened to art in the modern, allegedly fully ‘reconciled’ world? Is art perhaps sensing an ongoing dangerous crisis where religion and (Hegelian) philosophy want instead to promote a conciliatory image of the ethical whole finally summed up in the state (“image and actuality of reason”)?9 Is art dropped because of its dissent? I can only leave this as a suggestion. Intuition, however, as the element of art’s existence warrants the suspicion at this point. For, it is intuition – not conceptual thinking and not representation – that stands in true immediate unity with the flux of the present. 1821 may not host, for Hegel, the same troubling crisis as 1807. The latter, however, may not be entirely over – as politics, religion, and philosophy try instead to persuade us it is. It is perhaps the work of art (and it alone) that brings this intuition to light, lending existence (or Dasein) to it. As “the path of liberation (Weg der Befreiung) of the spiritual substance” (E § 549) from the limitations encountered within the realm of its ethical objectivity (which are natural and geographical as well as cultural, social, political limitations), “universal world history” is successively described as the “act” or deed (Tat) (E § 549), the “action” (Handlung), and even the “work” (Arbeit) (E § 551) that fulfill and bring to actuality the “absolute end of the world” (E § 549). In the Philosophy of Right, Hegel underscores the same idea: “The history of spirit is its deed (Tat); for spirit is only what it does”, although here the poietic value of that deed is tilted again in the theoretical direction: “its deed is to make itself […] the object of its own consciousness, and to comprehend itself in its interpretation of itself to itself” (R § 343, Werke 7, 504). 9  The issue is specific to the modern-contemporary world. In short, in the ancient world, art is closer to the life of Sittlichkeit; while in medieval times art is closer to religion.

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With regard to spirit’s liberation, history is not a cognitive but a practical endeavor – and it is practical not only in the sense of praxis but also in the sense of poiesis – at this stage, specifically, in the sense of the poietic, productive activity that is “work” (Arbeit) and implies the work-implement relation (E § 551: Werkzeug; also Werke 3, 18). Self-comprehension follows spirit’s action – the action through which spirit ‘makes itself’, generating its own reality (or objectivity). In other words, it is not as speculative reason but as practical-poietic reason, that Hegelian Vernunft is actualized in history (see E § 6 Remark; Werke 5, 45). Which means, then, that it is only when the two sides (cognitive and practical) are joined in their reconciled unity that spirit can achieve its true absoluteness. Importantly, this predicament also signals that there is a structural underlying homology between the poietic activity of history (or of spirit in history) and what absolute spirit develops as the production of the artwork. Unlike Kant for whom the Endzweck of history is the moral good, Hegel posits that final end to be the achievement of the “absolute” dimension of freedom. And in this regard, Hegel contends that the spiritual activity that is history, although eminently practical, is not consigned to spirit’s strictly moral or even ethical praxis but rather to its poiesis. This is the link that leads from the “work” of history (or history as the work of spirit) to the work of art as one of the highest forms in which spirit’s self-knowledge is actualized in its truly absolute dimension. As in history, in the artwork spirit makes itself through its action into what it is. And yet, at the final stage of the development of objective spirit, the “final end” appears in the figure of “the highest and absolute right” (E § 551), i.e., is still conceived in strictly juridical and ethical terms. This, however, is not yet the truly absolute dimension of spirit’s freedom. For, in its alleged absoluteness, this right is still limited and conditioned, is still a contingent and arbitrary end as it is affected by the claim to the opposite, i.e., by the contradiction against which it violently exercises its “absolute right”. This is clear if not at the present moment, in which the leading Volksgeist imposes its “absolute will” and does so with “absolute right”, certainly at a later historical moment, in which such right and will are overcome by another Volksgeist, thereby losing their alleged absoluteness (E § 550). Thus, in order to achieve the truly absolute dimension of its freedom, spirit’s cognitive activity must join its practical one – consciousness and self-consciousness must be brought to bear on spirit’s actuality, i.e., such actuality must be such that in it spirit achieves the highest form of self-knowledge and, reciprocally, this self-knowledge must be such as to give itself the most adequate form of actuality. Only at this point will spirit fully deserve the predicate “absolute”. Herein lies the distance separating the work of history from the work of art. Art conveys spirit’s self-knowledge in a

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reality that is not affected by the destabilizing opposition which history adjudicates with a still merely contingent “absolute right”. Art delivers a different kind of ‘judgment’ on its own present. Art is no Weltgericht. The limitation that still affects spirit as Volksgeist, i.e., as the protagonist and agent of world history is, for one thing, a practical limitation insofar as spirit appears as a mere “instrument” of history, and its “subjectivity” is still subordinate to the historical substantiality which is the chief aim and content of the agent’s work (E § 551). But at this level, spirit’s limitation is a cognitive one as well. Internally, within the confines of ethical life, just as externally, in the often violent confrontations of different people and nations, the “subjective side” of spirit’s life is “unconscious customs (bewusstlose Sitte)”, and when consciousness is, in fact, present, it is the consciousness of the contingency and transitory nature of the ethical content both in relation to “external nature” and to the “world” of other people and customs (E § 552). In effect, the fundamental aim of ethical life, of spirit’s social and political institutions and customs, is not the fullness of spirit’s self-knowledge. Accordingly, what spirit achieves within this sphere is, at the most, the consciousness of its own relativity and conditioned historical existence. As much as the conclusion of the Philosophy of Right reassures us that state, religion, science go hand in hand in the modern Germanic world, it is clear that on the basis of spirit’s objectivity no absolute self-knowledge is possible. (Art may have intuited this from the outset, hence its exclusion from the Philosophy of Right’s finale). On this basis, it is also clear that spirit becomes absolute only when both limitations are overcome, i.e., only at the condition of becoming true “subject”. Such movement of unification of practical and theoretical liberation – or the movement in which spirit finally becomes absolute – begins precisely in the act whereby the consciousness of spirit’s own limitation is dialectically exposed. It begins, in other words, in the moment of crisis – which is both a crisis of subjectivity and a crisis of historical objectivity. In history spirit becomes aware of the limitation, contingency, and finitude of its own ethical existence and action, i.e., of the reality that heretofore has been proved as the highest form of spirit’s actualization. What we have here, then, is the argument that implicitly exposes the conclusion of the Philosophy of Right, in which the state, religion, and philosophy seem to express the unity of the same reconciled truth. Art was excluded from this feat. Being immersed in the present more than religious representation or philosophical comprehension in virtue of its intuition, art hints at a fracture in that unity – a fracture that is necessary and systematic, not only contingent and historical. This is the transition to and the beginning of spirit’s absoluteness – a transition and a beginning that religion and philosophy ultimately owe to the fact that art (at least in the Germanic world) does

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not belong to Sittlichkeit in the same seamless conciliatory way as they do. This is the force of art’s dissent in the ethical and historical world of modern times. Art sees a crisis where religion and philosophy do not – or do not yet. Hegel suggests that it is precisely in the element of thinking and knowing and consciousness (in Denken, Wissen, and Bewusstsein) – not (yet) in action and not (yet) in reality – that spirit is able to overcome its objective limitations while still within the ethical world. For, while spirit’s reality is still only the actuality of ethical life and world history, and while its action is still only the ethical (social, political, historical) action of the nation state or the “work” of the individual Volksgeist, already at this level spirit’s knowledge is beyond both – and higher than both – because thinking has already overcome the finitude that characterizes both. “It is the thinking spirit in the ethical world (der in der Sittlichkeit denkende Geist) that overcomes in itself (in sich aufhebt) the finitude that it displays as Volksgeist in its state and its temporal interests, in the system of laws and customs”. The Aufhebung of spirit’s finitude, which is the finitude of its ethical and historical reality as well as of its action, is accomplished by the “thinking spirit” at work “in the ethical world”, and takes place in thinking and knowing. Now such an Aufhebung is, at the same time, spirit’s Erhebung to the form of “Wissen seiner selbst in seiner Wesentlichkeit”. Spirit knows itself in its most essential dimension, i.e., ultimately in its freedom (for “freedom” is, most generally, the very “essence” of spirit: E § 382), neither in the positive structures and institutions of the ethical world nor in history, but in the conscious acknowledgment, in thinking, of their unavoidable finitude and limitation. Importantly, such finitude cannot be overcome within the ethical world and cannot be overcome in history but only in thinking.10 It is at this point that the figure of “absolute spirit” is first introduced. At this point, having examined the systematic transition from objective to absolute spirit through world history, I want to take up again, by way of conclusion, the question with which I introduced the argument of this essay. At stake is the role of art in spirit’s objective world – the role of art in times of crisis. Let me sum up then what can be drawn out of Hegel’s complex view of the relation between objective and absolute spirit in this regard. The ongoing process of history develops according to a dialectical logic of ‘crisis’ and transition whereby the advance is made through an apparent implosion (or contradiction) of the process. In the overall movement of spirit, though, 10  This seems to confirm the mention of religion and science (but not art) in the conclusive section of the Philosophy of Right, although it also seems to contradict the systematic assimilation of those forms to the state.

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world history is itself this critical moment, and determines the transition from objective to absolute spirit. Spirit becomes absolute through a crisis. It is at this critical juncture or in this moment of crisis in the development of spirit as a whole – but is also in the determinate crises that successively punctuate the immanent advancement of world history – that art displays its fundamental role as a form of absolute spirit. Art’s awareness of spirit’s transitional crisis is disclosed by its poietic activity, i.e., by its capacity to shape spirit’s objective reality anew or in an alternative way through intuition, imagination, and the power of images and language while still inhabiting the reality of crisis. To be sure, there is a general sense in which the function of art is shared by all the forms of absolute spirit as the highest modalities of spirit’s self-knowledge. But the poietic aspect proper to art’s creative activity seems to put art in a peculiar position within the ethical world, somehow closer to the “work” of history. Ironically, this peculiar position is revealed in – and confirmed by – art’s strange absence from Hegel’s assessment of the allegedly reconciled dimension of the (Germanic) present in the conclusion of the Philosophy of Right, in which ethical life or the state, religion, and philosophy work together but art is excluded. It seems therefore that philosophy and religion, historically integrated in the modern state, reflect the conciliation rather than the crisis undergone by spirit. Thus, as art goes hand in hand with the fractured times of crisis, it is perhaps normalized within the ethical whole in allegedly ‘reconciled’ times. Or perhaps, even in these times, art betrays the underlying turmoil always moving history forward and stands therefore in dissent with religion and science. I want to conclude with a passage by Seamus Heaney that indicates the direction in which I intend to develop the Hegelian argument regarding art at the ‘critical’ intersection of objective and absolute spirit – the argument for which the present essay has offered the systematic framework. Heaney quotes T.S. Eliot’s October 1942 letter from wartime London, during the composition of “Little Gidding”. “In the midst of what is going on now” – Eliot writes – “it is hard, when you sit down at a desk, to feel confident that morning after morning spent fiddling with words and rhythms is justified activity – especially as there is never any certainty that the whole thing won’t have to be scrapped”. Solitary poetic creation, uncertain of the result, apparently detached from the historical events going on around it (indeed, ab-soluta), yet accompanied by a feeling that something else, something more ‘productive’ should occupy the poet instead: this appears to be the work of art in times of extreme crisis. This is what Heaney regards as “the great paradox of poetry and of the imaginative arts in general” – the paradox, or rather the generative contradiction of art as the first form of absolute spirit emerging from and attuned to the crisis

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of world history. Heaney continues, “Faced with the brutality of the historical onslaught, they [i.e., the arts] are practically useless”. In contrast to this seeming immediate uselessness, he indicates two crucial actions of the arts. First, “they verify our singularity” – that is, the arts connect with subjective spirit valuing and confirming and empowering our singularity as they confer to it an absolute value while still maintaining it as singular and irreplaceable. Second, the arts connect with objective spirit although in a peculiar, conflicted and not immediately apparent way. “In one sense the efficacy of poetry is nil – no lyric has ever stopped a tank. In another sense, it is unlimited. It is like the writing in the sand in the face of which accusers and accused are left speechless and renewed” (this latter being a reference to St. John’s Gospel). Ultimately, herein Heaney captures the efficacy of poetry in the objective world – its indirect, almost invisible but persistent practical value in promoting consciousness and justice. This is what he significantly calls poetry’s “governing power”. Indeed, it is poetry’s “governing power” that places it at the center of our modern transitional world.11 11  Heaney 2002, 189 f. (a longer passage from Eliot’s letter is quoted at 189).

De spiritu et littera

Von der Kunst, Hegels Ästhetik zu verstehen Gunther Wenz

Philosophie und Philologie

Im 3. Kapitel des 2. Briefes an die Korinther rühmt der Apostel Paulus die Heiligkeit seines Dienstes in den Gemeinden des Neuen Bundes, zu welchem ihn Gott tüchtig gemacht habe durch Christus Jesus. Es sei dies, so schreibt er, ein Dienst nicht des Buchstabens, sondern des Geistes: „Denn der Buchstabe (gramma) tötet, aber der Geist (pneuma) macht lebendig.“ (2. Kor 3,6b) Augustin hat neben anderen Vätern der Alten Kirche dieses Wort aufgegriffen und ihm eine eigene Schrift mit dem Titel „De spiritu et littera“ gewidmet, in der er Grundzüge seiner Gnadenlehre entwickelt und deutlich macht, dass die buchstäblichen Belehrungen der göttlichen Gebote und Weisungen nur unter der Voraussetzung des geistgewirkten Glaubens an die göttliche Versöhnungsliebe heilsam sind. Das augustinische Motto „littera est occidens nisi adsit spiritus vivificans“ (spir. et litt. 6) ist im Mittelalter nie vergessen und in der Reformation neu zur Wirkung gebracht worden, wie die ursprüngliche Einsicht Luthers belegt. Ausdrücklich hat sich der Reformator für seine Lehre von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch Glauben neben Paulus auf den Kirchenvater Augustin berufen. Man hat die Rechtfertigungslehre zum Material-, die Lehre von der Heiligen Schrift zum Formalprinzip reformatorischer Theologie erklärt. Ohne dass auf Recht und Grenzen dieser Unterscheidung eingegangen werden müsste, kann mit guten Gründen behauptet werden, dass Soteriologie und Schriftlehre einen differenzierten Zusammenhang bilden, weil von dem in Jesus Christus offenbaren Gott und seinem Geist ohne das Zeugnis des Glaubens, welches von ihm kündet und im Kanon schriftlich beurkundet ist, nicht die Rede sein könnte, jedenfalls nicht auf eine für Menschen verständliche Weise. Nach evangelischer Lehre – und nicht nur nach ihr – fungiert als normative Urkunde des gläubigen Offenbarungszeugnisses die Hl. Schrift Alten und Neuen Testaments. Die Bibel als Buch der Bücher ist nicht nur principium cognoscendi der Theologie, sondern im Verein mit Wort und Sakrament, deren göttliche Stiftung sie kanonisch bezeugt, selbst ein Mittel des Heils und zwar durchaus im buchstäblichen Sinne. Die Annahme, dass wir den Geist Gottes „sine verbo externo“ (vgl. CA V,4) empfangen könnten, weil dieser keiner äußeren Vermittlung bedürfe, sondern in vermittlungsloser

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_020

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Unmittelbarkeit im Inneren walte, wird ausdrücklich verworfen. Das gnadenund rechtfertigungstheologische Wort des Apostels, Augustins und Luthers, wonach der gesetzliche Buchstabe töte und allein der Geist des Evangeliums lebendig mache, darf also nicht so verstanden werden, als benötige man für die Vergegenwärtigung des evangelischen Lebensgeistes, der das tötende Gesetz und das Gesetz des Todes überwindet, nicht der Vermittlung – und zwar durchaus in Form und Gestalt von Buchstaben. Welche hermeneutischen Schlüsse lassen sich aus diesem theologischen Vorspruch hinsichtlich der Hegelschen Geistphilosophie ziehen? Auch sie, so viel steht fest, erschließt ihren Gehalt nicht ohne äußeres Wort und nicht ohne den Buchstaben der Schrift, welcher dieses Wort aufbewahrt, damit es gelesen und so erneut gehört werde. Ohne den Literalsinn der Texte, in denen sie überliefert ist, lässt sich die Bedeutung der Hegelschen Geistphilosophie nicht erfassen. Man muss nicht einmal die einschlägigen enzyklopädischen Paragraphen zur Wissenschaft der Sprache und der Literatur sowie zu dem Verhältnis studieren, in welchem das Denken zu ihnen steht, um sich vom Recht dieser Annahme und damit von der Notwendigkeit philologischer Hegelforschung zu überzeugen. Zwar transzendiert der Geist den Buchstaben, der für sich allein genommen geistlos, ja geisttötend wäre; gleichwohl wirkt er nicht ohne diesen, sondern in, mit und durch ihn, um sich auf diese Weise als lebendig zu erweisen. Philosophie bedarf der Philologie, auch wenn sie nicht in ihr aufgeht. In diesem Sinne markiert das seit 1968 in Gang befindliche und inzwischen weit fortgeschrittene Großprojekt der Edition von Hegels „Gesammelte[n] Werke[n]“1 einen Quantensprung innerhalb der Hegelforschung. Dies gilt insbesondere für die Herausgabe diverser Vorlesungsnachschriften wie etwa derjenigen zur Hegelschen Ästhetik in GW 28. Nach Maßgabe des Vorworts ihres ersten Bandes ist es der von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft aktuell besorgten Gesamtausgabe aufgegeben, das Lebenswerk des Philosophen „in einer vollständigen und zugleich historischkritischen Fassung nach einheitlichem Plane vorzulegen“ (GW 1, V), um dadurch neue Wege „entwicklungsgeschichtlichen Verstehens“ (ebd.) zu erschließen. Die bald nach Hegels Tod in Angriff genommene Freundesvereinsausgabe habe ihren Zweck, das „Werk in einer wirkmächtigen Form in die Zeit zu stellen“ (GW 1, VI), erfüllt und bleibe unter wirkungsgeschichtlichem Aspekt bedeutsam: „Das neunzehnte Jahrhundert – auch Kierkegaard und 1  Hegel 1968 ff. Dazu: Hegels Gesammelte Werke. Katalog anlässlich des 31. Internationalen Hegel-Kongresses 17.–20. Mai 2016 in Bochum, Hamburg (Felix Meiner Verlag) 2016.

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Marx – hat Hegel in dieser und keiner anderen Ausgabe gelesen; von ihr ging die weltweite Wirkung des Philosophen aus.“ (Ebd.) Editionstechnisch hingegen sei sie wie die Folgeausgaben, die auf sie aufbauten (vgl. GW 1, VIII ff.), überholt und mit dem nicht behebbaren Defizit versehen, den Prozess geschichtlichen Entstehens Hegelschen Denkens systematisch auszublenden. Dadurch stelle sich der Eindruck des „Abgeschlossenen und Festgewordenen, Erstarrten“ (GW 1, VII) ein, der eine aktuelle Rezeption behindere. In Bezug auf die veröffentlichten Schriften Hegels und seine überkom­me­ nen Manuskripte sind die GW mit dem Erscheinen des 22. Bandes inzwischen an ihr Ende gelangt. Damit ist aber „erst etwa die Hälfte des Gesamtwerks“ (GW 23, 1, V) erschlossen. „Einen wichtigen Teil dieses Werks bilden ja die Vorlesungen, die Hegel, beginnend mit seiner Privatdozentur in Jena im Jahre 1801, sodann als Professor in Heidelberg von 1816 bis 1818 und vor allem in Berlin von 1818 bis zu seinem Tode 1831 gehalten hat. Diese Vorlesungen sind keine bloßen Paralipomena zu seinem ‚eigentlichen‘ Werk, auf deren Kenntnis sich auch verzichten ließe – oder auf die sogar besser verzichtet würde. Sie bilden vielmehr das Medium, in dem Hegel seine Philosophie ausgebildet hat.“ (Ebd.) Die Kenntnis von Kollegschriften ist mithin gerade unter entwicklungsgeschichtlichen Aspekten unverzichtbar. Allerdings bleibt ein Authentizitätsvorbehalt, da es sich nicht um Texte von Hegels eigener Hand, sondern um Aufzeichnungen auf der Basis mündlichen Vortrags handelt. Während die Prinzipien historisch-kritischer Textherstellung in der zweiten Hälfte der GW durchgängig erhalten geblieben sind, änderte sich die Darstellungsform, sofern die Edition der Vorlesungsnachschriften nicht mehr einer chronologischen, sondern der durch den enzyklopädischen Grundriss des Systems vorgegeben Anordnung der Disziplinen folgt, über die Hegel Kollegien gehalten hat: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik (GW 23), die Philosophie der Natur (GW 24), des subjektiven Geistes (GW 25), des Rechts (GW 26), der Weltgeschichte (GW 27), der Kunst (GW 28), der Religion (GW 29) sowie über die Geschichte der Philosophie (GW 30). Überlieferungsvermischungen aus unterschiedlichen Kollegjahrgängen schließt die Edition der Vorlesungen in GW 23–30 dezidiert aus. Als Leittext ediert wird für den einzelnen Kollegjahrgang jeweils „die auf Grund eines quellenkritischen Vergleichs sämtlicher Textzeugnisse als beste erkannte Nachschrift“ (GW 23, 1, VII), der in einem Apparat überlieferungswerte Varianten aus anderen Nachschriften desselben Semesterkollegs beigegeben sind.

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Für GW 28, den Band mit Vorlesungsnachschriften zu Hegels Philosophie der Kunst, sind vier Teilbände geplant, von denen der erste 2015 erschienen ist. Er enthält Textzeugen zu den beiden ersten der Berliner Ästhetikvorlesungen Hegels der Jahre 1820/21, 1823, 1826 und 1828/29. Die Vorlesung vom WS 20/21 ist nur einmal belegt, nämlich durch die Nachschrift des aus dem Kurland stammenden Berliner Jurastudenten Wilhelm von Ascheberg. Von der Vorlesung vom SS 1823 sind immerhin zwei Nachschriften bekannt, wobei in GW 28,1 diejenige Heinrich Gustav Hothos als Leittext fungiert. Marginalien und Notizen, die dem Kollegtext Hothos nachträglich hinzugefügt wurden, sind ebenso berücksichtigt worden wie die Varianten einer Parallelnachschrift Carl Kromayrs, die bisher als verschollen galt. Für die weiteren Teilbände ist die Edition von Kollegnachschriften der Jahre 1826 und 1828/29 (GW 28,2.3) samt editorischem Bericht und Anmer­ kungen (GW 28,4) geplant. Liegen auch diese, zum Teil bereits an unterschiedlichen Orten herausgegebenen Texte geschlossen vor, wird es künftig auch für ein breiteres Publikum unschwer möglich sein, die Entwicklung der Ästhetik Hegels sehr viel genauer zu verfolgen, als dies auf der Basis der drei Enzyklo­pädieausgaben einschließlich der Hothoedition in der sog. Freun­ desvereinsausgabe möglich war. Man wird sich so einen intensiven Eindruck von der inneren Bewegtheit des Hegelschen Denkens verschaffen können, die gerade im Hinblick auf die Künste in bemerkenswerter Weise zutage tritt. Ob bzw. inwiefern mit dieser Feststellung ein durchschlagender Einwand gegen die Hothoausgabe und die sie leitende Systematisierungsabsicht formuliert ist, muss erwogen werden. Erledigt hat sich das Studium der Edition Hothos in keinem Fall: allein schon aus wirkungsgeschichtlichen Gründen wird ihre Kenntnis auch in Zukunft bedeutsam bleiben.

Die enzyklopädische Ästhetik

2017 jährt sich zum zweihundertsten Mal das Erscheinen der Erstauflage von Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“; eine erheblich erweiterte und modifizierte Zweitausgabe erfolgte 1827, eine Drittausgabe 1830. Mit den Bänden 13, 19 und 20 der GW liegen die drei Enzyklopädieausgaben seit geraumer Zeit in historisch-kritischer Edition vor. Sie bieten Skizzen des Hegelschen Gesamtsystems, beginnend mit der Wissenschaft der Logik über die Naturphilosophie hin zur Philosophie des Geistes. Die erste Abteilung der Geistphilosophie ist dem subjektiven,

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die zweite dem objektiven, die dritte dem absoluten Geist gewidmet. Die Philosophie des absoluten Geistes umfasst Kunst, Religion und die philosophische Wissenschaft selbst, wie sie sich im Begriff des Absoluten vollendet2, 2  In der Erkenntnis der absoluten Idee wird der letzte Grund, zu dem sich die Philosophie erhoben hat, zugleich als absolut Erstes wahrgenommen, weil der Prozess der Vermittlung in seinem Resultat aufgehoben und in eine Identität überführt ist, die durch keinerlei Gegensätze mehr bestimmt wird (vgl. GW 13, 241,6–14). Gott, der absolute Geist, birgt Anfang und Ende in sich. In der Kunst wird dies unmittelbar zur Anschauung gebracht, in der geoffenbarten Religion reflexiv vorstellig und in der Philosophie „zum selbstbewußten Denken erhoben“ (GW 13, 245,22) und in absoluter Weise gewusst. In ihren Grundzügen bleibt die Gedankensequenz der Philosophie des absoluten Geistes, wie sie in der Erstauflage der Enzyklopädie entwickelt wird, in den Folgeausgaben unverändert erhalten. Allerdings kommt es zu einer ausführlicheren Explikation ihrer Bestimmungsmomente. Nachdem in der Zweitauflage (ebenso wie in der Drittauflage) die unmittelbare Gestalt des Wissens der absoluten Idee sogleich als „Gestalt der Schönheit“ (GW 19, 392,11; GW 20, 543,21; vgl. GW 13, 241,27) bestimmt worden ist, geht Hegel sehr viel genauer als in der Erstauflage auf die durch ihren unmittelbaren Anschauungscharakter bedingte inhaltliche Beschränktheit und Endlichkeit des Kunstschönen ein. Obwohl sich die Gestalt der Schönheit keineswegs in Naturnachahmung erschöpft, sondern das bloß Natürliche ästhetisch transzendiert, bleibt sie doch sinnlich geformt und vermag daher nicht, das Absolute auf absolute Weise in sich zu fassen. Was über das unfreie Pathos der Begeisterung des Künstlers und über die Schranken des Volksgeistes ausgeführt wird, der sich im künstlerischen Schaffen niederschlägt, gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die Feststellung, dass die Versöhnung von Unendlichem und Endlichem in der Kunst erst anfänglich geleistet ist. Ohne zeitlich einfachhin der Vergangenheit anheimzufallen, ist sie doch prinzipiell bzw. nach Maßgabe der Begriffsentwicklung des Absoluten dazu bestimmt, in Religion und Philosophie aufgehoben zu werden.  Die Kunst hat „ihr Vorwärts in der Zukunft der wahrhaften Religion“ (GW 19, 395,26 f.). Dies schließt Hegel zufolge nicht aus, dass bestimmte Religionen bzw. Formen des Religiösen „als eine Vergangenheit schon im Rücken der schönen Kunst“ (GW 19, 394,4 f.) liegen, nämlich diejenigen, denen Gott entweder „ein elementarisches oder concreteres Natur-Seyn, oder das entgegengesetzte, das reine Denken“ (GW 19, 394,9 f.) ist. Sie bleiben hinter der ästhetischen Aufhebung des Gegensatzes von Natur und Denken in der schönen Gestalt zurück und weisen nicht wie die sog. geoffenbarte Religion über sie hinaus. Nur ihr gegenüber erweist sich die Kunst wie auf seine Weise auch der Staat, dessen Verhältnis zur Religion in § 563 der Zweitauflage der Enzyklopädie ein langer, in der Drittauflage entfallener Exkurs gewidmet ist, „in der Erscheinung der wissenschaftlichen Folge“ (GW 19, 395,34) als ein „Rückwärts“ (GW 19, 39,33). Der Unterschied von Vorwärts und Rückwärts bezüglich des Verhältnisses der Kunst zur Religion reflektiert sich innerhalb der Ästhetik in der Abfolge charakteristischer Kunstformen, nämlich der symbolischen, der klassischen und der romantischen. In der symbolischen Kunst der Erhabenheit ist die der Idee des Schönen angemessene Gestaltung noch nicht wie in der klassischen gefunden. Sie repräsentiert daher dieser gegenüber ein ästhetisches Rückwärts, eine Vergangenheit der Kunst, in der diese sich noch auf dem Weg

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diejenige des objektiven Geistes Recht, Moralität und Sittlichkeit in Form von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat samt Staatengeschichte, diejenige des subjektiven Geistes die sog. Anthropologie als Lehre vom unbewussten Leben der leibhaften Menschenseele, die sog. Phänomenologie des Geistes als Lehre von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Vernunft und die sog. Psychologie als Lehre vom theoretischen, praktischen und freien Geist. Konzipiert war der enzyklopädische Systemgrundriss als Leitfaden zu Hegels philosophischen Vorlesungen. Der grundlegende erste Systemteil ist in Gestalt von Hegels „Wissenschaft der Logik“ und ihrer Lehre vom Sein und Wesen (objektive Logik) und der Lehre vom Begriff (subjektive Logik) monographisch ausgearbeitet und publiziert worden. Die Philosophie des Rechts wurde zumindest in Grundlinien entwickelt und an die Öffentlichkeit gebracht. Bei der Philosophie der Kunst war dies nicht der Fall. Die Primärquellen der Hegelschen Ästhetik stellen daher die einschlägigen Paragraphen der drei Enzyklopädieausgaben dar. Gemeinsam ist ihnen der Anschluss der Ästhetik, mit welcher die Lehre vom absoluten Geist beginnt, an die Philosophie des objektiven Geistes, die mit der Lehre vom Staat bzw. mit der Philosophie der Weltgeschichte als der Geschichte der Staaten endet. Welchen Entwicklungsgang der Geist im Zuge der Weltgeschichte nimmt, kann im Einzelnen dahingestellt bleiben. Festgehalten sei nur, dass er in ihrem Verlauf mitnichten zu derjenigen Vollendung gelangt, die seiner Bestimmung entspricht. Der Weltgeist ist nicht der absolute Geist. Es bedarf im Gegenteil der Aufhebung der Weltgeschichte und des in ihr wirksamen Geistes, damit der Geist sich erfülle und das Absolute als Absolutes offenbar werde. Ohne Negation des weltgeschichtlich wirkenden Geistes ist die Lehre vom absoluten Geist nicht zu denken. Das Moment geistigen Befremdens, das im Naturzusammenhang nicht zu beheben war, sondern den Geist bewog, sich in sich zu kehren und reflexe Gestalt anzunehmen, tritt, wenngleich auf andere – erhabenere zwar, aber auch abgründigere – Weise erneut dort auf, wo der aus natürlicher Unmittelbarkeit befreite subjektive Geist – zum objektiven fortgeschritten – weltgeschichtliches Format angenommen hat. Abermals zu sich selbst befand. Die Kunstform dagegen, die Hegel die romantische nennt, bezeichnet das Vorwärts der klassischen und weist mit dieser zugleich über das Kunstschöne insgesamt hinaus, um die Selbstaufhebung der Kunst in die geoffenbarte Religion zu bewerkstelligen. Die romantische Kunst gibt es auf, den Gott „als solchen in der äußern Gestalt und durch die Schönheit zu zeigen; sie stellt ihn als nur zur Erscheinung sich herablassend, und das Göttliche als Innigkeit in der Aeußerlichkeit, dieser selbst sich entnehmend dar, welche daher hier in Zufälligkeit gegen ihre Bedeutung erscheinen darf.“ (GW 20, 546,22–547,4)

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vollzieht sich ein geistiger Rekurs: nicht, wie vormals, in die innere Leere eines bloß sich selbst gleichen Ich, wohl aber in die Gefilde der Kunst, die den Schmerz über die Weltgeschichte zumindest anfänglich zu heilen verspricht3. Die Kunst vollzieht den ersten Schritt des Geistes über die Weltgeschichte und über den objektiv unbehobenen Antagonismus der Staaten hinaus, der die Historie der Menschheit bestimmt. Sie tut dies in engem Verbund mit der Religion. Signifikanterweise ist in der Erstauflage der Enzyklopädie, die „etwa Mitte Juni 1817 gedruckt vorlag“ (GW 13, 637)4 und bis zum Erscheinen der Zweitauflage zehn Jahre danach die Grundlage zahlreicher Heidelberger und Berliner Vorlesungen – sei es zum ganzen System, sei es zu einzelnen seiner Teile – bildete, der erste Teil der Philosophie des absoluten Geistes (§§ 456– 464) mit dem Titel „Die Religion der Kunst“ (GW 13, 241,2) versehen, woraufhin „Die geoffenbarte Religion“ (§§ 465–471) und „Die Philosophie“ (§§ 472–477) folgen. Er handelt von der unmittelbaren Gestalt des Wissens um das Absolute, nämlich von der, wie es heißt, „Anschauung und Vorstellung des absoluten Geistes als des Ideals“ (GW 13, 241,4 f.). Die ihr eigentümliche Form nimmt die Anschauung und Vorstellung des Absoluten als des Ideals in der „Gestalt der Schönheit“ (GW 13, 241, 26 f.) an. In ihr zeigt sich das Absolute in der Einheit von Form und Gehalt als geistig verklärte Natur. In der schönen Gestalt, wie sie griechische Götterstatuen exemplarisch vorstellig machen, ist das Absolute weder bloß als natürliches Sein und Wesen, noch in der Abstraktheit naturtranszendenten Denkens, sondern als vollzogene Aufhebung beider manifest, womit zugleich der Gegensatz von Diesseits und Jenseits überwunden ist. Die Gestalt der Schönheit ist als Inkarnat Gottes offenbar. 3  Zweifellos bleiben in der Ästhetik Hegels wie fernerhin in seiner Philosophie der Religion und in der Wissenschaftslehre Erinnerungsbezüge an den weltgeschichtlichen Gang des Geistes erhalten. Es wäre sonach erkenntlich falsch, von einer abstrakten Negation der Geschichte in seinem System zu sprechen. Die Rede von der Weltgeschichte als dem Weltgericht gibt hierzu keinen Anlass. Aber als nicht minder verkehrt muss die Annahme gelten, Hegels System erfülle sich geschichtsphilosophisch. Richtig ist vielmehr, dass es der Aufhebung der Weltgeschichte bedarf, durch welche diese bestimmt negiert, bewahrt und über sich selbst erhoben wird, damit der Geist wahrhaft zu sich selbst komme und sich vollende. 4  Eigens vermerkt sind in GW 13 Hegels Korrekturen zum Text in seinem durchschossenen Handexemplar. Beigegeben sind ferner umfangreiche Notizen zum dritten Enzyklopädieteil (vgl. GW 13, 250–543) und zu anderen philosophischen Gegenständen sowie erläuternde Diktate Hegels (vgl. GW 13, 581–596). Der Text der Zweitauflage findet sich samt beigegebenen Notizen zu Vorlesungen über Logik und Metaphysik sowie Nachrichten über Verschollenes in GW 19, derjenige der Drittauflage in GW 20. Hegels Pläne einer enzyklopädischen Darstellung seines Systems „reichen bis in die Jenaer Zeiten zurück, sie kamen in Nürnberg zu einer weiteren Konkretisierung und wurden schließlich in Heidelberg“ (GW 20, 584) realisiert.

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Die ästhetische Inkarnation des Absoluten, wie sie im Kunstschönen statthat, entnimmt die Natur ihrer natürlichen Beschränktheit und gibt ihr geistiges Format. Mit der Natur wird zugleich die menschliche Subjektivität ihrer Schranken enthoben und über sich selbst hinausgeführt zum Absoluten. Diese ästhetische Selbsttranszendierung geht sowohl den Künstler an, der im Erschaffen des Kunstwerks über sich hinauswächst, als auch den Kunstrezipienten, den die Anschauung des Schönen in eine Art von kultischer Andacht versetzt. Geschieht dies, dann erhebt sich der Geist über die Unmittelbarkeit der äußeren Form, und die Gewissheit des Absoluten hört auf, sinnlich gebunden zu sein, und tritt „in ein Daseyn, das selbst Wissen ist“ (GW 13, 243,5 f.). Es wird nicht länger nur an sich offenbar wie im Ästhetischen, sondern für sich. Die Kunstreligion geht in die geoffenbarte Religion über. Nachdem er in der Erstauflage der Enzyklopädie von 1817 die Kunst noch direkt mit der Religion verbunden hatte, löste Hegel diese Bindung in den Folgeauflagen von 1827 und 1830 auf, um die Kunst deutlicher als eine eigenständige Form des absoluten Geistes zur Geltung zu bringen. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits in der ersten Berliner Ästhetik-Vorlesung vom Wintersemester 1820/21 ab, wovon man sich anhand von GW 28,1 überzeugen kann. Erhalten bleibt hingegen für geraume Zeit die seit dem ersten Kolleg gegebene Zweigliederung in einen allgemeinen und einen besonderen Teil, die erst in der Vorlesung von 1828/29 einer formalen Dreiteilung weicht, wie sie dann für die Hotho-Freundesvereinsausgabe kennzeichnend werden sollte. Aufgegeben wird zunächst lediglich die förmliche Direktverbindung von Kunst und Religion, wie sie im Titel des ersten Teils der Lehre vom absoluten Geist in der Erstauflage der Enzyklopädie begegnet. Zwischen beiden Begriffen bzw. zwischen dem ästhetischen Bewusstsein des Absoluten und dem geistigen Wissen vom Göttlichen, wie es die Religion charakterisiert, wird klarer unterschieden, was dann, wie gesagt, auch in der Zweit- und Drittauflage der Enzyklopädie der Fall ist. Die Enzyklopädieausgaben von 1827 und 1830 differieren bezüglich der Ästhetik5 von derjenigen von 1817 nicht nur in formaler Hinsicht, sondern auch 5   Die Philosophie der Kunst umfasst in der Zweitauflage (vgl. GW 19, 392–400) und in der Drittauflage (vgl. GW 20, 543–549) die §§ 556–563. Einen detaillierten Vergleich der Paragraphen zur Kunst in den drei Enzyklopädieausgaben bietet unter eingehender Berücksichtigung der Vorlesungsnachschriften zur Ästhetik A. Gethmann-Siefert in: H. Drüe u.a. (Hg.), Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, Frankfurt a. M. (Suhrkamp-Verlag) 2000, 317–374. Zur Kritik der Hothoausgabe, die Gethmann-Siefert in zahlreichen ihrer Schriften vorgetragen hat, vgl. zusammenfassend a.a.O., 373 f.

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hinsichtlich ihres erheblich erweiterten Inhalts. Im Vergleich hierzu halten sich die zwischen beiden gegebenen Sachunterschiede in Grenzen, sodass es genügen mag, sich im gegebenen kunstphilosophischen Zusammenhang nur mehr an der Endausgabe von 1830 zu orientieren, um anhand ihrer den entwickelten Gedankengang fortzuschreiben und zu vertiefen: Ihrem Begriff nach ist die Kunst in der für sie kennzeichnenden Gestalt der Schönheit das Wissen des Absoluten im Modus der Unmittelbarkeit. Im Kunstschönen bringt sich das Absolute unmittelbar zur Darstellung, damit es sich in sinnlicher Weise präsentiere. Zwar erschließt sich die Schönheit der Kunst nicht unmittelbar sinnlich, sondern vermittels der künstlerischen Bearbeitung, die dem sinnlichen Material zuteil wird; dennoch bleiben Kunstproduzent, Kunstrezipient und mit ihnen das Kunstwerk selbst an die Sinnlichkeit als Transparent des Absoluten gebunden. Ohne sinnlichen Bezug haben Kunst und Schönheit keinen Bestand. Diese Abhängigkeit macht ihre Eigentümlichkeit und zugleich ihre Grenze aus, die Hegel in seiner berühmt-berüchtigten Rede vom „Ende der Kunst“ benannt hat. Dieses Diktum bringt weniger ein historisches Faktum als einen Sachverhalt von absoluter, in der Wesensbestimmung des Geistes begründeter Notwendigkeit zum Ausdruck. Denn es ist die Bestimmung der Kunst als Kunst, in höhere Geistformationen, nämlich in die geoffenbarte Religion und in die Philosophie aufgehoben zu werden, wobei unter Aufhebung bestimmte Negation, Bewahrung und Vollendung in einem zu verstehen ist. Die grundsätzliche Überlegenheit der Religion und Philosophie der Kunst gegenüber besteht Hegel zufolge in ihrer fortgeschrittenen Sinnlichkeitstranszendierung, die dahin führt, das Absolute als Absolutes und auf absolute, nämlich auf solche Weise zu wissen, die nicht mehr von unmittelbaren Gegebenheiten der Sinnlichkeit abhängt. Dem absoluten Geist ist das Kunstschöne zwar nicht einfachhin vergangen, aber nicht mehr unmittelbar, sondern im Modus der Erinnerung präsent, der keine Zukunft mehr abgeht, weil sie schlechterdings alles in sich birgt und umfasst, was erinnert zu werden wert und würdig ist. Was an der Kunst einstmals unmittelbar sinnlich war, kann dann getrost vergessen werden. Die Kunst ist Wirkzeichen des Schönen, die Schönheit Präsenz des Absoluten im Modus der Unmittelbarkeit. Durch den Geist, der sich dem Kunstwerk einbildet, wird die sinnliche Natur durchsichtig gemacht für die Idee. Durch bloße Nachahmung der Natur kann kein Kunstschönes entstehen: „(S)o lange das Natürliche nur in seiner Aeußerlichkeit, nicht als den Geist bedeutende, charakteristische, sinnvolle Naturform genommen wird“ (GW 20, 544,23– 25), kommt Kunst nicht zustande. Selbst wo die Natur etwa in Gestalt einer Landschaft als schön in Betracht kommt, geschieht dies unter Voraussetzung

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produktiver Einbildungskraft des Geistes. Ohne sie kann Natürliches nicht mit Schönheit verbunden werden. Auch das Naturschöne ist sonach recht eigentlich Kunstschönes, seine entwickelte Gestalt hat artifizielle Fertigkeit und ästhetischen Sinn zur Prämisse. Das Kunstwerk ist nicht naturhaft gegeben, sondern „ein vom Künstler Gemachtes“ (GW 20, 545,14), ein Produkt seines Geistes, der sich der Natur einbildet. Allerdings bleiben der produktive Geist und die Kraft seiner Einbildung selbst insofern durch ein Naturmoment bestimmt, als die künstlerische Inspiration einfallsartig über den Artifex kommt und daher mit einer Art von Willkür behaftet bleibt, die nach Hegel für alles Geniale kennzeichnend ist und es von der Reinheit philosophischen Denkens nachteilig unterscheidet. Die Begeisterung erfasst den Künstler „wie eine ihm fremde Gewalt als ein unfreies Pathos; das Produciren hat an ihm selbst die Form natürlicher Unmittelbarkeit, kommt dem Genie als dem besondern Subjecte zu“ (GW 20, 545,20–23). So tritt bereits im künstlerischen Schaffen zutage, dass das Kunstschöne zwar das Absolute vergegenwärtigt, aber im Modus der Unmittelbarkeit und daher erst auf anfängliche, noch nicht auf vollendete Weise. Was die Formen der Kunst betrifft, so unterscheidet Hegel eine symbolische, eine klassische und eine romantische. Die sog. symbolische ist erst auf dem Weg, sich zur Kunst zu formieren. In ihr ist „die der Idee angemessene Gestaltung noch nicht gefunden“ (GW 20, 546,7 f.); die symbolische Kunst ringt noch darum, sich als schön zu gestalten, was erst in der klassischen wirklich gelingt. Diese markiert nach Hegel den Höhepunkt aller Ästhetik: Schöneres gab es nicht, Schöneres gibt es nicht, Schöneres wird es nicht geben. Gleichwohl muss auch und gerade die vollendete Kunst der Klassik an ihr Ende geraten, da sie zu schön ist, um wahr zu sein. Der Prozess der Aufhebung der klassischen und damit der Kunst überhaupt vollzieht sich unter der Form, die Hegel die romantische nennt und die er aufs engste mit dem Christentum verbindet, welches im Unterschied zur Welt der Griechen absolute Erfüllung nicht im Kunstschönen, sondern in der Religion und der religiösen Verehrung dessen findet, von dem der Prophet sagt, „er hatte keine Gestalt noch Schöne“ (Jes 53,2). Die romantische Kunst gibt es auf, den geistigen Gehalt „als solchen in der äußern Gestalt und durch die Schönheit zu zeigen“ (GW 20, 546,22–547,1), und überführt sich selbst fortschreitend in Religion, um in ihr aufgehoben zu werden. Als selbstständige Form des absoluten Geistes erhält sich die Kunst unter religiösen Bedingungen nur noch in solchen Religionen, in denen das Wesen derselben noch nicht hinreichend in Erscheinung getreten und „die Idee noch nicht in ihrer freien Bestimmtheit offenbar geworden und gewußt wird“

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(GW 20, 547,21 f.). In ihnen „thut sich wohl das Bedürfniß der Kunst hervor, um in Anschauung und Phantasie die Vorstellung des Wesens zum Bewußtseyn zu bringen, ja die Kunst ist sogar das einzige Organ, in welchem der abstracte, in sich unklare aus natürlichen und geistigen Elementen verworrene Inhalt sich zum Bewußtseyn zu bringen streben kann“ (GW 20, 547,22–27). In der offenbaren, vollendeten und absoluten Religion des Christentums hingegen sind der Status der Kunst als eines für sich bestehenden Mediums des Absoluten und die Ambivalenz behoben, die ihr Verhältnis zu den vorchristlichen Religionen kennzeichnet und in dem Begriff der Kunstreligion förmlichen Ausdruck gefunden hat. Der Begriff der Kunstreligion besagt im Sinne Hegels, dass nicht nur die Künste, die noch nicht zur Religion durchgedrungen, sondern auch diejenigen Religionen mangelhaft sind, die noch dergestalt an der Kunst hängen, dass sie des sinnlichen Mediums zum Zwecke ihrer Selbstdarstellung bedürfen. Beider Mangel ist nach Hegel erst in der offenbaren Religion und dem absoluten Wissen um das Absolute behoben, wie es der Philosophie zukommt. Der Wert der Kunst liegt darin, eine Marke auf dem Weg dorthin zu sein, die als solche nötig und durchaus wertvoll ist an sich selbst, doch nicht dergestalt, dass auf ihr prinzipiell verharrt werde, sondern um mittels ihrer fortzuschreiten im Prozess der Erhebung. Wie Hegel sagt: „(D)ie schöne Kunst ist nur eine Befreyungs-Stuffe, nicht die höchste Befreyung selbst.“ (GW 20, 548,22 f.)

Die Edition H.G. Hothos

Neben den Paragraphen zur Lehre vom Kunstschönen in den drei Ausgaben der Enzyklopädie war lange Zeit die von Heinrich Gustav Hotho besorgte Edition die einzige Quelle der hegelschen Ästhetik. Der Hegelschüler Hotho war ein Gelehrter von Rang und von durchaus eigenständiger Bedeutung. Er wirkte als Professor für Ästhetik und Kunstgeschichte sowie als Direktor des Kupferstichkabinetts in seiner Heimatstadt Berlin. Als Autor ist er u.a. durch „Vorstudien für Leben und Kunst“ (1835) in der Tradition der Kunstbekenntnisse Goethes und W.H. Wackenroders, durch eine zweibändige „Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei“ (1842/3) sowie durch Untersuchung zu Hubert van Eyck und seiner Malerschule (1855 ff.), zu Albrecht Dürer (1863) und zu zahlreichen anderen Künstlern hervorgetreten. Trotz bemerkenswerter eigener Schriften ist Hotho der Nachwelt insbesondere als Herausgeber der hegelschen Ästhetik in der in den Jahren von 1832 bis 1845 erschienenen sog. Freundesvereinsausgabe der Werke Hegels bekannt geworden und geblieben. Die drei Bände seiner Edition wurden 1835, 1837 und 1838 publiziert; bereits

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1842 wurde eine Zweitauflage fällig, die dann in der Folgezeit allen Gesamtbzw. Teilausgaben von Hegels Kunstphilosophie zugrunde lag6. Die Prinzipien seiner Ausgabe hat Hotho in einer Einleitung klar und deutlich benannt. Ziel sei es, aus Vorlesungsnachschriften von eigener bzw. der Hand anderer Hörer sowie aus von Hegel selbst zum Zwecke der Kollegvorbe­ reitung angefertigten Notizen ein einheitliches – den Entwürfen F.W.J. Schellings 6  Glockner 12–14: Vorlesungen über die Aesthetik. Drei Bände. Mit einem Vorwort von H.G. Hotho, Stuttgart 31953 ff.; auf der Grundlage der Freundesvereinsausgabe Bd. X/1–3 neu ediert. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf; zitiert wird nach der Originalpaginierung, die jeweils am oberen Seitenrand der Glocknerausgabe verzeichnet ist. Über die redaktionellen Grundsätze, die ihn bei seiner Herausgebertätigkeit leiteten, äußerte sich Hotho im Editionsvorwort vom 26. Juni 1835. „Sie bestehn“, wie er sagt, „auf der einen Seite in der subjektivitätslosesten Versenkung in das überlieferte Werk, und dessen Geist und Darstellungsweise; auf der anderen in der konsequentesten Bescheidenheit, welche sich nur das Nothwendigste zu ergänzen erlaubt, um das Ursprüngliche, wo es sich findet, durchweg zu schonen, das Hinzugefügte aber, wenn das Glück es vergönnt, überall zu dem angenäherten Werth des Erhaltenen und Aechten harmonisch zu steigern bemüht ist.“ (X/1, VI) Die größte Schwierigkeit, vor die sich Hotho gestellt sah, bestand im Fehlen einer ausgearbeiteten Manuskriptvorlage oder einer autorisierten Nachschrift, die sich im Wesentlichen unverändert hätte abdrucken lassen. Weil dies nicht möglich war, sah er sich genötigt, „die verschiedenartigsten oft widerstrebenden Materialien zu einem wo möglich abgerundeten Ganzen mit größter Vorsicht und Scheu der Nachbesserung zu verschmelzen“ (X/1, VII). Was die Quellen von Hothos Ausgabe betrifft, so sind als erstes zwei heute nicht mehr auffindbare Kolleghefte Hegels zu nennen, von denen der Editor vor allem eines benutzt hat, nämlich das für die Vorlesung vom WS 1820/21 neu erstellte Berliner. Dagegen hat er das Heidelberger Heft im Großen und Ganzen ebenso beiseitegelassen wie Zusatzdokumente zum ersten Berliner Ästhetikkolleg. Für die Vorlesung vom SS 1823 konnte sich Hotho auf eine eigene Nachschrift stützen, die erhalten geblieben und mit Marginalien zweier Überarbeitungsstufen und mit Varianten aus der Nachschrift Kromayr in GW 28, 1 ediert worden ist. Für das Kolleg vom SS 1826 lag Hotho seinen Angaben zufolge neben einer eigenen eine ganze Reihe von Nachschriften vor, von denen heute nur noch diejenige Griesheims erhalten ist. Auch für die Vorlesung zur Kunstphilosophie vom WS 1828/29 sind bis auf eine (Heimann) derzeit alle Nachschriften verschollen, die benutzt zu haben Hotho angibt (vgl. im Einzelnen X/1, XI). Sein editorisches Hauptproblem bestand, wie gesagt, „in der Ineinanderarbeitung und Verschmelzung dieser mannigfaltigen Materialien“ (X/1, XI). Ziel war es, „einen buchlichen Charakter und Zusammenhang zu geben, ohne die lebendigere Lässigkeit des mündlichen Vortrags, dem es episodisch abzuschweifen und sich bald eng zusammenzuziehen, bald auszubreiten und in mannigfaltigen Beispielen bequem zu ergehen erlaubt ist, ganz zu zerstören“ (X/1, XIII). Um Werktreue sei er dabei durchweg bemüht gewesen: „Denn das Publikum hat das unbestreitbare Recht, auch in den nachgelassenen Vorträgen nicht diesen oder jenen Schüler, und gleichgesinnten Mitarbeiter Hegel’s, sondern ihn selber mit seinen aus ihm allein entsprungenen Gedanken und Entwickelungen vor sich zu haben.“ (X/1, XIV). Ob Hotho diesem Grundsatz überzeugend Rechnung getragen hat, ist heute strittiger denn je.

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oder K.W.F. Solgers vergleichbares – Systemkonzept zu gestalten. Zwar sollte dies vorsichtig und ohne größere Nachbesserungen geschehen; doch vorrangig war für Hotho die redaktionelle Absicht, die vorliegenden Quellenmaterialien zu systematisieren und damit für seinen Teil das enzyklopädische Programm Hegels kunsttheoretisch so zu realisieren, wie der Meister es für die Wissenschaft der Logik und zumindest ansatzweise für die Rechtsphilosophie zu leisten vermochte, nicht aber für die Ästhetik, die nie monographisch ausgearbeitet und in den Druck gegeben wurde. Hotho hat Hegels Ästhetik zum System ausgestaltet, in drei Teile gegliedert und dreibändig ediert. Ein erster Teil bestimmt nach einleitenden Bemerkungen zur Begrenzung der Thematik, zu den wissenschaftlichen Behandlungsarten des Schönen und der Kunst sowie zum Begriff des Kunstschönen selbst dessen allgemeine Idee als das ästhetische Ideal und „das nähere Verhältniß desselben zur Natur auf der einen, zur subjektiven Kunstproduktion auf der anderen Seite“ (X/1, 95). Aus dem Begriff des Kunstschönen und seinem Ideal wird dann ein zweiter, besonderer Teil entwickelt, der den Stufengang von ästhetischen Gestaltungsformen zum Gegenstand hat, die wesentlich voneinander unterschieden sind. Ein dritter und letzter Teil schließlich erörtert die Einzelkünste und ihr systematisches Verhältnis zueinander (zur Einteilung und ihren Prinzipien vgl. X/1, 91–116). Die Kapitel des ersten Teils der von Hotho edierten Ästhetik führen im Detail aus, was in der Einleitung vorläufig skizziert wurde, und explizieren nach erfolgter Klärung der Stellung der Kunst zu den Formationen des endlichen Geistes sowie zu Religion und philosophischer Wissenschaft (vgl. X/1, 119 ff.) den Begriff des Kunstschönen in Abgrenzung zu dem des Naturschönen auf seine Bestimmtheit als Kunstwerk und auf den Künstler hin, dessen Subjektivität das Werk der Kunst hervorbringt. Subjektive Phantasie, Genie und Begeisterung zeichnen das künstlerische Wirken aus, um sich über Manier und Stil zu charakteristischer Originalität zu erheben. Was die besonderen Formen des Kunstschönen anbelangt, die im zweiten Teil der Ästhetik behandelt werden, so wird, wie bereits mehrfach erwähnt, zwischen der symbolischen, der klassischen und der sog. romantischen unterschieden. Die symbolische Kunstform wird in die unbewusste Symbolik, die Symbolik der Erhabenheit und die bewusste Symbolik der vergleichenden Kunstform eingeteilt. Letzterer werden „Vergleichungen, welche vom Äußerlichen anfangen“ (X/1, 507), wie Fabel, Parabel, Sprichwort etc., und solche, „welche in ihrer Verbildlichung mit der Bedeutung“ (X/1, 524) beginnen, wie Rätsel, Allegorie, Metapher, Bild und Gleichnis zugeordnet, bis dann, wie am Beispiel von Lehrgedicht, beschreibender Poesie und Epigramm zu ersehen, die symbolische Kunstform verschwindet bzw. in die klassische aufgehoben wird. Vom Begriff des Kunstschönen her geurteilt ist diese Aufhebung insofern

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notwendig, als der Charakter des Symbolischen mit dem ästhetischen Mangel behaftet ist, „die Seele der Bedeutung mit ihrer leiblichen Gestalt immer nur unvollendet zu vereinigen“ (X/1, 547). Deshalb muss die symbolische Kunstform das ästhetische Ideal verfehlen, das auf die vollendete Einheit von Bedeutung und Ausdrucksgestalt, auf die kunstschöne Einheit von Leib und Seele als ein Manifest des Absoluten ausgerichtet ist. Realisierbar und realisiert ist das ästhetische Ideal nur in derjenigen künstlerischen Gestaltform, die Hegel die klassische nennt. Sie ist Kunst, die keinen fremden Zwecken mehr dient, sondern als Selbstzweck ihren Sinn in sich trägt und daher Kunst um der Kunst, schön um der Schönheit willen ist. In der griechischen Kunst hat das Klassische nach Hegel seine „historische Verwirklichung“ (X/2, 15) gefunden. Das Werden des klassischen Ideals, der Gestaltungsprozess, „durch welchen sich der Form wie dem Inhalt nach die eigentlich klassische Schönheit aus sich selber erzeugt“ (X/2, 22), ist durch eine religiöse „Degradation des Thierischen“ (X/2, 27) und durch die Humanisierung der Götterwelt im Zuge der Ablösung der alten, tiernahen durch neue, anthropomorphe Götter charakterisiert, in deren menschlicher Gestalt, wie die Kunst sie vorstellig macht, sich das Himmlische erschließt. Es ist das Ideal der klassischen Kunst überhaupt und macht seine eigene Natur aus, das Menschliche zu seinem Inhalt und zu seiner Form zu haben und „beide Seiten zu dem vollendetesten Entsprechen in einander“ (X/2, 66) zu arbeiten. Spezifiziert die klassische Kunstform ihren allgemeinen Begriff, dann ergibt sich „ein Kreis von besonderen Göttern und Mächten des menschlichen Daseyns“ (X/2, 67), deren Bestimmung es ist, zu konkreter Einzelheit und zu „individuelle(r) Einheit und Übereinstimmung“ (ebd.) zu gelangen, zur unvergleichlichen Singularität des Gottmenschen, in welchem das Absolute sich als Absolutes inkarniert. Im gelungenen Kunstwerk, das dem klassischen Ideal entspricht, wird Gott Mensch. Das Göttliche offenbart sich menschlich und bringt sich auf humane Weise zur Anschauung. In der Realisierung der Idee des Kunstschönen schreitet die Klassik „ihrem Inhalte nach zur Vereinzelung der zufälligen Individualisierung, ihrer Form nach zum Angenehmen, Reizenden fort“ (X/2, 98). Daran findet der Betrachter höchsten Genuss, denn er erachtet sich im klassischen Kunstwerk selbst als schön. „Der Ernst der Götter wird zur Anmuth, welche nicht erschüttert oder den Menschen über seine Partikularität erhebt, sondern ihn darin selig beharren läßt, und nur darauf Anspruch macht, ihm zu gefallen.“ (Ebd.) Die klassische Form des Kunstschönen und das Ideal, das in ihr Gestalt annimmt, vollendet sich so in griechisch-mediterraner Heiterkeit. „Schönres kann nichts seyn und werden.“ (X/2, 121) In der Klassik ist das Kunstschöne zur Vollendung und zugleich an sein prinzipielles Ende gelangt. Denn das klassische Kunstwerk ist, wie gesagt,

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zu schön, um wahr zu sein. Dies ist deshalb der Fall, weil es keinen Begriff von der Endlichkeit des Humanen und vom Enden alles Endlichen hat. Die Kunst der Klassik bleibt dem Äußeren der Leiblichkeit, durch das sie ihre absolute Schönheit offenbart, verhaftet, ohne den Schmerz zu begreifen, der mit ihr verbunden ist. Sie hat und gewährt keinen Einblick in die Nichtigkeit äußeren Daseins. „Aeußerlich zeigt sich dieser Mangel darin, dass den SkulpturGestalten (sc. der klassischen Kunstform) der Ausdruck der einfachen Seele, das Licht des Auges, abgeht.“ (X/2, 125) Geblendet durch den äußeren Schein des Schönen ist die Klassik blind für menschliches Leid. Ihr Absolutes hat keinen Begriff vom Tod und von den bodenlosen Abgründen, in denen das Endliche zu versinken droht. Da sie das Enden des Endlichen nicht an sich herankommen und in sich eingehen lässt, stößt das klassische Kunstschöne auf eine Grenze, welche es nicht zu transzendieren vermag. In der Vollendung der Kunst bereitet sich daher ihr Ende vor. Ratifiziert wird die Auflösung der klassischen Kunstform in Gestalt dessen, was Hegel Satire nennt. Sie zersetzt die Klassik, gibt ihr Ideal dem Spott preis und zieht, wenn man so will, ihre Schönheit in den Dreck, wozu sie nach Hegel ein zumindest momentanes Recht hat, weil der äußere Schein zum Wesen der klassischen Kunst gehört. Diesen äußeren Schein erweist die Satire als Fiktion, um so die klassische Schönheit zur Strecke zu bringen und als grundlos zu erweisen; sie wird in das Nichts aufgelöst, von dem sie keinen Begriff hatte. An ihre Stelle tritt die romantische Kunstform, die aber recht eigentlich keine bzw. eine Form der Kunst nur noch insofern ist, als der Abschied von dieser ihr zentrales Thema wird. Die romantische Kunst zieht sich fortschreitend aus der Äußerlichkeit sinnlicher Gestaltung in die unsinnliche Innerlichkeit der Subjektivität zurück, um in ihr Genüge zu finden. Sie durchschaut, wenn man so will, den schönen Schein und tendiert dazu, ihn und mit ihm die Ästhetik um der Wahrheit willen zu beheben. „Hiermit ist nun sogleich die nothwendige Bestimmung verbunden, daß für diese letzte Kunststufe die Schönheit des klassischen Ideals, und deshalb die Schönheit in ihrer eigensten Gestalt und ihrem gemäßesten Inhalt, kein letztes mehr ist. Denn auf der Stufe der romantischen Kunst weiß der Geist, daß seine Wahrheit nicht darin besteht, sich in die Leiblichkeit zu versenken; im Gegentheil, er wird sich seiner Wahrheit nur dadurch gewiß, daß er sich aus dem Aeußeren in seine Innigkeit mit sich zurückführt, und die äußere Realität als ein ihm nicht adäquates Daseyn setzt.“ (X/2, 122) In der romantischen Kunst ist und bleibt die Subjektivität ganz in sich, um im Ureigenen Erfüllung zu finden. Ihre Objektivationen sind nichts als Darstellungen ihrer selbst. Ausgebildet hat sich die romantische Kunst unter christlichen Bedingungen. Die zentrale Gestalt, in der ihr Wesen vorstellig wird, ist die Person Jesu Christi

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als des inkarnierten Gottmenschen, der als Alter Ego des romantischen Künstlers erscheint. Im Unterschied zu den gottmenschlichen Gestalten, in denen die klassische Kunst Form angenommen hat, sind Tod und das Ende der Endlichkeit der Christusgestalt nicht fremd. Es ist im Gegenteil so, dass in der romantischen Kunst derjenige, an dem keinerlei äußerliche Schönheit mehr zu entdecken war, als der schönste gepriesen wird: der Crucifixus. „Die Farbe deiner Wangen, / der roten Lippen Pracht / ist hin und ganz vergangen; / des blassen Todes Macht / hat alles hingenommen, / hat alles hingerafft …“ (EG 85,3). Und doch: „Schönster Herr Jesu, Herrscher aller Herren …“ (EG 403) An Ostern erscheint der Gekreuzigte unvergleichlich herrlicher als alle Herrlichkeit des Himmels und der Erde: „Alle die Schönheit / Himmels und der Erden / ist gefaßt in dir allein.“ (EG 403,5) Die Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten gibt der romantischen Kunst ihr eigenes Format und spezifisches Gepräge und unterscheidet sie signifikant von der klassischen, wie sie bei den Griechen paradigmatisch realisiert war. „Der unendliche Schmerz dieser Aufopfrung der eigensten Subjektivität, Leiden und Tod, welche mehr oder weniger aus der Darstellung der klassischen Kunst ausgeschlossen waren, oder mehr nur als natürliches Leiden hervortraten, erhalten erst im Romantischen ihre eigentliche Nothwendigkeit. Man kann nicht sagen, daß bei den Griechen der Tod in seiner wesentlichen Bedeutung sey aufgefaßt worden. Weder das Natürliche als solches, noch die Unmittelbarkeit des Geistes in seiner Einheit mit der Leiblichkeit, galten ihnen als etwas an sich selbst Negatives, und der Tod war ihnen deshalb nur ein abstraktes Vorübergehen, ohne Schrecken und Furchtbarkeit, ein Aufhören ohne weitere unermessliche Folgen für das hinsterbende Individuum. Wenn sich aber die Subjektivität in ihrem geistigen Insichseyn von unendlicher Wichtigkeit wird, dann ist die Negation, welche der Tod in sich trägt, eine Negation dieses Hohen und Wichtigen selber, und deswegen furchtbar, ein Ersterben der Seele, die sich dadurch als das selber an und für sich Negative von allem Glück für immer ausgeschlossen, absolut unglücklich, der ewigen Verdammniß überantwortet finden kann. Die griechische Individualität dagegen schreibt sich, als geistige Subjektivität betrachtet, diesen Werth nicht zu, und darf sich deshalb den Tod mit heiteren Bildern umgeben. Denn der Mensch fürchtet nur für das, was ihm von großem Werthe ist.“ (X/2, 127 f.) In der romantischen Kunst sind Hören und Sehen und alle sinnlichen Sinne im Vergehen begriffen und mit ihr die Kunst und das Kunstschöne selber, sofern dieses am Sinnlichen hängt. In ihr sucht der Geist das Ende des Endlichen konsequent wahrzunehmen, in sich zu integrieren und eben dadurch zu überwinden. Die Mittel hierzu stellt der Mittler bereit, der als der auferstandene Gekreuzigte dafür einsteht, dass der Geist des Todes mächtig

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ist. Seine Erlösungsgeschichte steht daher in der Mitte und bildet den ersten Kreis der romantischen Kunst, in welcher, mit welcher und durch welche der Geist von allem Sinnlichen rein in sich selbst gelangen und „für sich selbst seine Unendlichkeit und absolute Selbstständigkeit“ (X/2, 135) gewinnen soll. Eng verbunden mit der romantischen Ab- und Einbildung der Geschichte von Erlösung und Versöhnung durch Jesu Christi Todesleiden, die „sich in den Formen der griechischen Schönheit nicht darstellen“ (X/2, 147) lässt, sieht Hegel diejenige der mitleidenden Mutterliebe Mariens oder diejenige der Märtyrer sowie all derer, welche in der Nachfolge Christi im Geist der Gemeinde ihr Kreuz auf sich nehmen. Ist der Geist erst einmal ganz in sich eingekehrt und heimisch geworden in sich, dann braucht er künftig weder Tod noch Teufel zu scheuen und kann sich getrost auf die Welt einlassen, um sich in ihr durch Tugenden der „affirmativen Subjektivität“ (X/2, 135) wie „Ehre, Liebe, Treue und Tapferkeit“ (ebd.) auszuzeichnen. Im Sonnenlicht der Gerechtigkeit wird er „gute Ritterschaft“ (EG 263, 6) üben. Ganz in diesem Sinne umschreibt Hegel den zweiten – um das religiöse Zentrum gelagerten – Kreis romantischer Kunst mit „Das Ritterthum“ (X/2, 165). Eigentümliche Selbständigkeit gewinnt der ritterliche Geist, der die romantische Kunstform prägt, schließlich im individuellen Charakter, der sich in mancherlei Abenteuer zu bewähren hat, ohne dabei selbst die Komik zu scheuen, wie am Don Quixote von Cervantes illustriert wird. Dieser steht einerseits für die Vollendung des Rittertums, andererseits für dessen Ende und die Auflösung der romantischen Kunstform, wie sie sich nach Hegel neben artifizieller Imitation des auch ohne Kunst Vorhandenen (vgl. X/2, 219 ff.) im Humor (vgl. X/2, 226 ff.) beispielsweise eines Jean Paul vollzieht. In seiner Dichtung nimmt sich, wenn man so will, die Kunst selbst auf den Arm, um sich selbst aufzuheben. „In diesem Hinausgehn jedoch der Kunst über sich selber ist sie ebenso sehr ein Zurückgehn des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhalts und der Auffassung von sich abstreift, und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht, die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüths als solchen, das allgemein Menschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Thaten und Schicksalen.“ (X/2, 235) Vorlesungsnachschriften Hothos Edition von Hegels Ästhetik in der Freundesvereinsausgabe ist seit geraumer Zeit unter heftigen Beschuss geraten. Als eine ihrer Hauptkriti­ kerinnen hat sich über die Jahre hinweg in zahlreichen Schriften Annemarie

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Gethmann-Siefert profiliert. Nach ihrem, aber nicht nur nach ihrem Urteil entbehrt die Hothoausgabe der nötigen Authentizität. Als Quelle für Hegels Kunstphilosophie sei sie mehr als zweifelhaft. Zudem trage ihr Herausgeber wegen des Systemzwangs, dem er das ihm vorliegende Quellenmaterial ausgesetzt habe, die Hauptverantwortung dafür, dass Hegels Ästhetik gegenwärtig von vielen Interpreten für unhistorisch, phänomenverschlossen und inaktuell erachtet werde. Nicht nur, dass von Hotho „Hegels ursprüngliche Konzeption […] nicht zuverlässig überliefert“7 worden sei; durch seine intransigente Systematisierungstendenz habe er sie förmlich „verfremdet“ (321) und im Zuge einer „eingefügten dialektischen Mechanik“ (ebd.), welche die 7  A. Gethmann-Siefert, a.a.O. (Anm. 5), 320. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich auf diesen Text. Vgl. dies. 1991. Bereits in diesem Text, der alles Wissenswerte zu den Nachschriften der Berliner Ästhtikvorlesungen Hegels enthält, bezeichnet A. GethmannSiefert die Hothoausgabe „als in hohem Grad unzuverlässig“ (92), was entsprechend für alle an ihre Zweitauflage anschließenden Textversionen gelte. Während Hothos „sorgfältig vorbereitete“ (95) Mitschrift des Kollegs vom SS 1823 „ein genaues Bild der wesentlichen Gedanken Hegels“ (96) liefere, wird aus dem „präzisen und verständigen Nachschreiber“ (ebd.) nach Urteil Gethmann-Sieferts ein Dutzend Jahre später ein Herausgeber, der – ganz abgesehen von einer „Doppelbehandlung vieler Punkte“ (103) – das ihm vorliegende Material nach seinem Geschmack und gemäß seinen Werturteilen kompiliert habe. Die „Diskrepanz zwischen Vorlesungszeugnis und Drucktext“ (106) sei erheblich, Hothos Editionsunternehmen „dubios“ (ebd.): „Die Ästhetik Hegels wird zu einer spekulativen Ästhetik vollendet, in der ein abschließendes Kunsturteil bzw. eine abschließende richterliche Entscheidung über Kunst und Unkunst den Endpunkt bilden kann.“ (Ebd.) Hotho habe aus Hegel einen dogmatischen Kunstrichter gemacht, der in seinen abstrakten – von den konkreten ästhetischen Phänomenen abgehobenen – Spekulationen befangen sei und entsprechende Vorurteile hege. Auch wenn die Hoffnung, „eine absolut sichere, d.h. authentische Information zu erreichen, […] wohl überzogen“ (109) sei, müsse der Rekurs von Hothos Edition auf die Vorlesungsnachschriften als in hohem Maße bedeutsam erachtet werden. „Der Fortschritt dieses Rückschritts hinter die vollendete Konstruktion HOTHOS darf nicht unterschätzt werden.“ (110).  Wiederholt und ausführlich entfaltet hat A. Gethmann-Siefert ihre Kritik an der Ästhetikausgabe Hothos u.a. in der Einleitung ihrer Edition von dessen Nachschrift der kunstphilosophischen Vorlesung Hegels vom SS 1823 (Hegel, Vorlesungen 2, XV-CCXXIV). In dieser sei wie in anderen Kollegnachschriften auch ein „in vielen Teilen ursprünglicherer ‚Hegel‘ “ (XIX) zu finden als in der Ästhetikedition der Freundesvereinsausgabe. Die entscheidende Frage müsse lauten: „Phänomenologie der Kunst oder System der Ästhetik?“ (XXI) Trotz der Problematik dieser Gegenüberstellung enthält Gethmann-Sieferts Einleitung zur Ausgabe der Hothonachschrift des Kollegs von 1823 eine Fülle von hilfreichen Hinweisen zu Genese, Gestalt und Wirkung von Hegels Kunstphilosophie, zu ihrer ursprünglichen Rezeption und gegenwärtigen Aktualität sowie zum Wert ihrer Quellen, beginnend mit einzelnen Text- und Gedankensplittern bis hin zu den Kollegnachschriften einschließlich derjenigen Hothos.

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„Geschichtlichkeit des Phänomens“ (ebd.) übergehe, regelrecht verfälscht. Das habe zu zahlreichen Missverständnissen und Missdeutungen der Hegelschen Ästhetik geführt, welche u.a. die These von ihrem prinzipiellen Vergangenheitscharakter beträfen, die nicht selten als eine „Abwertung der Künste der modernen Welt“ (359) im Sinne ihres Bedeutungsverfalls überhaupt verstanden würde, was sie in Wahrheit nicht sei. Denn Hegels These vom Ende der Kunst besage „nicht, wie es in der Kritik bislang meist unterstellt wird, daß die Kunst in der modernen Welt keine Bedeutung mehr haben könne“ (372); behauptet werde lediglich, „daß sie eine andere Bedeutung gewinnt als in der Epoche voraufgeklärter Orientierung durch die Kunst“ (ebd.). Nach Gethmann-Siefert und anderen Kritikern hatte Hothos ambitionier­ te, durch ehrgeiziges Strukturierungsbestreben gekennzeichnete Edition „eine ganze Reihe inhaltlicher Umdeutungen zur Folge, die nicht nur die enzyklopädische Systematik, sondern auch die Ästhetik selbst in einer Form wirksam werden ließen, die nicht in Hegels Absicht und Intention gelegen hat“ (373). Diese seien weniger aus Hothos Edition, „die sich nicht an Hegels enzyklopädische Vorgabe hält“ (ebd.), sondern viel eher aus den Nachschriften zu den kunstphilosophischen Kollegs zu erheben. „Erst aus der Distanz der Neubearbeitung der Hegelschen Vorlesungen zur Ästhetik gewinnt die enzyklopädische Verortung der Kunst im System der Philosophie ihren eigentümlichen und verstehbaren Sinn zurück. Die Wirkung der Hegelschen Vorlesungen und damit der enzyklopädischen Systematik der Philosophie der Kunst ist daher eine Sache der Zukunft.“ (374) Die Würdigung der in GW 28 herausgegebenen bzw. zur Edition vorgesehenen Dokumente hat hier ihren Ort; auf das eingangs zu Philosophie und Philologie Gesagte ist daher zum Schluss erneut zurückzukommen. Nach erfolgtem Abschluss der Edition der Schriften und Entwürfe Hegels in ihrem ersten Part ist die Arbeit an der Akademieausgabe der Gesammelten Werke mit der historisch-kritischen Herausgabe von Vorlesungsnachschriften in eine neue Phase eingetreten. Weil in den von Hegel selbst in den Druck gegebenen Schriften nur Teile seines Systems ausgearbeitet, andere hingegen nur in kompendiarischer Form vorliegen, kam und kommt für die Rezeption seines Werkes und namentlich von dessen realphilosophischen Beständen den Vorlesungen eine besondere Bedeutung zu, woraus die Relevanz der Edition von Vorlesungsmanuskripten aus dem Nachlass, wie sie in den Bänden 17 und 18 der Akademieausgabe erfolgte, sowie ausgewählter Kollegnachschriften unmittelbar erhellt. Gemäß der Funktion, die Hegel selbst ihnen zugewiesen hat, bilden die Vorlesungen „nicht einen Bereich minderen Rechts gegenüber den Publikationen. Sie sind sogar die primäre Form der Entfaltung

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seiner Philosophie.“8 Dies gilt auch und gerade für die Philosophie der Kunst. Zwar plante Hegel seit Anfang der 20er Jahre eine Publikation seiner Ästhetik; realisiert wurde der Plan aber nicht. Umso wichtiger ist die Kenntnis von Kollegnachschriften zum Thema. Die erste Vorlesung zur Philosophie der Kunst hielt Hegel im SS 1818 in Heidelberg. Das Kollegheft hierzu ist wie das für die erste Berliner Ästhetikvorlesung angelegte und in den Folgevorlesungen benützte bis auf wenige Restbestände abhanden gekommen; Hotho waren beide Texte noch bekannt. Auch Vorlesungsnachschriften des Heidelberger Kollegs stehen nicht zur Verfügung. Zumindest eine, namentlich die vom Jurastudenten Wilhelm Ascheberg unter Beihilfe von Kommilitonen angefertigte, liegt für das erste Berliner Ästhetikkolleg vor, das ca. 50 Hörer, gegen Ende hin auch Heinrich Heine, besuchten. Sie ist von H. Schneider beschrieben und herausgegeben worden9 und findet sich nun auch in GW 28/1, 1–214. Im Unterschied zur Vorlesung vom WS 1820/21 sind von derjenigen vom SS 1823, wie erwähnt, nicht nur eine, sondern zwei Zeugnisse bekannt. Eines davon stammt von Hotho, ein weiteres von einem Studenten namens Carl Kromayer, das allerdings den text-kritischen Nachteil hat, die Unterlagen des SS 1823 mit denen vom SS 1826 zu kompilieren. In GW 28/1, 215–511 fungiert daher aus guten

8  Vgl. Jaeschke 2001, 25. GW 18 enthält diverse andere Manuskripte und zwei Blätter von wenigen Zeilen zur Ästhetik (GW 18, 115–117), über deren Herkunft der editorische Bericht informiert (GW 18, 374–377). Zumindest das Blatt über die Objektivität des Kunstwerks stammt aus dem – aus dem entsprechenden Heidelberger hervorgegangenen – Heft, das Hegel seinen Berliner Ästhetikvorlesungen zugrunde gelegt hat. 9   Über die konzeptionellen Grundzüge des Kollegs ist Folgendes zu vermerken: „Die Gliederung zeigt die in den ersten drei Vorlesungsjahrgängen gleich gebliebene Grundgestalt der Zweiteilung in einen allgemeinen und einen besonderen Teil. Nur die letzte Vorlesung über Ästhetik 1828/29 kennt eine formale Dreiteilung. Der Inhalt der zwei bzw. drei Teile ist jedoch in allen Jahrgängen gleichbleibend. Der allgemeine Teil, dem eine Einleitung vorangeht, behandelt die Idee des Schönen zunächst allgemein und dann in den besonderen Gestaltungen als symbolische, klassische und romantische Kunstform. Hier, also 1820/21, wird der Teil mit den historischen Gestalten des Ideals bereits als besonderer Teil (des allgemeinen Teils) bezeichnet. Der (eigentliche) besondere Teil enthält die Ausführungen über die Kunstarten Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung.“ (Hegel/Schneider 1991, 91) Dokumentiert wird durch die Nachschrift ferner „die innere Trennung von Kunst und Religion, die in der Heidelberger Enzyklopädie noch als Kunstreligion verbunden waren, sowie die entsprechende äußere Trennung der Vorlesungen.“ (A.a.O., 92; zum Text der Nachschrift vgl. ders., G.W.F. Hegel: Vorlesung über Ästhetik. Berlin 1820/21. Eine Nachschrift. I. Textband, Frankfurt a. M. 1995)

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Gründen die Hotho-Nachschrift als Leittext; sie war bereits von A. GethmannSiefert ediert und ausführlich kommentiert worden10. Der Hothotext zum Kolleg vom SS 1823 „umfasst 288 Oktavseiten (nachträglich numeriert), dokumentiert die ganze Vorlesung und liefert ein genaues Bild der wesentlichen Gedanken Hegels. Ein Vergleich verschiedener Nachschriften zur Vorlesung über die Philosophie der Geschichte aus dem Folgejahr 1824, deren Anfang in wörtlicher Ausformulierung Hegels vorliegt, weist HOTHO als präzisen und verständigen Nachschreiber aus, der Hegels Gedanken vollständig wiedergibt. Daher liegt es nahe zu vermuten, daß er in seinem Spezialgebiet, der Kunst und Kunstphilosophie, mit eben dem Interesse und Präzisionsgrad arbeitet.“11 Um schließlich noch die beiden verbleibenden Berliner Vorlesungen zur Ästhetik oder Philosophie der Kunst kurz in Betracht zu ziehen, so ist das vierstündige Kolleg vom SS 1826 durch mehrere Nachschriften dokumentiert, die belegen, wie flexibel Hegel in der Materialaufbereitung und wie offen er für konzeptionelle Neugestaltungen war. Hegel habe sich, so A. GethmannSiefert, als ein Kunstphilosoph erwiesen, „der – der Kritik gegenüber aufgeschlossen – seinen eigenen Ansatz prüft, möglichst weitgehend an Beispielen exemplifiziert und dadurch die systematischen Konsequenzen (die sich dann in der Überarbeitung der Enzyklopädie niederschlagen) als wohlbegründet ausweisen kann“12. Für die Richtigkeit dieses Urteils mag man schließlich auch die letzte Ästhetikvorlesung vom WS 1828/29 anführen, in der Hegel seine Flexibilität in Organisation und Darbietung am offenkundigsten dadurch unter Beweis gestellt hat, dass er den Stoff der Philosophie der Kunst nicht mehr wie bisher in einen allgemeinen und einen besonderen Teil, sondern in drei Teile gegliedert hat, was von Hotho dann für seine Ästhetikedition in der Freundesvereinsausgabe übernommen wurde: 1. Die Idee des Kunstschönen; 2. Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen; 3. Das System der einzelnen Künste.

10  Vgl. die Angaben in Anm. 7. 11  Gethmann-Siefert 1991, 96; zum Quellenmaterial der Antrittsvorlesung vom SS 1826 und WS 1828/29 vgl. a.a.O., 97 ff. 12  Dies. u.a. (Hg.), G.W.F. Hegel: Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826, Frankfurt a. M. 2004, 24. Das Buch enthält die Edition einer von vier direkten Mitschriften des Kollegs von 1826, nämlich diejenige des Studenten P. von der Pfordten (vgl. a.a.O., 45–252). Eine weitere Mitschrift, nämlich diejenige von Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler findet sich in: dies./B. Collenberg-Plotnikov (Hg.), Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826, München 2004, 1–235. Durch beide Texte lasse sich „der Vorwurf gegen Hegel entkräften, er habe das System seiner Philosophie im Sinne einer dialektischen, unlebendigen Denkmechanik dem geschichtlichen Phänomen, der Vielfalt der Künste übergestülpt“ (a.a.O, XVIII).

De spiritu et littera

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Hegel war nachgerade in kunsttheoretisch-ästhetischer Hinsicht alles andere als ein systembefangener Dogmatiker. Je verlässlichere Kenntnisse von der Entwicklung seiner Ästhetik vorliegen, desto deutlicher treten Recht und Richtigkeit dieser Annahme zutage. Die Hegelsche Kunstphilosophie erschließt gerade in der Variabilität ihrer Zugriffe eine vielfältige Phänomenfülle, die staunenswert ist. Dies gilt bezüglich der Idee des Kunstschönen und der symbolischen, klassischen und romantischen Kunstformen, aber insbesondere im Hinblick auf die Einzelkünste von Architektur, Plastik, Malerei, Musik sowie Dichtkunst. Gerade hier stellen die Nachschriften der Ästhetikvorlesungen seine phänomenale Meisterschaft und seine beständige Offenheit für unterschiedlichste ästhetische Erscheinungen unter Beweis. „Nach Hegel kann der Begriff der Kunst nicht vorab und ohne Blick auf die sich wandelnde Geschichte konstruiert werden, sondern die systematische Strukturierung muss am geschichtlichen Phänomen selbst gewonnen werden.“13 Für die Richtigkeit dieser Annahme erbringen die verschiedenen Nachschriften seiner Berliner Ästhetikvorlesungen einen überzeugenden Beweis. Indem sie die konsequente Phänomenorientierung der Hegelschen Kunst­ philosophie und ihre vorbehaltlose Offenheit für Empirie und Geschichte belegen, stellen die Nachschriften zu den Berliner Ästhetikkollegs unverzichtbare Dokumente der Hegelforschung, die vormalige Horizonte nicht unerheblich erweitern, und nicht zuletzt Korrektive der kompilierenden, programmatisch auf Materialvereinheitlichung ausgerichteten und daher manche Differenzierungen verschleifenden Ästhetikedition Hothos dar. Immerhin hatte dieser (vgl. oben Anm. 6) selbst unumwunden eingeräumt, dass Hegel „bei jedem neuen Vortrage seinen Gegenstand tiefer zu durchdringen, philosophisch gründlicher einzutheilen und das Ganze sachgemäßer sich ausbreiten und absondern zu lassen“ (X/1, VII) bestrebt war, und sich gegen den offenbar schon zu seiner Zeit erhobenen Vorwurf eines „willkürlichen Besserwissenwollen(s)“ (X/1, IX) dezidiert verwahrt. Ob Hegels Ästhetik durch Hothos Edition tatsächlich so tiefgreifend verändert, ja verfälscht wurde, wie man dies gelegentlich behauptet, wird sich nur auf der Basis detaillierter Einzelvergleiche entscheiden lassen, die alles gegenwärtig zur Verfügung stehende Material zu berücksichtigen haben werden und dabei nicht vergessen machen dürfen, dass Vorlesungsnachschriften keine Originalquellen, sondern Schriftstücke aus zweiter Hand darstellen. Vergleiche zwischen enzyklopädischer Ästhetik, Hothoedition und Kol­ legnachschriften zu Hegels Kunstphilosophie sind philologisch sorgsam durchzuführen. Philosophisch angemessen wird dies allerdings nur dann geschehen können, wenn man das Vorurteil fernhält, Phänomen und System ließen sich 13  Dies./B. Collenberg-Plotnikov (Hg.), a.a.O., XXIII.

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im Hegelschen Denken auseinanderdividieren oder gar in Opposition zueinander bringen. Die Devise „Phänomen versus System“14 ist hermeneutisch abwegig. Sie entspricht der Hegelschen Philosophie nicht nur nicht, sondern widerspricht deren Eigenart diametral – und zwar auch in kunstphilosophischer Hinsicht. Nach ihrem Motto zu verfahren würde den eigentümlichen Wert und auch die Aktualität der hegelschen Ästhetik verkennen. Liegt doch ihre bleibende Bedeutung vor allem darin, begriffsscharfe Systematik und Phänomenoffenheit in sich zu vereinen, um die vielfältigen Erscheinungen der Kunst nicht gedankenlos Revue passieren zu lassen, sondern gedanklich zu durchdringen und auf einen Begriff zu bringen, welcher von Realität gesättigt ist, statt ihrer in dürftiger Weise zu entbehren. Hegel war kein systembefangener Dogmatist, am allerwenigsten in ästhetischer Hinsicht. So richtig diese Feststellung ist, so vergeblich wäre die „Mühe, Hegels Ästhetik und insbesondere ihre ‚Aktualität‘ durch das Ausspielen des ‚Phänomens‘ gegen das ‚System‘ “15 erfassen zu wollen. Die Hegelsche Kunstphilosophie verbindet Phänomenoffenheit und Systematik zu einem differenzierten, aber unauflösbaren Zusammenhang. Dass er sich dessen deutlicher bewusst war als mancher seiner Kritiker, wird man Hotho nicht bestreiten können; seine Edition von Hegels Ästhetik wird daher nicht nur unter wirkungsgeschichtlichen Gesichtspunkten, sondern auch sachlich lesenswert und von philosophischer Relevanz bleiben16, wenngleich ihr Quellenwert im historisch-kritischen Sinne beschränkt und ihre Authentizitätsdefizite und philologischen Mängel text- und entwicklungsgeschichtlicher Korrekturen auf der Basis von Vorlesungsnachschriften bedürfen. 14  Vgl. Gethmann-Siefert 1992. 15  Jaeschke 2010, 420. Dies scheint auch A. Gethmann-Siefert nicht grundsätzlich anders zu sehen, da sie sagen kann, in Hegels Ästhetik forderten sich „System und Phänomen […] gegenseitig heraus“ (Gethmann-Siefert 2000, 320). 16  Entsprechend verdient bei allen berechtigten kritischen Vorbehalten auch heute noch ernsthaft erwogen zu werden, was R. Bubner zur Hothoedition vermerkt hat: „Was wir als Hegels Ästhetik lesen, ist das Ergebnis einer eingreifenden, aber sinnreichen Redaktion aus mehreren Materialien. H.G. Hotho hat nach dem Tode Hegels, aber noch in der unmittelbaren Nähe zum Denken und Wirken des Lehrers, die der Schüler allen Späteren voraushat, aus mannigfachen Papieren Hegels, die als Unterlagen zu seinen wiederholten Vorlesungen über Ästhetik dienten, sowie aus reichen Vorlesungsnachschriften einen einheitlichen Text hergestellt. Das Erstaunliche der Redaktionsleistung ist nicht nur die Stimmigkeit und Lesbarkeit des endgültigen Textes, sondern auch die unverflacht erhaltene Gedankenführung und die Substanz der Hegelschen Spekulation, die klar hervortritt. Der Text verdient also durchaus Vertrauen, wenngleich er kein Original ist.“ (Hegel/ Bubner 1971, 31)

Die Bedeutung der Religion für die Kunst bei Hegel Zur Frage nach dem absoluten Geist in der Kunst Carolyn Iselt Einleitung In ihrem Versuch, die „Aktualität der Hegelschen Ästhetik“ nachzuweisen, rückt Annemarie Gethmann-Siefert in ihrem Buch „Die Funktion der Kunst in der Geschichte“ die utopische Funktion der Kunst in den Vordergrund1. Allerdings stellt sie fest, dass eher Schillers „Idyllenkonzeption“2 diese Funktion erfülle denn Hegels Zurückweisung einer neuen „Mythologie“3. In ihrer Betrachtung der hegelschen Kunstphilosophie, die sie in deren Genese im gesamten hegelschen Œuvre nachzeichnet, scheint insgesamt der Fokus auf der Orientierungsfunktion der Kunst zu liegen. In höchstem Maße ging in der klassischen griechischen Antike Gethmann-Siefert zufolge eine solche Wirkung von der Kunst aus. Allerdings spreche Hegel der Kunst das Wiedererlangen eines solchen Stellenwerts ab, weshalb der Rekurs auf die antike Klassik für ihn nicht zukunftsweisend sein könne. Durch die Systematisierung der Kunst in der Encyclopädie der philoso­ phischen Wissenschaften ist hingegen weniger ihre sittliche Funktion als ihr Verhältnis zum Absoluten, also zur Wahrheit, von Hegel dargelegt worden. In der folgenden Abhandlung soll daher untersucht werden, inwiefern die Kunst diesem in der Encyclopädie aufgestellten Wahrheitsanspruch gerecht wird. Für die Behandlung des Absoluten in der Kunst ist allerdings die Religion, die insbesondere in der antiken Klassik sittlichkeitsstiftend war, von substantieller Bedeutung. Deshalb sind das Verhältnis von Sittlichkeit und Kunst sowie die 1  Vgl. Gethmann-Siefert 1984, 371–410. 2  Vgl. Schiller 2002 (orig. 1795), 66 ff. „Die poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit ist der allgemeine Begriff dieser Dichtungsart [der Idylle, C.I.]. […] Die Idee dieses Zustandes allein und der Glaube an die mögliche Realität derselben kann den Menschen mit allen den Übeln versöhnen, denen er auf dem Wege der Kultur unterworfen ist, […]. Dem Menschen, der in der Kultur begriffen ist, liegt also unendlich viel daran, von der Ausführbarkeit jener Idee in der Sinnenwelt, von der möglichen Realität jenes Zustandes eine sinnliche Bekräftigung zu erhalten, und da die wirkliche Erfahrung, weit entfernt diesen Glauben zu nähren, ihn vielmehr beständig widerlegt, so kömmt auch hier, wie in so vielen andern Fällen, das Dichtungsvermögen der Vernunft zu Hülfe, um jene Idee zur Anschauung zu bringen und in einem einzelnen Fall zu verwirklichen.“, ebd., 67 f. 3  Vgl. Gethmann-Siefert 1984, 389 f.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_021

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Sittlichkeit als Ziel des objektiven und Voraussetzung des absoluten Geistes bei der Systematisierung der Kunst freilich auch zu berücksichtigen. Ferner ist zu sehen, ob die Systematisierung der Kunst als Kunst-Religion und als konstitutives Moment im Begriff der Philosophie eigentümliche Bestimmungen der Kunst hervorbringt.

Die Kunst als konstitutives Moment der Philosophie

Das Absolute im hegelschen System Terminus ad quem des hegelschen Systems der philosophischen Wissenschaften ist die Philosophie. Allerdings ist sie nicht bloß das Ziel des Systems, sondern zugleich die Wissenschaft, mittels der Hegel die Systematik seiner Encyclopädie aufstellt: Indem sie die Wissenschaften in eine begrifflich sich entwickelnde Ordnung bringt, werden diese nicht bloß inhaltlich entfaltet und aneinandergereiht, sondern ihre Notwendigkeit wird durch das System begründet – so lautet zumindest der hegelsche Anspruch. Am Ende reflektiert sich die Philosophie Hegel zufolge selbst, da sie sich durch die Systematisierung der anderen Wissenschaften hindurch am Ende eigens zum Gegenstand werde. Daraus leitet Hegel einen Absolutheitsanspruch der Philosophie ab. Sie sei daher die „würdige Gestalt“ des absoluten Geistes. Bevor jedoch der „Begriff des Geistes […] seine Realität im Geiste“ habe, erfolge die Reflexion des absoluten Geistes zunächst sinnlich in der Kunst, im Vorstellen in der Religion und erst dann begrifflich in der Philosophie (GW 13, § 453; GW 19, § 553; GW 20, § 553)4. Die sich daran anschließende Frage, inwiefern nun Kunst und Religion den absoluten Geist auszudrücken vermögen, wird im Folgenden auf die Kunst konzentriert behandelt. In Bezug auf die Kunst wird die Antwort zudem dadurch erschwert, dass Hegels teleologisches Fortschrittsdenken für sie – anders als für Religion und Philosophie – nicht gilt; denn Hegel nimmt in sein System nicht nur die ihm zufolge systematisch avanciertesten, sondern auch historisch letzten Formen der Religion und Philosophie auf. Dagegen ist es die Kunst der antiken griechischen Klassik, auf die sich Hegel hauptsächlich in der Encyclopädie bezieht. Lässt sich für die schöne klassische Kunst zeigen, dass sie die Bewegung des absoluten Geistes reflektiert, bleibt noch offen, ob dies ebenso in der nachklassischen, romantischen Kunst erfolgt. Mit der

4  Im Zitat meine Hervorhebung unter Auslassung der hegelschen.

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Reduktion auf die der romantischen5 Kunst (von Interpreten) zugesprochene Bildungsfunktion unterstände diese vielmehr dem objektiven Geist. Es ist also über die Bestimmung der Stellung der Kunst im hegelschen System hinaus von systematischer Relevanz, zu zeigen, dass Kunst ein ebenso sinnliches wie geistiges Phänomen ist, das weder in einer erzieherischen, sittlichen sowie politischen Rolle aufgeht noch der beliebigen ästhetischen Betrachtung und Beurteilung einzelner Subjekte unterliegt. Für die Betrachtung des Verhältnisses der Kunst zum absoluten Geist wird zunächst auf die erste Auflage der Encyclopädie von 1817 zurückgegriffen, weil die Kunst dort im Titel noch nicht getrennt von der Religion, als „Religion der Kunst“, aufgeführt wird und die Entwicklung der Kunst in einem religiösen Kontext sie als Gestalt des absoluten Geistes bedingt. Die Darstellung der Religion der Kunst in der ersten Auflage ist zudem relevant für das Verständnis der Systematisierung der Kunst in der Encyclopädie, weil Hegel dort die Momente der Kunst eher entwickelnd darlegt und weniger verdichtet als in den späteren Auflagen, die – allem Anschein nach – auf dieser Entfaltung aufbauend die Bestimmungen resultativ zusammenfassen. Obschon sich der Titel ab der zweiten Auflage von 1827 ändert und die Kunst scheinbar Eigenständigkeit erlangt, sind keine inhaltlichen substantiellen Veränderungen in den beiden späteren Auflagen zu erkennen. Die Bedeutung der Religion für die Kunst bleibt auch dort erhalten6. Jedoch sticht neben der Änderung des Titels in der dritten Auflage von 1830 die explizite Unterscheidung dreier Kunstformen hervor, sodass dort die geschichtliche Veränderung der Kunst in die Systematik integriert wird. Dadurch stellt sich die Frage in besonderem Maße, in welchem Verhältnis vor allem die romantische Kunst – die über die klassische hinaus ist und nicht wie die symbolische ihre Voraussetzung darstellt – zum absoluten Geist steht. Hierfür ist zunächst zu klären, auf welche Weise die Formen des absoluten Geistes das Absolute zur Erscheinung bringen. 5  Hier ist nicht die mittelalterliche, christliche Kunst, mit der Hegel die romantische Kunstform beginnen lässt, sondern die Kunst zu Hegels eigener Zeit gemeint; vgl. Gethmann-Siefert 2000, 372. 6  Das sieht auch Michael Theunissen so: „Die in der Anmerkung § 562 vorgenommene Subsumtion der Kunst- unter die Religionsphilosophie gibt den Gesichtspunkt an, unter dem der encyclopädische Aufriß Hegelscher Ästhetik zu betrachten ist“; Theunissen 1970, 148. Theunissen kommentiert die Kunst-Paragraphen der Encyclopädie mit Fokus auf die „Endlichkeit“ der Kunst und ihre Vorbereitung der geoffenbarten Religion, wobei er eine mögliche Eigenständigkeit der Kunst bewusst nicht behandelt, vgl. ebd., 148–215, zu letzterem vgl. ebd., 211, Fn. 178.

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Die drei Schlüsse der Philosophie und die drei Formen des absoluten Geistes Der hegelschen Programmatik der Encyclopädie gemäß ist nun zuerst das dortige Verständnis des Absoluten aufzuzeigen. Dabei soll die Funktion der Kunst als Moment dieses Systems fokussiert werden. Von dieser Funktion ausgehend ist dann die Systematisierung der Kunst in entfalteter Form darzulegen. Die Einleitung des absoluten Geistes hebt mit der Bestimmung an: „Der Begriff des Geistes hat seine Realität im Geiste“ (GW 20, § 553). Damit grenzt Hegel den absoluten Geist zum einen von seinen Voraussetzungen, dem subjektiven, menschlichen und objektiven, sittlichen und geschichtlichen Geist ab – wobei dessen ‚Realität im Geiste‘ zugleich das Resultat der Entwicklung seiner Voraussetzungen darstelle: „Der subjective und objective Geist sind als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite [des Geistes] der Realität oder der Existenz ausbildet“ (GW 20, § 553; vgl. GW 19, § 553 u. GW 13, § 443). Zum anderen weist die einleitende Bestimmung auf das Ziel der Encyclo­ pädie hin: auf den Begriff des Geistes, der laut Hegel das „Wissen der absoluten Idee sey“ (ebd.). Die von Hegel im ersten Teil der Encyclopädie entwickelte Logik kulminiert in der absoluten Idee. Dort beansprucht Hegel, eine reine Struktur des Denkens aufzuzeigen. Es reicht nun aber nicht, Hegels Logik zu begreifen, um den Begriff des absoluten Geistes zu erhalten; dann wäre das hegelsche System nach der Logik abgeschlossen. Aufgabe der Encyclopädie sei, ein System aller Wissenschaften aufzustellen, dessen Grundlage die Logik bilde. Ein ‚Wissen der absoluten Idee‘ seitens des Geistes schließe demnach mit ein, dass im Anschluss und auf Grundlage der Logik erstens eine Naturphilosophie aufzustellen sei, an deren Ende der Übergang vom Natürlichen zum Geistigen vollbracht werden soll (GW 20, § 376). Im – nach Logik und Naturphilosophie – dritten Systemteil, der Philosophie des Geistes, erscheine der Geist als subjektiver im menschlichen Bewusstsein und als objektiver im Rechtsstaat und in der Weltgeschichte. Erst im Anschluss an diese Entwicklung reflektiere er sich als geistiges Phänomen. Demnach darf der Geist der hegelschen Philosophie zufolge nicht als jenseitiges Absolutes verstanden werden. Der Absolutheitsanspruch, den die Philosophie erhebe, bedeute daher gerade nicht, unabhängig von Logik, Natur, Individuum, Gesellschaft und Geschichte zu bestehen; denn die Philosophie sei das „Nachdenken“ über diese Gegenstände, ihr Begreifen (GW 20, §§ 1–18). In den letzten Paragraphen der Encyclopädie (GW 20, §§ 575–577; GW 13, §§ 475–477) findet vielmehr die Reflexion auf die systematisierende Funktion der Philosophie statt. Absolut sei die Philosophie, weil sie alles miteinander vermittle, und da für Hegel nur das Ganze das Wahre ist, sei auch erst durch diese Vermittlung die Wahrheit der einzelnen Wissenschaften nachgewiesen. Demnach trete kein neuer, der

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Philosophie eigentümlicher Inhalt in ihr hinzu7, denn die „Bewegung, welche die Philosophie ist, findet sich schon vollbracht, indem sie am Schluß ihren eigenen Begriff erfaßt, d. i. nur auf ihr Wissen zurücksieht“ (GW 20, § 573). Die finale Reflexion auf diese Vermittlung scheint nun am „Schluß“ der Encyclopädie in drei Schlüssen stattzufinden, die den Begriff der Philosophie entfalten und deren vermittelnde Eigenschaft hervorheben (GW 20, §§ 574– 577; GW 13, §§ 474–477). In diesen drei Schlüssen nehmen das „Logische“, die „Natur“ und der „Geist“ je einmal den „Ausgangspunkt“, die „Mitte“ und eine Art Resultat ein (vgl. ebd.). Daher wäre zu vermuten, dass hier auf die durch die Philosophie erfolgte Verbindung der drei Systemteile reflektiert wird. Das Logische ist aber nicht die Logik als Wissenschaft des reinen Denkens, sondern vielmehr das Resultat der philosophischen Betrachtung von Natur und Geist (vgl. GW 13, § 474; GW 20, § 574)8. Obschon das Logische Resultat ist, bleibt die Logik Grundlage des Systems; demzufolge erscheint das Logische dem ersten Systemteil, der Logik, gemäß im ersten Schluss9: denn es bilde dort den „Grund[] als ersten Ausgangspunkt[]“ und „wird zur Natur“ sowie diese wiederum „zum Geist“ werde, woraus die zwischen Logischem und Geist

7  Das fasst Walter Jaeschke treffend folgendermaßen zusammen: „Hegel weiß hier weniger zu sagen, als man an diesem exponierten Punkt der Vollendung seines Systems erwarten sollte – und sei es nur, weil alles schon gesagt ist und dies nur noch einmal ins Bewußtsein gehoben werden muß“; Jaeschke 2000, 466. 8  Das insbesondere problematisiert Jaeschke in seinem Kommentar zur Philosophie; vgl. Jaeschke 2000, 466 f. u. 478 ff. Aus diesem Grund weist er die Interpretation, der zufolge das Logische, Natur und Geist mit den Systemteilen übereinstimmen, zurück. U.a. dadurch erweist sich das Verstehen und Einschätzen dieser Schlüsse als schwierig, denn sie passen laut Jaeschke nicht zu Hegels System: die Logik als Wissenschaft des reinen Denkens bleibt außen vor (vgl. ebd., 481); der objektive Geist etwa wird nicht explizit berücksichtigt (vgl. ebd., 484 f.). Obschon dbzgl. auf die Ergänzung von 1830 hinzuweisen wäre, nämlich auf den dort erwähnten „Zweck“ der „Freyheit“, den der Geist in seinem „subjective[n] Erkennen“ verfolgen soll – und dabei soll der Geist „dieselbe“, also die Freiheit, hervorbringen (GW 20, § 576). Dass Hegel die Schlüsse 1817 anführt, 1827 weglässt und erst 1830 mit Veränderungen und Ergänzungen wiederaufnimmt, mag auf Hegels eigenes Ringen mit ihnen hinweisen. Vgl. dazu auch Michael Theunissen 1970, 310, der davon ausgeht, dass Hegel das System bereits vor den Schlüssen für abgeschlossen hält und sie deshalb 1827 nicht anfügt und aus „Unsicherheit“ 1830 wieder anhängt. Für eine ausführliche Problematisierung vgl. Jaeschke 2000, 466 f., 478 ff. 9  „Die erste Erscheinung macht der Schluß aus, welcher das Logische zum Grunde als Ausgangspunkt, und die Natur zur Mitte hat, die den Geist mit demselben zusammenschließt. Das Logische wird zur Natur, und die Natur zum Geiste“; GW 20, § 575.

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verbindende10 Funktion der Natur hervorgehe. Im zweiten Schluss11 werde nun die Natur „voraus[ge]setzt“ und die Reflexion des „Geistes“ auf die Natur sei das Vermittelnde; nämlich die Vermittlung zwischen Natur und dem Logischen, weil der Geist das „subjective Erkennen“ der logischen Struktur in der Natur sei. Das Logische als Resultat der philosophischen Betrachtung der „Wirklichkeit“, wie es in § 474 bzw. 574 von Hegel eingeführt wird, wäre demnach gerade als Ergebnis dieses subjektiven Erkennens zu erachten. Demzufolge wäre dann die Idee, die in der Logik als die alles umfassende und vermittelnde, absolute Struktur im Denken entwickelt wird, als „Idee der Philosophie“ aufgezeigt worden, die die philosophische Tätigkeit des subjektiven Geistes voraussetze; also seine Reflexion auf natürliche und geistige Strukturen. Im dritten Schluss12

10  Hegel bestimmt die Natur als „Durchgangspunkt“ (GW 20, § 575); es bedarf der erkennenden Tätigkeit des subjektiven Geistes, um die logische Struktur in ihr herauszustellen, was Hegel im zweiten und im dritten Schluss darlegen wird. Vgl. dazu auch Theunissen 1970, 312 f., der zudem die ersten beiden Schlüsse als nicht adäquate Formen der philosophischen Vermittlung ansieht und erst den dritten auf Höhe der Encyclopädie Hegels erachtet. Theunissen versucht zudem, das Ungenügen der ersten Schlüsse durch die „beiden ersten Schlüsse der geoffenbarten Religion“ zu „korrigier[en]“, damit letztlich ihre Aufnahme und „Korrektur“ durch den dritten Schluss der Idee der Philosophie gelänge: Die Natur wäre dann geschaffene Natur und enthalte die „göttliche Allgemeinheit“; erst diese Voraussetzung ermögliche es dem subjektiven Geist im zweiten Schluss die Natur mit dem Logischen zusammenzuschließen; ebd., 315–322. Jaeschke weist mit Blick auf die erste Auflage (1817) darauf hin, dass Hegel dort bereits die Schlüsse der Philosophie „vergleichsweise klar herausgearbeitet“ habe und den Inhalt des Religionskapitels hingegen erst ab der zweiten Auflage „nachträglich als in drei Schlüsse gegliedert ausgibt – ohne diese Behauptung zu substantiieren“, vgl. Jaeschke 2000, 480. Theunissens Überlegung ist jedoch für die hier aufzustellende Analogie des ersten Schlusses zur Vermittlung in der Kunst relevant, weil der antike Künstler in seinem Schaffen „Meister des Gottes“ sei und im Ideal das Logische, die Idee, unmittelbar zur sinnlichen Erscheinung bringe und somit auch Gott; vgl. GW 20, §§ 556, 560. 11  „Diese Erscheinung ist im zweyten Schlusse insoweit aufgehoben, als dieser bereits der Standpunkt des Geistes selbst ist, welcher das Vermittelnde des Processes ist, die Natur voraussetzt und sie mit dem Logischen zusammenschließt. Es ist der Schluß der geistigen Reflexion in der Idee; die Wissenschaft erscheint als ein subjectives Erkennen, dessen Zweck die Freyheit und es selbst der Weg ist, sich dieselbe hervorzubringen“; GW 20, § 576. 12  „Der dritte Schluß ist die Idee der Philosophie, […] die sich in Geist und Natur entzweyt, jenen zur Voraussetzung als den Proceß der subjectiven Thätigkeit der Idee, und diese zum allgemeinen Extreme macht, als den Proceß der an sich objectiv, seyenden Idee“; GW 20, § 577.

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wird das Logische nun als diese Idee der Philosophie aufgefasst, die Geist und Natur als Momente enthalte13. Als Resultat seiner systematischen Ordnung scheint Hegel in Form dieser Schlüsse die Selbstvermittlung der Philosophie mittels der logischen Idee zu demonstrieren; die absolute Idee in der Wissenschaft des reinen Denkens setzt, vermittelt und vereint alle logischen Begriffe. Die logische absolute Selbstvermittlung beansprucht Hegel über die Logik hinaus ebenso für den sys­ tematischen Zusammenhang der Logik mit der Natur- und Geistphilosophie. Das durch die begriffliche Ordnung erfolgte Zusammenschließen der Wissenschaften in ein System wird durch den absoluten Geist abschließend reflektiert, d. h. wie im System der Philosophie erscheint in Kunst und Religion die Vermittlung von Unterschieden in einer geordneten Einheit. Die hier aufzustellende These ist daher, dass die Zusammenschlüsse – von Natur, Geist und Logischem in Natur, Geist und Idee der Philosophie – in ihrer Struktur und in ihrer Reihenfolge auf die Entwicklung der drei Formen des absoluten Geistes bezogen werden können14: Die Philosophie erfasst die in Kunst und Religion erfolgte Vermittlung von Logik, Natur und Geist, die das Absolute ausmacht, begrifflich. Die Entfaltung des Begriffs der Philosophie in den Schlüssen müsste daher eine Strukturanalogie zu deren vorausgesetzten Formen des Absoluten aufweisen. Ein erstes Indiz dafür ist Hegels Präsentieren der Schlüsse als „Erscheinungen“ (GW 20, §§ 575–577); ebenso stellen Kunst, Religion und Philosophie die systematisch aufeinander aufbauenden Erscheinungen des absoluten Geistes dar. Ferner erscheint Hegel zufolge die absolute Idee – in ihrer „Formbestimmtheit“ (GW 12, 237) – in der Sinnlichkeit der Kunst und diese Erscheinung bringe eine erste adäquate Vorstellung des Geistes als Gott hervor (vgl. GW 13, §§ 456 f.; GW 20, § 556). Aus dieser Vereinigung der drei Momente – Logik, Natur, Geist – im Sinnlichen entwickelt Hegel das „Ideal“ der schönen Kunst (vgl. ebd.). Das wäre eine Vermittlung analog zum ersten Schluss: Das der Natur vorausgesetzte 13  Diese Idee gehe aus dem Erkennen des Geistes hervor und somit auch aus der Natur; sie setze aber zugleich die Natur als Extrem dem Geist gegenüber. Hiermit wäre der Übergang zum ersten Schluss gemacht: die Natur wird vom Logischen gesetzt. 14  Das hat auch Reinhard Heede bereits gesehen, auf dessen Ergebnisse seiner Dissertation von 1972 sich Jaeschke (2000) in seinem Kommentar hauptsächlich stützt. Heede zeigt zunächst auf, dass der erste Schluss die Struktur der Naturphilosophie und der zweite die der Phänomenologie, also des endlichen Geistes, aufweist. Der Kunst käme dann wie der Natur vor allem die objektive, anschauliche Seite der logischen Idee zu, der Religion wie dem endlichen Geist die subjektive, innerliche, reflexive; vgl. die differenzierte Argumentation Heedes mit Rückgriff auf Hegels Differenzschrift (GW 4, 1–77), in: Heede 1972, 296–303.

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Logische bzw. dessen Übergehen in die Natur lasse diese zum Geist übergehen; die Natur schließe dadurch das Logische mit dem Geist zusammen. Auf die Kunst folgt laut Hegel die Religion, die die „Stuffe der Reflexion“ sei und die diese „Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit seiner [des absoluten Geistes] Gestalt“ – also die Kunst – aufgehoben habe (GW 13, § 465; GW 20, § 565). Die Erscheinung des zweiten Schlusses habe ebenfalls die erste „aufgehoben“ und ist „geistige[] Reflexion“ (GW 20, § 576). Beiden, Religion und dem Geist im zweiten Schluss, kommt es zu, prozesshaft zu sein, und durch diese Vermittlung sind sie zugleich Vermittlung zwischen der gegebenen Struktur, in Kunst bzw. Natur, und einer höheren beide vereinigenden Form, der Philosophie bzw. dem Logischen; letzteres habe sich nun als Idee der Philosophie erwiesen. Die Philosophie führt Hegel als „Einheit der Kunst und Religion“ ein (GW 20, §§ 572 f.; vgl. GW 13, §§ 472 f.), strukturanalog vereinige im dritten Schluss die Idee der Philosophie ihre Voraussetzungen, Natur und Geist (GW 20, § 577). Letzteres meint, dass im Aufstellen des Systems philosophischer Wissen­ schaften gezeigt werden konnte, dass die logische absolute Idee sowohl die Struktur des subjektiven Erkennens darstellt als auch das Begreifen der Natur ermöglicht: Die „objectiv, seyende“ Seite der Idee findet sich in der Natur sowie die subjektive im Erkenntnisprozess (ebd.). Analog dazu stelle die Kunst die „unmittelbare[] Anschauung“ des „Inhalts der absoluten Vorstellung“ und noch dessen „subjective[s] Insichgehen[]“ dar; die Religion erfasse diesen Inhalt zunächst in „der voraussetzenden Vorstellung“, d.h. der „objectiven und äußerlichen Offenbarung“ und dann in „der subjectiven Hinbewegung und des Identificirens des Glaubens mit [dieser] Voraussetzung“ (vgl. GW 20, § 573). Beide Formen, die objektive Darstellung des Absoluten in der Kunst und dessen subjektive Erfassung in der Religion, gelten für Hegel als Voraussetzungen des Begriffs der Philosophie: in der Kunst ist das Absolute als einfache Einheit in der Anschauung, von der Religion wird diese Einheit reflexiv in Vorstellungen entfaltet. Durch die zuerst gegebene Vorstellung der Einheit in der Kunst leis­ te die Philosophie die Verbindung der Entfaltung des absoluten göttlichen Inhalts in der Religion. Beide Formen zusammen, Einheit und Entfaltung dieser Einheit bzw. das Ausweisen einer der Einheit immanenten Entfaltung, sei die Bewegung der Philosophie (vgl. ebd.). Ebenso mache im dritten Schluss die „Bewegung“ vom Begreifen der Natur ausgehend über die „Thätigkeit des Erkennens“ die „ewige an und für sich seyende Idee als absoluter Geist“ – also die Idee der Philosophie – aus (GW 20, § 577). Es ist nun allein in Bezug auf die Kunst genauer herauszustellen, inwiefern sie eine Erscheinung der Vermittlung von Logik, Natur und Geist darstellt – dies soll vor allem in der Analyse des § 457 der ersten Auflage geschehen. Der hegelschen Programmatik nach ist das Absolute als absolute Selbstvermittlung

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zu verstehen. Die Kunst müsste also eine solche Vermittlung leisten, um ihrer systematischen Funktion der ersten Form der Darstellung des Absoluten gerecht zu werden. Dadurch würde sie sich auch als sinnliche Spiegelung der begrifflichen Vermittlung in der Philosophie herausstellen und als Moment der systematischen Konstituierung der Philosophie erweisen (wie in §§ 472 f. bzw. §§ 572 f. von Hegel behauptet wird). Umgekehrt wird zu untersuchen sein, ob diese Systematisierung einen adäquaten Begriff von Kunst generiert.

Die absolute Vermittlung in der Kunst als Religion

In der Encyclopädie von 1817 führt Hegel die Kunst noch nicht als eigenständige Gestalt auf: Sie ist „Religion der Kunst“. In den zehn Jahren bis zur nächsten Auflage von 1827 wird Hegel jedoch drei Vorlesungen über die Philosophie der Kunst halten. Dementsprechend nimmt er sie auch ab der zweiten Auflage als selbstständiges Moment in sein System auf; obschon das für die Systematik zentrale, klassische Kunstwerk weiterhin das Göttliche nicht bloß darstellt, sondern ist (vgl. GW 13, §§ 462 f.; GW 20, §§ 556, 562). Es ist daher zu sehen, ob aus der Entwicklung der Kunst im Kontext der Religion eigentümliche Bestimmungen der Kunst und ihre Selbstständigkeit hervorgehen. Anders als in den beiden späteren Auflagen generiert Hegel 1817 die Momente der (Religion der) Kunst in folgender systematischer Entwicklung: Zuerst erfolgt die Bestimmung der Art des „Wissens“ der Kunst (GW 13, § 456), dann der Maßstab der Kunst im „Ideal“ (GW 13, § 457), woraufhin vorausgehende, noch zu abstrakte, inadäquate Formen abgegrenzt werden (vgl. GW 13, §§ 458 f.); daraus ergeben sich „Form“ (GW 13, § 460) und „Inhalt“ (GW 13, § 461) der Kunst sowie die Produktion des Kunstwerks (vgl. GW 13, § 462) als auch die andere Seite der Rezeption (vgl. GW  13, § 463), mit der der Übergang zur geoffenbarten Religion einhergeht (vgl. GW 13, § 464). Die Systematisierung der (Religion der) Kunst I [1817] Die Weise, wie die Religion der Kunst gewusst werde bzw. erscheine, bestimmt Hegel also zunächst wie folgt: „Die unmittelbare Gestalt dieses Wissens [des Geistes von sich] ist die der Anschauung und Vorstellung des absoluten Geistes als des Ideals.“ (GW 13, § 456) Neben der Bestimmung der Anschauung und Vorstellung als Zugangsweisen des Bewusstseins zur Kunst, wird hier die (absolute) Idee bzw. das Ideal zum Maßstab der Kunst erhoben – also die perfekte Übertragung einer Vorstellung in die Sinnlichkeit. Mit dem Ideal ist die für die Reflexion des Absoluten erforderliche Konzeption der Vermittlung von Logik, Natur und Geist in der Kunst gegeben.

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Die formale Bestimmung des Ideals erfolgt in der Wissenschaft der Logik, und zwar basiere es auf einem bestimmten Verhältnis zwischen Realität und Idee. Dort wird die Auffassung der Realität, nach der diese sich nur aus positiven Bestimmungen zusammensetze, von Hegel kritisiert. Dieser Vorwurf richtet sich u.a. an Kant; denn objektive Realität hat Kant zufolge allein das, wovon man sowohl einen Begriff als auch eine Anschauung haben könne. Es sei denn, es handelt sich um reine Begriffe bzw. Anschauungsformen, die konstitutiv für objektive Erkenntnis seien: die Kategorien sowie Raum und Zeit, denen durch ihre Funktion gleichfalls Objektivität (überhaupt) zuzusprechen sei. Was über die Grenzen des objektiv Erkennbaren des Verstandes hinausgehe, ließe sich höchstens als regulative Idee der Vernunft für das Erkennen denken, wobei die Idee aufgrund mangelnder empirischer Anschauung nicht objektiv seiend sei. Für Hegel dagegen hat die Idee objektive Realität, die gesamte Realität sei ideell (GW 21, 136 f.). Das heißt, dass die Realität über die endlichen Bestimmungen hinausgehe; sie enthalte gleichsam ihre Beziehungen, ihre Veränderungen, ihre Ordnung. Die realen Bestimmungen gelten daher als „Moment“ einer höheren, sie organisierenden Einheit (GW 21, 137). Das Prinzip dieser Ordnung – dass eine geordnete Einheit überhaupt existiere – ist die Idee; das Element der Entfaltung dieser Ordnung sei die Realität – das Außen oder die Äußerlichkeit oder gar die Entäußerung der Idee. Demnach sei zunächst alles Reale ideell, davon zu unterscheiden sei dann noch das Ideale. Bereits in der Logik merkt Hegel in einer Fußnote an: Das Ideale hat eine weiter bestimmte Bedeutung (des Schönen und was dahin zieht), als das Ideelle; hierher gehört jene noch nicht; es wird deßwegen der Ausdruck: ideell, gebraucht. GW 21, 137 Fn.

Das Aufstellen von empirischen Gesetzmäßigkeiten geht laut Kant auf die re­ flektierende Urteilskraft zurück: Auf das besondere Reale reflektierend, sei diesem ein zugrundeliegendes Allgemeines nachzuweisen, aber – darauf kommt es an – nur für das subjektive Erkennen. Dass das zunächst zufällige Besondere durch Reflexion und Begreifen einer Allgemeinheit zugehörig erkannt werde, ist ebenso wahr für Hegel. Jedoch gilt dies für ihn wiederum nicht bloß für das erkennende Subjekt, sondern auch an sich für den Gegenstand. Anders als das Ideelle sei das Schöne, das Ideal, ohne Vermittlung der Reflexion, in seinem Schein unmittelbar auch zu erkennendes Wesen, nämlich: „Zeichen des Gedankens“ oder – wie er ab 1827 sagen wird – „Zeichen der Idee“ (GW 13, § 459; GW 19/20, § 556).

Die Bedeutung der Religion für die Kunst bei Hegel

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Im Rückgriff auf die Logik war das Ideal formal zu bestimmen; dessen Inhalt hingegen wird von Hegel im § 457 genannt: das „concrete Wesen Gott“, in dem Natur – als das Reale – und Geist – als Idee – vereinigt seien. Hegels „Beweis“, dass diese Vereinigung „die absolute Wahrheit“ sei, greift die Selbstvermittlung, die er in den drei Schlüssen demonstrieren wird, vorweg (GW 13, § 457). Der Beweis sei die „Vermittlung“, die, wie im ersten Schluss, ein Werden der Natur zum Geist und, wie im zweiten Schluss, das Werden des subjektiven Geistes durch seine erkennende „Thätigkeit“ zum absoluten Geist15 darstelle. Die Aufhebung des subjektiven im absoluten Geist beruhe auf der Erkenntnis, dass der absolute den „Grund“ der Vermittlung ausmache und sich ebenso als „absolut Erstes“ ausweise (ebd.). In Bezug auf den Weg der Encyclopädie hieße das, dass es der Maßgabe eines absoluten Geistes bedürfe, um die Vermittlung der verschiedenen Bestimmungen und Sphären zu ermöglichen, um ihre Mangelhaftigkeit konstatieren und den notwendigen Fortgang durchführen zu können. Hegel verweist an dieser Stelle auf §§ 71, 73, 104, auf die Lehre vom Wesen im ersten Systemteil, der Logik, zurück. Im § 71 erfolgt der Übergang vom Widerspruch zum Grund bzw. das Zugrundegehen des Widerspruchs16. Das macht Hegel ebenfalls für den Gegensatz zwischen Natur und Geist geltend. So führe die Entwicklung von der Natur zum Geist letztlich zum absoluten Geist: Die Natur werde nur zum Geist – sie könne nur von ihm erkannt werden –, weil ihnen dieselbe logische Struktur zugrunde liege. Der, man möchte sagen transzendentale, Grund dafür sei der absolute Geist. Der Gegensatz zwischen Natur und Geist werde durch die vorausgesetzte logische Grundlage beider aufgehoben. Die Erkenntnis dieses Grundes seitens des subjektiven Geistes erhebe diesen zum absoluten. Der absolute Geist sei somit 15  Im zweiten Schluss ist das Resultat des subjectiven Erkennens das Logische, das im dritten Schluss als die Idee der Philosophie aufgegriffen wird, die 1830 wiederum in § 577 mit dem absoluten Geist gleichgesetzt wird; vgl. hier oben S. 5 f. 16  Der Widerspruch ergibt sich zusammengefasst so: Eine Bestimmung ist mit sich identisch, wenn sie sich von einer anderen unterscheidet. Die eigene Positivität beansprucht ein Anderes, ein Negatives und somit die negative Beziehung. Umgekehrt entsteht die negative Beziehung als solche aus der Positivität, bedarf also eines Anderen, Positiven. Das Positive und Negative stehen also in ihrer Bestimmung zu sich selbst im Widerspruch. Daraus gehen zwei gegensätzliche Bestimmungen hervor, die nur als Selbstständige zueinander im Widerspruch stehen durch die negative Beziehung auf den anderen. Daraus ergibt sich dann in § 73, dass die wesentliche Selbstvermittlung nur durch das Andere hindurch bzw. durch die Bestimmung des Anderen als Moment seiner selbst erfolge. Sich vom Anderen zu unterscheiden und daran die eigene Identität festzumachen, stelle laut Hegel die „Unmittelbarkeit“ durch „Aufheben der Vermittlung“ her.

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zunächst Resultat der Vermittlung, also „Vermitteltes“, aber auch der sich stets geltend machende Grund, die Bedingung der Möglichkeit, in der Bewegung der Vermittlung. Diese Bewegung mache das Absolute und die wiedergewonnene Unmittelbarkeit des absoluten Geistes aus (vgl. GW 13, § 457). Die wesentliche Selbstvermittlung am Anfang der Lehre vom Wesen ist die des „Seyns“ (GW 13, § 73). Indem das Sein durch die negative Vermittlung hindurch wieder zu einer positiven Unmittelbarkeit gelange, bestimme es sich fort zur „Existenz“ (ebd.). In Analogie dazu hat der aus der Vermittlung des Gegensatzes zwischen Natur und Geist hervorgehende absolute Geist17 seine sinnliche Existenz18 im Ideal der Kunst. In der Einleitung in den absoluten Geist gehe diese Versöhnung aus der Sittlichkeit hervor, die die natürliche bedürftige Seite und die geistige, nach Freiheit orientierte Seite der Individuen im Zusammenleben organisiere (vgl. GW 13, §§ 453–455). Die „sittliche Substanz“ bzw. die „Substantialität“ ist laut Hegel die „Bedeutung des Ideals“, weil das Ideal im concreten Wesen, also im göttlichen Individuum einmal als sinnliche Vorstellung Natur und Geist vereine – und zugleich komme dem Gott bzw. der von ihm ausgehenden Religion die Sittlichkeit stiftende Funktion zu (GW 13, §§ 454, 457). Die u.a. von Gethmann-Siefert betonte sittliche Orientierungsfunktion der Kunst wäre in ihrer umfassenden Form in der antiken griechischen Kunst ohne die damit verbundene Religion nicht möglich19. Diese geht demnach nicht allein von der Kunst aus, sondern von der Religion der Kunst. Die geforderte Vermittlung von Logik, Natur und Geist bedingt also eine bestimmte Vorstellung des Göttlichen, die auch den Inhalt der Kunst bestimmt, was aber erst in § 461 dargelegt wird. Es ist hier bereits auf die sich zeigende Bedeutung der Religion für die Kunst hinzuweisen: der systematische Anspruch an die Kunst, nämlich die Vermittlung zwischen Logik, Natur und Geist herzustellen, wird durch eine religiöse Vorstellung eingelöst, durch die ideale Vorstellung Gottes als Versöhnung von Natur und Geist in der Konkretheit eines göttlichen Individuums. 17  Ebenso gilt für den absoluten Geist die Bewegung der Wechselwirkung. In § 104 legt Hegel dar, dass die Wechselwirkung aus der Bestimmung der Wirkung hervorgehe, die sich ihre Ursache selbst setze: das Bewirkte, etwa der absolute Geist, sei selbst Ursache, also der Grund seiner Voraussetzungen, Natur und Geist (subjektiver und objektiver). 18  Wie auch in der Lehre vom Wesen wird die Bestimmung nicht bei der Existenz und Unmittelbarkeit stehen bleiben und in eine erneute Vermittlung übergehen. Das stellen im absoluten Geist Religion und Philosophie dar. 19  Das hat Gethmann-Siefert (2000, 327 ff.) freilich gesehen.

Die Bedeutung der Religion für die Kunst bei Hegel

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Bevor jedoch die Vorstellung Gottes schön, als Ideal in der Anschauung sei (vgl. GW 13, § 456), komme ihr zwar schon eine „bestimmte Gestalt“, aber eine noch „abstracte“ zu (GW 13, § 458). Sie sei abstrakt aufgrund ihres unmittelbaren Daseins: einmal als unmittelbar Daseiendes „eines elementarischen oder concreten Natur-Seyns“; oder im Gegensatz dazu als ein Abstraktes „des reinen Denkens“ (ebd.). In der Phänomenologie des Geistes behandelt Hegel die unmittelbar natürliche Weise göttlicher Vorstellungen als Naturreligion; in Bezug auf die Kunst wird diese als „symbolische“ Kunstform gefasst – dies geschieht explizit in der Encyclopädie erst in der letzten Auflage –, „worin die der Idee angemessene Gestaltung noch nicht gefunden ist, vielmehr der Gedanke als hinausgehend und ringend mit der Gestalt […] dargestellt wird.“ (GW 20, § 561) In der symbolischen Kunst sei die Vorstellung Gottes laut Hegel noch nicht derart konkret bestimmt, dass sie in eine ihm adäquate Form bzw. Gestalt gebracht werden könne. „Die Bedeutung, der Inhalt zeigt eben damit die unendliche Form noch nicht erreicht zu haben“, fährt Hegel 1830 im § 561 fort. Die Unfassbarkeit der Vorstellung Gottes, die in den beiden ersten unmittelbaren Formen bloß abstrakt erscheine, habe die logische Struktur, „gestaltlose Negativität, des Disseits [der konkreten Natur] und des Jenseits [des reinen Denkens]“ zu sein – erstes mag sich auf die Lichtreligion, evtl. auch noch auf pflanzliche oder tierische Darstellungen beziehen; letztes auf den noch nicht ausreichend bestimmten Gedanken göttlicher Unendlichkeit – eine daher unfassbare Unendlichkeit, Mächtigkeit, die somit nicht als Anschauung erfasst werde, höchstens symbolisch (GW 13, § 459). Hier übersteige also der Inhalt noch die Form: „Der Inhalt ist nur als der abstracte Gott des reinen Denkens, oder ein Streben nach demselben, das sich rastlos und unversöhnt in allen Gestaltungen herumwirft, indem es sein Ziel nicht finden kann.“ (GW 20, § 561) Das ist der abschließende Gedanke Hegels zur symbolischen Kunstform, den er erst 1830 ergänzt. Kennzeichnend für die Kunstreligion sei nun, diesem reinen Gedanken eine in der Unmittelbarkeit seiende konkrete sinnliche Gestalt zu geben. Das natürliche Sein sei geistlos und somit zufällig. Durch die Gestaltung des Künstlers, der die abstrakte Vorstellung Gottes so bestimme, dass daraus das Bild einer konkreten Gestalt entstehe und diese plastisch umgesetzt werden könne, werde auch das zunächst nur natürliche Sein in Form irgendeines Materials, Marmor, Stein etc., geistig geformt: begeistet. Es sei „die aus dem Geiste geborne concrete Gestalt“ (GW 13, § 459). Dadurch wandle sich die sinnliche Gestalt zum ‚Zeichen des Gedankens‘: Der Gedanke und daraufhin das Material werden derartig durchformt und aller Zufälligkeit quasi bereinigt, „verklärt“, sodass sie nichts als schön seien: „die Gestalt der Schönheit“ (GW 13, § 459).

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Demzufolge beruhe die „Schönheit überhaupt“ auf der geistreichen „Durchdringung der Anschauung und des Bildes“, das betreffe zunächst die Seite der Vorstellung, insofern ein abstrakter Gedanke eine konkrete Gestalt erhalte (GW 13, § 460). Das fasst Hegel unter dem formellen Charakter der Schönheit; ob der Schönheit eine inhaltliche Bestimmung sowie ein bestimmtes Material eignen, bleibt hier noch unbestimmt. Dass die „Einbildung“ „verschiedenster Art seyn“ kann, meint einmal den vorgestellten, eingebildeten Inhalt, aber auch das Ein-bilden in den „Stoff“ (ebd.). Diese scheinbare Beliebigkeit hebt Hegel im nächsten Paragraphen wieder auf. Denn ‚jene Durchdringung selbst‘ sei der Inhalt und dieser wiederum sei wahrhaft „die geistige Substanz in ihrer absoluten Bedeutung“ (GW 13, § 461). Hegel verweist hier auf den § 457 zurück, somit auf das Ideal und dessen „concrete[s] Wesen“, das nun nicht mehr nur „Gott genannt“, sondern zur Anschauung gebracht werden solle. Da „dieses Wissen Anschauen oder bildliches Vorstellen ist“, sei der abstrakte unendliche Gedanke Gottes in eine „endlich[e]“ Bestimmung zu überführen, um stofflich und dadurch unmittelbar fassbar zu werden (ebd.). Wurde im § 460 die formale Seite der Schönheit entwickelt, entfaltet Hegel im § 461 darauf aufbauend, nämlich auf dem Gedanken der ‚Durchdringung der Anschauung und des Bildes durch den Gedanken‘, die inhaltliche Seite der Schönheit mit Verweis auf das Ideal. Für Hegel, der in seinen Vorlesungen Regelwerke der Kunst als äußerlich zurückweist, erschöpft sich die Form nicht in formalen Aspekten, sondern die Form hänge letztlich ab vom Inhalt, der wiederum formbar sein müsse20. Die adäquate Formbarkeit des vorgestellten Inhalts sei in der symbolischen Kunstform noch nicht möglich (s.o.) – und damit einher gehe ein 20  In der Wissenschaft der Logik (GW 11) legt Hegel „Form“ und „Inhalt“ als aufeinander ver- und angewiesene „Reflexionsbestimmungen“ dar. Vgl. auch das Manuskript der Vorlesung „Philosophie der Kunst“ von 1826 von von der Pfordten: „[D]ie formelle Einheit fällt in die äußerliche Seite des Schönen, die immanente Einheit bezieht sich aber auf den Inhalt, […]. Diese inhaltsvolle Einheit nennen wir die Selbständigkeit der konkreten Substantialität, […]. Wie uns dieser Inhalt in seiner Selbständigkeit erscheint, so können wir es das Göttliche zunächst, das in sich Allgemeine nennen. Fassen wir es als das konkrete Allgemeine, so hat dies [dennoch] sogleich einen Gegensatz an dem Besonderen, an der Einzelheit. Oder: Das Allgemeine ist wahrhaft nicht selbständig, es fehlt ihm die Subjektivität, und die wahrhafte Selbständigkeit müssen wir als Einheit des allgemeinen Selbst und der Individualität oder Subjektivität fassen. Wir müssen deswegen sogleich die Form betrachten, die Art und Weise, wie dies Allgemeine vorhanden sein muß; […].“ Hegel, Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826, hg. v. Gethmann-Siefert 2005, 82 f.

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geistesgeschichtlicher Entwicklungsstand: Ideale Schönheit sei von der Vorstellung des Absoluten bedingt; diese dürfe nicht mehr abstrakt, sondern müsse zwecks sinnlicher Darstellbarkeit bestimmt bzw. endlich sein. Ideale Schönheit ist zudem nur möglich, wenn Gott „ein besonderer Volksgeist ist“ (ebd.). Hegel verortet die schöne Kunst historisch in der antiken Klassik. Die schöne Kunst hat somit die griechische Religion zu ihrer Voraussetzung, nämlich die Vorstellung göttlicher Individuen, in denen göttliche Unendlichkeit und konkrete Gestalt vereinigt werden. Nachdem Form und Inhalt der Kunst in §§ 460, 461 herausgestellt wurden, geht Hegel im § 462 auf die Produktion ein. Indem die Kunst „unmittelbare Gestalt dieses Wissens“ und zugleich in ihrer „Existenz Product“ sei, mag sie in einen Widerspruch geraten (GW 13, § 461). Die Kunst sei zwar Produkt eines „Subjects“, aber nur dann ideal, wenn diese vom Subjekt abhängige Seite nicht sichtbar werde (ebd.). Hegel insistiert darauf, dass die notwendige Endlichkeit der schönen Kunst nicht die Endlichkeit des Künstlers miteinschließen und zum Ausdruck bringen darf. Die bereits in § 459 verwandte Metaphorik der Geburt – ‚die aus dem Geiste geborne concrete Gestalt‘ – wird hier fortgeführt: Das Haben einer Vorstellung seitens des Künstlers komme einer unbefleckten Empfängnis gleich. Dass diese dann „herausgebohren“ werde, zeigt das hegelsche Verständnis des Künstlers auf: Der Künstler übersetze bloß seine vom Gott erhaltene, bereits konkrete Vorstellung in ein wirkliches Werk, etwa eine den Gott zeigende Skulptur – „das Subject ist nur das rein Formelle der Thätigkeit“ (ebd.). Nach dieser Geburt sei das Werk „Ausdruck des Gottes“ unter folgender Bedingung: Die Vermittlung, durch den Schmerz und die Thätigkeit eines Subjects hindurchgegangen und zur Gestalt gekommen zu seyn, ist unmittelbar aufgehoben; das Werk stellt die Substanz des Subjects dar, und der Geburtsschmerz ist eben diese absolute Entäusserung und Negativität der subjectiven Besonderheit. Ebd.

Anzuerkennen ist, dass Hegel der Negation der Anstrengung des Künstlers im Werk sprachlich eine gewisse Härte verleiht. Wäre diese Negation wahr, hätte sich das logische Problem der Kunst ebenfalls gelöst: Denn die Mühen der Herstellung, das Produziertsein durch einen Einzelnen dürfen keine Spuren im Werk hinterlassen haben, wenn es unmittelbarer Ausdruck des Absoluten sein soll; demgemäß hätte es einen unmittelbaren Anschein, weil die Vermittlung, nämlich geworden zu sein, aufgrund der Idealität nicht mehr zu erkennen wäre.

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Zwar bedürfe die Kunst eines konkret bestimmten Inhalts, um etwas zur Darstellung zu bringen. Allerdings habe die Kunst hier die unmittelba­ re Gestalt dieses Wissens des absoluten Geistes, daher komme es ihr ebenso zu, allgemein zu sein: Das Bewusstsein des Künstlers müsse auf dem geistigen Entwicklungsstand sein, von sich als Individuum abstrahieren und etwas Allgemeines erschaffen zu können. Die schöne Kunst geht im hegelschen System mit der Sittlichkeit der griechischen Polis einher; in dieses Allgemeine fügt sich das Individuum der hegelschen Vorstellung nach unhinterfragt – „ohne die unendliche Reflexion“ – ein (vgl. GW 19/20, § 557). Auf der Seite der Betrachter zeige sich diese Abstraktionsfähigkeit von deren Individualität auf verschiedene Weise im Umgang mit Kunstwerken: Insofern nun aber das Bild des Gottes als unmittelbar vorhandenes ist, so ist das Verhältniß der Andern, getrieben von ihrem ansichseyenden Wesen, im Cultus durch die Andacht, der Versenkung in den Gedanken, ihrer eigenen Subjectivität sich [zu] entäussern, von ihrer besondern Wirklichkeit symbolisch aufzuopfern, und in der Begeisterung und im Genusse sich ihrer Identität mit der Substanz bewußt zu werden, […]. GW 13, § 463

Im § 463 setzt sich Hegel nun mit der kultisch vollzogenen Rezeption der Kunst auseinander, die wie die Arbeit des Künstlers ebenfalls in Form verschiedener Praktiken dazu diene, von sich als Individuum zu abstrahieren und sich einem Allgemeinen unterzuordnen – sei es geistig durch die Andacht oder durch das Verzichtleisten auf sein Eigentum – das Opfer, das vollständig verbrannt wird – als auch „im Genusse“ beim Verzehr des Opfers sowie in der „Begeisterung“ durch den Hymnus oder durch Feste21. Hier macht sich geltend, was Hegel bereits in § 454 für die „freye Entäusserung“ der „subjective[n] Einzelnheit“ in das „Bestehen der sittlichen Substanz“ beansprucht: „alles Daseyn einer Welt als ein Nichtiges und Aufzuopferndes“ zu betrachten. Es ist Hegel zuzugestehen, dass die 21  Vgl. das Kapitel Kunst-Religion in der Phänomenologie des Geistes; insbesondere GW 9, 378–388. Vgl. Platon, Ion, 535 d–e, „Sokrates: ‚Was wollen wir also sagen, Ion? Daß derjenige bei vollem Bewußtsein ist, welcher mit bunten Kleidern und goldenen Kränzen geschmückt mitten unter Opfern und Festlichkeiten weint, ohne von jenen Herrlichkeiten etwas verloren zu haben, oder sich fürchtet mitten unter zwanzigtausend befreundeten Menschen […]? […] Und weißt du wohl, daß ihr unter den Zuschauern gar viele eben dahin bringt?‘ Ion: ‚[I]ch betrachte sie jedesmal oben herab von der Bühne, wie sie weinen und furchtbar umblicken und mitstaunen über das Gesagte.‘“

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Entwicklung des Bewusstseins – der zufolge man zu sich selbst in Distanz treten und sich eine Allgemeinheit denken kann, die einen mit den anderen Individuen verbindet – einen Fortschritt im Bewusstsein darstellt. Das Spezifische und zu Überwindende am antiken sittlichen Bewusstsein ist der Glaube, dies unmittelbar tun zu können. Erst im Vollzug dieses Glaubens, im künstlerischen Schaffen, in der Andacht usf. wird dem Einzelnen bewusst, dass die noch äußerliche Substanz, sichtbar im Werk oder ausgesprochen und vorgestellt im Hymnus, von einem Individuum geschaffen wurde und durch die religiösen Praktiken des Individuums erst ins Bewusstsein, ins Allgemeine erhoben wird. Was das für die Individualität der Individuen bedeutet, verfolgt Hegel nicht; denn systematisch entscheidend ist für ihn hier, dass in diesem Bewusstsein der absolute Geist über die Kunst hinausgelangt (vgl. GW 13, §§ 463 f.). Teilen die Individuen, sowohl Künstler als auch Betrachter, vermittelt über den Kunstgegenstand eine substantielle Vorstellung, erhebe sich auch das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes in dieses allgemeine Medium der Vorstellung, in die geoffenbarte Religion. Diesen linearen Übergang von der schönen zur geoffenbarten Religion wird Hegel bereits 1827 differenzierter fassen. Dort entwickelt Hegel den Zerfall der Kunstreligion, der sich notwendig aus dem Ideal, seiner endlichen Bestimmung als menschlicher Gestalt ergibt (vgl. GW 19/20, § 558 f.) Dadurch wird die geschichtliche Entwicklung der Kunst mit in die systematische Bestimmung aufgenommen. Noch stärker tritt dies 1830 hervor: dort wird Hegel dem Verhältnis von Form und Inhalt nach bis zur christlichen romantischen Kunstform vordringen (vgl. GW 20, § 562). Die Systematisierung der Kunst II [1827 und 1830] Ein offensichtlicher Unterschied der späteren Auflagen zur ersten ist die Veränderung des Titels, obschon die griechische Religion weiterhin maßgebend für das Ideal bleibt. Eine Innovation stellt vielmehr in der dritten Auflage die explizite Einführung eines geschichtlichen Moments durch die drei Kunstformen dar. Diese fügt Hegel aber erst in den hinteren Paragraphen der Kunst ein (vgl. GW 20, §§ 561, 562). Im ersten Paragraph (§ 556) wird sogleich noch eine Veränderung deutlich, weshalb die Systematisierung in einem weiteren Anlauf angegangen werden soll – diesmal mit dem Fokus auf die Fassung von 1830. Im Anschluss an die Entwicklung der Momente der Religion der Kunst stellt die gedrängte und erweiterte Systematisierung der Kunst in den späteren Auflagen einen systematischen Gewinn dar, weil durch die verdichtete Anordnung der Bestimmungen hier nicht deren Genese, sondern deren Zusammengehörigkeit betont wird. Die 1817 nach und nach in den Paragraphen entwickelten Momente werden 1830 im ersten Paragraph der Kunst (§ 556)

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zusammengefasst aufgeführt, wodurch ihre Untrennbarkeit als Momente der Kunst hervorgehoben wird. Nun leitet Hegel aus der Unmittelbarkeit der Gestalt dieses Wissens direkt die Bestimmungen ab, die als subjektive, objektive und absolute Seite der Kunst unterschieden werden können. Hieran zeigt sich, dass der absolute Geist nicht jenseits schwebt, sondern aus der Tätigkeit und Vorstellung von Menschen hervorgeht, in Artefakten erscheint und auf sozialen Strukturen, etwa Kulten, beruht, worauf Hegel in § 453 bzw. 553, also gleich am Anfang der Einleitung, hinweist22. Ist die Gestalt unmittelbar, müsse es „das Moment der Endlichkeit der Kunst“ geben (GW 20, § 556). Darunter fällt auf der objektiven Seite das „Werk“, das eine Äußerlichkeit besitze, auf die Bezug genommen werden könne und die die Betrachtenden miteinander teilen. Das subjektive Moment der Kunst umfasst den Künstler, den „producirende[n]“, als auch die Betrachter. Die Bestimmung der Betrachter belegt die weiterhin bestehende Nähe der Kunst zur Religion, denn die „anschauende[n]“ werden zugleich als „verehrende“ charakterisiert, was nur in einem religiösen Kontext konstitutiv für den Gegenstand ist; in der Kunst generell ist es möglich, aber nicht notwendig. Den subjektiven und objektiven, endlichen Momenten stellt Hegel nun „andererseits“ die Unendlichkeit der Kunst gegenüber, weil sie die „concrete Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes als des Ideals“ darstelle (ebd.). An sich sei der Geist absolut in der Kunst; jedoch gehöre zu dieser absoluten Seite der Kunst auch ein natürliches Moment, ansonsten wäre sie nicht das Ideal23. Hier ist die oben angenommene Analogie zum ersten Schluss, in dem die Natur die „Mitte“ darstellt, aufzugreifen: Hegel sagt dort, die Natur ist „an sich Idee“, aber als Zusammenschließendes, also in ihrer logischen Funktion, ist sie im Verhältnis zum Geist und zum Logischen kein „Selbstständiges“ (GW 20, § 575). Es bedarf, wie im zweiten Schluss gezeigt wird, der Reflexion des Geistes, um die Natur und das Logische zusammenzuschließen (GW 20, § 576)24. Die sinnlich gegebene Vermittlung von Logik, Natur und Geist im Ideal wird laut Hegel in der Reflexion der Religion entfaltet25; es ist im Zuge der Betrachtung der 22  Vgl. meine Ausführung und das Hegel-Zitat auf S. 456. 23  Vgl. oben, S. 461 ff. 24  Auch im dritten Schluss findet sich die Bestimmung, dass der Geist als „Proceß der subjektiven Thätigkeit der Idee“ sei und die Natur wiederum der „Proceß der an sich objektiv, seyenden Idee“ (GW 20, § 577). 25  Hegel zufolge werden beide, Kunst und Religion, letztlich in der Philosophie strukturell begrifflich erfasst und werden somit als Anschauung der unmittelbaren Einheit und reflexiven Entfaltung dieser Einheit zu Momenten der philosophischen Bewegung; vgl. hier S. 460 f. und GW 19/20, § 572 f.

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romantischen Kunst zu überlegen, ob nicht bereits innerhalb der Kunst eine solche Reflexion angelegt sein könnte. Zudem hält Hegel für das Kunstwerk anders als 1817 sogleich fest, dass es die „aus dem subjectiven Geiste geborne[] concrete[] Gestalt“ sei (GW 20, § 556). Dieses Verhältnis zwischen Produzent und Werk ist die notwendige subjektive und objektive Bedingung für die absolute Seite der Kunst: denn das Natürliche erscheine nun nicht mehr als Natur, sondern sei Träger des „Zeichen[s] der Idee“; wobei Hegel auch hier den Urheber dieser Prägung, den subjektiven, den „einbildenden Geist“ nicht unerwähnt lässt (ebd.). Durch das Einbilden – das ist die geistige und handwerkliche Arbeit des Künstlers – ist der Gegenstand als „verklärt“ und nur die „Schönheit“ zeigend anzusehen (ebd.). Dass der Gegenstand trotz seines Produktcharakters, trotz schwerer Geburt, als unmittelbar aufzufassen ist, behandelt Hegel hier im § 560, wo der Umgang mit dem bereits oben aufgezeigten Widerspruch (vgl. GW 13, § 462) zwar verändert, aber erweitert ausgeführt wird. Für den ersten Paragraphen der Kunst sind also bereits die Momente der Art ihres Wissens in Anschauung und Vorstellung, ihres Maßstabs im Ideal, ihrer Produktion, die auch hier mit einer Geburt verglichen wird, und ihrer verehrenden Rezeption festzuhalten. Wie schon im § 556 verdichtet Hegel im § 557 die Argumentation: Er begründet das ‚Ideal‘ direkt durch die Wechselbestimmung von Form und Inhalt, die er 1817 erst als aufeinander aufbauend generiert – „Die sinnliche Aeußerlichkeit an dem Schönen, die Form der Unmittelbarkeit als solcher ist zugleich Inhaltsbestimmtheit“. Daraus folgt auch hier die Bestimmung für den Inhalt: nämlich „Gott“ (GW 20, § 557). Durch die Gleichzeitigkeit der Behandlung von Form und Inhalt wird die Vermittlung, die das ideale Kunstwerk innerhalb seiner selbst zu leisten hat, hervorgehoben. Damit einher geht die Notwendigkeit des göttlichen Inhalts, eine natürliche Bestimmung zu haben; nämlich aufgrund der „Form der Anschauung“, in der er erfasst wird (ebd., meine Herv.). Das erfordert die Verbindung von Geist und Natur im Kunstwerk. Zwar erhält das Sinnliche hier eine Aufwertung, indem es nicht Moment, Ideelles26, einer geistigen Struktur sei: In der sinnlichen Unmittelbarkeit erscheine die „Einheit der Natur und des Geistes“ direkt (ebd.); sie sei somit das Ideal. Allerdings spricht Hegel eben wegen der Natürlichkeit dem Ideal ab, bereits auf dem Niveau des absoluten Geistes zu sein, wo der „geistige Inhalt nur in Beziehung auf sich selbst wäre“ (ebd.).

26  Vgl. oben die Ausführungen zum Unterschied zwischen Ideellem und Ideal in Rekurs auf Hegels Logik, S. 462.

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In einer Art zweiten Teil des Paragraphen wird dies auch von der „subjectiven Seite“ her erläutert, vom antiken sittlichen Bewusstsein aus (ebd.). Das sittliche Bewusstsein wisse zwar sein „Wesen als geistiges“, aber, wie auch seine „substantielle[ ] Freiheit“, sei dieses Wissen ein bloß unmittelbares aufgrund mangelnder Reflexion: nur „Gewißheit“ und noch kein „Gewissen[ ]“ (GW 19, § 557). 1830 greift Hegel am Ende des Paragraphen die „Religion der schönen Kunst“ wieder auf, deren „Andacht und Cultus“ ebenfalls der Reflexion ermangle (GW 20, § 557). Dieser Mangel verweist auf die nach Hegel notwendige Überwindung dieser Bewusstseinsgestalt (vgl. ebd.). Hier macht sich geltend, was Hegel bereits in der Einleitung in § 555 zur Gewissheit des Gottes in Andacht und Kultus vorausschickte: dass das prozesshafte, d.h. reflektierende oder reflektierte, Verhalten zum Gegenstand sich erst systematisch und historisch auf die unmittelbare Gewissheit aufbauend entwickle. Durch Andacht und Kultus entstehe erst ein Bewusstsein des Göttlichen, etwa vermittelt durch die Anschauung des Gottes in einer Götterskulptur. Das Vorstellen ist hier laut Hegel noch einheitlich und unmittelbar; erst die Vorstellungen im christlichen Glauben zeugen von einer reflexiven Struktur, etwa der Vorstellung der Trinität. Werden zu Beginn des § 557 die Momente von Form und Inhalt zugleich eingeführt, geht Hegel im § 558 auf das „Material“ ein – das er 1817 derart nicht behandelt. Entscheidend ist, dass Hegel hier vor allem auf geeignete „Naturformen“ für den Ausdruck des geistigen Inhalts hinaus möchte (GW 20, § 558). Dem entspricht im höchsten Maße die menschliche Gestalt. Allerdings ist es diese Verendlichung der Vorstellung des Absoluten in Form der menschlichen Gestalt, die Hegel im § 559 wieder in der „Einzelnheit des Gestaltens“ aufgreift und die gerade dem absoluten Geist nicht angemessen sei und dazu verleite, beliebig fortgesetzt zu werden27.

27  Jedoch bleibt die „wesentliche Beschränktheit des Inhalts“ Bedingung der Form der „Schönheit überhaupt“ (GW 20, § 559). Obschon Hegel bereits die Momente der Form und des Inhalts im § 557 bestimmt hatte, integriert er in § 559 seine Entwicklung der Form von 1817 (vgl. GW 20, § 559 u. GW 13, § 460). So verweist er auch hier darauf, dass Inhalt und Stoff „von der verschiedensten und selbst unwesentlichsten Art“ sein können; er ergänzt jedoch, dass „das Werk doch etwas schönes und ein Kunstwerk seyn kann“ (GW 20, § 559). In diesem Fall scheint Hegel bereits den Blick über die klassische Kunst hinauszuwerfen, in der gerade der Inhalt wesentlich zu sein habe – wie Hegel 1817 im Anschluss an diese Äußerung ausführt (vgl. GW 13, § 461). Ist aber einmal das Prinzip der geistigen idealen Formung in die Wirklichkeit getreten, scheint im Anschluss daran weiterhin die Möglichkeit zu bestehen, Schönes im formalen Sinne hervorzubringen. Doch ist hier auf eine Gefahr hinzuweisen, die der Kunst droht, wenn sie auf einen Ästhetizismus

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In der ersten Auflage begründete Hegel das Hinausgehen des absoluten Geistes über die Kunst nicht durch die Zurückweisung, dass er in ihr nicht „explicirt werden [kann]“ (GW 20, § 559). Ebenso erwähnt er das Zerfallen der griechischen Religion in eine „unbestimmte Vielgötterei“ nicht (ebd.; GW 19, § 558). Dort entsteht vielmehr der Eindruck eines durch die schöne Kunst hervorgebrachten linearen Fortschritts: Durch das kollektive Vorstellen im Kultus, durch die Teilhabe am Allgemeinen, wird das Göttliche ungebrochen verinnerlicht; durch diese Verinnerlichung geschehe der Übergang zur geoffenbarten Religion (vgl. GW 13, § 463 f.). Gegensätze treten 1817 allein in der Produktion auf (vgl. GW 13, § 462), im Verhältnis zwischen dem Künstler, seinen Vorstellungen und seinem Werk, die nun in § 560 ausführlicher behandelt werden. Mit dem durch die Produktion entstehenden Widerspruch zur Unmittelbarkeit des Werks hebt Hegel auch 1827 und 1830 an – alle drei Auflagen stimmen teilweise im Wortlaut überein: Die Einseitigkeit der Unmittelbarkeit an dem Ideale enthält (§. 556.) die entgegengesetzte, daß es ein vom Künstler Gemachtes ist. Das Subject ist das Formelle der Thätigkeit, und das Kunstwerk nur dann Ausdruck des Gottes, wenn kein Zeichen von subjectiver Besonderheit darin, sondern der Gehalt des inwohnenden Geistes sich ohne Beimischung und von deren Zufälligkeit unbefleckt empfangen und herausgeboren hat. GW 20, § 560; vgl. GW 19, § 560; GW 13, § 46228

1827 begründet Hegel die Seite der Unmittelbarkeit innerhalb dieses „Gegensatz[es]“ erstens mit der „Begeisterung des Künstlers“: denn er werde von einer ihm „fremde[n] Gewalt“ erfasst (GW 19, § 560). Sie sei ein „unfreies Pathos“ und, wie Hegel am Ende des Paragraphen anführen wird, der Künstler „Meister des Gottes“ (ebd.)29. Der Gott bringe sich demnach zwar durch reduziert wird. Rein formale Schönheit kann den geistigen Gehalt, den die Kunst Hegel zufolge transportieren soll, nicht ersetzen. 28  1817 betont Hegel daraufhin den Geburtsschmerz, der dem idealen Kunstwerk vorausgeht; denn in dieser harten Arbeit vollzieht sich die „absolute Entäusserung und Negativität der subjectiven Besonderheit“, d.h. der Künstler setzt seine gesamte Anstrengung daran, sich durch das Werk dem Allgemeinen zu unterstellen und ein dem Gott gemäßes Werk zu erschaffen (GW 13, § 462). Diese drastischen Worte findet Hegel 1827 und 1830 für die Kunstproduktion nicht mehr. 29  Vgl. Platon, Ion, 533 e u. 534 c-d, dort sagt Sokrates: „Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst [τέχνηϛ], sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte […]. Daher auch der Gott nur, nachdem er ihnen die Vernunft genommen, sie und die Orakelsänger […] zu Dienern gebraucht, damit wir Hörer gewiß wissen

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den Künstler zur Erscheinung, aber die fremde Gewalt, das unfreie Pathos ergreife den Künstler und setze seine Bedeutung derart herab, dass in dem Werk selbst auch nur der Gott zum Ausdruck kommen dürfe und das wiederum auf direkte Weise. Zweitens wird die Unmittelbarkeit als „natürliche[]“ ausgewiesen und durch das „Genie“ gerechtfertigt. Hegels Vorlage dafür scheint Kants Konzeption des Genies zu sein30, das laut Kant eine natürliche – und dadurch zufällige – Gabe des Menschen sei. Aufgrund der Kontingenz des Genies und seines natürlichen Talents gehe auch auf das Kunstschöne etwas von der Unmittelbarkeit des Naturschönen über. Jedoch weist Hegel 1827 sogleich auf die andere Seite des Gegensatzes hin: dass die Kunstproduktion „zugleich ein mit technischem Verstande und mechanischen Aeußerlichkeiten beschäftigtes Arbeiten“ ist (GW 19, § 560)31. Gerade die Profanität der technischen Arbeit hebt das Tun des Individuums hervor und Hegel gesteht zu, dass sowohl „freie[] Willkühr“ als auch göttliche Indienstnahme die Arbeit des Künstlers bestimmen (GW 19/20, § 560)32. Der Künstler vereinige also sowohl natürliche Gabe als auch technische Ausbildung. Einerseits scheint er von seiner Vorstellung wie von einer höheren Macht getrieben zu sein, andererseits erfordert die Umsetzung große Anstrengung. Letztlich mag das Werk die Seite, ein vom Künstler Selbstständiges zu sein, enthalten – zugleich ist es ohne Rückbindung an ihn nicht möglich. Die Realisierung des Ideals wird von Hegel im Zuge der Bestimmung der Produktion zumindest andeutungsweise problematisiert: Die in sich absolute, ideale Vermittlung von Geist und Natur im Werk scheint durch das ebenso notwendige Moment der Kunst, der Subjektivität des Künstlers, bedroht zu werden. Weniger deutlich, aber ansatzweise ist 1817 auch ein materieller Hinderungsgrund zu verzeichnen: „Die Vermittlung, durch den Schmerz und die Thätigkeit eines Subjects hindurchgegangen und zur Gestalt gekommen zu mögen, daß nicht diese es sind, welche das sagen, was soviel wert ist, denen ihre Vernunft ja nicht einwohnt, sondern daß der Gott selbst es ist, der es sagt, und daß er nur durch diese zu uns spricht.“ Platon übt bereits Kritik an der Vorstellung der unmittelbaren Gewissheit des Göttlichen und stellt deren Gefahren, etwa der Verwechslung mit wahrer Kunst(-fertigkeit) und Wissenschaft, hier und in anderen Dialogen, bspw. der Politeia, heraus. 30  Vgl. Immanuel Kant, AA V, 306–320, §§ 45–50. 31  Das sieht Kant ebenso, vgl. ebd., 304, § 43. 32  1830 erwähnt Hegel diesen Gegensatz explizit nicht mehr. Stattdessen spricht er dem Künstler Freiheit im Denken zu; die Ausführung dieses Gedankens jedoch unterstehe der Begeisterung. Er übernimmt das 1827 Formulierte fast wortwörtlich, ohne die Bestimmungen als Gegensätzliche herauszustellen; obschon die Freiheit, die „nur bis zum Denken fortgeht“, nicht mit dem unbefleckt empfangenen „Gehalt“ konform zu gehen scheint (GW 20, § 560).

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seyn, ist unmittelbar aufgehoben“ (GW 13, § 462); denn es ist fraglich, ob der Stoff das Verwischen jeglicher Spur der Produktion zulässt. Diesen aufscheinenden Bruch der Idealität in der Produktion reflektiert Hegel in der Bestimmung der Rezeption hingegen nicht. 1817 hatte Hegel in einem deutlich religiösen Kontext ein ideales Verhältnis der Betrachter zum Werk entwickelt: denn vermittelt über die Darstellung des Gottes im Werk, durch das Versenken darin in der Andacht, geraten die Rezipienten im Bewusstsein in eine Einheit; sie haben dadurch Teil an derselben göttlichen Vorstellung. Daran wird Hegel in der knappen Betrachtung der Rezeption im § 561 in den späteren Auflagen nichts ändern. Trotz des zumindest für den Künstler und sein Werk bestehenden ‚Gegensatzes‘ fährt Hegel nämlich im Anschluss an die Bestimmung der Produktion in § 561 mit der im „subjectiven Selbstbewußtseyn vollbracht[en]“ „Versöhnung“ fort: Hier bezieht sich Hegel allein auf die Begeisterung und die dadurch geschaffene Unmittelbarkeit, sodass das subjektive Selbstbewusstsein „ohne die Tiefe und ohne Bewußtseyn seines Gegensatzes gegen das an und für sich seyende Wesen ist“ (GW 20, § 561). Diese Versöhnung ist die Bedingung der „Schönheit in der classischen Kunst“ (ebd.). Der im vorherigen Paragraphen aufgezeigte und objektiv gegebene Gegensatz verhindert dies offenbar nicht, weil er noch nicht Gegenstand des subjektiven Bewusstseins ist. Somit ist das Ideal kein objektiv sinnlich Gegebenes, sondern es ist vielmehr die Projektion der Göttlichkeit auf das Kunstwerk durch den Künstler und die Betrachter. Daher ist es nur konsequent, dass die klassische Kunstform in die romantische übergeht. Die romantische Kunstform ist von dem Bewusstsein geprägt, dass das Geistige, das Innere nicht in der Äußerlichkeit aufgeht (vgl. GW 20, § 562). Um das Wesentliche im Bewusstsein zu verorten, um es sozusagen von außen aufzunehmen, war es jedoch notwendig, die sinnliche Versöhnung anzunehmen. In der symbolischen Kunstform stehe das subjektive Selbstbewusstsein der Natur und seiner Vorstellung ohnmächtig gegenüber33. Die Bearbeitung natürlicher Gegenstände nach Maßgabe einer göttlichen Vorstellung und das Gelingen dieser Formung befreie das Selbstbewusstsein aus dieser Ohnmacht: Die schöne Kunst dagegen hat das Selbstbewußtseyn des freien Geistes, damit das Bewußtseyn der Unselbstständigkeit des Sinnlichen und blos Natürlichen gegen denselben zur Bedingung, sie macht dieses ganz nur zum Ausdruck desselben, es ist die innere Form, die nur sich selbst äußert. GW 20, § 562 A

33  Die symbolische Kunstform wurde bereits oben als Voraussetzung des Ideals der schönen Kunst betrachtet, vgl. S. 475 f.

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Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese Selbstäußerung des Inneren auf einem bestimmten Kult beruht und nicht allein aus dem Gegenstand hervorgeht. Erst auf der Reflexion darauf gründet die romantische Kunst.

Die Kunst und das Absolute

Die gelingende Selbstvermittlung des Geistes ist Anschauung der Kunst, solange diese Religion ist. Das „Bedürfniß“, sich seiner wesentlichen Bestimmung bewusst zu werden, das durch die Vorstellung einer göttlichen Substanz ein religiöses Bedürfnis darstellt, bringt laut Hegel die künstlerische Tätigkeit hervor, sodass diese die Anschauung des Wesens in der Götterskulptur vollende (vgl. GW 20, §§ 561, 562 A). Aus der systematischen Erfassung der Befriedigung dieses religiösen Bedürfnisses nach wesentlicher Erkenntnis leitet Hegel die Momente der Kunst ab: Sie bedarf der subjektiven Seite nach eines Produzierenden und Rezipierender; aus der Produktion und Ermöglichung der Rezeption ergibt sich dann die objektive Seite, das Werk, auf das die beteiligten Subjekte sich beziehen können. Für die absolute Seite, aus der die Forderung des idealen Verhältnisses von Form und Inhalt resultierte, ist zumindest an der Notwendigkeit von Form und Inhalt und deren Verwiesenheit festzuhalten. Erst im Bewusstsein, dass die Bestimmung der Göttlichkeit dieser Anschauung vielmehr von der subjektiven Vorstellung, also wesentlich vom Künstler und Betrachter ausgehe und objektiv eines bestimmten Kultes bedürfe, erfahre die Kunst eine gewisse Eigenständigkeit von der religiösen absoluten Indienstnahme. Den Grad an Eigenständigkeit, den die Kunst erhält, benennt Hegel mit der „Zufälligkeit“ ihrer Form, die nicht mehr unmittelbar den Gott in einer Anschauung hervorzubringen habe (GW 20, § 562). Diese Forderung erfüllt in der Sinnlichkeit allein die Götterskulptur, deren geistiges Moment aber von der ihr vorangegangenen Vorstellung des Künstlers und von der Andacht der Betrachter abhängt. Die Tragödie enthält diese Einheit durch ihren substantiellen Konflikt, den sie aber nur reflexiv ausführen kann. Durch die an die griechische Antike anschließende, wesentliche Bestimmung des Bewusstseins durch das Christentum und die vornehmlichen Sujets des Lebens und Leidens Christi wie der Jungfrau Maria und der Anhänger Christi bleibt auch hier die Bedeutung der Religion für die Kunst vorerst erhalten. Hält man an der von Hegel vorgegebenen Entwicklung des Geistes und der von ihm aufgestellten Bewusstseinsstruktur der christlichen Religion fest, kann die Konzentration der Darstellung des Göttlichen in offenbarenden Texten und Vorstellungen als eine Entlastung für die Kunst aufgefasst

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werden. Die Erkenntnis, die die romantische Kunstform hervorbringt, ist der Ausgangspunkt für das Bewusstsein der Autonomie der Kunst34. Mit der romantischen Kunst scheint somit erst die wirkliche Gestalt der Kunst erfasst zu sein: nämlich in dem Wissen darum, dass der sinnliche Schein des Kunstwerks nicht unmittelbar das Wesen einsichtig macht, sondern dass höchstens die Reflexion des Subjekts auf das Kunstwerk dem Wesen auf der Spur ist. Nichtsdestotrotz entwickelt Hegel in seiner Systematisierung ein normatives Programm für die Kunst, das an der (philosophischen) Wahrheit, der absoluten idealen Vermittlung ausgerichtet ist. Die eher ernüchternde Charakterisierung der romantischen Kunst in der Encyclopädie, dass der „Gott“ dort nur zur „Erscheinung sich herablassend“ dargestellt werde, ist nur im Kontrast zur idealen Norm festzustellen (GW 20, § 562)35. Nun wäre also evtl. Hegel entgegen das Resultat der Systematisierung der Kunst, dass die im Ideal beanspruchte Vermittlung allenfalls durch den Kult, innerhalb dessen Produktion und Rezeption des Werks stattfinden, im Bewusstsein der beteiligten Subjekte wirklich ist. Hegel selbst hält fest: „Damit [mit der schönen Kunst] hängt die weitere, höhere Betrachtung zusammen, daß das Eintreten der Kunst den Untergang einer an sinnliche Aeußerlichkeit noch gebundenen Religion anzeigt“ (GW 20, § 562 A). Allerdings ist laut Hegel die Kunst gerade als „unmittelbare[] Anschauung“ erstes konstitutives Moment der Philosophie in der Erkenntnis des Absoluten (GW 20, § 573). So mag die 34  Hegel schließt an seine Bestimmung der notwendigen „Naturformen“, die allein dem „Ausdruck des geistigen Gehalts“ dienen, in der Anmerkung die Zurückweisung des „Princip[s] der Nachahmung der Natur in der Kunst“ an (GW 20, § 558 u. A) – auch wenn dies nicht dem Bewusstsein des antiken Bildhauers entsprechen dürfte. Adorno merkt im Kontext der Diskussion um die Autonomie von Kunstwerken an, dass Vasari in seinen „Künstlerbiographien […] an den Malern der Renaissance ihre Fähigkeit, die Natur nachzuahmen, also ähnliche Porträts zu liefern, als besonders rühmlich hervorhebt. Seit der Erfindung der Photographie ist diese mit praktischen Zwecken verfilzte Fähigkeit in der Malerei stets gleichgültiger geworden […]. Aber schon Valéry hegte den Verdacht, als dankte jene Malerei ihre ästhetische Authentizität eben dem, daß sie noch nicht auf einen chemisch reinen Begriff des Ästhetischen vereidigt war; als gedeihe Kunst als Kunst am Ende nur dort, wo sie gar nicht sich selbst als Kunst ambitioniert […]“ (Adorno 2003, 131 f.). 35  Ferner enthält diese Formulierung die positive Vorausdeutung der Menschwerdung Gottes. Der Gedanke, dass durch die Darstellung des Gottes in der Kunst zunehmend das Bild des Menschen entworfen werde, bestimmt die Entwicklung des Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes von der „Kunst-Religion“ zur „offenbaren Religion“: Dadurch sei Gott in Jesus zu erkennen. Dieser Gedanke ist leitend für Theunissen (1970) in seiner Kommentierung der Kunst-Paragraphen.

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konsequente Entwicklung des Ideals in der Kunst, mit ihren Gegensätzen, wie sie sich in der künstlerischen Produktion zeigten, und dessen historischer Grenze, auch die Wahrheit der Philosophie ausdrücken: Die nicht ideal gelingende Vermittlung von Geist und Sinnlichkeit, Form und Inhalt in der romantischen Kunst scheint die Wirklichkeit gegenüber der Norm hervorzukehren. Der Anspruch einer objektiven Vermittlung im Werk, die subjektiv nachvollzogen werden kann, bleibt aber an jedes Kunstwerk zu stellen, nicht jedoch um aus dem Nichterfüllen dieses Anspruchs das Kunstwerk zu verwerfen, sondern um daraus Erkenntnisse über die Objektivität abzuleiten. So ist auch mit dem philosophischen System Hegels zu verfahren: mit dem Wahrheitsanspruch einer gelingenden Vermittlung ist zu untersuchen, welcher Gegenstand sich dieser Vermittlung widersetzt und aus welchen Gründen; denn ohne diese Norm wären die Brüche in der Vermittlung nicht zu erkennen, sodass sowohl die klassische als auch die romantische Kunst nur gemessen an der idealen Vermittlung denkbar sind. Gemessen an der Vorstellung einer absoluten Vermittlung Kritik zu üben, scheint zudem gerade das immanent kritische Programm Hegels zu sein. Aus diesem Grund dürfte die anfangs erwähnte Schillersche Idylle bestehende Verhältnisse nicht triftig infrage stellen, weil sie eher äußerlich der Wirklichkeit gegenübersteht. Die Autonomie der Kunst, die man aus dem absoluten Geist ableiten kann, ist die Konzeption eines höchst vermittelten Absoluten und nicht eines jenseitigen: Objektiver und subjektiver Geist sind der „Weg […], auf welchem sich [seine] Realität […] ausbildet“ (GW 20, § 553). Was die Kunst mit der Religion gemein, evtl. durch deren Indienstnahme erhalten hat, ist, keinem höheren Zweck untergeordnet, sondern sich selbst höchster Zweck, Zweck an sich zu sein. Die Möglichkeit einer solchen Kunst setzt bestimmte Bedingungen voraus, die der subjektive und objektive Geist zu erfüllen haben. Normativ setzt die Kunst somit ihre Bedingungen selbst – ebenso wie die von Hegel aufgestellte philosophische Vermittlung –, indem sie auf Produzenten und Rezipienten angewiesen ist, die es aushalten können, sich der Funktionalität des objektiven Geistes zu entziehen, sowie auf eine gesellschaftliche Struktur, die ein Moment bewahrt, obschon es nicht notwendig der eigenen Selbstvermittlung dient, sie sogar durch Infragestellung gefährdet. Gethmann-Siefert behält mit ihrer Begründung recht, dass „[z]umindest dem systematischen Stellenwert nach […] die Kunst nicht zu den bloßen Formen der Realisation geschichtlichen Bewußtseins, sondern zu den Formen der reflexiven Gegebenheitsweise solchen Bewußtseins [gehört].“36 Jedoch konzentriert sich Gethmann-Siefert in ihrer Beurteilung der absoluten Bedeutung 36  Gethmann-Siefert 2000, 326.

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der klassischen Kunst auf deren „umfassende[] institutionelle Aufgabe der Stiftung der Sittlichkeit eines Volkes“. Damit wäre die Kunst aber allein dem objektiven Geist verpflichtet37. Ebenso lässt sich das „Bilden eines kritischen Selbstbewußtseins“, das Gethmann-Siefert zufolge von der modernen Kunst ausgehen soll, schwer dadurch begründen, dass die Kunst als „formelle[] Bildung“ in den sittlichen modernen Rechtsstaat in Hegels Rechtsphilosophie integriert wird38: Gerade in dem von Gethmann-Siefert herangezogenen § 187 geht es jedoch um das affirmative Hineinbilden in die bürgerliche Gesellschaft (GW 14,1, § 187 u. A)39. Im § 557 der späteren Auflagen zeigt Hegel die Verbindung des absoluten mit dem subjektiven und objektiven Geist auf: Das Vorhaben, Gott sinnlich unmittelbar ausdrücken zu wollen, hänge mit der Annahme zusammen, unmittelbar in der Sitte seine Freiheit zu erhalten, ohne auf Selbstbestimmung zu reflektieren. An dieser Stelle mag die über die substantielle Sittlichkeit hinausweisende „subjektive Innerlichkeit“ und deren „unendliche Reflexion in sich“ zukunftsweisend für die Entwicklung der schönen Religion erscheinen (GW 19/20, § 557). Allerdings liegt der Zerfall in der klassischen Kunst selbst: in ihrer begrenzten Auffassung des Geistes, dessen sinnliche, endliche Fortbestimmung eine „Vielgötterei“ erzeugt (GW 19, § 558; GW 20, § 559), sowie im Künstlersubjekt, dessen technische Fertigkeiten und Anstrengung nicht mit der Unmittelbarkeit des Gottes im Werk konformgehen. Die systematische Erkenntnis, dass Wahrheit sich nicht in einer unmittelbaren Anschauung erschöpft und einer reflexiven Entfaltung bedarf, ist nicht nur konstitutiv für die Philosophie, sondern auch für die Ausdrucksformen der Kunst. Die nicht unmittelbar eingängige, gar gebrochene Einheit der Kunstwerke weist einerseits über die absolute Vermittlung hinaus, andererseits bedingt die ideale Vermittlung die weiterhin bestehende Vorstellung der Einheit, ohne die kein Kunstwerk existieren kann. Das Schillersche Drama scheint im Scheitern des Versuchs, sittliche moderne Helden zu erschaffen, wahrer zu sein als die Theorie der Idylle. In 37  Ibidem. 38  Ibidem. 39  Das Kritische der Kunst wäre zudem laut Gethmann-Siefert deren utopische Funktion (s. hier S. 453), die ihr zufolge allerdings Schillers Theorie der Idylle aufzeigt; allenfalls der junge Hegel, etwa im sog. „ältesten deutschen Systemprogramm des deutschen Idealismus“, hänge dieser Vorstellung an; vgl. Gethmann-Siefert 1984, 87, 375 ff. Die Autorschaft dieser Schrift ist jedoch umstritten. Für eine differenzierte und treffende Auseinandersetzung mit der Ambivalenz und Dialektik des Bildungsbegriffs bei Hegel und generell vgl. Helling (i. E.) und Berger 2016.

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ihrer Untersuchung zeigt Gethmann-Siefert auf, dass Hegel Schiller in dessen ästhetischer Erziehung des Einzelnen nicht folgt40. Hegels sittliches Programm findet dagegen Ausdruck in seiner Rechtsphilosophie. Hegel behält mit seiner Kritik an modernen Helden und der Subjektivität in der Romantik insofern recht, als in dem von Institutionen strukturierten Staat der Einzelne an Bedeutung verliert: Helden müssen also an dieser prosaischen Wirklichkeit scheitern. Dass in der institutionellen Vermittlung zwischen Einzelnem und Allgemeinem die Individualität dem Primat des Allgemeinen unterliegt41 und die Vermittlung daher nicht bruchlos aufgeht, bilden dagegen die Künstler in der Unmöglichkeit ab, ein in sich ideal vermitteltes Werk zu erschaffen.

40  Gethmann-Siefert 1984, 384. 41  Das wird auch von Hegel in seiner Rechtsphilosophie deutlich ausgesprochen (vgl. etwa GW 14,1, § 70, § 207 u. A); er verlangt gar die Aufgabe der Einzelnheit bzw. Besonderheit für das Allgemeine (vgl. ebd., §§ 323–326).

Die Kunst der ästhetischen Bildung bei Hegel Francesca Iannelli

Die Bildung und ihre unzähligen Deklinationen

Ähnlich wie der zu ständiger Wandlung fähige Meeresgott Proteus scheint der deutsche Begriff Bildung von einer inneren Dynamik beflügelt, die es schwer macht, ihn zu fassen1. Angefangen bei den theologischen Ursprüngen in der Mystik bis hin zur ästhetischen Wende in der Philosophie des 18. Jahrhunderts und zur pädagogischen Ausrichtung der bildungspolitischen Projekte des 19. Jahrhunderts erweist sich der Begriff der Bildung als innerlich instabil, widersprüchlich, vieldeutig und ausschweifend2. Wenn Meister Eckhart (1260–1328) die Bildung als Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpfen ansieht – und zwar zunächst als Projektion Gottes und in der Folge als Annäherungsprozess der Kreaturen an das Urbild3 –, so wird der Begriff bei Paracelsus (1493–1541) die innere Form aller Dinge bezeichnen, um später, bei Jakob Böhme (1575– 1624), zur Schöpfung als bildschaffender Imagination zu werden4. Es ist aber den Anstößen und theoretischen Herausforderungen zu verdanken, die von einigen Schlüsselbegriffen des englischen Moralphilosophen Anthony Ashley Cooper, des dritten Earl von Shaftesbury (1671–1713), ausgingen, dass der Begriff der Bildung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit vollem Recht zu einem ästhetischen wird. Seine deutschen Übersetzer – allen voran J.G. Venzsky5 – wählten im Deutschen den Ausdruck „innere Bildung“ für den Begriff inward form, und Shaftesbury wurde dank der posthumen Rezeption seiner Schriften zum Begründer einer einflussreichen Bildungskonzeption, die das deutsche Geistesleben von Gottsched bis Wieland, Herder bis Hamann, Kant und Goethe stark beeinflussen sollte6. Die Theorien Shaftesburys stellten 1  Diese wirkungsvolle Metapher stammt vom Hegelianer Gustav Thaulow, vgl. Thaulow 1858. 2  Vgl. als Überblick Lichtenstein 1971 und Zenkert 1998. 3  Für weitere Erläuterungen siehe Gennari 2014. 4  Zu Hegels Deutung von Jakob Böhme vgl. Muratori 2016. 5  Zu Venzskys Übersetzung des Shaftesbury’schen Soliloquy. Advice to an Author (1710) aus dem Jahr 1738, seiner mehr oder weniger bewussten Entscheidung für das Wort “Bildung” sowie die eventuellen platonisierenden Resonanzen siehe Dehrman 2008. Vgl. auch Hager 1993, besonders 201–210. 6  Zum Einfluss von Shaftesbury vgl. Horlacher 2004 und Oelkers 1998. Für weitere Ausführungen zur Aufklärung als Initialzeit der ästhetischen Bildung siehe Zirfas, Klepacki, Lohwasser 2014.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_022

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vorerst jedoch nur eine Vorgeschichte der Bildung dar, insbesondere weil sie keine Weltbildung anstrebten, wie das später bei Herder der Fall sein sollte, da sie nicht auf jeden Menschen, sondern auf die kulturelle Formung der Elite der Gentlemen abzielten7. Es kam erst im 19. Jahrhundert dazu, dass der Begriff der Bildung allgemeine Verbreitung fand – und das vor allem aufgrund der vorausschauenden Bildungspolitik Wilhelm von Humboldts mit ihren tiefgreifenden, beispielhaften Reformen des Gymnasiums und der Universität in Preußen, die auch in Übersee zum Vorbild dienten8. Als Humboldt 1809/10 im preußischen Innenministerium für die Sektion Kultus und öffentlicher Unterricht zuständig wurde, bemühte er sich, den Begriff einer zweckfreien Bildung als umfassende Entwicklung des menschlichen Individuums im theoretischen, praktischen und ästhetischen Bereich als öffentliche Aufgabe durchzusetzen. Natürlich endete dieses Bildungsprogramm, in dem die Klassik und das Studium der Antike eine entscheidende Rolle spielten9, nicht, nachdem Humboldt als Sektionschef nach 16-monatiger Tätigkeit zurückgetreten war, sondern setzte sich 1811 mit der Gründung der Universität zu Berlin fort und kulminierte in der Kunst- und Museumspolitik, die 1830 zur Eröffnung des ersten öffentlichen Kunstmuseums führte und Humboldt als Vorsitzenden in der Museumskommission vorsah10. In diesem bewegten Kontext tritt Hegel mit seinem sowohl theoretischen als auch konkreten Beitrag zum pädagogischen Bildungsideal seiner Zeit auf. Er teilt voll und ganz den neuhumanistischen Ansatz seines Freundes Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848)11. Hegel ist überzeugt, dass das „Paradies des Menschengeistes“ (GW 10.1, 459) in den Meisterwerken der Antike zu finden ist, und daher ein begeisterter Anhänger der Studia humaniora: „sie geben die vertrauliche Vorstellung des menschlichen Ganzen“ (GW 10.1, 498). Es ist Niethammer zu verdanken, der 1808 bayerischer Zentralschul- und Oberkirchenrat geworden war, dass Hegel nach Bayern berufen wurde und von 1808 bis 1816 in Nürnberg die Stelle des Rektors am Ägidiengymnasium besetzen 7  Cocalis 1978, 403. 8  Zur internationalen Resonanz von Humboldts Konzept siehe Maier 2009, besonders 116. 9  Liebsch 2001, 139–160. 10  Weisser-Lohmann 2011. 11  Zur Entwicklungsgeschichte und zum historischen Kontext des Bildungsbegriffes bei Hegel vgl. O. Pöggeler 1980, besonders 253–256. Zur Rekonstruktion der hegelschen Auffassung von Bildung schon vor der Jenaer Zeit siehe G. Gerardi, 2012. Natürlich wäre hier eine weitere Kontextualisierung des Bildungsbegriffs im Deutschen Idealismus (bei Fichte und Schelling) nötig, die aber an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Es sei hierzu auf die Aufsätze von G. Zöller 2009 und P. Ziche 2009 verwiesen.

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konnte12. Diese Tätigkeit, die für die akademischen Bestrebungen Hegels, der im Jahr zuvor, 1807, sein Meisterwerk, die Phänomenologie des Geistes, in den Druck gegeben hatte, demütigend und frustrierend erscheinen konnte, wurde stattdessen zu einer Erfahrung, der er sich mit großer Begeisterung hingab. Er war sich bewusst, dass die Erziehung der Jugend eine unschätzbare Gelegenheit darstellte, die Wirksamkeit der von ihm theoretisch ausführlich behandelten Entfremdungserfahrung auszuloten, die gemäß der sogenannten „spielenden Pädagogik“ seiner Zeit den Knaben erspart werden sollte13. Hegel sah im Studium der klassischen Sprachen, insbesondere des Griechischen, und der Werke der Alten eine erste kostbare Erfahrung von Entfremdung für die jungen Menschen, eine „profane Taufe (…), welche der Seele den ersten und unverlierbaren Ton und Tinktur für Geschmack und Wissenschaft“ gibt (GW 10.1, 459). Wie er in einer Nürnberger Rede vom 29. September 1809 ausführt, haben diejenigen, die versuchen, sich die mit dem Verlust der eigenen Sicherheiten verbundene Mühe zu ersparen, einen hohen Preis zu zahlen: „Ich glaube nicht zu viel zu behaupten, wenn ich sage, dass wer die Werke der Alten nicht gekannt hat, gelebt hat, ohne die Schönheit zu kennen“ (GW 10.1, 459). Bildung ist also unvermeidlich Entfremdung, aber gleichzeitig auch Aufbau und Selbstgestaltung14. Eine oberflächliche „Bekanntschaft mit den Alten“ reicht nicht aus, man muss „in dieser Welt einheimisch“ werden, sich in der Antike verlieren, dort, wo „alle Kunst und Wissenschaft […] entwachsen“ ist (GW 10.1, 456), um erneuert in der eigenen Weltdeutung daraus hervorzugehen. Kein kulturelles Wachstum kann vor sich gehen, ohne dass eine ursprüngliche, von Naivität und Vorurteilen geprägte Dimension zerrissen wird und die eigene anfängliche Gewissheit, die noch nicht Wahrheit ist, verloren geht. Dieser Prozess der unumgänglichen Trennung von Vertrautem ist nach Hegels Auffassung gewöhnlich sehr verlockend für die Jugend, gleich als ob es sich um die Eroberung einer fernen Insel handele (GW 10.1, 461). Doch aus diesen fernen Gefilden muss man sodann nach Hause zurückkehren, und die Bedeutung einer Bildungsreise bemisst sich an der Meisterschaft der Rückkehr. Dass diese begeisterte Vorstellung von der „Macht der Bildung“ (GW 25.1, 40) nicht das Ergebnis einer vorübergehenden Hochstimmung des Gymnasialdirektors Hegel ist, geht aus einem Abschnitt der Berliner Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes vom Sommersemester 1822, also über zehn Jahre später, hervor, in dem der Philosoph auf dem 12  Zur Bedeutung der Literaturgattung der Nürnberger Gymnasialreden, insbesondere zur Nürnberger Rede Hegels, sowie zum Verständnis des Bildungskonzepts vgl. Oelkers 1998. 13  Hoffmann 2009, besonders 88. 14  Vgl. dazu R. Beuthan 2010.

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Höhepunkt seiner akademischen Laufbahn sich nicht scheut, der Schule, und nicht der Universität, den Vorzug zu geben für die weltliche Aufklärung des Individuums, das sich zur Allgemeinheit des Wissens erhebt. So zu lesen in der Nachschrift von Heinrich Gustav Hotho: Die Schule ist der Anfangspunkt der Bildung, wo sich das Individuum für eine allgemeine Bildung zu bilden anfängt. Dieß ist der Ort, wo das Individuum den Trieb des Allgemeinen erhält und die Regulirung seines Wesens, seine Besonderheit nach allgemeinen Betrachtungsweisen anfängt, denn Bildung ist diß, allgemeine Betrachtungsweisen im Individuum geltend zu machen. GW 25.1, 39

Wenn also einerseits die Bildung der Menschheit ein unendlicher Prozess ist, der sich vor dem sozialen Hintergrund der Weltgeschichte ständig weiter ausdehnt und immer neuen Situationen anpasst, dann erweist sich andererseits die lebenslange, nicht fehlerfreie Selbstbildung des einzelnen Individuums, die als Bildung zum Allgemeinen in der Schule anfängt, als unvollendbar, so als ob das Leben jedes Menschen mit dem Protagonisten eines abenteuerlichen Bildungsromans zu vergleichen wäre. Selbst Hegels Meisterwerk der Jenaer Zeit, die Phänomenologie des Geistes, erinnert an einen solchen literarischen Aufbau in seiner ansteigenden Tendenz, die von Gestalt zu Gestalt die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins zu immer höheren Stufen des Wissens darstellt15. Die ständigen Umkehrungen des Blickwinkels erweitern durch die Aufnahme neuer Kenntnisse die Erfahrung des Subjekts und formen es, sodass die Phänomenologie die wichtigsten Etappen der geistigen Bildung, die der westliche Mensch seit seinen Anfängen zurückgelegt hat, zusammenfasst, um in Kants Kritizismus und den Deutschen Idealismus des beginnenden 19. Jahrhunderts zu münden. Auch die progressive Struktur der Wissenschaft der Logik ist für Hegel, wenn auch in einem kaum wahrnehmbaren kategorialen Gerüst, „absolute Bildung und Zucht des Bewusstseins“ (GW 11, 29). Diese dem Bildungsbegriff innewohnende doppelgleisige – universale und individuelle – Entwicklung findet im philosophischen System Hegels und in seinen Berliner Vorlesungen der zwanziger Jahre eine bedeutende Erweiterung im Hinblick auf den subjektiven, objektiven und absoluten Geist. Die Vieldeutigkeit des Bildungsbegriffs behauptet in der Philosophie der Berliner Zeit von Neuem ihren Platz und beleuchtet die Frage der Bildung unter verschiedenen, komplementären Gesichtspunkten: dem privat-persönlichen, 15  Hyppolite 1956, I, 17.

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dem öffentlich-gemeinschaftlichen und schließlich dem universellen, der das gesamte vergangene, gegenwärtige und zukünftige Menschengeschlecht betrifft. Wie Hegel seinen Berliner Hörern mitteilt, hat die individuelle Bildung ihren innerlichen, dunklen Beginn in dem Moment, wo die Urnacht, der Ursprung jedes menschlichen Wesens, verlassen wird. So lesen wir in der von Griesheim angefertigten Nachschrift der Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes von 1825, wie Hegel sich zum traumatischen Augenblick der Geburt äußert: „[D]er Mensch wird geboren, dieser ungeheuere Sprung aus dem vegetativen Leben im Mutterleibe ans Licht ist das, wo er als Mensch anfängt, wo seine menschliche Bildung anfängt“ (GW 25.1, 249). In seiner Überzeugung, dass mit den ersten Momenten des Lebens außerhalb der symbiotischen, mütterlich-geborgenen Dimension, wenn nicht sogar schon früher, und zwar in dem gewaltsamen Übergang, der aus der Dunkelheit ans Licht führt, ein Bildungsprozess einsetzt, der erst mit einem anderen, endgültigen Übergang, der das Leben des Menschen beschließt, sein Ende finden wird, schreibt Hegel der individuellen Bildung offensichtlich einen ungeheuren Wert zu16. Vom gegensatzlosen Leben im Mutterleib zur gegensatzvollen Existenz außerhalb desselben vollzieht sich der uranfängliche Übergang zur Menschlichkeit als Negation der undefinierten Symbiose, die bedeutet, dass im Mutterleib die Seele des Kindes „noch in der Mutter“ lebt (GW 25.1, 65). Schon der Atem individualisiert und trennt. Der komplexe, schillernde Bildungsbegriff wird während der Berliner Zeit weit ausgedehnt und stärker problematisiert, um quer durch alle vielfältigen Dimensionen des Geistes präsent zu sein und nicht nur die private Dimension des subjektiven Geistes, sondern auch und vor allem die intersubjektive, öffentliche Dimension des objektiven und absoluten Geistes zu betreffen. Auf diese Weise erweitert Hegel die Grenzen der in Jena erarbeiteten und in Nürnberg in die Praxis umgesetzten Bildungskonzeption beträchtlich. Wenn nämlich seine Auffassung der Bildung in der Phänomenologie als „eine Komponente seiner Theorie des modernen Individuums im Hinblick auf dessen Selbstbestimmung und Selbstidentifikation“17 zu sehen ist, wie E. Rózsa mit Recht behauptet, so wird der Begriff der Bildung erst in Berlin – genauer: mit den Grundlinien – seine reife, auch wirtschaftspolitische Thematisierung erhalten, sodass Hegel ihr „unendlichen Wert“ (GW 14.1, 164) zuspricht. Diese Erweiterung wird dadurch verständlich, dass Hegel erst in den Berliner Jahren seine Wirtschaftsphilosophie mit der Bildung als einem ihrer Grundelemente 16  Vgl. ähnlich auch die Vorlesungen von 1822 (GW 25.1, 47). 17  Rózsa 2007, 78.

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voll entwickelt. Hier wird es dem Bürger möglich, sich zum rechtschaffenen Bürger zu erheben und seine eigene Perspektive der Privatperson in die einer substantiellen Person zu verwandeln18. Diese Legitimierung des Bildungsbegriffes in der bürgerlichen Gesellschaft, der offensichtlich zu einem allgemeingültigen Begriff wird, erlaubt es Hegel, seine Auffassung der Bildung weiterzuentwickeln und aus der individuellen Dimension der Phänomenologie in die gemeinschaftliche Dimension im Rahmen der Rechtsphilosophie zu erheben. Es ist aber erst in den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1820/21, 1823; 1826; 1828/29), dass diese Bildungsauffassung – eben im ästhetischen Bereich – übernational und global wird19. Die kulturelle und ästhetische Aufwertung des Bürgers zum Rezipienten stellt in der Tat einen bedeutenden Entwicklungsschritt für den Prozess der Erhebung zum Allgemeinen dar, indem die begrenzte, nationale Dimension der bürgerlichen Gesellschaft überwunden wird. Schon in Nürnberg erhoffte sich Hegel in einem am 28. Oktober 1812 an Niethammer gesandten Privatgutachten20, dass das Fach Ästhetik in den Studienzyklus der Gymnasiasten aufgenommen würde, damit die Schüler „mehr Begriff von Metrik“, aber auch von Epos, Tragödie und Komödie bekämen und „mit den vornehmsten Dichtern der verschiedenen Nationen und Zeiten“ (GW 10.2, 827 f.) vertraut würden. Nachdem er sein Amt als Direktor niedergelegt hatte, dehnte Hegel zuerst in Heidelberg und dann in Berlin sein Vertrauen in die Bildung durch Kunst, die über alle regionalen Grenzen hinweg wirkt, auf das gesamte Menschengeschlecht aus, um zu einem geschichtlichen Bewusstsein zu gelangen21. Während Hegel allerdings in Nürnberg noch auf die bildende Kraft des klassischen Erbes konzentriert ist, wird dieser Ansatz in Heidelberg dank der Freundschaft mit dem Orientalisten Friedrich Creuzer sowie durch die Einladungen zu musikalischen Abenden im Singverein von Anthon Thibaut und die Besuche der Bildersammlung Boisserée22 spürbar erweitert. Diese geistigen Erkundungen Hegels in der Heidelberger Zeit bereiteten ihn vor auf eine mutige Auseinandersetzung mit allen damals bekannten Weltkulturen, auch den orientalischen, denen er sich, wenn auch mit einem selektiven Blick, in Berlin widmete23. Vom Fremden zu lernen und sich in das 18  Rózsa 2007, 99–100. 19  Siehe z. B. Kwon 1998. 20   Über den Vortrag der philosophischen Vorbereitungswissenschaften auf Gymnasien. Privatgutachten an Immanuel Niethammer vom 23. Oktober 1812 (GW 10. 2, 823–832). 21  Dazu Giosi 2012. 22  Zu Hegels Konzeption der Musik siehe Olivier 2003. 23  Vgl. Pöggeler 2011, 312.

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Andere zu versenken, war zwar schon der Kern der erzieherischen Botschaft des Philosophen und Gymnasialdirektors Hegel, die sich an seine jungen Schüler richtete, aber das Fremde hatte noch das beruhigende Erscheinungsbild der Wiege der abendländischen Kultur, nämlich Griechenlands im 5. vorchristlichen Jahrhundert und Roms. Erst in den Heidelberger und noch deutlicher in den Berliner Jahren wurde auch die exotischere und fernere orientalische Weltanschauung zum unerlässlichen Teil des Bildungsprogramms für den Westen24. Ziel dieses Aufsatzes soll daher sein a) zu untersuchen, inwieweit die Kunst besonders für den Berliner Hegel Bildung ist; b) die Überlagerung von Kunst und Religion zu bestimmen und die Folgen dieser Verflechtung für die Bildung zu beschreiben; c) die Bedeutung der alles durchdringenden ästhetischen Bildung in einer vor-staatlichen Dimension (wie in den homerischen Epen) zu betrachten, um zu zeigen, d) welche Wirkungen sich in der nach den Prinzipien der christlichen Bildung gestalteten Moderne und auch, wenn die Kunst sich in eine vom Staat geregelte Gesellschaft einpasst, ergeben; schließlich f) die Bedeutung der Bildung zum Allgemeinen durch Kunst in der Moderne zu erforschen, um abschätzen zu können, g) ob die Ästhetik noch einen unverzichtbaren Beitrag zur heutigen Bildung der Humanität liefern kann, wobei sich, wie Hegel sagt, die ästhetische Bildung von der theoretischen und der praktischen klar unterscheidet.25

Bildung durch Kunst

Etwas provokativ würde ich die Behauptung aufstellen, dass für Hegel jedes Kunstwerk in gewisser Hinsicht Ausdruck von Bildung ist. Nicht nur in dem augenfälligsten Sinn, dass ein Kunstwerk den Geschmack und das Empfinden einer bestimmten geschichtlichen Epoche widerspiegelt und damit ein wertvolles, potenziell ewiges Zeugnis für das, was war, darstellt. Es geht vielmehr 24  Siehe z. B. Gethmann-Siefert, Stemmrich-Köhler 1983 sowie Kwon 2001. 25  Das tut Hegel in § 197 der Grundlinien, wo er die Dimension der theoretischen Bildung als „eine Beweglichkeit und Schnelligkeit des Vorstellens“ definiert. Dagegen führt er in Bezug auf die praktische Bildung aus: „Die praktische Bildung durch die Arbeit besteht in dem sich erzeugenden Bedürfnis und der Gewohnheit der Beschäftigung überhaupt, dann der Beschränkung seines Tuns, teils nach der Natur des Materials, teils aber vornehmlich nach der Willkür anderer, und einer durch diese Zucht sich erwerbenden Gewohnheit objektiver Tätigkeit und allgemeingültiger Geschicklichkeiten.“ GW 14.1, 168. Siehe auch Fees 1996.

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um Bildung in einem tieferen Sinn. Um ein Kunstwerk zu schaffen und aufzunehmen, muss auf den eigenen „bloß sinnlichen, natürlichen Willen“ eine mehr oder weniger entschiedene Form von „Gewalt“ ausgeübt werden, die unserer „Besonderheit des Willens“ (GW 27.1, 65) Einhalt gebietet. Dieser auf ihn selbst ausgeübten Gewalt unterzieht sich in erster Linie der Künstler, weil nach Hegels Auffassung das Kunstwerk durchaus nicht einer oberflächlichen Beschäftigung oder einem Spiel entspringt, sondern eine gründliche Bildung der künstlerischen Empfindung und Fähigkeit voraussetzt, ebenso beim Rezipienten, der seinen ursprünglichen Instinkt, die Welt zu leugnen, hemmen muss. Die freie Phantasie steht sicher am Beginn der Kunstschöpfung. Der Künstler ist jedoch nicht, in äußerster Anarchie, auf sich allein gestellt, denn das Kunstwerk muss „die höchsten Bedürfnisse des Geistes“ (GW 28.1, 223) ausdrücken und darf daher keine zufälligen oder vom dargestellten Inhalt völlig unabhängigen Formen annehmen. Im Substanziellen selbst findet der Künstler die Grenzen seiner Ausdrucksfreiheit, weshalb er sich in seiner Inspiration nicht so weit treiben lassen darf, dass es zu einer übertriebenen Selbstbezüglichkeit kommt, wie es heutzutage oft der Fall ist. Das Kunstwerk ist also (zu Hegels Zeiten noch mehr als heute) das Ergebnis eines gewissenhaften künstlerischen Entwurfs und setzt auch für den Rezipienten eine Form innerer Bildung voraus: Wenn für die Produktion die geniale Inspiration des Augenblicks nicht ausreicht, sondern eine strenge Disziplin vonnöten ist (GW 28.1, 227), dann wirkt auch die Betrachtung formend und verfeinert das Gemüt. Jedes Kunstwerk, nicht nur die großen Meisterwerke der weltweiten Kunstgeschichte, ist daher Bildung, weil es vom Rezipienten verlangt, sich selbst und seine instinktiven Bedürfnisse zu vergessen und einen freien Blick auf die Welt zu werfen. Das künstlerische Bestreben unterscheidet sich daher vom theoretischen, weil es nicht darauf aus ist, die Dinge der Welt zu übersteigen, um zu einem abstrakten Allgemeinen zu gelangen, das diese deuten könnte, sondern mit Gefallen bei den weltlichen Dingen verweilt, die in ihrer Individualität als Werke weiterbestehen. Die ästhetische Bildung ist daher Bildung durch das Sinnliche, welches allerdings in der schöpferischen Arbeit des Künstlers vergeistigt wird26. Tatsächlich hat das Kunstwerk bei Hegel einen paradoxen Status: es ist auf das Sinnliche gestützt, es wird von unseren Sinnen aufgenommen, aber es richtet sich immer und ausschließlich an den Geist und nicht an die 26  In der Kunst ist das Sinnliche nicht als solches präsent, sondern als „vergeistigtes Sinnliches“. Aber es kann auch der Fall auftreten, dass ein geistiger Inhalt in einer sinnlichen Form als „versinnlichtes Geistiges“ ausgedrückt wird (GW 28.1, 236).

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Sinne, wenngleich diese für seine Schöpfung und Rezeption unerlässlich sind. Die Kunstwerke werden nämlich von Hegel mit „sinnlichen Schatten“ verglichen (GW 28.1, 236), denn ihre ontologische Konsistenz ist sozusagen weicher als die der realen Dinge, aber da der Schein gleichzeitig „sinnliche Oberfläche“ ist und daher nicht in jeder Beziehung die Logik der Endlichkeit teilt, die das Endliche erniedrigt, ist er potenziell zur Unsterblichkeit bestimmt. Das Sinnliche ist also im Werk vorhanden, aber nicht mit der für die wirklichen Dinge typischen ontologischen Härte, es ist nur „Erscheinen des Sinnlichen“ beziehungsweise „Gestalt“ (GW 28.1, 235). Gerade da die Kunst diesen Sonderstatus hat, kann sie von der brutalen Logik der Begierde, die das tägliche Leben beherrscht und herabwürdigt, befreien, indem sie eine andere als die gewöhnliche Dimension eröffnet, in der der Rezipient sich seiner selbst und seiner Zeit bewusst wird. Aber dazu muss es ihm gelingen, den Instinkt zu überwinden, sich die Dinge der Welt anzueignen und zu konsumieren. Darin scheint die Kunst sich geistig der Arbeit anzunähern, wie sie Hegel meisterlich in der berühmten Dialektik von Herr und Knecht in der Phänomenologie beschreibt. In seiner offensichtlich demütigenden, untergebenen Lage emanzipiert sich der Knecht durch die Arbeit, während der Nichtstuer, der Herr, sich damit begnügt, das zu genießen, was ein anderer für ihn schafft. Der Knecht gelangt zu einer aus der Übung der Selbstbildung resultierenden geistigen Befreiung, denn die Arbeit ist für Hegel nichts anderes als „gehemmte Begierde“, Selbstbeherrschung und Beherrschung der eigenen Triebe, die „bildet“ (GW 9, 135). Der Künstler muss sich wie der Knecht der Disziplin und der Übung unterwerfen, denn, so genial er auch sein mag, er kann nicht von der mühevollen Übung absehen, die es ihm einzig erlaubt, die Technik zu beherrschen27. So muss sich auch der Rezipient innerlich vorbereiten und aus der verrohenden Logik des gewöhnlichen Lebens heraustreten, um die schon von Kant hervorgehobene Fähigkeit zu erlangen, die Welt mit einem paradoxalen uninteressierten Interesse zu sehen28. Nur so wird der Mensch innerlich von der ästhetischen Erfahrung geformt, die andernfalls im Verborgenen verbleibt, sei es oberflächlich im Hinblick auf den einfachen „Mann von Geschmack“, sei es bei dem gelehrteren „Kenner“ (GW 28.1, 232), der zuweilen zum gierigen Sammler verkommt und damit das Werk zum Ding degradiert. Wir können also behaupten, dass jegliches Kunstwerk potenziell Bildung ist, weil in der ästhetischen Erfahrung der natürliche, instinktive Impuls zu 27  Auch das Genie muss sich bilden, die Inspiration reicht nicht aus. Dazu Cecchinato 2013. 28  Schon Kant sprach von einem „Wohlgefallen oder Missfallen ohne alles Interesse“, vgl. Kant [1790] 1913, 211.

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besitzen, der das tägliche Leben belastet, gelöscht wird. Die Kunstschöpfung erinnert somit den Menschen daran, dass er zum Geistigen bestimmt ist und zwingt ihn, den brutalen Trieb, die Dinge zu zerstören und zu konsumieren, zurückzuhalten.

Die antike Kunst als Verschmelzung der ethischen und ästhetischen Bildung

In den Anfängen der Weltgeschichte war die Kunst allerdings so sehr mit der Religion verflochten, dass sich ihre Bestimmung als ästhetische oft mit der ethischen Bildung überschnitten hat: „Die ersten Kunstwerke sind Mythologien“ (GW 28.1, 336). Dieses komplizierte Ineinander der Domäne der Kunst und der des Heiligen löst sich erst im Laufe langer Jahrhunderte auf. Natürlich muss aber präzisiert werden, dass nicht alle älteren Kulturen in der Kunst Trost und Selbstverständnis gefunden haben. Die indische, im Traum versunkene Welt hat zum Beispiel vor allem durch die Religion versucht, zu Bewusstsein zu gelangen. Die Religion war ein Versuch, die schwebende Traumdimension zu überwinden, in der Hoffnung, das Wesentliche zu erreichen (GW 27.1, 171). Die Kunst war zwar vorhanden – was etwa in den Ausgrabungen von Elora (GW 27.1, 191) oder in der Dichtung bezeugt ist –, aber sie konnte innerhalb der archaischen indischen Bildungsform keinen entscheidenden Beitrag leisten. Sie war selbst aus dem absolut abstrakten Verständnis der Religion ausgeschlossen. Wenn Gott als der allgegenwärtige Eine, Brahma genannte, angesehen wurde, der sich jedem intellektuellen Verständnis, jeder Darstellung und jedem sinnlichen Kult entzieht (GW 27.1, 175), dann implizierte dies die Unmöglichkeit, dass die Kunst das Wesentliche erfassen könne (GW 27.1, 267). Aber Hegel unterstreicht jenseits des Umstands, dass die Inder der Kunst nicht zutrauten, das Wesentliche zu enthüllen, dass es manchmal ausschließlich die Kunst ist, die Zeugnis von der Religion eines Volkes ablegt (GW 28.1, 222)29, da die antiken Kulturen ihre heiligsten und verehrungswürdigsten Werte in Kunstwerken zum Ausdruck brachten. Die Kunst ist das vorzügliche Mittel, mit dem ganze Kulturen sich ausdrückten, und die Kunstwerke sind „Schlüssel von der Weisheit bei vielen Nationen“30. Vor allem im Anfangsstadium, wenn die Bildung sich festigt, kann die Kunst die wichtige Funktion einer Milderung der Barbarei annehmen (GW 28.1, 240). Als Lehrerin der Völker (GW 28.1, 242) hat die Kunst die Menschen erzogen, indem sie die 29  Hotho 1823, Ms. 4, 5. 30  Hegel/Gethmann 2004a, 51.

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seit Urzeiten vorhandene Rohheit dämpfte und das Empfindungsvermögen der ältesten Kulturen verfeinerte. Diese Milderung des Gemüts wird durch den Prozess der Widerspiegelung ermöglicht, den die Kunst in Gang setzt. Die ersten Kulturen lebten „noch in dem Zustand der Poesie“, weshalb ihre symbolischen Ausdrucksformen das Ergebnis eines mühevollen Selbstverständnisses „in der Weise der Phantasie“ (GW 28.1, 334) und nicht vielmehr eine nüchterne Entscheidung im Sinne eines höheren philosophischen Verständnisses waren. Das in jeder Hinsicht zu einem Kunstwerk gestaltete Ägypten (GW 27.1, 249) erscheint in Hegels Augen als wunderbares Land, in dem der künstlerische Ausdruck dominiert und unerlässlich wird, sei es für das spätere Verständnis der altägyptischen Kultur, sei es für die Bewusstwerdung der Ägypter selbst: „[I]n dem im natürlichen befangenen Geist, hier auf diesem Standpunkt ist die Kunst die nothwendige Weise sich sich selbst zum Bewußtsein zu bringen, sich sich zu verständigen“ (GW 27.1, 267). Hegel hält Ägypten für „das Land des Kampfes, der Dialektik, das Land der Aufgabe“ (GW 27.1, 278), das in einem ständigen Bemühen um Ausdruck steht, der jedoch auf hybride Gestalten beschränkt bleibt, in denen das Geistige noch unterdrückt ist. Das Symbol der ägyptischen Welt schlechthin ist die Sphinx, eine Doppelgestalt, in der das Tierische noch nicht gebändigt ist. In Ägypten herrscht eine unaufhörliche Suche nach einer höheren Geistigkeit, die höchstens in der Pyramide eine unvergängliche Wohnstätte findet, wo der Geist in seiner Kristallisierung (GW 28.1, 256 und 350), nämlich als Verstorbener anwesend ist. Der Geist ist in der Dunkelheit der Pyramiden versiegelt oder ist mühsam in rätselhaften Hieroglyphen in den Stein gehauen (GW 27.1, 267 f.). Die Kunst befördert also das Selbstverständnis der antiken ägyptischen Welt und ihrer heiligsten Werte, wie den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und das Totenreich im Jenseits. Aber der Geist erscheint noch von einem eisernen Band (GW 27.1, 250) verdunkelt und in seinem Aktionsradius und seiner Schöpfungskraft eingeschränkt. Die lichte, die klassische Kunst ist zwar (in der Bindung an den symbolischen kulturellen Hintergrund) weiterhin unterschwellig mehrdeutig, aber sie ermöglicht eine ästhetische Widerspiegelung auf höherer Ebene, zeigt das Individuum im Einklang mit der Welt, und der Eindruck der Ausgewogenheit verschafft ihm Genuss, Stärkung und geistige Nahrung. In diesem Zusammenhang kann man nicht umhin, an den unschätzbaren Wert der homerischen Epen zu erinnern. Nach Hegels Ansicht war Homers Dichtung „die Bibel“ für die Griechen, „aus der sie alle Moral schöpften“ (GW 28.1, 498). Die Kodifizierung der Ethik hatte in Griechenland einen vorrangig poetischen und ästhetischen Ursprung, da die Kunst Kunstreligion war, in der ein vollkommenes Gleichgewicht von äußerer Form und Inhalt, von Sinnlichem

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und Geistigem erreicht war. Das Dichten wird mit der Exegese eines Priesters vergleichbar: „Der Dichter ist der Ausleger, der Priester selbst“ (GW 28.1, 398 f.). Er muss in seiner Inspiration eine überzeugende Erklärung für den Willen der Götter liefern, wie es etwa zu Beginn der Ilias geschieht, wenn die im griechischen Feldlager herrschende Epidemie vom Seher Kalchas als Zorn des Apoll gedeutet wird (GW 28.1, 399). Phantasie und Empfindungsgabe des Dichters vermitteln die für das soziale und moralische Verhalten des Menschen nötigen Ermahnungen und Lehren. Homers unsterbliche Verse waren die geistige Nahrung für eine ganze Welt: „Muttermilch“ (GW 27.1, 283), durch welche sich das griechische Volk großgezogen hat. In ihren ersten epischen Werken erschien die griechische Kunst also als poetische Bildung, die imstande war, durch das Wort Werte zu vermitteln, die von der Gemeinschaft geteilt wurden. Sie war von daher inhaltliche Bildung. Die (vor allem epische) Dichtung tritt als freie, übergreifende künstlerische Ausdrucksform auf, die schon in ihren Anfängen Höhepunkte erreichte, ohne dass sie einen klar umschriebenen, gegliederten gesellschaftlichen Kontext gebraucht hätte. Alles, was sie brauchte, war die Stimme und die Inspiration des Dichters31. Hegel unterscheidet nämlich bei den Ausdrucksmöglichkeiten zwischen der Dichtung und der bildenden Kunst. Letztere ist eher an einen bereits vorhandenen kulturellen Kontext, an eine zu einem zivilen Zusammenleben fähige Gesellschaft gebunden. Wenn die Kunst also nur in staatlichen Verhältnissen gedeihen kann und gefördert wird, bringt nach Hegel bereits die Sprache selbst eine Verstandesbildung mit sich32. Unabhängig von der historischen Stufe, die die Zivilisation erreicht hat, ist die dichterische Sprache selbst also Bildung: Bildung einer Welt.

Bildung der Körper und Bildung der Welt

Die Welt der Griechen erscheint dem Berliner Hegel als Reich der Jugend des Geistes und der allgemeinen Schönheit, die durch das poetische Wort und durch den Kult des Äußeren und des Schönen die für alle verbindliche kulturelle Atmosphäre schuf. Noch bevor die unerschütterlichen Statuen der Gottheiten des griechischen Pantheons verehrt wurden, suchte sich die schöne Kunst ihren Ausdruck in der Gestaltung des eigenen Körpers, der athletisch und zur Skulptur wurde. Die griechische Bildung ist von daher Bildung durch die Sprache und durch den Körper. In diesem Wunsch, die eigene Körperlichkeit 31  Werke 12, 93. 32  Werke 12, 93.

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zu gestalten, noch bevor sie in Marmor gehauen wurde, zeigt sich eine bedeutsame Erfahrung: eine ästhetische Bildung durch das Körperliche, das selbst zum Kunstwerk wird. Im sportlichen Spiel, im Kampf, im Diskuswerfen machte der Grieche über den Triumph der Schönheit und der Körperkraft eine erste persönliche Erfahrung der Selbstbildung. Ehe sie unsterbliche Kunstwerke schufen, hatten die Griechen sich selbst in der „Ausbildung des Körpers“ (GW 27.1, 303) zu lebenden Kunstwerken gemacht. Diese Therapie durch das Schöne war jedoch an sich schon dadurch beschränkt, dass sie die tiefere, widersprüchliche (und oft nicht schöne) Natur des Menschen verdrängte, die bei den Griechen erst in der Tragödie und nicht schon in der strengen Plastik ihre verhängnisvolle Legitimierung finden konnte (GW 27.1, 308). Das offensichtliche Fehlen ausdrücklicher Hinweise auf Kunstwerke in den Homerischen Epen (GW 27.1, 303) wird durch überall auftauchende ästhetische Züge kompensiert: im griechischen Feldlager gibt es z. B. Ornamente, Schmuck und Verzierungen der Waffen. Der Schild des Achilles ist aber kein Kunstwerk im engeren Sinn. Als echte Kunstwerke erscheinen in den Augen Hegels stattdessen die Wettkämpfe, die bei der Bestattungsfeier zu Ehren des Patroklos abgehalten werden. Die Kunst ist also lebendig, wird gelebt, sie existiert im menschlichen Körper, dessen Gestalt an der Anmut und nicht am Bedürfnis orientiert ist. Auf die gleiche Weise sind die poetischen Gestalten in ihrer durch und durch ästhetischen Existenz lebende Kunstwerke. Die Ikone der heroischen Welt ist sicher Achilles, der sich unter den Homerischen Helden durch seine Unabhängigkeit (GW 28.1, 292), aber auch die Vielseitigkeit seines Charakters und seiner zwischenmenschlichen Beziehungen auszeichnet (GW 28.1, 313). Ausgesprochen künstlerisch ist schließlich das Leben des Odysseus in seinem Umherirren, dessen ideales Gegenstück in der Intimität seines Hauses und des von ihm selbst geschreinerten Ehebetts zu sehen ist. Odysseus prägt seine Welt, er reagiert nicht nur auf seine Bedürfnisse. Das von ihm selbst mit Intarsien versehene Bett, das er aus dem riesigen Stamm eines tief in der Erde wurzelnden Olivenbaums gefertigt hat, um den herum er sein Haus gebaut hat, dieses Bett ist mehr als ein einfaches Möbelstück. Aber diese ästhetische Bildung seiner selbst und seiner Umwelt hat auch moralische Züge. In der pfleglichen Fertigung seines Bettes steckt die Metapher der sorgfältig entfalteten, fest verwurzelten, beständigen ehelichen Liebe. Die ausführlichen Beschreibungen in den Homerischen Epen vermitteln verbindliche Werte wie Liebe, Freundschaft und Tapferkeit im Tod. Sie bieten ein dauerhaftes Zeugnis dafür, was die griechische Welt war (GW 28.1, 501), aber sie spenden auch der späteren Kunst und Religion Nahrung und Schöpferkraft. Um eines der sieben Weltwunder der Antike zu schaffen, holte sich der Athener Phidias die Inspiration eben aus den Versen der Ilias (I, 528–530). Homer ist

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also nicht nur Zeuge, sondern auch Urheber der ästhetischen und religiösen Zukunft der Griechen. „Phidias nahm seinen Jupiter aus dem Homer“ (GW 28.1, 374), während „Herodot sagt: Homer und Hesiodus hätten den Griechen ihre Götter gegeben“ (GW 28.1, 381). Die griechische Bildung realisiert sich also in einem breiten Spektrum: sie ist ursprünglich poetisch und wird allmählich auf den Lebensbereich bezogen; so ist sie auch ethisch und vor allem visuell. Mit den Bildhauerwerken liefert die griechische Welt eine Erziehung zum Schönen, die durch die Strenge der Formen und die unbefleckte Reinheit des Marmors erreicht wird: in der Kunst werden religiöse und gemeinschaftliche Werte vermittelt. Dabei darf jedoch der unersetzliche Beitrag des Tragischen und des Komischen nicht übersehen werden. Der griechische (und auch der heutige) Mensch gelangt, jenseits von der Betrachtung der schönen Formen der Skulptur, zu einer vollständigeren Sicht seiner selbst erst durch die Ausdruckskraft der tragischen Dichtung, die eine Reihe von überwältigenden Spiegelungen in Gang setzt. Der natürliche Egoismus des Menschen wird dann durch die komische Kunst besänftigt, die ihm seine niedrigen Leidenschaften, seine beherrschenden oder bedrückenden Instinkte und Impulse vorhält. Der Mensch, der sieht, wie armselig und abscheulich er sein kann, erkennt sich und empfindet seine Niederträchtigkeit nicht mehr als unvermeidlich. Im tragischen und komischen Kunstwerk nimmt der Mensch seine Grenzen und Fehler, Wahnvorstellungen und Phobien wahr. Man könnte zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die bildende Fähigkeit der Kunst mit der von den tragischen Konflikten erschütterten und zerstörten Welt des Schönen ihr Ende findet. Das wäre jedoch voreilig. Sicher wird die klassische Schönheit unübertroffen bleiben, aber die ästhetische Bildung der griechischen Welt ist noch beschränkt, da sie zu sehr mit der Religion und der Ethik verbunden ist. Auch die spielerische, respektlose Komik, mit der Aristophanes die in Athen umgehende Verrücktheit verspottet, ist letztendlich eine Kritik an der Religion und dem Werteverfall (GW 28.1, 403). Die ästhetische Bildung der Griechen geht also unter und lässt sich nicht einfach in der Gegenwart hervorziehen. Die Möglichkeit einer weiteren ästhetischen Bildung bleibt aber bestehen, obwohl die Weltanschauung, die sich nach der Antike durchsetzt, über die für die Griechen wesentliche ästhetische Dimension hinaus zu zielen scheint.

Die Anfänge der Moderne: die christliche Bildung

Die voreilige Folgerung, dass nach dem Untergang des Griechentums eine ästhetische Bildung nicht mehr möglich sei, scheint eine Bestätigung in dem

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Umstand zu finden, dass die für das Gedeihen der (schönen) Kunst günstigsten historischen Verhältnisse nach Hegels Ansicht in der Mitte zwischen dem idyllischen Zustand der Anfänge (als der Mensch in perfektem Einklang mit der Natur in einem hypothetischen, müßigen goldenen Zeitalter ohne große geistige Impulse lebte) und der bürgerlichen, von Unbehagen und sozialem Missverhältnis belasteten Gesellschaft liegen. Die goldene Zeit der Kunst ist ohne Zweifel der vor-staatliche Zustand, in dem die Handlungsautonomie und die schöpferische Willkür noch möglich sind (man denke an Achilles oder später an El Cid Campeador). Die Heroenzeit des antiken Griechenland und der mittelalterlichen Ritterwelt ist aber vorbei: Goethe zeigt uns das beispielhaft an einem Märtyrer der Rechtschaffenheit wie Götz von Berlichingen, der an der Schwelle der verdorbenen modernen Epoche lebt, in der es keinen Platz für das heroische Handeln mehr gibt: „Götz und Franz von Sickingen sind Heroen, sie wollen durch ihre Persönlichkeit bestimmen. Es ist der große Sinn Goethes, aus dieser großen Zeit das Thema geschöpft zu haben, wo das Heroische, das Adlige im Gegensatz gegen die objektive Ordnung tritt.“33 Zur Zeit seiner Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst ist Hegel sich folglich voll bewusst, dass das Heroische, der Nährboden für die Verwirklichung des Ideals und der Schönheit, im bürgerlichen Zeitalter nach und nach ausdorrt (GW 28.1, 290). Aber er flüchtet deswegen weder in nostalgische Sehnsucht nach der Welt der Griechen, noch hofft er, dass das Griechentum wieder zum Leben erwachen, und dass die Zukunft des inzwischen Vergangenen sich als noch fruchtbarer als die Klassik selbst erweisen könnte. Die ästhetische Bildung der Griechen ließ sich nicht einfach nochmals in der Gegenwart hervorziehen, wollte man sich nicht einer leblosen Hülle der Schönheit gegenübersehen. In der Antike konnte sich eine Gemeinschaft insgesamt in den Kunst­ schöpfungen ihrer Zeit widerspiegeln. Dieser kollektive Zauber ist zur Zeit Hegels nicht wiederholbar, ganz zu schweigen von unserer Zeit. Der Hauptgrund dafür ist, dass es in der Moderne kein globales Fühlen mehr gibt. Die Zersplitterung der Gesellschaft macht eine kollektive Empathie, wie sie die Zuschauer einer antiken Tragödie empfanden, unmöglich. Im Übrigen ist in der Moderne im Wesentlichen der Gedanke vorherrschend und das Sinnliche, ohne das die Kunst nicht auskommt, tritt in den Hintergrund. Der moderne Abstand zum Sinnlichen ist sicherlich ein Erbe der christlichen Bildung und Religion: „In der höhern Religion des Geistes ist die Kunst ein Untergeordnetes, nicht die absolute Weise, wodurch das Bedürfniß des Verstehens sich seinen Inhalt darstellig macht“ (GW 27.1, 267). Angesichts der ungeheuren Menge 33  Vgl. Hegel/Gethmann 2004a, 88.

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vom Christentum inspirierter und uns überlieferter Kunstschätze mag diese Behauptung paradox erscheinen: man denke an die religiösen Gemälde, die unsere, besonders die italienischen Kirchen schmücken, an die Kirchenmusik, an den Kirchenbau in ganz Europa. Dennoch ist Hegel kategorisch in seiner Auffassung, dass die christliche Religion und die Bildung, von der die westliche Welt durchdrungen ist, in der Kunst keinen angemessenen Ausdruck finden. In einem Vergleich mit der klassischen griechischen Bildung, wo die Religion sich in der schönen Kunst ausdrückte, erscheint die christliche Bildung an und für sich antikünstlerisch. Der Kern der christlichen Botschaft ist eine Negation des Sinnlichen. Die überirdischen Prinzipien des Christentums sind mit dem Sinnlichen nicht ausreichend „verwandt“ und „freundlich“ (GW 28.1, 223). Dieses christliche Desinteresse am Sinnlichen lässt dieses aber paradoxerweise erscheinen, wie es ist: „[D]as Interesse der classischen Kunst, ganz in der Leiblichkeit zu erscheinen, ist verloren; und somit die Äußerlichkeit ein mehr gleichgültig äußerliches, das zu idealisiren die Seele nicht mehr nötig hat, und es daher, wie sie es zufälliger Weise unmittelbar vorfindet, läßt.“ (GW 28.1, 413). Das Sinnliche als Träger der Kunst bedeutet für die christliche Bildung, die revolutionäre Werte wie die Menschwerdung und die Auferstehung Jesu vermittelt, eine Einschränkung. Während in der Klassik das Sinnliche verherrlicht wurde (GW 28.1, 403), wird es im Christentum getötet: „Bei den Griechen ist die Sinnlichkeit nicht gestorben und getödtet, sondern ist geblieben, denn sie sind nicht bis zur freien Geistigkeit fortgegangen, haben den Gegensatz nicht bis zur Tiefe fortgetrieben und ausgesöhnt“ (GW 28.1, 378). In der modernen Welt gibt es daher Anzeichen für einen gewissen Argwohn gegenüber den Ausdrucksmöglichkeiten des Sinnlichen. Die Kunst ist nicht der geeignete Ort für den Ausdruck der höchsten Werte einer Kultur: „Unsere Welt, Religion und Vernunftbildung ist über die Kunst als die höchste Stufe das Absolute auszudrücken, um eine Stufe hinaus“ (GW 28.1, 223). Die Moderne ist die Epoche der „allgemeinen Regeln und Gesetze“34, die die Ausdrucksfreiheit des Einzelnen unterdrücken: „Die Kunst gewährt nicht mehr die Befriedigung, welche andere Völker darin gefunden haben und haben finden können.“35 Hegel behauptet dennoch nicht, dass die Moderne die künstlerische Dimension tout court überholt und sich ihrer gänzlich entledigt habe36, er stellt vielmehr fest, dass eine Verwandlung stattgefunden hat, welche die verschiedenen Akteure des Kunstschaffens betrifft: den Rezipienten, den Produzenten und das Kunstwerk selbst. Die künstlerische Dimension ist nicht 34  Hegel/Gethmann 2004a, 54. 35  Hegel/Gethmann 2004a, 54. 36  Zur „Legende“ vom Ende der Kunst siehe Vieweg, Iannelli, Vercellone 2015.

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mehr von wesentlichem Interesse37, ihre ruhmreiche Ära geht zu Ende, der Höhepunkt ihrer Ausdrucksmöglichkeit ist überschritten, aber nicht die kulturelle Bestimmung der Kunstschöpfung. Sie ist noch Bildung, und zwar nun formelle Bildung, durch eine Darstellung der zunehmenden Unvollkommenheit des modernen Bewusstseins und der Pluralität der Lebensformen der modernen Welt. Die Moderne nimmt daher sowohl in der Malerei als auch in der Poesie (man denke an Iffland bzw. an Kotzebue sowie an Goethe und Schiller) allmählich die Züge eines Portraits an. Die Kunst zeigt nicht mehr, wie der Mensch sein sollte, sondern, wie er ist. Das moderne Kunstwerk bildet also nicht durch normative Inhalte, sondern bewirkt indirekt durch Lebensund Gedankenformen die Bildung eines bewussten Subjekts – und zwar des „Humanus“, der alle Inhalte in sich zusammenfasst und bewältigt. Dieser Humanus, den Hegel 1823 in Anspielung an Goethes Gedicht Die Geheimnisse konturiert38, aber bestimmt auch als Gipfel des Humanismus Niethammers konzipiert, ist nichts anderes als das zur Humanität ausgedehnte und gebildete freie menschliche Gemüt. Nun ist es eben dieser Humanus, der nach dem Berliner Hegel den einzigen Rahmen für das moderne Kunstwerk bildet und demzufolge jeglichen Inhalt aufnehmen kann, je nach den Umwandlungen, Nuancen und Entartungen, denen sich die Menschheit in der Moderne unterzieht. In der Moderne ist deswegen die Heiligkeit der Kunst für immer verloren, ihr Einfluss hat sich verringert, aber die Kunst, die sich an den „Humanus“ wendet, ist nicht verloschen. Es ist konsequentermaßen nur das „menschliche Element“, das in den antiken Werken die Moden und den Wandel der Sitten überlebt. Die menschliche Dimension bleibt also lebendig und unvergänglich, sie bildet uns weiterhin und tut das noch mehr in einer wenig poetischen Epoche wie der Moderne. Das moderne Individuum hat sich nämlich von der „Heiligkeit“ des Kunstwerks entfernt, um sich selbst zu heiligen, was verschiedene Auswirkungen zeitigt. Der Betrachter fühlt sich freier gegenüber dem Kunstwerk, welches nun einer Interpretation durch die Philosophie bedarf (GW 28.1, 224). In der Antike war nämlich der Blick des Betrachters der eines Gläubigen, der sich der Schönheit der strengen Götterstatuen des Pantheons unterwarf39. Die kühlen Marmorplastiken sind nach Hegel verschlossen und erwidern keinen Blick. Dem (gläubigen) Betrachter blieb nichts anderes übrig, als sie anzubeten. Der antike Betrachter war daher aktiver Teil des Kults, blieb aber vollkommen rezeptiv dem Werk gegenüber, das als 37  Hegel/Gethmann 2004a, 54. 38  Henrich 2003, 77. 39  Iannelli 2017.

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höchste Ausdrucksform der allgemeinverbindlichen Werte wahrgenommen wurde. Die schöne Kunst als Kunstreligion konnte nicht von der Materie absehen, auch der Kult war äußerliche Zeremonie, sinnliche Verehrung, Triumph der Schönheit, angesichts derer der Betrachter sich nicht vom anbetenden Gläubigen unterschied. In der Moderne ist die festliche Anbetung vor dem als Symbol verbindlicher Werte empfundenen Kunstwerk vorbei. Infolge der zunehmend radikalen Entheiligung der Kunst nimmt der Betrachter eine weit wichtigere, einschneidende Rolle ein: er wird kritisch und denkt nach. Diese Eröffnung einer neuen Perspektive auf die Welt ermöglicht eine andere Art von Bildung. Die moderne Kunst ist also nicht mehr Bildung des Körpers oder der Umwelt, sondern des Geistes. Sie ist nun geistige Bildung.

Kunst, Gewalt und Staat: geistige Synergien der Moderne

Auch wenn die Kunst nicht mehr über die Verbindlichkeit für eine Gemeinschaft verfügt wie früher, ist sie, sogar in der modernen Zerrissenheit, formelle Bildung mit einem offensichtlichen zivilisatorischen Auftrag40. Ihre Aufgabe ist es, anschaulich zu bilden, und zwar nicht mehr durch die zwangsläufig von ihrer Gesellschaft und dem gemeinschaftlichen religiösen Kult vorgegebenen Inhalte, sondern durch die Öffnung für naheliegende, vertraute Kontexte wie für fremde Kulturen. Mit der Behauptung, dass die Kunst formelle Bildung ist, will Hegel also unterstreichen, dass die Kunst in der Moderne keine ausschließliche Rolle mehr spielt und dass sie ihre Rezipienten zur Allgemeinheit durch die verschiedensten, auch die für den Westen ungewöhnlichsten unterschiedlichen Weltanschauungen bilden muss. Wenn also die goldene Zeit für die (schöne) Kunst die vorstaatliche ist, dann ist es nur im Staat, wo sie ihre volle Bildungsfunktion ausüben kann, weil sie nicht mehr ausdrücklich auf ethische und religiöse Inhalte verpflichtet ist und die Bürger zur Freiheit erziehen kann41. Andererseits kann für denselben modernen Staat daher die formelle Bildung ein regenerierendes Elixier zur Überwindung einer einseitigen Weltsicht sein42. Da das Kunstwerk als solches eine Art Negierung der eigenen Impulse bedeutet, fördert der Staat diese Form der Gewaltausübung auf das Wollen; „und nur wenn diß geschieht, kann Kunst, Wissenschaft und Religion sich bilden“ (GW 27.1, 65). 40  Für eine Vertiefung des Begriffs der formellen Bildung vgl. Kwon 2001, 296–318. 41  Zur modernen Kunst als Erziehung zur Freiheit siehe Rózsa 2015, Braune 2013 und Bertram 2007. 42  Werke 12, 92–93.

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In den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte vom WS 1822/23 sagt Hegel ausdrücklich, dass die Kunst, wie auch die Religion und die Wissenschaft, sich nur im Staat voll entfalten können, also nicht in einem vorstaatlichen Zustand, wo sie zwar auftreten können, aber nicht in ihrer Würde und reinen Erscheinungsform: „[A]lle Religion, Kunst, Wissenschaft, also Bildung überhaupt nur könne in einem Staat sich hervorheben. Denn alle haben das Denken zu ihrem Prinzip“ (GW 27.1, 64). Der Staat geht nach Hegel aus der Religion selbst hervor, die sich anfänglich auf verschiedene Weise mit der Kunst verflochten zeigt (GW 27.1, 74). Die Akademien der Wissenschaften seien allmählich an die Stelle der alten Klöster getreten, sie seien moderne Kultstätten einer weltlichen Kultur, so heißt es im WS 1817/18 in den Heidelberger Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (GW 26.1, 209). Wenn also einerseits das Ideal seinen geeigneten Nährboden im vorstaatlichen Zustand hat, und zwar in der Zeit der antiken Heroen, die mit größerer Willkür handeln und sich als energische, kraftvolle Gestalten wie lebende Kunstwerke durchsetzen können, dann gedeiht andererseits die von religiösen Inhalten emanzipierte Kunst nur im Staat, also in der Moderne. Der Staat bekommt dadurch in den Augen des Berliner Hegel eine doppelte Valenz; er stellt eine Gefahr für das spontanere und tellurische Kunstschaffen dar, wie wir es aus der klassischen Antike kennen, garantiert aber gleichzeitig durch seine Strukturen eine institutionalisierte meister- (aber auch laster-)hafte Produktion und Rezeption. Dadurch, dass er den Aktionsradius des Einzelnen einschränkt und Regeln für das Gemeinschaftsleben aufstellt, engt der Staatsapparat die Vitalität des Ideals ein43, weil dieses in einer gegliederten und strukturierten Gesellschaft wie der modernen erstickt wird44. Derselbe Staatsapparat, durch dessen Räder das Ideal zermalmt wird, ist eine Garantie für die Kunst als kulturelle Dimension der bürgerlichen Gesellschaft und für die Kultivierung des Geschmacks und der Ästhetik45. Diese Rolle 43  Hegel selbst drückt es so aus, dass das bürgerliche Zeitalter keine Hochblüte des Ideals hervorbringen kann, weil dieses banalisiert wird, indem es auf das private Ideal eines rechtschaffenen Mannes oder guten Familienvaters reduziert wird (GW 28.1, 293 f.). 44  Das Ideal ist aber nicht völlig ausgeschlossen, sondern kann von Zeit zu Zeit (wieder) auftauchen. Siehe Iannelli 2013, besonders 55–58 und 64–65. 45  Man darf nicht vergessen, dass die Ästhetik als Fachdisziplin zur Zeit, als Hegel seine Berliner Vorlesungen hielt, eine ziemlich neue theoretische Schöpfung war, die als akademisches Experiment die Avantgarde im Europa der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert darstellte. Man bedenke, dass sie erst 1783, dank der Reformen von Joseph II (1783–1789), im tertiären Bildungssektor Pflichtfach für alle Studenten der philosophischen Fakultät an österreichischen Universitäten wurde, während sie schon unter Leopold II (1790–92)

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als Garant der Bildung, die Hegel im öffentlichen Raum dem Staat zuschreibt, bedeutet nicht, dass er kein Vertrauen in die individuelle Initiative hätte, die ohne Zweifel als unentbehrlich, aber als eine Form des Ansporns und der Wachsamkeit gesehen wird. Der Staat trägt nach Hegel nämlich die Verantwortung für das Wachstum der Bildung der Individuen, die einerseits als „Bildung überhaupt“ von allein entsteht, ohne dass der Staat sie aufzwingen müsste, andererseits aber als „bestimmte Bildung“ den Staat braucht, der dafür Sorge tragen muss, dass dieses Recht des Individuums sich verwirklicht (GW 26.1, 208). Innerhalb des Staates als „Kunstwerk des Geistes“ (GW 26.1, 577) und als gewusste und gewollte Einheit (GW 27.1, 63 f.) ist die Kunst also Bildung zum Allgemeinen durch eine Pluralität von nationalen wie fremden Lebensformen, die durch Vervielfältigungstechniken (z.B. die Lithographie) leichter reproduziert und einem breiten Rezipientenkreis vermittelt werden kann. Die Ästhetik als Philosophie der (Welt-)Kunst stimuliert daher eine kritische Auseinandersetzung mit vergangener und zeitgenössischer Weltdeutung und veredelt den menschlichen Geist durch die kulturellen Resonanzen von nahestehenden wie von fernen Kulturen. Da die Kunst zum Andersartigen erzieht, ist es unvermeidlich, dass sie nicht nur in ihrer Rezeption, sondern auch in der Schöpfungsphase ein intersubjektives Element enthält. Daher ist Hegel zufolge kein Kunstwerk ein Produkt der Einsamkeit und auch nicht Privileg einer Elite. Kunst, Wissenschaft und Religion können nicht in Isolierung oder in einem natürlichen, ursprünglichen Zustand gedeihen (GW 27.1, 66). Ein Mensch allein auf einer einsamen Insel könnte sie nicht schaffen, sie sind Ergebnis eines Lebens in Gemeinschaft – oder besser: eines in Staatsform organisierten Soziallebens –, weil nur im Staat der Verzicht auf das brutale Begehren formalisiert wird und die Kunst daher keine ethischen Aufgaben mehr zu erfüllen hat, etwa die Milderung der Barbarei, sondern sich zu ihrer höheren Berufung, der formellen „geistigen Bildung“ aufschwingen kann (GW 28.1, 230). Hegel lässt in seiner Berliner Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte von 1822/23 insofern ein deutlich kantisches Echo durchklingen, als er sagt: „[A]lle großen Menschen haben sich zwar in der Einsamkeit gebildet, aber nur indem sie das, was der Staat schon geschaffen hatte, für sich verarbeiten“ (GW 27.1, 65). Das Werk, das aus dem Gefühl des Einzelnen hervorgeht, der seiner Zeit lauscht, überschreitet die raum-zeitlichen Grenzen seiner Entstehungszeit und wird zum Erbe der ganzen Menschheit; es ist für uns alle.

marginalisiert und als gefährliche Disziplin betrachtet wurde. Dazu mehr in Hlobil 2012, 39–57.

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Die ewige Kunst der Verdopplung und die Kette der Bildungstradition

So wie ein Mensch mit Lebenserfahrung seine Welt(er)kenntnis nur anhand konkreter Einzelfälle vermitteln kann, so drückt der Künstler sich in der Einzigartigkeit seines Werks aus, in dem seine Welterzählung zusammengefasst ist und das umso origineller und dauerhafter sein wird, je mehr er sich aus der Erzählung der Sache selbst herausnimmt (GW 28.1, 237). Die Kunst bildet zum Allgemeinen durch das Einzelne. Man muss sich jedoch fragen, auf welche Weise dies geschehen kann in einer Zeit wie der modernen, die dem Ideal und der Einschränkung des Geistigen auf eine rein sinnliche Anschauung tendenziell abgeneigt ist. Die Antwort darauf finden wir in einer Überlegung zur durch und durch dynamischen und reflektierenden Natur der Kunstschöpfung, die das Unmittelbare verachtet und sich nicht damit zufriedengibt, sondern es im Hinblick auf einen Betrachter, einen Rezipienten – allgemeiner gesagt: auf einen Anderen – schöpferisch bearbeitet. Wie schon Kant in der Kritik der Urteilskraft erklärt, würde sich ein allein auf einer einsamen Insel lebender Mensch nicht schön machen oder schmücken. Dafür muss ein Blick, eine andere Perspektive als die eigene vorausgesetzt sein, die der Verwandlung einen Sinn gibt. Hegel teilt diese Auffassung, nach der der Kunst eine Tendenz zur Sozialisation innewohnt. Er geht so weit, dass er sogar in einer so primitiven Ausdrucksform wie der Tätowierung ein erstes schüchternes Zeichen sieht, mit dem die eigene Natur negiert und die Alterität und der Blick des anderen einbezogen werden, wodurch eine wertvolle Verdopplung des Menschen entsteht, der ein Anderer als er selbst wird (GW 28.1, 230). Dass die Urmenschen von jeher das Bedürfnis verspürten, ihre Natur zu verwandeln, indem sie sich die Ohren oder die Nase durchbohrten, geht abgesehen von Ort und Zeit auf den eingewurzelten Trieb des Menschen zurück, sich selbst zu gestalten, sich in der Verwandlung zu erkennen, um sich in einem Werk zu verdoppeln, das als Duplikat der eigenen Existenz gesehen werden kann (GW 28.1, 229). Dieser Wunsch nach Verwandlung und Selbst(er)kenntnis wächst im Laufe der Zeit und mit zunehmendem Bewusstsein, bis er rein geistige Bildung wird. In diesem bedeutungsvollen Prozess, in dem das Verständnis und der Geist der Menschheit stets anwachsen, bildet und definiert sich jede geschichtliche Welt in Bezug auf eine andere, von der sie sich absetzt. Jede Bildung setzt eine andere voraus, die gleichzeitig übernommen und umgewälzt wird, um in einer endlosen Kette neue Werte zu schaffen. Die Römer waren die geistigen Väter der Moderne, sie stehen ihrerseits in der Schuld Griechenlands (GW 27.1, 299), von dem wir uns „ewig (…) angezogen fühlen“ (GW 27.1, 337). Aber auch die schöne griechische Welt hat

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von früheren, archaischeren Kulturen wertvolle Einrichtungen und Bräuche für die Entwicklung eines zivilisierten Zusammenlebens übernommen, wie die Einführung der Ehe oder den Ackerbau. Dieses geistige, aus der Berührung mit den orientalischen Kulturen stammende Erbe wurde dann zu „göttliche Gaben“ mythisiert, wie es auch mit dem Feuer, dem Pferd und dem Ölbaum geschah (GW 27.1, 300). Die Bildung eines jeden Volkes, wie auch die des einzelnen Individuums, ist daher nie eine unmittelbare, ursprüngliche und selbstbezogene Dimension, sondern immer das Ergebnis einer Beziehung mit der Alterität, die aufgenommen, verneint und verwandelt wird. Was in den aufeinanderfolgenden Epochen und Kulturen der Weltgeschichte immer gleich bleibt, ist das Bedürfnis, sich zu verdoppeln, sich in einem Werk zu objektivieren, in dem man sich erkennen kann, weil in dem von der Kunst geschaffenen Schattenreich unser Verständnis der wirklichen Welt und unserer selbst gefördert wird. Das Werk, jedes Werk, trägt zur geistigen Bildung bei und erlaubt virtuelle Erfahrungen zu machen, die unsere bruchstückhaften, gewohnheitsmäßigen, wirklichen Erfahrungen ergänzen46. Aber die unendliche Kette der Bildung kann nicht in umgekehrter Richtung abgewickelt werden, außer im Gedächtnis. Hegel ist kein Nostalgiker: Das Bessere „liegt vorwärts“ (GW 27.1, 337). Der Geist der Welt drängt unersättlich in die Zukunft, in der die Kunst, wenn auch nicht schöner oder heiterer, fortlebt und den Geist des Menschen fort-bildet und bereichert.

Fazit: Wozu noch ästhetische Bildung?

Wenn wir eine auch nur vorläufige Bilanz ziehen wollen, dann können wir nicht umhin, der Aufforderung Hegels an seine Gymnasiasten, Studenten und Zeitgenossen Folge zu leisten: nämlich durch die Erfahrungshorizonte der Künste zu lernen, die Welt mit einem universalen Blick zu betrachten, der die Besonderheiten einer örtlich eng begrenzten Perspektive wie auch die egoistischen Triebe überwindet: „[D]er gebildete Mensch ist dieser, der allem was er thut und sagt und denkt, die Weise der Allgemeinheit aufdrückt“ (GW 27.1, 36). Sich bilden bedeutet dann nicht einfach, erbauliche Inhalte der (Kunst-) Geschichte und (ästhetische) Vorbilder zu pflegen, sondern in einem nie völlig abgeschlossenen Prozess im Anderen und Allgemeinen wiedergeboren zu werden, um erneuert zum Eigenen zurückzukehren. Die Bildung ist daher als gemeinschaftlicher, ungeheurer Versuch der Vergeistigung zu verstehen, den das gesamte Menschengeschlecht stets als Ziel vor sich hat. Diese 46  Hegel/Gethmann 2004a, 56.

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radikale, durchaus nicht selbstverständliche, unendliche Umwandlung, die sich nie erschöpft, aber ständig in sich selbst zusammenzustürzen droht, ist in Wirklichkeit ein Ziel, das es noch heute zu festigen gilt, besonders angesichts der heiklen und unbeständigen internationalen Beziehungen zwischen Ost und West und der Migrationswellen, die das Gleichgewicht der Welt auf dramatische Weise neu definieren. Von fremden Weltanschauungen oder für die Mehrheit der westlichen Bevölkerung unvorstellbaren Lebenserfahrungen ohne Vorurteil und Anmaßung zu lernen, kann noch als eine wertvolle Erfahrung formeller Bildung durch Kunst angesehen werden. Ästhetische Bildung impliziert also keine bloße Wissensaneignung durch die Kunst, Musik oder Literatur, sondern verlangt, dass die Menschen einen ästhetischen Zugang zur Welt und zur Humanität finden, um ihre eigene, immerzu begrenzte Kenntnis der Welt zu erweitern, da die Kunst als Spiegel der conditio humana sowohl historische als auch imaginative Erfahrungen ermöglicht, wie Hegel 1826 den Studenten seiner dritten Berliner Vorlesung über die Philosophie der Kunst erklärt: Die Kunst ergänzt stets die Erfahrungen unseres wirklichen Lebens, und durch diese Erregungen werden wir zugleich fähiger gemacht, in besonderen Zuständen und Situationen [gründlicher, tiefer zu empfinden, ] oder [werden fähig gemacht], daß [die äußerlichen Umstände] diese Empfindungen erregen, was erst durch diese Vermittlungen in der Kunstanschauung möglich gemacht worden ist.47 Als Hüterin des Sinnlichen kann die Kunst unser Leben durch virtuelle und visionäre Erlebnisse vervollständigen und reicher machen, zum Möglichen hin öffnen und zum Allgemeinen verfeinern. Es handelt sich um einen schwierigen, lang andauernden Prozess, der nicht als wirklich abgeschlossen gelten kann, solange die Menschenrechte nicht in jedem Winkel des Planeten geachtet werden und Kunstwerke der Wut zerstörerischer Bilderstürmer zum Opfer fallen.

47  Ibidem.

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Hegels melancholische Ästhetik und Schillers politische Eschatologie Franz Knappik Anders als für viele Hegelianer findet für Hegel selbst menschliche Existenz nicht in der sozialen Realität des objektiven Geistes ihre Erfüllung, sondern in Kunst, Religion und Philosophie. Da nach Hegel alle Formen dessen, was er ‚Geist‘ nennt, nichts als verschiedene Stufen der Realisierung von Freiheit sind (Enz. § 386, Werke 10, 341), machen Kunst, Religion und Philosophie als Vollendungsgestalten des Geistes dem Menschen Formen von Freiheit zugänglich, die derjenigen Freiheit, die wir im Zusammenleben in modernen Gesellschaften und Staaten erlangen können, prinzipiell überlegen sind2. Ein wesentliches Element dieser Formen von Freiheit besteht darin, dass Menschen durch die Gestalten des absoluten Geistes überhaupt erst ein tieferes Verständnis von Freiheit, und damit ihrer eigenen Natur als geistiger Wesen, gewinnen (Enz. § 482 A, Werke 10, 301 f.). Nicht nur der Religion und Philosophie, sondern auch der Kunst schreibt Hegel die Aufgabe zu, Freiheit darzustellen und zu thematisieren3, und bekanntlich ist für Hegel erst durch das Christentum ein Bewusstsein dessen in die Welt gekommen, dass der Mensch seinem Wesen nach zu Freiheit befähigt und berechtigt ist (Enz. § 482 A, Werke 10, 301 f.). Dass allein die Gestalten des absoluten Geistes dem Menschen ein genuines Verständnis seiner Freiheit vermitteln, hat zur Folge, dass sie kritische Instanzen gegen Freiheitsdefizite im Leben und in den Institutionen des Menschen bilden. So können sie etwa soziale und politische Bedingungen, die die Freiheit der Bürger in einer gegebenen Gesellschaft einschränken, diagnostizieren und kritisieren, institutionelle Veränderungen fordern und zu entsprechendem politischen Handeln motivieren4. Wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte, 1  Ich verwende die folgenden Abkürzungen und Kurztitel (jeweils gefolgt von Band- und Seitenzahl): AA = Kant 1902 ff. (Akademie-Ausgabe); Enz. = Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Werke 8–10; GPR = Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7; NA = Schiller 1948 ff. (Nationalausgabe) (zitiert in modernisierter Orthographie). 2  Vgl. Knappik 2013, Kap. 9. 3  Z.B. Enz. § 562 A, Werke 13, 372: In der Kunstschönheit ist „das Anschauen und Bewußtsein des freien Geistes […] gewährt und erreicht“. Vgl. dazu Houlgate 2016a, § 4. 4  Für den Fall der Philosophie vgl. dazu Fulda 1968.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_023

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hat für Hegel die kritische Funktion der Gestalten des absoluten Geistes daneben aber auch noch eine andere Dimension. Hegel kann nämlich so gelesen werden, dass Kunst, Religion und Philosophie neben den kontingenten, veränderbaren Freiheitsdefiziten einer gegebenen Gesellschaft auch prinzipielle Freiheitsdefizite des subjektiven und objektiven Geistes sichtbar machen. Die Gestalten des absoluten Geistes grenzen demnach in ihrer Thematisierung von Freiheit die im subjektiven und objektiven Geist mögliche Freiheit von der „höchsten Freiheit“ ab, zu der der Mensch „bestimmt“ ist (Enz. § 482 A, Werke 10, 302) und die erst in den Gestalten des absoluten Geistes zugänglich wird. Dadurch weisen sie Haltungen zurück, die endliches, alltägliches Denken und Handeln (auf der Ebene des subjektiven Geistes) und die Institutionen von Gesellschaft und Staat (auf der Ebene des objektiven Geistes) überfordern, weil sie sie absolut setzen und von ihnen allein die Erfüllung menschlicher Freiheit erwarten. Mein Ziel in diesem Beitrag ist es, diesen Aspekt der kritischen Funktion von Kunst, Religion und Philosophie in Hegels Geisttheorie anhand einer Interpretation zu Hegels Ästhetik zu beleuchten. Im Mittelpunkt wird dabei Hegels Diskussion des ‚ästhetischen Ideals‘ stehen. In ihr identifiziert Hegel als ein paradigmatisches Thema von Kunst eine Form freien Handelns, nach der wir ein berechtigtes Bedürfnis haben, die aber im Rahmen moderner Sittlichkeit grundsätzlich nicht realisiert werden kann: nämlich ein Handeln, in dem der Akteur vernünftige Zwecke völlig selbständig realisiert. Für derartiges ‚heroisches‘ Handeln lässt die moderne Sittlichkeit aufgrund ihrer institutionellen Ausdifferenzierung und sozialen Arbeitsteilung keinen Raum. Wie ich zu zeigen versuche, macht nach Hegels Interpretation die künstlerische Darstellung solchen Handelns grundsätzliche Freiheitsdefizite des objektiven Geistes sichtbar. Das argumentative Profil und die Tragweite von Hegels einschlägiger Analyse in der Ästhetik werden allerdings erst richtig verständlich, wenn diese Analyse vor dem Hintergrund sozialer und politischer Entwürfe zur Zeit Hegels gesehen wird, die eine uneingeschränkte Realisierung von Freiheit in Gesellschaft und Staat versprechen. Für meine Untersuchung von Hegels Position wähle ich als Bezugspunkt einer solchen Kontextualisierung Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Wenngleich sich Hegel im fraglichen Kontext seiner Ästhetik nicht speziell auf die Briefe bezieht, sind sie doch in besonderem Maß als Kontrastfolie für die Lektüre von Hegels Text geeignet, weil sie zum einen ein Beispiel für die Überforderung von Staat und Gesellschaft durch utopische Entwürfe bieten, sich aber zugleich von anderen Entwürfen dieser Art dadurch entscheiden, dass sie die Thematik – wie

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es im Rahmen seiner Kunstphilosophie auch Hegel tut – in eine ästhetische Perspektive rücken5. In diesem Beitrag werde ich daher zunächst Schillers Briefe diskutieren (Abschnitt 1). Die in ihnen formulierte Überforderung von Staat und Gesellschaft werde ich dabei als Ausprägung einer säkularisierten politischen Eschatologie millenarischer Prägung deuten. In Abschnitt 2 werde ich Hegel Analyse des ‚allgemeinen Weltzustands‘ in der Theorie des ästhetischen Ideals präsentieren, auf die ich meine Deutung stütze. Auf dieser Grundlage werde ich zunächst in Abschnitt 3 Hegels in dieser Analyse enthaltene philosophische Kritik an Freiheitsdefiziten des objektiven Geistes und seine damit verbundene Ablehnung millenarischer Entwürfe erörtern. In Abschnitt 4 versuche ich dann zu zeigen, dass die Kritik, die Hegel in diesem Kontext auf philosophischer Ebene übt, selbst als Explikation einer kritischen Dimension verstanden werden kann, die der Kunst selbst innewohnt.

Überforderung des objektiven Geistes: Schillers Briefe als Beispiel politischer Eschatologie um 1800

In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795)6 geht es Schiller um den Nachweis dessen, dass nur ‚ästhetische Erziehung‘, die gemeinschaftliche Teilhabe an ästhetischen Praktiken, moderne Individuen in die Lage versetzt, „wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung“ zu machen (5. Brief, NA 20, 319). Schiller deutet dabei diese Realisierung ‚wahrer Freiheit‘ als „Staatsverwandlung nach moralischen Prinzipien“ (4. Brief, NA 20, 315), in der das „Sittengesetz“ als „wirkende Kraft“ fungiert und die zur „Aufstellung eines moralischen Staats“ führen soll (ebd.). Schillers Verweis auf ‚moralische Prinzipien‘ und das Sittengesetz macht deutlich, dass er unter einem solchen ‚moralischen Staat‘ ein Gemeinwesen versteht, das durch moralische Normen strukturiert ist. Der moralische Staat kann aber unterschiedlich ausgeprägt sein, je nachdem, welche Gestalt moralisches Verhalten für das Individuum annimmt: Es kann ihm als Nötigung durch den „strengen Ernst des Gesetzes“ erscheinen (4. Brief, NA 20, 318) – Schiller denkt hier wohl speziell an 5  Darüber hinaus spielen Schillers Briefe auch entwicklungsgeschichtlich eine wichtige Rolle für die Entstehung von Hegels Theorie des ästhetischen Ideals: vgl. Gethmann-Siefert 1984, passim; 2005, 53 ff. Im Folgenden werde ich aber die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung Schillers für Hegel ausblenden und mich auf das Verhältnis zwischen Hegels reifer Position und Schillers Konzeption in den Briefen beschränken. 6  Vgl. zu Schillers Briefen (mit weiterer Literatur) Beiser 2005, 119 ff.; Church 2014; zur älteren Literatur s. Sharpe 1995.

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einen moralischen Staat, der moralischen Normen durch seine Gesetzgebung und Sanktionen Autorität verschaffen will –, oder aber als freier, spontaner Ausdruck seiner selbst, wenn nämlich die moralischen Normen vom Individuum internalisiert sind (4. Brief, NA 20, 316, 318)7. Für Schiller ist klar, dass die Bürger eines moralischen Staats nur dann wirklich frei sind, wenn sie im zweiten Sinn moralisch handeln8. Da Schiller aber auch annimmt, dass in jedem Individuum eine ‚subjektive‘, am Eigeninteresse ausgerichtete mit einer ‚objektiven‘, am Gemeinwohl orientierten Motivation koexistiert (4. Brief, NA 20, 317 f.), erfordert diese zweite Ausprägung des moralischen Staats, dass sich die beiden Seiten des Menschen in Bezug auf sein Handeln in Harmonie miteinander befinden. Das setzt seinerseits voraus, dass sie zu einer solchen Harmonie fähig sind und nicht grundsätzlich miteinander konfligieren. Gerade diese moralpsychologische Voraussetzung für einen freien moralischen Staat ist aber für Schiller in der Moderne nicht gegeben. Während die Französische Revolution durch den Umsturz der Machtverhältnisse des Ancien Régime die äußeren Bedingungen oder die „physische Möglichkeit“ zu einem solchen moralischen Staat herbeigeführt hat, ist sie für Schiller deshalb nicht an ihr Ziel gekommen, weil die „moralische Möglichkeit“ zu einem solchen Staat fehlt (4. Brief, NA 20, 319): Der moderne Mensch lebt für Schiller in einem ständigen inneren Konflikt zwischen dem ‚subjektiven‘ und dem ‚objektiven Menschen‘, der ebenso durch Unterdrückung des ‚objektiven‘ durch den ‚subjektiven‘ Menschen wie durch Unterdrückung des ‚subjektiven‘ durch den ‚objektiven‘ Menschen zustande kommen kann (4. Brief, NA 20, 318). Die „Zerrüttung” (6. Brief, NA 20, 323) und „Zerstückelung” (6. Brief, NA 20, 326) des modernen Menschen deutet Schiller vermögenstheoretisch als einseitige Ausbildung individueller Fähigkeiten: „[W]ir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während dass die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind” (6. Brief, NA 20, 322). Im Gegensatz zur „einfache[n] Organisation der ersten Republiken“ (6. Brief, NA 20, 323) bringen 7  Schiller präsentiert zu Beginn der Briefe den ‚moralischen Staat‘ als politisches Ziel, dessen Realisierung er im folgenden Text erörtern will; am Ende der Briefe erscheint dagegen der ‚ethische Staat‘ als defizitäre Staatsform, die vom ‚ästhetischen Staat‘ überwunden werden soll. Ich verstehe Schiller in diesem Punkt so, dass der ‚moralische Staat‘ in den oben genannten beiden Weisen ausgeprägt sein kann und nur die Form, in der Moral dem Menschen als Zwang erscheint, dem ‚ethischen Staat‘ entspricht, während der ‚ästhetische Staat‘ ein moralischer Staat ist, dessen Bürger durch ästhetische Erziehung moralische Normen internalisiert haben. Um mich auf die ästhetische Variante des moralischen Staats zu beziehen, verwende ich im Folgenden auch den Begriff ‚ästhetisch-moralischer Staat’. 8  Vgl. auch NA 17, 438 (zitiert in Beiser 2005, 127).

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moderne Staaten und Gesellschaften nämlich einen hohen Grad technischer, sozialer und institutioneller Arbeitsteilung (oder wie Schiller es formuliert: eine „Absonderung der Stände und Geschäfte“, 6. Brief, NA 20, 322 f.) mit sich. Diese Arbeitsteilung zwingt das Individuum, sich auf eine einzelne seiner Fähigkeiten zu konzentrieren, die in seiner Anstellung besonders wichtig ist (6. Brief, NA 20, 324), und lässt ihm in der Regel keinen Freiraum zur Entfaltung anderer Seiten seiner Persönlichkeit: denn „das mittelmäßige Talent verzehrt in dem Geschäfte, das ihm zum Anteil fiel, die ganze karge Summe seiner Kraft, und es muss schon kein gemeiner Kopf sein, um, unbeschadet seines Berufs, für Liebhabereien übrig zu behalten“ (ebd.). Die resultierende einseitige Entwicklung von Anlagen führt deshalb zu einem inneren Konflikt, weil sich die jeweils favorisierten Aspekte im Menschen „einer ausschließenden Gesetzgebung anmaßen“ (6. Brief, NA 20, 326). So hat man sich „mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt, […] auch in sich selbst einen Herrn gegeben“, der zur „Unterdrückung der übrigen Anlagen“ führt (6. Brief, NA 20, 323). Genau diese Einseitigkeit unterscheidet für Schiller den modernen vom antiken Menschen, denn anders als das moderne Individuum „qualifizierte sich der einzelne Grieche zum Repräsentanten seiner Zeit“ (6. Brief, NA 20, 322). Verantwortlich für die einseitige Entwicklung des modernen Menschen ist für Schiller letztlich ein ‚Antagonismus der Kräfte‘, in dem sich einzelne Kräfte in verschiedenen Individuen isolieren und miteinander in Konflikt geraten. Dieser Antagonismus der Kräfte stellt für Schiller (im Anschluss an Kant9) den Motor kultureller Entwicklung dar (6. Brief, NA 20, 326). Das hat freilich zur Folge, dass genau diejenige kulturelle Entwicklung, die auf eine umfassende Befreiung des Menschen und letztlich auf sein Zusammenleben im „moralischen Staat“ abzielt, die inneren Bedingungen für dessen Möglichkeit aufhebt. Diese Konsequenz kann für Schiller aber nicht unabwendbar sein, denn der Mensch könne nicht „dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zwecke“ – auch wenn es der „Weltzweck[…]” der Entwicklung hin zu einem moralischen Staat ist – „sich selbst zu versäumen“ (6. Brief, NA 20, 328). Es muss also auch unter den Bedingungen der Moderne möglich sein, den Antagonismus der Kräfte zu kompensieren, die „Totalität des Charakters“ (4. Brief, NA 20, 318) des Individuums wiederherzustellen, es mit sich selbst zu versöhnen und es dadurch auch erst zum Zusammenleben im moralischen Staat zu befähigen. Genau diese Aufgabe ist es, die Schiller der ästhetischen Erziehung, d.h. dem Zusammenleben der Menschen in einem Gemeinwesen „des Spiels und des 9  Vgl. Kants Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), AA 8, 20 f.

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Scheins“, des „geselligen Charakter[s]“ und der „schöne[n] Mitteilung“ (27. Brief, NA 20, 410), zuweist. Die Patina des klassischen Textes mit seiner zeittypischen Rhetorik des Schönen und Guten kann den heutigen Leser leicht darüber hinwegtäuschen, dass Schiller in dem skizzierten Gedankengang sehr starke politische und philosophische Thesen vertritt10. Hierzu zählt erstens Schillers moralisches Staatsverständnis – seine Aussage, dass nur ein ‚moralischer Staat‘, dessen Mitglieder moralische Normen internalisiert haben, wirkliche politische Freiheit realisieren kann. In der neueren Literatur wird Schiller in diesem Punkt häufig als Vertreter der republikanischen Tradition verstanden, der – wie z.B. auch Machiavelli, Montesquieu und Rousseau – ‚Tugend‘ als Bedingung für eine funktionierende Republik ansieht11. Doch wird in der republikanischen Tradition diese Tugend gewöhnlich als ‚politische‘ oder ‚bürgerliche Tugend‘ (‚vertu politique‘, ‚civic virtue‘) verstanden, also als Respekt vor den Gesetzen, Bereitschaft zur Unterordnung des Eigennutzes unter das Gemeinwohl, Patriotismus u.ä.12. Schiller identifiziert dagegen die für einen moralischen Staat relevante Haltung des Bürgers mit der Internalisierung des Sittengesetzes13. Indem Schiller somit seinem Verständnis des moralisches

10  Obwohl sich Beiser 2005, 164 gegen Lesarten wendet, die Schillers Konzeption des ästhetischen Staates jede politische Relevanz absprechen, unterschätzt er m.E. selbst den politischen Gehalt von Schillers diesbezüglichen Thesen, wenn er im ästhetischen Staat lediglich ein regulatives Ideal sieht. Gegen diese Lesart spricht u.a., dass Schiller in den Briefen gerade von der Frage ausgeht, wie die revolutionäre Vorstellung eines moralischen Staates, für den in der eigenen Gegenwart noch die moralische Möglichkeit fehle, verwirklicht werden kann. Beiser stützt sich dagegen für seine Deutung auf den letzten Absatz der Briefe, in dem Schiller die Frage nach der Existenz des ästhetischen Staates aufwirft und antwortet, dieser Staat existiere „[d]em Bedürfnis nach […] in jeder feingestimmten Seele; der Tat nach“ aber nur „in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln“ (27. Brief, NA 20, 412). Beiser deutet diese Aussage als Ausdruck eines schillerschen „Realismus“ (Beiser 2005, 164), demzufolge der ästhetische Staat nie Realität erhalten werde. Diese Deutung übersieht aber, dass die fragliche Passage nur die Frage diskutiert, ob der ästhetische Staat gegenwärtig existiert, und über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer zukünftigen Realisierung keinerlei Aussage trifft. 11  Z.B. Beiser 2005, 123 ff., Church 2014. 12  Vgl. z.B. Montesquieu, De l’ésprit des lois, I, 4, 5 (Montesquieu 1950 ff., Bd. 1, 46); Rousseau 2012, 313. Entsprechend deutet Beiser 2005, 163 als Ziel der ästhetischen Erziehung „something like patriotism“. 13  4. Brief, NA 20, 315: „Bei Aufstellung eines moralischen Staats wird auf das Sittengesetz als auf eine wirkende Kraft gerechnet […]“.

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Staates eine kantische Konzeption von Moralität zugrunde legt14, geht er weit über den Tugendbegriff der republikanischen Tradition hinaus, der nur das Verhalten des Bürgers in Bezug auf das Gemeinwohl betrifft15. Schillers Begriff des moralischen Staats ist also normativ extrem anspruchsvoll, nicht nur gemessen an der liberalen16, sondern auch an der republikanischen Tradition. Zweitens ist auch der Gedanke einer durch ästhetische Erziehung wiederhergestellten „Totalität des Charakters“ (4. Brief, NA 20, 318) alles andere als harmlos. Denn für Schiller geht es hierbei nicht lediglich um den Gedanken, dass eine gut funktionierende Gesellschaft dem Individuum Freizeit lassen und ein reichhaltiges Angebot zu deren Nutzung zur Verfügung stellen muss, damit das Individuum auch andere als die in seiner Arbeit gefragten Fähigkeiten und Interessen entwickeln und verwirklichen kann. Vielmehr setzt Schiller in den Briefen der Spezialisierung und Arbeitsteilung im modernen „mechanische[n]“ Staat als Ideal die „Polypennatur der griechischen Staaten“ entgegen, „wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoss, und wenn es Not tat, zum Ganzen werden konnte“ (6. Brief, NA 20, 323). Das Gegenbild zum modernen (Gesellschafts- und) Staatsmechanismus ist also ein gesellschaftlicher und staatlicher Organismus, dessen Organe insofern polyfunktional sind, als sie, wenn nötig, auch die Aufgaben anderer, ja sogar aller anderen Organe übernehmen können. Es ist freilich kaum zu sehen, wie die (selbst bei umfassender Entwicklung) zwangsläufig beschränkten Kompetenzen von Individuen unter den Bedingungen der hochgradig ausdifferenzierten modernen Gesellschaft zu einer derartigen Polyfunktionalität hinreichen könnten. In eine andere, aber nicht minder unrealistische Richtung argumentiert Schiller ferner in dem kurze Zeit nach den Briefen entstandenen Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung. Dort erklärt er ausdrücklich, einem arbeitenden Individuum bleibe in seiner Freizeit nur Raum für „erschlaffende[n] Genuss“ (NA20, 487). Eine wirkliche Wiederherstellung der Totalität des Charakters sei dagegen nur in einer „Klasse von Menschen“ möglich, „welche ohne zu arbeiten tätig ist […]“ (NA 20, 490). Schiller denkt hier offenbar an durch Mäzene finanzierte Künstler- und Intellektuellenkreise, deren Mitglieder sich ganz der Kunst und dem Diskurs über sie widmen können und sich dadurch umfassend entwickeln, weil die Erfahrung der Schönheit

14  Kant selbst dagegen sieht im Staat ausschließlich ein juridisches Gemeinwesen, das nicht dazu berechtigt ist, seine Mitglieder nach moralischen Gesetzen zu verbinden: AA 6, 96 f. 15  Vgl. auch Montesquieu, De l’ésprit des lois, I, 3, 5 n. (Montesquieu 1950 ff., Bd. 1, 32 n.). 16  Neben Kant vergleiche man z.B. Wilhelm von Humboldts Aufsatz Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792).

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„zu allen Vermögen des Menschen zugleich spricht“ (NA 20, 487). Da ein ästhetisch-moralischer Staat17 im Sinne Schillers die Existenzform dieser Zirkel zur Lebensform der ganzen Gesellschaft verallgemeinern würde, müsste dieser Staat die Unterscheidung von Arbeit und Freizeit also ganz nivellieren und allen seinen Mitgliedern eine freie Subsistenz gewähren (wie auch immer dies möglich sein soll), die ihnen die uneingeschränkte Beschäftigung mit Kunst erlauben würde. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass Schillers Konzeption der ästhetischen Erziehung hin zum moralischen Staat nicht nur sehr optimistisch ist, sondern von Gesellschaft und Staat Dinge verlangt, die diese kaum bieten können. Dies ist aber nicht einfach Folge eines mangelnden Realitätssinns seitens Schillers, sondern Ausdruck einer zur Entstehungszeit der Briefe weit verbreiteten eschatologischen und genauer millenarischen Sicht auf Staat und Gesellschaft. Um diesen Zusammenhang deutlich zu machen, müssen wir uns zunächst einige Bezugspunkte von Schillers Briefen vergegenwärtigen, die den Text in einen für den heutigen Leser nicht offensichtlichen, für das zeitgenössische Publikum aber wohlvertrauten eschatologischen Kontext rücken. Schiller knüpft erstens mit dem Gedanken eines moralischen Staats an kantische Begriffe an, nämlich zum einen an den Begriff eines ‚Reichs der Zwecke‘ unter einem göttlichen Gesetzgeber und zum anderen an den Begriff des ‚ethischen Gemeinwesens‘, dessen Mitglieder laut der Religionsschrift einander in ihrer moralischen Gesinnung befördern und das Kant auch mit der ‚unsichtbaren Kirche‘ identifiziert (AA 6, 101). Der Gedanke der unsichtbaren Kirche geht auf Paulus zurück, der Begriff des ‚Reichs der Zwecke‘ steht in der Rezeptionstradition der augustinischen Zwei-Staaten-Lehre bei Malebranche und Leibniz18. Beides sind Begriffe mit einer wesentlichen eschatologischen Dimension, die sie auch bei Kant behalten; die Realisierung des ethischen Gemeinwesens bzw. der unsichtbaren Kirche setzt Kant im Dritten Stück der Religionsschrift mit dem Kommen des ‚Reichs Gottes auf Erden‘ gleich. Das Reich Gottes auf Erden ist nach der millenarischen Tradition in der Auslegung apokalyptischer Bibeltexte das ‚tausendjährige Reich‘ des Friedens unter der Herrschaft Christi, das dem jüngsten Gericht und der Erschaffung einer ‚neuen Erde‘ und eines ‚neuen Himmels‘ vorangeht19.

17  Vgl. Fußnote 7. 18  Vgl. Knappik 2013, 465 f. 19  Einen Überblick über verschiedene theologische Ausprägungen des Millenarismus bietet Weber 2007. Zur Rolle millenarischer Vorstellungen in der Geschichte der christlichen Theologie und der westlichen Philosophie vgl. Taubes 1947 und de Lubac 1979 ff. Eine

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Ein zweiter wichtiger eschatologischer Bezugspunkt für Schillers Text ist Lessings Abhandlung Über die Erziehung des Menschengeschlechts. In ihr greift Lessing ausdrücklich auf den einflussreichsten millenarischen Denker des christlichen Mittelalters, Gioacchino da Fiore (ca. 1130–1202), zurück und übernimmt dessen Dreiteilung der Geschichte in ein Reich des Vaters, ein Reich des Sohnes und ein Reich des Heiligen Geistes (wobei das letztere ‚dritte Reich‘ dem tausendjährigen Reich Gottes auf Erden entspricht). Lessings Abhandlung ist für Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen nicht nur durch ihre Deutung von Geschichte als Erziehungsprozess ein Vorbild. Schiller knüpft auch klar an die durch Lessing vermittelte Drei-Reiche-Lehre des Gioacchino da Fiore an, wenn er selbst drei Reiche unterscheidet: Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet. 27. Brief, NA 20, 410

Schiller beschreibt hier, wie in der bestehenden Wirklichkeit (also ‚auf Erden‘) mit ihren konfligierenden Dimensionen des ‚subjektiven‘ und des ‚objektiven‘ Menschen das Ästhetische als ein neues, alles versöhnendes ‚Reich‘ Einzug erhält. Entsprechend rückt der ästhetisch-moralische Staat, der nach Schiller durch ästhetische Erziehung ermöglicht wird, in die Position eines Endzustands irdischer Geschichte, eines eschatologischen Reiches Gottes auf Erden. Schließlich kann in diesem Zusammenhang auch noch auf einen weiteren Text verwiesen werden, der nach Schillers Briefen entstanden ist, aber stark von ihnen beeinflusst ist und die eschatologische Dimension ihres Gedankenguts vollends explizit macht: das sogenannte Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus. Der Schlussteil dieses Fragments, dessen Verfasserschaft nicht geklärt ist, fordert bekanntlich eine „Mythologie der Vernunft“ (Werke 1, 236). Diese neue Mythologie soll eine neuartige Form von Gemeinschaft stiften, die den Staat ablöst und Einheit zwischen Gebildeten und Ungebildeten schafft. „Dann erst”, so der Verfasser in direktem Anschluss an Schillers Vermögenstheorie, „erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann faszinierende Studie zur Kultur- und politischen Geschichte des Millenarismus (auch außerhalb der christlichen Tradition und bis in die Gegenwart) bietet Landes 2011.

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herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!” (Werke 1, 236) Die eschatologische Natur dieser Äußerungen, die Forderungen und Prophezeiungen in eins sind, tritt ausdrücklich zutage, wenn es heißt, dass die „neue Religion“ von einem „höheren Geist, vom Himmel gesandt“, gestiftet werden soll und zugleich „das letzte, größte Werk der Menschheit“ sein wird (ebd.). Schiller fügt sich also mit den Briefen direkt in eine Reihe von Entwürfen eines sozio-politischen Millenarismus in der deutschen Philosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein. Zugleich unterscheidet sich Schillers Form von Millenarismus in einer wichtigen Hinsicht von der Kants, Lessings und des Verfassers des Ältesten Systemprogramms – nämlich darin, dass Schiller den ästhetisch-moralischen Staat als eine Form des Zusammenlebens ansieht, die Menschen durch eigene Kraft schaffen können (und zwar mittels des „ästhetische[n] Bildungstrieb[s]“, der nach der zuletzt zitierten Passage aus den Briefen das ästhetische Reich gründet). Für Kant hingegen ist die Realisierung des ethischen Gemeinwesens nur durch göttliche Intervention möglich (AA 6, 98)20, für Lessing geht der Erziehungsprozess des Menschen von Gott als Erzieher aus, und das Älteste Systemprogramm schreibt die Stiftung des neuen Gemeinwesens einem „höheren Geist, vom Himmel gesandt“, zu21. Im Gegensatz zum religiösen Millenarismus dieser Autoren vertritt Schiller also eine Form eines säkularisierten Millenarismus, wie er zuvor auch schon das Fortschrittsdenken der Aufklärung und die Französische Revolution geprägt hat22.

Hegel über das ästhetische Ideal und den ‚allgemeinen Weltzustand‘

Der reife Hegel lehnt Gesellschaftsvisionen wie Schillers säkularen Millena­ rismus, die eine Erfüllung des Menschen in einer vollkommenen Form des Zusammenlebens versprechen, grundsätzlich ab23. In seinen bekannteren 20  Das Reich der Zwecke hingegen ist bei Kant ausdrücklich nur eine rein ideale Konzeption, die einen Aspekt unseres Selbstverständnisses als autonome moralische Akteure ausdrückt (AA4, 433). 21  Insofern dieses Gemeinwesen zugleich „das letzte, größte Werk der Menschheit“ sein soll, ist der Text in diesem Punkt allerdings ambivalent. 22  Vgl. Landes 2011, Kap. 8 und 9; Mee 2004. 23  Hegel bemüht sich zwar teilweise auch darum, Traditionen millenarischen Denkens in sein System zu integrieren (man denke nur an seine Adaption von Giacchino da Fiores Drei-Reiche-Lehre in der Religionsphilosophie). Doch ist dies beim reifen Hegel stets mit der Aussage verbunden, dass das, was im Millenarismus für die Zukunft vorhergesagt wird,

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Stellungnahmen zu dieser Thematik, insbesondere in der Vorrede zu den GPR (Werke 7, 17 ff.), steht dabei Hegels Skepsis gegenüber vagen Idealvorstellungen, die die Rationalität der bestehenden Wirklichkeit verkennen, und gegenüber politischen Diskursen, die an Emotionen statt an Vernunft appellieren, im Vordergrund. In seiner Theorie des ästhetischen Ideals bietet Hegel demgegenüber eine andere, bisher wenig beachtete Perspektive auf die Thematik, weil er dort Grenzen des objektiven Geistes als solchem aufzeigt. Hegels Lehre vom ästhetischen Ideal ist das Kernstück seiner Ästhetik: Sie stellt seine Theorie der ontologischen Grundstruktur jedes wirklich schönen Kunstwerks dar24. Hegel definiert das Ideal als die „aus dem subjektiven Geiste geborene […] konkrete […] Gestalt, in welcher die natürliche Unmittelbarkeit nur Zeichen der Idee, zu deren Ausdruck so durch den einbildenden Geist verklärt ist, daß die Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt […]“ (Enz. § 556, Werke 10, 367). Ein Kunstwerk besteht demnach in einem sinnlich erfassbaren Stück Wirklichkeit („natürliche Unmittelbarkeit“), das seine Gestaltung nur dem Ziel verdankt, die Idee auszudrücken oder darzustellen. Eine solche Darstellung der Idee erfordert nach Hegel zweierlei. Erstens muss das Kunstwerk einen Inhalt oder eine ‚Seele‘ haben, die all seinen einzelnen Aspekten eine – ihrerseits sinnlich fassbare – Einheit verleiht, also sie zusammenhält und ihnen einen Sinn gibt (Werke 13, 36 f., 132). Zweitens muss dieser Inhalt „selber der wahrhaftige“ sein (Werke 13, 106), d.h. es muss sich bei ihm um das Grundprinzip der Wirklichkeit, das „Göttliche“ (Werke 13, 230), oder zumindest einen bestimmten Aspekt dieses Prinzips handeln. Da die Idee als Grundprinzip der Wirklichkeit nach Hegels Metaphysik selbst nur in Phänomenen des Geistes angemessen realisiert wird, kann Hegel den „höchsten Inhalt“ von Kunst mit Freiheit identifizieren (Werke 13, 134), die das Wesen des Geistes ausmacht (Enz. § 382, Werke 10, 25). Konkreter stellt für Hegel Kunst Freiheit dar, indem sie Menschen und ihre objektiv berechtigten oder vernünftigen Interessen zum Inhalt macht. So beschreibt Hegel den Inhalt genuiner Kunst als „an und für sich geistige […] Lebensmächte […]“ (Werke 13, 278), tatsächlich bereits eingetreten ist – eine Aussage, die gerade den Kern des Millenarismus verwirft. (Dagegen behauptet Theunissen, dass auch für den reifen Hegel eine weltliche Realisierung des Reichs Gottes, in der „die herrschaftslose Freiheit, die jetzt bloß in der Innerlichkeit möglich ist, zum Prinzip des gesellschaftlichen Lebens“ gemacht wird (374), noch aussteht (1970, 373 ff.). Theunissens Begründung für diese Deutung besteht im Wesentlichen in seiner – als solche m.E. sehr überzeugenden – Kritik von Lesarten, nach denen Hegel das Reich Gottes verweltlicht und mit dem Staat identifiziert (ebd., 369 ff.). Die These, dass Hegel eine künftige weltliche Realisierung des Reichs Gottes als herrschaftsfreies Zusammenleben annimmt, geht aber wesentlich über die Ablehnung solcher Lesarten hinaus und scheint mir Hegels Texten nicht gerecht zu werden.). 24  Vgl. Hilmer 1997, 98 ff.

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als „wahre Substanz des Geistigen, Sittlichkeit, Göttlichkeit“ (Werke 13, 233), oder als eine „in sich selbst berechtigte Macht des Gemüts“, die ein „wesentlicher Gehalt der Vernünftigkeit und des freien Willens“ (Werke 13, 301) ist. Dabei handelt es sich stets um Interessen, die das Zusammenleben der Menschen in der Sittlichkeit betreffen, also z.B. familiäre Beziehungen, rechtliche Ansprüche oder politische Anliegen25. In seiner Theorie des ästhetischen Ideals rekonstruiert Hegel nun verschiedene Ausprägungen, in denen so verstandene Aspekte von Freiheit oder der Idee in sinnlich erfassbarer Form präsentiert werden können. Hegel argumentiert dafür, dass dies am besten durch Darstellung handelnder Individuen (insbesondere im Drama26) geschieht, die entsprechende Interessen verkörpern, und analysiert die allgemeinsten Bestandteile einer solchen Darstellung. Neben den Individuen, ihrer Situation, dem dramatischen Konflikt und der eigentlichen Handlung zählt hierzu auch der „allgemeine Weltzustand“ (Werke 13, 235), vor dessen Hintergrund die Handlung stattfindet. Hegel ist nun der Auffassung, dass sich als derartiger Weltzustand im Rahmen des ästhetischen Ideals nur eine „Heroenzeit“ (Werke 13, 236) eignet, die noch keine rechtliche und staatliche Ordnung kennt. Hegels Argument hierfür lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Aufgrund des sinnlichen Charakters von Kunst gilt für Hegel, dass im ästhetischen Ideal die genannten Aspekte von Freiheit, die den Inhalt von Kunst bilden, direkt in der individuellen Gestalt menschlicher Akteure anschaulich werden müssen. Dies hat für Hegel zur Folge, dass im ästhetischen Ideal eine Beziehung zwischen Akteur und vernünftigem Inhalt bestehen muss, die als ‚unmittelbare Einheit‘ gekennzeichnet werden kann: „Denn die Kunst und ihr Ideal ist eben das Allgemeine, insofern es für die Anschauung gestaltet und deshalb mit der Partikularität und deren Lebendigkeit noch in unmittelbarer Einheit ist“ (Werke 13, 243, meine Hervorhebung). Hegel beschreibt diese unmittelbare Einheit konkreter als Selbständigkeit des Akteurs in der Realisierung des vernünftigen Inhalts (Werke 13, 236)27. In Hegels Ausführungen lassen sich vier eng miteinander zusammenhängende Bedingungen für derartige Selbständigkeit unterscheiden. Erstens darf der vernünftige Inhalt im Kunstwerk nur durch den individuellen Akteur und sein Handeln verkörpert werden: Die Wirklichkeit von Gerechtigkeit und Sittlichkeit muss vollständig dem Handeln des heroischen Individuums anheimgestellt sein, die „Substantialität“ muss „das besondere Eigentum dieses 25  Vgl. z.B. Werke 13, 233, 304. Ausgeschlossen sind dagegen vernünftige Inhalte, die wissenschaftliche Erkenntnisse oder religiöse Lehren betreffen: Werke 13, 303 f. 26  Vgl. Werke 13, 267: Der „dramatischen Kunst“ ist es „vergönnt […], das Schöne in seiner vollständigsten und tiefsten Entwicklung darzustellen […]“. 27  Vgl. zum Folgenden auch Peters 2015, 80 ff. und McCumber 1984.

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oder jenes Individuums“ sein (Werke 13, 240). Die handelnden Akteure müssen also heroische Gestalten sein, die auf eigene Faust für Recht und Ordnung sorgen bzw. „dem Übel und Unrecht [ab]helfen“ (Werke 13, 251). Bereits hieraus folgt, dass der Weltzustand, in dem die Darstellung des ästhetischen Ideals angesiedelt wird, eine „Heroenzeit“ (Werke 13, 236) sein muss, in der es noch keine fest etablierte rechtliche Ordnung gibt. Denn eine solche Ordnung würde eine Realität der vernünftigen Inhalte unabhängig vom Handeln des Individuums darstellen und daher dessen Selbständigkeit in der Realisierung jener Inhalte einschränken (Werke 13, 238). Entsprechend muss zweitens für Hegel der selbständige Akteur in der Lage sein, sein vernünftiges Interesse allein als ganzes auszuführen. Auch dies ist nur in einer Heroenzeit möglich, denn im Staat ist alles individuelle Handeln nur „Stückwerk“ (Werke 13, 198). Dies gilt insbesondere für den modernen Staat mit seinem hohen Grad an Arbeitsteilung: Im wahren Staat nämlich ist die Arbeit für das Allgemeine, wie in der bürgerlichen Gesellschaft die Tätigkeit für Handel und Gewerbe usf., aufs allermannigfaltigste geteilt, so daß nun der gesamte Staat nicht als die konkrete Handlung eines Individuums erscheint oder überhaupt der Willkür, Kraft, dem Mute, der Tapferkeit, Macht und Einsicht desselben kann anvertraut werden, sondern die zahllosen Beschäftigungen und Tätigkeiten des Staatslebens müssen einer ebenso zahllosen Menge Handelnder zugewiesen werden. Werke 13, 241

In Bezug auf den einzelnen Bürger bedeutet dies, dass er in seinem Handeln nie ein vernünftiges Interesse als ganzes verwirklichen kann: Was daher die Einzelnen auch an rechtlichen, sittlichen, gesetzmäßigen Handlungen in dem Interesse und Verlauf des Ganzen vollbringen mögen, ihr Wollen und Ausführen bleibt dennoch wie sie selber nur, gegen das Ganze gehalten, unbedeutend und ein bloßes Beispiel. Denn ihre Handlungen sind stets nur eine ganz partielle Verwirklichung eines einzelnen Falles, nicht aber die Verwirklichung desselben als einer Allgemeinheit in dem Sinne, daß diese Handlung, dieser Fall dadurch zum Gesetz gemacht oder als Gesetz zur Erscheinung gebracht würde. Werke 13, 240

Handeln unter Bedingungen des modernen Staates ist also wesentlich partiell; der einzelne Bürger erhält „nur einen ganz bestimmten und immer

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beschränkten Anteil am Ganzen“ (Werke 13, 241), und dies widerspricht der für das ästhetische Ideal nötigen Selbständigkeit des Akteurs. Der dritte Aspekt von Selbständigkeit besteht darin, dass sich der Akteur uneingeschränkt mit dem Inhalt und mit der Handlung, in der er ihn zu realisieren sucht, identifizieren muss. Der Akteur muss also die Handlung ganz und vorbehaltlos als die seine anerkennen. Das heißt für Hegel insbesondere, dass der Akteur keinen Unterschied macht zwischen Aspekten der Handlung, die er intentional und unter Kenntnis der relevanten Handlungsumstände hervorgebracht hat und für die er deshalb Verantwortung übernimmt, und anderen Aspekten, die nicht-intentional und/oder nicht für ihn vorhersehbar waren und für die er deshalb keine Verantwortung übernimmt. Stattdessen muss der Akteur im ästhetischen Ideal in Bezug auf seine Handlung „ungeteilt für das ein[stehen], was irgend an Folgen aus diesem Tun entspringt“ (Werke 13, 246). Hierbei handelt es sich aber für Hegel um ein entscheidendes Kennzeichen heroischen Handelns, das er auch andernorts vom Handeln in modernen Gesellschaften mit ihren differenzierteren Zuschreibungspraktiken unterscheidet (vgl. GPR § 118 A, Werke 7, 219). Schließlich erfordert die Selbständigkeit des Akteurs im ästhetischen Ideal für Hegel, dass es dem Akteur selbst überlassen ist, ob er sein vernünftiges Interesse in die Tat umsetzt oder nicht (Werke 13, 238). Auch diese Bedingung ist ohne Abstriche nur in einer Heroenzeit erfüllbar. Denn in einem geordneten Gemeinwesen und insbesondere im modernen Staat ist das Individuum in seinen „rechtlichen, sittlichen, gesetzmäßigen Handlungen“ durch eine nicht von ihm selbst geschaffene (Werke 13, 240 f.), „bis ins kleinste Detail hin in allgemeiner und notwendiger Weise“ (Werke 13, 240) spezifizierte normative Ordnung geleitet. Will ein Künstler selbständiges Handeln innerhalb der modernen Gesellschaft darstellen, muss er nach Hegel deshalb auf tiefere Inhalte verzichten: „Die Hausväterlichkeit und Rechtschaffenheit, die Ideale von redlichen Männern und braven Frauen […] machen in dieser Rücksicht den hauptsächlichsten Stoff aus“ (Werke 13, 253). Als konkreteres Beispiel nennt Hegel idyllische Dichtungen seiner Zeit, die die „Wirksamkeit in einem stillen und beschränkten, aber selbständigen Kreise“ (Werke 13, 339, meine Hervorhebung) zum Thema machen, die jedoch das „Mangelhafte“ haben, daß diese Einfachheit, das Häusliche und Ländliche in Empfindung der Liebe oder der Wohlbehägigkeit eines guten Kaffees im Freien usf., gleichfalls von geringfügigem Interesse sind, indem von allem weiteren Zusammenhange mit tieferen Verflechtungen in gehaltreichere Zwecke und Verhältnisse bei diesem Landpfarrerleben usf. nur abstrahiert wird. Werke 13, 250

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Aus den genannten Gründen schließt Hegel, dass das ästhetische Ideal die Darstellung handelnder Akteure in einem ‚allgemeinen Weltzustand‘ erfordert, der heroisches Handeln ermöglicht. Hierfür eignen sich mythische Zeitalter ebenso wie Zeiten des Umbruchs und der Unordnung, die eine „Rekonstruktion der individuellen Selbständigkeit“ (Werke 13, 255) erlauben. Als Beispiele nennt Hegel den Übergang von feudaler zu moderner Gesellschaft, vor dessen Hintergrund Goethe seinen Götz von Berlichingen ansiedelt, sowie Zeiten des Bürgerkriegs, wie sie den Rahmen für manche Dramen Shakespeares bieten (Werke 13, 252). Schlicht ungeeignet als Hintergrund für das ästhetische Ideal sind hingegen für Hegel die moderne Gesellschaft und der moderne Staat: die „[g]egenwärtige[n] prosaische[n] Zustände“ (Werke 13, 253) lassen keinen Raum für heroisches Handeln28.

Grenzen und Notwendigkeit der modernen Sittlichkeit

In Hegels Theorie des objektiven Geistes gibt es für Kritik am Leben in der modernen Sittlichkeit als solchem keinen Raum29. Dort erscheint insbesondere der Staat als „absoluter unbewegter Selbstzweck“, „in welchem die 28  Wohlgemerkt entspricht Hegels Begriff des ‚Heroen‘ als Akteur von so verstandenem heroischem Handeln nicht ohne weiteres dem gängigen Verständnis von literarischen Heldenfiguren. Ein Heroe in Hegels Sinn muss nicht in jeder Hinsicht positiv dargestellt sein; vielmehr betont Hegel, dass Heroen moralische Schwächen aufweisen können (Werke 13, 244). Ferner ist der Heroe nicht notwendigerweise der klar als solcher erkennbare ‚Gute‘, der gegen eindeutig böse Widersacher kämpft; beispielsweise vertreten für Hegel im Fall des Konflikts zwischen der heroischen Figur Antigone und dem Tyrannen Kreon beide Seiten berechtigte Anliegen. 29  Vgl. hierzu auch McCumber 1984. Im Gegensatz zur hier vorgestellten Lesart versteht McCumber Hegels Ausführungen zum heroischen Handeln aber selbst als Utopie mit „explosivem politischem Potential“ (ebd., 209, meine Übersetzung), das nur dadurch eingedämmt wird, dass eine andere Gestalt des absoluten Geistes – die Religion – Einsicht in die Unvereinbarkeit des heroischen Zeitalters mit dem gleichen Freiheitsanspruch aller Menschen gewährt (ebd., 208 f.). Dagegen lese ich Hegel so, dass die Kunst heroisches Handeln nicht als politische Utopie, sondern als unwiederbringlich verlorene Handlungsform präsentiert. Gerade dadurch kann sie strukturelle und nicht nur kontingente Grenzen des objektiven Geistes sichtbar machen. Im Übrigen bezweifle ich auch, dass für Hegel heroisches Handeln nur deshalb letztlich kein utopisches Ideal ist, weil es der gleichen Freiheit aller Menschen zuwiderläuft. Hegel behauptet nicht, dass heroisches Handeln notwendig auf einzelne Individuen eingeschränkt sein muss, und die Passage aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, auf die sich McCumber in diesem Zusammenhang beruft (Werke 12, 283), betont gerade, wie wenig hierarchisch die Gesellschaft des heroischen Zeitalters ist.

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Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt“, sodass es die „höchste Pflicht“ der Individuen ist, „Mitglieder des Staates zu sein“ (GPR § 258, Werke 7, 399). Hegels Ausführungen zum modernen Weltzustand in den Vorlesungen über die Ästhetik werfen hingegen ein ganz anderes, viel kritischeres Licht auf das Leben in der modernen Sittlichkeit. Wie wir gesehen haben, erscheint dieses Leben hier als geprägt von einer vorgegebenen sozialen und rechtlichen Ordnung, die dem Einzelnen kaum Möglichkeit zu einem erfüllenden Handeln gemäß tieferen Interessen bietet, seine Existenz zu bloßem ‚Stückwerk‘ macht, ihm nur dort wirklichen Entscheidungsraum lässt, wo es um oberflächliche Fragen des wirtschaftlichen Agierens oder des bürgerlichen Anstands („Hausväterlichkeit und Rechtschaffenheit“) geht, ihm als Existenzideal ein idyllisches „Landpfar­ rerleben“ und die „Wohlbehägigkeit eines guten Kaffees im Freien“ anbietet und ihm überdies die Verantwortung für jegliche Handlung abnimmt, indem sie ihm vielfältige Möglichkeiten bietet, die Schuld für Handlungsfolgen von sich zu weisen. Während diese hegelsche Kritik an der modernen Sittlichkeit in wichtigen Punkten mit Schillers Diagnose der modernen Einseitigkeit übereinstimmt, lässt Hegel in seiner Diskussion des ästhetischen Ideals doch keine Zweifel daran, dass er Alternativentwürfe wie Schillers säkularen Millenarismus grundsätzlich ablehnt: Für ihn steht außer Frage, dass „die Wesentlichkeit und Entwicklung der Zustände in dem ausgebildeten bürgerlichen und politischen Leben“ – also genau der Gesellschaftsform, die heroische Selbständigkeit und ‚Totalität des Charakters‘ à la Schiller unmöglich macht – als „ersprießlich und vernünftig“ anzuerkennen ist (Werke 13, 255) und nicht etwa durch eine andere Staats- und Gesellschaftsform zu ersetzen ist30. Das heißt nicht, dass für Hegel die politische Ordnung im Preußen seiner Gegenwart bereits die ideale Verwirklichung moderner Sittlichkeit darstellt. Aber die von Schiller wie von Hegel benannten Freiheitsdefizite des modernen Staats und der modernen Gesellschaft sind für Hegel nicht kontingente Einschränkungen einer gegebenen Gesellschaftsordnung, die durch eine Weiterentwicklung dieser Gesellschaft aufgehoben werden könnten. Vielmehr handelt es sich bei ihnen für Hegel um die Kehrseite einer an sich vernünftigen, notwendigen und irreversiblen Entwicklung. Dass die Realisierung des objektiven Geistes in der Geschichte diese Kehrseite hat, ist für Hegel ein strukturelles Defizit des objektiven Geistes selbst, das in dessen Rahmen prinzipiell nicht überwunden werden kann. 30  Speziell ein moralischer Staat kann für Hegel auch deshalb kein Desideratum sein, weil nach Hegel Moralität ein Moment des vernünftigen Staates ist und nicht umgekehrt: vgl. z.B. Grundlinien der Philosophie der Rechts § 141 Z, Werke 7, 291; § 207, Werke 7, 359; § 213, Werke 7, 365; § 337 A, Werke 7, 501 f.

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Während Hegel in der Ästhetik nicht eigens für diesen Punkt argumentiert, können seine Gründe für die Ablehnung millenarischer Gesellschaftsvisionen in stark vereinfachter Form folgendermaßen resümiert werden31. Hegel beansprucht in der Rechtsphilosophie sowie im Sittlichkeits-Kapitel der Phänomenologie des Geistes zu zeigen, dass eine Ausdifferenzierung von Gesellschaft und Staat in eine Vielzahl verschiedener Berufe, berufsabhängiger sozialer Gruppierungen (‚Stände‘, ‚Korporationen‘) sowie staatlicher Institutionen notwendig ist, um eine Realisierung sowohl von ‚subjektiver Freiheit‘ – der Realisierung von Bedürfnissen, Interessen und Erkenntnisansprüchen des Individuums – als auch ‚objektiver Freiheit‘ – der Realisierung einer an sich vernünftigen normativen Ordnung – zu ermöglichen. 31  Da Hegel die Rechtsphilosophie und Ästhetik seines reifen Systems mehr als zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Schillers Briefen entwickelt, lohnt es sich klar zu machen, dass religiös inspirierter wie säkularer politischer Millenarismus nach dem Ende der Französischen Revolution keineswegs obsolet sind. In der deutschsprachigen Philosophie der Jahre nach der Revolution greifen auf den Gedanken eines bevorstehenden Reichs Gottes auf Erden beispielsweise Novalis in Die Christenheit oder Europa (1799) und Fichte in den Reden an die deutsche Nation (1807/8) zurück. In den Jahren um 1820 findet sich die für Hegel wohl sichtbarste Ausprägung des politischen Millenarismus dann in der frühnationalistischen Bewegung des Vormärz. So beschwört Jakob Friedrich Fries, einer der akademischen Wortführer dieser Bewegung, in seiner Rede beim Wartburgfest 1817 den Heiligen Geist unter der Formel „Geist der Wahrheit“ als „Rächer und Retter“ (Fries 1817, 47) herauf, der nicht nur die lutheranische Reformation, die modernen Revolutionen und die deutschen Siege in den napoleonischen Kriegen ermöglicht habe, sondern auch der bevorstehenden neuen Gesellschaftsform eines vereinigten Deutschlands zugrunde liege („das Jahr, die Meinen zu erlösen, ist gekommen“: Fries 1817, 50). Die Mitglieder dieser neuen Gesellschaft seien nicht durch die „Form des Gesetzes und der Oberaufsicht allein“ gebunden, sondern „durch die heilige Kette der Freundschaft unverbrüchlich vereinigt“, und jede öffentliche Aufgabe werde durch einen ihr gewidmeten „Freundschaftsbund“ wahrgenommen (Fries 1817, 53). Auch in anderen Schriften kündigt Fries eine „Zeit der Wiederherstellung oder neuen Schöpfung” (Fries 1816, 12), eine Zeit der Blüte oder einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte an und beschreibt das Zusammenleben der Menschen in der bevorstehenden Gesellschaftsform als getragen durch „Begeisterung“ (Fries 1816, 83). Dass Hegel mit Fries’ Variante des politischen Millenarismus vertraut war, zeigt seine vieldiskutierte Polemik gegen Fries in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke 7, 18 ff.), in der er aus der Wartburgrede zitiert (vgl. dazu z.B. Avineri 1972, 119 ff.). – Millenarische Narrative und Rhetorik prägen im Übrigen auch spätere politische Bewegungen, wie z.B. Marxismus und Nationalsozialismus (vgl. Landes 2011, Kap. 10–12). Da daneben auch neuere populistische Bewegungen von manchen Forschern im Sinne millenarischer Vorstellungen gedeutet werden (z.B. Flanagan 1996), ist Hegels kritische Haltung gegenüber millenarischen Visionen nach wie vor von Aktualität.

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Dabei ergibt sich für Hegel die Notwendigkeit technischer Arbeitsteilung daraus, dass subjektive Freiheit Bedürfnisbefriedigung erfordert und dass zugleich unsere Bedürfnisse zur Fortentwicklung und Partikularisierung tendieren (GPR §§ 190 f., Werke 7, 347 ff.). Die soziale Ausdifferenzierung in Stände stellt für Hegel eine Form sozialer Kohäsion in der Gesellschaft technischer Arbeitsteilung dar, die notwendig ist, damit eine Vielzahl von Individuen mit je unterschiedlichen Bedürfnissen und Spezialisierungen in geordneter Weise zusammenleben kann (GPR § 201, Werke 7, 354). Die unterschiedlichen staatlichen Institutionen wiederum sind für Hegel deshalb notwendig, weil sich die objektiv vernünftige Idee des Staates (und damit das Prinzip von objektiver Freiheit) gemäß Hegels metaphysischer Theorie der Idee in besondere Bestimmungen ausdifferenzieren muss (GPR §§ 144 f., Werke 7, 293 f.). Aber auch unabhängig von Hegels Metaphysik der Idee ist die Notwendigkeit einer institutionellen Arbeitsteilung im Staat plausibel, und zwar aufgrund von Montesquieus klassischem Argument für Gewaltenteilung: Da der Staat verschiedene Aufgaben und Kompetenzen hat, ist zur Vermeidung von Despotie eine gegenseitige Beschränkung und Kontrolle der Träger dieser Kompetenzen notwendig, die ihrerseits eine Unterscheidung von Institutionen erfordert. Technische, soziale und institutionelle Arbeitsteilung in Gesellschaft und Staat ist also für Hegel eine Bedingung für die Realisierung von subjektiver und objektiver Freiheit, und die Entwicklung dieser Arbeitsteilung in der modernen Sittlichkeit kann nicht ohne massiven Freiheitsverlust rückgängig gemacht werden.

Kunst als Kritik am objektiven Geist

Indem Hegel in seiner Diskussion des ästhetischen Ideals die moderne Sittlichkeit kritisiert und zugleich an ihrer Notwendigkeit festhält, macht er auf prinzipielle Grenzen, nämlich ein strukturelles Freiheitsdefizit des objektiven Geistes, aufmerksam. Dabei handelt es sich zunächst wohlgemerkt um eine Form philosophischer Kritik am objektiven Geist. Doch Hegel beansprucht auch, dass seine Kunstphilosophie, in deren Rahmen er diese Kritik entfaltet, nicht äußerliche Interpretationen oder normative Vorgaben an Kunst heranträgt, sondern vielmehr den eigenen Wahrheitsgehalt von Kunst offenlegt32.

32  Vgl. Werke 13, 35: „Die Philosophie der Kunst bemüht sich nicht um Vorschriften für die Künstler, sondern sie hat auszumachen, was das Schöne überhaupt ist und wie es sich im Vorhandenen, in Kunstwerken gezeigt hat, ohne dergleichen Regeln geben zu wollen.“

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Wir sollten also erwarten, dass die erörterte philosophische Kritik am objektiven Geist nur eine kritische Dimension auf den Begriff bringt, die in Kunst selbst (zumindest dann, wenn sie ‚wahrhaft‘ ist und das Ideal realisiert) angelegt ist. In diesem Abschnitt versuche ich zu zeigen, dass aus Sicht Hegels die künstlerische Darstellung heroischen Handelns tatsächlich eine derartige kritische Dimension besitzt33. Ein erster wichtiger Punkt ist dabei, dass für Hegel Kunst selbst mit der ‚Selbständigkeit‘ des Akteurs eine Gestalt von Freiheit darstellt, die einen kritischen Maßstab zur Bewertung der Realisierung von Freiheit unter verschiedenen historischen Bedingungen bietet – und zwar einen Maßstab, der der Sphäre des absoluten, nicht des objektiven Geistes angehört und deshalb nicht notwendigerweise mit derjenigen Freiheit zusammenfällt, die nach der Theorie des objektiven Geistes in der modernen Sittlichkeit „zu ihrem höchsten Recht kommt“ (GPR § 258, Werke 7, 399). Der Akteur im ästhetischen Ideal besitzt „lebendige[…] Selbständigkeit“, er bildet eine „wirkliche[…], individuelle[…] Totalität“ (Werke 13, 255), er ist ein „Mensch[…] aus einem Stück“ (Werke 13, 224). Durch derartige Beschreibungen rückt Hegel die in Kunst dargestellte Selbständigkeit heroischen Handelns in die Nähe derjenigen Art von Freiheit, die er als spezifische Leistung der Gestalten des absoluten Geistes ansieht. So schreibt Hegel allgemein über Freiheit in den Gestalten des absoluten Geistes: In allen Sphären des absoluten Geistes enthebt der Geist sich den beengenden Schranken seines Daseins, indem er sich aus den zufälligen Verhält­nissen seiner Weltlichkeit und dem endlichen Gehalte seiner Zwecke und Interessen zu der Betrachtung und dem Vollbringen seines Anundfürsichseins schließt. Werke 13, 131

33  Diese kritische Dimension, wie ich sie im Folgenden interpretiere, kommt der künstlerischen ‚Rekonstruktion‘ heroischen Handelns als solcher zu. Sie muss für Hegel nicht in der Autorintention liegen, denn Hegel weist die Auffassung zurück, der Gehalt eines Kunstwerks werde durch die Autorintention festgelegt (insbesondere im Abschnitt „Das geistige Tierreich und der Betrug oder die Sache selbst“ in der Phänomenologie des Geistes). – Wohlgemerkt lässt sich die fragliche kritische Dimension nur dort sinnvoll Kunstwerken zuschreiben, wo in Hegels Sinn eine ästhetisch gelungene Rekonstruktion heroischer Selbständigkeit vorliegt. Fälle wie die modernen Idyllen, die Hegel als Kontrastfolie für seine Analyse gebraucht, bilden lediglich Symptome für die von Hegel beschriebenen Defizite der Moderne. Die Kritik am objektiven Geist kann für Hegel nicht Teil ihres eigenen Wahrheitsgehalts sein, da sie gerade infolgedessen, dass sie das Ideal nicht oder nur sehr mangelhaft realisieren, gar keinen Wahrheitsgehalt haben.

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Endlichkeit, Beschränktheit und Borniertheit in den jeweils verfolgten Interessen ist gerade das, was für Hegel die „Welt des Alltäglichen und der Prosa“ ausmacht (Werke 13, 197); und wie wir gesehen haben, können in der modernen Gesellschaft auch an sich zutiefst vernünftige rechtliche und sittliche Interessen nur in der Form von einseitigen, beschränkten Handlungszielen verfolgt werden. Derartige Beschränkungen stellen für Hegel immer auch Abhängigkeiten dar, denn durch welche „eigenen engen Interessen“ (ebd.) das Individuum jeweils genau zum Handeln getrieben wird, hängt von äußeren Gegebenheiten oder vom Zufall ab (ebd.). Entsprechend ist der Mensch in der „Prosa“ des modernen Alltags „nicht aus seiner eigenen Totalität tätig und nicht aus sich selbst, sondern aus anderem verständlich“ (ebd.). Dieser vielfachen Beschränktheit, die den objektiven Geist gerade in seiner Vollendungsgestalt kennzeichnet, setzen die Gestalten des absoluten Geistes eine eigene Realität von Freiheit entgegen. In ihnen verliert sich der Mensch nicht in seine partiellen Interessen, sondern sammelt sich, indem er sich mit Inhalten beschäftigt, die wesentlich unbeschränkt und unendlich sind34 – zum einen, weil sich der Mensch hier mit seinem eigenen Wesen als Geist beschäftigt, zum anderen, weil er hier (zumindest nach Hegels Auffassung von Kunst, Religion und Philosophie) ein Verständnis der Wirklichkeit als ganzer und seiner Position in ihr gewinnt. Indem der Mensch in den Gestalten des absoluten Geistes somit die Beschränkung durch endliche und enge Interessen im objektiven Geist überwindet, befreit er sich hier auch von der Abhängigkeit von Anderem, die mit dieser Beschränkung einhergeht. Zwar ist diejenige Selbständigkeit, die uns künstlerische Darstellungen heroischen Handelns vor Augen führen, nicht selbst eine Form der für die Gestalten des absoluten Geistes spezifischen ‚höchsten Freiheit‘ des Menschen. Denn da in ihr nur eine ‚unmittelbare‘ Beziehung zwischen handlungsleitendem Interesse und Akteur besteht, ist sie im Sinne von Hegels Analyse des freien Willens in der Einleitung zur Rechtsphilosophie eine Ausprägung des natürlichen Willens, der selbst von äußerlichen oder zufällig gegebenen Bedingungen abhängt und durch Reflexion, Prüfung und Revision in eine vernünftige Gestalt transformiert werden muss, um ein freier Wille zu werden (GPR §§ 11–20, Werke 7, 62 ff.). Doch indem die Selbständigkeit des Akteurs im ästhetischen Ideal wichtige Merkmale der Freiheitsformen teilt, die den Umgang des Menschen mit Kunst, Religion und Philosophie kennzeichnen, kann sie als Analogon der für die Gestalten des absoluten Geistes charakteristischen Freiheitsformen auf dem Gebiet des Handelns im objektiven Geist verstanden werden. Als solches 34  Vgl. z.B. Werke 10, 412: „Religion wie Philosophie [hat] zum Gegenstande den höchsten [Zweck] – unbeschränkt, – ist ein Umgehen mit ihm.“

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kann sie (anders als die Freiheitsformen der Gestalten des absoluten Geistes selbst35) sinnlich fassbar dargestellt werden und zugleich eine Kontrastfolie zur Freiheit bilden, die der Rezipient von Kunst selbst innerhalb des objektiven Geistes erfahren kann. Dies lässt allerdings noch verschiedene Möglichkeiten hinsichtlich dessen offen, wie die fiktive Selbständigkeit des Heroen im Verhältnis zum realen objektiven Geist im Rahmen von Kunstwerken bewertet wird. Kunstwerke könnten sich einer solchen Bewertung enthalten, oder sie könnten beispielsweise das heroische Zeitalter als politisches Ideal, das wir im objektiven Geist realisieren können und sollen, präsentieren36. Warum sollte die Darstellung von heroischem Handeln in der Kunst ausgerechnet im Sinne einer Kritik an strukturellen Defiziten des objektiven Geistes verstanden werden? Geht Hegel nicht doch wesentlich über den Gehalt von Kunst selbst hinaus, wenn er im Rahmen seiner Theorie des ästhetischen Ideals eine derartige Kritik entwickelt? Meines Erachtens kann plausibel gemacht werden, dass Kunst für Hegel in der Darstellung heroischen Handelns die Selbständigkeit des heroischen Akteurs zur Kritik der modernen Sittlichkeit und des objektiven Geistes überhaupt verwendet, wenn die Struktur der Darstellung heroischen Handelns und unserer Einstellung zu ihr, wie Hegel sie versteht, noch etwas genauer betrachtet wird. Diese Darstellung involviert in Bezug auf ein Publikum, das selbst in der modernen Sittlichkeit lebt37, einen doppelten Bruch mit seiner eigenen Lebenswirklichkeit. Erstens wird, wie wir gesehen haben, mit der Selbständigkeit des Helden eine Form von Freiheit präsentiert, die der Freiheit, wie sie der Rezipient aus der modernen Sittlichkeit kennt, in wichtigen Punkten überlegen ist. Diese Selbständigkeit wird typischerweise vom Kunstwerk selbst als etwas Positives dargestellt, indem heroische Protagonisten als Gegenstand der Identifikation oder zumindest Empathie für das Publikum präsentiert werden. Zweitens wird diese positive Seite der Darstellung komplementiert dadurch, dass als Bedingung dieser heroischen Freiheit gewöhnlich Umstände präsentiert werden, die gleichfalls mit der eigenen Wirklichkeit der Rezipienten brechen, aber aus deren Sicht alles andere 35  Vgl. Fußnote 25. 36  Dies entspräche der Deutung von McCumber 1984: vgl. Fußnote 29. 37  Diese Einschränkung wähle ich der Einfachheit halber. Die im Folgenden vorgeschlagene Deutung lässt sich aber, mutatis mutandis, auch auf Kunstwerke anwenden, die unter Umständen und für ein Publikum entstanden sind, die nicht der modernen Sittlichkeit angehören. Beispielsweise rekonstruieren auch die klassischen griechischen Tragödien eine heroische (teils mythologische, teils historische) Vorzeit für ein zeitgenössisches Publikum, das selbst in viel stärker geordneten und ausdifferenzierten sozialen und politischen Verhältnissen lebt.

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als erstrebenswert (oder gar ein utopisches Ideal38) sind. Neben der Auswahl konfliktreicher Handlungssituationen und tragischer Handlungsverläufe (die Hegel ebenfalls in seiner Theorie des Ideals diskutiert) ist für diese negative Dimension der Darstellung in der Tat sehr häufig die Entscheidung des Autors verantwortlich, die Handlung nicht in der geordneten, alltäglichen Realität des Publikums anzusiedeln, sondern außerhalb ihrer – sei es, wie in der klassischen und klassizistischen Tragödie, in mythischer Vorzeit, sei es in Zeiten von Kriegen oder sozialen Umbrüchen wie im Fall des von Hegel besprochenen Götz von Berlichingen, sei es, in neueren Werken, vor dem Hintergrund totalitärer Regimes. Dieser ambivalenten Struktur der ‚Rekonstruktion individueller Selbstän­ digkeit‘ im Kunstwerk entspricht nun eine gleichfalls ambivalente Einstellung des Rezipienten zum dargestellten heroischen Handeln. Hegels Analyse dieser Einstellung ist in der folgenden bemerkenswerten Passage überliefert, aus der ich bereits Teile zitiert habe: Das Interesse nun aber und Bedürfnis solch einer wirklichen, individuellen Totalität und lebendigen Selbständigkeit wird und kann uns nie verlassen, wir mögen die Wesentlichkeit und Entwicklung der Zustände in dem ausgebildeten bürgerlichen und politischen Leben als noch so ersprießlich und vernünftig anerkennen. Werke 13, 255

Wir haben also nach Hegel zum einen – entsprechend der positiven Dimension in der Darstellung heroischen Handelns – ein genuines und berechtigtes Interesse an solchem Handeln: Denn, so können wir aufgrund unserer vorherigen Diskussion ergänzen, dieses Handeln führt uns Aspekte von Freiheit vor Augen, für die in der prosaischen Gegenwart der modernen Sittlichkeit kein Raum besteht. Zum anderen wird dieses Interesse komplementiert von einem Bewusstsein dessen, dass die moderne Sittlichkeit dem im Kunstwerk ‚rekonstruierten‘ heroischen ‚Weltzustand‘ überlegen ist, dass also dieser Weltzustand auch nicht erstrebenswert ist. Bei diesem Bewusstsein handelt es sich wohlgemerkt aus Hegels Sicht nicht um eine Bewertung, die erst die philosophische Reflexion beisteuert. Vielmehr liegt es nahe, dieses Bewusstsein selbst als einen Ausdruck derjenigen „Gesinnung“ des Zutrauens zu verstehen, die laut Hegel die charakteristische Einstellung des Bürgers in der modernen Sittlichkeit zum Staat ist. Hegel definiert dieses Zutrauen als „das Bewußtsein, daß mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des 38  Vgl. abermals Fußnote 29.

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Staats) als im Verhältnis zu mir als Einzelnem bewahrt und enthalten ist“ (GPR § 268, Werke 7, 413). Ein Bürger, der seinem Staat gegenüber so verstandenes Zutrauen hat, sieht also sowohl sein Eigeninteresse (sein ‚besonderes Interesse‘) als auch seine Vernunftnatur (sein ‚substantielles Interesse‘) durch diesen Staat respektiert und geschützt. Diese beiden Aspekte des Zutrauens entsprechen ihrerseits den zwei Dimensionen von ‚subjektiver‘ und ‚objektiver‘ Freiheit, die nach Hegel im modernen Staat (anders als in früheren Gesellschaftsformen) beide gleichermaßen realisiert sind (vgl. GPR § 258 A, Werke 7, 399). Somit hat der Bürger in der modernen Sittlichkeit ein relativ spezifisches Verständnis derjenigen Freiheit, die er der sozialen Realität verdankt, in der er lebt. In der Rezeption der künstlerischen Darstellung heroischen Handelns ermöglicht dieses Verständnis auch ein Bewusstsein der Distanz zwischen moderner Sittlichkeit und dem im Kunstwerk rekonstruierten heroischen Zeitalter sowie des Fortschritts, den erstere gegenüber letzterem darstellt39. Wenn die beiden Elemente der resultierenden Einstellung zum künstlerisch repräsentierten heroischen Handeln – unser Interesse an der Selbständigkeit des heroischen Akteurs und unsere negative Sicht auf die Umstände, die diese Selbständigkeit erst möglich machen – zusammengenommen werden, dann kann diese Einstellung auch als melancholisches Bewusstsein eines Verlustes beschrieben werden: als Bewusstsein davon, dass gerade durch den Fortschritt, der die moderne Sittlichkeit zutage gebracht hat (und der dem Bürger in Form des ‚Zutrauens‘ zum Staat bewusst ist), etwas Wertvolles, nämlich die heroische Selbständigkeit, unwiederbringlich verloren ist. Da dieses melancholische Bewusstsein aufgrund der ambivalenten Struktur der Rekonstruktion heroischer Selbständigkeit in der Kunst selbst angelegt ist, macht Kunst durch ihre Darstellung heroischen Handelns eine grundlegende Aporie des objektiven Geistes sichtbar. Statt also, wie in Schillers millenarischer Version, auf eine künftige perfekte Gesellschaft hinzuwirken, thematisiert Kunst für Hegel die Grenzen dessen, was die Gesellschaft dem Menschen an Freiheit zu bieten vermag. 39  Ebenso wie Hegels Skepsis gegenüber dem politischen Millenarismus (vgl. Fußnote 31) ist auch seine Analyse der Rekonstruktion heroischen Handelns und unseres Interesses daran nach wie vor aktuell, da sie auch für neuere Kunstformen und populärkulturelle Genres einen fruchtbaren Deutungsansatz bildet. Man denke etwa an Darstellungen von heroischen Handlungen unter totalitären Regimes in Erzählungen, Romanen und Filmen, Comic-Helden in korrupten Großstädten (z.B. Batman in Gotham City) und Heldenfiguren in Western-Filmen (die teilweise auch explizit den Kontrast zwischen ‚heroischem Zeitalter‘ und späterer staatlicher Ordnung sowie die jeweilige (Un-)Möglichkeit heroischen Handelns thematisieren; vgl. z.B. John Fords The Man Who Shot Liberty Valance).

Fokus 3.B Religion



Tod Gottes und Andersheit des Geistes

Die Ambivalenz von Hegels Philosophie der geoffenbarten Religion Georg Sans SJ Unter dem Einfluss der analytischen Philosophie bildete sich in den letzten Jahrzehnten die Tendenz aus, die Interpreten Hegels grob in zwei Lager einzuteilen. Auf der einen Seite stehen die Vertreter der sogenannten metaphysischen Lesart. Ihnen zufolge enthält Hegels System eine neuartige philosophische Theorie des Absoluten. Das Absolute deutet Hegel als ein lebendiges Ganzes, das die Natur mit umfasst, das aber nur in geistigen Kategorien angemessen begriffen werden kann. Metaphysisch im engeren Sinn oder theologisch ist eine Lesart, die den absoluten Geist der hegelschen Philosophie mit dem Gott der christlichen Religion gleichsetzt1. Gegen die Annahme, Hegel propagiere mit Schlagwörtern wie das ‚absolute Wissen‘, die ‚absolute Idee‘ oder der ‚absolute Geist‘ die philosophische Erkenntnis einer Art nicht-empirischen ‚Supergegenstandes‘, wenden sich die Vertreter der nicht-metaphysischen Lesart. Ihrer Ansicht nach bleibt Hegel, was die Ablehnung jeder Art von spekulativer Erkenntnis des Absoluten anbelangt, Kant treu. Hegels Rede vom Geist im Allgemeinen und vom absoluten Geist im Besonderen beinhalte keine metaphysische oder gar theologische Existenzbehauptung, sondern beziehe sich einzig auf die sozialen Erscheinungsformen und kulturellen Errungenschaften des endlichen, menschlichen Geistes. Die Frontstellung zwischen metaphysischer und nicht-metaphysischer Hegelinterpretation gleicht in vieler Hinsicht den Auseinandersetzungen innerhalb der frühen hegelschen Schule. Sieht man von der politischen Gemengelage der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab, lässt sich der Streit auf die Gretchenfrage nach der Religion zuspitzen. Genau wie die hegelsche Rechte damals, deuten die Vertreter der metaphysischen Lesart heute die religiöse Sprache realistisch. Der Gott, von dem der Religionsphilosoph handelt, ist prima facie nicht weniger wirklich als die Materie für den Naturphilosophen oder historische Ereignisse für die Geschichtsphilosophin. In antirealistischer Perspektive hingegen lässt sich die Rede von Gott als die Funktion eines anderen Bereichs der Wirklichkeit auffassen, der seinerseits als das eigentlich Reale gelten kann. So wird der religiöse Glaube beispielsweise als Ausdruck individueller Bedürfnisse oder gesellschaftlicher Konventionen verstanden. Der Antirealist betrachtet die Religion als eine der Weisen, wie die Wünsche 1  Zu den Grenzen einer solchen Gleichsetzung vgl. Sans 2016a.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_024

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des Einzelnen oder bestimmte gemeinschaftliche Normen im menschlichen Bewusstsein erscheinen.

Der spekulative Karfreitag

Den Werken Hegels ist seine Vergangenheit als Theologe zeitlebens anzumerken. Das gilt nicht nur für die frühen Berner und Frankfurter Schriften, sondern bis in die späten Berliner Jahre. Dabei ist Hegels Bezugnahme auf das Christentum durch eine tiefe Ambivalenz geprägt. Auf der einen Seite bemüht sich der Philosoph wie kaum ein anderer um die begriffliche Durchdringung des christlichen Glaubens. Auf der anderen Seite bedient sich Hegel seit der Jenaer Zeit bestimmter christlicher Theologumena zur Erläuterung des von der spekulativen Philosophie Gemeinten. Deshalb bleibt unklar, ob für Hegel das Christentum als Begriffenes selbst Bestand hat, oder ob es durch das Begreifen als im Wesentlichen überwunden gelten muss2. Hinter dieser Alternative lassen sich leicht die beiden Flügel der hegelschen Schule erkennen. Während die Rechte Hegels Philosophie der Religion als zeitgemäße Vorlage für eine orthodoxe christliche Dogmatik feierte, machte die Linke sich an den Nachweis, dass es sich bei dem absoluten Geist der hegelschen Philosophie letzten Endes um die Menschheit selbst handle. Sobald die religiösen Vorstellungen in philosophische Begriffe übersetzt sind, so lautete die Vermutung, verschwindet jeder Anschein von Transzendenz. Zum eigentlichen Propheten des neuen Zeitalters, in dem die Religion ihren orientierenden Sinn verloren hat, wurde Friedrich Nietzsche. Mit glühendem Eifer bekämpfte er alles, was den Anspruch auf absolute Geltung machte. Zugleich ließ er keinen Zweifel daran, dass ein solcher Werteverlust den meisten Zeitgenossen zu schaffen machen werde, weil sie mit ihrer neuen, ganz auf sich selbst gestellten Freiheit nichts anzufangen wüssten. Die Nachricht vom Tod Gottes verkündet bei Nietzsche zunächst einer, den die anderen für verrückt halten. Zu dem Aphorismus vom tollen Menschen hat sich Nietzsche, wie Eugen Biser vermutet, von Heinrich Heine anregen lassen3. Heine wiederum berichtet von einem Besuch in dem Londoner Hospital für Geisteskranke „New Bedlam“. Damals verlor er seinen Begleiter aus den Augen und befand sich plötzlich allein unter lauter Wahnsinnigen. An das Gefühl von Beklemmung,

2  Für W. Jaeschke handelt es sich bei der Ambivalenz um keine „Zweideutigkeit“, sondern um eine „Zweischneidigkeit“ (vgl. Jaeschke 2003, 473). 3  Vgl. Biser 1971, 56 ff.

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das ihn dabei überkam, müsse er jedes Mal denken, wenn er jemanden an der Existenz Gottes zweifeln höre. Heines Bemerkung ist auf Immanuel Kant gemünzt, der in seiner Kritik der reinen Vernunft die theoretische Erkenntnis der Existenz Gottes für unmöglich erklärt hatte. Heine beschreibt die Tat Kants als einen regelrechten Amoklauf: „Er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blut.“4 Wie viel von der Dramatik dieser Stelle der literarischen Inszenierung geschuldet ist, und wie sehr Heine hier als Ironiker spricht, bleibe dahingestellt. Jedenfalls bezichtigte der Dichter in späteren Jahren nicht nur Kant, sondern auch seinen Berliner Lehrer Hegel, der Gottlosigkeit Vorschub geleistet zu haben5. Ist Hegel also einer der Vollstrecker des Todes Gottes? Eine Antwort wird durch den Umstand erschwert, dass Hegel mit dem theologischen Denken und der religiösen Sprache bestens vertraut war, so dass er Theologumena auch dort passend einzusetzen verstand, wo sie keinen religiösen Sinn mehr besaßen. Die Rede vom Tod Gottes bildet davon keine Ausnahme, sondern stellt einen besonders lehrreichen Fall dar, denn anders als Nietzsche spielt Hegel ausdrücklich auf ihren Ursprung in der christlichen Frömmigkeit an. Am Ende des berühmten Jenaer Journalaufsatzes über „Glauben und Wissen“ zeichnet Hegel in knappen Zügen sein philosophisches Programm und fasst es in die Formel zusammen, dass Sein und Denken, Endliches und Unendliches einander nicht gegenseitig ausschließen, dass also „das Sein schlechthin nicht außer dem Unendlichen, Ich, Denken, sondern beide eins sind“. Um dieses Ziel zu erreichen, fährt Hegel fort, müssten der „unendliche Schmerz“ und das „absolute Leiden“ als Moment der Idee des Ganzen begriffen werden. Diesen Schmerz beschreibt Hegel als „das Gefühl: Gott selbst ist tot“, auf dem „die Religion der neuen Zeit“ beruhe (GW 4, 413 f.). Mit der Religion der neuen Zeit ist der Protestantismus gemeint. Für den protestantischen Christen bildet das schmerzliche Gefühl des Todes Gottes die geistliche Erfahrung des Karfreitags. Wenn Jesus von Nazareth, wie es im Credo heißt, göttlichen Wesens ist, stirbt am Kreuz nicht bloß irgendein Mensch, sondern die zweite göttliche Person6. Die Stimmung des Karfreitags fängt ein Kirchenlied ein, auf das Hegel an der zitierten Stelle anspielt. Die erste Strophe stammt von dem Jesuiten Friedrich Spee (1591–1635): „O Traurigkeit, o Herzeleid! / Ist das dann nicht zu klagen, / Gottes Vaters einigs Kind / Wird zum Grab getragen.“ Der evangelische Prediger Johannes Rist (1607–1667) fügte dem Choral eine zweite Strophe hinzu, deren 4  Heine 1835, 211 f. 5  Vgl. Heine 1854, 63. 6  Zum theologiegeschichtlichen Hintergrund vgl. Depoortere 2007.

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erste Zeile lautet: „O große Not! Gott selbst liegt tot.“7 Die Rede vom Tod Gottes bezieht sich demnach ursprünglich auf den Kreuzestod Jesu. Das Leiden und Sterben des menschgewordenen Sohnes Gottes steht für Luther im Mittelpunkt christlicher Theologie. Nicht derjenige sei wert, „ein Theologe zu heißen, der Gottes unsichtbares Wesen durch das Geschaffene erkennt und erblickt“, sondern nur der, „der Gottes sichtbares und (den Menschen) zugewandtes Wesen durch Leiden und Kreuz erblickt und erkennt“8. Der natürlichen Gotteslehre des Aristoteles und der mittelalterlichen Scholastik stellt der Reformator eine Theologie gegenüber, die Gott in der Schwachheit und Torheit des Kreuzes erkenne9. Einer solchen ‚Theologie des Kreuzes‘ fällt die paradoxe Aufgabe zu, sich auf die Endlichkeit des Unendlichen und auf die Sterblichkeit des ewigen Gottes einen Reim zu machen10. Hegel begnügt sich nicht mit der Anspielung auf den Schmerz der Christen am Karfreitag, sondern er verleiht der Rede vom Tod Gottes sogleich eine allgemeinere Bedeutung, indem er sie mit einem Diktum Blaise Pascals verbindet: „La nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme“ (GW 4, 414)11. Der verlorene Gott Pascals teilt mit dem gekreuzigten Gott Luthers, dass beide in der Welt nicht anzutreffen sind. Lediglich der Schmerz in den Seelen der Gläubigen und einige Spuren in der Natur weisen auf den abwesenden Gott hin. Allerdings unterschlägt Hegel die letzte Zeile von Pascals Diktum. Nach ‚einen verlorenen Gott sowohl im Menschen als auch außerhalb des Menschen‘ fügt Pascal hinzu: „et une nature corrompue“. Die Anzeichen ihrer Verderbnis liegen in der Natur selbst. Hinter der Bemerkung Pascals stehen sein Jansenismus und die Gnadenlehre des Augustinus. War Gott in der Natur ursprünglich sichtbar, ging er infolge des Sündenfalls verloren. Seitdem trägt die Natur die Spuren des Verlustes Gottes an sich. 7  Vgl. Stock 2001. 8  Luther 1969 (orig. 1518), 388. 9  Vgl. Luther 1969, 389. – Sowohl bei der Erkenntnis Gottes aus den Werken der Schöpfung als auch bei der Torheit des Kreuzes handelt es sich um Motive aus den Briefen des Apostels Paulus (vgl. Röm 1,20 und 1 Kor 1,18). 10  In seinen Berliner Vorlesungen nennt Hegel seine Quelle beim Namen: „‚Gott selbst ist tot‘ heißt es in einem lutherischen Lied; damit ist das Bewusstsein ausgedrückt, dass das Menschliche, Endliche, Gebrechliche, die Schwäche, das Negative göttliches Moment selbst sind, dass es in Gott selbst ist, dass die Endlichkeit, das Negative, das Anderssein nicht außer Gott ist und als Anderssein die Einheit mit Gott nicht hindert“ (Hegel, Vorlesungen 5, 249 f.). 11  „Die Natur ist so beschaffen, dass sie überall, sowohl im Menschen als auch außerhalb des Menschen, auf einen verlorenen Gott hinweist“ (Pascal 1997, 272).

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Im Zusammenhang von „Glauben und Wissen“ gilt Hegels Interesse weder der Christologie des lutherischen Liedes noch der Erbsündenlehre Pascals. Stattdessen prägt er die Formel von dem „spekulativen Karfreitag“, den die Philosophie „in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen“ müsse (GW 4, 414). Die Deutung der Metapher hat von der Frage auszugehen, wer oder was am spekulativen Karfreitag stirbt12. Aus der Anspielung auf das Kirchenlied darf geschlossen werden, dass es nicht nur am historischen, sondern auch bei dem spekulativen Karfreitag – in einem noch näher zu bestimmenden Sinn – um den Tod Gottes geht. Ließe die spekulative Philosophie Gott nun einfach sterben, wäre das Unwohlsein Heinrich Heines berechtigt. Genau wie Kants Kritik der Scheinbeweise der rationalen Theologie bezweckte auch die Philosophie Hegels, das Denken von überkommenen religiösen Vorstellungen zu reinigen. Die beiden Philosophen würden zu einem Teil jenes kollektiven Wir, das dem tollen Menschen Nietzsches zufolge Gott getötet hat. Die Einseitigkeit einer solchen Sichtweise belegt mit Blick auf Kant dessen Bemerkung, er habe das spekulative Wissen „aufheben“ müssen, um zum praktischen Glauben „Platz zu bekommen“13. Was Hegel betrifft, bezieht sich die theologische Metapher vom spekulativen Karfreitag nicht bloß auf das Sterben am Kreuz, sondern sie eröffnet auch einen Ausblick auf die Auferstehung der Toten an Ostern. Der Aufsatz „Glauben und Wissen“ endet mit der Ankündigung, dass die „höchste Totalität“ aus der Gottlosigkeit des spekulativen Karfreitags „in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grund, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muss“ (GW 4, 414)14. Die hegelsche ‚Philosophie des Kreuzes‘ zielt demnach auf die Einsicht, dass Leid und Tod keineswegs den endgültigen Verlust Gottes bedeuten. Vielmehr sind der Schmerz und alles Negative als Moment der absoluten Idee aufzufassen. Am spekulativen Karfreitag ‚stirbt‘ weniger Gott überhaupt als eine einseitige Vorstellung von Gott. Hegel bringt sie mit den 12  Zum Folgenden vgl. Sans 2012. 13  Kant, AA 3 (Kritik der reinen Vernunft), B XXX. 14  Im Naturrechtsaufsatz desselben Jahres spricht Hegel von einer „Aufführung der Tragödie im Sittlichen“, die „das Absolute ewig mit sich selbst spielt“ und die darin bestehe, „dass es sich ewig in die Objektivität gebiert, in dieser seiner Gestalt hiermit sich dem Leiden und dem Tode übergibt und sich aus seiner Asche in die Herrlichkeit erhebt“ (GW 4, 458 f.). Vordergründig ist damit der Mythos des Phönix gemeint, der seinerseits von alters her als Symbol für Tod und Auferstehung Jesu gedeutet wurde. Der christologische Sinn tritt wenige Zeilen später zutage, wenn Hegel von „zwei Naturen“ des Göttlichen spricht. Indem die göttliche Natur den Tod der menschlichen bezwinge, vereinige sich die menschliche Natur mit der göttlichen zur Schau des Absoluten (GW 4, 459).

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„dogmatischen Philosophien“ und den „Naturreligionen“ in Zusammenhang. Sowohl der Dogmatismus in der Philosophie als auch die religiöse Verehrung der Natur schlagen dem Absoluten alles Positive zu, während sie das Negative außer Acht lassen. Ihre Bestimmungen des Göttlichen enthalten nur das „Heitere“, aber eben deshalb auch „Ungründlichere und Einzelnere“ (ebd.). Um das Absolute als Ganzes und in allen seinen Momenten zu erfassen, darf die negative Seite nicht unterschlagen werden.

Das unglückliche Bewusstsein

Diente die Rede vom spekulativen Karfreitag in „Glauben und Wissen“ zur Kennzeichnung der spekulativen Theorie des Absoluten, gebraucht Hegel die Formel vom Tod Gottes in der Phänomenologie des Geistes erstmals zu religionsphilosophischen Zwecken. Im Abschnitt über die offenbare Religion schreibt er dem unglücklichen Bewusstsein, von dem bereits im SelbstbewusstseinsKapitel die Rede war, die schmerzliche Einsicht zu, „dass Gott gestorben ist“ (GW 9, 401)15. Das Unglück erwächst aus der Entzweiung des menschlichen Bewusstseins, das zerrissen ist zwischen seiner eigenen endlichen Wirklichkeit auf der einen und dem unendlichen Wesen Gottes auf der anderen Seite. Je klarer sich der einzelne Mensch seiner Begrenztheit bewusst wird, desto deutlicher erkennt er den Abstand, der ihn von Gott trennt. Die Unerreichbarkeit Gottes und die Nichtigkeit des Menschen bilden zwei Seiten einer Medaille. Hegel verbindet die Anerkennung der menschlichen Endlichkeit mit dem Unglück über den Verlust Gottes. Anders als die Rede vom spekulativen Karfreitag in „Glauben und Wissen“ bezieht sich die Formel vom Tod Gottes in der Phänomenologie des Geistes nicht auf die Religion der neuen Zeit, also auf das protestantische Christentum, sondern auf den Untergang der griechischen Kultur. In der „sittlichen Welt“ Griechenlands herrschte für den Jenaer Hegel jene Harmonie zwischen Menschen und Göttern, die das unglückliche Bewusstsein so schmerzhaft vermisst. Der Umschlag geschah zur Zeit des römischen Reichs. Damals verstummte „das Vertrauen in die ewigen Gesetze der Götter, wie die Orakel, die 15  Die Herausgeber der kritischen Edition verweisen auf Luthers Erläuterung der Lehre von den zwei Naturen Christi: „Was von ihm geredet wird als Menschen, das muss man von Gott auch reden: nämlich, Christus ist gestorben, und Christus ist Gott, darum ist Gott gestorben“ (Luther 1914 [orig. 1539], 589; zit. GW 9, 530). Trotz der wörtlichen Übereinstimmung halte ich es für fraglich, dass Hegel die Rede vom Tod Gottes an dieser Stelle christologisch gemeint hat.

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das Besondere zu wissen taten“. Die religiösen Formen wurden ihres Sinns und Inhalts entleert: „Die Bildsäulen sind nun Leichname, denen die belebende Seele, so wie die Hymne Worte, deren Glauben entflohen ist, die Tische der Götter ohne geistige Speise und Trank, und aus seinen Spielen und Festen kommt dem Bewusstsein nicht die freudige Einheit seiner mit dem [sc. göttlichen] Wesen zurück“ (GW 9, 402). Wenn der ‚Tod Gottes‘, den das unglückliche Bewusstsein betrauert, auf das Ende der heidnischen Welt gemünzt ist, kann sich die Metapher an der Stelle nicht auf das Sterben Jesu am Kreuz beziehen. Auf den Tod des Gottmenschen16 kommt Hegel einige Seiten später zu sprechen. Indem der unendliche Gott als einzelner Mensch stirbt, überwindet er den Gegensatz, der ihn von der endlichen Wirklichkeit trennt. Das bedeutet, „dass durch das Geschehen der eigenen Entäußerung des göttlichen Wesens, durch seine geschehene Menschwerdung und seinen Tod das göttliche Wesen mit seinem Dasein versöhnt ist“ (GW 9, 418). Das Geschehen des Karfreitags und den Gedanken der Versöhnung des Absoluten mit sich selbst bringt Hegel wieder mit Ostern in Zusammenhang. Durch das Sterben Jesu ende die sinnliche Gegenwart Gottes, doch lebe er weiter im Bewusstsein der Gemeinde. Der Tod Gottes „ist daher sein Erstehen als Geist“ (GW 9, 415). Was beim spekulativen Karfreitag die Auferstehung der höchsten Idee oder Totalität war, ist in der offenbaren Religion die „geistige Einheit“ Gottes mit der Gemeinde der Gläubigen. Aus der Vorstellung von Tod und Auferstehung ergibt sich für Hegel das christliche Gottesverständnis. Durch seine Menschwerdung rückt Gott aus dem abstrakten Jenseits ins Diesseits. Sein Eingehen in die endliche Wirklichkeit findet die endgültige Beglaubigung durch das Sterben des Gottmenschen, das Hegel wiederum als die Offenbarung des Wesens Gottes deutet. Es geht am Karfreitag also keineswegs um ein Verschwinden Gottes oder um seinen abermaligen Entzug ins Abstrakte, sondern um die dem Geist eigentümliche Art von Allgemeinheit. Gott erscheint in der christlichen Gemeinde als „die Einheit, worin die Unterschiede nur als Momente oder als aufgehobene sind“ (GW 9, 417). In der Phänomenologie erläutert Hegel die Verfassung des Geistes ausgehend von der Struktur des Selbstbewusstseins. Der Geist bzw. das Selbstbewusstsein beziehen sich in ihrem Anderen auf sich selbst. Dieses Andere – sei es die materielle Natur, seien es andere Subjekte – wird dadurch als Einzelnes zum Moment eines Allgemeinen. In der offenbaren Religion kommt die spezifische Form der absoluten Selbstbeziehung gleich mehrfach vor17. Hegel spricht von den drei 16  Hegel sagt der „göttliche Mensch, oder menschliche Gott“ (GW 9, 417). 17  Zum Folgenden vgl. Schmidt 1997.

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Elementen des reinen Denkens, des Vorstellens und des Selbstbewusstseins. Das erste Element spielt auf die dogmatische Lehre von der immanenten Trinität an. Gott habe „die Bedeutung des absoluten Geistes“, der hier als „reines Anderswerden“ aufgefasst werde (GW 9, 410). Im zweiten Element tritt der ewige Geist ins zeitliche Dasein. Dieser Übergang wird im Christentum als Erschaffen der Welt und als Menschwerdung Gottes vorgestellt. Dem dritten Element entspricht die christliche Gemeinde. Sie entsteht nach dem Tod des Gottmenschen aus der „aufgehobene[n] unmittelbare[n] Gegenwart“ des absoluten Wesens, das nunmehr „als allgemeines Selbstbewusstsein“ in den Gläubigen lebt (GW 9, 415). Die Phänomenologie schließt mit der bekannten Wendung von der begriffenen Geschichte als der „Schädelstätte des absoluten Geistes“ (GW 9, 434). Mit ‚Schädelstätte‘ übersetzte Martin Luther die griechische Umschreibung für das hebräische Wort ‚Golgota‘, den Namen desjenigen Hügels in der Nähe von Jerusalem, auf dem Jesus Christus der Überlieferung nach gekreuzigt wurde. Dem spekulativen Karfreitag als Zeitangabe entspricht die Schädelstätte des absoluten Geistes als Ortsangabe. Der Gehalt der beiden Metaphern ist der gleiche. Jedes Mal geht es um die Natur eines Absoluten – genannt ‚Begriff‘, ‚Idee‘ oder ‚Geist‘ –, zu dessen Momenten die endliche Wirklichkeit mit all ihren Licht- und Schattenseiten gehört. In der Phänomenologie beschreibt Hegel die Stationen des absoluten Geistes auf dem Weg zu seiner Selbsterkenntnis im philosophischen Wissen. Die begriffene Geschichte bilde „die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre“ (ebd.). Würde das Absolute ohne das Endliche gedacht, in dem es sich realisiert und auf das es sich als sein Anderes bezieht, geriete es selbst zu etwas gleichsam Totem.

Die Absolutheit des Geistes

Der Tod Gottes, verstanden als die Aufnahme des Moments der Negativität in die göttliche Natur, bewahrt das Absolute vor einer anderen Art von Tod, nämlich vor der Gefahr, zu etwas rein Abstraktem, der Wirklichkeit Entzogenem zu werden. Deshalb ist nicht gesagt, dass ‚Gott‘ mit seinem ‚Tod‘ aufhörte zu existieren. Hegel bedient sich der Metapher vielmehr zur Verständigung über die Verfassung des absoluten Geistes. Dasjenige, was stirbt, ist sozusagen das endliche Moment des Absoluten, die unmittelbare Erscheinung Gottes in Menschengestalt. Da Tod und Vergehen zur Natur alles Endlichen gehören, zeigt sich im Sterben des menschgewordenen Gottes das Endliches und Unendliches übergreifende Absolute. Insofern dieses das Endliche in sich

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aufhebt, gehört zu ihm sein eigenes Vergehen als eines Endlichen. Würde der unendliche Gott dagegen vom Endlichen getrennt, müsste er Hegel zufolge als etwas Lebloses und in diesem Sinn Totes gelten. Den Gedanken des Absoluten als eines alle Gegensätze Übergreifenden erklärt Hegel am Ende der enzyklopädischen Logik. Ausgehend von der Feststellung, dass die Idee „wesentlich Prozess“ und als solcher „absolute Negativität“ sei, beschreibt er den dialektischen Verlauf als ein Sichbestimmen des Begriffs zur Objektivität und ein Zurückkehren der Äußerlichkeit in die Subjektivität. In der dazugehörigen Anmerkung verwahrt sich Hegel gegen ein statisches Verständnis des Absoluten ebenso wie gegen eine falsche Nivellierung der beiden Momente der Idee. „In der negativen Einheit der Idee greift das Unendliche über das Endliche hinüber, das Denken über das Sein, die Subjektivität über die Objektivität“ (§ 215; GW 20, 218). Diese „übergreifende“ darf nicht mit der „einseitigen“ Subjektivität verwechselt werden, die in der Gestalt endlicher Subjekte erscheint. Während das subjektive Bewusstsein auf einen ihm äußerlichen Gegenstand gerichtet ist, bezieht sich die von Hegel ‚Idee‘ oder ‚Geist‘ genannte übergreifende Subjektivität in ihrem Anderen ganz auf sich selbst. Gegenüber einem Unendliches und Endliches, Denken und Sein, Subjekt und Objekt umfassenden Absoluten gibt es kein Äußeres und kein Drittes mehr. Deshalb verliert der Begriff der Transzendenz im Kontext der hegelschen Logik seinen Sinn18. Infolgedessen scheint auch Gott in die Immanenz des dialektischen Prozesses der Idee gezwungen zu werden. Weil aber die hegelsche Idee nichts anderes ist als eine Nachfolgebestimmung des reinen Seins vom Anfang der Logik, lässt sich nicht leicht entscheiden, ob der Glaube an den jenseitigen Gott mit dem Gedanken der übergreifenden Subjektivität verträglich ist oder nicht. Um hier einer Klärung näherzukommen, ist ein Blick auf die systematische Anlage der hegelschen Philosophie des Geistes erforderlich. Im Selbstbewusstseins-Kapitel der Phänomenologie definiert Hegel den Geist unüberbietbar knapp als „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ (GW 9, 108). Die Pointe der anschließenden Abhandlung über Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins liegt in der Einsicht, dass kein Ich seiner selbst bewusst werden, das heißt wissen kann, wer oder was es ist, wenn es in seinem Selbstbewusstsein nicht zugleich von einem Anderen anerkannt wird. Anerkennendes und anerkanntes Ich gemeinsam bilden ein 18  Allenfalls könnte man von ‚Transzendenz‘ sprechen, wenn eines der beiden Extreme das andere ‚übergreift‘. So würde die hegelsche Idee sowohl die (einseitige) Subjektivität als auch die (nicht weniger einseitige) Objektivität ‚transzendieren‘, indem sie beide ‚übergreift‘.

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Wir. Bei dem Wir handelt es sich ebenfalls um ein Ich in dem Sinn, dass auch die Festlegung, wer oder was jenes Wir ist, auf der Beziehung wechselseitiger Anerkennung beruht. Da also auch das Wir die Struktur eines Selbst besitzt, können die einander Anerkennenden sowohl dem je Anderen als auch sich als Gemeinschaft Regeln auferlegen, in denen zum Ausdruck kommt, wer oder was sie sind. Auf die Weise entsteht, was Hegel eine „Welt“ nennt, was wir heute vielleicht eher als die Gesellschaft bezeichnen würden. Das entscheidende Merkmal des Wir besteht in der institutionellen Ordnung, in der sich die Anerkennungsverhältnisse der Mitglieder einer Gemeinschaft untereinander kristallisieren und für die Hegel den Ausdruck „Sittlichkeit“ prägt19. In Hegels reifem System, das er in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften dargestellt hat, entsprechen den beiden Seiten von Ich und Wir grob gesagt der subjektive und der objektive Geist. Genauer wäre das Selbstbewusstseins-Kapitel der Phänomenologie dem subjektiven und das Geist-Kapitel dem objektiven Geist zuzuordnen. Außerdem ist daran zu erinnern, dass der hegelschen Philosophie des subjektiven Geistes kein individualistisches, monadologisches Verständnis des Ich zugrunde liegt, sondern dass das Selbstbewusstsein auch für den Heidelberger und den Berliner Hegel eine Beziehung intersubjektiver Anerkennung voraussetzt. Daher ist der objektive Geist nicht einfach als eine Ansammlung von mehreren Personen zu verstehen. Die Objektivität des Geistes kommt durch die Regeln zustande, die der Gemeinschaft eine institutionelle Verfassung verleihen. Zu den Momenten des objektiven Geistes gehören neben den abstrakten Normen des Rechts und der Moral die konkreten Einrichtungen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates. Weder das einzelne menschliche Ich noch das gesellschaftliche Wir, weder die Beziehung der gegenseitigen Anerkennung noch die soziale Ordnung, weder der subjektive noch der objektive Geist ist für Hegel bereits das Absolute. In der Phänomenologie führt er das Absolute vielmehr als metaphysische Bestimmung ein und kennzeichnet es in deutlicher Anspielung auf Spinoza zunächst als Substanz. Die absolute Substanz sei freilich „ebenso sehr als Subjekt

19  Vgl. „Die Vernunft ist Geist, indem die Gewissheit, alle Realität zu sein, zur Wahrheit erhoben und sie sich ihrer selbst als ihrer Welt und der Welt als ihrer selbst bewusst ist“ (GW 9, 238). – Die Sittlichkeit ist „der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewusstseins gewordene Begriff der Freiheit“ (Hegel, Grundlinien, § 142; GW 14, 137). – Die Zwecktätigkeit des Willens ist, „seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren, dass sie als eine durch jenen bestimmte Welt sei“ (Hegel, Enzyklopädie, § 484; GW 20, 478).

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aufzufassen und auszudrücken“ (GW 9, 18)20. Der metaphysischen Bedeutung des Absoluten geschieht durch die bewusstseinstheoretischen Kategorien kein Abbruch, wie ein Blick auf die letzten beiden Kapitel zeigt. In der Religion, so Hegel, sei der Geist „unmittelbar sein eigenes reines Selbstbewusstsein“ (GW 9, 364). Indem der menschgewordene Sohn und die christliche Gemeinde sich mit dem Absoluten eins wissen, erkennen sie das göttliche Wesen als Geist. Das absolute Wissen schließlich unterscheidet sich von der Religion nicht dem Inhalt, sondern lediglich seiner Form nach. Das Absolute wird nicht mehr als unmittelbares Gegenüber vorgestellt, sondern begrifflich gewusst. In dieser letzten Gestalt des Bewusstseins sei die Wahrheit „für den wissenden Geist in der Form des Wissens seiner selbst“ (GW 9, 427). Deshalb bedeuten absolutes Wissen und sich als Geist wissender Geist ein und dasselbe21. In der Phänomenologie des Geistes rechtfertigt Hegel den Fortgang über Ich und Wir, Sittlichkeit und Moralität hinaus zur Religion und zum absoluten Wissen mit der Brüchigkeit der gesellschaftlichen Ordnung. Das menschliche Zusammenleben wird bedroht durch das Böse und die Selbstgerechtigkeit, mit der ein jeder auf dem eigenen Standpunkt beharrt. Dabei lenkt Hegel den Blick des Lesers sowohl auf die Gewissenlosigkeit derjenigen, die unsittliche oder unmoralische Taten begehen, als auch auf die Tatenlosigkeit eines Gutmenschentums, das sich vor allem in der Beurteilung fremder Handlungen gefällt. Zur Überwindung des Gegensatzes zwischen dem Einzelnen und der Allgemeinheit genügt weder die Berufung auf das individuelle Gewissen noch der Hinweis auf die öffentliche Moral. Um einen Ausgleich zwischen (ungerecht) Handelnden und (ungerecht) Urteilenden zu schaffen, müssen beide Seiten die Begrenztheit ihres jeweiligen Standpunkts einsehen. Das geschieht durch das „Eingeständnis des Bösen“ (GW 9, 359) und durch die Verzeihung, die einer dem anderen widerfahren lässt. Indem sich die beiden aussprechen, überwinden sie den Gegensatz zwischen der moralischen Ordnung und dem konkreten Handeln. Da jede Seite einen Schritt auf die andere zugehen muss, entspringt das „Wort der Versöhnung“ weder der individuellen Gewissheit, noch beruht es auf einem intersubjektiven Konsens. Für Hegel handelt es sich 20  In der Enzyklopädie beschreibt Hegel den absoluten Geist als die „eine und allgemeine Substanz“, die von sich selbst weiß, indem sie sich teilt „in sich und in ein Wissen, für welches sie als solche ist“ (§ 554; GW 20, 542). 21   Ganz ähnliche Überlegungen stellt Hegel bereits am Ende des dritten Jenaer Systementwurfs von 1805/06 an. Dort ist einerseits von der (christlichen) Religion als dem „Wissen des absoluten Geistes von sich als absolutem Geist“ die Rede (GW 8, 280); andererseits heißt es über die Philosophie, in ihr sei das „Ich als solches“ das „Wissen des absoluten Geistes“ (GW 8, 286).

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bei dem Eingeständnis und der Verzeihung des Bösen vielmehr um „ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist“ (GW 9, 361). Durch die Rede vom absoluten Geist deutet Hegel an, dass die Entwicklung der Sittlichkeit und Moralität in der Versöhnung ihr „Ziel und Resultat“ erreicht (GW 9, 240). Zugleich tritt die Religion als neue Gestalt des Bewusstseins hervor. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die den Prozess des Anerkennens zum Abschluss bringende Versöhnung eine religiöse Dimension besitzt22. Der letzte Satz des Geist-Kapitels scheint die Deutung zu bestätigen, denn Hegel beschreibt die zwischenmenschliche Versöhnung als ein theologisches Geschehen. Das „versöhnende Ja, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen“, sei „der erscheinende Gott mitten unter ihnen“ (GW 9, 362). Religiöse Vorstellungen und moralisches Handeln sind demnach zwei Arten, wie der absolute Geist von sich selbst weiß. Im Kapitel über das absolute Wissen beschreibt Hegel den Unterschied als einen zwischen dem Ansichsein und dem Fürsichsein bzw. dem Inhalt und der Form des absoluten Geistes. Die Vereinigung des (religiösen) Bewusstseins mit dem (ethischen) Selbstbewusstsein geschieht im reinen (philosophischen) Wissen des Geistes von sich23. Zwischen Moralität und Religion herrscht in der Phänomenologie eine strukturelle Entsprechung. Von der Versöhnung schreibt Hegel, in ihr schaue der Geist „das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteil, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit“ an (GW 9, 361). Dieses absolute Wissen des Geistes von sich richtet sich auf die Übereinstimmung zwischen der allgemeinen Ordnung einerseits und dem konkret handelnden Einzelnen andererseits. Die Einheit findet ihren unmittelbaren Ausdruck in den Worten, mit denen der eine den anderen anerkennt. Das Eingeständnis des Bösen und dessen Verzeihung sind für Hegel „das Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs, das darin sich gleich bleibt, und in seiner vollkommenen Entäußerung und [im] Gegenteil die Gewissheit seiner selbst hat“ (GW 9, 362). Auch ohne ausdrücklichen Hinweis auf den „erscheinenden Gott mitten unter ihnen“ lässt sich die Nähe zur christlichen Vorstellung von der Menschwerdung Gottes nicht übersehen. Im ReligionsKapitel spricht Hegel diesbezüglich vom Selbstbewusstsein des Geistes „in seiner Entäußerung“ und der Bewegung, „in seinem Anderssein die Gleichheit mit sich selbst zu behalten“ (GW 9, 405). 22  Vgl. Houlgate 2003, 24 ff. – L. Siep verweist auf das Begnadigungsrecht des Staatsoberhaupts als nicht religiöse Form gelebter Versöhnung (Siep 2000, 215; vgl. Hegel, Grundlinien, § 282; GW 14, 238). 23  Vgl. GW 9, 425 ff. sowie dazu Auinger 2003.

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Die geoffenbarte Religion

Die Phänomenologie kennt noch keinen ausdrücklichen Gegensatz zwischen dem absoluten Geist der Religion auf der einen und dem Geist der Moralität oder Sittlichkeit auf der anderen Seite24. Die klare Dreiteilung der Philosophie des Geistes bildete Hegel erst im Lauf der Nürnberger Jahre aus. Die Entwicklung lässt sich anhand der Manuskripte und Mitschriften zu seinen Gymnasialkursen verfolgen und findet in der Heidelberger Enzyklopädie von 1817 ihren Abschluss25. Die Lehre über den absoluten Geist besteht wiederum aus drei Teilen, die bekanntlich der Kunst, der Religion und der Philosophie gewidmet sind. An diesem Aufbau hat sich in den späteren Auflagen des Kompendiums nichts mehr geändert. Das ist bemerkenswert angesichts der vielfältigen Umarbeitungen, die Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst und die Philosophie der Religion während der Berliner Jahre erfuhren. Je eingehender er sich mit der Geschichte von Kunst und Religion auseinandersetzte, desto größere Eigenständigkeit gewann die Ästhetik gegenüber der Religionsphilosophie26. Von dem Reichtum an Phänomenen, den der Philosoph vor den Hörern seiner Vorlesungen ausbreitete, ist im letzten Teil der Enzyklopädie nur wenig zu spüren. Das liegt zum Teil an der naturgemäßen Knappheit eines solchen Grundrisses. Doch scheint Hegel der Geschichtlichkeit keine die Systematik der Philosophie des absoluten Geistes bestimmende Funktion beizumessen. Hält man sich an den Wortlaut des Kompendiums, bilden Kunst, Religion und Philosophie keine in der Zeit nacheinander auftretenden und sich gegenseitig ablösenden Erscheinungsformen des Absoluten. Eher handelt es sich um unterschiedliche Arten, wie der Geist von sich selbst weiß. Die Selbstbezüglichkeit liegt für Hegel im Begriff des Geistes. In Anknüpfung an die Logik und nach dem Durchgang durch die Natur definiert er den Geist als „die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee […], deren Objekt ebenso wohl als das Subjekt der Begriff ist“ (§ 381; GW 20, 381). Ferner beschreibt er die Identität mit sich selbst als „absolute 24  Das Gleiche gilt für den Systementwurf von 1805/06. Dort spricht Hegel vom Staat als dem „einfachen absoluten Geist, der seiner selbst gewiss ist“ (GW 8, 258), sowie von Kunst, Religion und (philosophischer) Wissenschaft als der Welt des „absolut freien Geistes“ (GW 8, 277). 25  Siehe dazu Jaeschke 2003, 211 ff. und 267 f. 26  In der Phänomenologie findet sich kein eigenes Kapitel über die Kunst, sondern das Religions-Kapitel enthält lediglich einen Abschnitt über die „Kunstreligion“. In der Enzyklopädie von 1817 ist die erste Abteilung der Philosophie des absoluten Geistes mit „Die Religion der Kunst“ überschrieben. Ab der zweiten Auflage lautete die Überschrift nur noch „Die Kunst“, während der Inhalt im Wesentlichen gleich blieb.

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Negativität des Begriffs“ (§ 382; GW 20, 382). Da man einen Gegenstand nur dadurch als bestimmt denken kann, dass etwas anderes von ihm ausgeschlossen oder verneint wird, ist Negativität gleichbedeutend mit der Bestimmtheit des Gegenstands. Die Negativität ist absolut, wenn der Gegenstand durch nichts als durch sich selbst bestimmt ist. Das bedeutet für Hegel, dass die Bestimmung, die sich der ersten Negation verdankte, ihrerseits aufgehoben, das heißt negiert werden muss. Deshalb spricht er von der zweiten Negation als einem „Zurückkommen“ des Geistes (§ 381; GW 20, 382)27. Der subjektive, der objektive und der absolute Geist unterscheiden sich voneinander durch das jeweilige Andere sowie durch die Art und Weise, auf die sie mit ihm identisch sind. Der subjektive Geist hat sein Anderes in der äußeren Natur, die er dank der Vernunft erkennen und dank des Willens handelnd gestalten kann. Das Andere des objektiven Geistes sind die gesellschaftlichen Normen und Institutionen, in denen sich die Freiheit eines Volkes verwirklicht und die das Leben der Menschen regeln. Subjektiver und objektiver Geist bilden, wie Hegel ausdrücklich erklärt, den „endlichen Geist“ (§ 386; GW 20, 383). Ihm gegenüber steht der unendliche oder absolute Geist. „Der Begriff des Geistes hat seine Realität im Geist“, beginnt Hegel die Abhandlung über den absoluten Geist. Der subjektive und der objektive Geist seien „als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet“ (§ 553, GW 20, 542). Auch als absoluter bezieht sich der Geist nur in einem Anderen auf sich selbst. Das Andere ist nun der endliche Geist, in dem das Absolute als Geist erscheint. Darum ist der absolute Geist „ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität“ (§ 554; GW 20, 542). In den Formen des von Hegel so genannten endlichen Geistes erscheint das Absolute noch nicht als Bewusstsein seiner selbst. Erst in Kunst, Religion und Philosophie zeigt es sich als Geist. Die Produkte künstlerischen Schaffens, die religiösen Vollzüge und das philosophische Erkennen sind deshalb nicht weniger real. Kunst, Religion und Philosophie bilden Errungenschaften des menschlichen Geistes und kulturelle Leistungen, deren Inhalt die absolute Idee ist. 27  Im entsprechenden mündlichen Zusatz heißt es: „Als die unterscheidende Bestimmtheit des Begriffs des Geistes muss die Idealität, d. h. das Aufheben des Andersseins der Idee, das aus ihrem Anderen in sich Zurückkehren und Zurückgekehrtsein derselben bezeichnet werden. […] Alle Tätigkeiten des Geistes sind nichts als verschiedene Weisen der Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit, welche der Geist selbst ist, und nur durch diese Zurückführung, durch diese Idealisierung oder Assimilation des Äußerlichen wird und ist er Geist“ (GW 25, 927 und 930).

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Während das Kunstwerk „nur Zeichen der Idee“ ist (§ 556; GW 20, 543), ist der Inhalt in der Religion „als absoluter Geist für den Geist“ (§ 563; GW 20, 549). Die wichtigste Bestimmung des absoluten Geistes entlehnt Hegel der christlichen Theologie, indem er das absolute Wissen als Offenbaren deutet: „Der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist, und in der absoluten Religion ist es der absolute Geist, der nicht mehr abstrakte Momente seiner, sondern sich selbst manifestiert“ (§ 564; GW 20, 549). Im Gedanken der Selbstmanifestation liegt die Identität von Form und Inhalt. Das Absolute zeigt sich als etwas, das sich selbst zu erkennen gibt. „Seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst“ (§ 383; GW 20, 382)28. Im Abschnitt der Enzyklopädie über die geoffenbarte Religion entfaltet Hegel seine These von der Selbstoffenbarung Gottes unter Verwendung von Elementen aus der Wissenschaft der Logik. Er gliedert die Offenbarung in die drei Momente der Allgemeinheit, der Besonderheit und der Einzelheit. Mit den Sphären des Besonderen und des Einzelnen verbindet er wiederum die Formen des Urteils und des Schlusses. Auf diese begriffslogischen Elemente bezieht Hegel die Gehalte der biblischen Geschichte und der christlichen Dogmatik29. Er unterscheidet zunächst die immanente Trinität als das ewige Wesen Gottes von seiner endlichen Erscheinung. Mit der Erschaffung der Welt tritt nicht nur der Geist in Gegensatz zur Natur, sondern der endliche Geist entfernt sich von seinem Ursprung und verkehrt sich zum Bösen. Am Punkt der größten Entfremdung beginnt die „Rückkehr und Versöhnung der entäußerten Welt mit dem ewigen Wesen“ (§ 566; GW 20, 551). In theologischer Sprache ausgedrückt, geschieht die Versöhnung durch die Menschwerdung Gottes einerseits und durch die Vergöttlichung des Menschen andererseits. Gott überwindet das Böse, indem er sich selbst – in der Person seines 28  In einer Vorlesungsnachschrift von 1822 heißt es zu dem entsprechenden Paragraphen der Heidelberger Enzyklopädie: „Sagen wir nun in der Religion: Gott hat sich in seinem Sohn, durch seinen Sohn geoffenbart, und fragen: was hat Gott durch ihn offenbart, so nehmen wir den Sohn als ein vermittelndes Organ an, außer dem es noch das Offenbarte gibt. Das Erkennen aber gibt diesen Sinn der Offenbarung an: dass einen Sohn zu haben dasjenige selbst ist, was Gott offenbart hat. Der Inhalt der Offenbarung ist der Sohn selbst, nicht noch ein anderes außer ihm Offenbartes, das Offenbare selbst ist die Offenbarung. Gott hat also einen Sohn und Liebe zu ihm, das ist der Geist. Einen Sohn haben, heißt sich unterscheiden, sich als Anderes setzen. Der Sohn ist dies Offenbaren selbst; was dadurch offenbar wird, ist die Natur Gottes selbst, sich zu offenbaren, sich zu unterscheiden, und in diesem Anderen sich selbst anzuschauen“ (GW 25, 17). 29  Zum Folgenden vgl. die Kommentare von Inwood 2007, 630–635; Peperzak 1987, 97–110; Theunissen 1970, 244–297.

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Sohnes – „zum einzelnen Selbstbewusstsein verwirklicht“ und „in die Zeitlichkeit versetzt“. Obwohl die Formel vom Tod Gottes nicht ausdrücklich fällt, spielt Hegel auf den Tod Jesu an, wenn er von dem menschgewordenen Sohn als „in dem Schmerz der Negativität ersterbend“ spricht. Ebenso deutlich wie die Anspielung auf den Karfreitag sind die Hinweise auf Ostern und Pfingsten. In seiner Negativität werde das Absolute „als unendliche Subjektivität identisch mit sich“. In der „absoluten Rückkehr“ liegt für Hegel „die Idee des ewigen, aber lebendigen und in der Welt gegenwärtigen Geistes“ (§ 569; GW 20, 552). Durch die Menschwerdung des Sohnes schafft Gott die Voraussetzung für die Versöhnung des sündigen Menschen. Indem sich der Gläubige seines eigenen, bösen Willens entäußert, erkennt er sich als vereint mit Gott. Wie das Sterben des Gottmenschen, so geschieht auch die Rechtfertigung des Sünders „in dem Schmerz der Negativität“. Am Ende des Prozesses der Erlösung wird der absolute Geist als „inwohnend im Selbstbewusstsein“ vorgestellt (§ 570; GW 20, 553)30. Im letzten, zusammenfassenden Paragraphen des Abschnitts spricht Hegel von drei Schlüssen, welche die „Vermittlung des Geistes mit sich selbst“ und die „Offenbarung desselben“ darstellen sollen (§ 571; GW 20, 553)31. Mit der logischen Form des Schlusses verweist er auf die begriffliche und insofern vernünftige Einheit, die das philosophische Denken in die Vielfalt religiöser Vorstellungen zu bringen vermag32. Damit ist der Übergang von der Religion zur Philosophie vorbereitet und das „Wissen der absoluten Idee“ erreicht, das den absoluten Geist ausmacht (§ 553; GW 20, 542). Der Abschnitt über die Philosophie hält die im Durchgang durch die Religion gewonnene metaphilosophische Einsicht nur noch fest. Hegel schreibt der Philosophie ein Wissen vom „Begriff der Kunst und Religion“ zu, „in welchem das in dem Inhalt Verschiedene als notwendig und dies Notwendige als frei erkannt ist“ (§ 572; GW 20, 555).

30  Die umstrittene Frage nach dem Verhältnis des hegelschen absoluten Geistes zu der dritten göttlichen Person muss hier ausgeklammert bleiben. Siehe dazu kritisch Jaeschke 2003, 468–471. 31  Zur Schlussförmigkeit des Begriffs der Offenbarung vgl. Sans 2011, 167–181. 32  Wenigstens erwähnt sei, dass die Form endlicher Vorstellungen für Hegel nicht nur im philosophischen Denken, sondern auch in der Andacht und im Kultus aufgehoben ist (vgl. Enzyklopädie, § 555; GW 20, 543, und § 565; GW 20, 551, sowie dazu Jaeschke 2000, 412 ff.).

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Das Andere des Absoluten

Aus der engen Verknüpfung des philosophischen Erkennens mit Kunst und Religion ergibt sich, dass weder die Selbsterkenntnis des endlichen Subjekts noch die Reflexion auf die gesellschaftliche Wirklichkeit genügen, um das Wesen des absoluten Geistes zu erfassen. Dieser Befund kann niemanden in Erstaunen versetzen, der den Anfang der Enzyklopädie gelesen hat, wo es von der Philosophie heißt, sie habe „ihre Gegenstände zunächst mit der Religion gemeinschaftlich“. Sowohl der Religion als auch der Philosophie gehe es um die Wahrheit „im höchsten Sinn“, nämlich „in dem, dass Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist“ (§ 1; GW 20, 39). Weil es in der Philosophie letztlich um den wahren Gott oder die göttliche Wahrheit geht, nimmt Hegel auch die Kunst hauptsächlich insofern in den Blick, als sie einen Beitrag zur Erkenntnis Gottes leistet. Der gleichnamige Abschnitt der Enzyklopädie handelt vornehmlich von der griechischen „Religion der schönen Kunst“ (§ 557; GW 20, 554) und erwähnt eher beiläufig die „symbolische“ Kunst der orientalischen Religionen sowie die „romantische“ Kunst des christlichen Zeitalters (§ 561 f.; GW 20, 546 ff.)33. Im Abschnitt über die Religion kommt allein das Christentum als die „wahrhafte“ oder „absolute“ Religion zur Sprache (§ 564; GW 20, 549). Wenn Hegel die Sphäre des absoluten Geistes im Ganzen als „die Religion“ bezeichnet (§ 554; GW 20, 542), bezieht er sich ebenfalls auf die christliche, geoffenbarte Religion34. Die Sonderstellung des Christentums hat weniger mit irgendwelchen persönlichen Vorlieben oder kulturellen Gepflogenheiten zu tun als mit dem Begriff des Absoluten als Geist, der durch die geoffenbarte Religion erstmals die Bühne der Geschichte betrat. Nach Hegels Überzeugung vermag am ehesten die christliche Religion eine angemessene Vorstellung von dem zu vermitteln, was die Philosophie unter dem Absoluten versteht35. Dabei handelt es sich weder um eine Bevormundung des philosophischen Denkens durch den religiösen Glauben, noch um eine Engführung der Philosophie des Geistes auf die Religion. Im Mittelpunkt steht vielmehr die These, dass etwas nur dann als absolut gelten kann, wenn es sich in seinem Anderen offenbart und selbst erkennt. Genau das ist in der christlichen Religion der Fall, indem Gott die Welt erschafft und Mensch wird. Weil Gott sich offenbart, kann der endliche Geist von ihm wissen. Worauf es nach dem hegelschen Begriff des absoluten 33  Dass damit nicht das letzte Wort über das Verhältnis von Kunst und Religion gesprochen sein muss, zeigt Jaeschke 2000, 445–450. 34  Zur Bedeutung der nichtchristlichen Religionen vgl. Jaeschke 2000, 415–425. 35  Siehe dazu Sans 2016b.

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Geistes ankommt, ist die Abhängigkeit des menschlichen Gottesbewusstseins vom göttlichen Selbstbewusstsein. Das „Sichwissen des Menschen in Gott“ folgt aus Gottes „Selbstbewusstsein im Menschen“ (§ 564 Anm.; GW 20, 550). Die Erkenntnis des Absoluten durch den endlichen Geist ist nichts anderes als eine Weise, wie sich jenes im Anderen auf sich selbst bezieht. Die Deutung der Philosophie des absoluten Geistes hängt an der Klärung des Verhältnisses zwischen Selbstbezüglichkeit und Andersheit. Gemäß dem zur Negativität des Begriffs Gesagten ist das Andere des Absoluten zugleich mit diesem identisch. Lässt sich die Absolutheit des Geistes also auf ein – sei es individuelles, sei es kollektives – Wissen des Menschen von sich selbst zurückführen? Oder ist der absolute Geist etwas gegenüber dem Ich (subjektiver Geist) und dem Wir (objektiver Geist) Drittes? Eine Antwort wird erschwert durch Hegels Rede von der übergreifenden Subjektivität. Das den Gegensatz von Subjekt und Objekt Übergreifende ist die Subjektivität, die damit zugleich als die eine Seite des Gegensatzes und als absolut gedacht wird. Führt Hegel im letzten Teil seines Systems nun ein vom endlichen Geist verschiedenes, absolutes Subjekt ein, wie es die metaphysische und die theologische Lesart nahelegen? Oder will er den Menschen nur über seine Fähigkeit aufklären, sich in Kunst, Religion und Philosophie von natürlichen Zwängen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten frei zu machen, wie es die nicht-metaphysische Interpretation zu fordern scheint? Hegels Rede vom Tod Gottes bietet keinen Anhaltspunkt zur Auflösung dieser Ambivalenz. Denn während es sich in der christlichen Theologie um eine mögliche Deutung des Sterbens Jesu am Kreuz handelt, wird daraus in der hegelschen Philosophie eine Metapher – sei es für das Verschwinden einer bestimmten Gottesvorstellung oder Gottes überhaupt aus der menschlichen Kultur, sei es für die Negativität des Absoluten. Mit dem Letzteren ist der Gedanke eines Absoluten gemeint, das sein Anderes nicht von sich ausschließt, sondern in sich aufnimmt. Dieses Andere des Absoluten ist das Endliche. Zu den Merkmalen seiner ‚Andersheit‘ gehören Leiden und Schmerz, das Böse und der Tod. Das hegelsche Absolute umfasst also nicht nur ganz allgemein sein Gegenteil oder alle einseitigen Bestimmungen. Wenn Hegel schreibt, der Geist könne „die Negation seiner individuellen Unmittelbarkeit, den unendlichen Schmerz ertragen“ und „in dieser Negativität affirmativ sich erhalten“ (§ 382; GW 20, 382), geht es ihm gleichsam um die Schattenseiten der Wirklichkeit. Auf sie spielt der ursprünglich religiöse Ausdruck „Versöhnung“ an, mit dem Hegel den Prozess des absoluten Geistes abschließend kennzeichnet (§ 555; GW 20, 543). Seit der Jenaer Zeit bemühte sich Hegel, die Negativität oder Andersheit des Absoluten zu denken, und griff dabei immer wieder auf die Formel vom

Tod Gottes und Andersheit des Geistes

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Tod Gottes zurück. Doch genauso wenig wie in der christlichen Theologie besitzt der Tod Gottes im Narrativ der spekulativen Philosophie das letzte Wort. Hegel denkt ein Absolutes, das den Tod überdauert und die Negativität als Moment in sich aufnimmt, ohne dass es dadurch am Ende aufhören würde, absolut zu sein. Gleichwohl ändert sich die Auffassung des Absoluten, nämlich von einem jenseitigen Unendlichen zu einer allumfassenden Ganzheit. Durch die Annahme eines solchen übergreifenden Ganzen scheint die einseitige Vorstellung von Gott als einem Gegenüber des Menschen hinfällig zu werden. Zugleich verwahrt sich Hegel gegen die Fehldeutung der Philosophie des absoluten Geistes als Pantheismus, dem zufolge „Gott zusammengesetzt sei aus Gott und der Welt“ (§ 573 Anm.; GW 20, 567). In der gleichen Anmerkung weist er den Vorwurf des Atheismus entschieden zurück. Will man darin mehr sehen als eine bloße Schutzbehauptung, gilt es die systematische Anlage der hegelschen Philosophie des Geistes ernst zu nehmen. Dasjenige Ganze, von dem die Philosophie handelt, lässt sich nicht in anthropologische, psychologische oder soziale Kategorien auflösen. Das Absolute kann in Kunst und Religion nur erscheinen, solange diese nicht ihrerseits auf natürliche oder gesellschaftliche Phänomene reduziert werden. Das Christentum eröffnet für Hegel den Zugang zu einem Verständnis des Absoluten, welches das Endliche in sich aufnimmt, aber nicht im individuellen oder sozialen Selbstbewusstsein des Menschen aufgeht. Die Ambivalenz der geoffenbarten Religion zeigt sich bei dem Versuch, die Verfassung des absoluten Geistes anders auszudrücken als in der Begrifflichkeit spekulativer Philosophie. Aus philosophischer Sicht bleibt dann nur die Alternative, das Absolute entweder in ein abstraktes Jenseits zu verlegen, oder aus ihm einen Teil der Natur und der Menschenwelt zu machen. Dem Letzteren entspricht eine nicht-metaphysischen Lesart Hegels und eine antirealistische Deutung der Religion. Der Gedanke eines abstrakten, dem Menschen entzogenen Gottes hingegen wäre das Todesurteil für die Religion. Deshalb plädiert Hegel für seinen Begriff des Absoluten als Geist, der im Anderen erscheint und es zugleich übergreift. Soll der absolute Geist, von dem die Religion spricht, mehr sein als Individuum (subjektiver Geist) und Gesellschaft (objektiver Geist), ist die Festlegung auf eine reichhaltigere Ontologie und damit Metaphysik unausweichlich. Doch dazu kann niemand gezwungen werden – auch nicht mit dem Hinweis auf den religiösen Glauben.

Grundlinien von Hegels Theorie der Liebe Erzsébet Rózsa Auftakt Auf diejenigen, die in Hegel den Philosophen des abgeschlossenen Systems oder den der preußischen Monarchie sehen, kann es überraschend und sogar schockierend wirken, wenn sie sich damit konfrontiert sehen, dass die Liebe eines der größten und bis heute inspirierenden Themen seiner Philosophie ist. Die Attraktivität von Hegels Theorie der Liebe könnte die zeitgenössischen Diskussionen zur Philosophie der Emotionen sowie zur Theorie der Gefühle bereichern, wenn sie philologisch-hermeneutisch korrekt, philosophisch tiefgehend und scharfsinnig rekonstruiert verfügbar gemacht würde. Es liegt auf der Hand, Hegels Theorie der Liebe in zwei Kontexten zu rekonstruieren1. Den ersten Kontext würde der entwicklungsgeschichtliche darstellen, dessen Eckpfeiler Hegels frühe Überlegungen im Spannungsfeld von Religion und Philosophie sind2. In dem außerordentlich breiten und vielschichtigen kulturellen Horizont des Frühwerks hat Hegel der Liebe eine existentielle Bedeutung zugeschrieben, vor allem im interindividuellen Sinne. Eben in Hegels Deutung der Liebe erkennt man den ersten Kern seines intersubjektiven Modells des Menschseins auch als Individuumseins3. Die von 1  Der Begriff „Kontext“ wird in dem Sinne verwendet, den ihm D. Henrich zugeschrieben hat. In diesem Beitrag wird auch versucht, eine Perspektive zu gewinnen, in der Hegels Werk – und so auch die Liebe als eines seiner großen Themen – als Ganzes zu verstehen ist. Vgl. Henrich 2010 (orig. 1971), 7. – Die Unterscheidung von zwei Kontexten trägt zwar auch Züge der heutigen breiten Verwendung des Begriffs „Kontext“, aber widerlegt nicht die erstrangige Bestrebung, das Werk als Ganzes auch im spezifischen Themenfeld „Liebe“ zu untersuchen und diese auch als Motiv bzw. aus Motiven des ganzen Werks zu deuten. 2  E. und K. Düsing haben einen Überblick über die Liebesthematik in Hegels Frankfurter Schriften gegeben. Sie haben die ethische Dimension der Liebesthematik in den Vordergrund gestellt. Vgl. Düsing/Düsing 2004. – Vgl. dazu auch: Kotkavirta 2004, bzw. von der Verfasserin: Rózsa 2013a. 3  Dieses Modell ist in Hegels Prinzip und Theorie der Anerkennung zu finden, das heute als eines der attraktivsten Themen von Hegel gesehen wird. Siep hat einen entwicklungsgeschichtlichen Überblick über die Anerkennung bei Hegel gegeben, in dem er die „Vorformen“ wie die Liebe in den frühen Frankfurter Fragmenten, die Vereinigung im „Geist des Christentums“ bzw. die Anerkennung als Synthese von Liebe und Kampf in den Jenaer Schriften rekonstruiert hat. Auf der zweiten Stufe der Anerkennung in der Phänomenologie

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_025

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Hölderlin inspirierte und mit ihm geteilte Vereinigung als grundlegende existentielle Einstellung und Ausrichtung des Menschseins „im Leben“ ist für Hegels Auslegung der Liebe von ausgezeichneter Bedeutung4. In dem Motiv der Vereinigung zeigt sich, dass ihr der junge Hegel über die existentielle Dimension hinaus auch eine spekulative Bedeutung zugeschrieben hat5. Darin taucht das Motiv der reifen Systembildung auf, zu der Hegel jedoch in den frühen Jahren noch ein ambivalentes Verhältnis hat6. Im zweiten Kontext, dem im vorliegenden Beitrag der Vorzug gegeben wird, wird die Liebe bezüglich der Systembildung thematisiert, die seit den Jenaer Jahren im Vordergrund steht und die die Konzeption der Liebe beim reifen Hegel wesentlich beeinflusst hatte. Die spekulative Grundposition der Philosophie und die ihr angemessene Systematik verbinden sich, was zur Umdeutung der Liebe und zu einem neuen Status derselben führt. Auch die veränderte Terminologie verweist auf eine grundlegende Änderung: Die Vereinigung wird mit der Versöhnung eng verbunden, die den spekulativen Charakter und den religionsnahen Inhalt dieser Philosophie im Sinne des Christentums verstärkt7. Dies bedeutet aber nicht ein Aufgeben der frühen Motive, wie viele behaupten. Diese Motive setzen sich in veränderter des Geistes weist er auf die Einholung der Versöhnung von Selbst und Substanz hin. Vgl. Siep 1979, 104–105. – Honneth hat die Anerkennung reaktualisiert, und zwar aus der individuellen Perspektive der modernen Freiheit. Vgl. Honneth 2008. – Zur Anerkennung als intersubjektivem Modell vgl. Quante 2009. – Zur Bedeutung der Anerkennung für die zeitgenössische praktische Philosophie vgl. Siep 2009. 4  Zum hölderlinisch-hegelschen Thema der Vereinigung vgl. Henrich 2010 (1971), 9–41, bzw. Jamme 1983, insbesondere S. 110–112. – Ch. Taylor verweist auf den breiten ideengeschichtlichen Hintergrund der Vereinigung als Grundintention der deutschen Kultur. Vgl. Taylor 1993 (orig. 1975), 27. 5  Horstmann und Emundts rekapitulieren Hegels Auffassung der Liebe in Frankfurt ausschließlich als spekulative Konzeption und übersehen die Bedeutung der Rezeption der britischen Ökonomie auch für die Liebesthematik, die sich auf Hegels Konzeption der Wirklichkeit ausgewirkt hat. Deshalb erkennen sie nicht die besondere Bedeutung der Einführung der Wirklichkeitsdimension im Hinblick auf die Einholung der Lebensweltthematik. Hegels Lebensbegriff ist nicht einfach mit dem der „organizistischen Metaphysik“ zu identifizieren. Vgl. Emundts/Horstmann, 2002, 22–24. 6  Hegels kritisches Verhältnis zum System zeigt seine Bemerkung, die er über den „Menschen des Systems“ gemacht hat. Hegel, Positivität der christlichen Religion, in: Werke 1, 180–181. – Erst in Jena fängt Hegel an, die Systemform der Philosophie anzunehmen und mit verschiedenen Varianten des Systems zu experimentieren. 7   Die Versöhnung ist nicht auf christliche Motive zu reduzieren. Sehr früh, beim in Tübingen studierenden Hegel, findet man eine Bedeutung der Versöhnung, wonach sie als Verhaltensmuster im weltlich-alltäglichen Leben dienen sollte. Der reife Hegel schreibt der

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Form auch im System fort und verleihen dem Gesamtwerk eine Kontinuität8. Außerdem bringt auch die neue Konstruktion des enzyklopädischen Systems mit spekulativem Charakter ein Gedankengut mit sich, das auch bezüglich der Liebesthematik zu rekapitulieren von inspirativer Bedeutung sein kann. In der reifen Systematik hat Hegel Bedeutungsebenen der Liebe unterschieden, die der Strukturierung des spekulativen Systems entsprechen, die aber inhaltlich weit über die Grenzen seines äußeren Aufbaus hinausweisen. Wenn man hinter dem äußeren, linearen Aufbau (Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes bzw. der dreistufige Aufbau der letzteren) auch die intern-relationelle und zirkulär-dynamische Struktur der Systematik erblickt, erkennt man die inhaltliche Vielschichtigkeit und den Gedankenreichtum auch der reifen Konzeption der Liebe. Man denke etwa an die äußere, dreistufige, hierarchische Einteilung innerhalb des Geistes, die auch als drei interne Dimensionen der jeweiligen konkreten Thematik des Geistes und so auch der Liebe aufzufassen sind9. Diese Interpretationsstrategie kann eine Bereicherung auch für die Liebesthematik zur Folge haben. Was ist nun damit konkret gemeint? Auf der ersten Stufe des Geistes – im subjektiven Geist qua erster Dimension des Geistes – werden epistemische und metaphysisch gefärbte existentielle Ebenen der Liebe angesprochen und im Rahmen einer Theorie der Gefühle systematisch ausgeführt10. Eine solche vielschichtige und umfassende Theorie der Gefühle, die Hegel unter den drei Disziplinen des subjektiven Geistes (Anthropologie, Phänomenologie, Psychologie) ausgearbeitet hat, findet man in der neuzeitlichen Philosophie bei sonst keinem. Kein Zufall, dass Hegel sich

Versöhnung die Funktion zu, als Strukturierungsprinzip der Systematik zu dienen. Vgl. Rózsa 2005, insbesondere S. 13–51. 8  Die Debatte über Hegels frühe Motive, die in der Stellungnahme von Dilthey über den Theologen und in der von Lukács über den Politiker Hegel zu erkennen seien, hat Pöggeler in den Vordergrund gestellt. Vgl. Pöggeler 1993 (orig. 1973), 22–23. – Pöggeler führt im Nachwort aus, dass Hegel in seinen Begriff Geist die frühen Motive und so auch die Liebe bzw. das Leben mit einholt. (Vgl. ebd., 414–415.) Das spricht auch für die Kontinuität der Motive in Hegels Werk, die auch Henrich ins Zentrum stellt. Vgl. Anm. 1. 9  Zu diesem Deutungsvorschlag von Hegels System vgl. Rózsa 2005, 13–37; bzw. Rózsa 2012a. 10  Jede Stufe des äußerlich-linearen Aufbaus ist auch als eine Dimension eines bestimmten Themenbereiches, etwa der Liebe, aufzufassen. Der jeweilige Themenbereich ist durch Komplexe von bestimmten Begriffen bzw. deren dynamischen Relationen („Verhältnis“) in der jeweiligen Dimension („Standpunkt“) zu beschreiben. Die Perspektiven verweisen auf die Wissenschaftlichkeit des Systems bzw. auf die kulturelle Funktion und Bestimmung der Philosophie. Vgl. dazu von der Verf: Rózsa 2012a.

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hier alleine auf Aristoteles berufen kann11. Auf der zweiten Stufe – im objektiven Geist qua zweiter Dimension des Geistes – hat Hegel die Liebe als konstitutive Komponente von entscheidenden soziokulturellen Institutionen wie Ehe und Familie ins Zentrum gestellt. In der dritten Dimension des Geistes tritt die Liebe in verschiedenen kulturellen Formen und Gestalten des absoluten Geistes auf. In der Kunst hat die Liebe einen systematischen Stellenwert dort, wo Hegel in der modern-romantischen Kunst drei Formen bzw. Motive (Ehre, Liebe, Treue) unterschieden hat. Aber auch phänomenologisch taucht die Liebe häufig auf, wenn Hegel konkrete Werke oder bestimmte kunstphilosophische Probleme (z.B. den Charakter der Julia von Romeo) anspricht. In der Religion hat die Liebe wieder einen anderen Stellenwert: Der Gedanke Gott ist Liebe schiebt sich in den Mittelpunkt der christlichen Religion, die den geschichtlichen und systematischen Höhepunkt der Religion überhaupt bildet. In der Philosophie als höchster Form des Denkens und Gedankens spielt die Liebe im modernen Sinne keine Rolle mehr, aber im antiken schon: Philosophie als Liebe der Weisheit betont Hegel in mehreren Zusammenhängen. Dabei ist die moderne Philosophie bei Hegel ihrem Wesen nach ein Entfernungsprozess von der Liebe und der Gefühlswelt, damit auch von der Weisheit als Orientierung im Leben überhaupt12. Das ist mit der deutlichen Annäherung der Philosophie an die Kriterien der Wissenschaftlichkeit als grundlegende Ausrichtung der Gesamtkultur der Moderne zu erklären13. Im Frühwerk sind die Seinserfahrung in und durch Entzweiung und Entfremdung und deren Gegenpol, die Vereinigung durch Liebe, miteinander unmittelbar und eng verbunden. Diese Konzeption ändert sich mit der 11   Hegel schreibt folgendes: „Die Bücher des Aristoteles über die Seele mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben sind deswegen noch immer das vorzüglichste und einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand.“ (Werke 10, § 378, 11) 12  Die bekannteste Formulierung dieser Wende ist folgende: „Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkommen – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein –, ist es, was ich mir vorgesetzt.“ (Werke 3, 14) 13  Diese eminente soziokulturelle Kennzeichnung erklärt auch den höchsten Stellenwert der Philosophie im Rahmen des absoluten Geistes. D.h. auch: Der ausgezeichnete Stellenwert der Philosophie ist keine rein philosophische Konstruktion. Eine naheliegende Frage wäre, warum der Philosophie und nicht anderen, spezifischen Wissenschaften dieser Stellenwert zugeschrieben wird. Das hat natürlich mit dem Inhalt und mit den Formen zu tun, denen unterschiedliche epistemische Mittel (Anschauung, Vorstellung, Begriff) für die Darstellung des Absoluten mit seinen soziokulturell geprägten, besonderen Inhalten zur Verfügung stehen.

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Einführung der sittlichen Liebe im System des objektiven Geistes, derzufolge die Seinserfahrung der Zerrissenheit durch die Ehe und Familie institutionell verankert, das Leben mit der Wirklichkeit verbunden und dadurch stabilisiert wird. Das Bedürfnis nach Stabilität, d.h. auch nach Religion und Philosophie, entsteht eben aus dieser Seinserfahrung, wie Hegel in seiner Differenzschrift ausgeführt hat14. Der reife Hegel sucht stabilisierende Faktoren im Leben in erster Linie nicht etwa in der „subjektiven Religiosität” von Individuen, sondern vielmehr in den durch Institutionen und soziale Beziehungen vermittelten sittlichen Einrichtungen, Normen und Gesinnungen als Komponenten der Wirklichkeit, so auch der Lebenswelt. Die „sittliche Gesinnung“ der Liebe beim reifen Hegel verweist auf neue Akzente: Sie enthält sowohl substantielle (sittliche) Inhalte als auch subjektive Formen der individuellen Seinsform bzw. der Individualität mit ihrer „unendlichen“ Freiheit. Diese Konstellation von Substantiellem und Subjektivem in Wirklichkeitsformen, auch in der Lebenswelt, soll durch kulturelle Vermittlungsprozesse wie dem der Bildung als höchster stabilisierender Faktor der Lebensführung eines jeden dienen. Die Vereinigung ist das umfassende Motiv, das die unterschiedlichen Stellungnahmen über die Liebe miteinander verknüpft. Die Vereinigung wird zum Grundmotiv im reifen System des Geistes, wo sie sich sowohl auf die externe als auch auf die interne Systematik durchschlagend auswirkt15. Auch die Liebe in der Ehe bzw. Familie ist durch das Vereinigungsmotiv geprägt: Die Liebe ist im objektiven Geist jene sittliche, „substantielle Einheit“, die subjektive Elemente wie körperliche Neigung und besondere Gefühle in sich aufnimmt und vereint. Darin zeigt sich eine neue Komposition, und zwar eine 14  Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke 2, 20–25. – Die schwankende Haltung des Menschen in der Moderne hat Hegel zeit seines Lebens mit dem Bedürfnis nach Philosophie und ihrer stabilisierenden Funktion verknüpft. In diesem Punkt haben verschiedene Anstöße Hegel beeinflusst. Vor allem hat Schiller eine besondere Rolle gespielt: Seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen haben Hegels Auffassung über die Funktion der Philosophie ebenso beeinflusst wie die Denkbewegung der kantischen Philosophie und des Deutschen Idealismus, die Philosophie als höchste Wissenschaft in einem System darzustellen. Schiller hat nicht nur den modernen Charakter wie Goethe, sondern auch den „Geist der Zeit“ als schwankenden gekennzeichnet. Vgl. Schiller 2000 (orig. 1794), 17–20. – Dieses Problem hat auch Goethe beschäftigt. Er beschreibt Hamlet als „jungen, schwankenden Mann“, den „schwankende Melancholie“ kennzeichnet. Vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Goethe 1966 [orig. 1795], 309, 312). 15   Der Ausdruck ,Grundmotiv‘ verweist auf entwicklungsgeschichtlich entscheidende Momente. Der Ausdruck ,Grundprinzip‘ hebt die Problematik der systematischen Einordnung und Begründung hervor.

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komplexe Struktur der Liebe, die natürlich-körperliche, substantiell-normative, institutionelle bzw. soziale und individuumabhängige Elemente und Aspekte des Menschseins umfasst. Seit Jena findet die Vereinigung ihre angemessenste Gestalt jedoch nicht mehr in der Liebe. Wie eben erwähnt, tritt die Versöhnung an die ausgezeichnete Stelle der Liebe, die ihrer kulturellen Herkunft nach auch ein christlicher Gedanke ist. Hegels Stellungnahme ist aber auch in dieser Hinsicht eine komplexere: Wie die Liebe, so lässt sich auch die Versöhnung bei ihm nicht in eine bestimmte kulturelle oder religiöse Tradition einordnen16. Wie die Liebe, so löst sich auch die Versöhnung von ihrer konkreten kulturell-geschichtlichen Wurzel und diesem Kontext, und erhält eine breite und komplexe kulturelle wie philosophische Kontextualisierung, deren angemessene (wissenschaftliche) Form die Systematik wird. Wichtig ist nun, dass sich seit den Jenaer Jahren durch die systematische Einordnung der Geschichtlichkeit und der Sittlichkeit neue Möglichkeiten für eine fruchtbare Integration der frühen Motive in das reife System bieten. Diese Änderungen beziehen sich auch auf die Thematik der Liebe, die als strukturelle Komponente des Geistes im enzyklopädischen System einen veränderten Stellenwert und neue inhaltliche Akzente erhält.

Liebe im reifen System

Die Liebe trägt an sich die Kennzeichen des enzyklopädischen Systems. Im „esoterischen“, internen Sinne des Systems sind die Stufen des Geistes als verschiedene Dimensionierungen der Liebesproblematik aufzufassen17. Dies bietet uns die Möglichkeit, Hegels Deutung der Liebe als Ganzer im Sinne Hegels zu rekonstruieren, ohne uns in die Sackgasse seines extern geschlossenen Systems zu verirren. 16   Versöhnung ist zum einen als Strukturprinzip des Systems und zum anderen als Verhaltensmuster für Individuen zu verstehen. Vgl. Rózsa 2005 u. 2014. 17  Diese methodologische Deutung als ,Mehrdimensionalität‘ hat P. Tillich angesprochen. Er hat sich dem Protest des Protestantismus und der Renaissance gegen das Denken in hierarchischen Schichten angeschlossen. Stattdessen hat Tillich eine Methode vorgeschlagen, die er „Einheit von vielfachen Dimensionen“ benannt hat. Wenn wir die Metapher der Dimension bewusst gebrauchen, dann haben wir es mit einer anderer Art von Begegnung unseres Geistes mit der Welt zu tun, als wenn wir die Metapher der Schicht benutzen. Die Verwendung der Metapher der Dimension schließt die Deutung der Spannungen und Konflikte nicht aus, die aber nicht von dem Unterschied der Schichten abgeleitet sind, sondern von den widersprüchlichen Elementen, die in den Dimensionen des Lebens vorhanden sind. Vgl. Tillich 1962, 79.

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Liebe ist als eine komplexere und höhere Seins- und Identifikationsform „im Leben“ aufzufassen, in die sowohl sittliche Gesinnungen wie Gemeinsamkeit, Solidarität und Verantwortung als auch individuell-subjektive Elemente wie besondere Neigungen und Gefühle oder aber auch die freie Entscheidung der betroffenen Individuen etwa über Eheschließung bzw. Ehescheidung oder das Recht auf eigene, „besondere Existenz“ eines jeden mit eingeholt werden. All dies hat Hegel im Rahmen des komplexen Aufbaus des Systems ausgeführt. Für die Rekonstruktion der systematischen Deutung der Liebe werden folgende Texte verwendet: Die Philosophie des Geistes aus der Enzyklopädie von 1830 (Werke 10), die Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1820 (Werke 7), die Vorlesungen über die Philosophie der Kunst von 1823 (Vorlesungen 2) sowie das Manuskript der Vorlesungen über die Philosophie der Religion von 1821 (Vorlesungen 3–5).

Liebe im subjektiven Geist: Geschlechtsverhältnis, Gefühl und praktisches Gefühl Die Aspekte der Liebe im subjektiven Geist hat Hegel auf drei Ebenen unterschieden: 1. Liebe im Geschlechtsverhältnis; 2. Liebe im Gefühl; 3. Liebe im praktischen Gefühl. Auf der ersten Ebene der Liebe im subjektiven Geist werden die existentielle und die identitätsbildende Funktion des Natürlichen und deren inhaltliche Komponenten thematisiert. (Darin zeigt sich auch der Übergangsstatus des subjektiven Geistes von der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes.) Die konkrete inhaltliche Bestimmung des Natürlichen entfaltet sich unmittelbar in der reflexiven Empfindung bzw. in der eigenen, inneren Existenz der Seele (Gemüt). Das Natürliche entfaltet sich auch vermittelt, und zwar in den praktisch gestalteten, aber auch vorgefundenen sittlich-institutionellen Formen (Ehe, Familie) und in deren solidarisch-gemeinschaftlichen reflexiven und normativen Formen (sittliche Gesinnung). In diesen Relationen der ersten Dimension des Geistes wird deutlich gemacht, wie das Natürliche in einen neuartigen Kontext eingebaut wird, in dem die unmittelbar-natürlichen Elemente durch soziale Komponenten, durch reflexive Formen des Bewusstseins und durch spezifisch menschliche Einstellungen, soziokulturelle Gestalten bzw. ihnen entsprechende Normen, Praktiken und Inhalte ab ovo durchzogen werden. Wesentliche Inhaltselemente des Natürlichen kommen aus der Sittlichkeit und der Geistigkeit überhaupt her und werden soziokulturell vermittelt. In der „modernen Zeit“ werden diese Elemente (Empfindung, Gemüt) durch Institutionen wie Ehe und Familie einerseits, durch eigene Aktivitäten von Individuen mit bestimmten, besonderen Einstellungen und Motivationen

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andererseits vermittelt und durchgeführt. Vor diesem Hintergrund erhält die Liebe im Geschlechtsverhältnis ihre Bestimmungen in dem mehrfach gegliederten Spannungsfeld zwischen Naturbestimmtheiten, der eigenen inneren Welt und der Lebenswelt als zunächst äußerlicher Existenz. Die Liebe wird einerseits unmittelbar reflektiert und auch existentiell empfunden etwa in Formen des subjektiven Geistes, andererseits wird sie vermittelt und umgestaltet, d.h. sie lässt sich in die Institutionen der Sittlichkeit (Familie, Ehe, bzw. sittliche Gesinnung) des objektiven Geistes einbauen und auch durch besondere Praktiken von selbstbestimmenden und solidarischen Individuen mit ihren jeweiligen besonderen Einstellungen und Motiven entfalten. Dies verweist aber auch darauf, dass die Liebe im Geschlechterverhältnis ohne die Perspektive und die Bestimmungen des objektiven Geistes nur unangemessen aufzufassen ist. Diese grundlegende Einsicht wird jedoch nicht unmittelbar im subjektiven Geist in den Vordergrund gestellt, sondern vielmehr im objektiven und absoluten Geist. Ohne das „Ganze“, d.h. ohne die dreidimensionale Struktur des Geistes als umfassenden Horizont der hegelschen Interpretation, ist die Liebe schon im subjektiven Geist nicht zu erläutern. Jedoch zeigen auch die jeweilige Dimension und deren Formen Kennzeichen der Liebe auf, die für die Gesamtkonzeption von Bedeutung sind, so etwa die Empfindung oder das Gefühl. Nach der Liebe im Geschlechtsverhältnis ist das Gefühl als solches die nächste Gestalt im subjektiven Geist. Damit hat Hegel einen weiteren Aspekt der Liebe thematisiert. Zuerst wird sie im Empfinden als Verinnerlichung und Verleiblichung angesprochen. Die Bestimmung der Leiblichkeit im Individuum wird die Empfindung als geformtes Ergebnis des Empfindens, das in der „Seele innerlich gemacht, erinnert wird“. (Werke 10, § 401, 101) Die Verinnerlichung des Empfindens ist seine erste reflexive Form: Empfindung. Das Gefühl, abweichend von der Empfindung in der natürlichen Seele, ist in die fühlende Seele eingeordnet, in der individuell-existentielle, allgemeinepistemische und – als neue Kontextualisierung – besondere praktische Einstellungen auftreten, die voneinander unterschieden und zugleich miteinander verbunden sind. Dies führt über die Dominanz des unmittelbar Natürlichen im Empfinden als erste Stufe des präreflexiven Menschseins deutlich hinaus. Das Empfinden ist unter diesem Aspekt die Seite der „Passivität“, des „Findens“, in dem die „Unmittelbarkeit der Bestimmtheit“ „im Fühlen“ hervorgehoben wird. Im Gefühl geht es dagegen um die Überwindung dieser Passivität durch die „Selbstischkeit“. Die These lautet: Ich bin es, der fühlt. (Werke 10, § 402, Anm., 117) Die „Selbstischkeit“ als eine frühe Stufe und Vorform der Selbstbestimmung drückt eine neue Gestalt der Existenz und des Erkennens des Ich im Rahmen des Geistes aus.

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Fühlen ist zwar eine einfache, aber doch höhere Seinsform im Vergleich mit der Seinsform im Empfinden, das „das gesunde Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit“ (PhG § 401, S. 101) ist. Diese neuartige Seinsform wurzelt in der beginnenden Selbstständigkeit, durch die und in der eine weitere Kontextualisierung von eigenen Einstellungen und Aktivitäten der Individualität eintritt. An die neue Seinsform und an die ihr angemessene Reflexion des im Gefühl weiter sich differenzierenden Empfindens werden sich auch spezifische, eigene epistemische Formen in der sich entfaltenden Reflexion anschließen. „Gefühlstotalität“ als Existenzform („Gefühlssein“) wird hier in den Mittelpunkt gestellt. (Werke 10, § 405, Anm., 127) Hegel redet an dieser Stelle über „Gefühlstotalität“, „Gefühlsleben“, „Gefühlssein“ und „konzentrierte Individualität“. Die letztere wird „Herz“ oder „Gemüt“ genannt, worunter eine eigene, innere Welt verstanden wird. (Ebd. 126–127) In dieser „Innerlichkeit der Individualität“ binden sich unterschiedliche Aspekte des Gefühls, so Existenzform („Gefühlssein“, „Gefühlsleben“), epistemische Gestaltung („Entfaltung“ des Bewusstseins des Individuums) und praktische Einstellung bzw. Motivationsstrukturen („Absichten“, „Zwecke“, „Interessen“) zusammen, wie Hegel in § 405 ausführt. Die Gefühlstotalität ist keine mathematische Summe von einzelnen Gefühlen und Empfindungen, sondern eine selbstständige Entität, die Hegel auch „konzentrierte Individualität“ nennt und mit dem Herzen und Gemüt in engen Bezug setzt18. Diese strukturierte Art von Komplexität bzw. Ganzheit der Gefühlswelt ist aber eine andere als die der Romantik19. Das Eigenartige an Hegels Auffassung der Gefühlstotalität liegt in der gerade aufgezeigten dreifachen Dimensionierung der innerlichen Individualität der fühlenden Seele, d.h. in der epistemischen, existenziellen und praktischen Dimensionierung der inneren Welt. Das Gefühl ist für Hegel gerade deshalb von besonderer Bedeutung, weil darin sowohl das Prinzip und die Wurzeln der Selbstständigkeit als Vorstufe 18  Hegel stellt hier fest: „Diese konzentrierte Individualität bringt sich auch zur Erscheinung in der Weise, welche das Herz oder Gemüt genannt wird. Man sagt von einem Menschen, er habe kein Gemüt, insofern er mit besonnenem Bewußtsein nach seinen bestimmten Zwecken – seien sie substantielle, große Zwecke oder kleinliche und unrechte Interessen – betrachtet und handelt; ein gemütlicher Mensch heißt mehr, wer seine wenn auch beschränkte Gefühlsindividualität walten läßt und in deren Partikularitäten sich mit dieser ganzen Individualität befindet und von denselben völlig ausgefüllt ist.“ Werke 10, § 405, Anm. 126–127. – Hegel verweist hier eindeutig auf die übliche Deutung des Gemüts im alltäglichen Denken. 19  Es ist deutlich: Hegel hat der Gefühlswelt eine umfassende Bedeutung im Sinne des Alltagsbewusstseins und nicht im Sinne der Exklusivität der Romantik zugeschrieben.

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der Selbstbestimmung der individuellen Existenz als auch ihre beginnende Reflexivität („Aufwachen“) als auch die Grundelemente der praktischen Einstellung (Absicht, Zweck, Interesse) zu erkennen sind. Diese Aspekte werden auf die vorliegende Gestalt und Stufe der Individualität, auf die „Selbstischkeit“ basiert. Nach der Erörterung der allgemeinen Sinn- und Strukturierungsfragen des Gefühls führt Hegel die Problematik der Besonderheit der Gefühle ein, die er zwar kritisch betrachtet, aber doch als konstitutiv erachtet. Das Selbstgefühl stellt die Entität dar, in der die fühlende Totalität als Individualität in Bezug auf ihre besonderen Gefühle gedeutet wird. (Werke 10, § 407, 160) Diese Annäherung ist auch für die Liebe von ausgezeichneter Bedeutung, die nicht einfach zur allgemeinen Struktur des Gefühls gehört; sie ist hier ein besonderes Gefühl. Es ist aber auch hinzuzufügen: Hegel hat zwar die Besonderheit der Gefühle im Kontext des Selbstgefühls angesprochen, aber letztlich hat er der Besonderheit der Gefühle doch keinen ausgezeichneten Stellenwert für seine Konzeption der Liebe zugeschrieben. Im Kapitel Phänomenologie wandelt sich das Selbstgefühl in die Gestalt des Selbstbewusstseins als höhere Form der Existenz, des Erkennens und der praktischen Einstellung der Individualität um. Das Selbstbewusstsein bedeutet eine weitere Vorstufe der Selbstbestimmung, die Hegel dann systematisch in der Moralität ins Zentrum stellt. Selbstbestimmung ist zugleich ein umfassender Begriff mit normativem Akzent, der Selbstständigkeit, Selbstgewissheit, Selbstgefühl, „Selbstischkeit“ in sich integriert und eine der entscheidenden Kennzeichnungen von Hegels praktisch-philosophischer Konzeption darstellt. Triebe und Begierden sind auf dieser Stufe Motivationsstrukturen, die Erfüllung bzw. Befriedigung erfordern. Die Befriedigung als zentrales Element verbindet sich nun mit der intersubjektiven Struktur der gegenseitigen Anerkennung, die an die Stelle der ich-zentrischen Position des Selbstgefühls tritt. Das Subjekt ist kein isoliertes Individuum, sondern Intersubjekt, das auch in den Seins- und Erkennensformen zum Ausdruck gebracht wird. Eine mit dieser Auffassung zusammenhängende grundlegende Kennzeichnung ist die Zukunftsorientierung in der praktischen Einstellung, die weitgehende Folgen für die Seins-und Erkennensformen nach sich zieht. Das zeigt sich etwa in der Vorsorge als praktischer Einstellung. (Vgl. Werke 10, § 434, 224) Damit hat Hegel der Liebe einen intersubjektiven und praktisch-sittlichen Sinn und Stellenwert eingeräumt. Es handelt sich um „die Form des Bewußtseins der Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staats, sowie aller Tugenden, der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms.“ (Werke 10, § 436, Anm., 226) Das Ergebnis dieser Über­ legungen ist, dass sich sowohl die individuell-inhaltliche Besonderheit der

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Liebe als auch ihre allgemein-intersubjektive Bedeutung, ihre allgemein-epistemischen und ihre allgemein-existentiell-substantiellen, d.h. ihre sittlichen Aspekte in den Rahmen der Familie integrieren lassen. Im Kapitel Psychologie erörtert Hegel zuerst den theoretischen Geist unter dem Leitbegriff der Intelligenz, der die Tätigkeit des Erkennens als solche umfasst und ausdrückt. Danach wird der praktische Geist unter den Leitbegriffen des Willens und der Freiheit thematisiert. Für die vorliegende Problematik der Liebe ist der Kontext des praktischen Gefühls von besonderer Bedeutung. Hier verweist Hegel auf den Zwiespalt des Gefühls im Praktischen. Die grundlegende Bestimmung des praktischen Geistes ist, die Freiheit „zur Existenz zu bringen“ (Werke 10, § 469, 288). Sie ist zum „Inhalte und Zwecke“ (ebd.) von Tätigkeiten zu machen, die als Praktiken durch den praktischen Willen realisiert werden. Die „wahre Freiheit“ in ihrer Existenz ist auf dieser Stufe die Sittlichkeit, in der sich zeigt: Im praktischen Gefühl geht es nicht um „subjektive[n]“ und „eigensüchtige[n]“, sondern um „allgemeinen Inhalt“, der dann auch zum „Zwecke“ konkreter Praktiken der Einzelnen wird. (Ebd., Anm., S. 288) In diesem Kontext wird erläutert, dass „die Ideen, die allein dem denkenden Geiste angehören, Gott, Recht, Sittlichkeit, auch gefühlt werden können“. (Werke 10, § 471, Anm., 291) Aber die Form des Fühlens soll überschritten werden: Das Gefühl als „Seelenvermögen“ (ebd.) erreicht seine Wahrheit durch die Vernunft, die alle Vermögen – Gefühl, Wollen, Denken – umfasst20. Diese umfassende Art der Vernunft wird dann durch die Sittlichkeit im objektiven Geist soziokulturell kontextualisiert und konkretisiert. Diese neue, komplexe praktische Einstellung hat dann einen besonderen Status bezüglich des praktischen Gefühls und somit auch der Liebe. In den praktischen Motivationen bildet die unmittelbare Einzelheit als das unmittelbare Subjekt dieser Einstellung den ersten Ausgangspunkt, der im Feld von Trieben, Neigungen, Leidenschaften lokalisiert ist. Diese Art praktischen Gefühls entfaltet sich und fließt in die Glückseligkeit ein, die die eine umfassende Grundmotivation für die Einzelnen ausmacht, während die andere die Freiheit ist21. Die Glückseligkeit umfasst alle praktischen Motivationen, worin sich auch die Mannigfaltigkeit und Ambivalenz der Gefühlswelt und damit auch ihre Defizite deutlich zeigen.

20  An dieser Textstelle zeigt sich exemplarisch, dass Komplexität und Totalität bei Hegel zu unterscheiden sind. Die Komplexität wurzelt in den dynamischen Strukturen von Begriffen und ihren Relationen, die Totalität verbindet sich dagegen mit dem linearen und hierarchischen Aufbau des Systems, der notwendig zum Abschluss führt. 21  Vgl. dazu: Rózsa 2006.

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Subjektivität, Beliebigkeit und Willkür eines Gefühls, und sei es sogar der Liebe, können und sollen bei Hegel nicht im Sinne von Kant eliminiert werden. Diese Kontingenz wird bei Hegel unvermeidlich zum strukturellen Merkmal des praktischen Gefühls und der besonderen, individuell-konkreten Motivationen von Praktiken. Hegels Thematisierung der Welt der praktischen Gefühle ist eine Art ständiger Erinnerung an die existenziell ambivalenten, epistemisch defizitären Spezifika der Welt von Gefühlen. Eine anregende Komponente im praktischen Gefühl liegt in der Spannung zwischen der Glückseligkeit als Summe von Gefühlen bzw. sinnlichen Motivationen und der Freiheit als Grundmotivation von vernünftig-geistigen Wesen, die Hegel zugunsten der Freiheit auch im Sinne von Kant entschieden hatte, ohne aber die Gefühlswelt und die Welt der Sinnlichkeit aus dem Menschsein im höheren und komplexen Sinne auszugrenzen. Es stellt sich die Frage: Warum hat Hegel die besonderen Gefühle in ihrer Besonderheit doch nicht thematisiert? Eine Antwort findet sich in seinen umfassenden Ausführungen über die formell-strukturellen Schwerpunkte der Gefühle, für deren besondere Inhalte die „wissenschaftliche Betrachtung“ allerdings nicht zuständig sei. Darin zeigt sich, dass die philosophische Betrachtungsund Darstellungsweise der Gefühlswelt nur eine sehr begrenzte sein kann: Sie konzentriert sich nur auf einige formell-strukturelle Schwerpunkte. Deshalb redet er vom „formellen praktischen Gefühl“. Diese methodologisch begründete Überlegung und Beschränkung ist auch im Bereich der Liebe gültig. Er schreibt Folgendes: „Vergnügen, Freude, Schmerz usf., Scham, Reue, Zufriedenheit usw. sind teils nur Modifikationen des formellen praktischen Gefühls überhaupt, teils aber durch ihren Inhalt […] verschieden.“ (Werke 10, § 472, Anm., 292.) Die allgemeinen Kennzeichnungen der Gefühlswelt sind also formell-strukturell philosophisch zu erörtern. Dagegen sind die besonderen Spezifika der Gefühlswelt inhaltlich ganz unterschiedlich und subjektiv-beliebig. Sie sind aus diesem Grund mit dem Instrumentarium der Philosophie, d.h. durch ihre Begrifflichkeit, nicht angemessen zu erfassen. Worin liegt dann der Gewinn von Hegels Konzeption des Gefühls? Einer ist vor allem darin zu erkennen, dass Hegel die ganze Welt des Gemüts in ihrer strukturierten Komplexität erörtert hat, ohne aber die Spezifika von besonderen Gefühlen zu verleugnen, und ohne sich in den besonderen, beliebigen, willkürlich subjektiven Inhalten dieser Gefühle zu verirren. Er hat sich vielmehr auf allgemeine Strukturen der Gefühlswelt in verschiedenen Kontexten konzentriert, die die „Totalität des Gefühls“ als eine autonome, intern-strukturierte, selbstständige innere Welt darstellen, und die sowohl bewusstlose als auch bewusste, aber auch unbewusste Elemente in sich integrieren. Die Bewusstlosigkeit bzw. das Unbewusste als Bezugsrelationen des Denkens mit

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seinem ausgezeichneten Status für die Philosophie und für ihre Begrifflichkeit sind in Hegels Augen nicht rein epistemische Defizite, sondern strukturelle Merkmale der inneren Welt, zu der auch die Gefühlstotalität gehört. Diese innere Welt der Individualität ist zu einer der zentralen kulturellen Formen der Moderne geworden, wie sie auch die romantische Kunst und die christliche Religion in den Vordergrund stellen22. Die strukturierte innere Welt des Selbstgefühls mit dessen Totalität und Konzentriertheit wie auch das praktische Gefühl mit dem Schwerpunkt der Motivationsstrukturen von Praktiken erhalten eine besondere Bedeutung für Hegels Deutung der modernen Lebenswelt und Lebensführung, aber auch der modernen Kunst im Bereich der Musik, der dramatischen Kunst oder der Dichtung. All das, was in der inneren Welt der modernen Individuen vorhanden und überhaupt vorstellbar ist, kann zum Thema und zur Inspiration von Kunstwerken der Moderne werden23. Die Liebe erhält ihren Status und ihre inhaltliche Bestimmung in der modernen Kunst gerade vor diesem Hintergrund24. Damit hat Hegel ein wichtiges Element der Gedankenwelt der Frühromantik in seine systematische Philosophie mit einbezogen, was seine Stellungnahme über die autonome Welt der Gefühle um einen spannenden Akzent bereichert hat. Die im subjektiven Geist thematisierten Sphären der Gefühle erhalten eine besondere Rolle auch für die Deutung der „subjektiven Religiosität“ als Komponente und Form der im hegelschen Sinne modernen Religion25. Die nächste Kontextualisierung der Liebe wird im objektiven Geist vollzogen, in dem die moderne, subjektive Freiheit und der besondere Stellenwert 22  Zur Innerlichkeit vgl. Taylor 1996, insbesondere 207–372. 23  „Indem aber der ganze Inhalt in den Punkt des subjektiven menschlichen Gemüts zusammengehalten ist und hierhinein aller Prozeß verlegt wird, so ist damit andererseits der Kreis auch wieder unendlich erweitert und umfaßt die schrankenloseste Mannigfaltigkeit.“ Vorlesungen 2, 183. 24  Hegel erläutert die Wurzeln der Wende, die in der romantischen Kunst einbricht. In der klassischen Kunst stellt man fest: „[S]chöner kann nichts werden“. Das ist aber für den Geist unangemessen. „Der Geist muß sich selbst zum Boden seines Daseins haben, sich eine intellektuelle Welt erschaffen. Hier vollendet sich die Innerlichkeit in sich. Und diese Freiheit des Geistes ist es, welche jetzt das Prinzip ausmacht. Dadurch erhält die Erscheinung auch ein anderes Verhältnis, das über die Schönheit hinausgeht. […] Das Prinzip ist das der absoluten Innerlichkeit.“ Vorlesungen 2, 179–180. – Diese Überlegung liegt der Konzeption der modern-romantischen Kunst zugrunde, in der das „formelle Gesetz des Schönen“ im Kontext der Innerlichkeit als Prinzip der modernen Kunst an die Stelle des „Ideals der Schönheit“ tritt. Vgl. Rózsa 2015. 25  Zur subjektiven Religiosität vgl. Rózsa 2008b.

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der Individualität im Umfeld von Einrichtungen, Gesetzen und Institutionen hervorgehoben werden, wie es schon innerhalb des subjektiven Geistes, im freien Geist, angesprochen wurde. Liebe im objektiven Geist Im Rahmen des objektiven Geistes hat Hegel der Liebe eine weitere Bedeutung gegeben, am Schnittpunkt der „weltlichen Existenz“ als Sphäre von Recht, sozialer und ökonomischer Struktur und Politik einerseits sowie als „Sphäre der besonderen Existenz“ der einzelnen freien Individuen und Gemeinschaften andererseits. Die eigene, besondere Existenz als Lebenswelt in der Dimension des objektiven Geistes basiert einerseits auf Institutionen, andererseits auf Entscheidungen von freien, zugleich einander gegenseitig anerkennenden Individuen. Deshalb stellen Ehe und Familie komplementäre Strukturen, d.h. subjektiv und intersubjektiv bestimmte Lebensrahmen von Subjekten dar, und sind gleichzeitig Institutionen, in denen die Liebe eben durch die spezifischen Kontexte eine weitere Bedeutung gewinnt. Sie wird zur „Gesinnung der Sittlichkeit“. Die Sittlichkeit, die bisher für die Inhalte von besonderen praktischen Akten von Bedeutung war, tritt in diesem neuen Kontext in den Vordergrund und bestimmt sowohl den subjektiv-besonderen, als auch den gemeinsam-substantiellen Inhalt der Liebe. Hier wird die Liebe unter drei Aspekten erörtert, die mit Hegel als „Standpunkte“ benannt werden können. Erstens wird sie in ihrer Naturbestimmtheit vorgeführt. Hegel verweist wieder auf die natürliche Seite der Liebe, die auch einen Rückblick auf die Naturphilosophie bzw. auf das Natürliche im subjektiven Geist darstellt. (Vgl. Werke 7, § 161, 309–310 bzw. Werke § 518, 319–320) Die Ehe enthält „das Moment der natürlichen Lebendigkeit“, und zwar „die Lebendigkeit in ihrer Totalität“ (Werke 7, § 161, 309). Das „Ganze der Liebe“ zeigt sich hier nicht unmittelbar in der Empfindung wie im subjektiven Geist, sondern in der natürlichen Lebendigkeit, die die „Wirklichkeit der Gattung und deren Prozeß“ (ebd.) ausmacht. Auch das Element der Liebe im Geschlechtsverhältnis im Rahmen des subjektiven Geistes kehrt zurück, das dort mit der Naturseele verknüpft war. Hier wird es aber ebenso aus der Perspektive der „Wirklichkeit“ und deren Prozesses, dem allgemeinen „Standpunkt“ des objektiven Geistes entsprechend, betrachtet. Zweitens wird die Liebe als „innerliche Existenz“ verstanden, die mit dem Gefühl und Gemüt in der Gestalt der fühlenden Seele im Rahmen des subjektiven Geistes in Verbindung steht. Aber die Liebe als innerliche Existenz wird im objektiven Geist nicht individuell aufgefasst und nicht in der Gestalt der fühlenden Seele erörtert wie im subjektiven Geist, sondern in ihrer Einbindung in die Gemeinsamkeit bzw. in den institutionellen Rahmen von Ehe und Familie. Gemeinsame, geteilte Wirklichkeit als Lebenswelt und

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sittliche Institutionen bzw. Normen stellen die angemessenen Bezugspunkte für die ersten zwei Annäherungen und Bestimmungen der Liebe im Rahmen des objektiven Geistes dar. Damit erwirbt die Liebe eine Normativität, die auf den früheren Stufen des Geistes unbekannt war. Drittens ergibt sich die Liebe als „geistige“, „selbstbewußte Liebe“ (ebd., 310), die sich eben durch den mehrfachen Umwandlungsprozess zu einer komplexen Sphäre entfaltet. So kristallisiert sich die Liebe in ihren bewussten Formen und in ihren wirklichen bzw. institutionellen Einbettungen als reflektierte, bewusste, sich bestimmende, aber auch als intersubjektive, institutionell und normativ geregelte, grundlegende zwischenmenschliche Beziehung heraus. In diesem differenzierten Horizont ist die Liebe den sich als Familienmitgliedern verstehenden und bestimmenden Individuen zuzuordnen. Das sittliche Leben bildet den angemessenen Deutungshorizont für die vorliegende Form der Liebe, für die sittliche Liebe. Sie wird in der Dimension des objektiven Geistes zur „substantiellen Einheit“, die als „wahre Vereinigung“ aufzufassen ist. Die Verbindung der sittlichen Liebe mit der substantiellen Einheit als höchster Identität der dazu gehörenden Individuen erklärt sich im Kontext des objektiven Geistes. Diese Dimension erläutert neue, komplementäre Relationen von Wirklichkeitssphären, Insti­ tutionen und sittlichem Leben, bzw. von Substantialität und Subjektivität, Institutionen und verschiedenen Gestalten der Individualität. In diesen mehrfachen Relationen als eigenen Kontexten des objektiven Geistes werden in die Liebe verschiedenartige Komponenten des subjektiven und des objektiven Geistes integriert, die dann der Liebe substantielle Inhalte wie geistig-sittliche Normativität und Lebenswirklichkeit verleihen können. Dementsprechend wird das Sittliche im Leben nicht mehr im naturphilosophischen oder im organischen Sinne aufgefasst: Das Leben wird hier als sittlich-gemeinschaftlich und soziokulturell geprägte und strukturierte, zugleich als selbstbestimmte Lebenswelt von Individuen aufgefasst. Vor dieser systematischen Stellungnahme Hegels und vor dem konzeptionellen Hintergrund der Moderne wird die Liebe als „sittliche Gesinnung“ (Werke 10, § 515, 319) verstanden, in der drei Aspekte ihrer „Wirklichkeit“ und Dynamik zusammengebracht werden: Erstens geht es um die natürlichen Komponenten des Körperlich-Leiblichen, zweitens um eine intern strukturierte Welt von Gefühlen qua Gemüt als summierender Gestalt der Gefühle, die eine subjektiv bestimmte „innere Welt“, „subjektive Innigkeit“ bildet. Drittens handelt es sich um intersubjektiv bestimmte, existierende Beziehungen von freien Individuen zueinander, zu sich, zu Einrichtungen, Institutionen und Normen im sittlichen Leben der „modernen Welt“. Deshalb ist die Liebe vor allem ein sittliches

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Verhältnis, das von dem aus diesen drei Aspekten („Standpunkten“) sich ergebenden Komplex her zu erläutern ist. Hegels Deutung der Liebe wird durch den letzten Aspekt der Sittlichkeit bzw. des sittlichen Lebens beherrscht und als „sittliche Gesinnung“ benannt. Diese von ihm bevorzugte, dritte Deutungsebene der Liebe verweist auf die gegenseitige, gemeinschaftliche, solidarische und verantwortungsvolle Einstellung menschlicher Wesen zueinander und damit zu sich im Umfeld des sittlichen Lebens. Diese Einstellung hat in sich sowohl die „natürliche Neigung“ als auch die „innere Existenz“ der Liebe integriert. Den angemessenen Ort für die wirkliche Entfaltung dieser Aspekte stellt die jeweilige „besondere Existenz“ als Lebenswelt von jeweils besonderen Individuen dar. Hegel hat auch die Ehe und die Familie als Institutionen der Lebenswelt kritisch erörtert. Ihre primäre Funktion besteht darin, radikale Phänomene und extreme Auswüchse der modernen Freiheit in verschiedenen Sphären und Phänomenen des modernen Lebens zu beschränken. Die Effektivität der Institutionen ist eben daran zu messen, inwieweit sie dieser Aufgabe folgen und sie erfüllen können. Diese Erwartung bezieht sich auch auf die Ehe bzw. auf die Familie als Institutionen der Liebe, die in der modernen Gesellschaft den entsprechenden Ort der sittlichen Liebe und des sittlichen Lebens darstellen26. Liebe ist von Anfang an nicht von institutioneller, sondern vor allem von sittlicher Natur: Sie hat ihre existenziellen und/oder anthropologischen Wurzeln in der intersubjektiven Natur des Menschseins. Nur in einer modernen, d.h. nicht einfach tradierten, sondern in einer von Einzelnen gewählten, bestimmten und gegenseitig anerkannten soziokulturellen Form ist es möglich, die Liebe zu erkennen, zu erleben und zur Geltung zu bringen. Deshalb ist der höhere sittliche Inhalt der Liebe mit der Ehe und der Familie als institutionellen Formen nicht zu verwechseln. Die sittliche Liebe ist von substantieller Natur: In erster Linie ist sie mit ihren substantiellen Inhalten, und nicht mit ihrer institutionell geregelten Form, eng verbunden. Die Institution der Liebe ist zwar auch „sittlich“, was nicht nur die Heiligkeit der Ehe und tradierte Werte überhaupt zum Ausdruck bringen27. Das Sittliche ist auch von konkreten Einstellungen und Praktiken der jeweiligen Individuen in der profanen Welt nicht zu trennen, weil diese eben darin ausgeübt werden können: Das Sittliche ist „lebendig“. Das lebendige Sittliche basiert in erster Linie auf eigenen, freien Entscheidungen 26  Vgl. Rózsa 2007. 27  Zur Heiligkeit und zur Substantialität der Ehe überhaupt vgl. Hegels Ausführung im § 163 der Rechtsphilosophie: Werke 7, 313–314.

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und Praktiken von Personen, und nicht auf Institutionen. Die Personen verstehen und bestimmen sich in diesen Akten aber nicht nur als Subjekt, sondern ebenso als Intersubjekt. Ihre Selbstdeutung und Selbstbestimmung ist vom gegenseitigen Respektieren nicht abzutrennen. Auch Idealität und Realität verbinden sich in der sittlichen Liebe. Die Einholung der Wirklichkeit, so auch der ganzen individuellen Existenz als Lebenswelt in den Inhalt der Liebe, macht sie nicht unbedingt gemein, sondern die Liebe wird dadurch auch bereichert. Die Perspektive der Wirklichkeit auch als „Boden“ von konkreten sittlichen Normen, Inhalten und Beziehungen bringt einen neuen Blickwinkel in die Theorie der Liebe. Hegel geht es in der modernen, profanen, prosaischen Welt nicht einfach um Verluste, sondern auch um neue Alternativen, Perspektiven und Formen des Lebens und auch der Liebe. So gesehen ist die Liebe ein konstitutives Element des sittlichen Lebens unter den Umständen der Moderne. Die sittliche Liebe ist eine der modernen Welt angemessene Gesinnung, in der das unendlich subjektive Prinzip der Freiheit als „Wert“ auch betont wird. Aber die sittliche Liebe integriert in sich auch besondere Neigungen und Triebe. Nicht unmittelbar, sondern reflektiert, vernünftig und durch rechtlich und normativ begründete Praktiken vermittelt. Die „freie Einwilligung“ ist eine der ersten praktischen Äußerungen des Rechts auf Selbstbestimmung, in der die reflexive, vermittelnde, vernünftige Einstellung eines jeden („vernünftige Einsicht“) zum Ausdruck kommt. Diese Einwilligung bezieht sich bei Hegel auch auf die Eheschließung. Die subjektive Freiheit heißt nicht, frei zu sein von Beschränkungen, sondern frei zu sein für vernünftige Lebensführung. Ein vernünftiges Leben kann durch Aktivitäten von sich bestimmenden Individuen in einem gegenseitig anerkannten, beschränkten und auch überprüfbaren Lebensrahmen geführt werden. In diesem geteilten Lebensrahmen ist nicht die Individualität als einzelnes Individuum das primäre Subjekt der modernen Freiheit, sondern das Intersubjekt. In diesem Zusammenhang ist auch die Liebe ab ovo von intersubjektiv-dialogischer Natur. Dies scheint für Hegel geeignet zu sein, mit Spannungen, die um die menschlichen Beziehungen herum in der Moderne entstehen, angemessen umzugehen, d.h. das Leben in der Moderne durch angemessene institutionelle Formen des Zusammenlebens bzw. durch angemessene Bewusstseinsakte („vernünftige Einsicht“), praktische Einstellung („vernünftige Stellung zur Wirklichkeit“) und sittliche Inhalte mindestens in der Privatsphäre zu gestalten28. Die subjektiv-sittliche Liebe als dominierender Inhalt der institutionellen Formen des Privatlebens (Ehe, Familie) gewinnt dadurch eine stabilisierende Funktion für die Lebensführung der betroffenen 28  Vgl. Vorrede zur Rechtsphilosophie. Werke 7, 22–28.

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Personen. Sie verstehen und bestimmen sich frei nicht allgemein-abstrakt, sondern in konkreten, gegenseitigen Lebenssituationen und Praktiken. Sie treffen Entscheidungen nicht isoliert oder egoistisch, sondern in ihrer jeweiligen aktuellen Lebenslage und durch konkrete, vernünftige Einsichten und Einstellungen, in denen sie die konsensuell hervorgebrachte und kontrollierbare bzw. bestätigte und zu bestätigende Gemeinsamkeit ihres Lebens vor Augen behalten und die daraus sich ergebenden Folgen überblicken, einhalten und kontrollieren können und wollen. Liebe ist darum bei Hegel kein Selbstzweck, sondern „das Sittliche der Liebe“ ist „der Hauptzweck der Ehe“ (Werke 7, § 164, Anm., 315): Sie dient der Minimalisierung der Spannungen und Konflikte in den zwischenmenschlichen Beziehungen des Privatlebens der Moderne und bietet konsensuelle Möglichkeiten zur Lösung der potenziell ständig anwesenden Konflikte von Individuen. Das Wesen der Liebe besteht gerade in dieser Bestimmung, die Hegel als „spekulative Natur des substantiellen Verhältnisses“ kennzeichnet. (Ebd., 317) Diese „spekulative“ Natur des substantiellen Verhältnisses der Liebe in der Ehe wird auch in den soziokulturellen Kontext der Moderne einbezogen, in dem die Liebe eine die Lebensführung der modernen Individuen stabilisierende Funktion annimmt. Das Spekulative als sittliche Substantialität „dirimiert“ sich „als Begriff an sich selbst“ in den Unterschied der Geschlechter, „um aus ihm ihre Lebendigkeit als konkrete Einheit zu gewinnen.“ (Werke 7, § 165, 318) Die sittliche Gesinnung als Liebe verteilt sich in diesem Kontext des Spekulativen, in dem aber eben die Lebendigkeit und die Konkretheit akzentuiert wird, auf Geschlechterrollen. Das hat Hegel in vieler Hinsicht im patriarchalisch-traditionellen Sinne erörtert. Die entwicklungsgeschichtlichen Wurzeln dieser Stellungnahme findet man in seiner Antigone-Deutung in der Phänomenologie des Geistes29. Dennoch sind wichtige Gedanken in seiner Deutung der Geschlechterrolle zu erkennen, die auch für heutige Diskussionen Anstöße geben können. Diese Einsicht hat ihn motiviert, einen Weg zu suchen, auf dem die potentiellen Kollisionen in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Moderne zwar nicht zu lösen, aber doch in Grenzen zu halten sind. Vor diesem Hintergrund hat er die Substantialität und die Subjektivität als zwei grundlegende Strukturebenen der modernen Gesellschaften miteinander verknüpft. Eben in dieser gegenseitigen Verbindung und zugleich Beschränkung, die auch der sittlichen Liebe zugeschrieben wurden, hat er nach den Möglichkeiten der Stabilisierung der Lebenswelt des modernen Menschen gefragt. Diese 29  Vgl. Rózsa 2008a.

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Grundintention stellt eines der zentralen Motive seiner Rechtsphilosophie und seiner Theorie der Moderne überhaupt dar. Einer der wichtigsten Aspekte seiner Position liegt darin, dass die Situation des Menschen in der Moderne vor allem aus der Perspektive von kollidierenden Strukturen und Spannungsverhältnissen begriffen, verstanden und geprüft werden soll30. Deshalb kann man Hegels Institutionentheorie ohne seine Subjektivitätstheorie nicht angemessen erklären. Eben diese Deutung von kollidierenden Strukturen ist der Kern seiner Deutung auch der Liebesthematik. In diesem Sinne ist die Liebe bei ihm von Kollisionen und Krisenphänomenen nicht abzutrennen31. In der Liebe sucht er ein angemessenes Muster für das praktische Verhalten der modernen Individuen, nicht primär von Philosophen. Eine distanzierte Identifizierung mit der Moderne im „begreifenden“, d.h. im theoretischen Verhalten, und eine Konsensfähigkeit im „sich erhaltenden“, d.h. im praktischen Verhalten der einzelnen Individuen – das stellt das Programmatische in Hegels Stellungnahme dar. In diesem konzeptionellen Rahmen hat er die Liebe auch in Bezug auf das Identitätsproblem des modernen Menschen und auf die seiner Meinung nach unvermeidliche Bereitschaft, Konsense zu schließen, gedeutet. Liebe im absoluten Geist Die Liebe wird in der dritten Dimension des Geistes in verschiedenen kulturellen Formen und Gestalten thematisiert, welche den „exoterischen“ Aspekt des auch „esoterisch“ verorteten und erörterten absoluten Geistes ausmachen. In der Kunst als Form des absoluten Geistes hat die Liebe einen intern-systematischen Stellenwert vor allem dort erhalten, wo Hegel der modern-romantischen Kunst drei Formen (Motive) zugeteilt hat, zu denen auch die Liebe (neben Ehre und Treue) gehört. Aber auch phänomenologisch taucht die Liebe in der Kunstphilosophie häufig auf, wenn Hegel konkrete Werke oder Charaktere 30  Begreifen, Rechtfertigen und Selbsterhalten sind theoretische und praktische Elemente des vernünftigen Verhaltens, die Hegel in der Vorrede der Rechtsphilosophie unterschieden und aufeinander bezogen hat. Vgl. Vorrede zur Rechtsphilosophie: Werke 7, 26–27. 31  Hegel hat über den Gegensatz und die Kollisionen in Recht, Moralität und Sittlichkeit Folgendes geschrieben: „In Kollision können sie nur kommen, insofern sie auf gleicher Linie stehen, Rechte zu sein“. „Recht“ bedeutet in dieser Hinsicht nicht das abstrakte Recht, sondern „etwas Heiliges“, was der Freiheitsbegriff als „höchste Bestimmung des Geistes“ zum Ausdruck bringt. Vgl. ders.: Werke 7, § 30 mit der Anmerkung, 83–84. – Hegel verweist hier auf die gegenseitige Beschränkung der einzelnen Sphären, mit einer ergänzenden Bemerkung: „nur das Recht des Weltgeistes ist das uneingeschränkt absolute.“ Ebd.

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(Achill, Romeo, Julia usw.) deutet. Die Liebe ist auch mit bestimmten kunstphilosophischen Problemen verbunden, z.B. wenn Hegel dramentheoretische Fragen oder Gattungsprobleme in Bezug auf die Liebesthematik anspricht. In der Religion hat die Liebe wieder einen anderen Stellenwert: Gott als Liebe schiebt sich in den Mittelpunkt der christlichen Religion, die den geschichtlichen und systematischen Höhepunkt der Religion überhaupt bildet. Es ist zwar festzustellen, dass die Macht der Liebe über den Tod („Keim der Unsterblichkeit“), die in Frankfurt für Hegel entscheidend war, im Manuskript zur Religionsphilosophie von 1821 nicht mehr zu finden ist. Aber die Einholung von „modernen Voraussetzungen“ in die Problematik der Liebe im Feld der Religion bringt auch Gewinn. In der Philosophie als höchster Form des Denkens spielt die Liebe im modernen Sinne keine Rolle mehr, aber im antiken schon: Philosophie als Liebe der Weisheit – so betont Hegel in mehreren Zusammenhängen32. Die moderne Philosophie ist ein Entfernungsprozess von der Liebe und der Gefühlswelt, so auch von der Weisheit als grundlegender Orientierung im Leben der Einzelnen. Das steht im engen Zusammenhang mit der Annäherung der Philosophie an die Kriterien der Wissenschaftlichkeit. Seit den Jenaer Jahren möchte Hegel beide Bedeutungen und Funktionen der Philosophie, d.h. sowohl die neuzeitliche, wissenschaftliche als auch die antike, gemeinschaftlich-kulturelle Bedeutung erhalten, die dann beim späten Hegel durch eine individuell-therapeutische Funktion ergänzt werden. Diese Konzeption verleiht der reifen Philosophie eine mehrschichtige Spannung33. Andererseits zieht die Einholung der modernen Welt in die Grundproblematik der Philosophie auch Auseinandersetzungen mit den prosaischen, gemeinen Kennzeichnen dieser Welt nach sich, die sich sodann auf den Status der Liebe widersprüchlich auswirken. Diese Spannungen sind auch in der Thematisierung der Liebe in und durch Kunst und Religion zu finden. Die Fokussierung auf die Moderne mit ihren Folgen für die sozialen, ökonomischen, politischen Sphären, für das Privatleben sowie für Formen und Phänomene der Kunst und der Religion hat Hegels Theorie der Liebe auch im Rahmen der Kunst geprägt. In diesem umfassenden Horizont ist Hegels Stellungnahme zu verstehen, die darin besteht, dass das Höchste in der Liebe wie auch das Niedrigste in ihr letztlich in der widersprüchlichen Natur der Moderne 32  S. Anm. 12. 33  Diese tief angelegte Spannung in Hegels Philosophie zeigt sich in der „esoterischen“ und „exoterischen“ Dimensionierung der Philosophie, die Hegel lebenslang beibehalten hat. In der Enzyklopädie von 1830 wiederholt er den Anspruch, nach dem die Philosophie die „exoterische Betrachtung“ behalten und verwenden soll, um Phänomene und Strukturen der Wirklichkeit thematisieren zu können. Vgl. Werke 10, 383 & 393.

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wurzeln. Die extreme Ambivalenz der Liebe erscheint auch in Phänomenen der romantischen Kunst. Liebe in der Kunst In der romantischen Kunst erhält die Liebe einen besonderen Stellenwert, insofern sie in dem Prinzip der Innerlichkeit fundiert wird. Die Innerlichkeit ist einerseits Komponente des Grundprinzips der „unendlich subjektiven Freiheit“ der „modernen Welt“ überhaupt, andererseits ist sie das eigene Prinzip der modernen, d.h. romantischen Kunst. Durch dieses Prinzip erhebt sich die Kunst auf ihre höchste Stufe und kann das „Höhere im Menschen“ in Bezug auf das Absolute darstellen. Diese Aufwertung der Innerlichkeit vermehrt auch die Bedeutung der Liebe in der romantischen Kunst als Kunst der Innerlichkeit. Dagegen spielt die Liebe in der griechischen Kunst als Kunst der Schönheit keine besondere Rolle. Diese Überlegung akzentuiert Hegel in mehreren Zusammenhängen. Ausgenommen ist ein von ihm angeführtes Beispiel: die Figur des Achill bei Homer. Das führt theoretisch zwar zu einer gewissen Inkonsistenz seiner Stellungnahme, aber kunstphänomenologisch handelt es sich doch um einen Gewinn, der sich in der wunderbaren Deutung der Größe des Achill eben in Bezug auf sein Liebesverhalten herausstellt. Die Liebe wird ferner im dramentheoretischen Begriffskontext von Um­ ständen, Situationen, Auffassung und Gemüt, Reaktion sowie Taten und Handlungen erörtert. In dieser dramentheoretisch-systematischen Kontextua­ lisierung des vorliegenden Begriffsumfeldes der Liebe erhält die Handlung einen ausgezeichneten Stellenwert, und zwar auch in Bezug auf das Gemüt. Der handlungstheoretischen Kontextualisierung seiner kunstphilosophischen Konzeption zufolge hat Hegel die Liebe als Motivation und Inhalt von bestimmten Tätigkeiten der Individuen unter bestimmten Umständen aufgefasst. Damit nähert er die Liebe dem zentralen Begriff des objektiven Geistes, der Wirklichkeit, an, der einen besonderen Status in Hegels Sozialphilosophie hat. Darin zeigt sich deutlich ihre sozialphilosophische und handlungstheoretische Einbettung. Die Liebe wird nicht nur als innere Reflexionsform und Existenzform des Menschen als Individuum verstanden, wie es im Gemüt des subjektiven Geistes als Inbegriff von Gefühlen war, sondern sie wird auch in Handlungen miteinbezogen, deren Motivation und/oder deren Inhalt sie ist. Der Mensch verfügt über einen Reichtum von vielfachen Beziehungen. Dieser Reichtum zeigt sich in seiner Stellung zur Welt, zu Gott (bzw. den Göttern), zu anderen Menschen und zu sich selbst. Der Reichtum ist subjektiv im Gemüt als subjektiver Totalität von Gefühlen und Leidenschaften zusammengefasst. „Nach vielen Seiten ein Ganzes zu sein“ ist Hegels Maßstab, an dem die Größe als substantielle Qualität eines Individuums zu ermessen und

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zu bestimmen ist. Damit setzen wir uns mit einem substantiellen Element auseinander, das nun im Inneren seinen unmittelbaren Ort hat. Das Ganze als normative Qualität eines Individuums ist zugleich substantiell. Es ist nicht eine arithmetische Summe von subjektiven, zufälligen Beziehungen, Gefühlen, Leidenschaften, aber auch kein rein spekulativer Begriff. Das Ganze ist die den Reichtum von Beziehungen bewertende und strukturierende Norm, die es ermöglicht, das Scheitern und sogar den Zerfall eines Individuums in der „Mannigfaltigkeit“ von Beziehungen, Gefühlen und Leidenschaften eben durch angemessene Umgangsweisen mit all diesen Komponenten, Aspekten und ihren Spannungen zu verhindern. Die Größe eines Subjekts bei den Griechen wie auch ein großer Charakter kann sich an seiner Liebe messen. Der Achill des Homer ist „ein großes Subjekt“, dessen Entfaltung in dem vielschichtigen, auch widersprüchlichen Reichtum seiner Liebe Hegel betont. Eine hochwertige, hochdifferenzierte, aber auch widersprüchliche Liebe steht auf der einen Seite, Hass und höchste Grausamkeit auf der anderen – in demselben Subjekt und sogar in einem der größten Subjekte, das in der Kunstgeschichte überhaupt dargestellt wurde. Hinter dieser differenzierten Deutung der Liebe des Achill erkennt man eine auf substantiellen Normen basierte Qualifizierung und Wertorientierung, eine Art Muster, an dem die Liebe von anderen Subjekten und Charakteren gemessen werden kann. Es ist höchstinteressant, aber nicht unverständlich, wieso die jeweilige Liebe von Achill und von Romeo gar nicht weit auseinander liegen, den trennenden Jahrhunderten, ja Jahrtausenden zum Trotz. Achill und Romeo stehen in Verwandtschaft durch die Größe des Subjekts bzw. des Charakters. Auch in ihrer Liebe sind sie verwandt. Dagegen ist Julia einer einzigen Leidenschaft unterworfen, was ihren Untergang unvermeidlich nach sich zieht. Die extrem selbstzentrische und sogar selbstzerstörerische Liebe wird in Julia jedoch am schönsten dargestellt. Für die Erläuterung der romantischen Kunst ist wichtig, dass Hegel religiöse und weltliche Liebe unterscheidet. Die religiöse Liebe durch Kunst darzustellen, ist eine neuartige Herausforderung, die kulturell im Christentum wurzelt und die man nur ausnahmsweise erfüllen kann. Das Christushaupt ist kein klassisches Ideal mehr. Menschlicher Ernst muss sich in Christus ausdrücken und die Liebe, die die Mitte trifft, soll zwischen der Schönheit des Ideals und der natürlichen Gestalt sein – so lautet Hegels Forderung. (Vorlesungen 2, 186.) Aber damit wird das Schwierigste erfordert: Der „Inhalt ist die göttliche Liebe oder die Idee der Liebe. Die reale, die existierende menschliche Liebe legt sich in einer andern Figur aus. […] Dies ist die Mutterliebe“. (Vorlesungen 2, 186– 187) Hegel problematisiert hier, dass die „Idee der Liebe“ im Christentum an sich für die Kunst nicht relevant ist. Denn die „Wirklichkeit der Liebe“ ist nicht

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nur eine ideal-geistige, sondern auch eine sinnliche, „reale, existierende“. Die rein geistige Wirklichkeit der Liebe als Idee könnte prinzipiell für die Griechen angemessen sein. Jedoch nur prinzipiell, weil 1. der angemessene Ort der Liebe, die Innerlichkeit, den Griechen nicht zur Verfügung steht, 2. die Darstellung der schönen Sinnlichkeit als griechisches Motiv nicht für die christliche Idee der Liebe in Frage kommt. Damit ist die Idee der Liebe, die in Christus ausgedrückt ist, aber für die künstlerische Darstellung unangemessen. Diese neue Art der Liebe trifft die Mitte zwischen der Schönheit des Ideals und der natürlichen Gestalt. Aber die Schönheit des Ideals und die natürliche Gestalt treten in ein Spannungsverhältnis, das künstlerisch uninteressant ist. Das liegt in der Natur der Liebe, die Christus vertritt, und die vielmehr durch Religion dargestellt und im Glauben als subjektive Religiosität erlebt werden kann. Deshalb ist die Idee der Liebe in Christus kein angemessener Maßstab für die künstlerische Darstellung: Die Sinnlichkeit und deren Darstellung durch Mittel der Kunst werden eben in seiner Gestalt problematisch. Das nun erscheinende Hässliche im leidenden Körper setzt sich der Liebe entgegen, die aber zugleich als Idee hochgeschätzt wird. Diese Idee der Liebe ist die religiöse, die aber das Sinnliche, das für die Kunst unausweichlich ist, eliminiert: Die religiöse Liebe ist die „begierdelose“. So kann die Kunst die „reale, existierende menschliche Liebe” in Christus ab ovo nicht erscheinen lassen. Dagegen ist die Liebe von Maria als Mutterliebe durch die Kunst erfolgreich darzustellen, weil sie die „reale, die existierende menschliche Liebe“ (Vorlesungen 2, 187) ist. In der innigsten Liebe von Maria ist zwar die begierdelose Liebe vorhanden. Trotzdem verschwindet das Sinnliche aus der Mutterliebe nicht: Hegel redet über die natürliche Einigkeit, die mit dem Sohn vorhanden ist. Hegels Fazit ist, dass nicht die Kunst, sondern die Religion das angemessene Medium für die Darstellung und die Vermittlung der Liebe im Sinne Christi ist. Die reine göttliche Liebe wird mit dem Niedrigen im Menschen verknüpft, das die Griechen so nicht kannten. Der „Adel des Gemüts“ bleibt bei den Griechen vom Schmerz und Leiden unberührt. Im Christentum wird dagegen der Schmerz zum konstitutiven Element nicht nur der subjektiven Freiheit, sondern auch der Liebe34. Diese unendliche Spannung zwischen der idealen, rein 34  Die enge Verbindung zwischen Freiheit und Schmerz thematisiert Hegel in einem der einführenden Paragraphen der Geistphilosophie, wenn er das Wesen des Geistes bestimmt. Es ist höchstinteressant, dass nicht die Liebe als affirmative Beziehung, sondern der Schmerz als Negativität das Konstitutive für den Geist darstellt. Vgl. Werke 10, § 382, 25–26.

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göttlichen und der sinnlich geprägten wirklichen Liebe macht das Besondere in der Liebe im religiösen Kreis der romantischen Kunst aus. Die Momente, die Hegel hier hervorhebt, ermöglichen und gebieten sogar die künstlerische Darstellung dieser Art der Liebe der Maria, für die vor allem die Malerei angemessen ist. Das Ergebnis dieser neuartigen Tendenzen ist, dass die „Strenge der Sinnlichkeit des Ideals“ nicht mehr gefordert wird, sondern das „Hohe der Innigkeit“ zum Ideal wird. (Vorlesungen 2, 185) Aber die Innigkeit ist auch eine an sich komplexe und sogar komplizierte Welt. Das mehrfach spannungsvolle Verhältnis von Gemüt und einzelnen Gefühlen zeigt sich in der Liebe der Julia. (Vorlesungen 2, 150) Julias Liebe ist ein charakteristisches Beispiel dafür, wie die innere Welt von der Lebenswelt abgeschnitten und die subjektive Totalität der inneren Welt einseitig und schädlich erhoben wird35. Anders als Romeo ist Julia unfähig, mit Beziehungen in der Lebenswelt umzugehen. Der Reichtum der Beziehungen im menschlichen Umfeld und mit der Außenwelt bzw. der angemessene Umgang mit ihnen ist für Romeo selbstverständlich, wogegen dies für Julia, die „ein kostbarer Edelstein“ ist, gar nicht gilt. „Solch Gemüt, das kindlich mit der Welt unbekannt ist, ist die Julia; die Eine Leidenschaft hat es entzündet, und es hat die Kraft, dieser alles aufzuopfern. Andere Bande sind ihm unbekannt“. (Vorlesungen 2, 195) In Julias Liebe erscheint der weltliche Kreis der romantischen Kunst. Im weltlichen Kreis erhält die Liebe neue Kontexte. „Der Mensch erhält ein weltliches Herz und hat darin ein Affirmatives.“ (Vorlesungen 2, 191) In diesem Kreis sind drei Formen zu unterscheiden: Ehre, Liebe, Treue. Diese Motive sind nicht sittliche Gestalten, wie z.B. die Tugend. Die Ehre ist Tapferkeit nicht für ein Gemeinwesen, deshalb ist sie nicht Tugend. Ebenso ist die Liebe hier Leidenschaft, und nicht die eheliche, sittliche, gegenseitige, verantwortungsvolle Liebe. (Ebd.) Die Kollision dieser Motive ist auch ein Kennzeichen der Moderne, wie es in Romeo und Julia oder im Werther dargestellt ist. Die Liebe als Motiv betrachten wir aus einem Blickwinkel, unter dem sich die besondere Bedeutung der Liebe im weltlichen Kreis der romantischen Kunst herausstellt. (Vorlesungen 2, 192) Am Phänomen der Liebe exemplifiziert Hegel einen markanten Unterschied zwischen der klassischen und der romantischen Kunst bzw. zwischen der antiken und der modernen Welt. In einem Kunstwerk der Moderne kann das „Höchste im Menschen“ dargestellt, angeschaut und genossen werden, aber auch das Hässlichste und das Niedrigste im 35   Hegel betont die Bedeutung der Lebenswelt für die romantische Kunst in seiner Kunstphilosophie, wenn er feststellt: „Jedes Individuum hat sich einen Lebensweg für sich zu machen.“ Vorlesungen 2, 193.

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Menschen. Die Liebesthematik in der romantischen Kunst hat beide Aspekte der Liebe, sowohl das Höhere als auch das Niedrigste inne. Diese tiefe, interne Spannung ist es, die Interesse an künstlerischer Darstellung wecken kann. Dafür findet man reichlich Beispiele bei Hegel. Aber die Liebe in der Ehe gehört nicht zu den für die Kunst interessantesten Themen36. Die Prosa des gemeinen Lebens, deren Verbreitung vor allem die moderne Welt kennzeichnet, durchdringt auch die Motive der Kunst und so auch die Liebe als eines der drei Motive der romantischen Kunst. Dies bringt auch erhebliche Änderungen für die Liebesthematik in der neueren Kunst mit sich. Durch die ins Zentrum geschobene Prosa des gemeinen Lebens werden Sphären und Phänomene, in denen die Motive der romantischen Kunst (Ehre, Liebe, Treue) im Mittelpunkt standen, beiseite gestellt. Die Marginalisierung der Liebe und der Ehre und die Einsetzung neuer Motive – z.B. die extreme Subjektivität des Charakters oder der Formalismus – laufen parallel, was dann zum „Ende der Kunst“ führen kann. Hegel geht es aber vielmehr um die Frage, wie die Kunst die gemeinsame Lebenswelt mit ihrer „Mannigfaltigkeit“ in sich aufnehmen und daraus auch profitieren kann. Hegel interessiert insbesondere die Art und Weise der künstlerischen Darstellung von Phänomenen der „Prosa des Lebens“, so etwa die Marginalisierung des Inhalts oder der Triumph des Formalismus der Darstellung, und weniger ihr Ende37. Liebe in der Religion Die existentielle Erfahrung „eines jeden“, dass ich mit schwankender Haltung zur Welt und zu mir stehe und deshalb „mir nicht helfen kann“ (Vorlesungen 4, 80), motiviert mich, ein Höheres anzuerkennen. Dieses Grundmotiv in der menschlichen Existenz führt dann zur Alternative, die die Liebe im Christentum vor dem Hintergrund der im hegelschen Sinne modernen Welt als einer postaufklärerischen, „entzauberten“ leistet oder leisten kann und soll. Das Bedürfnis nach Religion und „Verlangen nach etwas Festem“ liegen auf extremste Weise in der christlichen Religion, die eben in und durch die 36  Hegel macht folgende ironische Bemerkung über die Prosaisierung des Lebens und deren Folgen für die Liebesthematik der Kunst: Das Individuum „gerät in Kampf mit der festen Wirklichkeit, und das Ende kann nur dies sein, daß das Individuum die Welt nicht anders macht, sondern daß das Individuum sich seine Hörner abläuft und sich in das Objektive ergibt. Das Ende wird sein, daß es in die Verkettung der Welt eintritt, sich eine Familie, einen Standpunkt erwirbt, eine Frau, die aber – so hoch idealisiert sie war – eine Frau ist, nicht besser als die meisten anderen.“ Dieser „prosaische Stoff“ trägt zum Ende der Kunst bei, das in den Humor überführt. Vorlesungen 2, 197–198. 37  Vgl. Rózsa 2013.

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Liebe die Befriedigung dieses existenziellen Bedürfnisses verspricht. Diese Kontextualisierung der Liebe im Vordergrund der Konzeption der Moderne führt Hegel im dritten Band über die vollendete Religion aus – und damit schließt er die Liebe an die zentrale Thematik des objektiven Geistes an. Hegel hat drei Aspekte der Liebesthematik in der Religion in den Vordergrund gestellt. Erstens geht es darum, wo und wie Hegel die Liebe als Motiv der Religion einführt. In dieser Hinsicht ist es hochinteressant, dass er die Liebe in und durch Religion auch im handlungstheoretischen Zusammenhang anspricht. Zweitens wird der Frage nachgegangen, wo und wie die Liebe im Bereich der Religion ihren höchsten systematischen Stellenwert und ihre besondere Bedeutung erhält. In diesem Kontext überprüft er im kritischen Stil des jungen Hegel Dogmen des Christentums, so das Dogma der allgemeinen Menschenliebe. Er kritisiert auch die romantische Position der „Sentimentalität“, die die „unendliche Liebe“ und das zufällige Verliebtsein unmittelbar verbindet. In einem kurzen Ausblick wird der Frage nachgegangen werden, wie die Liebe durch das Absolute als Göttliches auch in einer religionskritischen, postaufklärerischen, skeptischen und sogar agnostischen Welt doch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erhalten und beibehalten kann. Die Exponierung der Liebe als religiöses Motiv ist zunächst im historischen Kontext der alten Griechen zu finden: Die Liebe als religiöses Motiv taucht bei Aphrodite auf. (Vorlesungen 4, 76, 78) Hegel stellt fest: „Aphrodite, die verehrt wird, [ist] die Liebe des Individuums selbst“. (Ebd., S. 78.) Dieses Motiv ist aber bei den Griechen noch unentwickelt. Die Liebe wird bei ihnen als Pathos und bloßes Unglück verstanden. „Hippolyt in der Phädra wird unglücklich, weil er nur der Diana Verehrung weiht und die Liebe verschmäht, die sich an ihm rächt; die Jagd ist sein Pathos, er kennt nicht die Liebe.“ (Vorlesungen 4, 78) Die Liebe als Beziehung auf das Göttliche bleibt hier unentfaltet: Die Griechen kennen die Liebe in und durch Göttliches als absolut Höheres eigentlich nicht. Weder das Pathos noch das Unglück in der Liebe können dieses Höhere zum Ausdruck bringen. Die Liebe als religiöses Motiv hat Hegel im Umfeld des Kultus eingeführt, den man in allen Religionen findet. Er versteht unter Kultus Folgendes: „Der Kultus in seinem bestimmten Begriff ist die Bewegung des Individuums, sich aus seiner Trennung identisch zu setzen mit dem Absoluten, sich die Gewißheit der Einheit mit demselben zu geben – das Gefühl, sich zur Liebe desselben zu erheben“. (Vorlesungen 4, 16) Der Kultus ist als praktischer Akt der Überwindung der Trennung und als Akt der Setzung der Identität des Individuums mit dem Absoluten aufzufassen. In diesem praktischen Akt als einer spezifischen Art der Handlung entfaltet sich auch das Gefühl im Individuum, sich zur Liebe des Absoluten zu erheben. Die Bewegung des in seiner Existenz zerrissenen

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Individuums, sich mit dem Absoluten identisch zu setzen und die Gewissheit dieser Einheit sich zu geben, tritt zuerst auf subjektive Weise, im Gefühl der Liebe ein. Die Liebe setzt die Identität des zerrissenen Individuums mit dem Absoluten und dadurch mit sich im Gefühl. Diese Identität wird empfunden, und nicht gedacht. Das zerrissene Individuum ist auf das Gefühl angewiesen, weil sich ihm hier das Denken als unangemessene Form zeigt. Die Liebe als ausgezeichnete Beziehung zu Gott ist im Kontext des Menschenbildes zu bestimmen. In diesem Zusammenhang akzentuiert Hegel den wirklichen Mensch, der unter anderem auch ein liebender ist. Diese anthropologische Dimension verweist auch auf lebensweltliche und soziale Zusammenhänge: Durch eigene Handlungsmotive und Akte von sittlichen Individuen mit besonderen Motivationen ist die „Einheit mit allgemeinen Mächten“ zu erreichen. (Vorlesungen 4, 76) Das kann den allgemeinen Boden der Stabilität der jeweiligen endlichen Lebenswelt ausmachen, wohl aber nicht oder nicht unbedingt den der Existenz der Individuen, die im Spannungsfeld zwischen dem Endlichen und Unendlichen platziert ist. In der Lebenswelt findet der Mensch immer Lösungen und hat immer Spielraum für seine Handlungen und Aktivitäten. Aber aus existentiellen Gründen ist er auf etwas Höheres angewiesen, wozu er das Unendliche als Liebe von Gott und Liebe zu dem Göttlichen braucht. Diese existentielle Angewiesenheit auf Gott als Liebe führt Hegel in der Religionsphilosophie von 1821 im breiten und vielschichtigen Kontext seiner praktischen Philosophie aus. Vor diesem systematischen Hintergrund erläutert er, dass die Individuen im Kontext des sittlichen Lebens nicht nur denkende und wollende, sondern auch liebende sind. Sie entfalten sich in allen Sphären ihres allgemein-sittlichen und zugleich besonderen handelnden Lebens. Diese Überlegung hat er mit seiner Konzeption der Moderne eng verbunden. Die Religion der Griechen war theoretisch und poetisch, die der Römer praktisch und prosaisch. Die christliche Religion als Religion der Moderne, auch in ihrer postreligiösen Phase nach der Aufklärung, bringt eine neue Art der Synthesis mit sich, in deren Zentrum die „unendliche Liebe“ erhoben wird. Sich in der Liebe aufzufassen und zu bestimmen, ist die Vereinigung der theoretischen und der praktischen Einstellung zu sich selbst, zu anderen, zur Welt, zu Gott. Gott bedeutet eben diese synthetisierende Liebe. „Gott ist die Liebe und als solche, bleibt Einer“. (Vorlesungen 5, 17) Aber Liebe ist mehr als Einheit und Einer: Sie ist auch unmittelbare Identität. Der Mensch ist das unmittelbare Subjekt dieser komplex werdenden Liebe. Damit hat Hegel die subjektive Freiheit in die Religion der Moderne mit eingeholt. „Gott als Liebe [ist] sowohl unendliche Subjektivität als auch unmittelbare Identität“. (Ebd.) Diese unendlichen und endlichen, vermittelten und unmittelbaren Aspekte

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der Liebe werden miteinander verbunden. Das ist das Spekulative in der ewigen Liebe, die aber keine reine ist, insofern darin auch Motive und Aspekte der modernen weltlichen, natürlich, sozial und individuell endlichen Liebe mit eingebaut werden. Hier bringt Hegel drei Aspekte der Liebe ein. Er spricht zuerst den natürlichen Aspekt der Liebe an, der darauf aufmerksam macht, wie eine erste Einheit zustande gebracht wird. In der Geschlechterliebe hat Hegel darauf im subjektiven Geist, aber auch in der Kunstphilosophie hingewiesen. Dann zieht er die Liebe als sittliche Einheit in der Familie als Institution mit ein. Hegel verweist auch auf einen weiteren Aspekt der Liebe im Geist, der am Beispiel des Selbstbewusstseins für jeden zur Verfügung steht. Dies bietet „das ewige Beispiel am Selbstbewußtsein“ an, das dann in der besonderen Geschichte eines jeden wiederholt werden kann. Darin manifestiert sich die Bedeutung der Liebe als Verhaltensmuster für einen jeden. Der Weg zur „wahrhaften“, spekulativ-komplexen, ideellen und wirklichen Liebe führt von dem natürlichen Menschen über den sittlichen bis zu dem sich selbst erkennenden geistigen. Das Innere erwirbt nun für den Einzelnen eine besondere Bedeutung, insofern er sich als „Erhebung in einen inneren Himmel“ auffasst, „zu dem der Zutritt jedem offensteht“. (Vorlesungen 5, 52) Hegel unterscheidet hier drei Seiten der Lehre Jesu. Erstens spricht er die Mosaische Gesetzgebung sehr kritisch an. (Ebd.) Sie ist ein „äußerliches Tun“, das „keinen Wert hat“, weil „die Gesinnung allein in dem Tun ihm den unendlichen Wert gibt“. (Ebd., 52) Zweitens macht er die gerade zitierte Bemerkung über die „Erhebung in einen inneren Himmel, zu dem der Zutritt jedem offensteht“. (Ebd.) Drittens schreibt er über die Lehre Jesu folgendes: „Dieser allgemeine göttliche Himmel des Inneren, dies Substantielle, in bestimmterer Reflexion, führt er auf moralische und andere Gebote, welche nichts sind als besondere Formen in bestimmten Verhältnissen, Situationen“. (Vgl. Vorlesungen 5, 52–53) Das hier angesprochene Subjektiv-Substantielle führt Christus auf moralische und andere Gebote. In diesem Kontext hat Hegel die Liebe als moralisches Gebot im Christentum geklärt. (Ebd., 51) Kritisch beurteilt er nicht nur die Mosaische Gesetzgebung, sondern auch das Dogma der allgemeinen Menschenliebe im Christentum. Diese Kritik lautet: „Im abstrakten, ausgedehnteren Sinne des Umfangs als Menschenliebe überhaupt will es Liebe zu allen Menschen“ werden, deswegen wird „ein lahmes Abstraktum daraus gemacht“. Sein Argument ist folgendes: „der Mensch und die Menschen, die man lieben kann, sind einige besondere; Herz, das die ganze Menschheit in sich einschließen will, ist ein leeres Aufspreizen zu einer bloßen Vorstellung – dem Gegenteil dessen, was Liebe ist.“ (Vorlesungen 5, 53) Auch gegen die Abtrennung der Liebe von der wirklichen Lebenswelt

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äußert sich Hegel, indem er die Bedeutung der „besonderen Verhältnisse“ betont: „Liebe im Sinne Christi α) moralische Liebe zum Nächsten in besonderen Verhältnissen, in denen man zu ihm steht.“ (Ebd.) Die Furcht vor dem Tod ist es, die den Perspektivenwechsel motiviert, der in der Religion der Moderne eintritt. Der endliche Mensch der Moderne ist es, der vor dem Tod extreme Furcht hat. Gott als unendliche, ewige Liebe kann diese Furcht der Endlichkeit überwinden, ohne aber dem modernen Individuum den Sinn des eigenen Lebens zu nehmen. Die Einbindung des endlichen Lebens in die Todesproblematik nicht nur durch die ewige Liebe als Gott, sondern auch durch die eigene Bestimmung des Lebens und der Biographie eines jeden ist einer der entscheidendsten Punkte der christlichen Religion. Dieser Gedanke ist in Hegels Deutung kein Dogma, sondern die höchste Sinngebung von Leben und Tod für die besonderen Individuen der Moderne.

Ausblick: Marginalisierung der Liebe in der Moderne als Phänomen des Sinnverlusts des Lebens

In der Moderne ist die Marginalisierung der Liebe zu beobachten. Hegel verweist darauf: Die reformierte Kirche und die moderne Welt haben eine profane Kennzeichnung erhalten. In beiden ist „alles profaniert worden“. (Vorlesungen 5, 91) „[D]as Vernünftige [flüchtete] notwendig sich allein in die Form des Privatrechts und -wohls“. (Ebd., 95) „Sucht des Privatwohls und Genusses“ ist „an der Tagesordnung […]; nur, weil ich subjektiv meine, nur das anerkenne ich. […] Genuß, Liebe ohne Schmerz“. (Ebd.) Das Privatwohl wurde zum zentralen Element der modernen Lebenswelt, das die Liebe als Überlieferung Christi radikal verändert. Hegel war aber nüchtern genug, um diese Wende objektiv zu beschreiben. Eine Folge dieser Entwicklungen ist die „Liebe ohne Schmerz“, die keine unendliche mehr sein kann: Diese Art der Liebe wird auf das Gegenwärtige als Augenblick gegründet. Ihr Inhalt kommt aus dem Genuss als Privatwohl, das dem Unendlichen als dem höheren Sinne des Lebens ab ovo entgegengesetzt ist. Dieser Perspektivenwechsel bringt inhaltliche Verarmungen in die Ideenwelt und die Gefühlswelt der Moderne. Die Marginalisierung der unendlichen Liebe als eines höheren Sinns des Lebens ist mit der Marginalisierung und sogar Eliminierung der Todesproblematik aus der Ideenwelt der Moderne sowie mit der Marginalisierung und Eliminierung der moralischen Gebote eng verbunden. Dies ist für die Lebensführung der Individuen von weitreichender Bedeutung. Hegel rechnet mit Tendenzen der Moderne, die sich erst Jahrzehnte nach seinem Tod zu entfalten begonnen haben. Er hat vorhergesehen, dass die

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unendliche Liebe als höchster Horizont für die Deutung des Menschseins aus dem Kulturkreis verschwindet, dessen Basis auch das Christentum lieferte. Dadurch werden konstitutive Elemente der Liebe, so auch die Problematik des Schmerzes und des Todes, marginalisiert. Die Liebe im Spannungsfeld von Leben und Tod verliert an Bedeutung nicht nur als höherer Horizont des Lebens, sondern auch als reflektierte Erfahrung und als Grundlage von zwischenmenschlichen Beziehungen mit gegenseitiger Anerkennung und Verantwortung. Ohne die Vergangenheit der gesamten christlichen Liebeskultur zurückholen zu wollen, diagnostiziert Hegel Phänomene, in denen sich neuartige Tendenzen zeigen, und zwar in seinem nüchternen Ton und auf seine realistische Weise38. Wir erfahren auch in unserer postaufklärerischen Zeit, wie tief diese Tendenzen sowohl unsere Vorstellung von der Liebe als auch unsere Praktiken in den Liebesbeziehungen beeinflussen. Ohne all dies zu wissen und zu wollen. Auch deshalb lohnt es sich, Hegels Auffassung der Liebe und die darin versteckten, bis heute inspirierenden Reflexionspotenziale bezüglich der Qualität unseres Lebens, insbesondere unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, ans Tageslicht zu bringen.

38  Diese Endfassung des vorliegenden Aufsatzes entstand im Rahmen des KFG-Projekts an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Für die sprachliche Überarbeitung bin ich Alexander Lückener dankbar.

Fokus 3.C Philosophie



Philosophie als Institution?

Zwischen dem „noch nicht“ und dem „nicht mehr“ Thomas Meyer Die Frage nach dem Verhältnis vom „absoluten“ zum „objektiven Geist“1 in Hegels System kann in vielerlei Hinsicht gestellt werden. Geht man von einer eher stiefmütterlichen Behandlung des „absoluten Geistes“ in der Forschung aus, dann ließe sich das Verhältnis beleuchten, indem insbesondere der „abso­ lute Geist“ einer ausführlichen Textkommentierung zugeführt wird. Allerdings ließe sich auch eine kleinteiligere Analyse, etwa über Hegels Verständnis der Kunst als erster Gestalt des absoluten Geistes, vornehmen. Alternativ ließen sich die verschiedenen Phänomene untersuchen und vergleichen, die Hegel im „objektiven“ und im „absoluten Geist“ thematisiert. Was unterscheidet etwa ein Gericht von einem Kunstwerk, was macht den Kern von Kunst im Gegensatz zum öffentlichen Recht aus? Trotz der (begründeten) Vermutung, dass der „objektive“ im Gegensatz zum „absoluten Geist“ weitaus mehr Forschung erfahren hat, soll Hegels Philosophie des objektiven Geistes Ausgangspunkt meiner Überlegungen sein. Dem Verhältnis zwischen „absolutem“ und „objektivem Geist“ soll im Folgenden dadurch nachgegangen werden, dass die Philosophie selbst ver­ suchsweise zu einem Phänomen des objektiven Geistes gemacht wird. Die Frage lautet dann: Kann die Philosophie als Phänomen Gegenstand des „ob­ jektiven Geistes“ sein? In der Annahme, die noch erläutert wird, dass man die Philosophie dann als eine Institution verstehen muss, die im Rahmen von Hegels Sittlichkeitslehre abgehandelt werden müsste, soll geprüft werden, ob diese Behandlung der Philosophie als Phänomen des objektiven anstatt des absoluten Geistes möglich ist und in welchem Sinne sie dies ist. Ziel ist es, über die Grenzen, die sich daraus für eine Thematisierung der Philosophie er­ geben, ein besseres Verständnis dessen zu erlangen, worin das Absolute des absoluten Geistes am Beispiel der Philosophie bestehen könnte. Zudem sollen Schwierigkeiten für heutige Theorieangebote aufgezeigt werden, die sich zwar als hegelsch verstehen, jedoch den Bereich des absoluten Geistes ablehnen. Denn, so soll gezeigt werden, auch diese theoretischen und philosophischen

1  Ich werde Anführungsstriche verwenden, um auf den jeweiligen Systemteil Bezug zu nehmen. In der Verwendung ohne Anführungsstriche soll dann jeweils von dem Phänomenbereich dieses Systemteils selbst die Rede sein.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_026

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Bestrebungen fallen dann als Institutionen in den Gegenstandsbereich dessen, was diese Theorien selbst untersuchen. Die ganze Idee scheint zunächst allerdings widersprüchlich zu sein. Denn bekanntlich macht die Philosophie als letzte Gestalt des „absoluten Geistes“ zugleich auch die letzte Gestalt des gesamten hegelschen Systems aus. Der „absolute Geist“ enthält jedoch als Gestalten nicht mehr rechtsförmig geord­ nete Institutionen, wie die Rechtsphilosophie, also der „objektive Geist“ es tut. Hans Friedrich Fulda hat die Spannung wie folgt formuliert: Es könnte vielleicht scheinen, als sei mit den begrifflichen Mitteln, die Hegels Systematik an die Hand gibt, nach dem Recht der Philosophie gar nicht zu fragen. Die Philosophie bildet ja, zusammen mit Kunst und Religion, eine eigene Sphäre, für die es charakteristisch ist, daß sie nicht durch den Begriff des Rechts definiert wird. Das Recht, zu dem die Objektivität des Geistes kommt, definiert die Sphäre des Daseins, das sich der sich selbst wollende freie Wille gibt, und innerhalb derer er sich zu einer von ihm selbst gesetzten, zur sittlichen Welt ausbildet. Es macht die Realität des Inhalts der Freiheit als Dasein des freien Willens aus2. Wie der erste Satz anzeigt, geht es Fulda allerdings um eine etwas anders ge­ lagerte Frage. Die Frage nach dem „Recht der Philosophie“ zielt bei ihm letzt­ lich auf die Frage nach dem normativen Status der Rechtsphilosophie im hegelschen Sinne. Kann und darf die Philosophie selbst Kritik an bestehenden Verhältnissen ihrer Zeit üben? Oder in seinen eigenen Worten: „Welches Recht und welche diesem zugeordnete Pflicht, sich innerhalb der durch Rechtsbegriffe bestimmten Wirklichkeit Geltung zu verschaffen, hat die Philosophie als ge­ sellschaftliche und staatliche Institution, und wie sind Kollisionsfälle zwischen dieser Institution und anderen zu beurteilen?“3 Und zu dem Zweck, diese Frage zu beantworten, ordnet Fulda die Philosophie selbst in die Phänomene der Rechtsphilosophie ein, bzw. untersucht die Möglichkeit des Rechts der Philosophie über die Frage, inwiefern die Philosophie als Daseinsform des frei­ en Willens zu begreifen ist. Insofern besteht eine Überschneidung zu der hier verfolgten Frage; und ich werde im Folgenden vieles von dem, was Fulda erar­ beitet hat, übernehmen. Allerdings sei auch nochmal die Differenz benannt. Hier soll es um ein vertieftes Verständnis der Frage gehen, was die Philosophie, bzw. inwiefern es die Philosophie zu einem Phänomen des „absoluten Geiste“ macht. Diese Frage wird noch virulenter, bedenkt man, dass die Philosophie 2  Fulda 1968, 15. 3  Ibidem, 12.

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zu Hegels wie zur heutigen Zeit wenigstens auch eine Wissenschaft und damit eine soziale Institution ist und somit unbedingt in einer Philosophie des objek­ tiven Geistes abgehandelt werden müsste. Warum hat Hegel in den Grundlinien nicht auch die Philosophie zum Thema gemacht? Die Spannung kann auch wie folgt zum Ausdruck gebracht werden: „Vom Recht der Philosophie könnte mithin in der Sphäre des objektiven Geistes noch nicht die Rede sein, da in ihr noch nicht von Philosophie die Rede ist; in der Sphäre des absoluten Geistes aber nicht mehr, da in ihr das Recht nicht mehr abgehandelt wird.“4 Insofern soll die Frage nach der Philosophie als Institution als Spannungsverhältnis zwischen dem „noch nicht“ und dem „nicht mehr“ behandelt werden. Die hier gestellte Frage kann neben einer möglichen Erhellung des „abso­ luten Geistes“ noch wenigstens zwei weitere Interessen bedienen. Geht man nämlich davon aus, dass die Philosophie zwar in einem noch zu klärenden Sinne Gegenstand des „objektiven Geistes“ sein kann, sich darin jedoch nicht erschöpft, dann lässt sich zudem die Frage diskutieren, ob die rechtsförmige Organisation dem Wesenskern der Philosophie gerade im Wege steht. Macht sich eine Spannung zwischen „objektivem“ und „absolutem Geist“ gerade an dieser Stelle bemerkbar? Wenn diese Spannung für Hegels System nicht be­ steht, tut sie sich dann aber gerade für gegenwärtige Theorien auf, die im he­ gelschen Geiste Rechtsphilosophie betreiben? Hegel hat die Tatsache nicht bezweifelt, dass die Philosophie eben auch eine Institution ist, die rechtsför­ mig organisiert und aus öffentlichen Mitteln unterhalten wird. Und dies wird wohl auch heute niemand bezweifeln. Ein drittes mit der Frage verbundenes Erkenntnisinteresse kann wie folgt benannt werden: Wenn die Philosophie als Institution mit öffentlichen Mitteln unterhalten wird, dann lässt sich legitimerweise die Frage stellen, was diese Institution in ihrer Existenz eigentlich rechtfertigt? Damit soll nicht gemeint sein, weshalb Menschen ein Interesse daran haben, Philosophie zu betrei­ ben, sondern weshalb öffentliche Gelder, die bekanntlich knapp sind, in die Unterhaltung dieser Institution und nicht in Anderes fließen sollten. Was le­ gitimiert also die Philosophie als Institution?5 Diese letzte Frage lässt sich na­ türlich ganz unabhängig von Hegel diskutieren – und das tut etwa Gethmann auch im genannten Aufsatz –, allerdings mag die Frage, wie die Philosophie in­ nerhalb von Hegels System als Institution verstanden werden kann und worin sie sich dann von der Philosophie als Phänomen des „absoluten Geistes“ un­ terscheidet, auch Licht darauf werfen, wieso es eine solche Institution geben sollte, wieso sie öffentlichen Geldern legitimerweise zur Last fällt. 4  Ibidem, 16. 5  Siehe hierzu und zu der Unterscheidung der Frage Gethmann 1978.

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Damit kann der hier zu behandelnde Themenkomplex wenigstens in drei ver­ schiedenen Fragestellungen zum Ausdruck gebracht werden, die alle drei the­ matisiert werden sollen: 1.

2. 3.

Wie verhält sich – ganz systemimmanent – die Philosophie als Gestalt des „absoluten Geistes“ zum „objektiven Geist“, wenn die Philosophie zu­ gleich als Institution verstanden werden kann und Institutionen in den Gegenstandsbereich des „objektiven Geistes“ fallen? Wie muss die Philosophie aus Perspektive eines heutigen hegelschen Theorietyps verstanden werden? Wie sollte eine institutionell organisierte Philosophie zum Institutio­ nengefüge stehen, das sie ermöglicht?

Die folgenden Überlegungen seien lediglich als Skizze verstanden sowie als Grundlage für weitere, ausführliche Untersuchungen der benannten Fragen dienen. Insbesondere, wenn man nicht nur exegetische Fragen in Bezug auf den Text der Enzyklopädie behandeln, sondern auch einen Gegenwartsbezug der hegelschen Philosophie herstellen möchte, sind sehr viele weitergehende Untersuchungen vonnöten, auf die an verschiedenen Stellen des Textes ledig­ lich hingewiesen werden kann. Der Aufsatz gliedert sich in vier Abschnitte. Zunächst soll der Begriff der Institution im Rahmen der Philosophie des objektiven Geistes skizziert wer­ den (1). Im Anschluss daran werde ich Überlegungen dazu anstellen, ob und inwiefern die Philosophie als Institution und damit als Phänomen des „ob­ jektiven Geistes“ betrachtet werden kann (2). Dabei wird die Unterscheidung zwischen einem „Vorbegriff“ und einem „Begriff“ der Philosophie zentral sein6. Im dritten Teil soll dann kontrastiv das Philosophieverständnis im „absolu­ ten Geist“ thematisch sein (3). Der letzte, abschließende Teil soll dann einige Fragen und Probleme formulieren, die sich an die angestellten Überlegungen anschließen und denen man sich im Weiteren zuwenden müsste (4). 1

Der Begriff der Institution und Hegels Philosophie des objektiven Geistes

Für die Frage nach dem institutionellen Charakter der Philosophie aus heuti­ ger Perspektive und aus Sicht der hegelschen Philosophie habe ich bisher den Ausdruck ‚Institution‘ in einem nicht weiter geklärten Sinne verwendet. Dabei 6  Auch diese Unterscheidung geht auf Fulda zurück: Fulda 1984, 13–34.

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hatte ich vorausgesetzt, dass man in etwa ein Verständnis dafür mitbringt, was gemeint sein könnte. In diesem Abschnitt soll Hegels Institutionenverständnis im Rahmen seiner Rechtsphilosophie entwickelt werden. Es soll nun also Hegels Verständnis von Institutionen als Daseinsformen des freien Willens, wie sie in der Sittlichkeit der Grundlinien entwickelt werden, so weit rekonstruiert werden, dass es dem Zweck dieses Aufsatzes dient. Es wird allgemein angenommen, dass Hegel in seiner Rechtsphilosophie, insbe­ sondere in der „Sittlichkeit“, eine Institutionentheorie entwickelt hat7. Diese Lesart ist insofern angebracht, als Hegel den Ausdruck ‚Institution‘ selbst recht häufig in seinen Grundlinien verwendet. Allerdings ist bereits an dieser Stelle eine Verwendungsweise für diesen Aufsatz auszuschließen. Dabei handelt es sich um den rechtsgeschichtlichen Institutionenbegriff: „Rechtsgeschichtlich bezeichnet der Begriff ‚institutiones‘ zunächst nur einen Teil der Justiniani­ schen Gesetzgebung (corpus iuris I). Später wurde er zur Bezeichnung der in die verschiedenen Sektionen des Römischen Rechts einführenden Lehrbücher verwendet.“8 Ein Hinweis für die hier relevante Bedeutung kann der Anmerkung zu § 180 entnommen werden, wo Hegel von der „Institution des Erbrechts“ spricht. In diesem Fall verwendet er den Ausdruck ‚Institution‘ als Ausdruck für ein bestimmtes Recht, bzw. einen bestimmten Rechtsbereich. Nun ist Recht entsprechend der Definition aus § 29 der Grundlinien ein „Dasein des freien Willens“, also muss auch das Erbrecht und also die Institution des Erbrechts ein Dasein des freien Willens sein. Und insofern kann auch bereits gesagt werden, dass die Philosophie als Institution als Dasein des freien Willens verstanden werden muss. Da nun jedoch die Phänomene in der Sphäre der Sittlichkeit von Hegel allererst als Institutionen bezeichnet werden, jedoch bereits auf Ebene des „Abstrakten Rechts“ und der „Moralität“ Gestalten des Daseins des freien Willens thematisch sind, muss weiter gefragt werden, was das Spezifische der Institutionen der Sittlichkeit ist. Bekanntlich nimmt Hegel die Spezifikationen der drei Teile des Rechts als Dasein des freien Willens über die Begriffsmomente der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit des Willens vor. In § 264 spricht Hegel von Institutionen als dem „an sich sei­ enden Allgemeinen ihrer [der Individuen als Besonderen, T.M.] besonderen Interessen“ (GW 14,1, § 264). Institutionen können damit verstanden werden als Praxisformen, die den Zwiespalt eines jeden Individuums regeln, und zwar zwischen dem „Extrem der für sich wissenden und wollenden Einzelnheit“ auf der einen Seite und dem „Extrem der das Substantielle wissenden und wollenden Allgemeinheit“ auf der anderen. In der Analyse der bürgerlichen 7  Zabel 2014 und 2013. 8  Dubiel 1976, 418.

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Gesellschaft waren diese Extreme ganz auseinandergetreten. Erst auf Ebene des Staates lassen sich diejenigen Handlungszusammenhänge und Regeln an­ siedeln, die die „Menge der Individuen“ wieder zusammenhält – und zwar auf eine Weise, dass die ganz individuelle Besonderheit eines jeden Einzelnen mit seiner Bestimmung, Allgemeinheit zu sein, zusammengeht. So fährt Hegel in § 265 fort: Diese Institutionen machen die Verfassung, d. i. die entwickelte und ver­ wirklichte Vernünftigkeit, im Besonderen aus und sind darum die feste Basis des Staats sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen für denselben und die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit, da in ihnen die besondere Freiheit realisiert und vernünftig, damit in ihnen selbst an sich die Vereinigung der Freiheit und Notwendigkeit vorhanden ist. (GW 14,1, § 265) Institutionen, so ließe sich reformulieren, sind diejenigen Praxisformen, die das öffentliche Miteinanderleben regeln, ein Grundvertrauen in die staat­ liche Ordnung und deren Werte stützen und damit notwendige Bedingung des Gelingens eines Gemeinwesens darstellen. Wenn die Philosophie als Institution in diesem Sinne verstanden werden können soll, dann muss sie ebenfalls als eine solche Praxisform verstanden werden. In dem Sinne stünde sie dann im Dienste eines öffentlich-rechtlich organisierten Gemeinwesens. Die Rede von Institutionen in dem bisherigen Sinne ist nun allerdings nicht darauf festlegt, dass es sich dabei um rechtlich geregelte Institutionen han­ delt. Demnach ist vielleicht jeder Rechtsbereich auch eine Institution, jedoch nicht jede Institution auch ein Rechtsbereich, zumindest nicht im Sinne des positiven Rechts. In der „Sittlichkeit“ geht es Hegel allerdings durchaus um rechtsförmig geordnete Phänomene und spätestens in der „Bürgerlichen Gesellschaft“ (etwa in Form der Rechtspflege) und dann im „Staat“ um ein mit Zwangsgewalt durchsetzbares Recht: „Insofern sind Institutionen zum einen Praxisformen, zum anderen Rechtsformen“9. Die Frage nach einem institu­ tionellen Verständnis der Philosophie muss in diesem stärkeren Sinne einer Institution gemeint sein. 2

Die Philosophie als Institution, noch nicht absolut?

Damit kann die eigentliche Frage in den Blick genommen werden. Was könnte es bedeuten, dass die Philosophie als Institution betrachtet wird und somit als 9  Zabel 2013.

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Teilphänomen der Philosophie des Rechts? Zunächst fällt hierbei auf, dass der Ausdruck ‚Philosophie‘ zweifach auftritt. Die Philosophie des Rechts, die die verschiedenen Gestalten des an und für sich freien Willens zum Gegenstand hat, ist eben selbst bereits Philosophie. Insofern würde das Vorkommen der Philosophie als Phänomen im „objektiven Geist“ bedeuten, dass die Philosophie als eine wissenschaftliche Institution, deren Gegenstand Gestalten des an und für sich freien Willens sind, selbst als eine solche Gestalt des an und für sich freien Willens anzusehen ist. Müsste diese Gestalt dann aber auch so beschaf­ fen sein, dass sie selbst nicht nur sich selbst als Gestalt des an und für sich frei­ en Willens zum Gegenstand hat, sondern ebenso Logik, Natur und subjektiven Geist? Dies führt zu der Frage, ob Philosophie als Institution überhaupt in dem Sinne zu verstehen ist, wie Hegel selbst in seinem System Philosophie betreibt. Dazu sollen folgende zwei Thesen aufgestellt und begründet werden: (i) Philosophie muss hier Philosophie im Allgemeinen meinen und nicht im hegelsch-spekulativen Sinne, es geht um den Vorbegriff der Philosophie. (ii) Die Philosophie als Institution muss aber aus Perspektive der spekulati­ ven Philosophie betrachtet werden. Ad (i): Es muss unterschieden werden zwischen Hegels allgemeinem Philoso­ phieverständnis und seinem Begriff von spekulativer Philosophie oder: zwi­ schen „Vorbegriff und Begriff der Philosophie“10. Wenn die Frage gestellt wird, inwiefern die Philosophie als Institution und damit als Gestalt des „objektiven Geistes“ betrachtet werden kann oder sogar sollte, dann muss dafür Hegels nicht-spekulativer Philosophiebegriff verwendet werden. Dies deshalb, weil ansonsten folgte: wenn es überhaupt institutionalisierte Philosophie geben soll, dann muss es spekulative Philosophie im Sinne Hegels sein. Dies wäre jedoch petitiös, da damit bereits die Richtigkeit der hegelschen Systematik präsupponierte werden würde. Hier soll aber ja allererst eine Motivation dafür geschaffen werden, die Philosophie nicht nur als Institution, sondern auch noch in anderer Hinsicht (als Phänomen des absoluten Geistes) zu be­ trachten. Dies führt aber dann zu der Frage, aus welcher Perspektive denn die Philosophie im Allgemeinen betrachtet werden soll, will man sie als eine Gestalt des an und für sich freien Willens verstehen. Ad (ii): Wenn bisher vom objektiven oder auch vom absoluten Geist die Rede war, dann habe ich dabei immer schon hegelsche Termini seines spe­ kulativ-philosophischen Gesamtsystems verwendet. Die Grundlinien als

10  Fulda 1984.

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Ausarbeitung des objektiven Geistes11 bestehen eben selbst aus spekulativ-phi­ losophischen Analysen bestimmter Phänomene. Man muss also unterschei­ den zwischen den Phänomenen der Rechtsphilosophie, unter die man heute auch die Philosophie im weiten Sinne als eine akademisch-wissenschaftliche Disziplin fassen könnte, und der philosophischen Analyse dieser Phänomene. Wenn also die Philosophie als Phänomen des objektiven Geistes betrachtet werden soll, dann bedeutet dies genauer, dass Philosophie im weiten Sinne als Institution aus spekulativ-philosophischer Perspektive betrachtet wird12. Soweit ist also geklärt, dass die Philosophie als Phänomen einer Philosophie des objektiven Geistes betrachtet werden kann. Nun bleibt die Frage, in welchem Sinne von Philosophie dies vorgenommen werden müsste und worin dann eine objektiv-philosophische Behandlung dieser Institution beste­ hen würde. Erst im Anschluss daran kann die Frage gestellt werden, ob die Philosophie damit möglicherweise noch nicht erschöpfend erfasst ist, so dass ein Übergang auf eine andere Analyseebene motiviert wäre. 2.1 Hegels vor-systemisches Philosophieverständnis Wie lässt sich nun aber der Vorbegriff der Philosophie im Sinne Hegels ver­ stehen? Dazu sollen Bemerkungen Hegels aus seiner Berliner Antrittsrede von 1818 herangezogen werden13. Nach einem „Vorworte“ geht Hegel auf den eigentlichen Inhalt der Vorlesung, die „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“14 ein. Unter einer solchen Enzyklopädie versteht Hegel

11  „Da ich diesen Teil der Philosophie [den objektiven Geist, T.M.] in meinen Grundlinien des Rechts (Berlin 1821) ausgeführt habe, so kann ich mich hier kürzer als über die andern Teile fassen.“ (Enz. § 487 Anm.) 12  Im vierten Teil werde ich auf die Frage eingehen, was es für heutige Theorieansätze be­ deuten würde, wenn sie sowohl auf eine Philosophie des absoluten Geistes verzichten, als auch auf die metaphysische Struktur der Philosophie des objektiven Geistes, wie es etwa Axel Honneth in Das Recht der Freiheit tut. 13  Für eine ausführliche Behandlung des Themas müssten natürlich noch viele ande­ re Texte Hegels herangezogen werden. Ich beschränke mich aus zwei Gründen auf die Berliner Antrittsrede. Zum einen folge ich damit Fuldas Bemerkung, dass es überhaupt von großem Interesse wäre, sich einmal alle Gelegenheitsschriften, aber auch Briefe dar­ aufhin anzuschauen, wie Hegel in diesen Texten die Philosophie charakterisiert (Fulda, Vorbegriff, 13). Dem soll die Beschränkung auf die Antrittsvorlesung dienen. Zum anderen ist dieser Text aufschlussreich, da Hegel eben in der Funktion als Lehrender gerade im universitären und damit institutionellen Rahmen die Philosophie charakterisiert. 14  GW 18, 49.

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die Philosophie in ihrer Begründung und in ihrem ganzen systemati­ schen Umfang; es wird sich innerhalb ihrer selbst näher zeigen, daß ihre Begründung nur in ihrem systematischen Umfange ruht; die gewöhnli­ che Vorstellung des Verstandes ist, daß die Begründung und dergleichen vorangehen müsse und außer und nach diesem Grunde die Wissenschaft selbst kommen müsse; die Philosophie ist aber wie das Universum rund in sich, es ist kein erstes und kein letztes, sondern alles ist getragen und gehalten – gegenseitig und in Einem15. Hier benennt Hegel selbst bereits Merkmale seines eigenen philosophischen Systems und gewisse metaphilosophische Annahmen. Zugleich bemerkt er allerdings, dass letzteres selbst begründet werden muss, er geht davon aus, dass die Philosophie als System vollständig und in ihrer Begründung geschlos­ sen sein muss und dass dies keine bloße Forderung sein und nicht einfach als Prämisse gesetzt werden darf, sondern selbst Teil der Begründung sein muss. Dem Umfang nach hat die Philosophie es neben ganz grundlegenden ontologischen, epistemologischen und semantischen Fragen mit konkreteren Phänomenen der Natur und des Geistes zu tun. Hegel fordert für eine philo­ sophische Auseinandersetzung auf diesen Gebieten, dass sie in Form eines Systems vonstattengehen muss. Dies scheint nahezulegen, dass er diese inhalt­ liche Forderung auch an eine institutionelle Philosophie gestellt hätte. Dies folgt jedoch nicht, da Hegel eben für diesen Systematizitätsanspruch feststellt, dass dieser selbst begründet werden muss. Ein solcher Anspruch kann aller­ dings erst begründet werden, wenn es universitäre Strukturen gibt, die eine solche Beschäftigung ermöglichen. Solange man aber die Möglichkeit zulässt – und das muss man tun, wenn man nicht dogmatisch sein will –, dass dieser Systematizitätsanspruch nicht begründet oder dass eine Philosophie ohne Systemanspruch ebenso gut begründet werden kann, muss der institutionel­ le Rahmen alternativen Philosophieprojekten ebenso gegeben sein. Nachdem Hegel nun über die verschiedenen Motivationen reflektiert hat, die Menschen zum Philosophieren bringen, benennt er den „Standpunkt der Philosophie“: „Erkenntnis der Wahrheit ist Zweck an und für sich selbst – hat nicht ihren Zweck außer ihr in einem anderen. Ihre Grundbestimmung ist nicht, nützlich zu sein, d.h. seinen Zweck nicht in sich selbst, sondern in einem andern zu haben.“16 Der Zweck der Philosophie liegt in der Erkenntnis der Wahrheit und dieser Zweck ist ihr Selbstzweck, er dient nicht mehr einem der Philosophie äußerlichen Zweck als Mittel. Deshalb ist die Philosophie für Hegel auch der 15  GW 18, 49. 16  GW 18, 55.

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Bereich, „in de[m] der Mensch sein Belieben und seine besonderen Zwecke aufzugeben hat“17. Insofern die Philosophie institutionell eingerichtet ist und damit möglicherweise ihr äußerlichen Zwecken dient, wäre die Form der Institution dem Zweck der Philosophie gerade abträglich. Allerdings spricht Hegel der Philosophie, im Sinne der philosophischen Bildung, auch einen Nutzen zu: Nutzen in Ansehung der formellen Bildung – durch die Philosophie ist das Formelle, denken überhaupt zu lernen, d.h. das Allgemeine und Wesentliche festzuhalten und das Zufällige, Hindernde fallen zu las­ sen, Abstrahieren lernen. Dies ist die erste Befähigung zu irgendeinem Geschäfte des Lebens, aus, in dem Konkreten das Allgemeine zu er­ kennen, den Punkt herauszuheben, auf den es ankommt. […] Und das Studium und Beschäftigung mit der Philosophie ist die fortdauern­ de Gewöhnung mit dem Wesentlichen – das Verschwindenlassen des Zufälligen, Vergänglichen –, so wie sie dem Inhalte [nach] eben dies ist, die absoluten Zwecke und das wahrhafte Sein kennenzulernen18. Diese Bemerkungen kann man zunächst so verstehen, dass das Philoso­ phiestudium einen Nutzen hat, allerdings einen Nutzen, der selbst dem Zweck der Philosophie dient. Wenn das Ziel der Philosophie in der Erkenntnis des Wahren, des Allgemeinen und Wesentlichen liegt, dann muss man dieses Erkennen natürlich erlernen. Damit hat Hegel inhaltlich völlig offen gelas­ sen, worin das Allgemeine und Wesentliche besteht19. So lässt sich Hegels Bestimmung der Philosophie in der Berliner Antrittsrede grob wie folgt festlegen: Philosophie ist das Bestreben, das Wahre zu erkennen. Dabei geht es um die Erkenntnis des Wesentlichen verschiedenster Phänomene und Begriffe. Die Erkenntnis des Wesentlichen derselben vollzieht sich im Denken, als der 17  GW 18, 56. 18  GW 18, 58. 19  Den Systemanspruch Hegels werden heute wohl wenige Philosophen noch teilen (was natürlich nicht dagegen spricht). Allerdings können dieser Beschreibung der Philosophie als Erkenntnis des Wesentlichen, Wahren, Allgemeinen auch heute wohl noch viele zu­ stimmen. Auch wenn man etwa Begriffsanalysen mit einer Mögliche-Welten-Semantik vornimmt, wird man wohl gerade dadurch das Wesen des durch den Begriff bestimmten Phänomens zu erfassen suchen.

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Fähigkeit, Zufälliges von Notwendigem, Besonderes von Allgemeinem zu unterscheiden. Der Nachweis des Wesentlichen bestimmter Phänomene geschieht argumentativ in Form eines Begründungszusammenhangs. Hegels zusätzliche Forderung an die Philosophie ist, dass der Begründungs­ zusammenhang in Form eines Systems stattzufinden hat, in dem der gesamte Umfang der philosophischen Erkenntnisgegenstände vorkommt. Da, wie ge­ sagt, diese Forderung selbst aber innerhalb dieses Systems begründet werden muss, nehme ich sie aus der Bestimmung der Philosophie heraus, die hier zu betrachten ist. Wie lässt sich die Philosophie im genannten Sinne also als Phänomen des objektiven Geistes verstehen? 2.2 Philosophie im Dienste des Staates? Nutzen, Nachteil und Überschuss Bereits Fulda hatte aus der langen Anmerkung zu § 270 der Grundlinien – eine Anmerkung, die sich primär mit dem Verhältnis zwischen Staat und Religion20 beschäftigt – eine Fußnote zitiert, die Licht auf Hegels Meinung wirft, wie er sich das Verhältnis von Wissenschaft (und damit, so nehme ich an, auch der Philosophie21) und Staat vorstellt: Die Religion hat wie die Erkenntnis und Wissenschaft eine eigentümli­ che, von der des Staates verschiedene Form zu ihrem Prinzip; sie treten daher in den Staat ein, teils im Verhältnis von Mitteln der Bildung und Gesinnung, teils, insofern sie wesentlich Selbstzwecke sind, nach der Seite, daß sie äußerliches Dasein haben. In beiden Rücksichten verhal­ ten sich die Prinzipien des Staates anwendend auf sie; in einer vollstän­ dig konkreten Abhandlung vom Staate müssen jene Sphären, so wie die Kunst, die bloß natürlichen Verhältnisse usf., gleichfalls in der Beziehung und Stellung, die sie im Staate haben, betrachtet werden; aber hier in dieser Abhandlung, wo es das Prinzip des Staats ist, das in seiner eigen­ tümlichen Sphäre nach seiner Idee durchgeführt wird, kann von ihren Prinzipien und der Anwendung des Rechts des Staats auf sie nur beiläu­ fig gesprochen werden. (GW 14,1, § 270)

20  Die Thematisierung der Religion sei im Folgenden gänzlich ausgeblendet. 21   Immerhin spricht er bereits im Titel der Enzyklopädie von den „philosophischen Wissenschaften“.

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Zunächst sagt Hegel, dass die Wissenschaft eine andere Form zu ihrem Prinzip habe als der Staat. Worin die zwei Formen bestehen, sagt er zwar nicht22, aller­ dings folgert er daraus zweierlei für ihr Verhältnis zueinander. Erstens kann man die Wissenschaft und damit die Philosophie als Mittel zum Zwecke der Bildung und der Gesinnung betrachten. Dann dienen sie dazu, die Zwecke des Staates zu verwirklichen, etwa, indem sie Wissen und Fähigkeiten vermitteln und das evaluative Selbstverständnis der Bürger zu ihrem Staat als einem vernünftigen stärken. Insofern kann von einem Nutzen der Philosophie für den Staat gesprochen werden23. Zweitens kann die Philosophie allerdings auch als Selbstzweck betrach­ tet werden, nur ist sie dann dem Staat äußerlich, sie verfolgt ja gerade nicht die Zwecke des Staates, sondern ihre eigenen24. Das institutionelle Betreiben von Philosophie durch Einzelne, aber auch die Tradierung philosophi­ scher Erkenntnisse in der Lehre kann also insofern als Daseinsform des frei­ en Willens begriffen werden, als die Philosophie dem an und für sich freien Willen in Gestalt staatlicher Ordnung Stabilität verleiht. Aber ist denn damit überhaupt der genuine Gehalt dessen, was Philosophie zu Philosophie macht, erschöpft? Dazu muss man sich die Frage stellen, was denn das Ziel der Philosophie ist. In der Fußnote spricht Hegel lediglich von einem Selbstzweck, ohne diesen freilich zu nennen. Allerdings stellt er in derselben Anmerkung zu § 270 noch eine weitere interessante Überlegung zum Verhältnis von Staat und Wissenschaft an: Weil das Prinzip seiner Form als Allgemeines wesentlich der Gedanke ist, so ist es auch geschehen, daß von seiner Seite die Freiheit des Denkens und der Wissenschaft ausgegangen ist […]. Auf seiner Seite hat darum auch die Wissenschaft ihre Stelle; denn sie hat dasselbe Element der Form als der Staat, sie hat den Zweck des Erkennens, und zwar der ge­ dachten objektiven Wahrheit und Vernünftigkeit. (GW 14,1, § 270) Einerseits sei der Staat der Entwicklung der Wissenschaft zuträglich gewe­ sen, da er diese um derselben Form der Allgemeinheit willen unterstützte. Daraus ließe sich ableiten, dass es Hegel als eine Forderung an einen guten 22  Ich werde im nächsten Abschnitt auf den Formunterschied zwischen Staat, oder allge­ mein dem Recht, und der Philosophie eingehen. 23  Die Rede vom Nutzen und Nachteil entnehme ich ebenfalls einem Aufsatz Fuldas: Fulda 1967. 24  Dies entspricht auch der Bestimmung der Philosophie, die im vorangegangenen Abschnitt gegeben wurde.

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Staat angesehen hätte, dass er das Betreiben von Wissenschaft ermögliche und befördere auch dann, wenn die dort gemachten Erkenntnisse sonstigen Staatsinteressen, Dogmen und Ideologien im Wege stehen. Insofern aber die Philosophie Erkenntnisse zutage fördert, die möglicherweise den Interessen einer herrschenden Elite entgegenstehen, kann sie auch als Nachteil des Staates verstanden werden. Ist aber die Philosophie, verstanden als Selbstzweck, der dem Staat auch nachteilig werden kann, überhaupt noch möglicher Gegenstand der Rechtsphilosophie? Der Zweck der Wissenschaft besteht Hegel zufolge im Erkennen objektiver Wahrheiten. Das Erkennen allerdings folgt nicht mehr dem Prinzip des Wollens, zumindest kann philosophische Erkenntnis nicht in dem Sinne verstanden werden als Selbstverwirklichung irgendeines Wollens. Zwar definiert Hegel in der Enzyklopädie das Wollen als „Trieb“, der darauf abziele, „die vorgefundene Welt nach seinem Zwecke zu bestimmen“25. Wenn die Philosophie den Zweck des Erkennens hat, bedeutet dies in Begriffen des Wollens, die Philosophie strebe danach, die vorgefundene Welt nach dem Zweck des Erkennens zu be­ stimmen. Das „Erkennen als solches“ bestimmt Hegel allerdings als „Trieb des Wissens nach Wahrheit“, was er alternativ „die theoretische […] Tätigkeit der Idee“26 nennt. Der Zweck der Philosophie besteht also damit in dem theoreti­ schen Trieb der Idee, das Wahre zu erkennen. Dies ist allerdings ein anderer Modus als das Wollen, „die praktische Tätigkeit der Idee“. Insofern wechselt mit der Philosophie aus Sicht ihres Selbstzwecks allerdings die Ebene der Betrachtung. Solange sie instrumentell, als Nutzen für den Staat, verstanden werden kann, kann sie als Gestalt des freien Willens begriffen werden. Insofern ist sie allerdings „noch nicht“ absolut. Erst wenn sie in Hinblick auf ihren ei­ gentlichen Zweck, die Erkenntnis der Wahrheit verstanden wird – und dann birgt sie einen Nachteil für den Staat –, kann sie als spekulative Philosophie in den Blick geraten. Nur ist sie dann bereits „nicht mehr“ Institution. Man könnte versuchen, folgende Brücke zwischen dem „noch nicht“ und dem „nicht mehr“ zu schlagen: der Staat als höchste Gestalt des an und für sich freien Willens inkorporiert in sich eine Institution, für die konstitutiv ist, dass sie ihrer eigenen Logik nach nicht mehr dem Prinzip des an und für sich freien Willens folgt. Es ist einem vernünftigen Staat inhärent, eine ihn und sein Prinzip transzendierende Institution einzurichten. Der Nachteil dieser Institution für den Staat könnte dann darin bestehen, dass sie gerade, wenn sie ihrer eigenen Logik folgt, den „Zwecken“ des Staates entgegenwirkt, zumindest

25  GW 20, § 233. 26  GW 20, § 225.

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entgegenwirken kann, etwa in Form von Ideologiekritik27. Dieser jedoch der Philosophie wesentliche Teil wäre dann ein Überschuss einer Theorie des objektiven Geistes, insofern er gerade den Geltungsbereich der Aussagen über den objektiven Geist transzendierte28. Der genannte Überschuss der Philosophie ist nämlich qua Überschuss mit den Mitteln einer auf einem ge­ haltvollen Willensbegriff basierenden Rechtsphilosophie nicht mehr einhol­ bar. Die Mittel der Rechtsphilosophie erlauben zwar, dass es vernünftigerweise eine Institution geben solle, die selbst nicht mehr der Logik des Rechts folgt. Allerdings liegt darin zugleich die Selbstbeschränkung dieser Perspektive, denn die inhaltliche Bestimmung eben dieser Eigenlogik der Philosophie entzieht sich der Perspektive des Rechts. Darin liegt nun das „nicht mehr“ der Philosophie als Phänomen des absoluten Geistes. 3

Spekulative Philosophie, nicht mehr Institution?

Die Philosophie soll eine und zudem die letzte Gestalt des sogenannten „ab­ soluten Geistes“ darstellen. Aber worin besteht dieser absolute Geist? Im letzten Abschnitt ist bereits mit Verweis auf die Fußnote zu § 270 (Anm.) der Grundlinien darauf hingewiesen worden, dass Hegel Wissenschaft und Staat re­ lativ zu ihrer Form unterscheidet. In § 385 der Enzyklopädie, im Einleitungsteil in die Geistphilosophie, unterscheidet er subjektiven, objektiven und absolu­ ten Geist. Dort macht er den Formunterschied zwischen objektivem und ab­ solutem Geist auf. Die Form des absoluten Geistes sei kontrastiv über die des objektiven Geistes bestimmt. Wenn die Form des objektiven Geistes in einer von dem Geist als Willen hervorgebrachten Welt besteht, dann folgt diese auch der praktischen Tätigkeit der Idee, dem Wollen. Insofern spielen in diese her­ vorgebrachte Welt immer auch besondere Interessen Einzelner mit hinein, und damit Unvernünftiges, das nicht dem Begriff des Geistes entspricht. Aber genau dies soll auf Ebene des absoluten Geistes auch noch abgelegt werden. Ein weiteres Merkmal betrifft das Verhältnis von subjektivem und ob­ jektivem zum absoluten Geist. Den subjektiven und den objektiven Geist nennt Hegel endlichen Geist: „die Endlichkeit hat hier die Bedeutung der Unangemessenheit des Begriffs und der Realität mit der Bestimmung, daß sie 27  Die Vernünftigkeit des Staates müsste natürlich enthalten, dass er solche Kritik zulässt, die unvernünftige Merkmale seiner Struktur aufdeckt. 28   Diese Idee würde wohl in etwa dem Vorschlag Gethmanns entsprechen, der die Philosophie wie folgt charakterisiert: „Philosophie ist institutionalisierte Institutionenkritik kraft Kritikdelegation.“ (Gethmann 1978, 306.)

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das Scheinen innerhalb seiner ist, – ein Schein, den an sich der Geist sich als eine Schranke setzt, um durch Aufheben derselben für sich die Freiheit als sein Wesen zu haben und zu wissen, d. i. schlechthin manifestiert zu sein.“ (GW 20, § 572) Betrachtet man die Realphilosophie insgesamt als zunehmende Realisierung der Idee, als zunehmende Annäherung von Begriff und Gestalt desselben, dann ist die Idee auch im subjektiven und objektiven Geist noch nicht völlig verwirklicht, weil eben Gestalt und Begriff nicht völlig zusammen­ fallen. Erst der absolute Geist überwindet die Schranke der Unangemessenheit von Begriff und Realität, erst auf dieser Ebene werden Begriff und Realität in Form der jeweiligen Gestalten von Kunst, Religion und Philosophie in eins gesetzt. Aber auch innerhalb des absoluten Geistes wiederholen sich Formen der Unangemessenheit, insofern Kunst und Religion beide noch unvollkom­ mene Gestalten der absoluten Selbstverwirklichung des Geistes sind. Dies liegt insbesondere an ihren selbstreflexiven Formen der Anschauung im Falle der Kunst und der Vorstellung im Falle der Religion. Erst die Philosophie als Einheit von Kunst und Religion überwinde diese Einseitigkeit: Diese Wissenschaft ist insofern die Einheit der Kunst und Religion, als die der Form nach äußerliche Anschauungsweise der ersteren, deren subjektives Produzieren und Zersplittern des substantiellen Inhalts in viele selbständige Gestalten, in der Totalität der zweiten, deren in der Vorstellung sich entfaltendes Auseinandergehen und Vermitteln des Entfalteten, nicht nur zu einem Ganzen zusammengehalten, sondern auch in die einfache geistige Anschauung vereint und dann zum selbst­ bewußten Denken erhoben ist. Dies Wissen ist damit der denkend er­ kannte Begriff der Kunst und Religion, in welchem das in dem Inhalte Verschiedene als notwendig und dies Notwendige als frei erkannt ist29. Erkenntnis des Notwendigen ist also letzten Endes Gegenstand der Philosophie, und zwar denkende Erkenntnis. „Dies Erkennen ist so das Anerkennen dieses Inhalts und seiner Form und die Befreiung von der Einseitigkeit der Formen und Erhebung derselben in die absolute Form, die sich selbst zum Inhalte be­ stimmt und identisch mit ihm bleibt und darin das Erkennen jener an und für sich seienden Notwendigkeit ist. Diese Bewegung, welche die Philosophie ist, findet sich schon vollbracht, indem sie am Schluß ihren eigenen Begriff erfaßt, d. i. nur auf ihr Wissen zurücksieht.“30 Insbesondere der letzte Satz zeigt, dass die vollständige Selbsterkenntnis der Philosophie als letzter Gestalt 29  GW 20, § 572. 30  GW 20, § 575.

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des sich selbst erkennenden und durch diese Selbsterkenntnis vollkommen selbstverwirklichenden Geistes in dem Wissen besteht, dass sie sich selbst in der Erkenntnis aller anderen Gestalten als Formen der Selbstverwirklichung des Geistes zunehmend verwirklicht hat. Das bedeutet aber, dass zum Wesen der Philosophie eben die Gesamtheit der Erkenntnisse gehört, die Hegel be­ gonnen mit der Logik, über die Naturphilosophie bis hin zur Philosophie des Geistes dargelegt hat. Es gehört also zum Wesen der Philosophie dazu, dass sie „ihren eigenen Begriff erfaßt“. Und dies tut sie, indem sie selbst „auf ihr Wissen zurücksieht“. Erst damit sind auch die früheren spekulativ-philosophi­ schen Analysen vollständig begriffen. Würde man nun dieses Verständnis von Philosophie tilgen, sodass die Philosophie lediglich als Institution Gegenstand des objektiven Geistes wäre, dann würde folgendes Problem auftreten: die Philosophie des Rechts würde unter anderem die Philosophie abhandeln, allerdings nur als eine staatliche Institution. Die Tätigkeit, in bestehenden gesellschaftlichen Umständen Gestalten des freien Willens zu erkennen (Philosophie des Rechts), müsste eben diese Tätigkeit selbst als Gestalt des freien Willens erkennen. Das hieße aber, dass die Philosophie als sozio-refle­ xive Tätigkeit ihrem Wesen nach eine Verwirklichungsform des freien Willens wäre. Sofern aber alle Verwirklichungsformen des freien Willens immer auch von besonderen und zufälligen Willenskonstellationen vieler verschiede­ ner Individuen abhängen, würde dies auch von der Philosophie gelten. Das hieße aber, dass die Tätigkeit, die gesellschaftliche Umstände als Gestalten des freien und gerade nicht des willkürlichen Willens erkennen soll, selbst der Zufälligkeit willkürlicher Willensbestimmungen unterworfen bleiben würde. Damit hätte diese Disziplin sich möglicherweise bereits des gesellschaftskri­ tischen Potentials beraubt, das sie benötigt, um gerade durch ihre Analysen beispielsweise Ideologiekritik betreiben zu können31. 4

Anschlussfragen und Probleme

Abschließend seien nach einer knappen Wiederholung der Ergebnisse An­ schlussfragen und Probleme benannt. Zunächst sei zusammengefasst, was für die eingangs genannten drei Fragen gewonnen ist. Es ist durchaus zulässig, die Philosophie als Institution im Rahmen der Philosophie des objektiven Geistes zu behandeln. Allerdings ist zu betonen, dass es sich dann gerade nicht um 31  Hegels eigene Argumentation würde natürlich noch über seinen Letztbegründungs­ anspruch laufen, der mit einem Abschneiden des absoluten Geistes nicht erfüllt werden könnte.

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die Philosophie im spekulativen Sinne handelt. Zugleich muss jedoch die in­ stitutionalisierte Form der Philosophie dafür gegeben sein, dass Philosophie im spekulativen Sinne betrieben werden kann. Dass die Philosophie im objek­ tiven Geist nicht auftaucht, liegt nicht daran, dass Hegel eine institutionelle Betrachtung der Philosophie per se ablehnt, sondern daran, dass in der Hinsicht gerade das Wesen der Philosophie nicht adäquat erfasst werden kann. Dieses versteht man erst, wenn man nicht mehr Formen der Willensverwirklichung betrachtet, sondern das denkende Erkennen selbst. Bezüglich der Relevanz für heutige hegelsche Theorietypen, die Philosophie als Institution betrachten, sei exemplarisch auf den Ansatz Axel Honneths (in Das Recht der Freiheit) eingegangen32. Ein solcher Ansatz hat mit der hier gestellten Frage insofern weniger Probleme, als Honneth den systematischmetaphysischen Begründungszusammenhang Hegels ablehnt33. Damit aber erfüllt seine Philosophie ohnehin nicht mehr die Kriterien, die den hegelschen spekulativen Begriff der Philosophie ausmachen. Die Philosophie als eine Institution (im nicht-spekulativen Sinne), die in Honneths Theorie wohl auf der dritten Ebene der sozialen Freiheit anzusiedeln wäre, wird allerdings auch von Honneth nicht thematisiert. Dass es durchaus nötig wäre, die Philosophie als Institution zu thematisieren, lässt sich auf zwei Wegen motivieren. Zunächst ließe sich folgende Überlegung anstellen: Wenn das Buch Das Recht der Freiheit verstanden wird als Darstellung der „konstitutiven Sphären unserer Gesellschaft als institutionelle Verkörperungen“ des Wertes „der individuellen Freiheit“34, dann könnte durchaus die Vermutung gehegt werden, dass eben das Schreiben dieses Buches selbst, diese Darstellung selbst, auch noch Anteil an der Verkörperung individueller Freiheit hat. Man könnte die Idee haben, dass der Erkenntnisgewinn, den man durch die Lektüre des Buches erlangt, selbst noch konstitutiv ist für die Verwirklichung der Freiheit. Dann bräuchte das Buch allerdings noch einen vierten Teil im Abschnitt „III. Soziale Freiheit“. Dies entspräche dann in etwa dem Übergang vom „objektiven“ in den „abso­ luten Geist“. Dagegen könnte durchaus argumentiert werden. Wieso sollte, so ließe sich einwenden, die Einsicht darein, was denn in dem Buch selbst ge­ schieht, und die Einsicht darein, dass das Buch eben eine Einsicht in „insti­ tutionelle Verkörperungen […] der individuellen Freiheit“ liefert, selbst noch 32  Die Zulässigkeit, diesen Ansatz hegelsch zu nennen, stütze ich auf Honneths Abicht, dass er „dem Vorbild der Hegelschen Rechtsphilosophie folgen“ wolle (Honneth 2011, 9). 33  „Die Voraussetzung eines idealistischen Monismus, in dem er seinen dialektischen Begriff des Geistes verankert hat, ist für uns, die Kinder eines materialistisch aufgeklärten Zeitalters, nicht mehr recht vorstellbar“ (Honneth 2011, 17). 34  Honneth 2011, 9.

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relevant sein? Dann ließe sich allerdings noch folgende zweite Überlegung anstellen: Betrachtet man die Institution der Universität und darin speziell die Philosophie und (für ein Projekt wie dasjenige Honneths) angrenzende Disziplinen wie die Soziologie oder die Geschichtswissenschaften, dann liefert diese Institution selbst doch erst die Möglichkeit, dass ein solches Buch ge­ schrieben wird, das wiederum die Einsicht in „institutionelle Verkörperungen […] der individuellen Freiheit“ liefert. Damit werden diese Institutionen je­ doch selbst eigenständige „institutionelle Verkörperungen […] der individuel­ len Freiheit“. Das hieße aber, dass sie ebenfalls in die Analyse aufgenommen werden müssten, was zumindest in Das Recht der Freiheit ausgeblieben ist. Dass diese Forderung Honneths Theorie nicht äußerlich bleibt, zeigt sich an seiner Absicht, „nur diejenigen sozialen Praktiken und Institutionen überhaupt zur Darstellung zu bringen, deren normative Verfassung der Verwirklichung gesell­ schaftlich institutionalisierter Werte dient.“35 Die letzte, rein systematische Frage, wie sich eine institutionalisierte Philosophie zu dem sie ermöglichenden Institutionengefüge verhalten sollte, hatte dazu geführt, dass sich die Philosophie aus Hegels Perspektive durch­ aus im Sinne Gethmanns als „institutionalisierte Institutionenkritik kraft Kritikdelegation“ verstehen lässt. Für die Begründung dieser Position, die Gethmann sprechakt-, argumentations- und diskurstheoretisch vornimmt, bleibt jedoch für das hegelsche Programm eine Spannung bestehen, die das „noch nicht“ und das „nicht mehr“ betrifft. Wenn man will, kann man diese Spannung in Form des Paradoxes formulieren, dass die Philosophie, inso­ fern sie institutionell eingerichtet und legitimiert wird, nicht ihrem eigenen Zweck folgt, dem Streben nach Wahrheit, sondern in einem ihr externen Interessenszusammenhang steht. Insofern sie allerdings ihrem eigenen Zweck folgt – und in Bezug auf den Bereich der Rechtsphilosophie bedeutet dies, dass sie das Vernünftige an gegenwärtigen Institutionen zu erkennen strebt, womit wiederum das Potential der Kritik bestehender Verhältnisse einher­ geht –, dient sie gerade nicht dem Zweck, um dessen willen sie eingerichtet wurde. Für eine weitere intensive Textinterpretation der §§ der Enzyklopädie zur Philosophie bedeutet dies, dass das Projekt, die Philosophie nicht mehr als Institution zu betrachten, Gefahr läuft, die Tatsache zu übersehen, dass die Philosophie immer noch auch Institution ist und damit in gesellschaftlichen Interessenszusammenhängen steht. Dies führt zu einer letzten Beobachtung, mit der dieser Aufsatz beschlossen werden soll:

35  Ibidem, 25.

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Wenn man die hegelsche Philosophie für auch heute noch tragfähig er­ achtet und sich die Frage stellt, wie die Philosophie selbst eigentlich zu behandeln ist, und wenn man sie in den Phänomenbereich einer gesell­ schaftskritischen Rechtsphilosophie aufnimmt, dann bedeutet dies, dass dieses Problem des „noch nicht“ und des „nicht mehr“ selbst permanent im Blick behalten werden muss. Wenn man dies tut, kann man einerseits den Fehler vermeiden, zu meinen, eine ihrem Wesen nach selbstgenüg­ same Tätigkeit sei auch tatsächlich nicht durch ihr äußere Zwecke ge­ steuert, und andererseits in den Blick bekommen, dass die Philosophie als gesellschaftlich eingerichtete wissenschaftliche Disziplin zumindest auch dem Selbstzweck folgt, die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer eige­ nen Zeit kritisch zu analysieren. Oder anders formuliert: die Philosophie nur als Phänomen des „objektiven Geistes“ zu betrachten, läuft Gefahr, ihr kritisches Potential zu schwächen, sie nur als eine gesellschaftlichen Zusammenhängen völlig äußerliche und selbstgenügsame Tätigkeit zu betrachten, läuft hingegen Gefahr, blind für ihre Eingebundenheit in eben solche Zusammenhänge zu sein.

Philosophieren als Sterben

Selbsterkenntnis und Versöhnung bei Hegel (eine Annäherung) Wolfram Gobsch Einleitung Was ist die Philosophie für Hegel? Wenn wir Hegel beim Wort nehmen und zusammenschauen, was sein Werk dazu hergibt, treten uns die Konturen einer Antwort entgegen, die wir, gerade als Kinder unserer Zeit, wohl zunächst gar nicht anders als ungeheuerlich nennen können. Die Philosophie, sagt Hegel, hat „die Wahrheit zu ihrem Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne – in dem, dass Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist“ (Werke 8, 41). Die Philosophie, sagt Hegel aber ebenfalls, ist „Selbsterkenntnis“ (Werke 10, 9 (§ 377)). Als solche ist sie wesentlich auch Erkenntnis der Tätigkeit des Philosophierens und seiner Subjekte. Und darin, so Hegel, ist sie „ihre Zeit in Gedanken erfasst“ (Werke 7, 26), „gehört ihrer Zeit an und ist in ihrer Beschränktheit befangen“ (Werke 18, 65). Die Philosophie, heißt das zusammengenommen, ist für Hegel, in eins, Erkenntnis des Absoluten und Selbsterkenntnis des endlichen Geistes ihrer Zeit. Und doch soll hier nicht „die Endlichkeit zu einem Absoluten gemacht“ werden. Genau dafür tadelt Hegel schon früh und mit größter Vehemenz „Eudämonismus und Aufklärerei sowie Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie“ (Werke 2, 301). Hegels Bestimmung der Philosophie als, in eins, Erkenntnis des Absoluten und Selbsterkenntnis des endlichen Geistes ihrer Zeit soll auch der Differenz von Absolutem und Endlichem gerecht werden. „Das Endliche“, so entwickelt Hegel diese Differenz zunächst ganz abstrakt, „vergeht, und es ist nicht bloß möglich, dass es vergeht“, weshalb von den endlichen Dingen zu sagen ist, „dass […] das Nichtsein […] ihr Sein ausmacht“ (GW 21, 116). Aber genau darin, dass das Endliche, als solches, vergeht, so Hegel weiter, ist es intern auf das Unendliche bezogen und umgekehrt, so dass vom Endlichen dann auch zu sagen ist, dass es „seine Unendlichkeit [ist], sich selbst aufzuheben“ (GW 21, 133), und vom Absoluten als dem wahrhaft Unendlichen, das ja als solches unmöglich bloß vom Endlichen verschieden und so durch dasselbe begrenzt sein kann, dass es gerade im sich selbst aufhebenden Endlichen „da [ist], präsent, gegenwärtig“ (GW 21, 136). Dass die Philosophie in eins Erkenntnis des Absoluten und Selbsterkenntnis des endlichen Geistes ihrer Zeit ist, bedeutet daher für Hegel, dass sie diesen Geist gerade in seinem Vergehen als Gegenwart des Absoluten, mithin als unbedingt notwendig,

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_027

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erkennt. So, kann er dann sagen, ist die Philosophie „die Versöhnung des Verderbens“. Da sie als Erkenntnis der absoluten Notwendigkeit dieses Verderbens demselben jedoch seinen Lauf lassen muss, ist sie „Versöhnung nicht in der Wirklichkeit, sondern in der ideellen Welt“ (Werke 18, 71 f). „Die Dialektik“, die sich im Vergehen dieses Endlichen vollzieht, hat so zwar „ein positives Resultat“ (Werke 8, 176 (§ 82)), dieses Resultat – „positiv-vernünftig“ oder „spekulativ“ (ebd.) – zu erfassen, kann aber letztlich nur heißen, „die Vernunft […] im Kreuze der Gegenwart zu erkennen“ (Werke 7, 26), mithin unmöglich, darauf zu orientieren, dieses „Kreuz“ abzulegen oder seine Last zu mindern, dem Verderben des endlichen Geistes der eigenen Zeit also entgegenzuwirken. Genau als diese Art der Versöhnung ist die Philosophie für Hegel dann weiter aber eben auch Selbsterkenntnis. Im philosophischen Erkennen des sterbenden endlichen Geistes ihrer Zeit als der Gegenwart des Absoluten, heißt das, kann sich die Philosophin, in ihrer Partikularität, nicht nur nicht aus diesem Sterben heraushalten. Sondern das Philosophieren, muss Hegel sagen, ist gerade auch selbst das Sterben, aus sich heraus, des endlichen Geistes, in dem die Philosophie ihre Zeit und die Philosophin ihr Leben hat: es ist dieses Sterben als seine Rechtfertigung – und darin seine Vertiefung. Die Philosophie kommt aus dem Leben, und das Leben führt zu ihr, aber sie führt, für sich, nicht in das Leben zurück. So und nur so ist sie, in eins, Erkenntnis des Absoluten und Selbsterkenntnis des Geistes ihrer Zeit. Weder also rechtfertigt die Philosophie im hegelschen Verständnis den Geist ihrer Zeit als in einem Sinne vernünftig, der ihn als dem Verderben entzogen erweisen würde; noch befähigt sie, dem Verderben, das sie als unbedingt notwendig erkennt, entgegenzutreten; und noch auch verhilft die Versöhnung, die sie als diese Erkenntnis gewährt, zu einem Leben, das jenes Verderben erträgt. In der Philosophie, wie Hegel sie versteht, kommt „der denkende Geist“ zum „Wissen des absoluten Geistes als der ewig wirklichen Wahrheit“ (Werke 10, 353 (§ 553)). Aber dieses Wissen, meint er, ist nur als das spekulative Resultat eines Bemühens möglich, in dem der denkende Geist „seine eigene Weltlichkeit abstreift“ (ebd.), nur als Resultat des Bemühens um einen „Standpunkt […], wo das Ich in dieser Einzelheit in der Tat und Wirklichkeit Verzicht auf sich tut“ (Werke 16, 186). Die Philosophie in Hegels Sinne, heißt das, ist – anders als vielleicht die Kunst noch oder die Religion – keine Tätigkeit, die im Leben, im Guten, ihren eigentlichen Sinn haben kann: Die Modalität der philosophischen Einsicht ist letztlich keine Modalität praktischen Wissens1. Das meint „absoluter Idealismus“ bei Hegel. Und eben 1  Dies zu begreifen, heißt zum Beispiel auch zu bemerken, dass es unmöglich sein muss, Hegel als praktisch-politischen Apologeten einer bestimmten – überkommenen – Praxis zu

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darin liegt, für uns, die Ungeheuerlichkeit des hegelschen Denkens. Hegels Philosophiebegriff – den Ausweis dieser allgemeinen, aber hoffentlich nicht allzu gewagten Behauptung muss ich hier freilich schuldig bleiben – widerspricht dem Selbstverständnis der Gegenwartsphilosophie in allen ihren Hauptströmungen: dem Selbstverständnis des Denkens in der Nachfolge nicht allein von Marx, von Adorno und Horkheimer oder von Peirce und James, sondern auch von Aristoteles und Kant, von Fichte und Schelling, von Kierkegaard und Nietzsche oder von Heidegger und Wittgenstein. Denn was diese Traditionen über all ihre Unterschiede hinweg miteinander teilen, scheint mir, ist das, was Hegel den „Standpunkt der Reflexion“ nennt: den Standpunkt, „wo die Endlichkeit in der ganz vollendeten Abstraktion des reinen Denkens liegt, das sich nicht wirklich als allgemeines fasst, sondern als Ich, als Dieser bleibt“ (Werke 16, 186). Philosophieren auf diesem Standpunkt, Philosophieren also, das sich im Ich als bleibendem Diesem verankert, – und das tut es auch dort noch, wie sich zeigen wird, wo diese Verankerung als Verankerung in der Sittlichkeit gedacht wird – muss seinen Sinn im Leben, im Guten, suchen und deshalb den hegelschen Philosophiebegriff im hier skizzierten Sinne als ungeheuerlich von sich weisen. Und wahrscheinlich liegt hier auch ein Grund für die starke Tendenz, den so als ungeheuerlich empfundenen Zug des hegelschen Denkens in der Interpretation auf die eine oder andere Weise zu übersehen oder zu übergehen. Ich denke da zum einen an Versuche, die Spannung, die in der im hegelschen Philosophiebegriff zusammengedachten Identität und Nichtidentität von Absolutem und Endlichem, von Gott und Gegenwart, zu liegen scheint, durch Deutungen dieses Denkens aufzulösen, denen zufolge es entweder in einer einseitigen Form von „ordinary language philosophy“ oder in einer streng ahis­ torischen Form von Metaphysik beziehungsweise Transzendentalphilosophie allein sein eigentliches Prinzip hat2. Und ich denke zum anderen an den Versuch, dieses Denken als einen Quietismus zu deuten, der diese Spannung gar nicht erst aufkommen zu lassen versucht, indem er Absolutes und Gegenwart, unbedingte Form und endlichen Inhalt, zwar als intern auf einander bezogen beschreibt, es jedoch für widersinnig erklärt, irgendwelchen Inhalt – und deuten. Die Ausarbeitung dieser Konsequenz werde ich bei anderer Gelegenheit in Angriff nehmen. 2  Man denke beispielsweise an Charles Taylor, Terry Pinkard und Robert Pippin auf der einen und an Dieter Henrich, James Kreines oder Robert Stern auf der anderen Seite. In der Regel gehen diese gegensätzlichen Interpretationsstrategien einher mit gegensätzlichen Antworten auf die Frage nach der relativen Priorität der Wissenschaft der Logik auf der einen Seite und der realphilosophischen Schriften im Werk Hegels, der Phänomenologie des Geistes und den Grundlinien der Philosophie des Rechts im Besonderen, auf der anderen.

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irgendeinen Geist, der eine Zeit hat – als Gegenwart des Absoluten erklären zu wollen3. Keine auf eine dieser Weisen tendenziöse Interpretation, das scheint mir offensichtlich, kann dem reifen Werk Hegels im Ganzen gerecht werden4. Müssen wir also schließen, dass das Philosophieren, wie Hegel es versteht, ein Irrweg ist? Das wäre überstürzt. Vielleicht hat Hegel ja Recht. Vielleicht ist die Philosophie ja wirklich, in eins, Erkenntnis des Absoluten und Selbsterkenntnis des endlichen Geistes ihrer Zeit und hat, weil das Philosophieren dann Selbsterkenntnis des Vergehenden und folglich selber Sterben sein muss, unmöglich das Leben, das Gute, zu seinem letzten Zweck. Wenn dem so wäre, müsste es prinzipiell möglich sein, den hegelschen Philosophiebegriff, in seiner ganzen Radikalität, auch im Ausgang von einer abstrakten Bestimmung der Tätigkeit des Philosophierens, die Hegel und die Gegenwartsphilosophie noch teilen, in nachvollziehbaren Schritten zu entwickeln und so für uns selbst plausibel zu machen. Wenn unsere Ablehnung von Hegels Philosophiebegriff nicht dogmatisch sein soll, sollten wir uns auf die prima facie Möglichkeit eines solchen Arguments jedenfalls einlassen können. In diesem Geist will ich hier eine solche Herleitung versuchen, ausgehend von dem relativ unkontroversen Begriff des Philosophierens als des Strebens nach einer bestimmten Form von Klarheit über sich selbst. Der Abstand, den eine solche Herleitung zu überbrücken hat, und damit auch die Erläuterung des Resultats selbst, das muss ich allerdings vorab bekennen, verlangen eine Ausbreitung, die letztlich nur in einem Buch möglich ist. Der vorliegende Text wird die Entwicklung des hegelschen Philosophiebegriffs aus jenem Ausgangspunkt daher nur vorläufig skizzieren – nur vorbereiten –, indem er versucht, ihre wesentlichen Momente zusammenzutragen und die wichtigsten Schritte transparent zu machen. Mehr als eine erste Annäherung an Hegels Auffassung von Philosophie werde ich hier nicht leisten. Aber ich hoffe, dass der Text auch so – oder vielleicht gerade auch so – dazu beitragen

3  John McDowell zum Beispiel legt eine solche Interpretationsstrategie nahe, wenn er in „Hegel’s Idealism as Radicalization of Kant“ (McDowell 2009c, 89) den hegelschen Idealismus als elaborierte Form der wittgensteinianischen Position darstellt, die er selbst in Mind and World vertritt. Noch konsequenter quietistisch ist die radikalisierte Variante der McDowell’schen Position, die Adrian Haddock in „Wahrnehmung und Gegebensein“ (Haddock 2017, 208) mit Hegels absolutem Idealismus identifiziert. 4  Ich denke, dass Hegels Erklärung seines enzyklopädischen Systems als eines dreifachen Schlusses (Werke 10, 393 f. (§§ 575–7)) sowohl eine einseitige Priorisierung der Wissenschaft der Logik oder der Realphilosophie wie auch eine quietistische Enthaltung bezüglich der Erklärung ihres Verhältnisses verbietet. Abschnitt 2.2 wird Grund und Bedeutung dieser Vermutung erschließen.

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kann, die Frage nach der Wahrheit des hegelschen Philosophiebegriffs ihrer Beantwortung ein Stück näher zu bringen.

Das Leben der Philosophierenden

Was ist Philosophie? Im Philosophieren geht es um eine bestimmte Form der Klarheit über sich selbst. Zu philosophieren heißt zu fragen, „Wer bin ich?“, und zwar jedoch nicht, „Was unterscheidet mich von dir, von euch, und worin gleichen wir uns?“, sondern, „Wer bin ich, insofern ich überhaupt fähig bin zu fragen, wer ich bin?“. Dass die Philosophie eine Tätigkeit ist, der es um die mit dieser Frage angestrebte Klarheit über sich selbst zu tun ist, bedeutet, dass es in ihr wesentlich auch um das Philosophieren selber geht, und dass somit umgekehrt die Frage, was Philosophie sei, nur als eine philosophische Frage möglich ist. Keine andere geistige Tätigkeit weist diese Form der Selbstbezüglichkeit auf. Zwar ist jede geistige Tätigkeit, als eine solche, auch auf sich selbst bezogen. Aber die Beantwortung der Frage zum Beispiel, was Physik sei, was Soziologie, was Musik oder was Religion, ist offensichtlich keine allein eigentümlich physikalische, soziologische, musikalische oder religiöse Aufgabe: sie beansprucht zwar, übersteigt aber eben auch, die der jeweiligen Tätigkeit spezifischen Zugangsweisen und Methoden. Die Philosophie, wie wir sie aus ihrem Kanon kennen, hat es zwar mit sehr vielen Dingen zu tun, die verschieden sind vom Philosophieren und den Philosophierenden selbst. Ihre Zugehörigkeit zu den Gegenständen, mit denen sich die Philosophie nicht bloß zufälligerweise beschäftigt, offenbaren diese Dinge aber eben erst im Nachweis ihres inneren Zusammenhangs mit der Frage der Philosophierenden nach ihrem Philosophieren. Deshalb verdient es „Wer bin ich, insofern ich überhaupt fähig bin zu fragen, wer ich bin?“, als die philosophische Frage ausgezeichnet zu sein. Im Einklang mit der Bestimmung des Philosophierens als dem in dieser Frage konzentrierten Bemühen grenzt auch Hegel die Philosophie von der partikularen Selbsterkenntnis ab. Aber Hegel geht weiter, zum Beispiel in der Einleitung zu seiner Philosophie des Geistes: Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der

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Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes. Werke 10, 9 (§ 377)

Warum begnügt sich Hegel nicht damit, die Philosophie von der partikularen Selbsterkenntnis zu unterscheiden? Warum charakterisiert er die philosophische Klarheit über sich selbst überhaupt als Erkenntnis? Warum krönt er sie dann noch zur Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen, ja zur Erkenntnis des Wahrhaften an und für sich? Und was bedeutet das überhaupt? Ich werde versuchen, diese Fragen zusammen zu beantworten, indem ich Hegels Philosophiebegriff Schritt für Schritt aus der Reflexion auf die ausgezeichnete philosophische Frage entwickle. Zwar wird diese Entwicklung unterwegs zentrale hegelsche Motive aufgreifen und als solche kenntlich machen, aber sie soll keinen Argumentationsgang nachzeichnen, der sich genau so auch in Hegels Werk finden ließe. Ich will hier nicht in erster Linie eine Auslegung hegelscher Texte versuchen, sondern eine Annäherung, die, ausgehend von jener ausgezeichneten Frage, den hegelschen Philosophiebegriff, in seiner ganzen Radikalität, für die philosophische Gegenwart plausibel zu machen vermag. Der subjektive Geist Im Philosophieren geht es um Klarheit über sich selbst, jedoch nicht um eine Antwort auf die Frage: „Was unterscheidet mich von dir, von euch, und worin gleichen wir uns?“. Dennoch, das will ich im Folgenden zeigen, ist das Philosophieren intern auf diese andere Frage bezogen, und zwar zunächst einfach deshalb, weil das Philosophieren selbst ein Fragen ist und damit dasselbe zum Inhalt hat. Dass das Philosophieren ein Fragen ist, bedeutet, dass es das Bemühen um eine Klarheit ist, die in diesem Bemühen noch aussteht. Die Klarheit, die in einem Fragen noch aussteht, ist erreicht, wenn das Erfragte aufgehört hat, fraglich zu sein. Im paradigmatischen Fall ist das einfach dann der Fall, wenn die Frage beantwortet ist. Mitunter liegt die bei einer Frage zu erreichende Klarheit jedoch auch nur in der Einsicht, dass den Fragenden eine Antwort unmöglich ist, oder dass sie es mit einer bloßen Scheinfrage zu tun haben. Von welcher Art das philosophische Fragen ist, ob die im Philosophieren angestrebte Klarheit also die Form einer Antwort und damit die Form von Erkenntnis hat oder nicht, wird es zu bestimmen gelten. In jedem Fall ist das Philosophieren das Bemühen um eine in diesem Bemühen ausstehende Klarheit. Der Name „Philosophie“ selbst verweist darauf, – „Liebe zur Weisheit“: Verlangen nach einer Art von Durchsichtigkeit,

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die in diesem Verlangen nicht einfach immer schon erreicht ist. Zuweilen wird dieser Name jedoch auch mit der weitergehenden These von der prinzipiellen Unerreichbarkeit dieser Durchsichtigkeit (für uns) verknüpft. Hegel spielt mit dieser Verknüpfung, wenn er erklärt, dass das Ziel seines philosophischen Programms darin besteht, den „Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein“ (Werke 3, 14). Trotz seiner Ablehnung jener weitergehenden These ist das Philosophieren auch für Hegel ein Bemühen: ein Bemühen um ein zwar erreichbares, aber zunächst eben noch ausstehendes Ziel5. Und auch wenn zum Beispiel Wittgenstein das Ziel dieses Bemühens gerade nicht als eine eigene Form von Wissen denkt, wie wir später noch genauer sehen werden, stimmt er doch hierin mit Hegel überein6. Davon, dass das Philosophieren ein Streben ist, soll hier ausgegangen werden. Und die Frage nach der Erreichbarkeit der im Philosophieren erstrebten Klarheit soll an dieser Stelle jedenfalls insoweit für beantwortet gelten, als es offensichtlich ist, dass ein wesentlich selbstbewusstes Streben wie das Philosophieren, und damit der Begriff desselben, wenigstens die Präsumtion der Möglichkeit des eigenen Gelingens enthalten muss7. Als Bemühen um eine nicht immer schon erreichte Klarheit ist das Philosophieren nur möglich, wenn das Sein der Philosophierenden zwar auf diese Klarheit hin angelegt ist, sich jedoch nicht in ihr erschöpft. Einer philosophisch Fragenden, heißt das im ersten Schritt, müssen zunächst auch Bestimmungen zukommen, die sie von der angestrebten Klarheit abhalten, Bestimmungen, die sie aber zugleich, da sie dieser Klarheit, als sie erstrebend, doch für wenigstens prima facie fähig zu gelten hat, auch abschütteln können muss. Indem der Philosophin solche Bestimmungen damit sowohl zukommen 5  In Hegels Berliner Antrittsvorlesung heißt es: „Der Entschluss zu philosophieren wirft sich rein in Denken […], – er wirft sich wie in einen uferlosen Ozean; alle die bunten Farben, alle Stützpunkte sind verschwunden, alle sonstigen freundlichen Lichter sind ausgelöscht. […] [M]an weiß noch nicht, wo es hinauswolle, wohin man hinkomme. […] [Aber] [die Philosophie] wird […] alles wiedergeben, was Wahres in den Vorstellungen ist, welche der Instinkt der Vernunft zuerst hervorbrachte“ (Werke 10, 415 ff.). Die Dramatik dieser Beschreibung des Ausstehens der im Philosophieren angestrebten Klarheit sowie der Sinn von „Wahres“ wird erst am Ende, in Abschnitt 2.3, erhellen. 6  „[D]ie Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen.“ (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 133). 7  Damit soll der Gedanke eines prinzipiellen Unvermögens zu philosophischer Klarheit nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Es soll damit lediglich gesagt sein, dass dieser Gedanke dann jedenfalls nur als die Behauptung des antinomischen Charakters der Tätigkeit des Philosophierens selbst möglich wäre.

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wie auch abgehen können müssen, wird es sich um Bestimmungen handeln, denen es zwar notwendigerweise möglich, aber eben nicht notwendig ist, ihr zuzukommen, und das heißt: um kontingente Bestimmungen derselben. Und weil die Negation einer kontingenten Bestimmung ebenfalls kontingent sein muss, wird die Philosophin auch nach dem Abschütteln von Bestimmungen, die der angestrebten Klarheit hinderlich sind, noch kontingent bestimmt sein. Das Sein der Philosophin, heißt das allgemein, ist das Sein eines Subjekts auch kontingenter Bestimmungen. Ein Wesen, dessen Sein sich in philosophischer Klarheit erschöpft, wäre folglich unmöglich8. Im Philosophieren geht es immer auch um das Philosophieren selbst, mithin unter anderem um dessen Fragecharakter und somit, das können wir nun sagen, auch um das Sein der Philosophin als Subjekt kontingenter Bestimmungen. Deshalb wird sich die Philosophin in ihrem Philosophieren ihres Seins als eines solchen Subjekts bewusst werden und fähig sein müssen, die Frage nach den kontingenten Bestimmungen zu stellen, die sie von der angestrebten philosophischen Klarheit abhalten. Das Selbst der Philosophin, heißt das, ist das Selbst auch kontingenter Bestimmungen. Als kontingenten Bestimmungen aber, die gerade der Klarheit entgegenstehen, die ihr Streben und Sein als Philosophin definiert, wird den Bestimmungen, in denen das Interesse jener Frage liegt, eine über ihre Subjektivität als nur überhaupt philosophisch Strebende hinausgehende Wirklichkeit eignen müssen. Und insofern wird die notwendigerweise von ihr zu stellende Frage, „Welche kontingenten Bestimmungen kommen mir zu?“, – zunächst ungeachtet des erkenntnistheoretischen Status der angestrebten philosophischen Klarheit selbst – Ausdruck eines eigenen Strebens nach Erkenntnis sein müssen9. Das

8  Damit ist jedoch zunächst noch nicht gesagt, dass auch ein Wesen unmöglich wäre, dessen Sein sich in einer der philosophischen Klarheit verwandten Durchsichtigkeit erschöpft: in einem fraglosen, strebefreien, immer schon erreichten Wissen, das sich selbst als Wissen weiß. In Metaphysik Λ.7 nimmt Aristoteles das nichtphilosophische reine Selbstwissen in den Blick. Hegels System hingegen – und das kommt gerade darin zum Ausdruck, dass er seine Philosophie des Geistes, an deren Ende er das Philosophieren selbst behandelt, mit einem längeren, einschlägigen Zitat aus Metaphysik Λ.7 beschließt – ist darauf angelegt, einsichtig zu machen, dass das Wissen, das sich selbst als Wissen weiß, nur philosophierend, also in einem Bemühen auch kontingent bestimmter Wesen, erlangt werden kann. Das folgt aus seiner Bestimmung der philosophischen Klarheit über sich selbst als der „Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich“, die der vorliegende Text an seinem Ende plausibel gemacht zu haben beansprucht. 9  Erkenntnis ist das, was befähigt, die Frage nach der Wirklichkeit einer Bestimmung zu beantworten. In Abschnitt 1.2 wird sich zeigen, dass „Wirklichkeit“ in diesem Sinn zwar nicht

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Selbst der Phi­losophin, heißt das zusammengenommen, muss das Selbst auch kontingenter Selbsterkenntnis sein. Im Rahmen seiner Enzyklopädie behandelt Hegel das solcherart konkrete Selbst, und damit die Philosophie, nicht schon in der Wissenschaft der Logik, sondern erst in der Philosophie des Geistes, deren Gegenstand, wie er erklärt, sich darin von dem der Logik unterscheidet, dass er die Natur zu seiner Voraussetzung hat10. Das „auch“ nämlich, das wir brauchen, um solch ein konkretes Selbst wie das der Philosophin zu denken, geht auf den Gedanken der Behinderung von philosophischer Klarheit zurück. Behinderung überhaupt, so Hegel, kann in der Logik zwar beschrieben, in ihr allein aber in seiner wirklichen Möglichkeit gar nicht begreiflich werden, sondern erst im Rückgriff auf das, was wir Natur nennen11. Der Begriff der absoluten Idee, den er am Ende der Logik entwickelt, – ein abstrakter Begriff reiner Klarheit über sich selbst – ist daher nicht mit seinem Begriff der Philosophie zu verwechseln. Der Philosophiebegriff ist kein logischer, sondern ein realphilosophischer Begriff, da sich die Philosophie als Klarheit eben auch über den Fragecharakter des Philosophierens selbst nicht in der Logik erschöpfen kann12. Das Selbst der Philosophin ist das Selbst auch kontingenter Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis ist jede Erkenntnis, zu deren Form als Erkenntnis es gehört, dass das in dieser Form erkennende Subjekt identisch ist mit dem Subjekt des in dieser Form erkannten Inhalts. Die Entdeckung durch Blick in den Spiegel, dass mein Haar ergraut, zum Beispiel, ist daher ebenso wenig Selbsterkenntnis in diesem, eigentlichen Sinne wie die mit einem – vielleicht ebenfalls durch einen Spiegel erhaschten – Blick aus dem Fenster gemachte erkenntnisformgleiche Beobachtung, dass der Ginster blüht. Denn die Identität von mir als dem mein Ergrauen Erkennenden mit mir als Ergrauendem ist der hier einschlägigen Form der theoretischen Erkenntnis genau so äußerlich, wie zwischen mir als dem die Blüte des Ginsters Erkennenden und dem blühenden Ginster Identität gar nicht besteht. Selbsterkenntnis im ursprünglichen Sinne, heißt das, ist unmöglich theoretische Erkenntnis. „Ich“, das Personalpronomen der ersten Person Singular, dient dem sprachlichen Ausdruck von Selbsterkenntnis. unmittelbar mit „Objektivität“ identifiziert werden kann, dass aber die Wirklichkeit des Gegenstandes der Selbsterkenntnis letztlich nur als Objektivität möglich ist. 10  Träger von Geist im hegelschen Sinne, Wesen also, deren Sein auf philosophische Klarheit hin angelegt ist, ohne sich in ihr zu erschöpfen, sind wir Menschen: Wesen, deren kontingente Bestimmtheit sich zunächst ihrer Herkunft „aus der Natur“ verdankt (Werke 10, 17 (§ 377, Zusatz)). 11  Vgl. Werke 9, 27 f. (§ 248). 12  Hegels Grund dafür, die Logik auf diese Weise, nämlich vermittels des Begriffs der Natur als des Begriffs des „Abfalls der Idee von sich selbst“ (Werke 9, 28 (§ 248)), von der Philosophie des Geistes zu unterscheiden, wird in Abschnitt 2.2 erhellen.

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Und es ist die Selbsterkenntnis, der „ich“ seinen spezifischen Sinn verdankt. Wenn, wie im Beispiel, „Ich ergraue“, und nicht, „Dieser da ergraut“, Ausdruck theoretischer Erkenntnis ist, erklärt sich das also jedenfalls nicht aus ihrer Form als theoretische Erkenntnis allein. Der Satz, „Ich erkenne, dass ich Φ bin“, in dem „Φ“ für eine negierbare Bestimmung meiner selbst als Philosoph steht, sei Ausdruck eines Aktes kontingenter Selbsterkenntnis. Nun ist die Form des Aussagesatzes überhaupt, davon gehe ich hier aus, die Form artikulierter Erkenntnisansprüche. Daher gehört das Verb „erkennen“ in diesem Satz ursprünglich nicht zum Ausdruck seines Inhalts. Und weil dieser Satz Ausdruck eines Aktes der Selbsterkenntnis ist, zu deren Form als Erkenntnis es ja gehört, dass das in dieser Form erkennende Subjekt identisch ist mit dem Subjekt des in dieser Form erkannten Inhalts, müssen wir, um allein den Inhalt des Satzes anzugeben, außerdem noch durch das „ich“ ‚kürzen‘, das links und rechts des hier den Akt von seinem Inhalt unterscheidenden „dass“ steht. Der Inhalt dieses Satzes ist daher ursprünglich nur genau so anzugeben: „Φ“. Selbsterkenntnis, deren Inhalt nur genau so anzugeben ist, ist aber offenbar nur dann möglich, wenn das „Selbst-“ in „Selbsterkenntnis“ hier nicht allein die Form des Erkanntwerdens der kontingenten Bestimmung Φ charakterisiert, sondern in eins damit auch die Form ihres Seins als erkannte Bestimmung: nur dann also, wenn es sich beim Akt kontingenter Selbsterkenntnis zugleich um einen Akt auch der Selbstbestimmung handelt. Und weil ein Akt ja nur dann Erkenntnis ist, wenn er sich auf einen wirklich bestehenden Inhalt bezieht, wird es sich bei einem solchen Akt der Selbstbestimmung um Erkenntnis handeln müssen, die näher gerade „die Ursache der Wirklichkeit dessen ist, was sie erkennt“, und damit um das, was wir, in losem Anschluss zum Beispiel an G.E.M. Anscombe, praktisches Wissen oder auch einfach Handeln nennen können13. Als der Ausdruck des Bemühens um Selbsterkenntnis, die sie hier sein muss, ist die Frage „Welche kontingenten Bestimmungen kommen mir zu?“ identisch mit der einfachen praktischen Frage „Was ist zu tun?“, in der das Verb „tun“ die Form der kontingenten Selbstbestimmung anzeigt. Damit hat sich unsere provisorische Antwort auf die philosophische Frage weiter konkretisiert: das Philosophieren ist die Tätigkeit eines Subjekts, das auch ein handelndes ist. Der Inhalt einer Antwort auf die einfache praktische Frage erschöpft sich zunächst in der handelnd hervorgebrachten kontingenten Bestimmung Φ. Das praktische Wissen, heißt das aber, hat zunächst einen Inhalt, der es dem Handlungssubjekt gar nicht möglich machen würde zu fragen, „Was 13  Anscombe 1957, 87. Es geht hier nur um diese Formel selbst, nicht um Anscombes Auffassung derselben.

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unterscheidet mich von dir, von euch, und worin gleichen wir uns?“. In seinem Selbstverständnis, könnten wir daher sagen, gilt Nietzsches Beschreibung des Ideals der „vornehmen Wertungsweise“: „es gibt kein ‚Sein‘ hinter dem Tun, Wirken, Werden; ‚der Täter‘ ist zum Tun bloß hinzugedichtet, – das Tun ist Alles“14. Die folgenden Überlegungen zeigen, warum wir es dabei nicht bewenden lassen können. Das Subjekt des Handelns, so hatten wir es eingeführt, ist Philosophin. Und als solche ist es sich in seinem Handeln desselben als kontingenter – und so von seinem Philosophieren verschiedener – Selbstbestimmung bewusst. Im Lichte des eben Gesagten kann das zunächst nur bedeuten, dass das Handlungssubjekt sein Handeln als eine Tätigkeit kontingenter Bestimmung fasst, die ihren Grund und Ursprung allein in einem kraft seiner Form völlig allgemeinen, mithin vollkommen leeren und somit unbedingten Prinzip hat: in dem praktischen Gesetz, wie ich es nennen will, das wir uns als den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch zu denken haben, der ja die Form erkennbarer kontingenter Bestimmungen überhaupt artikuliert, hier aber verstanden als Grund und Ursprung solcher Bestimmungen. Dass Φ eine kontingente Bestimmung des Handlungssubjekts ist, bedeutet jedoch, dass hier die Möglichkeit, das Vermögen, dieses Subjekts, Φ zu tun, von der entsprechenden Wirklichkeit, von seiner Tat also, zu unterscheiden ist. Nun kann das Handeln als Selbstbestimmung seinen Ursprung nicht außerhalb des handelnden Subjekts selbst haben, weshalb sein Vermögen, Φ zu tun, das es ja als Handlungssubjekt konstituiert, zugleich als sein Antrieb, Φ zu tun, zu fassen ist. Und das wäre vollkommen unverständlich, wenn dieses Vermögen nicht auch durch die Negation von Φ oder eines wesentlichen Moments von Φ konstituiert wäre15. Nun ist die Negation einer kontingenten Bestimmung oder eines Moments derselben allerdings ebenfalls kontingent. Also wird auch das durch die fragliche Negation mitkonstituierte Vermögen des Handlungssubjekts, Φ zu tun, kontingent und folglich bestimmt, also besonders sein müssen16. Weil das Handeln aber Erkenntnis ist, die selbst die Ursache dessen ist, was sie erkennt, und daher seinen Ursprung eben nur im Subjekt 14  Nietzsche 1988 (orig. 1887), 279. 15  Hinter dem „oder“ in diesem Satz verbirgt sich die Frage nach dem Verhältnis der handlungstheoretischen Bestimmung des Handelns, des Φ-Tuns, als einer Form von κίνησις und der praxistheoretischen oder moralphilosophischen Bestimmung desselben als einer Form von ενέργεια, die ich in diesem Text nicht als solche behandeln werde – in der Hoffnung, dass ihre korrekte Beantwortung keine substantielle Änderung seines Argumentationsgangs verlangen würde. 16  Daraus folgt dann, dass, wie es ja tatsächlich der Fall ist, nicht jede beliebige kontingente Bestimmung im Handeln hervorgebracht werden kann, sondern nur die, zu deren Hervorbringung die Handelnde tatsächlich vermögend ist.

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selbst haben kann, wird gelten müssen, dass diese besonderen Vermögen und Antriebe dieses Subjekt als ein von jeder seiner einzelnen Handlungen verschiedenes besonderes Subjekt konstituieren: als eine Person. Und so ist es kein Zufall, dass das Wort „ich“ tatsächlich immer für ein bestimmtes Subjekt steht. Weil sich das Handlungssubjekt seines Handelns, in demselben, als kontingenter Selbsterkenntnis bewusst sein muss, kann sich das Handeln, die kontingente Selbsterkenntnis, gerade nicht in der Antwort auf die infache praktische Frage erschöpfen: eine Handelnde kann sich letztlich unmöglich bloß als „vornehm Wertende“ in Nietzsches Sinne oder als allein das leere praktische Gesetz Verwirklichende verstehen, sondern muss sich in ihrem Handeln selbst als besonderes Subjekt, als Person, von ihrem jeweiligen Handeln unterscheiden. Dass die Handelnde in ihrem Handeln ein von jeder ihrer bestimmten Handlungen verschiedenes besonderes Subjekt sein muss, bedeutet zunächst, dass dieses Handeln den Charakter der Selbsterhaltung als ein solches Subjekt hat: den Charakter des Lebensvollzugs. Aber weil das Handeln im Selbstverständnis der Handelnden eine Tätigkeit ist, deren Grund und Ursprung als Selbstbestimmung allein im leeren praktischen Gesetz zu liegen hat, kann dieser Charakter des Handelns als Lebensvollzug für die Handelnde selbst nicht die Form der Erhaltung irgendeines vorab bestimmten Wesens haben, sondern wird freie Selbstkonstitution sein müssen. Das heißt, dass die Konstitution des Handlungssubjekts durch seine Vermögen und Antriebe als ein von jeder seiner einzelnen Handlungen verschiedenes besonderes Subjekt, die Konstitution als Person, für es selbst, sein eigenes Werk sein muss: das Werk seiner auf das leere praktische Gesetz zurückzuführenden Handlungen. Das Philosophieren, so können wir unsere provisorische Antwort auf die philosophische Frage daher weiter konkretisieren, ist die Fähigkeit eines Subjekts, das seine praktische Identität, also das, worin für sie selbst das handelnd zu Verwirklichende, das Gute, besteht, handelnd selbst konstituiert – und insofern autonom ist17. Und daraus folgt, dass eine Handlung nicht mehr nur 17  Vgl. Korsgaard: „[I]n the relevant sense there is no you prior to your choices and actions because your identity is in a quite literal way constituted by your choices and actions.“ (Korsgaard 2009, 19) Korsgaard selbst unterscheidet dann allerdings streng zwischen der praktischen Identität einer Person und dem, worin für sie das Gute besteht: „[We must] maintain our personal or practical identity […] in order to maintain our agency itself. And the person who succeeds in that is good – not because he is striving to be good, but because he is striving to be unified, to be whole.“ (Ibidem, 26) Dieser Ausschluss der adjektivischen Verwendung von „gut“ und die Beschränkung auf die adverbiale soll wohl einer bestimmten, unter anderem von Hegel inspirierten Kritik an der kantischen Auffassung des höchsten Guts als ewig seiner Verwirklichung entzogen zuvorkommen. In dialektischer Hinsicht ist dies meines Erachtens nichts weiter als ein verbales, künstliches

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einfach als kontingente Bestimmung des Subjekts gedacht werden kann, sondern dass das Handeln, als Hervorbringung des eigenen Wesens in der praktischen Selbstbestimmung, gerade als Aufhebung der Dichotomie von kontingent und wesentlich – und deshalb notwendigerweise als Tätigkeit oder Prozess – zu fassen ist18. Dass sich die Handelnde in ihrem Handeln selbst als eine Person konstituiert, bedeutet nun aber weiter auch, dass sie sich in ihrem Handeln als dem selbstkonstituierten Ursprung ihrer Handlungen von jenem leeren praktischen Gesetz unterscheidet, welches sie jedoch ebenfalls, und zwar zunächst und zuerst, als den Ursprung und Grund ihrer Handlungen praktisch denken muss. Die Auflösung der Spannung, die hierin liegt, besteht in einem ersten Schritt darin, das Verhältnis des leeren praktischen Gesetzes zu den Handlungen und damit zu der in ihnen zu konstituierenden besonderen praktischen Identität des Subjekts als normativ zu fassen, und die Weise, in der jenes Gesetz – und ausgehend davon dann wiederum auch seine praktische Identität – Ursprung von Handlungen ist, als Nötigung: als Motivation gegen innere Widerstände19. So muss es sein. Aber wie ist es einem Subjekt überhaupt möglich, sich ausgehend von der für das Handeln als Selbstbestimmung notwendigen Formalität des „ich“ und der damit einhergehenden Leerheit des praktischen Gesetzes als eine besondere und als solche von diesem innersten Ausgangspunkt her genötigte Person zu denken – und erst damit dann auch die Bestimmung, die sie sich handelnd gibt, als zunächst kontingent, und ihr Handeln somit als Selbstkonstitution? Die Notwendigkeit des Ausgangspunktes im Leeren und Formalen bringt es mit sich, dass sich diese Frage unmöglich mit dem Verweis auf das Bewusstsein irgendeiner bloßen Möglichkeit beantworten lassen wird, – und dass sich Manöver. Denn wie sollte ein Streben gut sein oder für gut befunden werden können, wenn dasselbe nicht zugleich für das darin Erstrebte gelten würde? Abschnitt 1.3 wird das systematische Fundament dieses Unbehagens an Korsgaards Unterscheidung freilegen. 18  Korsgaard drückt das recht treffend so aus: „Making the contingent necessary is one of the tasks of human life“. (Korsgaard 2008, 23) Und sie sieht jene Konsequenz in aller Klarheit: „[S]elf-constitution is not a state that we achieve and from which action then issues […], it is action itself.“ (44) 19  Vgl. Kant, AA 5 (Kritik der praktischen Vernunft), 82, sowie Korsgaard 2009, 7 und 26. Hegels bekannte Kritik an der kantischen Sollensethik würde missverstanden, wenn sie als Zurückweisung der Idee des Sollens selbst begriffen würde: Hegels eigene Theorie der Sittlichkeit – von deren Standpunkt er sagt, dass eben die kantische Ethik sie „zernichtet und empört“ (Werke 7, 88 (§ 33)) – ist für ihn selbst auch als eine „Pflichtenlehre“ (Werke 7, 297 (§ 148)) zu fassen. Abschnitt 1.2 wird den wahren Kern der hegelschen Kantkritik freilegen.

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diese Frage deshalb mit Notwendigkeit stellt. Gesucht ist hier folglich eine Wirklichkeit, in Konfrontation mit welcher der Handelnden, über ihr notwendiges, anfängliches Bewusstsein bloß an sich, aber eben noch nicht auch für sie selbst schon kontingenter Bestimmungen hinaus, der eigene Charakter als eine Person mit besonderen Vermögen und Antrieben, und damit die eigene Lebendigkeit als solche, allererst fraglich wird. Das wird eine Wirklichkeit sein müssen, die der eigenen Lebendigkeit als solcher entgegengesetzt und daher von der Handelnden selbst verschieden ist, der aber dieselbe Unnachgiebigkeit in der Selbsterhaltung einer praktischen Identität aus dem unbedingten Grund und Ursprung des als leer gefassten praktischen Gesetzes eignet wie ihr selbst. Die gesuchte Wirklichkeit, heißt das, kann nur ein anderes handelndes Subjekt sein. Und weil das Selbstbewusstsein als Handelnde ursprünglich Selbstkonstitution und also Handeln ist, muss die Konfrontation mit dieser Wirklichkeit, jedenfalls ursprünglich, in einem Handeln bestehen, in dem die beiden einander so nach dem Leben trachten, dass sie sich eben darin genau dessen bewusst werden. Das dem Handeln interne Wissen um sich selbst, heißt das, wird in einem Selbstbewusstsein liegen müssen, das in der tätigen Anerkennung einer anderen Handelnden als eines im selben Sinn und im selben Akt, in jenem Kampf eben, selbstbewussten Person besteht. Damit ist jedoch augenblicklich klar, dass die Konfrontation mit der Anderen, obwohl in ihr beider Lebendigkeit auf dem Spiel stehen muss, letztlich gerade nicht mit ihrem Tod enden darf. Und diese Überlegung ist offensichtlich für beide Seiten der Konfrontation gleichermaßen gültig: Anerkennung ist wesentlich wechselseitig. Und genauso offensichtlich kann diese Anerkennung, eben genau weil der Tod der jeweils Anderen sie verunmöglichen würde, kein bloß perspektivischer Akt sein: die Wechselseitigkeit der Anerkennung kann nicht in gegenseitiger Einseitigkeit bestehen. Die Anerkennung, und damit die Personalität der als anerkennend anerkannten und darin anerkannt anerkennenden Handelnden, heißt das, besteht primär in der wirklichen Interaktion der beiden Handelnden: in der Wirklichkeit eines gemeinsamen praktischen Lebens, – Personalität ist praktische Relationalität20. 20  Diese Konklusion stimmt überein mit dem Grundgedanken von beispielsweise Robert Pippins Lektüre der hegelschen praktischen Philosophie: „[It is] only qua participant that I can be said to have practical reasons at all“ (Pippin 2008a, 247). Die hier skizzierte Herleitung dieser Konklusion aber hat Konsequenzen, die wesentlich über diese Lektüre hinausgehen, wie sich besonders in den Abschnitten 1.2 und 1.3 zeigen wird. Christine Korsgaard stellt die Frage nach dem Grund der Möglichkeit des Selbstbewusstseins, das in der Nötigung liegt, überhaupt nicht. Für sie ist Nötigung, und damit praktisches

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Das sind die systematischen Grundzüge der Antwort auf die Frage nach dem Wie des Selbstbewusstseins, die Hegel unter dem Titel der Phänomenologie des Geistes im Rahmen seiner Philosophie des Geistes entwickelt. Aus dieser Antwort folgt, dass eine Person als solche fähig ist zu fragen: „Was unterscheidet mich von dir, von euch, und worin gleichen wir uns?“. Und weil sich die Personalität der Philosophin als Bedingung der Möglichkeit ihres Philosophierens erwiesen hatte, ist damit gezeigt, dass das Philosophieren tatsächlich intern auf diese andere Frage bezogen ist, und zwar zunächst einfach deshalb, weil es selbst ein Fragen ist und daher dasselbe zum Inhalt hat. Der objektive Geist Unsere provisorische Antwort auf die philosophische Frage hat sich damit so weit konkretisiert: das Philosophieren ist die Tätigkeit eines Subjekts, das teilhat an einem gemeinsamen praktischen Leben. Das bedeutet, dass die Selbstkonstitution und Selbsterhaltung als Person im Handeln nur in der Selbstbewusstsein und also Handeln überhaupt, schlicht unser Los als Menschen: „our plight: the simple inexorable fact of the human condition“ (Korsgaard 2009, 2, vgl. 23 und 26). Und so kann auch die Interaktion mit anderen für sie keine ursprünglich konstitutive Bedeutung für das Handeln als solches haben, was sich darin zeigt, dass sie versucht, die Interaktion mit anderen auf Grundlage der „Interaktion mit sich selbst“ zu erklären, die bereits in der Idee der Nötigung liegt (Ibidem, 202 ff.). (Vgl. hierzu Haase 2014, 128 ff..) Es ist offensichtlich, dass eine solche Erklärung unmöglich bis an die Wirklichkeit, die Lebendigkeit, der Anderen heranreichen kann: dass sie diese Wirklichkeit schlicht voraussetzen muss. Korsgaards philosophische Auffassung personaler Beziehungen – für den Hinweis auf diese Parallele danke ich Sasha Newton – hat ihre psychologische Entsprechung in Novalis’ Stilisierung der eigenen Liebe zu Sophie, seiner toten Braut, zur innigsten Form von Liebe überhaupt: sie ist gleichermaßen verzweifelt. (Kant selbst hingegen, Korsgaards philosophischer Kronzeuge, weiß, dass solch eine reduktive Erklärung unmöglich wäre. Seine Auffassung vom Unterschied zwischen der wirklichen Interaktion mit anderen und der Nötigung, die im kategorischen Imperativ bloß als solchem liegt, manifestiert sich in der Weise, wie er zwischen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sowie der Kritik der praktischen Vernunft auf der einen Seite und der Metaphysik der Sitten, der Rechtslehre im Besonderen, sowie der Religionsschrift, speziell ihrem dritten Hauptstück, auf der anderen unterscheidet. Vgl. hierzu Gobsch 2014, 185 ff.).) Weil Korsgaard die konstitutive Bedeutung der oben skizzierten Konfrontation mit der anderen für das Handeln verkennt, kann auch die Einheit der Personalität einer Handelnden mit ihrer Lebendigkeit für sie keine ursprünglich konstitutive Bedeutung haben. Deshalb denkt sie diese Einheit als die bloße Einheit zweier Wirklichkeiten, deren eine, die Personalität, im Normalfall auf der anderen, der Animalität, „superveniert“ (Korsgaard 2009, 19, vgl. 42, 49 und 127), – und propagiert so faktisch einen Dualismus (zum „Dualismus“ in diesem Sinne vgl. Gobsch 2017, 125 ff.).

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Selbstkonstitution und Selbsterhaltung einer Gemeinschaft von Personen möglich ist. Weil das Handeln, die praktische Selbsterkenntnis, ein Antworten und damit ein Denken ist, die Form der Gemeinschaft im Denken aber die Sprache, folgt aus dieser provisorischen Antwort auf die philosophische Frage einer der Grundgedanken der Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins: Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Überein­ stimmung in den Definitionen, sondern […] in den Urteilen. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 242

Nun lässt sich solche Übereinstimmung in den Urteilen einerseits nur dann als der Ausdruck eines gemeinschaftlichen praktischen Lebens fassen, der sie sein muss, wenn die praktische Identität der fraglichen Gemeinschaft, das gemeinschaftliche Gute also, das sich in dieser Übereinstimmung manifestiert, nicht als ein bloß Gesolltes und damit auf ewig seiner Realisierung entzogenes leeres Gesetz gedacht wird, sondern als wesentlich verwirklicht. Solche Übereinstimmung lässt sich andererseits aber auch nur dann als der Ausdruck eines gemeinschaftlichen praktischen Leben fassen, der sie ebenfalls sein muss, wenn dieses Gute so beschaffen ist, dass es möglich ist, die übereinstimmenden Urteile, die es manifestieren, auf das zunächst im leeren praktischen Gesetz gedachte Unbedingte zurückzuführen, in dem das Handeln als solches seinen Grund und Ursprung haben soll. Und das ist offenbar nur dann möglich, wenn sich dieses wirkliche Gute gerade nicht in der bloßen Einheit der Güter erschöpft, die die tatsächlichen Glieder der fraglichen Gemeinschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt als ihre persönlichen Identitäten handelnd verwirklichen, – nur dann also, wenn dieses Gute von den Handelnden nicht als das wirkliche Gute allein ihrer Gemeinschaft, als ein bloß (inter)subjektives Gutes also, gefasst wird21. Das ist die Wahrheit der Kritik des zeitgenössischen Wittgensteinianismus an dem, was er den „Blick von der Seite“ nennt22. 21  Das bedeutet unter anderem, dass eine Gemeinschaft von Handelnden nicht ursprünglich durch einen Vertrag gestiftet werden kann, und dass es einer auf das Gute gerichteten Gemeinschaft nicht wesentlich sein kann, auf bestimmte Glieder oder auf eine bestimmte Anzahl von Gliedern beschränkt zu sein. Und umgekehrt bedeutet das auch, dass eine Person als solche nicht nur notwendigerweise fähig ist zu fragen: „Was unterscheidet mich von dir, von euch, und worin gleichen wir uns?“, sondern auch: „Wer bin ich im Vergleich mit allen möglichen anderen?“; es bedeutet, dass eine Person notwendigerweise auch das Vermögen zu objektiv-partikularer – zu, wenn man so will: psychologischer – Selbsterkenntnis haben muss. 22  McDowell zum Beispiel formuliert den dieser Kritik zugrundeliegenden Gedanken so: „We find ourselves always already engaging with the world in conceptual activity within

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Aber weil diese Gemeinschaft, indem sie als aus einer ursprünglichen Konfrontation hervorgegangen zu begreifen ist, eine Gemeinschaft von Per­ sonen sein muss, die sich gerade als Glieder derselben selbstbewusst von einander unterscheiden, kann die Wahrheit der Ablehnung des Subjektivismus nicht – und zwar auch nicht für den besten Fall höchster Tugend – darin liegen, dass die Subjektivität der Personen für das Gute der Gemeinschaft schlicht transparent ist23. In ihrem Handeln, heißt das, muss die einzelne Person das Gute zwar als ein allein von der Unbedingtheit ihrer Freiheit her begreifliches, mithin wesentlich geistiges, fassen, aber zugleich als eine ihre Subjektivität als Handelnde unendlich transzendierende Wirklichkeit, – und das heißt zusammengenommen: als geistige Objektivität, als objektiven Geist24. Wie sich im Folgenden noch genauer zeigen wird, heißt das unter anderem, dass der Bezug der einzelnen Personen auf das Gute in der sittlichen Gemeinschaft unmöglich bloß praktisch sein kann, sondern mit Notwendigkeit ein theoretisches Moment aufweist. Weil in ihm die Wirklichkeit der Freiheit besteht, impliziert das so als objektiver Geist gedachte Gute das, was Hegel das „Recht des subjektiven Willens“ nennt: Das Recht des subjektiven Willens ist, dass das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde und dass ihm eine Handlung, als der in die äußerliche Objektivität tretende Zweck, nach seiner Kenntnis

[…] a dynamic system. Any understanding of this condition that it makes sense to hope for must be from within the system. It cannot be a matter of picturing the system’s adjustments to the world from sideways on: that is, with the system circumscribed within a boundary, and the world outside it.“ (McDowell 1996, 34) Vgl. Werke 7, 296 (§ 147, Zusatz). McDowells eigener „minimaler Empirismus“ kann der Wahrheit der Kritik am „Blick von der Seite“ jedoch gerade nicht gerecht werden, wie ich in „Der Mensch als Widerspruch und absolutes Wissen“, 149 ff., zu zeigen versuche. 23  Auch für den besten Fall, heißt das, muss das Gesetz des Guten noch als nötigend gefasst werden können. Die Handlungsgründe, die in diesem Guten liegen, können also unmöglich ursprünglich so begriffen werden, wie etwa McDowell sie für den Fall höchster Tugend beschreibt: „not as outweighing or overriding any reasons for acting in other ways, […] but as silencing them” (McDowell 1998, 55 f.). 24  Vgl. insbesondere Werke 7, 295 (§ 147). Dieser Gedanke lässt sich umgekehrt, und mit Blick auf die Unterscheidung der Philosophie des Geistes von der Wissenschaft der Logik, auch so ausdrücken: Objektivität, realphilosophisch gefasst, ist gar nichts anderes als objektiver Geist.

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von ihrem Werte, den sie in dieser Objektivität hat, als rechtlich oder unrechtlich, gut oder böse, gesetzlich oder ungesetzlich zugerechnet werde. Werke 7, 245 (§ 132)

Als Recht auf Einsicht in das Gute ist dieses Recht so unbedingt, wie das „ich“ der Selbsterkenntnis zunächst völlig formal und das praktische Gesetz entsprechend leer ist. Aber als Recht einer Person auf Einsicht in das Gute, also in das handelnd von ihr zu Verwirklichende, ist dieses Recht das Recht auf Anerkennung der Besonderheit ihrer Person und der damit einhergehenden Schranken ihres Vermögens und ihrer Kenntnis von allem, was zur Objektivität des Guten gehört. In dem in der Idee des Guten selbst gründenden Recht des subjektiven Willens als dieser Einheit von Unbedingtheit und Besonderheit liegt daher zunächst mit Notwendigkeit die „Möglichkeit, […] die Willkür, die eigene Besonderheit, über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein“ (Werke 7, 261 (§ 139)). Und nicht nur das. Im Licht dieser Bestimmung des Bösen als der Erklärung der eigenen Besonderheit zum höchsten Gesetz entpuppt sich der für das praktische Selbstbewusstsein notwendige Kampf am Ursprung der Gemeinschaft rückblickend selbst als Gestalt desselben. Und im Licht der Notwendigkeit eben dieser Konfrontation erweist sich das Böse somit umgekehrt als nicht nur notwendigerweise möglich, sondern als notwendigerweise wirklich25. 25  Vgl. Werke 7, 262 (§ 139). Der Sinn, in dem schon das Kämpfen des Anerkennens eine Gestalt des Bösen ist, ist freilich komplizierter, als ich es hier ausführen kann. Denn zunächst ist dieses Kämpfen, gerade weil es die eigene Besonderheit noch nicht von der Allgemeinheit des wahren Guten unterscheidet, ja als ganz unschuldig zu denken. Erst mit der rückblickenden Einsicht, dass dieser Kampf weder mit dem Tod noch in einem einseitigen Herrschaftsverhältnis enden darf, erkennen die Kämpfenden ihr Kämpfen in seiner Unerbittlichkeit als böse, – was sich gerade darin zeigt, dass sie, in ihrem nunmehr praktischen Gedanken eines gemeinsamen Lebens, diese Unerbittlichkeit gerade als das zu Überwindende zurücknehmen. Abgesehen davon, dass Kant das moralische Böse nicht als einen konstitutiv sozialen Akt denkt – und deshalb letztlich verfehlt –, trifft er den Kern der Sache daher ganz richtig, wenn er in der Religionsschrift erklärt: „[S]o früh wir auch auf unsern sittlichen Zustand unsere Aufmerksamkeit richten mögen, so finden wir: dass mit ihm es nicht mehr res integra ist, sondern wir davon anfangen müssen, das Böse, was schon Platz genommen hat (es aber, ohne dass wir es in unsere Maxime aufgenommen hätten, nicht würde haben tun können), aus seinem Besitz zu vertreiben: d. i. das erste wahre Gute, was der Mensch tun kann, sei, vom Bösen auszugehen, welches nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime und also in der Freiheit selbst zu suchen ist.“ (Kant, AA 6, 6:56*) Hegel affirmiert die Schwierigkeit, die in dieser retrospektiven Selbstanklage liegt, als notwendig und beschreibt sie ganz ähnlich wie Kant: „Der Ursprung des Bösen überhaupt liegt in dem Mysterium, d.i. dem Spekulativen der

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Der hiermit drohende Widerspruch im Guten selbst sowie in der dieses Gute verwirklichenden Subjektivität kann weder durch Preisgabe der Objektivität des Guten noch durch Preisgabe des Rechts des subjektiven Willens aufgelöst werden26. Vielmehr ist das Gute als ein Konkretes zu fassen, in dem die Allgemeinheit mit der Besonderheit der einzelnen Handelnden „ausgeglichen“ ist27. Und das Recht des subjektiven Willens ist daher umgekehrt nicht mehr nur als ein Recht des Subjekts auf Einsicht in das Gute zu fassen, sondern zugleich als eine Pflicht oder Aufgabe. Und weil der Grund dieser Pflicht nur in der Personalität als solcher liegen kann, impliziert sie ein prinzipielles Interesse der einzelnen Person als solcher an ihrer theoretisch-praktischen Bildung28. So, aber auch nur so, ist das Gute „dem Subjekt kein Fremdes“, sondern „sein eigenes Wesen […], in welchem es sein Selbstgefühl hat“ (Werke 7, 295 (§ 147)). Das auf das so verstandene Gute orientierte gemeinschaftliche Leben ist dann genau das, was Hegel Sittlichkeit nennt29. Unsere provisorische Antwort auf die Freiheit, ihrer Notwendigkeit, aus der Natürlichkeit des Willens herauszugehen und gegen sie innerlich zu sein. […] Der Mensch ist daher zugleich sowohl an sich oder von Natur als durch seine Reflexion in sich böse, so dass weder die Natur als solche, d.i. wenn sie nicht Natürlichkeit des in ihrem besonderen Inhalte bleibenden Willens wäre, noch die in sich gehende Reflexion, das Erkennen überhaupt, wenn es sich nicht in jenem Gegensatz hielte, für sich das Böse ist. […] Das einzelne Subjekt als solches hat deswegen schlechthin die Schuld des Bösen.“ (Werke 7, 261 (§ 139)) Zu den kantischen Ursprüngen dieses Gedankens und seiner Bedeutung auch für Hegels Theorie der Sittlichkeit vgl. Gobsch 2014, 188–190. 26  „Mit dieser Seite der Notwendigkeit des Bösen ist ebenso absolut vereinigt, dass dies Böse bestimmt ist als das, was notwendig nicht sein soll, d.i. dass es aufgehoben werden soll, nicht dass jener erste Standpunkt der Entzweiung überhaupt nicht hervortreten solle […], sondern dass nicht auf ihm stehengeblieben und die Besonderheit nicht zum Wesentlichen gegen das Allgemeine festgehalten, dass er sich als nichtig überwunden werde.“ (Werke 7, 262 (§ 139)) 27  „[D]as Konkrete und Wahre (und alles Wahre ist konkret)“, so Hegel grundsätzlich, ist „die Allgemeinheit, welche zum Gegensatze das Besondere hat, das aber durch seine Reflexion in sich mit dem Allgemeinen ausgeglichen ist“ (Werke 7, 55 (§ 7)). 28  Vgl. Werke 7, 345 (§ 187). 29  In der Enzyklopädielogik erläutert Hegel seinen Begriff des Objekts als des dreifachen Schlusses am Beispiel des Staates – eine Erläuterung, die wir umgekehrt auch zur vorläufigen Erhellung des Begriffs der Sittlichkeit heranziehen können: „Wie das Sonnensystem, so ist z. B. im Praktischen der Staat ein System von drei Schlüssen, 1. Der Einzelne (die Person) schließt sich durch seine Besonderheit (die physischen und geistigen Bedürfnisse, was weiter für sich ausgebildet die bürgerliche Gesellschaft gibt) mit dem Allgemeinen (der Gesellschaft, dem Rechte, Gesetz, Regierung) zusammen; 2. ist der Wille, Tätigkeit der Individuen das Vermittelnde, welches den Bedürfnissen an der Gesellschaft, dem Rechte usf. Befriedigung, wie der Gesellschaft, dem Rechte usf. Erfüllung und Verwirklichung gibt; 3. aber ist das Allgemeine (Staat, Regierung, Recht) die substantielle Mitte, in der

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philosophische Frage lautet somit nun noch konkreter: das Philosophieren ist die Tätigkeit eines sittlichen Wesens. Die Sittlichkeit als Gegenwart des Absoluten Die Sittlichkeit ist Objektivität, die im Handeln, in der Selbsterkenntnis also, gewusst wird. Als sittliche, und erst als eine solche, ist die Selbsterkenntnis im vollen Sinne Erkenntnis. In Abschnitt 1.1 hatten wir die Idee der Selbsterkenntnis, die sich dann als die Idee des Handelns entpuppt hatte, eingeführt, um der Wirklichkeit Rechnung zu tragen, die den der Philosophin von innen zugänglichen Bestimmungen zukommen muss, die geeignet sind, sie von der Klarheit abzuhalten, die ihr Streben und Sein als Philosophin definiert. Dort konnte es noch so scheinen, als sei die Handelnde auf eine Wirklichkeit bezogen, die zwar ihre Subjektivität als überhaupt Handelnde übersteigt, die in dieser Subjektivität aber noch ihren letzten Grund hat. Es konnte noch so scheinen, so können wir das ausdrücken, als wäre diese Wirklichkeit bloß Erscheinung. Es konnte noch so scheinen, heißt das, als wäre es möglich, der Idee der praktischen Selbsterkenntnis gerecht zu werden, indem wir die Wirklichkeit, in der wir handeln, mit Korsgaard so beschreiben: [W]ir begreifen die Welt auf eine Weise, die es uns möglich macht, in ihr zu handeln, und unsere Subjektivität als Wesen, die überhaupt handeln, so: Die Notwendigkeit zu entscheiden und zu handeln […] ist unser Los: das einfache, unergründliche Faktum des Menschseins30. Es konnte noch so scheinen, als wäre es möglich, diese beiden Beschreibungen zusammenzuhalten, und dann dem Einwand, dass ihre Verbindung, die den Weltbegriff auf ein bloßes, kontingentes Faktum zurückführt, Gefahr läuft, als Ausdruck eines bloß subjektiv-idealistischen „Blicks von der Seite“

die Individuen und deren Befriedigung ihre erfüllte Realität, Vermittlung und Bestehen haben und erhalten. Jede der Bestimmungen, indem die Vermittlung sie mit dem anderen Extrem zusammenschließt, schließt sich eben darin mit sich selbst zusammen, produziert sich, und diese Produktion ist Selbsterhaltung.“ (Werke 8, 356 (§ 198)) 30  „[W]e conceptualize the world in a way that makes it possible for us to act in it“ (Korsgaard 2009, 89). Und: „The necessity of choosing and acting is […] our plight: the simple inexorable fact of the human condition“ (ebd., 2).

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missverstanden zu werden, dadurch zuvorkommen, dass wir in Abwandlung von Satz 5.62 aus Wittgensteins Tractatus hinzufügen: Was unser Idealismus meint, ist ganz richtig, nur lässt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich; dass die Welt unsere Welt ist, das zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein wir verstehen) die Grenzen unserer Welt bedeuten31. Aber dieser Schein – der Schein eines transzendentalen Idealismus oder eines Quietismus der praktischen oder sittlichen Vernunft, wie wir diese Position nennen könnten – ist nun verflogen. Das Handeln musste sich zum sittlichen Handeln vertiefen, und als solches ist es objektive Selbsterkenntnis: als Klarheit über sich selbst ist es objektive Erkenntnis, und als objektive Erkenntnis ist es Klarheit über sich selbst. Unmöglich kann es so allein in der Subjektivität der Handelnden ihren letzten Grund haben, – ganz unabhängig davon, ob diese Subjektivität im Singular oder im Plural beziehungsweise als monadisch oder als relational gedacht wird, und ganz unabhängig davon, ob sie als dieser Grund ausgesagt wird oder sich in unserem Sagen als solcher bloß irgendwie zeigt oder mitausdrückt. Und das bedeutet, dass wir die Leerheit des praktischen Gesetzes, in der die Wahrheit der Kritik am „Blick von der Seite“ auf die praktische Selbsterkenntnis ihren Grund hat, nicht mehr einfach auf die Formalität des „ich“ zurückführen können. Vielmehr müssen wir die Formalität des „ich“ selbst zusammen mit der Leerheit des praktischen Gesetzes auf einen unbedingten Grund und Ursprung zurückführen, von dem es dann jedenfalls auch richtig sein muss zu sagen, dass er das Ich und damit das Wir der Subjektivität praktischer Erkenntnis unendlich transzendiert und trägt. Von diesem Unbedingten her denkt Hegel das sittliche Gute, wenn er es als den „absolute[n] Endzweck der Welt“ (Werke 7, 243 (§ 129)) charakterisiert32.

31  Im Original heißt es bei Wittgenstein: „Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur lässt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich. Dass die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten.“ 32  Die heute geläufige Erklärung des Gutes, zum Beispiel in der Formulierung Christoph Menkes, „etwas Gutes zu sein, heißt, eine bestimmte Rolle oder einen bestimmten „Status“ in einer Praxis zu haben“ (Menke, „Autonomie und Befreiung“, 680, vgl. Pippin 2008a, 97 ff.) kann daher unmöglich mehr als nur die halbe Wahrheit über das sittliche Gute sein.

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Genau als solches ist das sittliche Gute nun aber auch „realisierte Freiheit“ (ebd.)33. Und das hat Folgen auch für den Freiheitsbegriff selbst. Korsgaard versteht unsere Autonomie im eigentlichen Sinne bloß als die Freiheit, im Handeln selbst zu bestimmen, was das überhaupt-Handeln, das sie als unser Los denkt, für uns je bedeutet, also bloß als Freiheit der Bestimmung einer bestimmten praktischen Identität, während sie unseren Bezug auf das Gesetz des Handelns-überhaupt nicht als eigentlich frei versteht, sondern als autonom nur in dem Sinne, dass dieses Gesetz, das wir im Handeln verwirklichen, uns selbst, als unser Los aber eben, ausmacht34. Und die dem wittgensteinianischen Vorwurf des „Blicks von der Seite“ gegenüber sensibilisierte Transzendentalphilosophin oder Quietistin fasst dieses Verständnis der Freiheit dann näher als eines, das sich in unserem Handeln und Sagen nur zeigt. In Wahrheit aber muss sich die Freiheit, in der wir handeln, wesentlich auch auf das überhaupt-Handeln selbst erstrecken. Hegel erklärt daher: Das Wesen des Geistes ist […] formell die Freiheit […]. Nach dieser formellen Bestimmung kann er von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst abstrahieren; er kann die Negation seiner individuellen Unmittelbarkeit, den unendlichen Schmerz ertragen. Werke 10, 25 f. (§ 382)35

Die Freiheit, als das Wesen, das wir im Handeln verwirklichen und erhalten, ist definiert als das Vermögen auch der Negation unseres Daseins als Handelnde36. 33  Vgl.: „Die Sittlichkeit ist […] der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewusstseins gewordene Begriff der Freiheit.“ (Werke 7, 292 (§ 142)) 34  „So we choose the principles of our own causality, and in doing so we constitute our identities as individual human agents. This doesn’t mean, of course, that we choose the hypothetical and categorical imperatives themselves. The Kantian imperatives are principles that instruct us in how to formulate our maxims; autonomy and efficacy set standards for the form of our maxims. It is because for us constructing the will is in this way a task, that for us the standards of efficacy and autonomy take imperative form.“ (Korsgaard 2009, 131) Fälschlicherweise wird dieser Konstitutivismus oder Expressivismus oft auch Hegel und den anderen deutschen Idealisten zugeschrieben. Vgl. z.B. Taylor 1978, 28 ff. sowie Pinkard 2007, 210; vgl. auch Rödl 2007, 117 f. 35  Von hier her ist dann auch erst Hegels positive Bestimmung des freien Willens zu verstehen: „[D]er abstrakte Begriff der Idee des Willens ist überhaupt der freie Wille, der den freien Willen will“ (Werke 7, 79 (§ 27)). 36  Man könnte versuchen einzuwenden, dass auch eine Konstitutivistin wie Korsgaard der Tatsache Rechnung tragen kann, dass die Freiheit der menschlichen Selbstkonstitution

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Aber das Dasein der Freiheit besteht in unserer Existenz als sittliche Wesen, und die Sittlichkeit ist als solche Bedingung der Möglichkeit des Handelns und damit der Freiheit. Deshalb kann dieses Dasein dem Wesen des Geistes, der Freiheit, unmöglich gleichgültig sein. Und die Negation des Daseins dieses Wesens ist daher notwendigerweise, wie Hegel das ausdrückt, „unendlicher Schmerz“. Die Sittlichkeit, aber heißt das zusammengenommen, muss die Wirklichkeit der Erhaltung ihrer selbst gerade als des Vermögens ihrer eigenen Negation sein. Der Grund und Ursprung, auf den die Formalität des „ich“ und die Leerheit des praktischen Gesetzes zurückzuführen ist, ist daher in eins als das die Subjektivität transzendierende Absolute zu denken und als wesentlich in der Selbsterhaltung dieser Subjektivität verwirklicht. Hegel drückt das so aus: Die Sittlichkeit ist der göttliche Geist als inwohnend dem Selbstbe­ wusstsein in dessen wirklicher Gegenwart als eines Volkes und der Individuen desselben […]; es kann nicht zweierlei Gewissen, ein religiöses und ein dem Gehalte und Inhalte nach davon verschiedenes sittliches, geben. Werke 8, 355 f. (§ 198)37

faktisch die Möglichkeit der Selbsttötung beinhaltet. Das ist richtig. Entscheidend ist allerdings, dass sie als Konstitutivistin nicht zugeben kann, dass wir die Freiheit im selbstkonstitutiven Handeln wesentlich als diese Möglichkeit erhalten. Sie kann, heißt das, die Möglichkeit der Selbsttötung nur als das Vermögen zu Weisen des Handelns denken, die als Ursachen äußerlich mit dem eigenen Tod als Wirkung verknüpft sind, so dass es dem Gesetz der Freiheit als solchem keinen Abbruch täte, wenn diese Verknüpfung nicht bestände. Der Gedanke, dass es gerade in der Definition des Geistes und damit im praktischen Gesetz selbst liegt, das Vermögen der Negation des eigenen Daseins zu sein, ist dem Konstitutivismus verschlossen. (Dass auch Kant selbst kein Korsgaardianer ist, zeigt sich unter anderem darin, dass er das praktische Gesetz, das Gesetz unseres Willens, zugleich als das Gesetz auch des göttlichen – und darin nichtsubjektiven und außerweltlichen – Willens denkt, und in der Folge dann unseren eigenen Willen, für den dieses Gesetz imperativischen Charakter hat, als notwendigerweise unvollkommen (z.B. Kant, AA 4, 414). Korsgaard kritisiert diese Konsequenz (z.B. in Korsgaard 2008, 51 f.). In ihrer Kritik übersieht sie aber eben gerade die Einsicht, die Kant hier bewegt.). 37  Die Idee hegelscher Sittlichkeit ist nicht die Idee einer geschlossenen Theokratie, als die sie im Lichte allein dieses Zitats womöglich erscheinen mag. So ist es den Institutionen einer sittlichen Gemeinschaft in dem oben bestimmten Sinne wesentlich, auch die Einsicht in die Endlichkeit derselben und der sie verkörpernden Personen zu manifestieren: zur Institution der Ehe als solcher zum Beispiel gehört auch die Möglichkeit der Scheidung (Werke 7, 324 (§ 172)), die Rechtsprechung enthält die Möglichkeit der Revision (vgl. Gans, Naturrecht und Universalgeschichte, 178), das Verhältnis der Verfassungsorgane zu einander ist insgesamt von einer Gestalt der Idee der „checks and balances“ geprägt

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Die Philosophie

Philosophie als Selbsterkenntnis Wenn die Sittlichkeit die Gegenwart des Absoluten selbst ist, dann wird die Bestimmtheit, die der Sittlichkeit eignet, da in ihr, als konkret, die Allgemeinheit mit der Besonderheit wirklicher Einzelner „ausgeglichen“ sein muss, die Bestimmtheit des Absoluten selbst sein38. Im Falle des sittlichen Guten, heißt das, lässt sich zwischen Form und Inhalt nicht so unterscheiden, dass sich sagen ließe – oder dass es sich zeigen könnte –, dass zwar die Existenz von irgendeinem sittlichen Guten notwendig sei, die bestimmte Gestalt des Guten der eigenen Sittlichkeit demgegenüber aber kontingent bleibe39. Nein, die Form der Sittlichkeit zu charakterisieren, heißt, die eigene Sittlichkeit zu beschreiben. Und die eigene Sittlichkeit zu beschreiben, heißt, sie als absolut notwendig zu präsentieren. Kurz, die Sittlichkeit macht es unmöglich, Metaethik und Ethik von einander zu trennen. Daraus folgt, dass es auch unmöglich ist, ein von dem Guten der eigenen Sittlichkeit getrenntes höheres Gutes auch nur zu denken, dass also, umgekehrt, Gedanken zur sittlichen Verbesserung nur als praktische oder politische Vorschläge zur Auflösung konkreter Spannungen in der Wirklichkeit der eigenen Sittlichkeit möglich sind: dass Utopie, wörtlich genommen, Unsinn ist. Und aus demselben Grund können im Falle des sittlichen Guten auch Möglichkeit und Wirklichkeit nicht auseinandergerissen werden. Die Sittlichkeit ist Geist im vollen hegelschen Sinne: ihre „Möglichkeit ist […] unendliche, absolute Wirklichkeit“ (Werke 10, 27 (§ 383)). Das hat Folgen für den Begriff der Philosophie. Denn in der Beschreibung der eigenen Sittlichkeit, die ja nur als Selbsterkenntnis möglich ist, habe ich eine Antwort auf die Frage, wer ich bin, die notwendigerweise, für mich selbst, identisch ist mit der Antwort auf die Frage, was es heißt, überhaupt fähig zu sein, so zu fragen. Also habe ich in der Beschreibung der eigenen Sittlichkeit eine genuine Antwort auf die ausgezeichnete philosophische Frage: „Wer bin ich, insofern ich überhaupt fähig bin zu fragen, wer ich bin?“. Unsere (z.B. Werke 7, 481 (§ 312)), und so weiter. Und dass die Sittlichkeit Objektivität und damit Gegenwart des Absoluten ist, bedeutet für Hegels Bestimmung der Sittlichkeit als „des Geistes eines Volkes“ gerade, dass ein solcher „Volksgeist“ wesentlich nur als Erhaltung des Verhältnisses zu den anderen „Volksgeistern“ möglich ist (Werke 7, 497 ff. (§330 ff.)). 38  Die Besonderheiten, die der Sittlichkeit als einem Konkreten intern sind, sind insofern wesentlich „ideell“ im hegelschen Sinne: „das Ideelle ist das Endliche, wie es im wahrhaften Unendlichen ist, – als eine Bestimmung, Inhalt, der unterschieden, aber nicht selbständig seiend, sondern als Moment ist.“ (GW 21, 137) 39  Korsgaard hingegen hält genau das für möglich. Vgl. Korsgaard 2009, 23, vgl. 2n2, sowie Korsgaard 1996, 120–30 und 251–258.

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bisherigen Bestimmungen des Philosophierens konnten noch als provisorische Antworten auf diese Frage erscheinen, da sie ja zunächst nur als Aussagen darüber vorgebracht werden konnten, was ich, da mein Philosophieren ein Fragen ist, außerdem noch sein muss; – kontingent bestimmt, handelnd, selbstbestimmt, sollend und in Gemeinschaft mit anderen. In der Beschreibung der eigenen Sittlichkeit aber habe ich eine Antwort auf die Frage, wer ich bin, über die hinaus es keine getrennte Antwort auf die Frage nach dem Vermögen geben kann, überhaupt so zu fragen. Deshalb ist diese Beschreibung nicht mehr nur eine Bestimmung des Philosophierens als des Bemühens um die mit der ausgezeichneten philosophischen Frage anvisierte Klarheit, sondern eine Bestimmung genau dieser Klarheit, der Weisheit, selbst: eine Bestimmung der Philosophie40. Die Philosophie ist Beschreibung der eigenen Sittlichkeit, – mithin, unter anderem und zunächst, Metaethik und Ethik in einem. Damit ist nun auch die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status der im Philosophieren angestrebten Klarheit beantwortet. Weil die Beschreibung der eigenen Sittlichkeit Erkenntnis ist, objektive Selbsterkenntnis, muss die Philosophie Erkenntnis sein. Die bei der philosophischen Frage zu erreichende Klarheit liegt also unmöglich bloß in der Einsicht, dass den Fragenden eine Antwort unmöglich ist, oder dass sie es mit einer bloßen Scheinfrage zu tun haben. Philosophie als Dialektik und Versöhnung Die Philosophie ist sittliche Selbsterkenntnis. Als Beschreibung der eigenen Sittlichkeit ist sie, wie wir sagen könnten, die Durchsichtigkeit der Sittlichkeit für sich selbst. Aber ist die Philosophie tatsächlich nichts weiter als das? Sie würde dann in ihrem Charakter als Erkenntnis so wenig über die Sittlichkeit hinausgehen, wie sie in ihrem Charakter als Erkenntnis über die Naturwissenschaft hinausginge, wenn der Naturalismus wahr wäre. Aber das ist unmöglich; denn die Sittlichkeit ist ein Widerspruch in sich selbst; und die Philosophie kann nur dann mit diesem Widerspruch versöhnen, wenn sie in ihrem Erkenntnischarakter über die sittliche Selbsterkenntnis hinausgeht; – das jedenfalls sollen die folgenden Überlegungen zeigen. Die Sittlichkeit ist Objektivität. Als solche ist sie eine Wirklichkeit, deren Grund und Ursprung zugleich in unserer Subjektivität als überhaupt Handelnde und in dem diese Subjektivität transzendierenden Absoluten liegen muss. Diese Nichtidentität im Grund und Ursprung der Sittlichkeit, und damit in ihr selbst, impliziert, wie wir gesehen hatten, dass die Sittlichkeit 40  Rückblickend nimmt das dann auch unseren provisorischen Antworten auf die philosophische Frage ihren provisorischen Charakter.

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zwar einerseits die Tätigkeit der Erhaltung der Existenz ihrer Glieder als der Wirklichkeit der Freiheit ist, dass diese Freiheit aber andererseits zugleich als das Vermögen der Negation dieser Existenz zu definieren ist. Wie wir aber weiter auch gesehen hatten, kann sich die Freiheit nicht in dem bloßen Vermögen zu dieser Negation erschöpfen, sondern hat in dem für das Selbstbewusstsein, und damit für die Freiheit selbst, unentbehrlichen Bösen zugleich ein notwendiges Moment der wirklich auf diese Negation gerichteten Tätigkeit. Die Sittlichkeit, aber heißt das, ist in eins eine Tätigkeit der Selbsterhaltung und der Selbstzerstörung. Das ist ihr Widerspruch41. Die Wirklichkeit des sittlichen Lebens offenbart diesen Widerspruch zum Beispiel im antinomischen Charakter der Bildung. Als zur Sittlichkeit gehörig ist Bildung, wie wir gesehen hatten, ein „immanentes Moment des Absoluten“ und hat, als solche, „unendlichen Wert“ (Werke 7, 345 (§ 187)). Bildung ist der Prozess, der die Einzelnen zur Einsicht in das konkrete Allgemeine ihrer Sittlichkeit bringt42. Die Bildung hat so in diesem konkreten Allgemeinen ihren Maßstab und ihr Ziel – das als Ziel einer sittlichkeitsinternen Tätigkeit unmöglich unerreichbar bleiben kann. Aber als Konsequenz des Rechts des subjektiven Willens ist das Interesse der einzelnen Personen an ihrer Bildung zugleich wesentlich praktisches Eigeninteresse. Und weil das praktische Eigeninteresse, wie wir gesehen hatten, als solches nur auch gegen die anderen Personen gedacht werden kann, ist es wesentlich auch ein Interesse am eigenen Vorteil gegenüber ihnen. Daher sind Wettbewerb und Innovation der Idee der Bildung intern. Aber weil in der Sittlichkeit als Konkretem die Allgemeinheit mit der Besonderheit der einzelnen Handelnden immer wieder „auszugleichen“ ist, müssen die Entdeckungen und Erfindungen, mit denen 41  Korsgaard diskutiert ebenfalls die prima facie Möglichkeit eines Widerspruchs in der Idee der praktischen Vernunft selbst, das sogenannte „Paradox der Selbstkonstitution“ (siehe Korsgaard 2009, 20, und vgl. Pinkard 2002, 59 und 226). Aber für sie besteht dieser Widerspruch bloß zum Schein. Denn sie identifiziert die Form des Gesetzes des Handelns überhaupt zunächst mit der Form eines Gesetzes auch bloß animalischer Selbsterhaltung. Die Idee des Selbstbewusstseins ist für sie nur eine dialektisch folgenlose Modifikation dieses allgemeinen Begriffs der Selbsterhaltung (Korsgaard 2009, 41 ff.). Dieser Irrtum ist Korsgaard möglich, weil sie es versäumt, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Selbstbewusstsein und Nötigung zu fragen, und ihr so die konstitutive Bedeutung des Kampfes der Anerkennung und der Notwendigkeit des Bösen entgeht. Aus Hegels Begriff der Sittlichkeit folgt, dass das „Paradox der Selbstkonstitution“ nicht auf diese Weise aufgelöst werden kann. 42  „Bildung ist so die Glättung der Besonderheit, daß sie sich nach der Natur der Sache benimmt“; „[d]ie wahre Originalität verlangt, als die Sache hervorbringend, wahre Bildung“ (Werke 7, 345 (§ 187)).

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Einzelne sich in diesem Wettbewerb Vorteile verschaffen, sowie die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die damit verbunden sind, wieder das allgemeine Ziel der Bildung für alle mitbestimmen – und es damit immer wieder weiter hinausschieben. Bildung, aber heißt das, ist ein Prozess, der die Einzelnen an ein Ziel bringen muss, das sich gerade durch diesen Prozess diesem Prozess selbst entzieht. Hegel diskutiert die rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Dimensionen dieses Widerspruchs unter dem Titel der bürgerlichen Gesellschaft43. In Hegels Theorie des objektiven Geistes ist die bürgerliche Gesellschaft die Sittlichkeit als diejenige Sphäre, in der die Einzelnen, als die sittlichen Wesen, die sie qua Familienmitglieder sind, sich in ihrer Besonderheit auf einander beziehen. Und als Staat ist die Sittlichkeit das konkrete, mit dieser Besonderheit der einzelnen Handelnden, für dieselben, vermittelte Allgemeine. Aber auch als Staat behält die Sittlichkeit so ihren Widerspruch. Die Sittlichkeit als Staat zu begreifen, heißt nicht, ihren Widerspruch aufzulösen, sondern seine Objektivität zu denken. Immer beruht die Widersprüchlichkeit der Sittlichkeit darauf, dass sie eine Wirklichkeit ist, deren Grund und Ursprung zugleich in unserer Subjektivität als überhaupt Handelnde und in dem diese Subjektivität transzendierenden Absoluten liegen muss. Hegel beschreibt die Manifestation des so gefassten Widerspruchs des Staates als Weltgeschichte. In der Weltgeschichte beweist die Sittlichkeit ihre Endlichkeit:

43   Die Bildung, erklärt Hegel, ist der ideelle, der eigentliche Sinn der bürgerlichen Gesellschaft (Werke 7, 343 (§ 187)). Er entfaltet die rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Dimensionen des Widerspruchs der Bildung vor dem Hintergrund der Institution des Privateigentums, die er zunächst, unter dem Titel des „Abstrakten Rechts“, als wesentliches Moment des Daseins der Freiheit ausweist (ebd., 102 ff.). Faktisch ist Hegels Darstellung der „Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft“ (ebd., 390) damit eine Erläuterung der Widersprüchlichkeit des Kapitalismus als eines „immanenten Moments des Absoluten“. Hegels Diskussion der wirtschaftlichen und politischen Dimensionen dieser Widersprüchlichkeit mündet in seine beeindruckend hellsichtige Analyse des Problems der Armut, der Entstehung des „Pöbels“, und seiner Konsequenzen bis hin zum Kolonialismus (ebd., 386–393). Die rechtliche Dimension dieses Widerspruchs diskutiert Hegel als die „Antinomie des öffentlichen Gesetzbuchs“ (ebd., 368 f.). Zwar muss die bürgerliche Gesellschaft, als die Sphäre der Sittlichkeit, die sie ist, auch Institutionen hervorbringen, die auf dieses Problem reagieren: Polizei und Korporation (ebd., 382 ff.). Aber diese Institutionen können das Problem nicht lösen (das wird besonders deutlich in ebd., 390 f.); ihre Notwendigkeit macht vielmehr deutlich, dass es sich bei diesem Problem tatsächlich um eine Gestalt des Widerspruchs der Sittlichkeit selbst handelt.

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Wenn wir von den Dingen sagen, sie sind endlich, so wird darunter verstanden, […] dass vielmehr das Nichtsein ihre Natur, ihr Sein, ausmacht. […] Das Endliche […] vergeht, und es ist nicht bloß möglich, dass es vergeht, so dass es sein könnte, ohne zu vergehen. […] [D]ie Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes. GW 21, 11644

Der Widerspruch der Sittlichkeit kann sittlich, praktisch oder politisch nicht aufgelöst werden. Er ist die Sittlichkeit selbst. Dieser Widerspruch ist daher notwendigerweise auch für die Philosophie, in der sich die Sittlichkeit selbst durchsichtig ist. Ist die Philosophie also letztlich nichts weiter als skeptische Verzweiflung angesichts des Widerspruchs der Sittlichkeit? Oder können wir uns in ihr mit demselben versöhnen? Der Widerspruch ist der Inbegriff dessen, was nicht sein soll. Mit einem notwendigerweise wirklichen Widerspruch zu versöhnen, kann daher nur heißen, seine Notwendigkeit einzusehen. Und das kann nur heißen, seine Wirklichkeit auf denselben Grund zurückzuführen, aus dem er überhaupt ein Widerspruch ist. Mit dem Gang der bisherigen Überlegungen, dem Gang der Philosophie, aber ist dies bereits geleistet, – oder genauer: es ist der erste Schritt dazu bereits getan. Denn die hier erreichte Bestimmung der Sittlichkeit war ja das Ergebnis einer Überlegung, die ihren Ausgang bei der Frage nach der Möglichkeit der philosophischen Klarheit über sich selbst genommen hatte. Es ist also diese Klarheit über sich selbst, die die Wirklichkeit der in sich widersprüchlichen Sittlichkeit verlangt. Zugleich aber ist die philosophische Klarheit über sich selbst auch der Grund, aus dem die Sittlichkeit überhaupt ein Widerspruch ist. Denn der Widerspruch der Sittlichkeit beruht ja auf ihrem Charakter als Selbsterkenntnis, der unserer Überlegung zufolge darauf fußt, dass das Philosophieren als Klarheit auch über seinen eigenen Fragecharakter die Identität des Ich der Philosophin mit dem Ich kontingenter Bestimmungen verlangt. Die Philosophie, die Durchsichtigkeit der Sittlichkeit für sich selbst, heißt das, ist bereits Versöhnung mit dem Widerspruch der Sittlichkeit, den sie selbst, in ihrem Fragecharakter, notwendig macht. Mit Hegel ist deshalb zu sagen:

44  Hieraus erklärt sich dann auch, warum Hegel die philosophische Idee der Sittlichkeit streng von der Idee der Heiligkeit, der Auffassung der Gegenwart des Absoluten im Endlichen als dem Dasein von gewissermaßen ‚ent-endlichtem Endlichen‘, unterscheidet: „[D]urch das Sicheinführen des göttlichen Geistes in die Wirklichkeit, die Befreiung der Wirklichkeit zu ihm, wird das, was in der Welt Heiligkeit sein soll, durch die Sittlichkeit verdrängt.“ (Werke 7, 358 (§ 552))

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Die Philosophie ist […] die Versöhnung des Verderbens, das der Gedanke angefangen hat. (Werke 18, 71 f.) Die Bewegung, welche die Philosophie ist, findet sich schon vollbracht, indem sie am Schluss ihren eigenen Begriff erfasst, d.i. nur auf ihr Wissen zurücksieht. Werke 10, 379 (§ 573)

Aber die Sittlichkeit ist die Gegenwart des Absoluten. Die Philosophie kann sich deshalb – anders als dieser Text – nicht darauf beschränken, die Notwendigkeit der in sich widersprüchlichen Sittlichkeit allein für die philosophische Klarheit selbst aufzuzeigen. Sondern sie ist – wie dieser Text allerdings gerade impliziert – darauf verpflichtet, die Notwendigkeit der in sich widersprüchlichen Sittlichkeit, in ihrem Charakter als Notwendigkeit für die philosophische Klarheit, als unbedingte Notwendigkeit ausweisen. Deshalb ist die Philosophie nur als Dialektik, als Aufweis und Aufhebung unbedingt notwendiger Widersprüche, möglich. Und deshalb muss sie sich in ihrem Erkenntnischarakter von der Sittlichkeit unterscheiden. Die Sittlichkeit ist die Gegenwart des Absoluten. Die praktische Selbsterkenntnis, als die allein sie zunächst begegnet war, ist daher zwar Erkenntnis des Absoluten, weshalb es eben, wie Hegel sich ausdrückt, „nicht zweierlei Gewissen, ein religiöses und ein dem Gehalte und Inhalte nach davon verschiedenes sittliches, geben“ kann. Aber erst die Philosophie, als Erkenntnis der absoluten Notwendigkeit der Widersprüchlichkeit unter anderem der Sittlichkeit, ist Selbsterkenntnis, die in eins Erkenntnis des Absoluten als des Absoluten ist. Die Philosophie ist Versöhnung, indem sie das Verderben des endlichen Geistes, in dem sie ihre Zeit hat, und damit sich selbst, als unbedingt notwendig erkennt. Und das ist der Grund, warum Hegel die Selbsterkenntnis, die wir philosophierend erlangen, zugleich als „Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen“ und als Erkenntnis „des Wahrhaften an und für sich“ (Werke 10, 9 (§ 377)) beschreibt45. Hegels philosophische Strategie besteht deshalb darin, die skeptische Verzweiflung, in der das philosophische Bewusstsein des Widerspruchs der Sittlichkeit zunächst besteht, als Erkenntnis auszuweisen – und so zu überwinden –, indem er sie zur Einheit eines Systems bringt, das, kraft seiner 45   Damit kommt eine Asymmetrie in die Identität von „religiösem“ und „sittlichem Gewissen“: „Die Sittlichkeit ist [zwar] der göttliche Geist als innewohnend dem Selbstbewusstsein in dessen wirklicher Gegenwart als eines Volkes und der Individuen desselben […]. Aber der Form nach, d.i. für das Denken und Wissen [… , ] kommt dem religiösen Inhalte, als der reinen an und für sich seienden, also höchsten Wahrheit, die Sanktionierung der in empirischer Wirklichkeit stehenden Sittlichkeit zu; so ist die Religion für das Selbstbewusstsein die Basis der Sittlichkeit und des Staates.“ (Werke 10, 355 (§ 552))

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Vollständigkeit, das absolute Wissen konstituiert, das das Absolute, als solches, von sich selbst hat46. In diesem System schließen sich drei Gedankengänge zusammen. Die Logik entwickelt die Idee des Absoluten selbst: die „Idee an und für sich“ (Werke 8, 63 (§ 18))47. Das, was den endlichen Geist, der in der Sittlichkeit wirklich ist, vom Absoluten unterscheidet, ist die Natürlichkeit seiner Subjekte, wie wir in Abschnitt 1.1 gesehen hatten. Nun wäre das Absolute jedoch durch ein ihm Äußerliches bestimmt, bedingt also, endlich und gerade nicht absolut, wenn diese Unterscheidung nicht von ihm selbst käme. Also muss die Natur, das Unterscheidende, selbst absolut sein48. Dementsprechend entwickelt die hegelsche Naturphilosophie die Idee der Natur als die „Idee in ihrem Anderssein“ (Werke 8, 63 (§ 18)). Die Philosophie des Geistes schließlich beschreibt, wie das Absolute im Menschen, als dem Geist, der „aus der Natur kommt“ (Werke 10, 17 (§ 381)) und sich als solcher erkennt, zum Wissen von sich selbst gelangt. Hier wird erklärt, was es heißt, und was – wie eben zum Beispiel die Sittlichkeit – dazu gehört, dass der Mensch in der Philosophie den Skeptizismus, die Anerkennung der eigenen Widersprüchlichkeit, „vollbringt“ und so, in sich, die Identität der Natur, als des ihn vom Absoluten Unterscheidenden, mit dem Absoluten erkennt. Die Philosophie des Geistes beschreibt dann den Geist als „Idee, die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt“ (Werke 8, 64 (§ 18))49. So will Hegel zeigen, dass sich im Vergehen der Sittlichkeit aus sich selbst heraus gerade ihre eigene Unendlichkeit zeigt, und dass das Absolute nur eben darin absolut ist, dass es als diese Unendlichkeit im vergehenden Endlichen seine Gegenwart hat:

46   „Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewusstsein im Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sichwissen des Menschen in Gott.“ (Werke 10, 374 (§ 564)) 47  Vgl.: „Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, dass dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“ (GW 21, 44) 48  „[I]n der absoluten Wahrheit ihrer selbst […] entschließt [sich die Idee], […] sich. als Natur frei aus sich zu entlassen“ (Werke 8, 393 (§ 244)). 49  Vgl.: „Die Philosophie […] [erfasst] am Schluss ihren eigenen Begriff“ (Werke 10, 379 (§ 573)); „[d]ieser Begriff der Philosophie ist die sich denkende Idee, […] das Logische mit der Bedeutung, dass es die im konkreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist. Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren Anfang zurückgegangen, und das Logische so ihr Resultat.“ (ebd., 393 (§ 574)) Sich denkende Idee, Geist, zu sein, ist dem Absoluten intern: „Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten.“ (Werke 10, 29 f. (§ 384))

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Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besonderen Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abstreift, erfasst seine konkrete Allgemeinheit und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich ist und die Notwendigkeit, Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind. Werke 10, 353 (§ 552)50

Philosophieren als Sterben und die Versöhnung in der ideellen Welt Die Philosophie, als Einsicht in die unbedingte Notwendigkeit der Widersprüchlichkeit – unter anderem – der Sittlichkeit, ist Selbsterkenntnis des Absoluten als des Absoluten. Als solche geht sie in ihrem Charakter als Erkenntnis über die Sittlichkeit hinaus. Und nicht nur das. Die Einsicht in die absolute Notwendigkeit der Widersprüchlichkeit der Sittlichkeit ist eine Einsicht, die eine Rückkehr in die Sittlichkeit unmöglich macht. Denn mit dieser Einsicht erkennt die Philosophin Spannungen, die sich innerhalb der Sittlichkeit, also ethisch, praktisch, politisch, nicht mehr auflösen lassen, als solche. Mit dieser Einsicht ist es ihr daher unmöglich, die Sittlichkeit noch als ihr bleibendes Wesen zu fassen. Ja schon das Bedürfnis nach dieser Einsicht, das Bedürfnis nach Rechtfertigung der Sittlichkeit, kann, weil es das Bedürfnis nach Versöhnung mit dem wirklichen Widerspruch ist, nur aufkommen, wenn die Einheit von Innerem und Äußerem, die die Sittlichkeit ist, spürbar – und zwar allgemein spürbar – zerbrochen ist, wenn die Welt, die die Sittlichkeit ist, uns fremd geworden ist. Und so ist auch die Versöhnung in der Philosophie unmöglich Versöhnung in der sittlichen Welt: Man kann sagen, wo ein Volk aus seinem konkreten Leben überhaupt heraus ist, Trennung und Unterschied der Stände entstanden ist und das Volk sich seinem Untergange nähert, wo ein Bruch eingetreten ist zwischen dem inneren Streben und der äußeren Wirklichkeit, die bisherige 50  Hegel beschreibt die abstrakteste logische Form dieses Verhältnisses unter dem Titel der „wahren Unendlichkeit“ in der Seinslehre: „Das Endliche wird nicht vom Unendlichen als einer außer ihm vorhandenen Macht aufgehoben, sondern es ist seine Unendlichkeit, sich selbst aufzuheben.“ (GW 21, 133) „Dieses Unendliche als In-sich-Zurückgekehrtsein, Beziehung seiner auf sich selbst, […] ist, und ist da, präsent, gegenwärtig.“ (ebd., 136) Der dreifache Schluss, als der sich Hegels enzyklopädisches System aus Logik, Philosophie der Natur und Philosophie des Geistes letztlich erweist (Werke 10, 393 f. (§ 575)), ist die entwickeltste Gestalt, die der Gedanke der „wahren Unendlichkeit“ bei Hegel annimmt.

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Gestalt der Religion usw. nicht mehr genügt, der Geist Gleichgültigkeit an seiner lebendigen Existenz kundgibt oder unbefriedigt in derselben weilt, ein sittliches Leben sich auflöst, – erst dann wird philosophiert. […] Die Philosophie fängt an mit dem Untergange einer reellen Welt. […] [U]nd es ist ihre Versöhnung eine Versöhnung nicht in der Wirklichkeit, sondern in der ideellen Welt. Werke 18, 71 f.

Deshalb und in diesem Sinne „[beginnt] die Eule der Minerva […] erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“51. Und deshalb gilt, dass die Philosophie in ihrem Erkenntnischarakter über die Selbstdurchsichtigkeit der Sittlichkeit, die sie zunächst ist, so hinausgeht, dass vor der Versöhnung mit ihrem Widerspruch im Ideellen vollständige Durchsichtigkeit der eigenen Sittlichkeit unmöglich ist, – weshalb es einen Sinn geben muss, in dem „der sittliche Mensch […] sich unbewusst“ bleibt (Werke 7, 294 (§ 144, Zusatz)). Und die „ideelle Welt“, in der die Philosophie Versöhnung ist, ist keine Welt, in der es sich als ein bestimmtes Subjekt, als dieses Ich, leben ließe. Das Leben der Philosophin ist ihre Personalität, ihr Sein in der Sittlichkeit. So ist Leben Sein in der reellen Welt. Es gibt kein höheres Leben für die Philosophin. Und die Philosophie ist ganz gewiss kein solches. Denn die Philosophie ist sittliche Selbsterkenntnis. Die Philosophin hat nicht neben ihrem Sein als ein sittliches Wesen auch noch Sein als Philosophin, sondern sie ist, wie wir in Abschnitt 2.1 gesehen hatten, als Philosophin sittliches Wesen und umgekehrt. Deshalb gilt: Jede Philosophie […] gehört ihrer Zeit an und ist in ihrer Beschränktheit befangen. […] Derselbe allgemeine Geist ist es, der von der Philosophie denkend erfasst wird; sie ist sein Denken seiner selbst und ist somit sein bestimmter substantieller Inhalt. Jede Philosophie ist Philosophie ihrer Zeit. Werke 18, 65

51  „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, dass erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfasst, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Werke 7, 27 f.)

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Die Philosophie, heißt das, ist gewissermaßen in eins sittlichkeitsimmanent und sittlichkeitstranszendent: Selbstdurchsichtigkeit des sittlichen Lebens und, im Sterben desselben aus sich selbst heraus, über das sittliche Leben hinaus. Wie geht das zusammen? Nur so: Das Philosophieren ist wesentlich auch selbst das Sterben, aus sich heraus, der Sittlichkeit, in der die Philosophie ihre Zeit und die Philosophin ihr Leben als ein bestimmtes denkendes Wesen hat; das Philosophieren ist dieses Sterben als seine Rechtfertigung. Diese Charakterisierung der Tätigkeit des Philosophierens von innerhalb desselben ist nicht die Behauptung, dass die vollendete Philosophie den natürlichen Tod der Philosophin bedeutet. Denn im Menschen bilden Denken und Natur eine konkrete Einheit, keine einfache Identität: sie bleiben in dieser Einheit noch unterscheidbar52. Dass Philosophieren Sterben ist, heißt auch nicht, dass nach dem Ende einer Sittlichkeit kein neues sittliches Leben möglich wäre. Dass Philosophieren Sterben ist, meint, dass die Philosophie eine Tätigkeit ist, die, für sich, gerade nicht auf dieses oder auf ein neues sittliches Leben, auf das Gute in irgendeinem Sinne, orientiert sein kann. Dass das Philosophieren Sterben ist, meint, dass es, als die Tätigkeit der Erkenntnis des Verderbens des endlichen Geistes der eigenen Zeit als der Gegenwart des Absoluten, dieses Sterben mitvollzieht und vertieft: dass die Philosophin in dieser Tätigkeit, in eins mit dem Geist ihrer Zeit, ihre „eigene Weltlichkeit abstreift“ (Werke 10, 353 (§ 552)) und als „Ich in dieser Einzelheit in der Tat und Wirklichkeit Verzicht auf sich tut“ (Werke 16, 186). Das Philosophieren ist somit im höchsten Maße diejenige „Tätigkeit der denkenden Vernunft und des vernünftig Denkenden, sich als Einzelner als das Allgemeine zu setzen und, sich als Einzelnen aufhebend, sein wahrhaftes Selbst als das Allgemeine zu finden“ (Werke 16, 186). Es ist erhellend, diese Konklusion mit dem Philosophiebegriff zu kontrastieren, den Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen artikuliert. Sittlichkeit als solche ist nicht Wittgensteins Thema. Aber wir können das, was er über das Verhältnis der Philosophie zu unserem gewöhnlichen Sprachgebrauch sagt, als Erläuterung eines Moments von Hegels Gedanken der Sittlichkeitsimmanenz der Philosophie verstehen:

52  Aufgrund dieser Unterscheidung ist möglich, was in Abschnitt 1.1 als notwendig behauptet wurde: dass die Philosophin, auch nach dem Abschütteln von Bestimmungen, die der angestrebten philosophischen Klarheit hinderlich sind, noch Subjekt kontingenter Bestimmungen bleibt.

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Wir wollen nicht das Regelsystem für die Verwendung unserer Worte in unerhörter Weise verfeinern oder vervollständigen. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 13353

Anders als Hegel aber denkt Wittgenstein nicht in eins damit auch die Sittlichkeitstranszendenz der Philosophie. Für ihn geht die Philosophie in ihrem Erkenntnischarakter deshalb nicht über das Leben hinaus: Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 25554

Für Wittgenstein kann es daher auch kein Maß für die Vollständigkeit der Klarheit geben, die wir im Philosophieren anstreben; die Idee einer solchen Vollständigkeit ist für ihn so widersinnig wie die Idee einer vollständigen Liste aller möglichen Krankheiten: [D]ie Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, dass die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen. Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das 53  Hegel stimmt dem nicht bloß zu; er ist, könnte man sagen, der noch viel konsequentere „ordinary language philosopher“ als Wittgenstein. „Die Denkformen“, so auch Hegel in der Einleitung zur Wissenschaft der Logik, „sind zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt“, nämlich zunächst in ihrer Grammatik: in „Augmenten, Flexionszeichen u. dergl.“, in „Präpositionen und Artikeln“ (GW 21, 10). Anders als Wittgenstein aber würdigt Hegel auch die philosophische Signifikanz der Tatsache, dass die natürliche Sprache von sich aus zur Hypostasierung logischer Formen neigt und so die der philosophischen Selbsterkenntnis dienliche Selbstvergegenständlichung des Denkens erleichtert: „Viel wichtiger ist es, dass in einer Sprache die Denkbestimmungen zu Substantiven und Verben herausgestellt und so zur gegenständlichen Form gestempelt sind“ (ebd., 11). Vor allem aber ist Hegel nicht gezwungen, die Tatsache, dass die natürliche Sprache auch Wörter mit widersprüchlicher Bedeutung kennt, allein als Quelle möglicher Verwirrung abzutun, – im Gegenteil: „[S]ogar sind manche ihrer Wörter von der weitern Eigenheit, verschiedene Bedeutungen nicht nur, sondern entgegengesetzte zu haben, so das darin selbst ein spekulativer Geist der Sprache nicht zu verkennen ist […], es kann dem Denken eine Freude gewähren, auf solche Wörter zu stoßen, und die Vereinigung Entgegengesetzter, welches Resultat der Spekulation, für den Verstand aber widersinnig ist, auf naive Weise schon lexikalisch als Ein Wort von den entgegengesetzten Bedeutungen vorzufinden.“ (ebd., 11) 54  Vgl.: „Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und die Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“ (Wittgenstein 2001 [orig. 1953], § 119)

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Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so dass sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen. – Sondern es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. – Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem. Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 133

Hier müssen wir Wittgenstein mit Hegel widersprechen. Für Hegel hat die Philosophin in dem „allgemeinen Geist“ ihrer Zeit ihr Ziel und das interne Maß für die Vollständigkeit der Klarheit, die sie anstrebt. Dieser „allgemeine Geist“ ist das eine – komplexe – Problem, mit dem sie es zu tun hat. Folglich müssen ihre Methoden, die ja als Methoden absoluter Selbsterkenntnis zugleich ihr Inhalt sind, systematische Einheit aufweisen und in dieser Einheit Wissen sein. Die Philosophie kann daher „ihre Begründung nur in ihrem systematischen Umfange“ (Werke 10, 405) haben. Unmöglich kann sie somit in einer Entdeckung zur Ruhe kommen, die sich nur in einer Reihe von Beispielen aufzeigen ließe. Die Ruhe, die wir im Philosophieren anstreben, kann deshalb keine Ruhe sein, die es möglich machen würde, das Philosophieren abzubrechen. Der elementare philosophische Sprechakt ist das System, das den allgemeinen Geist seiner Zeit in Gedanken, mithin als solchen, – und damit als Gegenwart des Absoluten – erfasst, und der sich auch nur so als solcher erfassen lässt. Nach ihm verlangt die philosophische Frage. Mit diesem System verschwinden die philosophischen Probleme dann durchaus vollkommen: die philosophischen Fragen sind in ihm beantwortet. Aber das, was mit diesem System bleibt, ist kein – sittliches – Leben ‚nach der Krankheit‘. Das, was bleibt, ist nur die Wahrheit, die ideell ist, des reellen Lebens, das gerade vergeht. Philosophieren ist Sterben. Und weil die Philosophie Selbsterkenntnis ist, muss sie dies auch von sich wissen. Sie muss sich als das Ende der Sittlichkeit der Philosophin wissen, und so, da Inhalt und Form hier nicht getrennt werden können, als das Ende der Sittlichkeit. Die Philosophie, heißt das, muss sich gewissermaßen als den ‚absoluten Horizont‘ wissen: als die Gegenwart des Absoluten im vergehenden endlichen Geist. Aber wie ist es der Philosophie möglich zu wissen, dass sie als die Seite des Erkennens des Sterbens, in dem die Sittlichkeit ihre Endlichkeit beweist, selbst einem endlichen Geist angehört, ohne in einen subjektiven Idealismus zu verfallen? Ist der Satz, der dieses Wissen ausspricht, „Jede Philosophie gehört ihrer Zeit an und ist in ihrer Beschränktheit befangen“, nicht gerade der paradigmatische Ausdruck des verzweifelten Versuchs eines „Blicks von der Seite“?

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Das kommt darauf an, wie die Philosophie weiß, dass sie selbst einem endlichen Geist angehört. Wenn die Philosophie, wie Hegel meint, als solche auch Philosophiegeschichte und somit dann unter anderem – eben weil alle Philosophie „mit dem Untergange einer reellen Welt“ anfängt – gedachte Weltgeschichte wäre, dann würde ihr Wissen von sich selbst als dem endlichen Geist ihrer Zeit angehörig im geschichtlichen Rückblick bestehen55. In diesem Rückblick stünde die Philosophie dann in sich selbst und würde gerade nicht verzweifelt versuchen, einen Blick von der Seite auf sich selbst zu erhaschen. Und über die Geschichte der Philosophie wäre dann umgekehrt genau das zu sagen, was Hegel über sie sagt: Es ergibt sich daraus die Ansicht für die Geschichte der Philosophie, daß wir in ihr, ob sie gleich Geschichte ist, es doch nicht mit Vergangenem zu tun haben. Der Inhalt dieser Geschichte sind die wissenschaftlichen Produkte der Vernünftigkeit, und diese sind nicht ein Vergängliches. Was in diesem Felde erarbeitet worden, ist das Wahre, und dieses ist ewig, existiert nicht zu einer Zeit und nicht mehr zu einer anderen. Werke 18, 5756

Philosophisches Wissen ist Errungenschaft, so Hegel: die Weltgeschichte ist die Arbeit seiner Erringung; die Philosophiegeschichte ist die Arbeit seiner Hebung aus dieser Erringung; und die Philosophie im engeren Sinne, die Logik im Besonderen, ist die Arbeit seiner Wahrung in der Erinnerung. Wenn das stimmt, würde sich die Philosophie als einem endlichen Geist angehörig wissen, und zwar als dessen Höchstes, indem sie das Heben und Wahren der Wahrheit ihrer Gegenwart, das sie ist, als Moment in einem Prozess des

55  Dass Hegel meint, dass die Philosophie als solche auch Philosophiegeschichte ist, zeigt sich unter anderem darin, dass er sagt, dass auch die gedankliche Entwicklung in der Wissenschaft der Logik, in der das Denken rein „in seinem Element“ ist, auf die Geschichte der Philosophie, die ihrerseits die Geschichte der in der Weltgeschichte sich offenbarenden Wahrheit ist, abgebildet werden können muss: „Die verschiedenen Stufen der logischen Idee finden wir in der Geschichte der Philosophie in der Gestalt nacheinander hervorgetretener philosophischer Systeme“ (Werke 8, 184 (§ 86, Zusatz)). 56  Man beachte, dass Hegel die Ewigkeit der Existenz des philosophischen Wahren, des absoluten Wissens also, so nur prospektiv denkt, nicht auch retrospektiv. Dass etwas ewig ist, bedeutet bei ihm – wie eigentlich auch im normalen Sprachgebrauch – nicht, dass es zu allen Zeiten existiert, sondern, dass es bleibt. Wenn Philosophie wesentlich Philosophiegeschichte ist, muss es Zeiten gegebenen haben, da irgendwelches philosophisches Wahres noch nicht existierte.

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„sukzessiven Erwachens“ (Werke 18, 58) des Absoluten im weltgeschichtlichen Vergehen von Gestalten endlichen Geistes begreift57. Wenn sich die Philosophie als „sukzessives Erwachen“ des Absoluten im weltgeschichtlichen Vergehen endlichen Geistes und als das Bewahren der Wahrheit desselben weiß, dann liegt in ihr allerdings zugleich eine unbedingte Hoffnung auf künftige Sittlichkeit, – eine Hoffnung, die Hegel so ausdrückt: Die Philosophie ist also schon ein weiterer Charakter des Geistes; sie ist die innere Geburtsstätte des Geistes, der später zu wirklicher Gestaltung hervortreten wird. Werke 18, 74 f.

Aber diese Hoffnung, die zwar kein bloßer Glaube, sondern wirkliches Wissen ist, ist dennoch – oder: genau deswegen, wie sich gleich zeigen wird – unmöglich praktisch. Sie enthält nichts über den Charakter der künftigen Sittlichkeit und über die Art und Weise ihres Hervortretens aus der „inneren Geburtsstätte des Geistes“, der die Philosophie ist. Weder kann sie die Philosophin im Handeln bewegen, noch die Bewegung, die ihr Leben ist, erträglicher machen. Die Philosophie, wie Hegel sie versteht, ist nichts, womit sich im Leben irgendetwas anfangen ließe. Im hegelschen Sinne zu philosophieren, heißt – oder hieße –, „[d]ie Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen“ (Werke 7, 26 f.). Und es kommt hier ganz wesentlich auf das Wort „erkennen“ an. Auch Kunst und Religion, die anderen beiden Gestalten des absoluten Geistes in Hegels System, sind ebenfalls auf die „Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart“ bezogen, aber nicht als Erkenntnis, sondern als Anschauung und als Vorstellung58. Und es wäre falsch, die These, dass Philosophieren für Hegel Sterben ist, auch auf die anderen beiden Formen des absoluten Geistes zu beziehen. Nur das Erkennen der Gegenwart des Absoluten ist Sterben im eigentlichen Sinne. Das Anschauen und das 57  Vgl.: „In der Tat stellt […] die Geschichte der Philosophie selbst [den allgemeinen Charakter des Volks und der Zeit und den allgemeinen Zustand] […], und zwar die höchste Spitze desselben, dar.“ (Werke 18, 69) Wenn die Philosophie als solche auch Philosophiegeschichte ist, dann weiß sie, indem sie weiß, dass ihre Gegenwart das Ende der Sittlichkeit ist, auch, dass ihre Gegenwart das Ende der Geschichte ist. Denn auch und speziell für die Geschichte wird dann gelten, dass Form und Inhalt nicht zu trennen sind: die Gegenwart als das Ende der bisherigen Geschichte ist das Ende der Geschichte. Denn der Geist hält nichts zurück: seine Möglichkeit ist seine Wirklichkeit. 58  Hegels Anspielung auf die „Rose im Kreuze“, die Lutherrose, ist – auch für diesen Hinweis danke ich Sebastian Böhm – als solche bereits Anspielung auf genau diese beiden anderen Gestalten des absoluten Geistes.

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Vorstellen sind Formen geistiger Tätigkeit, die insofern keine Tendenz zeigen, das Dasein ihres Subjekts, das als solches ein bestimmtes ist, zu transzendieren, als sie Formen des Bewusstseins von (möglichen) Wirklichkeiten sind, in denen das Subjekt dieses Bewusstseins als das bestimmte, das es als solches ist, noch präsent sein (können) muss. Die Anschauung verlangt ganz offensichtlich das Dasein des Subjekts bei seinem Gegenstand. Und die Vorstellung, der Akt der Einbildungskraft oder Phantasie, ist als solche auf prinzipiell mögliche Anschauung bezogen. Als solche ist die Vorstellung eine Form des Bewusstseins von möglichen Wirklichkeiten, in denen das Subjekt dieses Bewusstseins als das bestimmte, das es als vorstellendes ist, selbst noch vorkommen können muss. Die Vorstellung der Versöhnung des Verderbens im religiösen Glauben ist daher möglich als Vorstellung eines ‚Lebens nach dem Tod‘, das, als vorgestelltes, noch das Leben dieses bestimmten Subjekts ist. Das auf diese Weise bloß vorgestellte Sterben aber ist eben gerade kein Sterben im eigentlichen Sinne. In der Versöhnung als Erkenntnis hingegen, in der Philosophie, entledige ich mich, indem ich hier die „eigene Weltlichkeit abstreife“, „in dieser Einzelheit in der Tat und Wirklichkeit Verzicht auf mich tue“ und „mich als Einzelnen aufhebend, mein wahrhaftes Selbst als das Allgemeine finde“, gerade meiner Bestimmtheit als dieses und als solches anschauendes und vorstellendes Subjekt – und insofern eben meines Lebens. So lässt sich, im Anschluss an die Überlegungen in den Hauptteilen dieses Textes, verstehen, inwiefern die Philosophie für Hegel „Befreiung von der Einseitigkeit der Formen“ (Werke 10, 378 (§ 573)) ist, in denen die Versöhnung des Verderbens in Kunst und Religion für uns ist. Und darüber, warum Hegel die Philosophie als „Einheit der Kunst und Religion“ (Werke 10, 378 (§ 572)) bestimmt, mithin als der Erkenntnis auch der „Notwendigkeit der beiden [anderen] Formen“, lässt sich auf dem hier erreichten Standpunkt dann wenigstens so viel sagen, dass die Philosophie gerade nur dann in eins Selbsterkenntnis und Sterben sein kann, wenn das Leben, dessen Sterben sie ist, ebenfalls, als solches, auch in Formen der Klarheit über sich selbst besteht, die sich bloß als Formen von der philosophischen Erkenntnis unterscheiden, damit die philosophische Erkenntnis dann die spekulative Aufnahme und Wahrung des ideellen Inhalts dieser Klarheit sein kann, die sie ist, und dass Anschauung und Vorstellung, die ja zur geistigen Wirklichkeit des Menschen als eines sinnlichen, lebendigen Wesens gehören müssen, genau solche Formen sind. Schluss Wenn zu philosophieren tatsächlich heißt, „die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen“, dann kann die

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philosophische Rechtfertigung der Wirklichkeit nicht in dem Nachweis bestehen, dass sie in Wahrheit dem Verderben entzogen sei. Die Philosophie kann uns dann auch nicht orientieren im Leben: sie kann kein Gutes praktisch zu denken geben, nicht einmal ein künftig mögliches59. Und die Freude, die in der philosophischen Erkenntnis liegt, kann uns dann nicht rüsten, das Verderben der Wirklichkeit zu ertragen60. Weil die philosophische Selbsterkenntnis, so das Resultat der Abschnitte 2.1 und 2.2, mit dem Anspruch auftreten muss, „ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein“ (Werke 3, 14), heißt philosophieren, für Hegel und in Wahrheit, nicht sterben lernen, wie für Platon, sondern sterben. Aber genau deshalb ist Hegels Begriff der Philosophie eines am allerwenigsten: morbide. Philosophie ist die Erkenntnis des verderbenden Geistes ihrer Zeit als der Gegenwart des Absoluten. Aber auch nur diese Erkenntnis ist Philosophie. Solange und sofern wir diese Erkenntnis nicht haben, sind wir mit diesem Philosophiebegriff, und gerade mit diesem, ins Leben, in die Sittlichkeit, gestellt. Im Anschluss an Schiller formuliert Ernst Cassirer den Wahlspruch seines Idealismus so: ‚Werft die Angst des Irdischen von euch!‘ Das ist die Stellung des Idealismus, zu dem ich mich immer bekannt habe. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, 221

59  In Kritik der Rechte entfaltet Christoph Menke eine Dialektik bürgerlicher Sittlichkeit, die es erlauben soll, eine Revolution zu denken, die ins „Jenseits des bürgerlichen Rechts“ führt (Menke 2015, 307). Menke denkt dieses „Jenseits des bürgerlichen Rechts“ insofern als praktisch, als er ihm die Gestalt möglicher „Gegenrechte“ gibt (ebd., 369 ff.). Eine solche Revolution kann nur denken, scheint mir, wer sich der vollen Wucht der hegelschen Idee des ‚absoluten Horizonts‘, also der Untrennbarkeit von philosophischer Form und philosophischem Inhalt, verweigert. Diese Trennbarkeit zu denken, heißt, die Sittlichkeit (im hegelschen Sinne), und damit eine notwendige Bedingung des Philosophierens selbst, gerade nicht zu denken. Falls meine Überlegungen im Haupttext tragen, müsste sich also zeigen lassen, dass Christoph Menke den Widerspruch des bürgerlichen Rechts in seiner ganzen Tiefe noch gar nicht erfasst hat. Den Ausweis dieser Behauptung muss ich hier allerdings schuldig bleiben. 60  Die Hoffnung, die die Philosophie bei Hegel enthält, ist insofern unendlich radikaler als die, die Jonathan Lear in Radical Hope als eine besondere Form der Tugend des Mutes empfiehlt: Mut im Angesicht des Niedergangs einer Sittlichkeit (Lear 2008, 146). „Die Philosophie aber muß sich hüten“, aber schreibt Hegel, „erbaulich sein zu wollen“ (Werke 3, 17). Hoffnung in Lears Sinne, scheint mir, ist das psychologische Pendant von Menkes potentiell politischer Idee der „Gegenrechte“.

Philosophieren als Sterben

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In diesem Sinne von „Idealismus“ ist Hegel das Gegenteil eines Idealisten. Mit Hegels Begriff der Philosophie lässt sich ein solcher Imperativ, eine an uns als Personen gerichtete Aufforderung, nicht formulieren. Als Personen sind wir lebendige Wesen. Leben aber ist Sein in der reellen Welt. Und hier ist Leben Endlichkeit – mithin letztlich Verderben. Für uns als selbstbewusste Wesen ist das Leben daher Sorge und Angst. Cassirer will die Erkenntnis des verderbenden Geistes der eigenen Zeit als der Gegenwart des Absoluten in eine Form von Trost für uns als Personen umzumünzen, der diesem Verderben das Furchterregende nimmt. Damit ist der cassirersche Idealismus eine Gestalt genau derjenigen „Ironie“, die Hegel als die schlimmste Form des Bösen kritisiert: Die hier noch zu betrachtende Spitze der sich als das Letzte erfassenden Subjektivität […] besteht […] darin, das sittlich Objektive wohl zu wissen, aber nicht sich selbst vergessend und auf sich Verzicht tuend in den Ernst desselben sich zu vertiefen und aus ihm zu handeln, sondern in der Beziehung darauf dasselbe zugleich von sich zu halten und sich als das zu wissen, welches so will und beschließt und auch ebensogut anders wollen und beschließen kann. – […] Diese Gestalt ist nicht nur […] das Böse, und zwar das in sich ganz allgemeine Böse –, sondern sie tut auch die Form, die subjektive Eitelkeit, hinzu, sich selbst als diese Eitelkeit alles Inhalts zu wissen und in diesem Wissen sich als das Absolute zu wissen. Werke 7, 278 f. (§ 140)

Mit Hegel ist uns daher durchaus genau das zuzurufen, was Franz Rosenzweig zu Beginn seines Hauptwerks, Der Stern der Erlösung, seinen Lesern entgegenschleudert: Der Mensch soll die Angst des Irdischen nicht von sich werfen; er soll in der Furcht des Todes – bleiben. Er soll bleiben. Er soll nichts andres, als was er schon will: bleiben. Rosenzweig, Stern der Erlösung, 4

Aber Rosenzweig schleudert diesen Ruf nicht allein uns als Personen entgegen, sondern auch „der Philosophie“. Und hier müssen wir ihm mit Hegel widersprechen. Denn indem er das tut, evoziert er die Möglichkeit eines Philosophierens – eines „Neuen Denkens“, wie er es selbst nennt –, das sich fest an das Bleiben in der Angst des Irdischen bindet61. Aber damit exemplifiziert 61  Mit Blick auf die Davoser Disputation von 1929 zwischen Cassirer und Heidegger erkennt Rosenzweig in Heidegger, und gerade nicht in Cassirer, einen Verbündeten des Neuen

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Rosenzweig genau das, was Hegel das „Verhältnis der Reflexion“ nennt und als den „Standpunkt unserer Zeit“ (Werke 16, 184) identifiziert: den Standpunkt, „wo die Endlichkeit in der ganz vollendeten Abstraktion des reinen Denkens liegt, das sich nicht wirklich als allgemeines fasst, sondern als Ich, als Dieser bleibt“ (Werke 16, 186). Und dieser Standpunkt, so Hegel, ist eben nur eine andere Gestalt des Bösen: Er sagt: ich als endlich bin ein Nichtiges, welches aufzuheben ist; aber diese Aufhebung ist doch wohl nicht vollbracht, wenn diese unmittelbare Einzelheit zugleich bleibt, und so bleibt, daß nur dies Ich das Affirmative wird, wie es der Standpunkt der Reflexion angibt. Das Endliche, das sich zum Unendlichen steigert, ist nur abstrakte Identität, leer in sich selbst, die höchste Form der Unwahrheit, die Lüge und das Böse. Werke 16, 186

Die wahre Philosophin im hegelschen Sinne hingegen identifiziert sich und den vergehenden Geist ihrer Zeit, den sie als Gegenwart des Absoluten erkennt, in diesem Erkennen weder so mit dem Absoluten, dass sie, in ironischer Distanz, jenem Vergehen das Fürchterliche zu nehmen vorgibt, noch so, dass sie demselben, im Festhalten der Furcht, für sich selbst seine Realität, die Realität seines Ausgangs nämlich, abzustreiten versucht. Indem seine [des Geistes] Vollendung darin besteht, das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist dieses Wissen sein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt. Werke 3, 590

Weil das wahre Philosophieren, sollten die Überlegungen in den Hauptteilen tragen, nur als Sterben möglich ist, kann es, für Hegel und in Wirklichkeit, zwar weder im Guten sein Maß haben, noch aber kann es, genau eben deshalb, böse – oder ungeheuerlich – sein62. Denkens, das er selbst im Stern der Erlösung, im Anschluss an den späten Hermann Cohen, entwickelt (vgl. Rosenzweig 1930, 85 ff.). 62  Ich danke Irad Kimhi, James Conant, Markus Wolf, Matthias Haase, Pirmin StekelerWeithofer, Sasha Newton und Thomas Wendt für die Gespräche und Diskussionen, die beim Schreiben dieses Textes in mir nachgeklungen sind, sowie Eliza Little für ihre Kommentare, Inga Siegfried für ihre Fragen und Sebastian Böhm für seine Hinweise auf einschlägige Passagen aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion und für seine Anmerkungen zur vorletzten Fassung des Textes, die mir sehr geholfen haben, größere Klarheit in die zentralen Passagen zu bringen.

Teil 4 Vom objektiven zum absoluten Geist – der Übergang im enzyklopädischen System



Vom objektiven in den absoluten Geist

Eine Interpretation im Ausgang von § 552 der Enzyklopädie (1830) Nadine Mooren, Tim Rojek und Michael Quante 1

Einleitung und Problemdiagnose

Wilfrid Sellars hat das Ziel der Philosophie einmal folgendermaßen formuliert: „[t]he aim of philosophy […] is to understand how things in the broadest possible sense of the term hang together in the broadest possible sense of the term.“1 Vermutlich hätte Hegel diesem metaphilosophischen Ziel zugestimmt. In seinem System hat er versucht, dieser Aufgabe nachzukommen. In diesem Beitrag thematisieren wir die systematische Tragweite seines Entwurfs, indem wir das Augenmerk auf einen konkreten Ausschnitt des Systems, nämlich auf das Verhältnis des objektiven zum absoluten Geist, legen und kritisch prüfen. Unsere Leitfrage lautet, ob Hegel überzeugende Kriterien liefert, um zwischen dem Phänomenbereich des absoluten und dem des objektiven Geistes zu unterscheiden. Um diese Frage anzugehen, werden wir in einem ersten Schritt etwas zu den Phänomenen des objektiven Geistes bzw. der Geistphilosophie im Allgemeinen sagen (2) und danach anhand einer textnahen Analyse sowohl den von Hegel bezeichneten Übergang zum absoluten Geist (3) sowie die von ihm gebotene Exposition der Gegenstände des absoluten Geistes miteinbeziehen (4). Zum Abschluss (5) ziehen wir ein kritisches Fazit und formulieren einige Anschlussfragen. Gemessen an Hegels Ansprüchen sollten sich in diesen Passagen hinreichende Indizien finden lassen, mit denen sich klären lässt, warum und in welchem Sinne Kunst, Religion und Philosophie als eigenständige Phänomene philosophischer Behandlung von den Phänomenen des objektiven Geistes abgegrenzt werden können. Im Rahmen der Erörterung des objektiven Geistes wird sich zeigen, dass sich diese Frage vor allem deswegen nahelegt, weil es erst einmal wenig plausibel erscheint, diese Phänomene eigens abzuscheiden. Bereits im Rahmen der frühen Rezeption der hegelschen Philosophie erwies sich die Deutung des absoluten Geistes schnell als problematisch. So versuchten vor allem einige Linkshegelianer den Gegenständen des absoluten Geistes ihre Sonderstellung zu nehmen und sie in den objektiven Geist (insbesondere in die Weltgeschichte) zu integrieren, womit sie indirekt auch den spezifischen 1  Sellars 2007 (orig. 1962), 369.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_028

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Mooren, Rojek und Quante

Geltungsstatus dieser Phänomene in Frage stellten. Diese Depotenzierung der Gestalten des absoluten Geistes macht deutlich, dass auch tendenziell hegelaffirmativen Rezipienten die systematische Attraktivität seines Vorgehens hinsichtlich des absoluten Geistes sowie die damit verbundenen Ansprüche fraglich erschienen2. Weiter unten nehmen wir daher zur Frage Stellung, ob eine adäquate Interpretation von Hegels Theorie des absoluten Geistes es erforderlich macht, sich auf eine religionskritische (Linkshegelianer) oder eine konservative, gegenüber christlicher Religion und Theologie affine Lesart (Rechtshegelianer) festzulegen. Wie sich zeigen wird, sind Hegelinterpreten vor allem angesichts seines ambivalenten Religionsbegriffs vor hermeneutische Entscheidungen gestellt. Während für Hegel soziale und rechtliche Institutionen wie der Staat, die bürgerliche Gesellschaft, Familie und Ehe, sowie die gesamte Weltgeschichte in den objektiven Geist fallen, soll dies für die Institutionen3 Kunst, Religion und Philosophie nicht gelten. Dies mag deshalb verwundern, weil Hegel in seinen Vorlesungen bestimmte Ausgestaltungen von Kunst, Religion und Philosophie nicht nur in systematischer Weise, sondern gerade auch in ihrer historischen Genese betrachtet und erörtert hat4. Sofern Hegel nicht leugnen möchte, dass es sich bei Kunst, Religion und Philosophie ebenfalls um vergängliche und historisch wandelbare menschliche Praxen handelt, scheint die Arbeitshypothese plausibel, dass die Sonderstellung dieser Phänomene auf die spezifische Perspektive zurückzuführen ist, die er innerhalb seiner Lehre vom absoluten Geist gewählt hat. Wir wollen genau diese Beschreibungs- und Explikationsperspektive identifizieren und prüfen, ob sie geeignet ist, die von Hegel beanspruchte Aufgabe zu übernehmen. Diese Perspektive wird sich von der spekulativen Perspektive auf die Weltgeschichte – im Unterschied zur nicht-philosophischen historischen Perspektive auf diese – unterscheiden müssen, da Hegel sonst ebenfalls keinen Grund gehabt hätte, diese Phänomene außerhalb der Weltgeschichte abzuhandeln5. Schließlich behandelt er auch 2  Vgl. hierzu Quante 2009; Quante 2010, sowie im Fall Arnold Ruges, Rojek 2015. Bei Ruge zeigt sich die Tendenz, die Geltung des absoluten Geistes in die Geschichte zu integrieren und damit einem historischen Relativismus Platz zu schaffen. 3  Unter „Institution“ verstehen wir hier durch bestimmte Regeln organisierte Praxen. 4  Zur Religion vgl. den zweiten Teil in Hegels Manuskript zur Religionsphilosophie, die ‚Bestimmte Religion‘ (GW 17, 83–204). 5  Als relevante Quellen für Hegels Philosophie der Weltgeschichte, mithin für denjenigen Gegenstand, von dem aus Hegel den Übergang zu den Phänomenen des absoluten Geistes vollzieht, gelten uns neben den einschlägigen Passagen der Rechtsphilosophie (vgl. GPR §§ 341–360) vor allem die entsprechenden Passagen in den drei Fassungen der Enzyklopädie,

Vom objektiven in den absoluten Geist

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die Genese sozialer und politischer Institutionen im Rahmen seiner Welt­ geschichte, die den letzten Teil seiner Philosophie des objektiven Geistes bildet, nicht einfach als Historiker, sondern ausgehend von einer spezifisch philosophischen Fragestellung6. Da die Weltgeschichte nach Hegel keineswegs unabhängig von philosophischen, künstlerischen und religiösen Phänomenen ist, was etwa seine Betonung des Einflusses des Christentums, insbesondere der Reformation belegt, auf den er an vielen Stellen hinweist, verschärft sich hier das Problem, wieso und inwiefern diese Phänomene von der Behandlung der Weltgeschichte abgelöst, in einem eigenen thematischen Kontext expliziert werden sollten7. Zudem betont Hegel an anderen Stellen den wechselseitigen Einfluss von Phänomenen beider Bereiche in der Geschichte und weigert sich, die damit einhergehenden systematischen Spezialgeschichten8, gleichsam als freischwebende Ideengeschichte, abgelöst von ihren sozialen,

sowie die beiden erhaltenen Manuskripte Hegels zu seinen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (vgl. GW 18, 121–137 und 138–207). Hegel weist zudem in der Enzyklopädie darauf hin, dass „die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfällt.“ (GW 20, § 562 A) 6  Zur Funktion von Hegels Weltgeschichte als Abschluss der Philosophie des objektiven Geistes vgl. Rojek 2017: Kap. 3. 7  Zum Verweis auf die historischen Wirkungen des Christentums heißt es bspw.: „Erst die germanischen Nationen sind im Christenthum zum Bewußtseyn gekommen, daß der Mensch als Mensch frey, die Freyheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; diß Bewußtseyn ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen.“ (GW 18, 152.22–153.4) 8  Hegel unterscheidet in seinen Vorlesungen zur Weltgeschichte vier rezente Formen nichtphilosophischer Geschichtsschreibung. Die letzte dieser Formen, die sog. Spezialgeschichte, betrachtet den historischen Verlauf einer sozialen Institution oder eines Gegenstandes und die mit ihm verknüpften Praxen usw. Beispiele, die Hegel nennt, wären etwa eine Geschichte der Technik oder eine Geschichte der Seefahrt. Von dieser Form der nichtphilosophischen Geschichtsschreibung ausgehend, lässt sich ein Übergang zu Hegels Philosophie der Weltgeschichte rekonstruieren, in der ebenfalls eine spezifische Perspektive auf die Weltgeschichte eingenommen wird, deren leitende Relevanzkriterien einschränken, welche Quellen interessant sind und was erzählt werden sollte (vgl. dazu Rojek 2017: 2.2.2.6 zur Spezialgeschichte und 3.2.3 zur Spezialgeschichte als Zugang zur philosophischen Weltgeschichte). Man kann die historischen Teile in Hegels Darstellungen im absoluten Geist ebenfalls als durch spezifisch philosophische Interessen geprägte Aufbereitungen verstehen; daher sprechen wir hier von ‚systematischer Spezialgeschichte‘. Wie genau Hegel solche Rekonstruktionen im Rahmen des absoluten Geistes vornimmt, bedürfte einer eigenständigen Untersuchung.

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Mooren, Rojek und Quante

politischen und ökonomischen Hintergrundbedingungen zu betrachten9. Als (wohlwollender) Hegelinterpret handelt man sich damit allerdings das Problem ein, dass nun ein weiterer Grund dafür vorliegt, den absoluten Geist in die Weltgeschichte als dem letzten Teil des objektiven Geistes zu integrieren, wie es einige Linkshegelianer taten. Auf dem Spiel steht damit aber unter anderem die von historischen Genesen losgelöste Geltung, die Hegel mit seiner Philosophie des absoluten Geistes zu beanspruchen scheint. Vermeiden ließe sich dieses Problem, wenn Hegel zeigen könnte, dass die historische Perspektive im Rahmen des absoluten Geistes sich von derjenigen der philosophischen Weltgeschichte unterscheidet, insofern die Phänomene des absoluten Geistes eine gemeinsame Hinsicht aufweisen, durch die sie sich von denen der philosophischen Weltgeschichte unterscheiden. 2

Teilbereiche des hegelschen Systems und eine Systematik von Formen des Welt- und Selbstbezugs

2.1 Universalprinzip und Teilprinzipien in Hegels System Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Zuordnung bestimmter Phä­ nomene zum objektiven und absoluten Geist. Mit Blick auf das reife Werk Hegels10 lassen sich einige generelle Merkmale festhalten, wie Teilbereiche abgegrenzt und Gegenstände zugeordnet werden. Diesbezüglich wollen wir zunächst einen knappen Überblick geben, bevor wir uns dem Übergangs­ paragraphen vom objektiven in den absoluten Geist zuwenden. Die Gliederung 9  Aufschlussreich ist hier etwa eine Passage aus Hegels Manuskript zu seiner Vorlesung zur Geschichte der Philosophie (also einem Gegenstand des absoluten Geistes), in der er hervorhebt, dass die Geschichte der Philosophie nicht unabhängig von ihren politischsozialen Hintergründen sei (vgl. GW 18, 36–94, bes. 71.12–72.9). 10  Eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive auf Hegels Philosophie, die Genese seines Systems und dessen Gegenstände im Allgemeinen sowie die Genese der Philosophie des absoluten Geistes im Besonderen blenden wir in diesem Beitrag aus. Unter Hegels reifem System verstehen wir diejenige Gestalt, die er seinem System ab der ersten Fassung der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, d.h. ab 1817, verliehen hat. Hegels Heidelberger und Berliner Vorlesungen – in denen er weite Teile dieses System entfaltet hat – sind für uns nur insoweit relevant, als sie in Manuskripten überliefert sind, die eindeutig auf Hegel zurückzuführen sind. Die zahlreichen Mit- und Nachschriften bzw. Ausgaben (wie die sog. Freundesvereinsausgabe), die auf solche Quellen zurückgreifen, berücksichtigen wir aus philologischen Gründen ebenso wenig wie die berüchtigten Zusätze. Zu den Gründen für eine solche Entscheidung und zur Editionsgeschichte der hegelschen Werke vgl. Rojek 2017: Kap. 1.

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der Phänomene erfolgt bei Hegel durch die Angabe von Universal- und Teilprinzipien. Einziges Universalprinzip ist ‚die Idee‘, die allen drei Teilen des enzyklopädischen Systems – Logik, Naturphilosophie und Geistphilosophie − in einem bestimmten Modus (‚an und für sich-Sein‘, ‚Anderssein‘, ‚aus dem Anderssein in sich zurückkehrend‘) zugrunde liegt11. Darüber hinaus werden die innerhalb dieser Systemteile abgehandelten Gegenstände durch die Angabe spezifischerer Teilprinzipien weiter untergliedert. Die Teilprinzipien selbst lassen sich auch als spezifische Ausformungen des einen Universalprinzips, d.h. der Idee, betrachten12. Da wir primär am Verhältnis zwischen objektivem und absolutem Geist interessiert sind, wollen wir hier einen Überblick über die Teilprinzipien von Hegels Geistphilosophie bieten. Zu diesem Zweck lässt sich die folgende Struktur benennen: ‚Der freie Geist, der sich auf sich selbst bezieht‘ ist das Teilprinzip des subjektiven Geistes (vgl. GW 20, § 385); ‚der freie Geist bzw. freie Wille, der eine Welt hervorbringt und hervorgebracht hat, in der er seine eigene Freiheit wiedererkennen kann‘, ist das Teilprinzip des objektiven Geistes (ebd.); schließlich ist ‚der freie Geist, der sich selbst begreift‘ (vgl. ebd. § 553), das Teilprinzip des absoluten Geistes. Alternativ spricht Hegel dort auch vom „Wissen der absoluten Idee“ (ebd.) als dem organisierenden Prinzip dieses Systemteils13. Dass Hegel dem absoluten Geist innerhalb der Geistphilosophie eine Sonderstellung zuweist, belegt sein Vorschlag, innerhalb der Geistphilosophie den subjektiven und den objektiven Geist als den „endlichen Geist“ (GW 20, § 386) zusammenzufassen und vom absoluten Geist zu unterscheiden. Letzterem werden demgegenüber die Prädikate ‚unendlich‘ und ‚absolut‘ zugesprochen (vgl. ebd.). Während die Gegenstände des subjektiven und des objektiven Geistes sich als ‚endlich‘ auffassen lassen, da sie philosophisch nicht vollständig explizierbar sind, soll dies für den absoluten Geist nicht gelten. Darüber hinaus unterscheiden sich subjektiver und objektiver Geist auch dadurch vom Bereich des absoluten Geistes, dass in ersteren Gegenstände thematisiert werden, die zuerst als vorausgesetzt erscheinen und dann – allerdings 11  Vgl. GW 20, § 18. 12  Zum Aufbau des hegelschen Systems sowie der Organisation der Phänomene anhand des Universalprinzips ‚Idee‘ sowie der entsprechenden Teilprinzipien vgl. Quante 2011, 22–34. 13  Auch in § 552 betont Hegel, dass es im absoluten Geist um das Wissen des Geistes von sich selbst gehe, d.h. um die Erhebung zum „Wissen des absoluten Geistes“ (GW 20, § 552); und in der Anmerkung kommt er im dritten Absatz darauf zu sprechen, dass die Gegenstände des Geistes als geistige gewusst werden sollten. Zu diesen Passagen siehe die Interpretationsvorschläge weiter unten.

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Mooren, Rojek und Quante

nur partiell – philosophisch expliziert werden können, d.h. Hegel zufolge in Teilen vernünftig rechtfertigbar sind14. Diese Form der Endlichkeit zeigt sich etwa in der Rechtsphilosophie daran, dass Hegel dort die Organisation der sozialen Wirklichkeit nicht durchgängig zu bestimmen vermag, sondern Freiräume lassen muss, z.B. für Gesetzesentwürfe und richterliche Entscheidungen über die Art der Strafe für bestimmte Verbrechen, die sich nicht mehr mit starken Begründungsansprüchen versehen lassen. Verstößt die Philosophie gegen diese Selbstbeschränkung, wird sie illiberal und überzieht das in ihrem Rahmen Zulässige15. Die Aufgabe des spekulativen Philosophen besteht im Rahmen der ‚endlichen‘ Geistphilosophie also in dem Nachweis, dass sich trotz der Behaftetheit der entsprechenden Gegenstände mit Zufällig­ keit und Willkür Vernünftiges in ihnen „manifestiert“ (GW 20, § 386), das sich philosophisch begreifen lässt, wodurch die These, dass die soziale Welt skeptischen Einwänden offenstünde, zurückgewiesen werden kann. Bei den Gegenständen des absoluten Geistes dagegen soll die nur partielle Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand in spezifischen Gestaltungen16 überwunden sein. Dort liege die Entwicklung des Geistes in „ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes [d.h. seiner konkreten raum-zeitlich situierbaren Gestaltungen in Bauwerken und Praxen (N.M./T.R./ M.Q.)] und seiner Idealität oder seines Begriffs, der Geist in seiner absoluten Wahrheit“ (GW 20, § 385) vor. Während mit Blick auf die Phänomene des objektiven Geistes immer etwas ‚übrigbleibt‘, was sich nicht mehr philosophisch explizieren lässt, werden die Phänomene im absoluten Geist daraufhin untersucht, inwiefern dieser nicht-notwendige Rest überwunden werden kann. Erreichbar sein soll dies durch die Selbstthematisierung der eigenen explikativen Entfaltungsmittel; zeichnen sich die Praxen, die Hegel im absoluten Geist diskutiert, doch gerade dadurch aus, dass sie sich – wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise − mit ihren eigenen Voraussetzungen und der Geschichte der Explikation dieser Voraussetzungen, beschäftigen. Dass Hegels Interesse diesem Aspekt der Selbstbezüglichkeit gilt, bringt er in § 553 zum Ausdruck, wenn er schreibt „Der Begriff des Geistes hat seine Realität im 14  Wobei mit der Rechtfertigung eines Gegenstands als ‚vernünftig‘ mindestens gemeint ist, dass dieser gegenüber skeptischen Anfechtungen verteidigt werden kann. 15  Darauf weist Hegel in seiner Kritik an Fichte hin; vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts: Vorrede; dass die Grenze der Philosophie etwa bei der Anwendung von Gesetzen auf Einzelfälle bzw. in Einzelfällen erreicht ist, betont Hegel im Rahmen der Rechtspflege (vgl. GW 14, § 214 und Anmerkung). 16  Vgl. zu diesen Zusammenhängen etwa GW 14, § 1, sowie knapp Rojek 2017: 2.2.2.4.

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Geiste“. Für die Philosophie mag dies plausibel erscheinen, thematisiert sie dort doch mit eigenen begrifflichen Mitteln die methodische und historische Genese eben dieser Mittel. Hegel muss allerdings voraussetzen, dass sich auch Kunst und Religion als Formen der Selbstdeutung des Geistes rekonstruieren lassen17. Die Präsentation der Teilprinzipien der Geistphilosophie liefert uns ein Indiz dafür, dass es die spezifische Perspektive ist, die Hegel mit Blick auf die Gegenstände des absoluten Geistes gewählt hat, die für die Beantwortung unserer Ausgangsfrage relevant sein muss. Bei den Gegenständen des absoluten Geistes handelt es sich ebenso wie bei denen des objektiven Geistes um soziale Artefakte, − in dem weiten Sinne, der materielle Gegenstände und Praxen umfasst. Sie erlauben aber eine andere, dem Universalprinzip der Idee angemessenere Durchdringungstiefe, weil ihnen Hegel zufolge das für den objektiven Geist konstitutive Moment der Endlichkeit abgehe18. 2.2 Eine Systematik von Formen des Welt- und Selbstbezugs19 Im Folgenden verstehen wir die spekulative Philosophie20, Kunst und Religion (neben dem Common Sense sowie den nicht-philosophischen Wissenschaften) als Formen des Weltbezugs. Jede dieser Formen des menschlichen Weltbezugs kennzeichnet ein bestimmtes Selbstverhältnis sowie ein Verhältnis zu anderen Weltbezugsweisen, mit denen sie in einem Beziehungsgeflecht steht, in das Hegel am Ende seiner Enzyklopädie Übersicht zu bringen suchte.

17  Für die nicht-philosophischen Wissenschaften gilt dies nicht. Diese sollten sich nicht als Selbstverständigungspraxen deuten lassen. Andernfalls hätte Hegel ihnen einen Ort im absoluten Geist zuweisen müssen. Auch für den Common-Sense muss Hegel Entsprechendes annehmen. 18  Wenn man diese These – wie die Linkshegelianer – aufgibt, dann entpuppen sich die Gegenstände des absoluten Geistes letztlich ebenfalls als historisch kontingent und relativ. 19  Wir erweitern hier die Systematik, die wir in einem früheren Aufsatz vorgeschlagen haben, um die beiden ersten Gestalten des absoluten Geistes; vgl. Mooren/Rojek 2014. 20  Mit dem Ausdruck ‚spekulativ‘ verweisen wir gerade auf die Ausblendung der diachronen Dimension der Philosophie. Die spekulative Philosophie soll diejenige, letztgültige Gestalt meinen, die Hegel glaubt, der Philosophie verliehen zu haben. Wo nicht anders gekennzeichnet, sprechen wir auch mit Blick auf Religion und Kunst jeweils von spezifischen Ausprägungen dieser Praxen: der antiken griechischen Kunst und der christlichen, von Hegel so genannten geoffenbarten Religion.

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Mooren, Rojek und Quante

2.2.1

Ansprüche der spekulativen Philosophie, Metaphilosophie und die Lehre vom absoluten Geist Wichtig ist, dass Hegel im gesamten enzyklopädischen System die Perspek­ tive der spekulativen Philosophie einnimmt, deren philosophisches Selbst­ verständnis er im Rahmen seiner Theorie der Denkformen erläutert hat21. In einer zunehmenden Spezifikation bestimmt er die Philosophie „zunächst im Allgemeinen als denkende Betrachtung der Gegenstände“ (GW 20, § 2). Das Spezifikum gegenüber anderen Denkformen (resp. Weltbezugsweisen) bestehe in ihrer Reflexivität. Während die anderen Weltbezugsweisen insbesondere von ihnen selbst unterschiedene Gegenstände und nicht ihre eigenen Methoden und Denkformen thematisieren, expliziere die Philosophie aufgrund wissenschaftstheoretischer Ziele sowohl die Gegenstände anderer Wissenschaften, indem sie auf die in diesen Weltbezugsweisen impliziten kategorialen Zusammenhänge abstellt, als auch sich selbst (metaphilosophische Perspektive). Zwar ist eine solche Selbstthematisierung auch im Rahmen der anderen Weltbezugsweisen möglich, Hegel beansprucht aber mindestens für den Common Sense und für die nicht-philosophischen Wissenschaften, dass deren Methoden letztlich nicht für eine Rechtfertigung des eigenen Vorgehens und eine Absicherung desselben gegen skeptische Einwände geeignet sind. Dies gelänge nur der Philosophie, die diese Weltbezugsweisen, ihren Beitrag zur spekulativen Philosophie sowie ihre soziale Funktion zu explizieren versucht. Die Philosophie sei deshalb in der Lage, „das Denken zum Gegenstande des Denkens“ (GW 20, § 17) zu machen22. Die Durchführung dieser Tätigkeit betrachtet er als das Ziel und die Aufgabe der Philosophie. Sie soll zu ihrem eigenen Begriff gelangen, bzw. einen solchen erzeugen, wobei dieser demjenigen, der zu Beginn der philosophischen Tätigkeit implizit vorausgesetzt worden ist, entsprechen soll. „Diß ist sogar ihr einziger Zweck, Thun und Ziel, zum Begriffe ihres Begriffes und so zu ihrer Rückkehr und Befriedigung zu gelangen.“ (GW 20, § 17) Aufgrund der methodischen Geschlossenheit des Systems, die durch diese ‚Rückkehr‘ erreicht werden soll, spricht Hegel bezüglich der philosophischen Methode auch davon, dass diese ein „in sich selbst schließender Kreis“ (GW 20, § 15) sei. Die Kreismetapher soll dabei als Antwort auf das klassische Begründungstrilemma von Regress, vitiösem Zirkel und dogmatischem Abbruch verstanden werden. Durch das vollständige Transparentmachen der philosophischen Methode soll eine interne Begründung gewährleistet sein, die auf keinerlei externe Voraussetzungen rekurrieren muss und so einen drohenden Begründungsregress vermeiden könne. Durch die ‚Rückkehr‘ soll zudem 21  Vgl. insbesondere GW 20, §§ 1–18, sowie Rojek 2017, Kap. 2.4.2; Halbig 2002, 139–164. 22  Dies ist geltungstheoretisch und nicht kognitionspsychologisch gemeint.

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ein dogmatischer Begründungsabbruch vermieden werden und aufgrund der hermeneutischen Gesamtstruktur soll ein vitiöser Zirkel vermieden werden23. Die mit philosophischen Mitteln vollzogene Selbstthematisierung des Begriffs der Philosophie kann als Hegels systeminterne Metaphilosophie bezeichnet werden. Seinem System liegt die Überzeugung zugrunde, dass eine adäquate philosophische Begründungsstruktur in der Lage sein muss, ihre Methode anhand ihrer eigenen Mittelbestände zu rechtfertigen, ohne auf externe Instanzen zurückgreifen zu müssen. Gelingt es ihm, einen solchen Rückgriff zu vermeiden, so wäre dem Skeptiker die Möglichkeit, auf solche unbegründeten Voraussetzungen kritisch zu rekurrieren, genommen. Hegel beschließt sein System damit, dass die zuvor mehr oder weniger implizit verwendeten methodischen Mittel am Ende selbst explizit gemacht und als legitim ausgewiesen werden müssen. Aus diesem Grunde steht die Selbstthematisierung der Philosophie am Ende seines philosophischen Systems in der Lehre vom absoluten Geist. Die Reflexion auf die Philosophie stellt dabei nicht einfach eine beliebige Möglichkeit philosophischen Fragens dar, sondern soll notwendiger Bestandteil und Abschluss seines philosophischen Projekts sein. Zugleich soll die Philosophie die einzige epistemische Form sein, die zu einer solchen vollständigen Explikation ihrer eigenen Voraussetzungen fähig ist. Sie stellt die höchste Form der Selbstinterpretation dar, da sie nicht mehr durch andere Formen der Erkenntnis überstiegen und in ihren Voraussetzungen angezweifelt werden kann. Zur umfassenden Selbstreflexion der Philosophie gehört ferner die Klärung ihres Verhältnisses zu anderen Weisen der Welt- und Selbstinterpretation. Dadurch soll sie als alternativlose Form der vollständigen Selbstinterpretation ausgewiesen werden. Wir gehen davon aus, dass der letzte Abschnitt der Enzyklopädie vor allem der Klärung des Verhältnisses der philosophischen zu anderen Interpretationsformen dient. Hegel stellt die Philosophie dort in einen Zusammenhang mit Kunst und Religion und versucht, diese Formen des Weltbezugs gegenüber der spekulativen Philosophie als defizitär auszuweisen. Die vorangegangenen Erläuterungen lassen einige Fragen offen, die uns im Folgenden helfen sollen, unsere Ausgangsfrage nach dem spezifischen Unterscheidungsmerkmal von objektivem und absolutem Geist zu beantworten: Erstens stellt sich die Frage, warum Hegel im Rahmen seiner Lehre vom absoluten Geist neben der Philosophie gerade Kunst und Religion behandelt. Zweitens: Welche Gründe gibt es dafür, den Common-Sense und die 23  Die Frage, ob es Hegel gelungen ist, diese Ansprüche auch tatsächlich zu erfüllen, bedürfte einer eigenständigen Untersuchung, und wird von uns hier nicht weiterverfolgt. Zu Hegels Ansprüchen an die Philosophie vgl. auch Siep 2008a, 48–50.

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Mooren, Rojek und Quante

nicht-philosophischen Wissenschaften in diesem Bereich außen vor zu lassen? Drittens gilt es, die gegenüber der Philosophie bestehenden Defizite von Kunst und Religion zu erläutern. 3

Der Übergang zum Bereich des absoluten Geistes (§ 552)

In den §§ 548–552 seiner Enzyklopädie (1830) behandelt Hegel die Philosophie der Weltgeschichte; in § 55224 wendet er sich dem Übergang zum absoluten Geist zu. An dieser systematischen Gelenkstelle soll deutlich werden, warum sich die dort behandelten Phänomene mit den Mitteln, die das Teilprinzip des objektiven Geistes – der freie Wille – bereitstellt, nicht mehr sinnvoll behandeln lassen25. Mit einem knappen Resümee hält Hegel in S1 wichtige Merkmale des objektiven Geistes im Allgemeinen fest; dies zeigt der Rückbezug auf den Expositionsparagraphen des objektiven Geistes26. Zudem kommt er auf wichtige Eigenheiten der sich geschichtlich wandelnden Gemeinschaften zu sprechen, in denen sich die Praxen und Institutionen des objektiven Geistes realisieren: Der Volksgeist enthält Natur-Nothwendigkeit, und steht in äußerlichem Daseyn (§. 483.); die in sich unendliche sittliche Substanz ist für sich eine besondere und beschränkte (§. 549. u. 550.), und ihre subjective Seite mit Zufälligkeit behaftet, bewußtlose Sitte, und Bewußtseyn ihres Inhaltes als eines zeitlich Vorhandenen und im Verhältnisse gegen eine äußerliche Natur und Welt. S1 1830

24  In der letzten Fassung der Enzyklopädie umfasst der Paragraph drei Sätze (S1–S3). 25   Der letzte Paragraph der Grundlinien hingegen bietet, vermutlich aufgrund seiner losgelös­ten Veröffentlichung als Kompendium zu seiner Vorlesung zur Philosophie des objektiven Geistes, keine – oder zumindest keine leicht zu entschlüsselnden – Hinweise auf den absoluten Geist. Wir konzentrieren uns daher auf den Übergang in den Fassungen der Enzyklopädie, in denen Hegel aufgrund der kompendienförmigen Darstellung des gesamten Systems eher gezwungen war, etwas zu den Zusammenhängen zu sagen. 26  D.i. § 483; die Exposition in den objektiven Geist umfasst in der dritten Auflage der Enzyklopädie insgesamt die §§ 483–487, wobei der letzte Paragraph die auch aus der Rechtsphilosophie bekannte Einteilung der im Folgenden im objektiven Geist behandelten Phänomene abstraktes Recht, Moralität und Sittlichkeit präsentiert.

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Mit „Volksgeist“ meint Hegel kein „rassisch“ oder „völkisch“ bestimmtes Gebilde oder einen auf solche Merkmale zurückführbaren Nationalcharakter, sondern eine Kulturgemeinschaft, die sich durch gemeinsame Praxen und Traditionen auszeichnet, welche sich über längere Zeiträume hinweg etabliert haben. Der Volksgeist bezeichnet durch natürliche Bedingungen und Tradierung geronnene Individualitätsmerkmale27. Volksgeister kann es verschiedene geben, die sich gegeneinander abgrenzen und bestimmen lassen28. Hegels Ausdrucksweise legt nahe, dass er hier an Merkmalen interessiert ist, die generell für die einzelnen unter den Begriff des Volksgeistes fallenden Entitäten gelten. Nach dem Semikolon führt er weitere Beschränkungen ein, die für den Volksgeist zu gelten haben; zwar ist die „sittliche Substanz“ als „in sich unendlich“ und d.h. unabhängig von ihren konkreten Realisaten zu betrachten, sie manifestiert sich aber im Rahmen der Weltgeschichte nur als spezifische und beschränkte. Anhand konkreter, historisch aufgetretener Volksgeistgestalten lässt sich die Weltgeschichte als Lerngeschichte des Begriffs der Freiheit erzählen, wobei die konkreten Realisate von Hegel als „Träger der diesmaligen Entwicklungsstufe des allgemeinen Geistes“ (GW 20, § 550) aufgefasst werden. Im vorhergehenden Paragraphen, d.h. in § 549, auf den Hegel explizit verweist, macht er die – empirisch fragwürdige – Annahme, dass jedes Volk resp. jeder Volksgeist in der Geschichte nur ein einziges Mal als Träger der Entfaltung relevanter Merkmale des Begriffs der Freiheit auftreten könne29. Die Besonderheit der Volksgeister zeigt sich in ihrer Differenz von anderen Volksgeistern, anderen Sitten und Traditionen, die aber z.T. in einem Zusammenhang mit ihnen vorhergehenden Volksgeistern stehen können, so etwa die Herrschaftsräume des Mittelalters, die aus dem untergegangenen römischen Weltreich und seinen Traditionen hervorgingen und durch diese mitgeprägt wurden. Ihre Beschränktheit zeigt sich daran, dass sie vergänglich sind; sie können aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen oder innerpolitischen Problemen scheitern und zerfallen. Die historische ‚Identität‘ eines Volksgeistes ist an seine Praxen und Traditionen gebunden; zerfallen oder verfallen diese, verschwindet damit auch der Volksgeist.

27  Vgl. Siep 2010, 135 f. 28  Dies zeigt auch der dritte Satz des Paragraphen, in dem von „Volksgeistern“ im Plural die Rede ist. 29  Vgl. näher zur Entfaltung des Freiheitsbegriffs durch die einzelnen Epochen und Gestalten der Weltgeschichte Rojek 2017, 3.2.3.

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Auch die „subjektive Seite“ der Volksgeister sieht Hegel als beschränkt an. Unter der subjektiven Seite lassen sich die spezifischen Selbstbezugspraxen einer Kultur fassen30. Inwiefern ist nun diese subjektive Seite mit Zufälligkeit behaftet? In Frage kommen hier zum einen die Tradierungspraxen selbst, die untergehen oder sich so verändern können, dass eine adäquate Form des Selbstbezugs in ihnen nicht mehr möglich ist. Zudem beziehen sich diese Formen des Selbstbezugs jeweils nur auf die eigene und spezifische Kultur und bleiben insofern zufällig, da sie nicht an den Merkmalen menschlicher Selbstentfaltung schlechthin interessiert sind, sondern an der Tradierung und Bewahrung der je eigenen Kultur, ihrer Werte, Normen und Institutionen. So ist die Tradierung eine von zeitlich sich entfaltenden Gegenständen, die eben auch verloren gehen können. Das Bewusstsein, d.h. das Wissen darum, dass diese Gegenstände, die es zu bewahren gilt, zeitlich vorhanden sind, dürfte sogar eine Voraussetzung dafür sein, dass man aktiv versucht, diese zu bewahren31. Deshalb erwähnt Hegel auch die „bewußtlose Sitte“; bei dieser unreflektierten Weitergabe von Traditionen, Normen und Üblichkeiten, kann nicht bewusst entschieden werden, ob diese bewahrenswert sind oder nicht. Ihre Bewahrung ist insofern dem Zufall überlassen. Zudem wird ein Volksgeist von anderen Volksgeistern abgegrenzt und auf seine natürlichen Vorausset­ zungen hin bestimmt; die Auseinandersetzung desselben mit seiner eigenen Identität, etwa durch Historiker, Intellektuelle oder Politiker bleibt von diesen Voraussetzungen abhängig. Im zweiten Satz wird betont, dass die relevanten, sittlichen Merkmale eines Volksgeistes durch diesen selbst erfasst werden können, also gerade nicht unreflektierte und bewusstlose Sitte bleiben. Aber es ist der in der Sittlichkeit denkende Geist, welcher die Endlichkeit, die er als Volksgeist in seinem Staate und dessen zeitlichen Interessen, dem Systeme der Gesetze und der Sitten hat, in sich aufhebt und sich zum Wissen seiner in seiner Wesentlichkeit erhebt, ein Wissen, das jedoch selbst die immanente Beschränktheit des Volksgeistes hat. S2 1830

30  Unter die objektive Seite fielen dann die Manifestationen solcher Praxen, etwa Tempel, Bücher, Denkmäler usw. 31  Die Relevanz von Formen der Erinnerungspolitik für die Bewahrung einer Kultur mit einem spezifischen Selbstverständnis über die Zeit hinweg, als dasjenige ein- und derselben Kultur, betont Hegel auch im zweiten erhaltenen Manuskript zur Philosophie der Weltgeschichte. Vgl. GW 18, 193.6–19.

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Die Hervorhebung, dass es gerade der „denkende Geist“ sei, der die relevanten Merkmale eines staatlichen resp. volksgeistlichen Gebildes erfasst und explizit macht, legt nahe, dass Hegel hier auf die spezifisch mit unseren Weltbezugsweisen befassten Institutionen abstellen möchte. Das so generierte Wissen – über dessen Inhalt Hegel nichts Näheres berichtet – soll die partikularen Interessen („die Endlichkeit“) des je besonderen Volksgeistes transzendieren, wobei diese Transzendierung zunächst unvollständig bleiben wird. Stellt man sich nun aber die Frage, was das wesentliche Wissen bezüglich des Zusammenhalts und der Gemeinschaft des Menschen sei, was das spezifisch ‚Geistige‘ an den historisch-vergänglichen Kulturgebilden, so muss die Perspektive der je spezifischen Kultur transzendiert werden. Auf diese perspektivische Erweiterung kommt Hegel im letzten Satz des Paragraphen zu sprechen und markiert so den Übergang zum Gegenstandsbereich des absoluten Geistes: Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besondern Volksgeister und seine eigene Welt­ lichkeit abgestreift, erfaßt seine concrete Allgemeinheit, und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit in welcher die wissende Vernunft frei für sich und die Nothwendigkeit, Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind. S3 1830

Während in S2 der „denkende Geist“ als beschränkt durch die spezifischen Traditionen, Normen und Praxen im Rahmen einer spezifischen Sittlichkeit präsentiert wurde, soll dieser nun seine Perspektive erweitern und die für ihn relevanten Merkmale unabhängig von ihren historischen und spezifischen Merkmalen betrachten sowie von deren historischem Gewordensein absehen. Die philosophische Rekonstruktion der Weltgeschichte stellt dabei den Weg dar, auf dem die spezifischen und historisch-vergänglichen Merkmale des Geistes in den Hintergrund treten. Als deren Ergebnis sollen nun diejenigen Praxen untersucht werden, deren Gehalt sich unabhängig von ihrem Bezug auf sozial und natürlich veränderliche und zufällige Praxen erfassen lässt. Gerade diejenigen Gehalte, die ihren Wert auch unabhängig von dem Rückbezug auf ihr historisches Gewordensein bewahren können sollen, sind als Gegenstände des absoluten Geistes aufzufassen. Mit der Metapher des „Abstreifens“ möchte Hegel gerade die Überwindung eines solchen Rückbezugs, der in S2 noch thematisch war, zum Ausdruck bringen. Im absoluten Geist sind also Gegenstände und Praxen thematisch, deren Gehalt sich unabhängig vom Bezug auf konkrete historische Umstände besprechen und explizieren lässt.

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Da der Begriff der Freiheit in seiner Entfaltung und der historische Nachvollzug seiner Genese den spezifischen Gegenstand der Philosophie der Weltgeschichte ausmachen, steht zu vermuten, dass dieser nicht am Ende unseres Versuchs stehen kann, ein Selbstverständnis der menschlichen Kultur zu erzielen. Dies deshalb, weil sein Gehalt von der historischen Lerngeschichte abhängig bleibt und durch ihn nur der Sinn derjenigen kulturellen Gebilde erfasst werden kann, die mit der politischen Selbstorganisation menschlicher Gemeinschaften zu tun haben, nicht mit deren Selbstverständnis, auch wenn dies nicht losgelöst von dieser Organisation auftritt. Im absoluten Geist ginge es dann um solche Formen der Organisation menschlicher Gemeinschaften, die zur Stiftung und Bewahrung einer solchen Gemeinschaft beitragen, ohne dass ihr Gehalt sich spezifisch auf die politische Selbstorganisation richtete. Weitere Anhaltspunkte in diese Richtung sollen durch eine partielle Analyse der Anmerkung zu § 552 zusammengetragen werden. Diese Praxen richten sich auf den Geist, d.h. das Verständnis der Sinnhaftigkeit von gemeinschaftsstiftenden Praxen selbst. Insofern lassen sie sich als Selbstverständigungspraxen auffassen. Für sie spielt der Bezug auf die Endlichkeit, die für den subjektiven und objektiven Geist kennzeichnend ist, keine zentrale Rolle mehr. Aus der Perspektive des absoluten Geistes erscheinen die Sittlichkeit und die Weltgeschichte lediglich als Mittel zur Artikulation des Absoluten. In diesem Sinne schreibt Hegel über den absoluten Geist, dass „Nothwendigkeit, Natur und Geschichte nur […] Gefäße seiner Ehre sind“. (GW 20, § 552 A) Da der Geist sich hier nur mit sich selbst befasst, realisiert sich eine spezifische Struktur der ‚Unendlichkeit‘. Damit meint Hegel eine Form des Selbstbezugs, die sich nicht mehr auf nur partiell explizierbare Gegenstände richtet, sondern auf einen Gehalt, der sich vollständig als durch die entsprechende Praxis hervorgebracht begreifen lässt, ohne dabei abhängig von zeitlichen Umständen oder natürlichen Voraussetzungen zu sein. In der ersten Fassung des letzten Paragraphen drückt Hegel dies mit einer Metaphorik der Todesüberwindung aus. Von dieser ist er später vermutlich deswegen wieder abgerückt, da diese den Gedanken nahelegen könnte, es ginge ihm beim absoluten Geist um eine Unendlichkeit im Sinne eines zeitlich ewig dauernden Lebens, sei es der Individuen oder aber eines spezifischen staatlichen Gebildes32. Hegel schreibt in dieser nur einen Satz umfassenden Version des Übergangs zum absoluten Geist das Folgende: 32  Die metaphorische Rede von Tod und Furcht hat Hegel bereits in der zweiten Fassung von 1827 bei der Charakterisierung des Übergangs nicht mehr beibehalten.

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Die geistige Substanz, welche ihren Inhalt, so wie ihre einzelne Wirklichkeit oder ihr Selbstbewußtseyn von seiner Beschränktheit in der Furcht des Todes befreyt, hat dasselbe zur Unendlichkeit erhoben, und ist sich darin als allgemeiner Geist Gegenstand, welchen das Selbstbewußtseyn als seine Substanz weiß, damit von der Furcht ebenso befreyt, und die ihrem Begriffe gemäße Wirklichkeit ist. GW 13, § 452

Die Furcht des Todes, hier als Furcht vor dem Tod aufzufassen, steht für die Überwindung einer Perspektive, die sich auf die vergänglichen Merkmale des Geistigen, die konkrete Ausgestaltung einer Kultur richtet. Beide Versionen des Übergangsparagraphen zeigen, dass Hegel daran interessiert war, die Perspektive des absoluten Geistes als eine zu präsentieren, in der sich der Geist auf seine eigenen Hervorbringungsweisen und deren Gehalte konzentriert und in diesem Sinne nicht auf endliche, d.h. äußere und vergängliche, Gegenstände richtet. Unterstellen muss Hegel hier jedenfalls, dass es philosophisch plausibel ist, die Institutionen von Kunst, Religion und Philosophie als Selbstverständigungspraxen zu deuten und ihre relevanten Gehalte in einem bestimmten Sinne unabhängig von konkreten historischen Realisaten anzusehen. 3.1 Die Anmerkung zu § 552 In der Enzyklopädie (1827) hat Hegel den letzten Paragraphen des objektiven Geistes mit einer längeren Anmerkung versehen, die sich um die Verhältnisbestimmung von Sittlichkeit und Religiosität dreht. In der dritten Auflage hat er diese Anmerkung beträchtlich erweitert; sie gehört zu den längsten Anmerkungen überhaupt33. Abgesehen von einer Einfügung stimmen die beiden ersten Absätze in der Fassung von 1830 mit derjenigen von 1827 überein34, so dass wir uns im Folgenden auf die jüngste Fassung beschränken. Ziel ist keine vollständige Interpretation der entsprechenden Anmerkung, wir konzentrieren uns auf die für unsere Leitfrage zentralen Passagen. Während Hegel im Haupttext des Paragraphen den Perspektivwechsel über die konkreten Gestaltungen der sittlichen Wirklichkeit hinaus zu motivieren 33  Zusammen mit der Anmerkung zu § 573. 34  Während in der zweiten Fassung zu lesen ist: „Das Endliche, von dem hier ausgegangen wird, ist das sittliche Selbstbewußtseyn“ (GW 19, 389.31 f.), schreibt Hegel in der jüngeren Fassung: „Das Endliche, von dem hier ausgegangen wird, ist das reelle sittliche Selbstbewußtseyn“ (GW 20, 531.11 f.).

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sucht, versucht er in der Anmerkung insbesondere die spezifische Rolle der Religion im Verhältnis zur Sittlichkeit zu klären und die Frage zu beantworten, warum Religion und Philosophie dem absoluten Geist und nicht dem objektiven Geist zuzurechnen sind35. In der aus insgesamt acht Absätzen bestehenden Anmerkung, deren ersten beide die gesamte Anmerkung in der vormaligen Fassung von 1827 bilden, knüpft Hegel an die Rede von der Erhebung „zum Wissen des absoluten Geistes“ aus dem Haupttext des Paragraphen an. Er stellt diese als Erhebung des (objektiven) „Geistes zu Gott“ (GW 20, § 552 A) dar. Dies macht verständlich, warum die Religion für ihn Gegenstand des absoluten Geistes ist: Der propositionale Gehalt der Religion entspricht dem Anspruch, der durch das Wissen des absoluten Geistes gestellt wird36. Für diese Lesart spricht auch Hegels Hinweis in § 1 der Enzyklopädie, dass die Philosophie ihre Gegenstände „zunächst mit der Religion gemeinschaftlich“ habe, um dann fortzufahren: „Beide [Religion und spekulative Philosophie, N.M./T.R./M.Q.] haben die Wahrheit zu ihrem Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne, – in dem, daß Gott die Wahrheit […] ist.“ (Ebd.) Auf diese Rede von Gott bezieht sich Hegel nun in der Anmerkung zu § 552. Da Philosophie und Religion denselben Inhalt aufweisen und zwar im höchsten Sinne, Hegel aber vom absoluten Geist gerade verlangt, dass die dort abgehandelten Gegenstände losgelöst von kontextuellen Rahmenbedingungen eine Rechtfertigung der Vernünftigkeit unseres Wissens liefern, durch die das System abgeschlossen werden kann, wird verständlich, warum er in der Anmerkung auf die Religion zu sprechen kommt. Sie ist Gegenstand des absoluten Geistes, weil sie ebenso wie die Philosophie die Wahrheit, verstanden als letzte Rechtfertigungsbedingungen unseres Wissens, zum Gegenstand hat. In den ersten beiden Absätzen motiviert Hegel den Zusammenhang zwischen dem objektiven Geist und der Religion über Kants sowohl kritische als auch konstruktive Bezugnahme auf die Gottesbeweise. Es lasse sich zeigen, dass die „wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität […] nur aus der Sittlichkeit“ (GW 20, § 552 A) hervorgehe. „Nur aus ihr und von ihr aus wird die Idee von Gott als freier Geist gewußt; außerhalb des sittlichen Geistes ist es daher vergebens, wahrhafte Religion und Religiosität zu suchen.“ (Ebd.) Es soll die Sittlichkeit sein, aus der die (wahrhafte) Religion hervorgeht, was verständlich macht, warum Hegel die Religion im absoluten 35  Womit nicht gesagt ist, dass die Religion nicht auch für den objektiven Geist eine Rolle spielen würde. Die philosophische Explikation der Religion findet aber nicht dort, sondern im absoluten Geist statt. 36  Zur kognitiven Deutung des Gehalts der Religion bei Hegel vgl. die Rekonstruktion in Mooren (2018), 55–60.

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Geist behandelt. Der Gehalt der Religion soll dabei über die Rechtfertigung der Struktur der Sittlichkeit hinausreichen. Da er die Grundlagen der Praxen des objektiven Geistes betrifft, besteht für Hegel die Motivation, den absoluten Geist vom objektiven Geist noch einmal zu unterscheiden und den dortigen Gegenständen eine eigenständige philosophische Explikation zu widmen. Zu bemerken ist aber, dass die von Hegel in Anschlag gebrachte Metaphorik (‚innerhalb‘, ‚außerhalb‘) nicht unmittelbar verständlich macht, warum die Religion nicht noch im Rahmen des objektiven Geistes behandelt werden sollte; immerhin sei es ja vergebens, außerhalb der Sittlichkeit die Religion zu verorten, während die andere Redeweise nahelegt, dass die Religion aus der Sittlichkeit in irgendeinem Sinne folgt bzw. hervorgeht. Hilfreich ist hier zumindest erst einmal die Unterscheidung zwischen dem Phänomen der Religion überhaupt und der wahrhaften Religiosität. Nur für Letztere gilt, dass sie aus der Sittlichkeit hervorgeht. Ab dem vierten Absatz der Anmerkung bezieht Hegel die historische Entwicklung von Religion, Philosophie und Staatlichkeit mit ein, um zum einen die Adäquatheit der lutherischen Religiosität auszuweisen und zum anderen deutlich zu machen, dass das Wissen um diese Adäquatheit selbst einer zu rekonstruierenden Entwicklung unterliege. Diese Entwicklung, die Hegel in der Anmerkung kursorisch nachzeichnet, setzt die Etablierung seiner Philosophie der Weltgeschichte voraus und soll mit dieser parallel gesetzt und erfasst werden können. Wie Hegel im absoluten Geist bemerkt, sei es daher so, „daß die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfällt.“ (GW 20, § 562 A, 1. Absatz) Die Kunst demgegenüber sei als explikative Vorform der Religion zu begreifen (vgl. GW 20, § 563). Bezüglich der ursprünglichen Anmerkung sah Hegel sich vermutlich mit Unklarheiten hinsichtlich seiner These, dass die Religion aus der Sittlichkeit ‚hervorgehe‘, konfrontiert. Dies zeigt sich daran, dass der Folgeabsatz, der die Erweiterung in der dritten Auflage eröffnet, direkt an diese Behauptung anknüpft: Aber dieses Hervorgehen gibt sich zugleich wie überall im Speculativen die Bedeutung, daß das zunächst als Folgendes und Hervorgegangenes gestellte vielmehr das absolute Prius dessen ist, durch das es als vermittelt erscheint, und hier im Geiste als dessen Wahrheit auch gewußt wird. GW 20, § 552 A/ Hervorhebung N.M./T.R./M.Q.

Um diese Präzisierung Hegels zu verstehen, ist es sinnvoll, drei Lesarten der Rede von „Hervorgehen“ zu unterscheiden: (i) eine methodische, (ii) eine geltungstheoretische und (iii) eine empirisch-kausale Lesart. Klar ist, dass Hegel

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die Sittlichkeit nicht als empirisch-kausale Voraussetzung des Entstehens von Religiosität ansieht. Dies schon deshalb nicht, weil das Phänomen der Religiosität schon lange vor der Etablierung der komplexen Struktur der Sittlichkeit (bzw. den ersten Anfängen derselben) empirisch realisiert war. Es bleiben noch die beiden Deutungen (i) und (ii). Durch das „zugleich“ wird deutlich, dass Hegel zwischen beiden Deutungen einen Zusammenhang sieht. Dasjenige was methodisch, d.h. in der Darstellungsordnung des Systems in der Enzyklopädie vor einem anderen Teil kommt, ist methodisch gesehen die Voraussetzung für eine adäquate Behandlung desjenigen Teils, der danach bzw. an späterer Stelle behandelt wird37. Hegel hat die Phänomene, die er expliziert, insgesamt nach ihrer Komplexität geordnet; je komplexer ein Gegenstand und je eher er die Struktur der Idee als leitendem Prinzip realisiert, desto später bzw. weiter hinten im System wird er behandelt; der jeweils weniger komplexe Gegenstandsbereich wird davor bzw. textchronologisch früher behandelt. Der Gegenstandsbereich der Religiosität wäre dann komplexer als derjenige der Sittlichkeit und zwar in der Weise, dass es, um ihn zu beschreiben, nötig wird, die Beschreibungs- und Explikationsmittel des objektiven Geistes, mithin das Teilprinzip des freien Willens, zu übersteigen. Dies darf allerdings nicht so verstanden werden, als würden auch geltungstheoretisch die methodisch früheren Phänomene Voraussetzungen der späteren Phänomene sein. Hier ist die Ordnung genau entgegensetzt; die komplexeren Phänomene sind Voraussetzungen der Geltung der weniger komplexen (früheren) Phänomene, − darauf weist Hegel, um Missverständnisse zu vermeiden, im dritten Absatz hin. Religiosität ist also geltungstheoretisch Voraussetzung für die Sittlichkeit, diese aber eine methodische Voraussetzung dafür, das Phänomen der Religion adäquat explizieren zu können38. Hier ist zudem zu beachten, dass diese Voraussetzungen erst einmal nur für die jeweils adäquatesten Gestaltungen eines Phänomens gelten. Von einer solchen adäquaten Gestaltung ausgehend lässt sich dann auch die verwickelte Geschichte solcher Gegenstandsbereiche etablieren und rekonstruieren, bei 37  So setzt die philosophische Behandlung der Religionsgeschichte etwa die Etablierung der Teildisziplin der philosophischen Weltgeschichte voraus. 38  Dass Hegel zwischen diesen drei Arten der Abhängigkeit differenziert, zeigt auch die Anmerkung zu § 32 der Rechtsphilosophie. Dort weist Hegel darauf hin, dass das abstrakte Recht gegenüber der Familie zwar ein weniger komplexes Phänomen darstellt und daher auch (methodisch) früher behandelt werden kann, dass aber nichtsdestotrotz die Familie, die erst in der Sittlichkeit behandelt wird, eine geltungstheoretische und empirische Voraussetzung dafür ist, dass es Eigentumsordnungen überhaupt geben kann. Immerhin setzen Eigentumsordnungen sozialisierte und erwachsene Personen voraus.

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der es häufig zu Konflikten und Vermischungen kommen kann, wie Hegel etwa mit Blick auf das Verhältnis zwischen (nicht-philosophischer) Wissenschaft und Philosophie kursorisch in den §§ 7 bis 9 in der Enzyklopädie bemerkt. Der Hinweis in Absatz 3 der Anmerkung, dass diese Wahrheit im Geiste „auch gewusst“ werde, verweist auf den absoluten Geist. Während es im objektiven Geist darum geht, zu zeigen, wie sich durch geistige Aktivität eine als rational rekonstruierbare, soziale Welt verstehen lässt, geht es im absoluten Geist um das Wissen des Geistes von sich selbst. Es ist dieses Wissen, das es für Hegel rechtfertigt, einige Phänomene nur dann sachgemäß explizieren zu können, wenn er sie aus dem objektiven Geist und den dort vorhandenen Explikationsprinzipien mithilfe des Teilprinzips „an und für sich freier Wille“ ausgrenzt. Zudem sei es aber auch der Zeit nach (iii) der Fall, dass die Religion der Staatlichkeit vorausgehe. Erst durch religiöse Praxen und den Kultus ergäbe sich das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die dann in der Folge auch staatliche Strukturen ausbilden kann. Auch die Philosophie etabliert sich zu Anfang, wie Hegel in den Abschnitten 7 und 8 der Anmerkung ausführt, im Konflikt mit der Religion, ehe es möglich sein soll, in der Gegenwart eine Versöhnung herbeizuführen. Dabei ist die Religion historisch ein früheres Phänomen als die Philosophie, dies heißt aber nicht, dass sie dieser geltungstheoretisch überlegen sei. Bereits in § 1 bemerkt Hegel, dass die Philosophie (zeitlich) nicht am Anfang stehen kann, sondern Vorstellungen voraussetzt, aufgrund welcher wir eine Bekanntschaft mit bestimmten Gegenständen haben, die dann als Grundlage philosophischen Nachdenkens dienen können. Es ist sowohl in § 552 A als auch in der Exposition des absoluten Geistes nicht immer leicht zu sehen, in welchem Sinne Hegel jeweils von Religion zu sprechen beabsichtigt. Hegels Text ruft weitere Irritationen hervor, bezeichnet er den absoluten Geist in § 554 doch sogar als „Religion […] im allgemeinen“. Er nutzt ‚Religion‘ also nicht nur zur Bezeichnung einer spezifischen Gestalt des absoluten Geistes, sondern zudem als Oberbegriff für Kunst, Religion und Philosophie. Bedenkt man, dass Autoren wie etwa Ludwig Feuerbach Hegels Philosophie als „die wahre, die konsequente, die vernünftige Theologie“39 zu entlarven versuchten, dann legt sich die Vermutung nahe, dass die Art und Weise, wie man als Interpret diesen weiten Religionsbegriff disambiguiert, mit darüber entscheidet, ob eine linkshegelianische (religionskritische) oder eine rechtshegelianische Lesart relativ zu Hegels Ausführungen angemessener erscheint. Ferner muss der Interpret mit der von ihm gewählten Lesart über die Frage entscheiden, ob Hegel mit dem weiten Begriff von 39  Feuerbach 1990, 266.

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Religion einen besonderen Vorrang der Religion ausdrücken wollte, wobei die Bejahung dieser Frage für einen Linkshegelianer wenig attraktiv wäre. Dem linkshegelianischen Verständnis entspräche eher ein historisch verstandener weiter Sinn von Religion, demzufolge diese der Zeit nach an erster Stelle steht, während die Philosophie in Abgrenzung zu ihr und aus ihr entsteht, sobald dies durch die Ausdifferenzierung sozialer Funktionen und Rollen möglich wird40 und ohne dass dies einen geltungstheoretischen Vorrang der Religion implizierte. 4

Die Exposition des absoluten Geistes (§§ 553–555)

Bevor Hegel im Rahmen seiner Lehre vom absoluten Geist nacheinander Kunst, Religion und spekulative Philosophie erörtert, expliziert er in den §§ 553 bis 555 zunächst einige Merkmale, die für den gesamten absoluten Geist charakteristisch sein sollen. Als ersten Unterschied zum Bereich des objektiven Geistes nennt er den Umstand, dass die Gestalten des absoluten Geistes auf eine „Realität im Geiste“ (§ 553) verweisen. Verstehen lässt sich dies als die These, dass das an Kunst41, Religion und Philosophie Wesentliche die geis­ tigen und mentalen Leistungen (das Hervorbringen von Vorstellungswelten und argumentativen Zusammenhängen) sind. Darüber hinaus lässt sich diesem Paragraphen das Prinzip entnehmen, das für den Bereich des absoluten Geistes als spezifisches Regionalprinzip einschlägig ist. Gestalten des absoluten Geistes sind demzufolge all diejenigen Phänomene, die sich als ein „Wissen der absoluten Idee“ (ebd.) deuten lassen. Das soll Hegel zufolge neben der spekulativen Philosophie auch für Kunst und Religion (im engen Sinne) gelten, wobei er das Augenmerk in der Enzyklopädie auf zwei konkrete Ausprägungen

40  Eine verwandte These formuliert Hegel in seiner Seinslogik: „‚Erst nachdem beinahe alles Notwendige‘ sagt Aristoteles, ‚und was zur Bequemlichkeit und zum Verkehr des Lebens gehört, vorhanden war, hat man angefangen, sich um philosophische Erkenntnis zu bemühen.‘ ‚In Ägypten‘, hatte er vorher bemerkt, ‚sind die mathematischen Wissenschaften früh ausgebildet worden, weil daselbst der Priesterstand früh in die Lage versetzt worden, Muße zu haben.‘“ („Vorrede zur zweiten Ausgabe“, GW 21, 12 f.). 41  Für die Kunst gilt dies, wie Hegel selbst bemerkt, aufgrund der unmittelbaren, raum-zeitlichen Anschauung nur in eingeschränktem Maße (vgl. GW 20, § 557). Dies ist auch der Grund, warum sie methodisch vor der Religion und der Philosophie als den beiden komplexeren Weltauslegungsgestalten behandelt wird, die der Struktur der absoluten Idee adäquater sind, als die auf materielle Hervorbringungen (und sei es in der PerformanceKunst) angewiesene und von diesen abhängige Kunst.

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legt: die antike Kunst(religion) und die christliche Religion42. Aufgrund ihrer Zielsetzung lassen sich die nicht-philosophischen Wissenschaften von vornherein nicht als Formen des Wissens vom Absoluten deuten, weshalb Hegel diese Wissenschaften auch nicht dem absoluten Geist zurechnet; die Gegenstandsbereiche derselben sind beschränkt und spezifisch43. Ferner interpretiert er auch die christliche Theologie als ein Unternehmen, das „der Erkenntnis Gottes als Geistes“ (§ 564 A) gewidmet sei. Hegel bringt jedoch an diversen Stellen das Ungenügen der theologischen Vorgehensweise zum Ausdruck und kritisiert deren methodische Defizite, die er durch seine Religionsphilosophie behoben sieht.44 Bei dem Projekt, das Hegel im absoluten Geist unter dem Titel „Die geoffenbarte Religion“ diskutiert, steht dann auch weniger die Theologie als wissenschaftliche Anstrengung im Vordergrund, als die christliche Vorstellungswelt im Sinne einer vorwissenschaftlichen Glaubenspraxis. Daraus lässt sich entnehmen, dass der wissenschaftliche Anspruch einer Praxis oder Institution für Hegel kein notwendiges Kriterium für die Zugehörigkeit zum Bereich des absoluten Geistes darstellt. Notwendig ist aber, dass es sich bei den Institutionen des absoluten Geistes um Selbstverständigungspraxen handelt. Das Regionalprinzip, das Hegel zufolge dem Bereich des absoluten Geistes zugrunde liegt, impliziert eine bestimmte Reihenfolge der Gestalten dieses Gegenstandsbereiches. In jedem Teilbereich seines Systems steht Hegel mit den besonderen Teilprinzipien ein ontologischer Maßstab zur Verfügung, an dem die Phänomene des jeweiligen Teilbereichs gemessen werden. Die ontologischen Prinzipien, auf die Hegel im Rahmen seines Systems 42  In seinem religionsphilosophischen Manuskript deutet Hegel die unterschiedlichen Religionen als zunehmend erfolgreichere Versuche, das Absolute bzw. die absolute Idee zu erkennen: „Die vollendete Religion ist diese, wo der Begriff der Religion zu sich zurükgekehrt ist, − wo die absolute Idee – Gott als Geist, nach seiner Wahrheit und Offenbarkeit für das Bewußtseyn der Gegenstand ist – Die frühern Religionen in welchen die Bestimmtheit des Begriffs geringer, abstracter, mangelhaft ist – sind bestimmte Religionen, welche die Durchgangs-Stuffen des Begriffs der Religion zu ihrer Vollendung ausmachen“ (GW 17, 31, Z. 16–21). 43  Zu Hegels Behandlung der nicht-philosophischen Wissenschaften vgl. Mooren/Rojek 2014. Da die Entwicklung von Religion und Philosophie nicht unabhängig von der Entwicklung der nicht-philosophischen Wissenschaften verläuft, ist durchaus fraglich, ob Hegel diesen nicht doch einen eigenständigen Bereich im absoluten Geist hätte zuweisen müssen, oder ob diese zumindest in der historischen Aufbereitung von Religion und Philosophie (ggf. auch der Kunst) eine Rolle zu spielen hätten. 44  Vgl. etwa das Vorwort zur dritten Ausgabe der Enzyklopädie sowie die Ausführungen in der oben erwähnten Anmerkung zu § 564. Vgl. auch Mooren (2018), Kap. 7.

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zurückgreift, lassen ein graduelles Verständnis von Wahrheit zu. Im Falle des Regionalprinzips des absoluten Geistes geht es z.B. um die Frage, in welchem Maße Kunst, Religion und Philosophie als „Wissen der absoluten Idee“ verstanden werden können. Laut Hegel tun sie das jeweils mehr oder weniger: am unvollständigsten realisiere die Kunst, im größtmöglichen Maße aber die spekulative Philosophie ein Wissen des Absoluten. Deutlich wird hier, dass es eine ganz bestimmte Perspektive ist, die Grund für die systematische Reihenfolge Kunst – Religion – Philosophie ist. Die von Hegel beanspruchte Überlegenheit der spekulativen Philosophie gilt strenggenommen also nur mit Blick auf einen bestimmten Aspekt, d.h. relativ zur Frage, welche Institution die Aufgabe, ein Wissen des Absoluten zu realisieren, am besten umsetzt45. In diesem Sinne bezeichnet Hegel seine Philosophie als „die Einheit der Kunst und Religion“ (Enz (1830) § 572), da sie den in diesen Praxen ausgedrückten Gehalt propositional zu fassen und zu rechtfertigen verstehe. 5 Fazit Wenn für die Abgrenzung des objektiven vom absoluten Geist spezifische Perspektiven konstitutiv sind, ist es möglich, dass dieselben Gegenstände, wenn auch mit Blick auf unterschiedliche Aspekte, sowohl im einen wie im anderen Teilbereich erörtert werden können. Mit Blick auf unsere erste Ausgangsfrage, warum Hegel neben der Philosophie – die als Endpunkt des Systems bereits aus Gründen des hegelschen Letztbegründungsprogramms im absoluten Geist zu verorten ist – auch Kunst und Religion dem absoluten Geist zuordnet, lassen sich mindestens zwei Gründe anführen: Zum einen fasst er sowohl die Kunst als auch die Religion ebenso wie die Philosophie als Selbstverständigungspraxen auf, die sich mit Gott, der Natur und dem menschlichen Geist (und seinen Hervorbringungen in Gestalt kultureller Artefakte) auseinandersetzen und diese im Verhältnis zur jeweiligen Praxis reflexiv deuten. Zum anderen sieht Hegel die Praxen des absoluten Geistes und deren Hervorbringungen insgesamt als geltungstheoretisch grundlegend für eine 45  Der Umstand, dass das Regionalprinzip des absoluten Geistes für eine bestimmte Perspektive auf Phänomene wie Kunst, Religion und Philosophie steht, macht ferner deutlich, dass unterschiedliche Perspektiven unterschiedliche Reihenfolgen implizieren. Hegel selbst liefert ein Beispiel für eine vom absoluten Geist verschiedene Perspektive, wenn er davon spricht, dass „die Religion (…) die Wahrheit für alle Menschen“ (GW 20, § 573 A) ist, während die Philosophie eine besondere Ausbildung erfordere (vgl. Vorrede zur 2. Auflage der Enzyklopädie).

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gelingende sittliche Praxis an. Als Interpret steht man dabei vor der Aufgabe zu verstehen, warum Hegel den Bereich des absoluten Geistes insgesamt als „Religion“ bezeichnet hat. In Anbetracht der hegelschen Wirkungsgeschichte – des Zerfalls der Hegelschule in rechts- und linkshegelianische Deutungen – kommt man wohl um eine Festlegung hinsichtlich der Plausibilität der einen oder anderen Richtung nicht herum. Hegels Text selbst bleibt – zumindest an den von uns betrachteten Stellen – uneindeutig. Eine Vereindeutigung in die links- oder rechtshegelianische Richtung sollte unseres Erachtens angesichts der Vor- und Nachteile entsprechender Deutungen hinsichtlich ihrer systematischen Plausibilität und mit ihnen verbundener Folgelasten getroffen werden. Vermieden werden sollte es allerdings, durch im Vorhinein getroffene hermeneutische Annahmen die Weichen für bestimmte Interpretationsergebnisse zu prädisponieren. Unsere zweite Frage lautete, welche Gründe sich dafür anführen lassen, dass sowohl der Common-Sense als auch die nicht-philosophischen Wissenschaften, obgleich es sich auch bei ihnen um Welt- und Selbstbezugsweisen handelt, nicht im absoluten Geist behandelt werden. Hier konnte festgehalten werden, dass für Hegel die Wissenschaftlichkeit keine notwendige Bedingung für die Abhandlung im Rahmen des absoluten Geistes darstellt. Zudem ist mit Blick auf die nicht-philosophischen Wissenschaften festzuhalten, dass sie Hegel zufolge aufgrund ihrer disziplinär beschränkten Perspektiven nicht den Anspruch auf eine grundlegende Form der Selbstverständigung erheben können. Diese Annahme ist zumindest dann plausibel, wenn man zwischen den nicht-philosophischen Wissenschaften und philosophischen Ausdeutungen, die an ihnen partizipieren, d.h. szientistischen Formen der Weltauslegung, unterscheidet. Gegen letztere hat Hegel sich kritisch gewandt; er behandelt sie im Rahmen der Philosophiegeschichte und ihrer wechselvollen Auseinandersetzung mit konkurrierenden nicht-philosophischen Forschungsunternehmungen. Dagegen ist es mit Blick auf den Common-Sense alles andere als klar, warum Hegel auf diesen nicht mehr zu sprechen kommt. Er spielt in den Übergangsparagraphen ebenso wenig wie bei der Exposition des absoluten Geistes eine Rolle. Vermutlich sieht Hegel die Vorstellung, von der er in § 1 der Enzyklopädie spricht, nicht als fähig an, eigenständige Betrachtungen weltauslegender Form auszuprägen, diese gehen, wie in § 1 nahegelegt, im „denkenden Betrachten“ (GW 20, § 1) stets in Philosophie über. Alternativ könnte Hegel die These verfechten, dass lebensweltliche Auslegungen (zumindest vor der Etablierung der Philosophie als eigenständiger Weltbezugsform) niemals religionsfrei und kunstfrei sind und ihr Selbstverständnis sich daher in diesen Formen artikuliert. Damit ist das letzte Wort in dieser Frage aber sicher nicht gesprochen. Andere Quellen wären heranzuziehen, um systematisch die

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Mooren, Rojek und Quante

Frage zu klären, ob Hegel nicht eine spezifisch lebensweltliche Weltauslegung weit ernster nehmen müsste und diese dann auch in den absoluten Geist zu integrieren hätte. Drittens fragten wir, wie sich die Dreiteilung und Anordnung im absoluten Geist in der Reihenfolge: Kunst, Religion und Philosophie verstehen lasse. Hier ließ sich festhalten, dass Hegel relativ zur philosophischen Interpretation des Gehalts dieser Selbstverständnispraxen diese danach geordnet hat, inwiefern es ihnen gelingt, den Gehalt des leitenden Prinzips, d.h. der Idee, am adäquatesten auszudrücken. Die Philosophie gehört so auch deshalb ans Ende dieses Systemteils, weil sie zur Explikation der beiden anderen Phänomene des absoluten Geistes herangezogen wird. Hegels Zuordnung bestimmter Phänomene zum absoluten Geist liegen allerdings einige Voraussetzungen zugrunde. So muss er zum einen unterstellen, dass es plausibel ist, diese Phänomene als Praxen zu deuten, deren primäre Funktion darin besteht, eine Verständigung über die Welt, Gott und die menschliche Kultur zu leisten. Ob dies tatsächlich die hermeneutisch plausibelste Rekonstruktion dieser Praxen ist und ob der Common-Sense nicht ebenfalls als Weltdeutung aufgefasst werden könnte, ist aber nicht ohne weiteres klar. Sicher muss Hegel alternative Deutungen dieser Praxen nicht als verfehlt zurückweisen; sie wären es aber dann, wenn sie mit seiner philosophischen Rekonstruktion unverträglich sind. Zur Beurteilung von Hegels Einteilungsvorschlag wären ferner seine Deutungen von Kunst, Religion und Philosophie im Detail zu betrachten, − eine Aufgabe, die im Rahmen dieses Beitrags allerdings nicht mehr geleistet werden kann. Hegels Umgang mit der Religion und die relativ dazu sehr zurückgestellte Rolle der Kunst bei der Motivation des Übergangs in den absoluten Geist, sowie die Unklarheiten, die mit der Verwendung des Ausdrucks ‚Religion‘ verbunden sind, lassen es nicht zu, ohne weiteres ein Urteil über die Plausibilität seines Vorschlags zu fällen. Sie hängt letztlich davon ab, ob und mit welchen Gründen man sich für eine links- bzw. rechtshegelianische Deutung entscheidet. Zum Abschluss möchten wir daher noch auf eine Frage hinweisen, die wir in diesem Beitrag ausgeblendet haben. Wer sich zwischen links- und rechtshegelianischen Deutungen entscheiden möchte, wird sich nicht nur zur Gretchenfrage, die Hegels Religionsbegriff aufwirft, verhalten müssen, sondern auch zu der Frage, inwiefern sein System und damit auch die Reihe der Gestalten des absoluten Geistes historisch und systematisch als abgeschlossen angesehen werden können. Insbesondere im Umfeld der Linkshegelianer wurden Hegels Abgeschlossenheitsthesen attackiert: zum einen sah man den absoluten Geist als geltungstheoretisch relatives Resultat einer historischen Epoche, zum anderen sei er in der Gegenwart nur erst partiell realisiert. Die Forderung, Hegels Philosophie müsse praktisch werden, bezog sich daher gerade darauf, sein

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System um die Dimension der Zukunft zu erweitern und diese lediglich partielle Realisierung zu überwinden46. Eine alternative Kritiklinie bestand darin, mit Hegel die Philosophie als geltungstheoretisch abgeschlossen zu betrachten und im Anschluss daran eine neue Art von einheitswissenschaftlichem Projekt zu verfechten47. Die Frage, ob es systematisch sinnvoller wäre, die Phänomene aus dem Bereich des absoluten Geistes in den objektiven Geist zu integrieren, hängt letztlich auch von der Bewertung der Zukunfts- und Praxisdimension des hegelschen Systems ab. Ob es möglich ist, bezüglich der Religionsfrage eine linkshegelianische Deutung zu verfechten und trotzdem mit Blick auf die zweite Frage am absoluten Geist festzuhalten, ohne sich gewissermaßen philosophisch arbeitslos zu machen, ist eine spannende systematische Anschlussfrage, deren Beantwortung aber über eine Rekonstruktion des hegelschen Textes hinausweist.

46  Einflussreich war hier insbesondere das Frühwerk von August von Cieszkowski (1838). 47  Zum Anspruch, über die Philosophie hinauszugehen, vgl. Brudneys Ausführungen zu Feuerbach und Marx in ders. (2009).

Die Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist bei Hegel Yoichi Kubo Was ist der absolute Geist bei Hegel? Sein Wesen soll daraus erklärt werden, wie er zunächst aus dem objektiven Geist entsteht, weil das „Wesen“ von etwas nach Hegel im Allgemeinen nichts als das, was ge-wesen ist, „das vergangene, aber zeitlos vergangene Seyn“ (GW 11,241) ist. Diese Entstehung macht die letzte Phase der Philosophie des Geistes in der Enzyklopädie aus. Als solche ist sie durch die Begriffe der Logik bestimmt, so dass sie als die Bewegung aufgefasst wird, die schließlich zum „Bewußtseyn der absoluten Idee“ (GW 20,539) oder „Wissen der absoluten Idee“ (GW 20,542) gelangt. In der Enzyklopädie jedoch wird aufgrund der abgekürzten Darstellung nicht ausreichend geklärt, was diese Bewegung im Konkreten bedeutet, besonders, welche praktische Absicht oder welcher geschichtliche Inhalt darin enthalten ist. Obwohl dieser Punkt durch die Darstellungen in den Vorlesungen über die Ästhetik, die Philosophie der Religion und die Geschichte der Philosophie einigermaßen ergänzt werden könnte, wollen wir hier zunächst versuchen, den konkreten Grund für die Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist dadurch zu erklären, dass wir auf die Entwicklung von Hegels Gedanken über die Beziehung zwischen Staat, Kunst, Religion und Philosophie seit seiner frühen Zeit zurückblicken. Nachdem wir den systematischen und logischen Sinn des betreffenden Zusammenhangs in der Enzyklopädie eingesehen haben (Abschnitt I) und die Probleme über den konkreten Sinn dieses Zusammenhangs – wie die geschichtliche Dimension jener Erhebung, die Versöhnung des Staates und der Religion und die Religiosität des absoluten Geistes überhaupt – geprüft haben (Abschnitt II), fragen wir nach der Entwicklung dieses Problemkomplexes seit Hegels früher Zeit (Abschnitt III). 1

Absoluter Geist als „Bewußtseyn der absoluten Idee“

Der Zusammenhang zwischen dem objektiven und absoluten Geist in der Enzyklopädie ist derjenige zwischen der zweiten und dritten Gestalt der drei Gestalten des „Absoluten“, das als „Geist“ bestimmt wird. Dabei wird er als demjenigen zwischen der ersten und zweiten Gestalt bestehenden analog aufgefasst: Der subjektive Geist, als der wissende und wollende einzelne Mensch,

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_029

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schafft einerseits die Voraussetzung des objektiven Geistes als der gesellschaftlichen Organisation sowie der sie tragenden Gesinnung der Individuen. Andererseits wird die „Endlichkeit“ (GW 20, 383) des Individuums im gesellschaftlichen Bereich aufgehoben. Analog dazu macht der objektive Geist einerseits die Voraussetzung des absoluten Geistes als des durch Kunst, Religion und Philosophie offenbarten Absoluten aus. Andererseits wird die „Endlichkeit“ (GW 20, 530) des gesellschaftlichen Bereichs im letzten, absoluten Bereich aufgehoben. Dabei besteht die „Endlichkeit“ des subjektiven und des objektiven Geistes darin, dass diese Gestalten des Geistes relativ zur „vorausgesetzten“ (GW 20, 384) Natur existieren. Der subjektive Geist jedoch „findet“ die Natur passiv „vor“, während der objektive, als der freie Wille, sie aktiv „erzeugt“ (ebd.). Trotzdem wird dieser freie Wille noch von einer „äußerliche[n] vorgefundene[n] Objektivität“ unterschieden, die sich in „das anthropologische der particulären Bedürfnisse“, in „die äußeren Naturdinge“ und in „das Verhältniß von einzelnen zu einzelnen Willen“ aufgliedert (GW 20, 478). Dagegen setzt der absolute Geist die Natur in keiner Weise voraus, sondern erschafft sie in sich. Insofern der absolute Geist somit der den objektiven, welcher den subjektiven aufhebt, aufhebende Geist ist, ist er nicht nur das Resultat des vorausgehenden Prozesses, d.h. die dritte, besondere Stufe des Geistes, sondern enthält den ganzen Prozess, von seiner ersten bis zur dritten Stufe, in sich. Damit hat der absolute Geist die gleiche Bestimmtheit wie die des „Begriffs“ in der Logik. Denn der Begriff stellt ebenso nicht nur das Resultat des ihm vorhergehenden Prozesses dar, sondern auch diesen Prozess als solchen – besonders den von der Kategorie „Substanz“, die sich in die der „Ursache“ und in die der „Wirkung“ trennt und dann durch die „Wechselwirkung“ dieser endlichen Substanzen zu der ursprünglichen Substanz zurückkehrt, die nun die „absolute Substanz“ genannt wird1. Eine solche sich bewegende Substanz ist nichts anderes als der hegelsche Begriff. Deswegen hat Hegel als Wesen des Geistes überhaupt, als des Absoluten bzw. der Substanz, den Begriff gehalten; „Das Absolute ist der Geist. […] Das Wesen des Geistes ist der Begriff“ (GW 13, 180). Daher kann der Begriff seine vorausgehenden Bedingungen auch als die Seite seiner „Realitäten“ erfassen, die er selbst gesetzt hat. Insofern ist der Begriff nichts als die „Idee“, die die Einheit des „Begriffs“ mit seiner „Realität“ darstellt. Angesichts dieser Bestimmtheit der „Idee“ hält Hegel den absoluten Geist nun für das „Bewußtseyn der absoluten Idee“, deren „Seite der Realität“ (GW 20, 542) der subjektive und der objektive Geist darstellen. Umgekehrt gesagt, sind diese beide Gestalten des Geistes als solche wegen der „Unangemessenheit 1  Vgl. die „genetische Exposition des Begriffs“ (GW 12, 11) in der Wissenschaft der Logik.

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des Begriffs und der Realität“ (GW 20, 383) bloß „das Scheinen innerhalb seiner [sc. des Geistes]“ (ebd.). Dabei ist der absolute Geist nicht nur die mit sich selbst gleiche Substanz, die den subjektiven und den objektiven Geist in sich auflöst, sondern enthält auch einen Faktor des „Wissens“, als denjenigen der Trennung in sich selbst. Der Begriff enthält die beiden Pole „Allgemeinheit“ und „Einzelheit“ oder „an und für sich Sein“ und „Reflexion“2. Dementsprechend ist der absolute Geist die „Substanz“, die das wissende „Urteil“ als den trennenden Faktor in sich einschließt. Der absolute Geist ist nämlich „die Eine und allgemeine Substanz als geistige, das Urteil in sich und in ein Wissen, für welches sie als solche ist“ (GW 20, 542). Dieses Wissen ist jedoch nicht das gewöhnliche des Menschen, das sich auf einen außer ihm liegenden Gegenstand bezieht, sondern das der Substanz, das sich auf sich selbst bezieht, also eine Selbsterkenntnis der Substanz. Aber diese Selbsterkenntnis der Substanz entsteht nicht unmittelbar, sondern mittelbar, nämlich durch das menschliche Erkennen des Absoluten als dessen Voraussetzung. Falls der endliche Mensch – ein Künstler, ein religiöser Mensch oder ein Philosoph – das Absolute durch seine subjektive Fähigkeit in seiner Gesellschaft erkennt, ereignet die Selbsterkenntnis des Absoluten sich darin. Der absolute Geist bedeutet ebendiese Selbsterkenntnis des Absoluten. Er ist also der Liebe Gottes zu sich durch die Liebe des Menschen zu Gott bei Spinoza ähnlich. Denn der Mensch hat diesem zufolge die intellektuelle Liebe zu Gott dadurch, dass er ihn erkennt – und diese menschliche Liebe zu Gott ist gerade die Liebe Gottes zu sich selbst, weil der Mensch ein Teil Gottes ist. 2

Die Probleme des konkreten Grundes der Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist

Die Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist hat somit den logischen Sinn derjenigen von der „nur an sich seyend[en]“ „absolute[n] Idee“ (GW 20,478) zu „dem Bewußtseyn der absoluten Idee“. Konkret beinhaltet sie die Erhebung von dem Verhalten des menschlichen freien Willens gegen die eigenen Bedürfnisse, die äußere Natur und den anderen Willen zur Selbsterkenntnis des Absoluten durch dessen menschliche Erkenntnis. Dennoch bleiben in der Darstellung der Enzyklopädie einige Unklarheiten dazu, auf welcher Weise sich diese Erhebung wirklich ergibt. 2  Vgl. GW 11, 409; GW 12, 12.

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Die geschichtliche Dimension der Erhebung Erstens gibt es das Problem, wer und wie sich die Endlichkeit des objektiven Geistes wirklich aufheben kann. Hegel scheint zunächst zwei Subjekte dieser Erhebung geltend zu machen. Ein Subjekt ist „der in der Sittlichkeit denkende Geist“ (GW 20, 530), das andere „der denkende Geist der Weltgeschichte“ (ebd.)3. Was jenen betrifft, ist der Ausgangspunkt der Erhebung das „reelle sittliche Selbstbewußtseyn“ (GW 20, 531). Einerseits wohnt die „Sittlichkeit“ dem Selbstbewußtsein „seines Volkes und der Individuen desselben“ (GW 20, 532) inne, andererseits hat dieses Selbstbewußtsein noch die Beschränkung der „subjektiven Meynung“ und der „Selbstsucht der Begierde“ (GW 20, 531). Indem es eine solche Beschränkung durch das „Denken“ überwindet, kann es die ihm innewohnende Sittlichkeit, rein als den „göttliche[n] Geist“ (GW 20, 532), offenbaren. Indem es somit „das Bewußtseyn der absoluten Wahrheit“ wird, kann, „was als Recht und Gerechtigkeit, als Pflicht und Gesetz […] gelten soll, nur in sofern gelten, als es Theil an jener Wahrheit hat, unter sie subsumirt ist und aus ihr folgt“ (GW 20, 532). Ein solches denkendes Selbstbewusstsein in der Sittlichkeit hat jedoch noch „die immanente Beschränktheit des Volksgeistes“ (GW 20, 530). Daher muss diese durch den „denkenden Geist der Weltgeschichte“ überwunden werden. Der in der Sittlichkeit denkende Geist erhebt sich „zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit“ (ebd.), „indem er zugleich jene Beschränktheiten der besonderen Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abgestreift“ (ebd.) hat. Dieser „denkende Geist der Weltgeschichte“ ist nichts anderes als die „Vernunft“ (GW 13, 499) in der Weltgeschichte, die sich durch Entstehung und Untergang jedes Volksgeistes und durch seinen Übergang zum anderen unverändert durchsetzt. Insofern sie „die sich von selbst machende und sich hervorbringende Erhebung im weltlichen grossen Ganzen über das Zeitliche und Endliche“ ist, macht sie die „Seite der selbstbewußten Existenz Gottes“ (ebd.) aus. Aber diese zwei Subjekte sind nicht gänzlich verschieden, sondern machen die beiden Seiten ein und derselben Sache aus4. Hegel hat dies wie folgt in seiner Notiz zum dritten Teil der Enzyklopädie beschrieben: „Dichter, Philosophen, erfassen die Idee – im Gedanken ihres Volkes, die ihnen durch 3  Ein ähnlicher Hinweis findet sich im § 341 der Grundlinien der Philosophie des Rechts über die „Weltgeschichte“: „Das Element des Daseyns des allgemeinen Geistes, welches in der Kunst Anschauung und Bild, in der Religion Gefühl und Vorstellung, in der Philosophie der reine, freye Gedanke ist, ist in der Weltgeschichte die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Aeußerlichkeit“ (GW 14–1, 274). 4  Vgl. Fulda, 2003, 186.

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den Weltgeist bestimmt ist“ (GW 13, 501). Einerseits begreifen die „Dichter“ und „Philosophen“ das Wesen der Sittlichkeit innerhalb ihres Volkes, wodurch sie die wirklichen und einzelnen Gesetze und Sitten als gut oder böse beurteilen können. Gerade dadurch erfasst der „Weltgeist“ jedoch andererseits jenes offenbarte Wesen der Sittlichkeit als eine besondere Bestimmung der allgemeinen ewigen „Idee“, die selbst von der Beschränktheit des besonderen Volkes befreit ist. In dieser Weise ergibt sich die Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist wirklich. Dass die Dichter und Philosophen das Wesen der Sittlichkeit in dem besonderen Volk begreifen, ist insofern ein Ereignis der Weltgeschichte. Es hat also eine geschichtliche Dimension. Allerdings ist dieses Ereignis weder bloß eine zufällige Erscheinung noch ein notwendiges Resultat der vorhergehenden besonderen Bedingungen. Es drückt vielmehr die allgemeine, ewige Idee in einer besonderen Weise aus. Die Erhebung des objektiven Geistes zum absoluten bedeutet also ein geschichtliches Ereignis der Kultur, das die Idee in einer besonderen Weise ausdrücken kann. Umgekehrt gesagt, muss der absolute Geist nicht rein als solcher, sondern als ein kulturelles Ereignis im objektiven Geist, nämlich in einer bestimmten Gesellschaft erscheinen, damit er sich wahrhaft verwirklichen kann5. Und dieses Ereignis hat seinerseits die besonderen Verhältnisse hinter sich. Tatsächlich spricht Hegel z.B. von dem „Untergang“ der „wirklichen Welt“ als dem Moment der Entstehung der „Kunst“ in der Notiz der Enzyklopädie; „Epoche worin die Kunst in einem sittlichen Volke hervortritt, das über den Untergang seiner wirklichen Welt trauert, und sein Wesen über die Wirklichkeit erhoben, nun aus der Reinheit des Selbstes hervorbringt. Hier geht erst die Kunst an“ (GW 13, 507)6. In der Phänomenologie des Geistes wurde es so aufgefasst, dass das Christentum als „der sich als Geist selbstbewußte Geist“ aus der Synthesis des „komischen Bewusstseins“ und des „unglücklichen Bewusstseins“ im Moment des Verlustes des sittlichen Lebens im „Rechtszustand“ entstanden war7. Nach der Notiz der Enzyklopädie erschien das sokratische „Denken, 5  Nach Fulda macht der absolute Geist sich „durch die Entlassung seiner in die natürlichsittliche Welt“ zu „einer weltgeschichtlich datierten Aufeinanderfolge seiner Gestalten seines Wissens“. Dieser Prozess wird die „absolute Geschichte“ genannt. Vgl. Fulda, 1965, 238. 6  Auf diesen Punkt wurde auch schon in der Phänomenologie des Geistes hingewiesen: „Dieses ist der in sich gewisse Geist, der über den Verlust seiner Welt trauert und sein Wesen, über die Wirklichkeit erhoben, nun aus der Reinheit des Selbstes hervorbringt. In solcher Epoche tritt die absolute Kunst hervor“ (GW 9, 377). 7  Vgl. GW 9, 401 ff. Diese Ansicht findet sich schon im Entwurf der Volksreligion in der frühen Zeit, wie gesehen.

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als selbstbestimmend in sich“ auch „zur Zeit des Untergangs des Staates“ (GW 13, 531). Deshalb kann man wohl sagen, dass der absolute Geist aus dem objektiven gerade in einer kritischen Situation der Weltgeschichte entsteht, wo die vorher anerkannte Ordnung der Sittlichkeit schon untergegangen war und die neue Ordnung an ihrer statt noch nicht erschienen. Dabei verwirklicht der „in der Sittlichkeit denkende Geist“, d.h. der Künstler, der Stifter der Religion oder der Philosoph, die allgemeine Idee der Sittlichkeit rein als die Einheit des Absoluten und des Menschen in seiner innerlichen Welt. Versöhnung des Staates und des absoluten Geistes Wie oben gesehen, hat die Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist nicht nur eine synchrone, logische Dimension, sondern auch eine diachrone, geschichtliche8. Mit anderen Worten gibt es einerseits zu jeder Zeit die Möglichkeit der strukturellen Verwandtschaft zwischen dem Staat und dem absoluten Geist; andererseits aber wird diese Möglichkeit vor allem in einer kritischen Situation verwirklicht, wo die ursprüngliche Einheit der Substanz und des Selbstbewusstseins in der Sittlichkeit nach deren Verlust wiederhergestellt werden soll. Diese geschichtlich entstandene Verwandtschaft zwischen dem Staat und dem absoluten Geist ist nichts anderes als die „Versöhnung“ beider. Dabei ist bemerkenswert, dass Hegel sie für die Neuzeit betont hat, in der die Freiheit des Geistes das Prinzip des Staates ausmacht: „Nur in dem Princip des sein Wesen wissenden, des an sich absolut freien und in der Thätigkeit seines Befreiens seine Wirklichkeit habenden Geistes, ist die absolute Möglichkeit und Nothwendigkeit vorhanden, daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie in eins zusammenfallen, die Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt mit dem Geist, des Staates mit dem religiösen Gewissen ingleichen dem philosophischen Wissen sich vollbringt“ (GW 20,540). Aber Hegel 8  Möglicherweise wird dies auch innerhalb des Bereiches des absoluten Geistes denkbar. Es kann sein, dass der Zusammenhang zwischen Kunst, Religion und Philosophie sowie derjenige zwischen den Formen jeder einzelnen Sphäre (z.B. der Kunstformen) nicht nur eine synchrone, sondern auch eine diachrone Dimension hat. Und die diachrone Dimension des Zusammenhangs zwischen Kunst, Religion und Philosophie bezieht sich auf die oben erwähnte „absolute Geschichte“ (Anm. 5) der klassischen Kunst, des Christentums und der neueren Philosophie, die Hegel paradigmatisch in der Enzyklopädie zu behandeln scheint – hat er doch nicht nur die anderen Künste als die klassischen in §§ 561/562 der Enzyklopädie erwähnt, sondern auch die anderen Philosophien als die neueren in seiner Notiz (GW 13, 531 ff.) dargestellt. Er hat also auch die Geschichte der Kunst, die der Religion und die der Philosophie nicht ausgeschlossen. Allerdings versucht Fulda, diese Geschichte der drei Bereiche vielmehr in den Rahmen der „absoluten Geschichte“ zu stellen. Vgl. Fulda 1965, 241.

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erklärt hier nicht genau, wie diese Versöhnung zwischen Staat, Religion und Philosophie in der Neuzeit stattfindet. Religiosität Obwohl die Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist eine geschichtliche Dimension hat und die Versöhnung von Staat und Religion sowie Philosophie in einer kritischen Situation stattfinden soll, bleibt die Frage, warum die Sphäre des absoluten Geistes im Allgemeinen „Religiosität“ genannt wird. Hegel bezeichnet sie explizit so – im § 554 der Enzyklopädie: „Die Religiosität, wie diese höchste Sphäre im Allgemeinen bezeichnet werden kann“ (GW 20, 542). Eigentlich soll die Religion nur eine besondere Gestalt des absoluten Geistes neben der Kunst und der Philosophie sein, aber sie scheint auch den absoluten Geist überhaupt zu bezeichnen9. In dem an diese Bezeichnung anschließenden § 555 wird zudem das „subjective Bewußtseyn des absoluten Geistes“ als der „Prozeß“ des „Glaubens“ aufgefasst, in dem man mit der „Gewißheit“ beginnt und durch die „Andacht“ zum „Cultus“ gelangt (GW 20, 543). Was bedeutet dies? Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass Hegel den Ausdruck der „Religiosität“ neben dem der „Religion“ im § 552 benutzt: „Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität geht nur aus der Sittlichkeit hervor“ (GW  20,531). Kann man also sagen, dass die Bestimmung der Religiosität auch auf Kunst und Philosophie zutrifft? Kunst und Philosophie sind Hegel zufolge gewiss inhaltlich gleich mit der Religion. In der ersten Auflage der Enzyklopädie wurde die Überschrift der Kunst noch als „Religion der Kunst“ (GW 13, 241) bezeichnet. Obwohl sie seit der zweiten Auflage „die Kunst“ genannt wird, wird sie wesentlich für eine Art der Religion gehalten. Die „symbolische Kunst“ in Ägypten und Indien z.B. ist nichts anderes als die „an sinnliche Aeußerlichkeit noch gebundene Religion“ (GW 20, 548), die den „Gott“ in der „Natur“ als Sterne, Sonne oder Tiere findet und verehrt. Die griechische „klassische Kunst“ und „deren eigenthümliche Religion“ (GW 20, 549) drückt den „Gott“ in der höheren, menschlichen Gestalt aus. Die „romantische Kunst“ stellt „das Göttliche“ als „Innigkeit in der Aeußerlichkeit, dieser selbst sich entnehmend“ (GW 20, 547) dar. Philosophie, die die „Einheit der Kunst und Religion“ (GW 20, 554) ist, behandelt ebenso den religiösen Inhalt, vor allem den des Christentums. In diesem wird er als Zusammenhang von verschiedenen Gegenständen der Vorstellung – wie Gott, Jesus und Gemeinde – dargestellt, die zwar im Kontext

9  Nach Fulda macht die „Religion“ „die Totalität der Wirklichkeit des absoluten Geistes“ aus. Vgl. Fulda 1965, 235.

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der Zeit erschienen. Indem man aber begreift, dass diese drei Gestalten Gottes zusammen „einen Schluss“ als Allgemeinheit-Besonderheit-Einzelheit ausmachen, werden sie als Momente des einen, ewigen Absoluten durch das Denken in der Philosophie versammelt, sodass der Anfang sich am Ende der Bewegung wieder manifestiert. Da Kunst und Philosophie hiermit gemeinsam den religiösen Inhalt darstellen, kann man sagen, dass dieser der Kunst, Religion und der Philosophie gemeinsame Inhalt die „Religiosität“ zu nennen ist. Aber Hegel erklärt hier nicht genau, warum und in welchem Sinne er sie als das ihnen gemeinsame Wesen konzipieren musste. Die oben erwähnten Probleme der geschichtlichen Dimension der Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist, der Versöhnung des Staates und des absoluten Geistes und der Religiosität stehen in Beziehung zueinander. Dieser Zusammenhang kann aber erst durch die Betrachtung der Entwicklung des Problemkomplexes geklärt werden. Wir wollen nun zu ihr übergehen. 3

Entwicklung des Problemkomplexes

Das ursprüngliche Konzept des geschichtlichen Zusammenhangs von Staat und Religion Wir fragen zunächst nach dem Zusammenhang des Staates mit der Religion im Entwurf der „Volksreligion“ seit der Tübinger Zeit. Hegel beschäftigte sich dort mit der Aufgabe, wie man das Christentum, das in den schlechten Zustand der „objektiven“ und „privaten“ Religion gerät, als die „subjective“ und „öffentliche“ Religion, also die „Volksreligion“, wiederherstellen kann. Nach diesem Entwurf wird die Religion als nicht von dem „Geist des Volkes, [der] Geschichte, […] [dem] Grad der politischen Freiheit“ (GW 1, 111) und von der „schöne[n] Kunst“ (ebd.) getrennt aufgefasst, wie bei Montesquieu und Herder. Und diese verschiedenen Momente des Volksgeistes wirken aufeinander. Vor allem wird die Wirkung des Staates und der Religion auf den Volksgeist für wichtig erachtet: „Den Geist des Volkes zu bilden ist zum Teil auch Sache der Volksreligion, zum Teil der politischen Verhältnisse“ (ebd.). Dabei erkennt Hegel einerseits die Verbindung beider insofern an, als die Wirkung der Religion den „Trieb der Sittlichkeit“ (GW 1, 153) verstärkt. Deswegen kann die Religion der „Zwek der Gesetzgeber und der Verwalter eines Staats werden“ (GW 1, 154). Oder: „[D]ie objective Religion subjektiv zu machen, mus das grosse Geschäft des Staats seyn“ (GW 1, 139). Andererseits behauptet Hegel jedoch, dass der Staat dem Volk nicht die Religion aufzwingen darf und ihr eine Gelegenheit sowie ein Angebot an Anstalten nur insofern geben darf, als sie sich „mit der Freiheit

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der Gesinnungen“ (ebd.) verträgt. „VolksReligion […] geht Hand in Hand mit der Freyheit“ (GW 1, 110). Die sich so zum Staat verhaltende Religion wird auch in der Dimension der „Geschichte“ betrachtet, die der Volksgeist als sein Moment in sich enthält. Folglich müssen die religiösen Lehren gerade der „GeistesCultur – und der Stufe von Moralität angemessen [sein, ] auf der ein Volk steht“ (GW 1, 104). Die Volksreligion muss nämlich der Entwicklungsstufe des Lebens des Volkes „angemessen“ sein. Eine solche Geschichte des Zusammenhangs von Religion und Staat wird nun in den folgenden drei Stufen in Bezug auf die Entfremdung des Volkes konzipiert: 1) dem „bessern Zustand“ (GW 1, 163) des griechischen Volkes und dessen Religion, wo der „freie Republikaner“ „im Geiste seines Volks für sein Vaterland seine Kräfte, sein Leben aufwand“ (ebd.) und „Gehorsam unter Natur und Nothwendigkeit als Maxime in seine Vernunft aufgenommen“ (ebd.) hat, 2) dem „offene[n], willkommne[n] Empfang der christlichen Religion zu den Zeiten der verschwundenen öffentlichen Tugend der Römer“ (GW 1, 164), wo das Volk nur das „Privatleben führt[e]“ (GW 1, 163) und das „[S]chöne der menschlichen Natur“ „in das fremde Individuum“, d.h. Jesus Christus, „hineinleg[en]“ (GW 1, 164) musste, und 3) dem Zustand „nach Jahrhunderten“ (ebd.), wo wir jenes Schöne der menschlichen Natur „wieder als unser eignes Werk freudig erkennen, es uns wieder aneignen“ (ebd.), sodass das „System der Religion“ „eigne wahre, selbständige Würde erhalten“ (ebd.) wird. Eine solche Ansicht, dass der Staat, die Religion, die Kunst und die Geschichte die Momente des Volksgeistes ausmachen und der Zusammenhang des Staates und der Religion geschichtlich entwickelt wird, bleibt auch später erhalten, – wobei das Moment der Philosophie seit der Jenaer Zeit hinzugefügt wird. Hegel äußert diese Ansicht tatsächlich ebenso in der Enzyklopädie, wie „die Natur der Sittlichkeit eines Volks, das Princip seines Rechts, seiner wirklichen Freiheit und seiner Verfassung, wie seiner Kunst und Wissenschaft dem Princip entsprechen, welches die Substanz einer Religion ausmacht. Daß alle diese Momente der Wirklichkeit eines Volks Eine systematische Totalität ausmachen und Ein Geist sie erschafft und einbildet, diese Einsicht liegt der weitern zum Grunde, daß die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfällt“ (GW  20, 547). Die ursprüngliche Einsicht in die Religiosität Das Prinzip, wodurch die religiöse Entfremdung aufgehoben wird, war die Autonomie des „Schönen der menschlichen Natur“ in dem frühesten Konzept der Volksreligion, welches aber zu dem der Vereinigungsphilosophie der Frankfurter Zeit, als „Liebe“ oder „Leben“, verändert wird. Dabei wird die religiöse Vereinigung, konkret gesagt, das Prinzip der „schöne[n] Religion“

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(GW 2, 115) Jesu unter zwei Gesichtspunkten betrachtet; nämlich unter dem quasi subjektiven Gesichtspunkt der Handlung des „Menschen“ und unter dem quasi objektiven, der den Menschen einschließenden und transzendierenden „Natur“. Einerseits wird die Religion auf die höchste Stufe der Bildung des Menschen gestellt, die schon die Stufen der „Positivität“ oder Legalität, der „Gesinnung“ oder Moralität und der „Liebe“ durchlaufen hat. „Gesinnung hebt die Positivität Objektivität der Gebote auf; Liebe die Schranke der Gesinnung; Religion die Schranken der Liebe“ (GW 2, 123). In dieser Leiter wird die niedrigere Haltung durch die höhere sowohl aufgehoben als auch ihrer Möglichkeit oder Bedingung nach erhalten, was „Complement“ (GW 2, 229) oder „πλερωμα“ (GW 2, 246) genannt wird. Andererseits wird die Liebe als die die ursprüngliche Vereinigung mit der Natur wiederherstellende Haltung, d.h. als die „Versöhnung“ mit dem „Schicksal“ aufgefasst, das einmal durch die Trennung von der ursprünglichen Vereinigung mit der Natur verursacht wurde. Insofern die Liebe jedoch der ihr entbehrenden Welt gegenübertritt, gerät sie wieder unter das „Schicksal“ der „schönen Seele“. Diese Schranke der Liebe wird durch die Religion aufgehoben, die die Vereinigung der Liebe und der Welt unter Gott bringt. Aber die Religion geriet ihrerseits wegen der Trennung der „Gemeinde“ von der wirklichen Welt wieder unter ihr „Schicksal“. Die den Menschen einschließende und transzendierende Natur hat also den Prozess ihrer ursprünglichen Vereinigung, ihrer Trennung, ihrer Wiederver­ einigung, ihrer Wiedertrennung, ihrer Wieder-Wiedervereinigung und ihrer Wieder-Wiedertrennung durchlaufen. Dabei entspricht die Stufe der Trennung der „Positivität“ und „Gesinnung“; die der Wiedervereinigung der „Liebe“; die der Wieder-Wiedervereinigung der „Religion“. Wenn es sich so verhält, kann Hegels Einsicht in den Zusammenhang von Mensch und Natur in den folgenden drei Momenten erfasst werden10: Erstens ist der Mensch eigentlich ein Teil der Natur. Die menschlichen Tätigkeiten stellen am Ende die Selbstentwicklung der Natur dar, das heißt ihre Vereinigung, ihre Trennung, ihre Wiedervereinigung, ihre Wiedertrennung, ihre WiederWiedervereinigung, ihre Wieder-Wiedertrennung usw. Zweitens steht der Mensch – relativ unabhängig von der Natur – auf der sich nach der ursprünglichen Vereinigung ergebenden Stufe, und trägt einen Teil der gesamten Bewegung subjektiv. Er zerreißt die Verbindung der Natur durch seine Reflexion, bringt die Trennung und das Entgegengesetzte in und außer sich selbst hervor. Aber er kann sich auch an die dadurch Schaden genommen habende Vereinigung erinnern und die ursprüngliche Vereinigung mit eigenen Händen wiederholen. Ohne eine solche Tätigkeit des Menschen kann 10  Vgl. Kubo 2000, 124–125.

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die ursprüngliche Vereinigung mit der Natur nie wiederaufleben. Wenn die Seite dieser subjektiven menschlichen Tätigkeiten getrennt, aus der ganzen Bewegung der Natur herausgelöst wird, macht sie jene Leiter der verschiedenen Haltungen des Menschen aus: Positivität, Gesinnung, Liebe und Religion. Drittens gründet sich die Unabhängigkeit des Menschen von der Natur selbst aber nicht nur auf die Selbsttrennung der Natur. Der Mensch kann auch die Trennung des Selbst und der Welt erst überwinden, wenn die Natur schon im Voraus als Schicksal gegen ihn wirkt und ihn in die Erinnerung und die Selbstnegation treibt. Um diese Forderung der Natur zu erwidern, nimmt er sie auf sich, negiert seine bisherige Haltung und nimmt Aufschwung zu einer höheren Haltung. Dadurch gelingt die Wiederherstellung der Natur. Aber er trennt sich wieder davon, und gegen diese Trennung wirkt sie wieder als Schicksal. Der Mensch gehört also ursprünglich zur Natur, existiert aber zugleich relativ unabhängig von ihr, und nimmt dann ihre geheime Gegenwirkung auf. Beide stehen sozusagen im dialogischen, sich gegenseitig ergänzenden Zusammenhang. Hegel nennt ihn am Ende den „Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen“ (GW 2, 260), worin sich „ein heiliges Geheimnis“ (GW 2, 261) findet. Dieses Geheimnis kann, wie oben, zunächst durch „Religion“ offenbart werden11. Die ganze Bewegung der Natur wird nämlich durch sie als Zusammenhang „zwischen Entfremdung von Gott und Versöhnung mit ihm“ (GW 2, 215) vorgestellt. Hegel fasst dies schließlich im Anschluss an das Evangelium nach Johannes als „Verhältnis des Vaters, des Sohnes, und des heiligen Geistes“ (GW 2, 277) auf. Bekanntlich wird diese Lehre von der Trinität für Hegel zeitlebens die Idee des Christentums sein. Aber die Jünger Jesu konnten Hegel zufolge diese Idee nicht selbstständig verwirklichen, weil sie sich des „Geistes Gottes“ nicht „in sich selbst“ bewusst werden konnten, so dass sie noch von dem außer ihnen stehenden, „auferstandenen Jesus“ abhingen. Deshalb wird der dialogische Zusammenhang zwischen der Natur und dem Menschen wieder verschlossen. Damit soll es sich um die Möglichkeit handeln, diesen Zusammenhang auf andere Weise als Religion zu eröffnen. Wir nennen diesen Zusammenhang nun die „Religiosität“, diesen Ausdruck der Enzyklopädie vorwegnehmend.

11  Nach Jaeschke ist „Religion“ nichts anderes als „eine Denk- und Lebensform, in der sich der Mensch zu derjenigen umfassenden Wirklichkeit ins Verhältnis setzt, deren Moment er doch zugleich ist“ (Jaeschke 2003, 98).

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Anwendung der Religiosität auf Geschichte und Metaphysik Indem Hegel diese ursprüngliche Einsicht in die Religiosität am Ende der Frankfurter Zeit weiter in den Bereich der Geschichte und Metaphysik hineintrug, schien er sich erneut mit dem Problem des Schicksals der Gemeinde zu beschäftigen, das er im Geist des Christentums noch offengelassen hatte. Das Schicksal der Gemeinde ist nichts anderes als die Situation, in welcher die Strafe der Natur durch die Trennung zwischen Gemeinde und Staat verursacht wird, die bei der vom auferstandenen Jesus abhängenden Gemeinde noch bleibt. Dagegen gibt Hegel im Kommentar zur Metaphysik der Sitten Kants einen Hinweis auf das Prinzip des „Ganzen“, wodurch der Gegensatz von Kirche und Staat grundlegend aufgehoben werden kann: „Ist aber das Princip des Staats ein vollständiges Ganzes, so kann Kirche und Staat unmöglich verschieden sein. Was diesem das Gedachte, Herrschende ist, das ist jener eben dasselbe Ganze als ein lebendiges, von der Phantasie dargestelltes“ (GW 2, 587–588). Übrigens hatte Hegel das der Religion und dem Staat gemeinsame Prinzip schon im Entwurf der Volksreligion betrachtet. Aber es war die Freiheit des menschlichen Willens von Kant und Rousseau, während es nun das „Ganze“ ist. Dass das Prinzip des Staates ein Ganzes sein soll, ist damals möglicherweise konkret denkbar derart, dass die mehreren getrennten Mächte Deutschlands zu einem Staat vereinigt werden sollen, da es damals vor dem Verlust der staatlichen Vereinigung im Krieg gegen Frankreich stand. Wenn der Staat somit ein Ganzes ausmacht, sind Kirche und Staat nicht mehr „verschieden“, so dass das „Schicksal“ der Kirche auch aufgehoben wird. Deswegen suchte Hegel möglicherweise nach einer staatlichen Einheit im deutschen Reich, nicht nur, weil er von der damaligen politischen Lage getrieben wurde, sondern auch, um das Problem des Gegensatzes zwischen Kirche und Staat aufzulösen. Ich denke, er wollte nach einem Weg suchen, die gegenwärtige Situation Deutschlands zu begreifen und damit zur Vereinigung des Staates zu gelangen, indem er eben die ursprüngliche Einsicht in den Zusammenhang des Menschen und der Natur, nämlich die Religiosität, auf die Geschichte des Staates anwandte. Dieser Gedanke findet sich in den seit Ende der Frankfurter Zeit geschriebenen Fragmenten der Verfassung Deutschlands12. Hegel fasst die damalige Lage Deutschlands dort zuerst als einen Zustand auf, in dem „das Gebäude der deutschen Staatsverfassung“ „nicht vom Leben der jetzigen Zeit getragen“ (GW 5, 7) sei. Dieser Zustand bedeutet konkret, dass das Ganze des deutschen Reichs ein bloß scheinbares ist, indem seine Teile, d.h. die Territorialstaaten, Stände, Städte, Zünfte usw. streben, „weit mehr auch 12  Zum Folgenden vgl. Kubo 2000, 138 ff.

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über die Gränze hinaus sich zurükzuziehen, die sanktioniert ist“ (GW 5, 13). Dieser Zustand wird als „das Werk vergangener Jahrhunderte“ beschrieben, das aus „der deutschen Freiheit“ stammt (GW 5, 7). Wenn jeder Teil des deutschen Staates noch weiter in die Isolierung getrieben wird, soll er sich schließlich sein eigenes Grab schaufeln. Mithin bringt der „Widerspruch der Natur mit dem bestehenden Leben“ das „Schicksal“, das den Menschen in dessen Selbstnegation treibt, der sich „zum Herrn“ und „seine Macht über die Wirklichkeit zur höchsten“ (GW 5, 17) machen wollte. Diese Auffassung der Geschichte Deutschlands entspricht der oben erwähnten Einsicht in die Religiosität, nach welcher die Tätigkeit des von der Natur relativ unabhängigen Menschen durch die Gegenwirkung der Natur untergeht. Wenn diese Einsicht hier auf die Geschichte Deutschlands angewandt worden ist, wird die „Reflexion“ auf den schicksalhaften Zusammenhang der Natur wohl gefordert, um die Widersprüchlichkeiten Deutschlands zu lösen. Aber diese Reflexion wurde in der gegenwärtigen Situation Deutschlands, so Hegel, nur von einem Menschen getan, „den die Zeit in eine innere Welt vertrieben hat“ (ebd.) – d.h. vom Künstler, dem religiösen Führer oder dem Philosophen. Sie haben „die Natur zur Idee in sich hervorgearbeitet“ (ebd.). Die Wirkung des Schicksals, d.h. der „Drang“ der Zeit, konnte einerseits durch die „Darstellung der Natur und des Schiksals durch Dichter“ (GW 5, 17) zum Bewusstsein gebracht werden, andererseits dadurch, dass „die Beschränkungen ihre Gränzen, und ihre Nothwendigkeiten im Zusammenhang des Ganzen“ „durch Metaphysik erhalten“ (ebd.). Indem sich Gedicht, Religion und Metaphysik mit dem „Thun grosser Charaktere einzelner Menschen“ und den „Bewegungen ganzer Völker“ (ebd.) verbinden, wird der vereinigte Staat in Deutschland verwirklicht werden. Neben einer solchen Erkenntnis der Geschichte versucht Hegel sich deswegen ebenso verstärkt der „Metaphysik“ zuzuwenden. Er sprach am Anfang von der Positivität der christlichen Religion (vom 24. September 1800) über die Aussicht, „in eine metaphysische Betrachtung des Verhältnisses des Endlichen zum Unendlichen über[zu]gehen“ (GW 2, 361), indem er das Problem am Verhältnis des Menschen zu Gott im Christentum „durch Begriffe gründlich“ (ebd.) untersucht. Nach Hegel ist die „schöne Voraussetzung“, dass „alle höhere, alles edle und gute des Menschen etwas göttliches ist, von Gott kommt“ (ebd.), nicht „für sich selbst positiv zu nennen“ (GW 2, 360). Denn etwas Göttliches ist eigentlich das, was die menschliche Natur einschließt und transzendiert. Aber der Theologe sieht nur die Seite der Transzendenz. In diesem Fall werde jene „schöne Voraussetzung“ „zum grellen positiven“ (GW 2, 361). Deshalb müssen wir, um das positive Verhältnis Gottes und des Menschen zu überwinden, das „Leben“ (GW 2, 260) in seinem „Zusammenhang des Unendlichen und des

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Endlichen“ (ebd.) begreifen, der nichts anderes als der des „göttlichen“ und der „menschliche[n] Natur“ (GW 2, 361) ist. Diesen Zusammenhang bzw. die Religiosität durch Begriffe zu betrachten ist nichts anderes als „Metaphysik“, durch die, wie oben erwähnt, „die Beschränkungen ihre Gränzen, und ihre Nothwendigkeiten im Zusammenhang des Ganzen“ erhalten. Somit fing Hegel am Ende der Frankfurter Zeit an, von der Untersuchung der Religion zu der der Geschichte des Staates und der der Metaphysik – durch die ursprüngliche Einsicht in die Religiosität – überzugehen. Dabei wurde er möglicherweise vor allem von Hölderlin beeinflusst13. Dieser dachte Philosophie, Religion, Kunst und Politik als Ausdrucksweisen ein und desselben Prinzips der „Schönheit“ (Hölderlin 1990, 79) – schon im ersten Band des Hyperion (1797) –, deren Wesen als „ευ διαφερου εαυτω (das Eine in sich selber unterschiedne)“ (Hölderlin 1990 ,81) aufgefasst wird. Indem er diese Vereinigungsphilosophie der Schönheit dann vertiefte, fasste er im Brief an Gock vom 4. Juni 1799 „Philosophie und schöne Kunst und Religion“ als die „Pristerinnen der Natur“ auf, die den Menschen den „Trieb des Idealisirens oder Beförderns, Verarbeitens, Entwikelns, Vervollkommens der Natur“ bewusst werden lassen und dadurch mittelbar „auf die Natur“ wirken (Hölderlin 1987, 328–329). „Die Philosophie bringt jenen Trieb zum Bewußtsein, zeigt ihm sein unendliches Objekt im Ideal, und stärkt und läutert ihn durch dieses. Die schöne Kunst stellt jenem Triebe sein unendliches Object in einem lebendigen Bilde, in einer dargestellten höhere Welt dar; und die Religion lehrt ihn jene höhere Welt […] in der Natur, in seiner eigenen, und in der ringsumgebenden Welt […] ahnden und glauben“ (Hölderlin 1987, 329). Die Religion bewirkt, dass der Mensch „sich nicht als Meister und Herr derselben [sc. der Natur] dünke und sich […] bescheiden und fromm vor dem Geiste der Natur beuge“ (ebd.). Es ist denkbar, dass diese Ansicht Hölderlins über Philosophie, Kunst und Religion Hegels Zustimmung gefunden hat. Bald schon, in der Differenzschrift, bestimmt Hegel „Kunst“, „Religion“ und „Spekulation“ gemeinsam als „Gottesdienst“, nämlich „lebendiges Anschauen des absoluten Lebens und somit ein Einsseyn mit ihm“ (GW 4, 76). Diese Bestimmung Hegels rührt möglicherweise von seiner Einsicht am Ende der Frankfurter Zeit her, dass das Wesen der Geschichte des Staates, der Kunst, der Religion und der Philosophie in dem Zusammenhang zwischen Unendlichem und Endlichem im Leben, d.h. in der Religiosität, besteht, die ihrerseits auch besagter Ansicht Hölderlins entgegenkommt.

13  Vgl. Jamme/Vökel 2003, 245–283.

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“Bedürfnis der Philosophie“ und die systematische Stelle der Kunst, Religion und Philosophie Somit stehen die Geschichte des Staates, die Kunst, die Religion und die Metaphysik (Philosophie) als verschiedene Ausdrucksweisen des dialogischen Zusammenhangs des Menschen und der Natur bzw. der Religiosität nebeneinander – seit Ende der Frankfurter Zeit. Dabei soll die Metaphysik zur Verwirklichung der Idee der Religion und der Veränderung des Staates, zusammen mit dem Gedicht, beitragen, die ihrerseits die Versöhnung der Kirche und des Staats bringen kann. Deswegen nimmt Hegel den Aufbau des Systems der Philosophie auf Basis der Metaphysik erst in der Jenaer Zeit in Angriff, während er sich weiterhin mit der Verfassung Deutschlands beschäftigt. In der Tat spricht er in der Differenzschrift zunächst vom „Bedürfnis der Philosophie“, das aufgrund von „Gegensätzen“ der Wirklichkeit entsteht: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfniß der Philosophie“ (GW 4, 14). Der konkrete Fall, in dem die Gegensätze solche Selbständigkeit gewinnen, könnte möglicherweise eben in dem Gegensatz zwischen dem deutschen Reich und den Territorialstaaten, zwischen mehreren Mächten, zwischen Kirche und Staat und zwischen Gott und dem Menschen gesehen werden. Hegel fasst diese verschiedenen Gegensätze nun philosophisch als den Gegensatz von „Subjektivität und Objektivität“ (ebd.) zusammen und will ihn aufheben. Dieses Bedürfnis der Philosophie kann sich darin befriedigen, dass der Philosoph das „Princip der Vernichtung aller fixirten Entgegensetzung“ findet, das „Beschränkte“ in „Beziehung auf das Absolute“ setzt und – da diese Beziehung mannigfaltig ist – „diese Mannigfaltigkeit als solche in Beziehung“ setzt (GW 4, 30). Philosophie muss also ein „System“ der mannigfaltigen Wissenschaften sein, das durch das Prinzip der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Subjektivität und Objektivität begründet wird. Hegel findet dieses Prinzip in dem schellingschen Ausdruck des „Absoluten“ als „der Identität der Subjektivität und Objektivität“. Daraus entwickelt er die „Wissenschaft der Natur“ (GW 4, 73), die „Wissenschaft der Intelligenz“ (ebd.) und schließlich „Kunst“, „Religion“ und „Speculation“ (GW 4, 75). Insofern er Kunst, Religion und Philosophie somit gemeinsam als „Anschauung des sich selbst gestaltenden, oder sich objektiv findenden Absoluten“ (ebd.) ans Ende des Konzepts seines philosophischen Systems gestellt hat, können wir den ersten Ansatz des absoluten Geistes als des letzten Teils der Enzyklopädie finden. Dies wird auch im Fragment der Vorlesung der Einführung zur Philosophie von 1801/02 dadurch bestätigt, dass die „Philosophie der Religion und Kunst“ nach der „Logik“ und „Metaphysik“, der „Philosophie der Natur“ und der „Philosophie

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des Geistes“ als letzter Teil des Systems eingefügt wird (GW 5, 263–264). Aber hier, am Anfang der Jenaer Zeit, wurde die Betrachtung der Kunst, Religion und Philosophie als der „vierte Teil“ (GW 5, 264) noch von der Philosophie des Geistes als dem dritten Teil unterschieden. Bald wird jene in diese eingegliedert, sodass sie als der absolute Geist nach dem subjektiven und dem objektiven, aber innerhalb der Philosophie des Geistes eingeordnet wird. Erhebung vom Staat zum absoluten Geist im Systementwurf III Diese teilweise Veränderung der Systemform steht möglicherweise einerseits im Zusammenhang damit, dass das Prinzip der Philosophie sich von der „absoluten Identität der Subjektivität und Objektivität“ zum „Geist“ veränderte14. Andererseits hängt sie auch damit zusammen, dass Hegel den Modellfall des Staates nicht mehr in der Sittlichkeit des Altertums, sondern in der die Freiheit des Individuums anerkennenden Verfassung der neueren Zeit fand. Denn er gelangte zu einem Konzept der Wiederherstellung der Vereinigung Deutschlands in der Verfassung Deutschlands, nach welchem die „Freiheit“ des Bürgers und die militärische und finanzielle „Einheit“ der Staatsmacht sich gegenseitig anerkennen. Er brachte dieses Konzept dann in die „Sittlichkeit“ innerhalb seiner Philosophie des Geistes ein. Erst im Systementwurf III ordnete er den „absoluten Geist“ nach der „Sittlichkeit“ der neueren Zeit ein. So wurde die Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist erstmals thematisiert15. Der Zusammenhang des Staates und des absoluten Geistes wurde dort, genau betrachtet, als die folgenden drei Momente in sich enthaltende Struktur aufgefasst: nämlich, (1) das Wesen des Staates überhaupt, als der allgemeine Wille, (2) die innere Organisation des Staates und dessen Haltung gegen die anderen Staaten und (3) der absolute Geist. (1) Nach Hegel ist der Staat weder die dem Volk ganz fremde Tyrannei noch die bloße Summe der besonderen Willen der Individuen, sondern der „allgemeine Wille“, in dem jeder sich seines „Wesens“, „seiner als Allgemeinen“ „entäußert“ (GW 8,254–255). Der von der Entäußerung der Individuen gesetzte allgemeine Wille ist aber „Herr, öffentliche Gewalt und Regent“ (GW 8,256) für sie. Dies ist das Wesen des Staates überhaupt. Der Staat, in dem sich niemand, in dieser Entäußerung, ein eigenes Interesse vorbehält, also „unmittelbar eins mit Allgemeinen“ (GW 8,262) ist, ist der des Altertums, in dem „die schöne glükliche Freyheit der Griechen“ (ebd.) da war.

14  Zur Entstehung der Hegel eigenen Begriffsform des „Endlichen“, die dieser Veränderung des Prinzips in der Jenaer Zeit entspricht, vgl. Henrich 1980. 15  Vgl. Jaeschke 2003, 172.

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(2) Aber in der „neuern Zeit“ (GW 8,263), und zwar im „nordische[n]“ (GW 8,264) Gebiet, „erhalten“ die Individuen ihre „Freyheit des Gedankens“ (ebd.), obwohl „die äussre wirkliche Freyheit der Individuen in ihrem unmittelbaren Daseyn verloren“ (GW 8,263–264) ist. Einerseits teilt sich das Volk in die verschiedenen „Stände“ und jeder Stand verfolgt sein eigenes Gewerbe und Wissen von sich oder seine „Tugend“. Andererseits lässt der Staat oder „der öffentliche Stand“ (GW 8,270) ihnen solche Freiheit, macht aber zugleich einen Eingriff in sie derart, dass er sie nur gesetzlich miteinander verbindet, um das Bestehen ihres Gewerbes und Eigentums zu garantieren. Aber der „Soldatenstand“ (GW 8, 274), der auch einen Teil des öffentlichen Standes ausmacht, hat eine besondere Rolle. Er übernimmt den Auftrag, Krieg zu führen, damit der Staat sein Dasein gegen andere Staaten verteidigt. Durch diesen Krieg „erschütter[t]“ die Regierung die „Organisation ihrer Stände“ (GW 8, 276). Insofern lässt der Staat nach Hegel nicht mehr die Freiheit des Volks zu, sondern kann es vielmehr ganz kontrollieren, wie er will. Somit stellt der Standpunkt des Staates am Ende die „Freyheit von dem Bestehenden als solchem“, der „Einzelnen“, und den „seiner unmittelbar bewusste[n] Geist“ (GW 8, 277) dar. (3) Insofern ein solcher Geist, der „seine Bestimmungen in sich zurükgenommen“ (ebd.) hat, aber eine „andre Welt“ (ebd.) als die Stände und das System des Gesetzes und der Wirtschaft, d.h. eine „Welt, welche die Gestalt seiner selbst hat“ (ebd.), hervorbringt, ist er der absolute Geist als „Kunst, Religion und Wissenschaft“ (ebd.). Was die Beziehung des Staates und dieses absoluten Geistes betrifft, betont Hegel aber vor allem die Kontinuität und Differenz zwischen dem Staat und der Religion. Einerseits betont er die Kontinuität beider wie folgt: „Die Regierung steht über allen – der Geist, der sich als allgemeines Wesen, und allgemeine Wirklichkeit weiß; – das absolute Selbst – in der Religion erhebt jeder sich zu dieser Anschauung seiner als [eines] allgemeinen Selbst“ (GW 8, 281). Insofern entsteht die Versöhnung beider: „In ihr [sc. der absoluten Religion] ist also der Geist mit einer Welt versöhnt“ (ebd.). Andererseits ist die Religion vom Staat verschieden, weil dieser trotz der absoluten Freiheit im Krieg noch das Dasein der Stände und der sozialen Systeme voraussetzt, aber jene dagegen „der über sein Daseyn erhebende Geist“ (ebd.) ist. Deswegen ist die Versöhnung beider so unvollständig, dass sie sich nur jenseits dieser Welt ergibt: „Jenseits dieser Welt ist der Geist nur mit sich versöhnt, nicht in seiner Gegenward“ (ebd.). Insofern Staat und Religion somit nicht nur gleich, sondern auch verschieden sind, steht die Religion neben dem Staat oder dem „wirkliche[n] Bewußtseyn“ (ebd.): „Die Kirche hat ihren Gegensatz am Staate, d.h. an dem

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daseyenden Geiste; sie ist er erhoben in den Gedanken, der Mensch lebt in zwey Welten“ (GW 8, 284). Aber diese Schranke der Versöhnung von Religion und Staat wird durch die „Philosophie“ aufgehoben. Durch sie wird die Versöhnung nicht im Jenseits oder in der Zukunft, sondern hier und jetzt vollzogen. „Es [ist] hier nicht eine andre Natur, nicht ungegenwärtige Einheit, nicht eine Versöhnung, deren Genuß und Dasein jenseits und zukünftig ist, sondern hier – hier erkennt das Ich das Absolute“ (GW 8, 286). Diese Konzeption einer Philosophie, dass durch sie die durch die Religion nicht vollständig hervorgebrachte Versöhnung mit dem Staat verwirklicht werden kann, stammt m.E. aus dem oben betrachteten Zusammenhang der Religion, der Geschichte des Staates und der Metaphysik vom Ende der Frankfurter Zeit. Allerdings ist das diesen drei Bereichen gemeinsame Prinzip, das die Versöhnung ermöglicht, d.h. die Religiosität, nicht mehr der dialogische Zusammenhang des Menschen und der Natur, sondern die Freiheit des Geistes, der in der Einheit der sittlichen Substanz und des Selbstbewusstseins des Individuums besteht. Dieser Ansatz des Zusam­ menhangs zwischen Staat, Religion und Philosophie im Systementwurf III entwickelt sich weiter zu demjenigen der Enzyklopädie, nach dem die Versöhnung des Staates und der Religion sowie der Philosophie, wie oben gesehen, in dem auf Freiheit basierenden neueren Staat verwirklicht wird. Jedenfalls wird der absolute Geist für den (1) den Staat überhaupt aufhebenden (2) neueren Staat und (3) den diesen noch einmal aufhebenden, kulturellen Bereich gehalten. Diese Leiter von drei Stufen bedeutet nicht nur die Ordnung der zugleich seienden Sphären, sondern auch den zeitlichen Prozess. Ein solcher struktureller sowie geschichtlicher Zusammenhang von (1), (2) und (3) findet sich m.E. in groben Umrissen auch in den Formen des „Geistes“ in der Phänomenologie des Geistes. Er entspricht nämlich dem Gang des Weltgeistes, der (1) die griechische „Sittlichkeit“ in dem „wahren Geist“, (2) den Gegensatz der Wirklichkeit und des Gedankens in dem „sich entfremdeten Geist“ und (3) die „Moralität“, die („Kunst-Religion“ enthaltende) „Religion“ und das „absolute Wissen“ durchläuft. Dabei stellt die „Moralität“ als die dritte Form des Geistes die Einheit der Sittlichkeit und des Selbstbewusstseins, sozusagen die neuere Form der Sittlichkeit, dar, die nach dem sich entfremdeten Geist als dem Verlust der griechischen Sittlichkeit entsteht. Sie wird deswegen der „seiner selbst gewisse Geist“ (GW 9, 323) genannt, der gerade dem „seiner unmittelbar bewußte[n] Geist“ (GW 8, 277) als dem Standpunkt des neueren Staats in dem Systementwurf III entspricht. Wie oben erwähnt, entsteht die Erhebung vom objektiven zum absoluten Geist in einer kritischen Situation, in der die vorher als gültig anerkannte Verfassung nicht mehr der gegenwärtigen Stufe der Bildung des Volkes

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angemessen ist, aber die neue an ihrer statt noch nicht zustande kommt. Dabei wird sie durch die Künstler, den religiösen Führer und den Philosophen vollzogen, die die Idee der zukünftigen Verfassung in ihrer kulturellen Welt vorwegnehmen. Dies ist die geschichtliche Dimension jener Erhebung. Der absolute Geist hat also die geschichtliche Aufgabe, das durch den Widerspruch der Wirklichkeit entstehende Bedürfnis, dabei der gegenwärtigen Zeit voraus oder die wirkliche Welt leitend, zu befriedigen. In diesem Sinne konnte Hegel den Hervorgang des absoluten Geistes aus der Sittlichkeit in der Enzyklopädie so bestimmen: „Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität geht nur aus der Sittlichkeit hervor und ist die denkende, d.i. der freien Allgemeinheit ihres concreten Wesens bewußtwerdende Sittlichkeit“ (GW 20, 531). Dieser Gedanke ist nichts anderes als das Resultat der hegelschen Entwicklung des Problemkomplexes, in der er seine Konzeption des geschichtlichen Zusammenhangs von Staat und Religion seit seiner frühen Zeit derart entwickelte, dass die Versöhnung des Staates und der Religion auf Basis des neueren Staates schließlich durch die Philosophie des Geistes verwirklicht wird.

Das Weltgericht und der unendliche Wert des Individuums Kritische Fragen zu Hegels Aufhebung der Moralität Herman van Erp Auch wer mit Hegel davon überzeugt ist, dass die Weltgeschichte als Ver­ wirklichung der Freiheit begriffen werden muss, kann nicht leugnen, dass das Leben von Menschen und Völkern unter dem Regime der Endlichkeit viele Momente von Schmerz und Tragik impliziert. Als Weltgericht entscheidet der Geist darüber, was im Prozess der Freiheitsverwirklichung den Sieg erringt und in letzter Instanz als vernünftig gilt. Die Macht, welche die Entwicklung der Geschichte bestimmt, wird von Hegel „der Weltgeist“ genannt. Er ist es, der das Urteil über Gut und Böse in der Geschichte fällt. Im Lichte dieses Urteils ist vie­ les von dem, was Individuen wollen, etwas zufälliges, das sich nicht mit dem Endzweck der Freiheit vereinigen lässt. Als denkende sind die menschlichen Individuen selbst vernünftig, aber es sind nicht die Gedanken der Individuen, welche das Geistige, wie es sich in der Weltgeschichte verwirklicht, bestimmen. „Es ist ein Göttliches, Geistiges, was sich durch die Geschichte macht. Es ist so stark, dass der Gedanke eines Individuums gegen diese Macht des Weltgeistes nichts bedeutet“ (Werke 19, 19). Wo der Fortschritt in der Geschichte durch Taten welthistorischer Individuen oder Gedanken großer Philosophen be­ stimmt erscheint, ist er nicht das Produkt ihrer subjektiven Kraft, sondern der Macht des allgemeinen Geistes, die sich dieser Individuen bedient. Der erste Abschnitt dieses Aufsatzes geht auf die Idee des Geistes im Allgemeinen und die Unterschiede zwischen subjektivem, objektivem und ab­ solutem Geist, insofern diese Unterschiede für das Verstehen der hegelschen Idee der Weltgeschichte wichtig sind, ein. Gezeigt wird, wie Hegel schon in der Phänomenologie des Geistes den Gedanken entwickelt, dass die christliche Gemeinde seiner Zeit zu der Einsicht kommen kann, dass Gott (oder der abso­ lute Geist) nicht eine transzendente Idee jenseits der Welt oder unerkennbar ist, sondern sich in der Gestalt des Weltgeistes verwirklicht und zu erkennen gibt. Im zweiten Abschnitt werden wir der Frage nachgehen, welche Relevanz das Leben der Individuen in der Entwicklung der Freiheit des Geistes nach Hegel hat. Obwohl Hegel den Geist als die Kraft bestimmt, welche das nur Natürliche und damit auch den Tod überwindet, werden Schmerz, Tod und Ungerechtigkeit in der Geschichte nicht überwunden. Wenn die Weltgeschichte überhaupt einen vernünftigen Endzweck hat, dann scheint dieser nicht das Glück der © koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_030

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menschlichen Individuen zu sein. Das gilt nicht nur für den gewöhnlichen Menschen, dessen Zweck in der Weltgeschichte ohne Bedeutung scheint, son­ dern auch und im Besonderen für die großen, welthistorischen Individuen. „Sie sterben früh wie Alexander, sie werden wie Cäsar ermordet, wie Napoleon nach St. Helena transportiert“ (Werke 12, 47). Die Vernunft bedient sich ihrer und ihrer Bestrebungen ohne Rücksicht auf ihr Glück: „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks“ (Werke 12, 42). Es gibt Aussagen Hegels, die darauf hindeuten, dass auch im Begriff der Weltgeschichte der unendliche Wert des Individuums unangetastet bleibt. Der Mensch „ist Selbstzweck, hat in ihm selbst unendlichen Wert und die Bestimmung zur Ewigkeit“ (Werke 12, 403). Wie verträgt sich das mit dem Gedanken, dass die Individuen in der Weltgeschichte durch die Vernunft als Mittel gebraucht werden? Hegel zufolge „bewegt die Weltgeschichte sich auf einem höheren Boden, als der ist, auf dem die Moralität ihre eigentliche Stätte hat“ (Werke 12, 90). Der dritte Abschnitt beschäftigt sich daher mit dem Status moralischer Urteile in Bezug auf Taten, welche in Konflikt mit moralischen Prinzipien zu stehen scheinen, in welthistorischer Perspektive aber als von großer Bedeutung gelten, und auf den Status des Gewissens im Entwicklungsprozess der Freiheit. Hier werden wir Hegels Gedanken mit Kants Idee menschlicher Würde vergleichen und untersuchen, inwiefern Hegels Begriff des Endzwecks der Geschichte wesentlich verschieden ist von Kants Idee des ewigen Friedens.

Wie der Geist im absoluten Wissen zum vollständigen Begriff seiner selbst kommt

Am Ende des fünften Kapitels der Phänomenologie des Geistes sind wir (Hegel und seine Leser) mit dem Geist, den wir in seinen Formen von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Vernunft beobachteten und befrag­ ten, zum Begriff seiner selbst als vernünftiges Selbstbewusstsein in den Gestalten der gesetzgebenden und gesetzprüfenden Vernunft gekommen. Von diesen Gestalten, welche eine Interpretation der kantischen Idee des katego­ rischen Imperativs und des autonomen individuellen Subjekts darstellen, sagt Hegel, dass sie als Formen der Ehrlichkeit angesehen werden können, [… die sich] mit einem seinsollenden Inhalt des Guten und Rechten und einem Prüfen solcher festen Wahrheit herumtreibt und in der gesunden Vernunft und verständigen Einsicht die Kraft und Gültigkeit der Gebote zu haben meint. GW 9, 234

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Aber die Gestalten der gesetzgebenden und -prüfenden Vernunft stehen, wie Hegel sie beschreibt, nicht in einer so einfachen sittlichen Welt. Er stellt das Gesetzgeben und -prüfen als zwei voneinander unabhängige Momente dar, als Gestalten einer Subjektivität, die entweder tyrannisch ein Gesetz aufer­ legt oder sich jedem Gebot entzieht, es ihrem eigenen Urteil unterwirft, ob sie (sich) verpflichtet oder nicht. Diese Vorstellung eines vernünftigen Subjekts, das als Einzelnes ganz von sich aus bestimmen könnte, was als Pflicht gelten soll, wird von ihm als ein sich widersprechender Begriff des Geistes bestimmt, weil diese Form von Subjektivität nicht im Leben einer sittlichen Gemeinschaft verwurzelt ist1. Hegel beachtet nicht, dass Kant die Idee einer allgemeinen Gesetzgebung nicht individualistisch-subjektivistisch versteht, sondern das autonome Subjekt als Mitglied im Reich der Zwecke denkt2. Für Hegel ist das Reich der Sittlichkeit eine wirkliche Welt, die für Kant nicht mehr gegeben sei, und er betrachtet das kantische Reich der Zwecke als eine nur abstrakte Idee, die nicht die Kraft habe, die kontradiktorischen Momente zu vereinigen. Im sechsten Kapitel unter dem Titel ‚Der Geist‘ wird der Geist von Hegel so dargestellt, wie er in den Gestalten dreier unterschiedener und aufeinander folgender Welten für uns erscheint. Geist kann hier nicht mehr als ein einzel­ nes Individuum verstanden werden: das als vernünftig verstandene Subjekt er­ scheint jetzt als Mitbewohner einer ihm vorgegebenen geistigen Welt. Die drei Welten sind: der wahre Geist (die lebendig-sittliche Welt und ihr Untergang im Rechtszustand), der sich entfremdete Geist (das Reich der Bildung und die Welt des Glaubens), und der seiner selbst gewisse Geist (die Welt der Moralität). In diesen Welten des sechsten Kapitels der Phänomenologie gibt es Religion, aber sie kommt in diesem Kapitel „allein vom Standpunkte des Bewusstseins aus“ vor (GW 9, 363). Damit ist gemeint, dass die Gedanken, welche die Individuen sich in diesen Welten vom absoluten Wesen machen, hier nur als Vorstellungen erscheinen, welche diese Individuen vom Absoluten als Gegenstand ihres Bewusstseins haben. Die Subjekte in der Welt erfahren den Unterschied zwi­ schen ihrer eigenen Wirklichkeit und der Idee des Geistes, zwischen dem endlichen Dasein des Geistes und dem absoluten Geist, noch ohne diesen Unterschied von Geist und Wirklichkeit als Moment der Einheit des absoluten Geistes selbst zu fassen. Vom Standpunkt des Bewusstseins aus sehen wir, wie die Individuen untereinander mit ihren religiösen Vorstellungen leben und streiten. Man könnte sagen, dass die Religion hier als sozial-psychologisches 1  Das gilt übrigens von allen Gestalten der Individualität, welche Hegel im fünften Kapitel dem Reich der Sittlichkeit gegenüberstellt, weil sie daraus entweder herausgetreten sind, oder es noch nicht erreicht haben (GW  9, 195–196). 2  Kant, AA 4 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten), 433–440.

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Phänomen erscheint, aber noch nicht der Begriff der Religion als solcher ver­ standen wird, die Religion also noch nicht als „Selbstbewusstsein des absolu­ ten Geistes“, oder des absoluten Wesens selbst, ist, wie Hegel sie vom späteren Gesichtspunkt aus charakterisiert (GW  9, 240, 363). Erst in der Versöhnung der zwei einander absolut entgegenstehenden Gestalten der Subjektivität – der schönen Seele und des in seinem Handeln schuldigen Gewissens, denjenigen Gestalten also, zu denen die Welt der Moralität sich in Deutschland entwickelt – sehen wir, wie das Absolute nicht nur eine abstrakte Idee für das Bewusstsein bleibt, sondern sich in der Vereinigung beider Gestalten als absoluter Geist verwirklicht. Am Ende des letzten Abschnitts dieses sechsten Kapitels kommt der Geist in der christlichen Gemeinde zum Wissen, dass das absolute Wesen in der Versöhnung mit seinem Gegenteil wirklich ist: „Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, […] ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist“ (GW 9, 361). Hier gelangt das Bewusstsein der Individuen zu der Erfahrung, was Religion eigentlich ist: das Dasein Gottes als Geist für den Geist. „Oder um es mehr theologisch auszudrücken, Gott ist Geist wesentlich, insofern er in seiner Gemeinde ist“ (Werke 16, 53). Das siebente Kapitel ‚Die Religion‘ fängt für uns mit dem Gedanken an, dass die Religion das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes ist. Selbstbewusstsein ist für Hegel die Entzweiung des Selbsts in das Verhältnis eines Selbsts zu einem anderen Selbst, ein Verhältnis, das für das Dasein des Geistes wesentlich ist. In der Religion teilt sich der selbstbewusste Geist in das religiöse Bewusstsein des Menschen und seinen Inhalt, oder Gott, der im Bewusstsein des Menschen sein Selbstbewusstsein hat. Aber auch das religiöse Bewusstsein stellt sich und seine Welt erst noch Gott gegenüber. Es fängt an vom Wissen, dass das Sein aller Dinge ein solches ist, das nicht selbständig, sondern schlechthin nur ein getragenes, gesetz­ tes ist, nicht wahrhafte Selbständigkeit hat. Wenn wir den besonderen Dingen ein Sein zuschreiben, so ist das nur ein geliehenes Sein, nur der Schein eines Seins, nicht das absolut selbständige Sein, das Gott ist. Werke 16, 93

In der Religion wird dieses Verhältnis des Endlichen und Unendlichen als das Verhältnis zwischen Mensch und Gott vorgestellt, aber für Hegel ist die Religion dieses Verhältnis in der Form der Vorstellung. Dass sie das ist und was das bedeutet, wird innerhalb der Religion selbst – wieder in der Form der Vorstellung – deutlich, am Ende ihrer Entwicklung von der natürlichen Religion zur christlichen Gemeinde. Im siebenten Kapitel wird dargestellt, wie die religiösen Vorstellungen selbst sich von einfachen Ideen zu diesem Wissen

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entwickelt haben. Die religiöse Erfahrung ist die Erhebung des subjektiven Selbsts zum Absoluten, das darin sich selbst verwirklicht. Auch in der christli­ chen Gemeinde und ihrer Sprache bleibt das Wissen dieser Wirklichkeit noch an Vorstellungen gebunden, welche erst in der Philosophie, vom Standpunkt des reinen Denkens oder Begreifens aus, durchsichtig werden. Die christliche Vorstellung der Person Christi, der „eine wirkliche Mutter, aber einen ansichsei­ enden Vater hat“, wird so von Hegel als ein Wissen von der wahrhaften Natur des Geistes begriffen: denn die Wirklichkeit oder das Selbstbewusstsein und das Ansich als die Substanz sind seine beiden Momente, durch deren gegenseitige Entäußerung, jedes zum anderen werdend, er als diese ihre Einheit ins Dasein tritt […;] die göttliche Natur ist dasselbe, was die menschliche ist, und diese Einheit ist es, die angeschaut wird. GW 9, 403–406

Im Kampf der Aufklärung mit dem Glauben hat der Glaube den kürzeren ge­ zogen. In den Gestalten der Moralität hat das vernünftige Selbstbewusstsein sich Hegel zufolge völlig ins Gewissen zurückgezogen, wobei es zu einer Form rein innerlicher, nur subjektiver Religion gekommen ist, frei von einem objek­ tiven Inhalt. Dem Gedanken, dass Gott nicht erkennbar sei, wird von Hegel kraftvollen Nachdrucks und häufig widersprochen. Was das religiöse Denken “Gott” nennt, wird von Hegel als absoluter Geist bestimmt: die wahrhafte Natur Gottes ist allein Gott als absoluter Geist (GW  11, 368). In der offenbaren Religion des Christentums wird deutlich, dass ihr Inhalt der absolute Geist ist, vorge­ stellt als die Dreieinigkeit Gottes: der Vater als Schöpfer, der Sohn als Erlöser, der Geist als anwesend in der Gemeinde der Gläubigen. Absoluter Geist ist die Einheit von Geist und Wirklichkeit, worin der Geist den Gegensatz von endlich und unendlich, und von gut und böse aufhebt. In der religiösen Vorstellung ist dies die Versöhnung Gottes mit den Menschen und der Schöpfung. Das religiöse Bewusstsein hält aber den Gegensatz zwischen sich selbst und dem Unendlichen fest. Es weiß durch den Tod des Sohnes Gottes an sich, oder im Prinzip, erlöst zu sein, aber erwartet noch die wirkliche Versöhnung in einem Jenseits. So stellt es die jenseits liegende Versöhnung seinem Selbst und seiner Welt gegenüber: „Seine eigene Versöhnung tritt daher als ein Fernes in sein Bewusstsein ein, als ein Fernes der Zukunft“ (GW  9, 420–21). Indem die Philosophie dieses Verhältnis innerhalb Gottes als den wesentlichen Prozess des Geistes als solchem, oder als dessen Selbstverwirklichung in der Welt, be­ greift, kann sie Hegel zufolge im Denken den religiösen Inhalt und die selbstbe­ wusste Form vereinigen. Das in der Gestalt des formellen Gewissens erstarrte

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Selbst der Moralität wird zu der Einsicht gebracht, dass der religiöse Inhalt sich in der Tat der Versöhnung und Anerkennung des Anderen verwirklicht: Was also in der Religion Inhalt oder Form des Vorstellens eines Anderen war, dasselbe ist hier eigenes Tun des Selbsts; der Begriff verbindet es, dass der Inhalt eigenes Tun des Selbsts ist. GW 9, 427

Im letzten Kapitel der Phänomenologie unter dem Titel Das absolute Wissen wird die Form des Bewusstseins, die der Vorstellung verhaftet bleibt, philoso­ phisch verstanden als ein Moment der ganzen Bewegung, worin der Geist sich mit der Wirklichkeit versöhnt. Der absolute Geist wird so begriffen als wirklicher Geist, der den Gegensatz von Diesseits und Jenseits aufhebt. Das Aufheben des Gegensatzes von Endlichem und Unendlichem ist ein dialektischer Prozess, dessen Endresultat nicht unmittelbar gegeben ist. „Die Zeit erscheint daher als das Schicksal und die Notwendigkeit des Geistes, der nicht in sich vollendet ist“ (GW 9, 429). Der Geist ist erst nach einem langen Prozess von Erfahrungen und Bildung einer geistigen Welt (später der objektive Geist genannt) imstan­ de, den wesentlichen Begriff seines Selbsts philosophisch zu fassen: „Das unmittelbare Ansich des Geistes, der sich die Gestalt des Selbstbewusstseins gibt, heißt nichts anderes, als dass der wirkliche Weltgeist zu diesem Wissen von sich gelangt ist“ (GW  9, 404). Nach diesem langen Prozess der Bildung wird die Philosophie dann deutlich machen, dass der absolute Geist sich in der Weltgeschichte nicht nur als Idee für das religiöse Bewusstsein manifestiert, sondern sich selbst als Weltgeist durch endliche Gestalten hindurch verwirk­ licht. Das Absolute ist nicht das jenseitige Unendliche, sondern das sich in end­ lichen Gestalten verwirklichende Unendliche. Die Philosophie der Geschichte begreift von der Vergangenheit das, was wirklich ist und bleibt: „Alles ist ihr in der Vergangenheit unverloren, denn die Idee ist präsent, der Geist unsterblich, d.h. er ist nicht vorbei und ist nicht noch nicht, sondern ist wesentlich jetzt“ (Werke 12, 105). Wie früher im vierten Kapitel ‚Selbstbewusstsein‘ der Knecht in der bilden­ den Kraft seiner Arbeit zu der Erfahrung seiner eigenen geistigen Freiheit kommt, so muss die Gemeinde der Gläubigen zu der Einsicht kommen, dass die Versöhnung mit dem absoluten Wesen sich in endlichen Gestalten und durch endliche Handlungen in der wirklichen Welt vollzieht. Religion und das Leben des Geistes in seiner wirklichen Welt werden vereinigt (GW 9, 364–65). Als handelnder, seiner selbst gewisser Geist führt das Selbst das Leben des ab­ soluten Geistes durch (GW 9, 426). So ist der absolute Geist wirklich in den

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Taten der Menschen, insofern diese in einer sittlichen Gemeinschaft am Endzweck der Welt, der Verwirklichung der Freiheit, Teil haben.

Individuen und die Weltgeschichte

Hegel zufolge ist Freiheit der einzige Zweck des Geistes, auf welchen in der Weltgeschichte hingearbeitet wird und für welchen alle Opfer in der Zeit ge­ bracht worden sind. Der Geist muss seine Freiheit in der Welt verwirklichen. Als Endzweck ist die Freiheit nicht nur ein Zweck in der fernen Zukunft, denn die Weltgeschichte ist schon der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit und so immer schon Verwirklichung des Endzwecks, obwohl noch nicht in seiner vollständigen Realisierung. Die Verwirklichung der Freiheit ist ein Bewusstseinsprozess, worin der Geist sich nach und nach von einem an die Natur gebundenen Leben zum freien, geistigen Selbstsein entwickelt. Von einem abstrakten Prinzip, das als etwas Ideelles der Natur gegenüber steht, verwirklicht die Freiheit sich allmählich weiter zu der Realität, worin der Geist sich frei in seinem eigenen Element, dem objektivem Geist, zu sich selbst ver­ hält: zum Leben in einem Staat. Die Weltgeschichte entwickelt sich von der ori­ entalischen Welt, worin nur Einer, und der griechischen und römischen Welt, worin einige als frei gelten, zur christlich-germanischen Welt, worin gewusst wird, dass „alle Menschen an sich, das heißt der Mensch als Mensch frei sei“ (Werke 12, 32–33). Hegels zentrale Frage in der Philosophie der Weltgeschichte ist, wie dies Wissen der Freiheit sich entwickelt hat und mit der Verwirklichung der Freiheit in der realen Welt zusammengeht. Dass die Weltgeschichte nicht der Boden des Glücks ist (Werke 12, 47), ist für Hegel nicht eine bloß empirische Konstatierung, sondern notwendig im­ pliziert, als negatives Moment der Idee des absoluten Geistes. Der Geist muss sich in der Zeit nicht nur seiner Freiheit bewusst werden, sondern sie auch durch große Schwierigkeiten hindurch erobern. Der Geist unterscheidet sich wesentlich von der Natur durch seine Subjektivität. Wie die Subjektivität im Gefühl und erst völlig im Erkennen und Willen zum Ausdruck kommt, ist sie die formelle Weise des Geistigen. Als Selbstbewusstsein und Selbstzweck ver­ hält der Geist sich aber auch als Inhalt zu sich selbst, vor allem zu der Idee der Freiheit, die er kennt und zu verwirklichen hat. Die Freiheit will sich in erster Instanz unmittelbar im subjektiven Willen der Individuen, der dem Allgemeinen gegenübersteht, realisieren. Die Individuen unterscheiden sich durch ihre Leidenschaften und partikulären Zwecke sowohl von der Idee, als etwas nur Allgemeinem, als auch von der Verwirklichung der Idee im Staat.

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Sie identifizieren sich mit ihren eigenen Zwecken und wollen ihren partikulä­ ren Inhalt ausfüllen und verwirklichen, eine Tätigkeit, worin sie ihr Glück zu finden hoffen. Im Prozess der Freiheitsverwirklichung bedient der Geist sich dieser Absichten als Mittel. Anfänglich verhalten Endzweck und Mittel sich als nicht innerlich aufeinander bezogene Extreme. [Die] Vereinigung der beiden Extreme, die Realisierung der allgemeinen Idee zur unmittelbaren Wirklichkeit und das Erheben der Einzelheit in die allgemeine Wahrheit, geschieht zunächst unter der Voraussetzung der Verschiedenheit und Gleichgültigkeit der beiden Seiten gegeneinander. Werke 12, 44

Die Weltgeschichte ist so das Spiel zweier Momente: „das eine ist die Idee, das andre sind die menschlichen Leidenschaften […]. Die konkrete Mitte und Vereinigung beider ist die sittliche Freiheit im Staate“ (Werke 12, 38). Der Staat ist „somit die Grundlage und der Mittelpunkt der andern konkreten Seiten des Volkslebens, der Kunst, des Rechts, der Sitten, der Religion, der Wissenschaft“ (Werke 12, 68). Die Vereinigung der Privatinteressen der Bürger mit dem allge­ meinen Zweck des Staates erfordert eine schwere und langwierige Zucht. Obwohl die Freiheit nicht etwas ist, das überhalb der und unabhängig von den Interessen und selbstsüchtigen Zwecken der Individuen steht, und die allgemeine Idee sich nur durch die Taten der Menschen verwirklichen kann, ist es großenteils zufällig, ob die partikulären Zwecke sich mit dem Endzweck vereinigen lassen. Die Verwirklichung der Freiheit ist so etwas Allgemeines, dem das Partikuläre und Zufällige geopfert wird: „das Partikuläre ist mei­ stens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben“ (Werke 12, 49). Das Weltgericht als höchste Instanz des objek­ tiven Geistes scheint somit wie eine externe Macht über die Individuen zu entscheiden. Eine über alle menschlichen Individuen entscheidende, ihnen externe Entität wäre aber Schicksal und nicht Geist. Nicht nur Individuen, sondern auch Staaten werden im Fortschrittsprozess der Freiheit aufgeop­ fert. Das Schauspiel der Leidenschaften kann uns leicht mit Trauer, mora­ lischer Betrübnis und selbst Empörung erfüllen; und die Geschichte kann sich „als eine Schlachtbank [zeigen …], auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht“ werden. Eine Geschichtsbetrachtung, die vom Besonderen ausgeht und über die jämmerlichen Erfolge der menschlichen Selbstsucht reflektiert, führt not­ wendig zu der Frage, „welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer ge­ bracht worden sind“ (Werke 12, 35). Dem stellt Hegel nun gegenüber, dass in der Philosophie der Weltgeschichte die Idee, dass der Weltlauf ein geistiger

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Prozess ist, vorausgesetzt wird (Werke 12, 20; GW  20, 524–29, § 549). Dass der objektive Geist den Individuen unabhängig und gleichgültig gegenüber stehe, ist nur richtig am Anfang des Vereinigungsprozesses, da der Begriff der Freiheit noch wenig zur Entwicklung gekommen ist. Aber wenn im Staat und in der Religion der weltliche Geist sich des absoluten Geistes bewusst gewor­ den ist, „entsagt der Wille des Menschen seinem besonderen Interesse“; in der Andacht und durch das Opfer drückt er aus, dass es ihm nicht um Partikuläres zu tun sei (Werke 12, 68). So vereinigt er sich in Freiheit mit dem Allgemeinen. Für ihn ist der Staat „die Wirklichkeit, worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt“, „die Vereinigung des subjektiven und des vernünftigen Willens“, die ihm zum Wesentlichen, zum Zwecke seines Daseins geworden ist (Werke 12, 55). In dieser Vereinigung des Individuums mit dem Allgemeinen sieht Hegel die geistige Substanz, die sich in der Überwindung des Natürlichen entwi­ ckelt. Als das Ende des natürlichen Lebens hat der Tod in der Entwicklung des Geistes eine wichtige Rolle. Denkend ist der Geist „Erhebung des Begriffs über das Leben“. Innerhalb des Lebensprozesses wird der Tod nur im Leben der Gattung überwunden, aber darin „erstirbt die Unmittelbarkeit der lebendigen Individualität; der Tod dieses Lebens ist das Hervorgehen des Geistes“ (GW  12, 191). Hegel versteht das nicht als ein Fortleben nach dem Tod, sondern als Leben und Sterben für das, was als das Höhere gewusst wird. In der Phänomenologie beschreibt er, wie der Mensch zum geistigen Selbstbewusstsein kommt, indem er in der Furcht des Todes die Furcht des absoluten Herrn empfindet (GW 9, 114). In der Weltgeschichte befreit die geistige Substanz – durch die Furcht des Todes – das Selbstbewusstsein von seiner Beschränktheit, erhebt es zur Unendlichkeit, und wenn das Selbstbewusstsein den allgemeinen Geist zum Gegenstand hat – wie in der Sittlichkeit und in der Religion – wird es damit ebenso von dieser Furcht befreit (GW 13, 239). Weil der Geist sich durch das Negative hindurch verwirklicht, wird die Identität des Geistes mit sich von Hegel bestimmt als absolute Negativität (Negation der Negation, aufgeho­ bene Negation oder unendliche Affirmation). Als solche „kann er von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst abstra­ hieren“. Der Tod ist auch Negation des Natürlichen, aber ohne das Negative der Natur zu überwinden. Der Geist dagegen „kann die Negation seiner in­ dividuellen Unmittelbarkeit, den unendlichen Schmerz ertragen, d. i. in die­ ser Negativität affirmativ sich erhalten und identisch für sich sein“ (GW  20, 382, § 382). Die absolute Negativität ist die Identität des Ich, die unendliche Beziehung des Geistes auf sich, der durch eine Vielheit von Bestimmungen und Veränderungen für sich selbst ist und gleich bleibt (GW  20, 421 ff, § 412 ff). Der Tod ist im Widerspruch mit dem Ich. Als Geist hat das Subjekt aber die Macht,

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den Widerspruch zu überwinden, auch den Tod als etwas nur Natürliches3. Indem die Individuen abstrahieren und sich von der Natur (ihrer individuel­ len Unmittelbarkeit) losmachen können, ist der Tod für sie nicht das absolute Ende. Wie wir gesehen haben, identifizieren die Individuen sich mit dem parti­ kulären Inhalt ihrer eigenen Zwecke, die sie ausfüllen und verwirklichen wol­ len. Die formelle Seite dieses Wollen ist das, was Hegel das unendliche Recht der Subjektivität nennt. Menschen haben ihre „eigentümlichen Bedürfnisse, Triebe, Interessen überhaupt“, und beabsichtigen eigene Zwecke bei der Vollführung ihrer Taten. Für Hegel ist es „das unendliche Recht des Subjekts, dass es sich selbst in seiner Tätigkeit und Arbeit befriedigt findet“. Es ist eine Seite der Freiheit, die, wenn unbeschränkt, zum Kampf auf Leben und Tod füh­ ren kann, aber, unter das Gesetz gebracht, auch in der Sittlichkeit als formelles Prinzip seinen Platz hat. Das Bedürfnis „der eigenen Einsicht, Überzeugung, oder wenigstens des Dafürhaltens, der Meinung“, tritt in der modernen Zeit, wo „das Bedürfnis des Räsonnements, des Verstandes, der Vernunft erwacht ist“, stark in den Vordergrund (Werke 12, 36–37). Dies alles gehört zum Recht der Subjektivität, das im persönlichen Gewissen seinen höchsten morali­ schen Ausdruck findet. Die Subjektivität „ist das Material, in welchem der vernünftige Endzweck ausgeführt wird“ (Werke 12, 55). Dem Inhalte nach sind die Angelegenheiten dieser subjektiven Freiheit dem allgemeinen Geist untergeordnet, und die Individuen müssen in der Vereinigung im Staat ihre Befriedigung finden. Wenn wir die Geschichte begreifen, nicht als das Resultat der zufälligen individuellen Leidenschaften, sondern als die Entwicklung von Staaten im Prozess der Freiheitsverwirklichung, wird die Kraft der Vernunft in ihr durchsichtig. Die Vernunft wird sich durch Überwindung der Negativität, die auch noch mit den Leidenschaften verbunden ist, beweisen. Das heißt aber nicht, dass die allgemeine Idee selbst sich auf den Kampf mit dem Besonderen einlassen würde: „Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird […]. Das ist die List der Vernunft zu nennen, dass sie die Leidenschaften für sich wirken lässt.“ (Werke 12, 49) Die Vereinigung der Individuen in einem Staat ist nach Hegel die konkre­ te Verwirklichung des Volksgeistes, welcher selbst eine individuelle und be­ schränkte Gestalt der geistigen Substanz ist und nicht mit dem absoluten Geist als Ganzem zusammenfällt. Die Selbstverwirklichung des absoluten Geistes vollzieht sich in verschiedenen Stufen, auf welchen er sich als objektiver Geist vergegenständlicht in individuellen Staaten, deren Entwicklung und 3  Siehe den mündlichen Zusatz in Enzyklopädie (1830) § 432 (in: Werke 8).

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Untergang die Weltgeschichte ausmacht. Diese individuellen Gestalten sind in ihren besonderen Zwecken und ihrem Tun dem Weltgeist, gleich wie die individuellen Menschen dem Staat, untergeordnet und damit auch selbst endlich und sterblich. In diesem Prozess spielen die Leidenschaften eine große Rolle. Hegel hat ausführlich welthistorische Perioden beschrieben, in welchen den Individuen die Sicherheit und das Vertrauen, an einer geisti­ gen Wirklichkeit teilzunehmen, verloren gegangen ist. Deutlich ist das der Fall im Übergang vom Reich der Sittlichkeit (des alten Griechenland) in den Rechtszustand des Römischen Reichs. Im Leben der griechischen Polis waren die Individuen noch durch Rechte und Pflichten zu einem schönen und sitt­ lichen Zusammenleben gebracht; in Staat und Familie, mit ihrer Kunst und Religion, waren das Allgemeine und Besondere in einen geistigen substanzi­ ellen Einheit vereint. Hegel beschreibt, wie diese geistige Substanz, worin die Individuen ihre Erfüllung hatten, im Untergang der Polis als Wirklichkeit aus der Weltgeschichte verschwunden ist. Es ist die Blütezeit der Komödie, die allem Göttlichen und Staatlichen spottet, und des unglücklichen Bewusstseins, das sich, seiner Leerheit und Unwirklichkeit bewusst, nach der Erscheinung eines wirklichen Gottes sehnt (GW  9, 399–401). Bei dem inneren Zustande der Staaten, welche, durch Selbstsucht und Schwelgerei entkräftet, in Faktionen zerrissen sind, […] ist das Interessante nicht mehr das Schicksal dieser Staaten, sondern die gro­ ßen Individuen, die bei der allgemeinen Verdorbenheit aufstehen und edel sich ihrem Vaterlande weihen; sie erscheinen als große tragische Charaktere, die durch ihr Genie und die angestrengteste Bemühung die Übel doch nicht auszurotten vermögen, und gehen im Kampfe unter, ohne die Befriedigung gehabt zu haben, dem Vaterlande Ruhe, Ordnung und Freiheit wiederzugeben, auch ohne ihr Andenken rein für die Nachwelt erhalten zu haben. Werke 12, 337

Wie zu den Zeiten des Verfalls in Griechenland, treten auch in Rom große Individuen in den Vordergrund: Ihr Unglück ist, dass sie das Sittliche nicht rein bewahren können; denn was sie tun, ist gegen das Vorhandene gerichtet und Verbrechen. Selbst die Edelsten, die Gracchen, sind nicht bloß der äußeren Ungerechtigkeit und Gewalt unterlegen, sondern waren selber in das allgemeine Verderben und Unrecht verwickelt. Werke 12, 377

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Alle Menschen lassen sich durch ihre Leidenschaften führen, aber diese sind nicht ganz ohne Bezogenheit auf Allgemeines: „Der Inhalt ihrer Zwecke ist durchzogen mit allgemeinen, wesenhaften Bestimmungen des Rechts, des Guten, der Pflicht usf“ (Werke 12, 44). Für die meisten ist, in ihrem sozialen Leben, nicht schwierig zu wissen, was das für sie bedeutet. Anders aber ver­ hält es sich in Perioden großer Kollisionen zwischen den bestehenden, aner­ kannten Pflichten und ihnen entgegengesetzten, neuen Möglichkeiten, die „ein Allgemeines anderer Art“ implizieren. Kennzeichnend für die großen welthistorischen Individuen ist, dass sie beim Kampf für die eigene Sache zu­ gleich „die Einsicht hatten von dem, was not und was an der Zeit ist“ (Werke 12, 45–46). Von den edlen Gracchen sagt Hegel: „was diese Individuen wollen und tun, hat die höhere Berechtigung des Weltgeistes für sich und muss end­ lich den Sieg davontragen“ (Werke 12, 377). Er sagt damit nicht, dass, was in der Geschichte die Oberhand gewinnt, dadurch auch das Richtige sei, als ob darin das Gesetz der Stärkeren oder das unmittelbare Resultat gelten würde. Die Geschichte zeigt vielfach das Umgekehrte, nämlich, dass nur im Rückblick, vom Standpunkt des Endzwecks aus bestimmt werden kann, was notwendig und damit berechtigt war. Hegel scheint davon auszugehen, dass die Taten welthistorischer Individuen, wenn sie die Normen ihrer eigenen Gemeinschaft übertraten, für die Entwicklung von Recht und Freiheit günstig waren. Ob die Individuen, welche das historisch Notwendige vollzogen, damit ihre eigenen Taten moralisch rechtfertigen könnten, ist eine ganz andere Sache. Meistens hatten sie selbst keine klare Einsicht in die historische Bedeutung ihrer Taten, und folgten faktisch ihren eigenen, mehr zufälligen Zwecken und subjektiven Überzeugungen. Tugenden, guter Wille, ein reines Gewissen und das Recht sind, im Vergleich zur Gewalt der Leidenschaften, unbedeutend im Kampf der Weltgeschichte. Wir müssen einsehen, dass Großes nur durch große Charaktere und große Leidenschaft vollbracht werden kann. Das Urteil, dass die großen Individuen, weil sie aus Leidenschaft handelten, „keine moralischen Menschen gewesen seien“, gehört einer psychologischen Betrachtungsweise an, welche aus der philosophischen Geschichtsbetrachtung ausgeschlossen ist (Werke 12, 47). Die Frage, ob die Werte weltgeschichtlicher Taten damit dem moralischen Urteil überhaupt entzogen sind, ist der Gegenstand des folgenden Abschnitts.

Moralität und Weltgericht

Für Hegel ist klar, dass neben dem Glück auch Moralität keine Norm ist, an welcher der Lauf der Weltgeschichte zu beurteilen wäre. Wir sahen schon, wie er den kategorischen Imperativ der kantischen Moral als Beispiel für

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eine bloß formelle Subjektivität abweist. Auch Kants Aussage am Anfang der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dass in der Welt allein ein guter Wille ohne Einschränkung für gut gehalten werden könne, wird von Hegel, ohne Kant ausdrücklich zu nennen, kritisiert: „Denn so etwas Leeres wie das Gute um des Guten willen hat überhaupt in der lebendigen Wirklichkeit nicht Platz“ (Werke 12, 44). Es ist auch hier die Frage, ob Kants Aussage Recht getan wird; denn einen Willen, der, um schöne Seele zu bleiben, nicht handeln will, würde auch Kant sicher nicht als einen guten Willen betrachten. Freilich ist morali­ sche Vollkommenheit oder absolute Tugend für Kant eine Idee, die als etwas sein-Sollendes nicht in der Welt angetroffen wird, aber der gute Wille, der ihr als seiner Pflicht nachstrebt, ist sehr wohl in der Welt möglich. Hegels Kritik, dass die kantische Moral unwirklich ist, weil sie nur auf etwas Sollendes bezo­ gen ist, ist deshalb fragwürdig. Am Ende dieses Aufsatzes werden wir darauf zurückkommen. Im Allgemeinen konstatiert Hegel, dass die Moralität im Recht der Subjek­ tivität stecken bleibt. Wie wir sahen, hat für ihn die moralistische Beurteilung großer Taten in der Geschichte kein Gewicht. Tugenden, guter Wille, ein reines Gewissen und das Recht stehen, im Vergleich zur Gewalt der Leidenschaften, in einem unbedeutenden Verhältnis zur Welt (Werke 12, 34). Die sittliche Freiheit im Staat ist der Endzweck des Weltgeistes, und ist das höhere, von wo aus über das Besondere, das Schicksal der individuellen Staaten und die Taten welthistorischer Individuen geurteilt wird. Die Berechtigung des Weltgeistes stellt Hegel dem sogenannten Urteil der ‚Kammerdiener der Moralität‘, für welche es keine Helden gibt, gegenüber (GW 9, 358; Werke 12, 48). Er spricht nur mit Verachtung über jene Leute, die sich in ihrer moralischen Verurteilung der Selbstsüchtigkeit großer Figuren für einen vortrefflicheren Menschen hal­ ten. Auch gibt es solche Menschen, die den Weltzustand auf Vernunft, Recht und Freiheit basieren wollen und darüber klagen, dass es in der Politik keine Ideale mehr gebe. Hegel konstatiert, dass der Kampf der Leidenschaften zu seiner Zeit überwiegend als „Kampf berechtigender Gedanken untereinander“ geführt wird. Die „Ideale, welche an der Klippe der harten Wirklichkeit […] zugrunde gehen, können zunächst nur subjektive sein und der sich für das Höchste und Klügste haltenden Individualität des Einzelnen angehören“ (Werke 12, 52). Er verbindet damit das Urteil, dass die Weltgeschichte sich nicht mit solch subjektiven Gedanken einlässt, „ebenso wie das Weltgesetz nicht für die Einzelnen Individuen allein ist“. Wenn Hegel mit der letzten Aussage nur sagen wollte, dass die Individuen sich auf das Allgemeine richten sollten, ist dies moralisch gesehen trivial. Aber die Aussage verweist mehr auf seine Auffassung, dass „die bloßen Partikularitäten der Individuen am entferntesten“ sind von dem, was in der Weltgeschichte wesentlich ist. Für den Weltgeist haben Erscheinungen nur

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einen Wert, insofern sie dem Bewusstsein und der Verwirklichung der Freiheit als Endzweck dienen. Es sind die großen Begebenheiten, welche unter das Urteil des Weltgerichts fallen (GW  20, 527, § 549 A). Es bezieht sich nur auf den Volksgeist und auf das Handeln der Individuen, insofern es für die Entwicklung eines Volks oder Staats vorteilhaft ist (GW  20, 523, § 548; Werke 12, 45). Dass die partikulären Taten, Intentionen und Urteile der Individuen für die Weltgeschichte irrelevant sind, kann entweder bedeuten, dass sie vom Standpunkt des absoluten Geistes aus gesehen überhaupt unbedeutend und etwas Zufälliges sind, oder, dass die endgültige (moralische) Beurteilung ihres Wertes dem Urteil der Geschichte entnommen ist. Für die letzte Interpretation sprechen einige Aussagen Hegels, am deutlichsten die folgende Passage: Die Religiosität, die Sittlichkeit eines beschränkten Lebens – eines Hirten, eines Bauern – in ihrer konzentrierten Innigkeit und Beschränktheit auf wenige und ganz einfache Verhältnisse des Lebens hat unendlichen Wert und denselben Wert als die Religiosität und Sittlichkeit einer ausgebilde­ ten Erkenntnis und eines an Umfang der Beziehungen und Handlungen reichen Daseins. Dieser innere Mittelpunkt, diese einfache Region des Rechts der subjektiven Freiheit, der Herd des Wollens, Entschließens und Tuns, der abstrakte Inhalt des Gewissens, das, worin Schuld und Wert des Individuums eingeschlossen ist, bleibt unangetastet und ist dem lauten Lärm der Weltgeschichte und den nicht nur äußerlichen und zeitlichen Veränderungen, sondern auch denjenigen, welche die ab­ solute Notwendigkeit des Freiheitsbegriffes selbst mit sich bringt, ganz entnommen. Werke 12, 54

Dieser Textabschnitt verlangt nach einem Kommentar. Er spielt offenbar eine wichtige Rolle im Umgang mit dem Problem, das wir damit haben (können), „die Individuen überhaupt unter der Kategorie der Mittel zu betrachten“. Es ist ein Problem, Moralität, Sittlichkeit, Religiosität „auch gegen das Höchste nur in diesem Gesichtspunkte zu fassen“, weil darin „ein schlechthin nicht Untergeordnetes, sondern ein in ihnen an ihm selbst Ewiges, Göttliches sei“ (Werke 12, 49). Hegels Antwort scheint zu sein, dass es im Hinblick auf den Wert eines Menschen in der Tat noch einen anderen Gesichtspunkt gibt, welcher nicht unter den der Weltgeschichte fällt: „die Menschen sind auch Selbstzwecke dem Inhalte des Zweckes nach. In diese Bestimmung fällt eben jenes, was wir der Kategorie eines Mittels entnommen zu sein verlangen, Moralität, Sittlichkeit, Religiosität” (Werke 12, 50). Aber sodann bleibt ein Problem, da die oben zitierte Passage wie folgt fortsetzt:

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Im allgemeinen ist aber dies festzuhalten, dass, was in der Welt als Edles und Herrliches berechtigt ist, auch ein Höheres über sich hat. Das Recht des Weltgeistes geht über alle besonderen Berechtigungen. Werke 12, 54

Gehört denn das, was „dem lauten Lärm der Weltgeschichte enthoben ist“ – das Innere, der unendliche Wert des Individuums, der abstrakte Inhalt des Gewissens – nicht zur Welt? Zur Welt gehört jedenfalls die Tätigkeit der Individuen, das, was sie aus ihrem Gewissen entschließen und machen. Dass sie sich damit identifizieren, ist das „unendliche Recht ihrer Subjektivität“, unendlich in der Bedeutung, dass das, was sie in ihrer Freiheit tun können, von der Natur noch ganz unbestimmt ist. Vom Augenblick an, da sie etwas Bestimmtes wollen und handeln, ist der Inhalt, den sie für sich diesem Rechte geben, der Zweck, mit dem sie sich als diese partikularen Individuen identifi­ zieren, beschränkt und dem Recht des Weltgeistes untergeordnet. Vernünftig wird der subjektive Wille erst, wenn er sich mit einem sittli­ chen Inhalt, dem „Geist des Volkes“, verbindet (Werke 12, 55,69). Und erst wenn der Volksgeist sich in einem Staat objektiviert hat, gehört ein Volk zur Weltgeschichte; denn im Staat verhält ein Volk sich zu sich selbst als Zweck, als ein Wille, der sich selbst will, und ist damit eine individuelle Gestalt des tätigen Geistes. Auch Völker und Staaten sind Individuen, die in der Geschichte kommen und gehen. „Die Prinzipien der Volksgeister in einer notwendigen Stufenfolge sind selbst nur Momente des einen allgemeinen Geistes“(Werke 12, 104–05). Vom Gesichtspunkt der Weltgeschichte aus ist Hegel zufolge zu erkennen, dass „allen Wert, den der Mensch hat, alle geisti­ ge Wirklichkeit, er allein durch den Staat hat“ (Werke 12, 56). Weil Letzteres nur gilt, insofern die Individuen innerhalb einer entwickelten Gesellschaft tätig sind, behauptet Hegel nicht, dass das menschliche Individuum au­ ßerhalb des Staates überhaupt keinen Wert habe. Dass die Vernunft in der Geschichte die Individuen in ihrer Tätigkeit als Mittel gebraucht, ist für ihn im Allgemeinen darum kein Problem. Allein, wo er den Menschen als Zweck an sich selbst bestimmt, wird es komplizierter. Wie er explizit zugibt, wird der Gegenstand verwickelter und schwieriger, wenn wir die Individuen nicht bloß als tätig, sondern konkreter mit bestimmterem Inhalt ihrer Religion und Sittlichkeit nehmen, Bestimmungen, welche Anteil an der Vernunft, damit auch an ihrer absoluten Berechtigung haben. Hier fällt das Verhältnis eines bloßen Mittels zum Zwecke hinweg. Werke 12, 54–55

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Das Problem des Mittel-Zweck-Verhältnisses hat sich so verschoben vom Wert der Individuen zum Wert der „Religion, Sittlichkeit usf.“ an sich. Dieser ist es, den Hegel als ein „Ewiges, Göttliches“ bestimmt und wodurch Religion und Sittlichkeit „über die äußere Notwendigkeit und Zufälligkeit an sich erhoben sind“ (Werke 12, 50). In ihren bestimmten Gestalten sind die Religionen und Staaten Produkte der Volksgeister; und in diesen Gestalten sind sie Stufen in der Entwicklung des Weltgeistes. Ihre Gestalten können im Kampf der Leidenschaften mangelhafte und eben verwerfliche Seiten haben. Hegel hält aber denjenigen, die, wie Schiller, betrauern, dass das Ideal der Vernunft, des Guten, des Wahren nicht verwirklicht wird, vor, dass es in der Weltgeschichte nicht um das empirisch Einzelne zu tun ist. „Die Philosophie will den Inhalt, die Wirklichkeit der göttlichen Idee erkennen und die verschmähte Wirklichkeit rechtfertigen. Denn die Vernunft ist das Vernehmen des göttlichen Werkes“ (Werke 12, 53). Obwohl Religion und Sittlichkeit in ihren unterschiedenen bestimmten Gestalten einem Volk zugehören, haben sie an sich einen allgemeinen Inhalt, als welcher sie Gegenstand der Philosophie sind: „Wir haben es nach der Seite der Geschichte mit dem zu tun, was gewesen ist, und mit dem, was ist, – in der Philosophie aber mit dem, was weder nur gewesen ist noch erst nur sein wird, sondern mit dem, was ist und ewig ist – mit der Vernunft“.(Werke 12, 114). „Alles ist ihr in der Vergangenheit unverloren, denn die Idee ist präsent, der Geist unsterblich, d.h. er ist nicht vorbei und ist nicht noch nicht, sondern ist wesentlich jetzt“ (Werke 12, 105). Der Geist muss viele Stufen durchlaufen, aber für den allgemeinen, abstrakten Inhalt gilt, dass er nicht nur den „zeitlichen Veränderungen, sondern auch denjenigen, welche die absolute Notwendigkeit des Freiheitsbegriffes selbst mit sich bringt, ganz entnommen“ ist. Erst im Christentum ist dieser Inhalt zum vollständigen Selbstbewusstsein gekommen. Das heißt, dass in der christlichen Religion der Mensch sich seines eigenen Werts als Ebenbild Gottes bewusst geworden ist; „er ist Selbstzweck, hat in ihm selbst unendlichen Wert und die Bestimmung zur Ewigkeit“ (Werke 12, 403). Die Idee, dass jedes menschliche Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, ist auch für Hegel eine ewige Wahrheit, aber vom Gesichtspunkt der Weltgeschichte aus scheint für ihn nur wichtig zu sein, dass erst das Christentum zum Begriff dieser Idee und damit zur Einsicht gekom­ men ist, „dass der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist“ (GW  20, 477, § 482A); „er ist Selbstzweck, hat in ihm selbst unendlichen Wert und die Bestimmung zur Ewigkeit“ (Werke 12, 403): Ganz ohne alle Partikularität, an und für sich hat also der Mensch, und zwar schon als Mensch, unendlichen Wert, und eben dieser unendliche Wert hebt alle Partikularität der Geburt und des Vaterlandes auf. – Das

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andere, zweite Prinzip ist die Innerlichkeit des Menschen in Beziehung auf das Zufällige. Die Menschheit hat diesen Boden freier Geistigkeit an und für sich, und von ihm aus hat alles andere auszugehen. Werke 12, 404

Dies sind „die ersten abstrakten Prinzipien, welche durch die christliche Religion für das weltliche Reich gewonnen sind“, aber in den christlichen Staaten auch noch verwirklicht werden müssen. Erst wo Protestantismus und Staat sich vereinigen, kommt die Idee der Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu einer Staatsverfassung. Mit dieser Idee, dass alle Menschen als solche Zweck in sich, frei und gleich sind, formuliert Hegel das Prinzip, in Übereinstimmung mit welchem die Vernunft in der Welt immer schon wirklich ist, auch wo dieses nicht in den Staatsverfassungen realisiert ist. Die Vernunft wirkt dann darin, dass solche Staaten an ihren Widersprüchen zu Grunde gehen. Bei Kant ist dieses Prinzip ausgedrückt im kategorischen Imperativ, einen Menschen jederzeit zugleich als Zweck und niemals bloß als Mittel zu gebrauchen. Den Charakter eines Imperativs hat das Prinzip nur für einen Willen, dessen Zwecke nicht notwendig gut sind. In Bezug auf die hegelsche Geschichtsauffassung ist es darum wichtig zu sehen, dass dieses Prinzip für die Vernunft kein Imperativ ist, sondern ein Prinzip, nach welchem sie notwendig tätig ist. Indem die Individuen in ihren Leidenschaften durch die Vernunft als Mittel gebraucht werden, tut sie das, wie die Philosophie der Geschichte be­ weist, im Lichte der Realisierung des Endzwecks der Welt, worin alle mensch­ lichen Individuen als solche als Zweck in sich anerkennt werden. Aber inwieweit unterschreibt Hegel dieses Prinzip als einen moralischen Imperativ für das Handeln individueller Menschen? Merkwürdig ist, dass er es niemals unbedingt als eine universelle moralische Pflicht der Individuen vorbringt. Für Kant ist es eine Antwort auf die Frage: Was soll ich tun? Für Hegel scheint diese Frage kaum interessant. Wer diesbezüglich Probleme macht, weckt bei ihm den Verdacht, Ausflüchte aus seinen Pflichten zu su­ chen, denn meistens ist es für einen Menschen deutlich, „welcher Inhalt gut oder nicht gut, recht oder unrecht sei, dies ist für die gewöhnlichen Fälle des Privatlebens in den Gesetzen und Sitten eines Staats gegeben“ (Werke 12, 44). Für die welthistorischen Individuen, welche ihre eigenen Interessen verfolgten und dabei die Gesetze ihres Staates übertraten, aber unter dem Gesichtspunkt des Weltgerichts dazu genötigt und berechtigt waren, sind die formellen Gebote des kategorischen Imperativs zu leer und abstrakt, um ihren Willen be­ schränken zu können. Die moralische Frage, ob diese Individuen gewissenhaft gehandelt haben, als eine Frage nach dem Inhalt und Wert ihrer subjektiven Maximen, scheint darum nichts zur Sache zu tun, jedenfalls nicht, wenn sie darauf gerichtet ist, ob sie aus Pflicht gehandelt haben. Die Berechtigung des

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Weltgerichts bezieht sich Hegel zufolge nicht auf eine solche subjektive Sache. Nicht die Frage, ob jemand nach seinem Gewissen gehandelt hat, sondern das Prinzip der Gewissensfreiheit als solches ist für Hegel eine wesentliche Sache in der Geschichte. Nach Hegel ist die Verwirklichung der Freiheit der einzige Endzweck der Welt. Die Freiheit des Gewissens als das höchste Recht der Subjektivität hat darin einen wesentlichen, aber dem allgemeinen Geiste untergeordneten Platz. Zur Realisierung des Endzwecks gehört, dass der Staat diese Freiheit anerkennt, „denn es ist ein falsches Prinzip, dass die Fesseln des Rechts und der Freiheit ohne die Befreiung des Gewissens abgestreift werden, dass eine Revolution ohne Reformation sein könne“ (Werke 12, 535). Hegel lobt Kant, insofern dieser die Autonomie des Willens als Prinzip der Freiheit formuliert hat, aber interpretiert den kantischen Begriff der Autonomie ein­ seitig subjektiv, nämlich so, „dass der Mensch nichts, keine Autorität gelten lässt, insofern es gegen seine Freiheit geht [….,] so dass ihn nichts verpflichtet, worin diese Freiheit nicht respektiert wird“ (Werke 20, 367). Hegel zufolge bleibt diese Freiheit leer, einfache Identität des Willens mit sich, ohne be­ stimmten Inhalt. Diese Interpretation Hegels ist fragwürdig. Erstens gilt nach Kant, wie wir oben schon sagten, dass das autonome Subjekt sich als Mitglied im Reich der Zwecke denkt; eine Gedanke, der das Zusammenleben im Staate impliziert. Zweitens ist Hegels Kritik auch deshalb fragwürdig, weil Autonomie und das eigene Gewissen bei Kant nicht dasselbe sind. Hegel identifiziert beide, wenn er das Gewissen bestimmt „als die in sich wissende und in sich den Inhalt bestimmende unendliche Subjektivität“ (GW 14, 113, § 128). Bei Kant ist das Gewissen nicht das den Inhalt bestimmende, sondern der „über alle freie[n] Handlungen innere Richter4.“ Und der autonome Wille ist kein subjektiver Wille, sondern gesetzgebende Vernunft. Das subjektive Gewissen hat bei ihm nicht die Rolle, die Gesetze zu geben oder zu prüfen, oder sich beim Handeln auf die eigene Einsicht zu berufen, sondern spricht, wenn ich gehandelt habe, das Urteil, ob die Maxime meiner Handlung faktisch in Übereinstimmung mit der ethischen Verpflichtung war, aus Achtung vor dem Gesetz zu handeln5. Das ist eine Freiheit, die mir nicht genommen werden kann, weil dieses Urteil eine ganz innerliche Angelegenheit ist. Sowohl nach Kant wie auch nach Hegel gilt, dass der Mensch sich vom Tier unterscheidet, indem er sich in seinem Gewissen des Unterschieds von Gut 4  Kant, AA 6 (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft), 439. 5  Siehe: van Erp, H. „De zekerheid van het geweten bij Kant en Hegel“, in: W. Desmond, L. Heyde, E.-O. Onnasch (eds), Geweten en Zedelijkheid. Studies van het Centrum voor Duits Idealisme, deel 2, Nijmegen, (University Press), 2000, 19–33.

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und Böse gewiss ist und sich dadurch als schuldig wissen kann. Entsprechend seiner eigenen Auffassung der Moralität bestimmt Hegel das Gewissen nicht als Autonomie, sondern als „das Recht des subjektiven Willens, dass das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde“ (GW 14, 115, § 132), „Dies ist das Siegel der absoluten hohen Bestimmung des Menschen, dass er wisse, was gut ist und was böse ist“ (W 12, 50–51). Nach dieser Bestimmung ist das Gewissen nicht nur, wie bei Kant, das Vermögen, über die eigenen Taten im Lichte von Gut und Böse zu urteilen, sondern Wissen, was im Allgemeinen, in objektivem Sinne gut und böse ist. „Das Gewissen weiß sich selbst als das Denken, und dass dieses mein Denken das allein für mich Verpflichtende ist6.“ Als denkend muss es aber seine Gewissheit aus objektiven Gründen beziehen. Das wahrhafte Gewissen ist „die Gesinnung, das was an und für sich gut ist, zu wollen“ (GW 14, 119, § 137). Nur weil Hegel das Gewissen in der Bedeutung einer subjektiven Einsicht nimmt, die „sowohl wahr als bloße Meinung und Irrtum sein kann“, und dieses moralische oder subjektiv formelle Gewissen dem wahrhaften Gewissen, das erst „in der sittlichen Gesinnung enthalten ist“, gegenüber stellt, kann er sagen, dass „das Gewissen daher dem Urteil unterworfen ist, ob es wahrhaft ist oder nicht“, und dass „der Staat deswegen das Gewissen in sei­ ner eigentümlichen Form, d. i. als subjektives Wissen nicht anerkennen kann“ (GW 14, 120, § 132 Anm.). Als solches kann das formelle Gewissen auch selbst ins Böse umschlagen. Wenn es sich hinsichtlich seines Wissens bloß auf die subjektive Überzeugung oder Gewissheit beruft, ist es böse und in Heuchelei umgeschlagen (GW  14, 121 ff., §§ 139–140). Das Gesagte mag ausreichend deutlich gemacht haben, warum Hegel ei­ nerseits das Individuum seines Gewissens wegen als Zweck in sich anerkennt, aber andererseits den moralischen Standpunkt „als für sich selbständig auf­ gehoben“ betrachtet (GW  14, 114, § 129) und dem Standpunkt der Sittlichkeit unterordnet. Das ist auch der Grund, warum bei Hegel der Endzweck der Welt eine andere Bedeutung hat als bei Kant. Bei Kant kann nur der Mensch als moralische Person, die in ihrem Gewissen die Idee von Pflicht hat, innerhalb der Welt als Zweck an sich gelten. Alle reellen Zwecke, welche der Mensch sich aufgeben kann, sind in letzter Instanz dem Urteil, ob sie mit seiner mo­ ralischen Bestimmung, ausgedrückt im kategorischen Imperativ, übereinstim­ men, unterworfen. Bei Hegel aber ist dieses moralische Urteil, wie wir sahen, im Lichte des Weltgerichts nicht das letzte. Kant zufolge impliziert das moralische Gesetz „auch und zwar a priori einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns verbindlich macht: und dieser ist 6  Hegel, Werke 7, § 136, Zusatz.

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das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“7. Zu diesem Endzweck können wir auch die Idee des ewigen Friedens rechnen8. Als Endzweck ist der ewige Friede nur eine Idee, die uns zwar verpflichtet, aber hinsichtlich wel­ cher wir nicht die Mittel haben, um sie völlig zu verwirklichen, so dass nur das Tun seiner Pflicht in der Welt für den Menschen möglich ist. Dass der ewige Friede den Charakter eines Sollens hat, und damit nur eine Idee ist, bedeu­ tet für Kant, dass kein Friede in der Geschichte der Staaten, aber auch keine Verfassung oder Weltordnung in der Zukunft als endgültig oder absolut gelten kann. Das Endliche darf sich nicht mit der Idee, welche etwas Unendliches ist, identifizieren. Damit wird, in Hegels Worten, die objektive Verwirklichung des Endzwecks auf Gott verschoben, als die „Macht über die Welt, die zum Endzweck hat das Gute in der Welt“ zu realisieren; und der Endzweck selbst wird in ein unbestimmtes Jenseits verschoben (Werke 20, 382 ff). So wird die Idee des ewigen Friedens der Geschichte entnommen und ist an einen absolu­ ten Unterschied zwischen dem Endlichen und Unendlichen gebunden. Das Aufheben der Trennung des Endlichen und Unendlichen, welche auch bei Kant den Gegensatz von Wissen und Glauben bestimmt, ist das eigentli­ che Anliegen der hegelschen Logik oder Metaphysik. Das spekulative Denken ist die Negation der Überzeugung, dass das Unendliche, das Absolute oder Gott, nicht erkennbar ist. Dieser Gedanke ist Hegel zufolge das Produkt des Subjektivismus seiner Zeit und durch seine Logik prinzipiell widerlegt. Seine Philosophie der Geschichte gibt dann den Begriff davon, wie der absolute Geist sich in der Geschichte als freier Geist verwirklicht. Für Hegel selbst gilt als der absolute Endzweck der Welt die realisierte Freiheit (GW  14, 114, § 129; Werke 12, 29). Hinsichtlich des an und für sich Guten macht er den Unterschied zwi­ schen dem absoluten Endzweck der Welt, als der inhaltlichen Bestimmung des Guten einerseits, und der Pflicht für das Subjekt, „welches die Einsicht in das Gute haben, dasselbe sich zur Absicht machen und durch seine Tätigkeit hervorbringen soll“ andererseits (GW  20, 491, § 507). Gegen Kant, der nur die bloß formelle Seite der Pflicht, das Sollen als Objekt des freien Willens aner­ kennt und dessen Inhalt – und damit die Verwirklichung des Endzwecks – nur als ein Jenseits denken kann, vertritt Hegel die Auffassung, dass die Person in der sittlichen Gesinnung „ihren absoluten Endzweck in der Wirklichkeit so­ wohl als erreichtes Diesseits anschaut, als sie denselben durch ihre Tätigkeit hervorbringt, aber als etwas, das vielmehr schlechthin ist“, nämlich als das Vollbringen ihrer Pflicht (GW  20, 495, § 514). Die Staatsverfassung und das Handeln in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Staates sind für Hegel so 7  Kant, AA 5 (Kritik der Urtheilskraft), 450. 8  Kant, AA 8 (Zum ewigen Frieden), 361 und 370.

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die realisierte Freiheit. Der Endzweck der Welt ist damit auch nicht etwas, das nur am Ende der Geschichte realisiert würde. Er ist immer in der Geschichte wirklich, weil er nicht nur das Resultat, sondern das Prinzip der Entwicklung der Staaten ist, und damit jeden Staat als einen individuellen Zweck an und für sich bestimmt. Schließlich ist auch Hegels Kritik, dass bei Kant die Idee nur ein leeres Sollen bleibe, fragwürdig. Kant zufolge können wir, wenn wir in der Geschichte sehen, wie die Natur die Menschen durch die Dialektik ihrer selbstsüchtigen Neigungen dazu nötigt, sich unter einer rechtmäßigen Staatsverfassung zu ver­ einigen, „die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen9.“ Diese Idee wird uns als Leitfaden dienen, „einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in un­ serem Welttheile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird)“ zu entdecken10. Die Philosophie der Weltgeschichte kann in der Entwicklung der Staaten und dem Verhalten der Bürger ein Zeichen dafür finden, dass das menschliche Geschlecht im Ganzen der Verbesserung fähig ist und wenigstens in der Anlage einen moralischen Charakter hat, „der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen lässt, sondern selbst schon ein solches ist“11. „So ist der ewige Friede keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt“12. Ob man dieses Näherkommen Verwirklichung der Freiheit nennen will oder nicht, scheint mir in letzter Instanz nicht die wichtigste Frage zu sein. Wichtiger ist, dass für Kant solche Verwirklichung – als Annäherung zum Idealen – nicht mit Sicherheit ist, sondern eine reelle Möglichkeit darstellt, und zwar unter der Bedingung des moralischen Handelns der Individuen. Nur so kann sie vernünftiger Weise Gegenstand unserer Hoffnung sein. Die Berechtigung der Taten eines Individuums kann sich denn auch nicht durch eine Berufung auf das Gesetz der Weltgeschichte des moralischen Urteils ent­ ziehen. Für Hegel scheint das anders zu sein. Nach ihm ist die Verwirklichung der Freiheit nicht nur Gegenstand einer vernünftigen Hoffnung, sondern Gegenstand des absoluten Wissens. Aber die Frage ‚Was soll ich tun?‘ wird für ein Individuum, das eine welthistorische Rolle spielen zu müssen glaubt, nicht aus diesem Wissen oder einer Einsicht in das Weltgericht beantwortet; denn

9  Kant, AA 8 (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht), 27. 10  Ibidem, 28. 11  Kant, AA 7 (Die Streit der Fakultäten), 85. 12  Kant, AA 8 (Zum ewigen Frieden), o.c., 386.

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so müsste es die für es noch unbekannten Folgen seines Handelns im Lichte der Verwirklichung des Endzwecks der Welt beurteilen. Auch für Kant ist nicht unbestimmte Freiheit als solche, sondern ein freies Zusammenleben als Produkt der moralischen Gesinnung der Menschen der Endzweck der Welt. Damit ist für die Individuen die kategorische ethische Verpflichtung zur Tugend verbunden. „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen“13. Die wahre Reform der Denkungsart, welche darin be­ steht, das moralische Prinzip zur eigenen Maxime zu machen, erwartet er aber nicht von einer Reform der Sitten, „sondern muss durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen[…] bewirkt werden“14. Die großen Figuren Hegels haben Revolutionen in der sittlichen Welt bewirkt. Wo Hegel es, wie wir oben sahen, ein falsches Prinzip nennt, dass eine Revolution ohne Reformation die Freiheit befördern könnte, hatte er die Bedeutung der religiösen Reformation für die Sittlichkeit vor Augen. Ihm geht es nicht um den kategorischen Imperativ, sondern um die Vereinigung von Staat und Religion, wie er sie im Lichte der Weltgeschichte gedacht hat, und um die Rolle, welche die großen Figuren im Prozess dieser Vereinigung gespielt haben. Die Moralität mit ihrer Idee der kategorischen Verpflichtung ist darin aufgehoben, und hat darin das Recht zum letzten Wort verloren.

13  Kant, AA 8 (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?), 36. 14  Kant, AA 6, 47.

Die Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist Weltgeschichte, Religion und Staat Andreas Arndt 1 Der objektive Geist vollendet sich im absoluten Geist. An dieser Nahtstelle steht systematisch die Weltgeschichte. Diese ist Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Vollendet ist dieses Freiheitsbewusstsein im absoluten Geist, genauer: im absoluten Geist als Philosophie und dessen Resultat, der absoluten Idee, wie sie in der Wissenschaft der Logik expliziert wird. Mit dem Eintritt in das Reich des Absoluten, in dem sich der Begriff der Freiheit vollendet, scheint daher die Realisierung dieses Begriffs zugunsten der Versöhnung im Gedanken suspendiert zu sein. So jedenfalls wird Hegel von denen verstanden, die ihm – mit welchen Vorzeichen auch immer – ein affirmatives Verhältnis zum Bestehenden zuschreiben. Hieran sind allerdings Zweifel angebracht. Wäre es so, dass Hegel die Flucht in den Gedanken antreten würde, dann würde das die Grundlagen seines Systems beschädigen. Die absolute Idee wäre dann nicht mehr ebenso theoretisch wie praktisch und die absolute Methode wäre kein Kreislauf mehr, der im Fortschreiten zugleich zurückgeht, sondern Aufstieg in einer Hierarchie durch Abstraktion – also genau das Gegenteil derjenigen Allgemeinheit, welche die absolute Idee darstellen soll. Schon aus Gründen hermeneutischer Billigkeit sollte daher Hegels Aussage von 1808 ernstgenommen werden: „Die theoretische Arbeit, überzeuge ich mich täglich mehr, bringt mehr zustande in der Welt als die praktische; ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.“1 Wenn dies gilt, dann gilt auch die Antithese zum eingangs Gesagten: Der absolute Geist vollendet sich im objektiven Geist. Tatsächlich findet innerhalb der Philosophie des absoluten Geistes auch eine Rückkehr zum objektiven Geist statt: die Religion als die zweite Gestalt des absoluten Geistes vollendet sich gleichsam doppelt: zum einen in der Philosophie als der dritten und höchsten Gestalt des absoluten Geistes, zum anderen aber auch im vernünftigen Staat, denn für Hegel hat „das Reich Gottes, die Gemeinde […] ein Verhältnis zum Weltlichen [….] Für diese Weltlichkeit sind die Prinzipien in jenem Geistigen vorhanden; das Prinzip, 1  An Niethammer, 28.10.1808, in: Hegel, Briefe 1, 253.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_031

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die Wahrheit für das Weltliche ist das Geistige.“2 Es handelt sich hierbei also um genau diejenige Konstellation, die Hegel in seinem Brief an Niethammer angesprochen hatte: die Wirklichkeit hält dem geistigen Prinzip nicht stand. Diese Realisierung verändert aber auch die Religion, denn sie bedeutet, dass „das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung, degradirt, – das Weltliche dagegen sein abstractes Fürsichseyn zum Gedanken und dem Principe vernünftigen Seyns und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet.“3 Die Vollendung des absoluten Geistes qua Religion im objektiven Geist hat damit die Konsequenz, die der junge Marx der Verwirklichung der Philosophie zuschreibt. Durch die Beziehung zum Weltlichen entsteht ein Reflexionsverhältnis, welches die Abgeschlossenheit des Denkens bzw. des religiösen Vorstellens in sich aufbricht: „Die innere Selbstgenügsamkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Licht war, wird zur verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet. So ergiebt sich die Consequenz, daß das Philosophisch-werden der Welt zugleich ein Weltlichwerden der Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust“ ist4. Könnte es sein, dass Hegel genau dies meint? Dass der absolute Geist sich nicht selbst genügt, sondern – wie Hegel ja auch sagt – Geist nur ist als Geist für den Geist, d.h. in einem inneren Reflexionsverhältnis, welches die Verhältnisse zwischen den absoluten, objektiven und subjektiven ‚Geistern‘ (sit venia verbo) einschließt? Der Bezug des absoluten Geistes überhaupt auf (nicht nur) den objektiven Geist wäre ihm dann – freilich auf eine noch näher zu klärende Weise – eingeschrieben und das Verhältnis des Geistigen zum Weltlichen im Bereich der Religion wäre nur das – nach Walter Jaeschke jedoch „beharrlich ignorierte“ – Modell für das Verhältnis der Philosophie zur ‚Welt‘ bei Hegel selbst und letztlich auch der junghegelianischen Diskurse über das Weltlichwerden und die Verwirklichung der Philosophie5. Ich möchte diesen Fragen in drei Schritten nachgehen. Zuerst behandle ich die Frage, wie und in welchem Sinne sich der objektive im absoluten Geist vollendet (2). Sodann frage ich umgekehrt, in welchem Sinne sich der absolute Geist qua Religion im Weltlichen – näher: im Staat – vollendet (3). Und schließlich möchte ich noch darauf eingehen, weshalb die Komplexität der hegelschen Philosophie an diesem Punkte beharrlich ignoriert werden konnte (4). 2  Vorlesungen 5, 262. 3  G W 14, 1, 281. 4  Vgl. MEGA² I/1, 68. 5  Jaeschke 2003, 502.

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2 Systematisch steht die Weltgeschichte für Hegel genau an der Nahtstelle zwischen dem Endlichen und dem Absoluten, nämlich am Ende der Philosophie des objektiven Geistes; sie bildet den Übergang zur Philosophie des absoluten Geistes, in welcher sich der Geist als Geist selbst erfasst und die Beschränktheit aufhebt, die er als subjektiver und objektiver Geist noch an sich hat. Hegel bezeichnet diese Aufhebung auch metaphorisch als ‚Erhebung zu Gott‘, da der Geist sich jetzt erst als Geist erfassen kann. „Der Kampf des endlichen Selbstbewußtseins mit dem absoluten Selbstbewußtsein, das jenem außer ihm erschien, hört auf. […] Es ist die ganze bisherige Weltgeschichte überhaupt und die Geschichte der Philosophie insbesondere, welche nur diesen Kampf darstellt und da an ihrem Ziele zu sein scheint, wo dies absolute Selbstbewußtsein, dessen Vorstellung sie hat, aufgehört hat, ein Fremdes zu sein, wo also der Geist als Geist wirklich ist.“6 Diese Selbsterfassung des Geistes im absoluten Geist ist demnach der Endzweck der Geschichte, sofern Hegel Weltgeschichte mit der umfassenden Geschichte des Geistes gleichsetzt. Nach Hegel besteht die „abstracte[] Bestimmung“7 der Weltgeschichte, also ihr Endzweck, in nichts anderem als darin, dass der Geist sich zum Selbstbewusstsein seiner Freiheit emporarbeitet, wobei jedoch ein „Unterschied des Princips als eines solchen und seiner Anwendung d.i. Einführung und Durchführung in der Wirklichkeit des Geistes und Lebens“ bestehe8. Der Geist ist als Geist ja gerade deshalb geschichtlich, weil er das, was er in Wahrheit ist, erst im Resultat sein kann und insofern erst ein abstraktes Prinzip darstellt, das im weiteren Verlauf die Wirklichkeit des Geistes in seinem vollen Umfang und die Wirklichkeit des Lebens nur schrittweise zu durchdringen vermag. In diesem Zusammenhang bestimmt Hegel die Weltgeschichte als „Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit.“9 Damit ist das Ziel des Prozesses benannt und zugleich das Kriterium, an dem sich der Fortschritt in der Geschichte bemisst. Geschichte ist nicht ein universeller Fortschritt auf allen Gebieten des gesellschaftlichen und politischen Lebens – eine Auffassung, die freilich auch die geschichtsphilosophischen Fortschrittstheorien der Aufklärung so nie vertreten haben10 –, die Weltgeschichte ist auch nicht einmal Fortschritt in der Realisierung von 6  Werke 20, 460. 7  SW 18, 152 (Philosophie der Weltgeschichte, Einleitung 1830/31). 8  Ebd., 153. 9  Ebd. 10  Vgl. Rohbeck 1987; ferner Rohbeck 2004, Kap. 1.

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Freiheit, sondern sie ist ‚nur‘ Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit11. Dabei geht es ausschließlich um den Begriff der Freiheit, der sich da vollendet, wo der Geist sich in einem absoluten Bewusstsein seiner selbst als frei erfasst. Das Sich-Bewusstwerden des Geistes als Freiheit fällt freilich nicht in eine abgesonderte Geistesgeschichte, sondern ist unauflösbar in die Geschichte des Geistes überhaupt verwoben. Geist ist für Hegel zunächst bestimmt als freier Wille, als Aufhebung der unmittelbaren Abhängigkeit von der Natur. Die Entwicklung dieses freien Willens erfolgt durch Arbeit – zuallererst nicht in einem metaphorischen Sinne, sondern als Arbeit in und an der Natur, als gesellschaftliches Naturverhältnis. Als frei ist der Wille nach Hegel bereits „an sich die Idee“12. Er geht aus der Naturbestimmtheit des Menschen hervor, indem Triebe, Neigungen und Leidenschaften ein Wollen motivieren, das aber noch partikular ist: „Die Leidenschaft enthält in ihrer Bestimmung, daß sie auf eine Besonderheit der Willensbestimmung beschränkt ist“13. Die Entwicklung der Weltgeschichte zur Selbsterfassung des Geistes ist demnach nicht als ein einfaches Auswickeln eines Prinzips zu verstehen, sondern als ein Prozess, in dem sich das Bewusstsein der Freiheit im Zusammenhang mit ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen herausbildet; fast möchte man sagen: das gesellschaftliche Sein bestimmt auch bei Hegel das Bewusstsein. Indem allein und ausschließlich der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit die Weltgeschichte ist, entgeht Hegel der Überforderung seiner Philosophie durch einen umfassenden Fortschrittsbegriff und auch dem Einwand, Opfer mit dem Fortschritt verrechnen zu wollen. Gleichwohl irritiert diese These, denn wenn die Weltgeschichte im vollständig entwickelten Begriff der Freiheit terminiert, wie er Hegels Anspruch nach in seiner Konzeption der absoluten Idee vorliegt, dann ist die Geschichte ihrem Begriff nach an ein Ende gekommen, obwohl wir gewohnt sind, Geschichte eher objektiv als die Gesamtheit des menschlichen Tuns und Treibens in der Zeit anzusehen, und obwohl doch ersichtlich die Realisierung der Freiheit größtenteils nicht nur aussteht, sondern eher von reaktionären Gegenbewegungen zurückgedrängt wird. Tatsächlich könnte Hegel hier entgegnen, dass dies bloß Schranken der Realität seien, die den Begriff selbst nichts angingen. Der Begriff kann sich in sich selbst als Begriff vollendet und damit begrifflich realisiert haben14, 11  Zum Konzept von Geschichte als Freiheitsgeschichte vgl. Arndt 2015. 12  Ebd., § 482. 13  Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, 471, § 474, Erläuterung. 14  So heißt es im Zusatz zum § 379 der Enzyklopädie, der Begriff selber setze „seinem Sichentwickeln dadurch eine Grenze, daß er sich eine ihm völlig entsprechende Wirklichkeit gibt“ (Werke 10, 14 f.).

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ohne dass er damit die Realität überhaupt durchdrungen hätte. Der Begriff hat seine eigene Realität zunächst nur, insofern er sich selbst als Begriff zum Gegenstand hat. In diesem Sinne sagt Hegel über die absolute Idee, sie sei „noch logisch“ und „in den reinen Gedanken“ und „in die Subjectivität eingeschlossen.“15 Anders gesagt: Die Vernunft oder der Begriff vollendet sich in sich, aber in dieser Vollendung bleibt der Begriff in sich eingeschlossen. Dies bedeutet nicht, dass der Begriff danach in Anderes übergeht (eben deshalb findet ja am Ende der Logik ausdrücklich kein Übergang in die Natur statt). Es bedeutet nur, dass er sich in sich vertieft, indem er die Realität durchdringt16. Hier stößt der Begriff auf Schranken der Realität, denn nicht alles das, was der Fall, also bloße Realität ist, ist vernünftig, sondern nur das, was wirklich ist, d.h. die Übereinstimmung von Begriff und Realität. Vernünftig ist etwas nur dann, wenn es dem Begriff der Freiheit entspricht, soweit dies im objektiven Geist der Fall sein kann. Indem der Begriff die Schranken der Realität überwindet, d.h. sich in sie einbildet, geht es auch dann ‚weiter‘, wenn die Geschichte – als Fortschrittsgeschichte des Freiheitsbewusstseins – an ein Ende gekommen ist. Die Überwindung der Realitätsschranken ist freilich nicht die genuine Aufgabe der Philosophie; hier gilt, was Hegel am Schluss seiner Vorlesungen über die Philosophie der Religion sagt: „Wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist ihr zu überlassen und ist nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie.“17 3 Der absolute Geist qua Religion hat den Begriff Gottes zu seinem Inhalt. Da dieser aber, Hegel zufolge, nicht als Gegenstand vorgestellt werden darf, um nicht als Gegenüber des Endlichen selbst verendlicht zu werden, ist gerade der Gottesbegriff darauf angewiesen, innerhalb der Philosophie des absoluten Geistes die immanente Reflexivität des Geistes zu entfalten und zur Darstellung zu bringen. Diese Reflexivität liegt freilich in der Struktur des absoluten Geistes überhaupt, denn als absoluter kann er weder der subjektive 15  GW 12, 253 (Begriffslogik). 16  In diesem Sinne hatte bereits Kant die Vernunft in Bezug auf die Empirie als unendliche Bewegung des Fortschreitens verstanden: „Die Erweiterung der Einsichten in der Mathematik und die Möglichkeit immer neuer Erfindungen geht ins Unendliche; eben so die Entdeckung neuer Natureigenschaften, neuer Kräfte und Gesetze […] durch die Vernunft.“ (Kant, AA 4, 352). 17  Hegel/Marheineke 1840, 356.

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noch der objektive Geist noch ihnen als dem Endlichen gegenüber ein abstraktes Unendliches sein, sondern nur die Einheit des subjektiven und objektiven Geistes als Totalität: Die Religion ist „ebensosehr als vom Subjecte ausgehend und in demselben sich befindend als objectiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist.“18 Gott, so lautet dann die immer wiederkehrende Formel, ist Geist, aber als Geist für den Geist in seiner Gemeinde. Das heißt: Gott ist nur im geistigen Verhältnis der Gemeinde – er ist selbst dasjenige Selbstverhältnis des Geistes, das der absolute Geist bezeichnet, aber er kommt nur in seiner Gemeinde – den Individuen als Trägern des Bewusstseins von Gott – zum Selbstbewusstsein. Mit der Selbstbezüglichkeit der Religion als Bewusstsein Gottes hängt religionsphilosophisch die Charakteristik des Christentums als vollendete Religion und als Religion der Freiheit zusammen. Sie ist darum vollendet, weil die Religion – das Bewusstsein Gottes – sich hier selbst Gegenstand ist, während nach Hegel alle anderen Religionen in der einseitigen Objektivität Gottes befangen bleiben. Insofern spielt das Christentum – das Hegel durchgängig protestantisch versteht – eine ausgezeichnete Rolle in der Geschichte des Bewusstseins der Freiheit. In dem Manuskript der „Einleitung“ zu den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 1830/31 heißt es: „Erst die germanischen Nationen sind im Christenthum zum Bewußtseyn gekommen, daß der Mensch als Mensch frey, die Freyheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; diß Bewußtseyn ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber diß Princip auch in das weltliche Wesen einzubilden, diß war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere, lange Arbeit der Bildung erfodert. […] Diese Anwendung des Princips auf die Wirklichkeit, die Durchdringung, Durchbildung des weltlichen Zustands durch dasselbe ist der lange Verlauff, welcher die Geschichte selbst.“19 Nach dieser Auffassung ist der Religion in ihrer Vollendung eine Art Selbstsäkularisierung eingeschrieben, von der eingangs schon die Rede war. Die „Realisierung des Geistigen der Gemeinde zur allgemeinen Wirklichkeit“ hebt den Gegensatz zwischen dem weltlichen Reich und der jenseitigen Welt dadurch auf, dass der Himmel im Vernunft- und Rechtsstaat ein irdisches Diesseits findet. Die Religion vollendet sich aber gleichsam doppelt: in einem Prozess der Selbstsäkularisierung und im Medium des Vorstellens, also der allgemeinen Bilder, ein Medium, was – wie die Kunst – immer noch mit Sinnlichkeit behaftet ist. Als zentrale Vorstellung identifiziert Hegel dabei die Trinität, 18  GW 20, 542, § 554. 19  GW 18, 153.

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den dreieinigen Gott, in dem der Unterschied gegeben, aber zugleich in ein Selbstverhältnis aufgehoben ist, wie es der formalen Struktur der Freiheit entspricht (der Islam hingegen bringt es nach Hegel mit der Vorstellung des einzigen Gottes nur zu einem abstrakten Prinzip). Die christliche Zentralvorstellung bleibt aber im Medium des Vorstellens ein Mysterium. Was sie bedeutet, nämlich die absolute Idee als in sich konkrete (d.h. unterschiedene) Totalität, muss die Philosophie sagen, indem sie die Vorstellung gleichsam als ein „dialektisches Bild“ interpretiert. Sofern Religion Bestandteil der Freiheitsgeschichte und selbst nichts anderes als das geschichtliche Bewusstwerden der Freiheit im Medium der Vorstellung ist, ist ihr die Säkularisierung selbst eingeschrieben. Dies wiederum ist eine Voraussetzung dafür, dass die Philosophie das Prinzip der Freiheit im Begriff abschließend und gültig zum Bewusstsein bringen kann. Das Weltlichwerden der Religion ist aber, jedenfalls nach Hegels Auffassung, nicht ihr Verlust. Indem die Philosophie die religiöse Vorstellung in den Begriff aufhebt, empfängt zwar „die Religion ihre Rechtfertigung vom denkenden Bewußtsein aus.“ Zugleich aber gilt auch: „Die unbefangene Frömmigkeit bedarf deren [der Rechtfertigung, A.] nicht; das Herz gibt das Zeugnis des Geistes und nimmt die Wahrheit auf, die durch Autorität zu ihm kommt.“20 Die Vollendung der Religion und ihre Aufhebung in Philosophie ist nicht das Ende ihrer Existenz (Diskussionen über ein postreligiöses bzw. postsäkulares Zeitalter hätte Hegel vermutlich lächerlich gefunden). Tatsächlich behält die Religion eine Funktion als Gesinnungsmoment, auf welches das politische Gemeinwesen sich beziehen kann, sofern die Religion Ausdruck des Freiheitsbewusstseins ist, und sie behält auch eine Funktion als Erhebung des Geistes über das Endliche, also als eine Art exoterische Seite der philosophischen Vernunft. Die Philosophie hingegen reflektiert die Geschichte der Freiheit im Medium des Begriffs. Sie ist, das muss noch einmal betont werden, nicht eine abgehobene, aparte „Geistesgeschichte“, sondern sie ist, wie Hegel sagt, „ihre Zeit in Gedanken erfaßt.“21 Die Realisierung des Freiheitsprinzips bis hin zur Französischen Revolution in der Moderne ist wesentliche Voraussetzung des vollendeten Begriffs. Hegel versteht die Klassische Deutsche Philosophie seit Kant dezidiert als Verarbeitung der Französischen Revolution: „Kantische, Fichtesche und Schellingsche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist […]. An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte, deren innerstes Wesen 20  Vorlesungen 5, 268. 21  GW 14–1, 15.

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begriffen wird in der Weltgeschichte, haben nur diese zwei Völker teilgenommen, das deutsche und das französische Volk, sosehr sie entgegengesetzt sind, oder gerade weil sie entgegengesetzt sind. […] In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt. Was in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen.“22 Die Realisierung der Freiheit steht noch aus, aber das, so Hegel, entzieht sich der philosophischen Kompetenz. Die Philosophie, so heißt es in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion, sei „ein abgesondertes Heiligthum und ihre Diener bilden einen isolirten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammengehen darf und das Besitzthum der Wahrheit zu hüten hat.“23 Die Philosophie, so scheint es, sakralisiert sich in einer gegenläufigen Bewegung zur Selbstsäkularisierung der Religion selbst in der Akademie als säkularer Kirche. Tatsächlich aber ist die Philosophie mit ihrer Vollendung nicht am Ende. Die absolute Idee, also der vollendete Begriff der Freiheit, ist ja nach Hegel der „Trieb, durch sich selbst in Allem sich selbst zu finden und zu erkennen.“24 Dies betrifft nicht nur die theoretische Arbeit des Begriffs, denn die absolute Idee ist ja ebenso praktisch wie theoretisch. Es kann also nicht gemeint sein, dass die Philosophie sich in sich selbst in ihrem Heiligtum abschließt. Wenn es nicht ihre Aufgabe als Philosophie sein kann, die Schranken der Freiheit in der Realität zu überwinden, so ist es doch ihre Aufgabe, die sich wandelnde Realität immer wieder auf den Begriff zu bringen und am Maßstab des vollendeten Begriffs der Freiheit zu messen. Mit anderen Worten: ihr kritisches Geschäft hört nie auf. Auch wenn, um Marx zu bemühen, die hegelsche Dialektik „unbedingt das letzte Wort aller Philosophie“ ist25, so bleibt sie dabei doch „kritisch und revolutionär.“26 Dies umso mehr, weil der objektive Geist, in welchem Freiheit sich zu realisieren hat, nie jene durchschlagende Identität haben kann, welche dem absoluten Geist zukommt. Die absolute Idee als absolute (dialektische) Methode, in welcher sich die Philosophie als Resultat der Weltgeschichte, als vollständiges Bewusstsein der Freiheit vollendet, ist in Bezug auf die Welt des subjektiven und objektiven Geistes daher genau das, was Dialektik nach Adorno erst gegen Hegel als negative sein soll: Bewusstsein des Nichtidentischen. 22  Werke 20, 314. 23  Hegel/Marheineke 1840, 356. 24  GW 12, 238. 25  Karl Marx an Ferdinand Lassalle, 31.5.1858, in: Marx/Engels, MEW 29, 561. – Vgl. Arndt 2013. 26  Marx/Engels, MEW 23 (Das Kapital, Bd. 1), 28.

Die Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist

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4 Hegels Schüler und besonders die Junghegelianer haben demgegenüber die Vollendung der Philosophie im absoluten Geist bzw. der absoluten Idee hervorgehoben, dabei jedoch die Komplexität des hegelschen Geistbegriffs selbst – sein Herkommen aus der und seine bleibende Beziehung zur Natur, den Einschluss des subjektiven und objektiven Geistes und damit das Verhältnis des Absoluten zur ‚Welt‘ – unter den Tisch fallen lassen. Die Gründe dafür sind weniger philosophisch als zeitgeschichtlich. Der Abschluss des hegelschen Systems in sich (auch wenn dies mehr einem Wunschdenken der hegelschen Schüler als dem tatsächlichen Ausarbeitungsstand bei Hegel entsprach) schien in der erstickenden Atmosphäre der „Unzeit des Biedermeiers“27 ein epigonales Bewusstsein zu nähren und den geistigen und politischen Stillstand zu befördern. Deshalb verlangte Feuerbach einen radikalen Bruch mit dem Alten, das Hegel angeblich nicht wirklich überwunden habe. In seinem Aufsatz „Zur Beurteilung der Schrift: ‚Das Wesen des Christentums‘ “ heißt es: „Hegel ist die Aufhebung des abgelebten Alten im Alten. Wie überhaupt die philosophischen Systeme, so ist auch, und zwar insbesondere, das Hegelsche System ein unerläßliches, bleibendes Zucht- und Bildungsmittel des Geistes, das keiner ungestraft ignorieren kann. Aber so notwendig die Schule, so notwendig ist die Überwindung der Schule. Nicht die Schule, sondern die Freiheit von der Schule ist der wahre Zweck derselben. Notwendig ist es, sich durch ein philosophisches System zu bestimmen, zu bilden, aber die festgehaltene, die fixierte Bestimmtheit ist Beschränktheit. Nur die flüssige Philosophie, die Philosophie, welche aufhört, ein fixes System zu sein, welche die Wahrheit der vorhandenen Systeme in sich begreift, ohne selbst ein abgeschlossenes System zu sein, und doch zugleich keine Eklektik ist, nur diese ist die Philosophie des Lebens, der Zukunft.“28 Friedrich Engels wiederholt diese Auffassung in seinem 1886 publizierten Aufsatz „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, indem er behauptet, Hegel habe sein System gewaltsam abgeschlossen: „weil er genötigt war, ein System zu machen, und ein System der Philosophie muß nach den hergebrachten Anforderungen mit irgendeiner Art von absoluter Wahrheit abschließen. […] In der ‚Logik‘ kann er dies Ende wieder zum Anfang machen, indem hier der Schlußpunkt, die absolute Idee – die nur insofern absolut ist, als er absolut nichts von ihr zu sagen weiß – sich in die Natur ‚entäußert‘, d.h. verwandelt, und später im Geist, d.h. im Denken und in der Geschichte, wieder zu sich selbst kommt. Aber am Schluß 27  Vgl. Bock/Heise 1985. 28  Feuerbach 1982, 237 f.

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der ganzen Philosophie ist ein ähnlicher Rückschlag in den Anfang nur auf einem Weg möglich. Nämlich indem man das Ende der Geschichte dann setzt, daß die Menschheit zur Erkenntnis eben dieser absoluten Idee kommt, und erklärt, daß diese Erkenntnis der absoluten Idee in der Hegelschen Philosophie erreicht ist. Damit wird aber der ganze dogmatische Inhalt des Hegelschen Systems für die absolute Wahrheit erklärt, im Widerspruch mit seiner dialektischen, alles Dogmatische auflösenden Methode; damit wird die revolutionäre Seite erstickt unter der überwuchernden konservativen. Und was von der philosophischen Erkenntnis, gilt auch von der geschichtlichen Praxis.“29 Ernst Bloch brachte solche Auffassung auf die ebenso bündige wie falsche Formel „Hegel leugnete die Zukunft, keine Zukunft wird Hegel verleugnen“30 – und der Nachhall dieser junghegelianisch inspirierten Sicht ist noch lange in den Debatten über die Abgeschlossenheit des hegelschen Systems zu hören31. Demgegenüber ist zu betonen, dass die systematische Vollendung des Denkens in sich, wie sie in der Wissenschaft der Logik begründet wird, sich auf die allgemeinen Formen des theoretischen und praktischen Verhaltens zur ‚Welt‘, die grundlegenden Kategorien unseres Denkens und Handelns, bezieht, nicht auf den Abschluss des Wissens und Handelns überhaupt. Dieser Abschluss des reinen Denkens in sich bedeutet freilich, wie erwähnt, dass das Denken hier nur die Form seiner selbst als seines Inhalts ist (reines Denken hat sich selbst zum Gegenstand), also noch eingeschlossen in die logische Form und den reinen Gedanken. Indem der Begriff (die logische oder absolute Idee) sich der Realität der Natur und des Geistes zuwendet, d.h. sich dazu entschließt, die Abstraktion des reinen Denkens von aller Bestimmtheit und Intentionalität in Bezug auf realphilosophische Gegenstände zurückzunehmen, tritt er in das Reich des Endlichen ein, das sich per se in einer wesentlichen Differenz zur logischen Idee befindet: der subjektive und objektive Geist können gar nicht in der Weise selbstbezüglich sein wie der sich selbst als Begriff erfassende Begriff. Mit anderen Worten: hier gibt es konstitutiv und unhintergehbar eine Nichtidentität gegenüber dem Begriff als solchem: „Die endlichen Dinge sind darum endlich, indem sie die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen; – oder umgekehrt, insofern sie als Objecte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äusserliche Bestimmung an ihnen haben.“32 29  Marx/Engels, MEW 21, 259–307, hier 268 f. 30  Bloch 1962, 12. 31  Vgl. Kimmerle 1982. 32  GW 12, 175. – Diese grundlegende Differenz von logischer Idee und Realphilosophie übersieht z.B. Marx völlig, woraus sich seine Hegelkritik durchgängig speist.

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Gleichwohl ist es der Idee eingeschrieben, über das reine Denken hinauszugehen; sie ist, noch einmal, der „Trieb, durch sich selbst in Allem sich selbst zu finden und zu erkennen.“33 Hierdurch wird das vollendete Bewusstsein der Freiheit, welches die logische Idee ist, zum normativen Maßstab in der Erkenntnis und Kritik des Bestehenden, sofern es real mögliche Freiheit blockiert. Aufgabe der Philosophie ist es gerade, die sich wandelnde Realität immer wieder auf den Begriff zu bringen und am Maßstab des vollendeten Begriffs der Freiheit zu messen. Mit anderen Worten: sie ist ihrem Wesen nach kritisch. Der absolute Geist vollendet sich im objektiven Geist nach Maßgabe des objektiv Möglichen als Realisierung der Freiheit durch theoretische und praktische Kritik. 33  GW 12, 238.

Vom Geist der Gesetze zu den Gesetzen des Geistes Hegel über Sittlichkeit und Geschichtlichkeit Günter Zöller In Ansehung des […] geschichtlichen Elements im positiven Rechte hat Montesquieu die wahrhafte historische Ansicht, den echt philosophischen Standpunkt angegeben, die Gesetzgebung überhaupt und ihre besonderen Bestimmungen nicht isoliert und abstrakt zu betrachten, sondern vielmehr als abhängiges Moment einer Totalität, im Zusammenhange mit allen übrigen Bestimmungen, welche den Charakter einer Nation und einer Zeit ausmachen; in diesem Zusammenhange erhalten sie ihre wahrhafte Bedeutung sowie damit ihre Rechtfertigung. Hegel, Werke 7, 35

∵ Der Beitrag behandelt in vier Abschnitten den Geistbegriff Hegels in der syste­matischen Spanne zwischen objektivem und absolutem Geist. Der erste Abschnitt sondiert die integrale Funktion des Geistes bei Hegel. Der zweite Abschnitt erkundet die kommunitare Dimension des Geistes bei Hegel. Der dritte Abschnitt widmet sich der sozialen Prägung des Geistes bei Hegel. Der vierte Abschnitt adressiert den historischen Horizont des Geistes bei Hegel. Im Zentrum der Erkundungen steht durchweg das Verhältnis des Geistes zu den formellen und informellen Gesetzen seiner Entfaltung und Entwicklung, deren Wirksamkeit Hegel unter den Begriff der Sittlichkeit bringt. Bedingt durch seinen komprehensiven Charakter, verfährt der Beitrag summarisch und rekonstruktiv und verzichtet auf den Einbezug exegetischer Details und interpretatorischer Kontroversen. Ziel und Zweck der Überlegungen ist die Ermittlung der Funktionalität von Hegels Geistbegriff für die systematische Erfassung des sozialen, politischen und kulturellen Lebens in einer ebenso durch Gesetzlichkeit wie durch Freiheit geprägten, im spezifischen Sinne modernen Welt.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_032

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Geist und Ganzes

Der Begriff des Geistes gehört zu den fundamentalen Konzepten von Hegels philosophischem Denken. Zusammen mit den verwandten Begriffen des Absoluten und der Idee bildet er ein Geflecht von Grundnotionen des hegelschen Denkens, deren Entfaltung die sachliche Genese von Hegels philosophischem System ausmacht. Wegen ihrer engen Verwandtschaft miteinander sind die drei Fundamentalkonzepte auch nicht einfach voneinander zu trennen. Sie sind aber im Hinblick auf ihren je spezifischen Fokus durchaus voneinander zu unterscheiden. Während das Absolute bei Hegel als allgemeiner Begriff für letzte, übergegensätzliche Einheit dient und die Idee den Begriff speziell für die absolute Einheit von Gedanke und Gegenstand, von Denken und Sein bildet, gibt der Geist ganz allgemein die der Entwicklung unterliegende bewusstseinsförmige Gestalt der absolut-idealistischen Einheitsleistung wieder. Die systematische Zentralität des Geistbegriffs bei Hegel ist für dessen rekonstruktive Erschließung und kritische Sondierung mit methodischen und logistischen Herausforderungen verbunden. Der Begriff ist bei Hegel geradezu omnipräsent. Er findet sich schon in den frühen, vormals als “theologisch” rubrizierten religionsphilosophischen Texten. Er figuriert prominent in der kritischen Auseinandersetzung des jungen Hegel mit Kant und Fichte. Weitere Verwendung findet er in den Jenaer Systementwürfen und vor allem im Jenaer Hauptwerk, der Phänomenologie, die – als einzige unter Hegels publizierten Schriften – den Begriff des Geistes im Titel trägt. Schließlich avanciert der Begriff zum zentralen Konzept des enzyklopädischen Systems in dessen stadialem Reifungsprozess von der Nürnberger Vorfassung über die Heidelberger Grundgestalt bis zu den beiden weiter ausgefeilten Berliner Fassungen. Unter diesen Umständen könnte der Zugriff auf Hegels Begriff des Geistes entweder eher entwicklungsgeschichtlich oder strenger systematisch erfolgen. Im ersten Fall würde Hegels Gebrauch des Geistbegriffs begriffsgeschichtlich erörtert und ins Verhältnis zu Vorgängerkonzepten, wie pneuma oder spiritus, gesetzt oder aber in seiner konzeptuellen Genese bei Hegel selbst zum Gegenstand von Analyse und Rekonstruktion werden. Im zweiten Fall würde Hegels Geistbegriff in seiner spezifischen Stellung in der nach ihm benannten abschließenden Abteilung des hegelschen Systems der Philosophie oder aber in seiner generellen und durchgängigen Bedeutung für das gesamte System, als dessen implizites Prinzip er gelten darf, erörtert werden. Alternativ und komplementär zu diesen etablierten distinkten Zugangs­ weisen kann Hegels Begriff des Geistes aber auch funktional und kontextuell eruiert werden – im Hinblick auf seine spezifische Einheitsleistung in Hegels

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ebenso historisch wie systematisch dimensioniertem Denken und unter gezielter Berücksichtigung der damaligen zeitgenössischen philosophischen Diskurslage zum Themenfeld von Geist und Geistern. Der folgende Versuch schlägt den letztgenannten Weg ein und nimmt Hegels Begriff des Geistes aus der Perspektive seiner Funktionalität im philosophischen Diskurs über die Moderne in den Blick. Im Einzelnen steht dabei Hegels Zuführung des generellen Geistbegriffs auf den Begriff des gesellschaftlich gegenständlichen, „objektiven“ Geistes samt dessen ultimativer Überführung in den durch seine Objektivität hindurch seiner selbst und als solchem bewusst gewordenen, „absoluten“ Geist im Mittelpunkt. Der systematische Schwerpunkt des Beitrags liegt auf der Anbindung des Geistbegriffs an Hegels moral-, rechts-, sozial- und staatsphilosophischen Grundbegriff geistiger Gemeinsamkeit oder gemeinsamer Geistigkeit („Sittlichkeit“) sowie auf Hegels Integration von philosophisch begriffener Geschichte (Geschichtlichkeit) in die kombinierte Konzeption des objektiven und absoluten Geistes. Den historisch-systematischen Kontext für die Verbindung von Sittlichkeit und Geschichtlichkeit im Geistbegriff Hegels bildet zum einen die Rechts- und Sittenlehre von Kant und Fichte und zum anderen das geschichtlich geprägte Rechtsdenken und rechtlich geprägte Geschichtsdenken von Montesquieu. Schon früh und dann durchweg ist Hegels philosophisches Denken von zwei gegenläufigen, aber korrelierten Tendenzen geprägt: dem Aufweis von Gegensätzen und der Suche nach deren Vereinbarung. Mit seinem gepaarten Projekt von Opposition und Rekonziliation partizipiert Hegel an zeitgenössischen kulturell-philosophischen Debatten, die der weithin wahrgenommenen Gespaltenheit und Getrenntheit der modernen Lebensverhältnisse („Zerrissenheit“) das Vorhaben von Reintegration, einer restitutio ad integrum der gesellschaftlichen Lebensformen, entgegenstellen. Den Impuls und die Idee zur Kompensation und Korrektion der auch von Hegel diagnostizierten Malaise der Moderne dürfte dieser seinem frühen Freund Hölderlin verdankt haben („Vereinigungsphilosophie“), der seinerseits unter dem Einfluss ähnlich orientierter Bestrebungen Schillers stand („ästhetische Erziehung“). In der weiteren Ausgestaltung seines ebenso moderne-diagnostischen wie moderne-therapeutischen Denkens zu einer umfassenden Versöhnungsphi­ losophie („Versöhnung mit der Wirklichkeit“; Werke 7, 27; im Original Hervorhebung), die als Vereinigungsphilosophie immer auch Veruneini­ gungsphilosophie ist, orientiert sich Hegel zunächst – teils kritisch, teils affirmativ – an Kants und Fichtes fundamentalphilosophischen Bemühungen um die systematische Integration von Gegensätzen und die Überwindung von Widersprüchen aller Art („Einheit der Vernunft“) wie um die funktionale

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Differenzierung des Bewusstseins in koordinierte Prinzipiensphären, darunter vor allem Recht und Ethik. Von Schelling übernimmt Hegel zunächst noch – zusätzlich zur generellen Ergänzung der vernünftig-bewußten Wirklichkeit („Geist“) um eine vorbewusst-produktive Dimension („Natur“) – das Methodenkonzept der iterativen quantitierten Polarisierung („Potenzen“), mittels dessen Gegensätze einander kompensieren und komplettieren sollen. Doch entwickelt Hegel schon bald, in kritischer Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Vorgängern und im produktiven Rückgriff auf antike Positionen (Skeptizismus), einen systematischen Umgang mit Gegensätzen aller Art („Dialektik“), der das Umschlagen einer Sache in ihr Gegenteil („Negation“) mit der Überwindung von Gegensätzen so zusammenbringt, dass Verneinung zu Steigerung führt („bestimmte Negation“) so wie umgekehrt Entwicklung Entgegensetzung beinhaltet. Damit steht Hegel, seit Jena, ein logisch-ontologisches Methodenkonzept zur Verfügung, das Einheit und Mannigfaltigkeit, Identität und Differenz, Satz und Gegensatz als sachlich zusammengehörig und das deren übergegensätzliche, „absolute“ Einheit als komplex verfasst zu denken erlaubt. Die vorgesehene Versöhnung erfolgt so weder vorzeitig noch reduktiv, sondern im Verlauf eines gezielten Reifungsprozesses, der distinkte Gestalten und manifeste Gegensätze durchläuft und durchdenkt, um im endlich erreichten Resultat auch den zurückgelegten Weg samt dessen wesentlichen Stationen aufzubewahren („Aufhebung“). Für die Entwicklung und Ausgestaltung des Geistbegriffs im Rahmen von Hegels prinzipientheoretischer Transformation von Gegensätzlichkeit in Übergegensätzlichkeit ist die integrative und kreative Dimension des Geistes charakteristisch. Funktional betrachtet ersetzt und übernimmt der Geistbegriff bei Hegel eigene frühere Konzepte für die Einheitsbildung gegenüber Gegensätzen und für die Verbindung von Verschiedenem, insbesondere den moralphilosophisch (und moraltheologisch) dimensionierten Begriff der Liebe und den naturgeschichtlich geprägten Begriff des Lebens, die beide Relationalität mit Reziprozität verbunden hatten. Die konstitutive Innigkeit und Lebendigkeit des Geistes, die sich schon beim frühen Hegel findet, geht einher mit dessen Originalität in der Findung und Erfindung von Verbindungen, die Getrenntes zu überbrücken und Gegensätzliches zu vereinbaren geeignet sind. Noch ganz unabhängig von den spezifisch religiös-theologischen Begriffsgeschichten des Geistes in der Tradition von pneuma und spiritus, die den Geist an das Göttliche binden, fokussiert der frühe Hegel so die Kreativität und Konstruktivität des Geistes als Gestaltungsprinzip von Identität in Differenz ebenso wie von Einheit in Vielheit. Damit steht der Geist beim frühen Hegel in der Nachfolge des Geistbegriffs, den Kant – in Absetzung vom

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metaphysisch kontaminierten Seelenbegriff der Schulphilosophie (psyche, anima) – als animierendes Element im Gemüt („belebendes Prinzip“) und als Quelle von Inspiration („Genie“) eingeführt hatte (Kant, AA 5:313 und 7:225). Kant folgend und Hegel zuvorkommend hatte auch Fichte den Geistbegriff an die Lebendigkeit und Tätigkeit des Denkens und Fühlens gebunden und, in biblischer Referenz, vom (toten) Buchstaben abgesetzt (Fichte, GA I/6:333–361). Neben die prinzipientheoretische Dimension tritt in Hegels integrativem Geistbegriff schon früh und mit nachhaltiger Wirkung auf das reife Werk die sozialintegrative Bedeutung des Geistes als Funktionsbegriff für über- und interindividuelle Handlungsarten. In der Sache ist damit die von Hegel erst später, in der Enzyklopädie, explizit gemachte Sphäre des objektiven Geistes eingeführt, der gegenüber der Geist qua individueller Gemütsverfassung dann als subjektiver Geist ausgewiesen werden wird. Die intersubjektive Dimension und soziale Funktion des Geistbegriffs entwickelt Hegel unter dem prägenden und nachhaltigen Einfluß seiner schon früh, in Bern, betriebenen gesellschaftlich-historischen Studien. Neben die Sozialphilosophie der schottischen Aufklärung, die Hegel vor allem in den Werken von Adam Ferguson und Adam Smith rezipiert, tritt dabei das weit ausgreifende Geschichts- und Gesellschaftswerk von Montesquieu, De l’esprit des lois (1748), das die formelle und informelle Regulierung gesellschaftlicher Beziehungen („Gesetze“) ins Verhältnis setzt zu den ambienten Bedingungen sozialer Formationen („Klima“) und für die relational-reziproke Struktur von Regel und Reguliertem auf den Begriff des Geistes zurückgreift („Geist der Gesetze“). Der so schon bei Montesquieu ins IntersubjektivObjektive gewendete Geistbegriff stellt die Funktionalität gesellschaftlicher Regeln in Beziehung zu den Partikularitäten der jeweiligen Gesellschaft, denen die Regeln deshalb nicht äußerlich bleiben, sondern geistig gemäß sind. Mit dem sowohl prinzipientheoretisch wie sozialphilosophisch dimensionierten Geistbegriff verfügt Hegel, schon früh und dann auch weiterhin, über eine funktionale Grundkonzeption, in der die systematischen Anforderungen von Integration und Individuation nicht nur kompatibel, sondern komplementär sind. Der Begriff taugt darüber hinaus sowohl für die generelle Artikulation viel-einer Verhältnisse auf dem Gebiet individueller Bewusstseinsgestalten als auch für die spezielle Artikulation gesellschaftlich vermittelter Bewusstseinsformen. Bei der Ausgestaltung seines fundamentalfunktionalen Geistbegriffs legt Hegel dann den Fokus auf die geschichtliche Dimension des Geistes, die als Individualgeschichte die Stadien und Gestalten des Einzelbewusstseins prägt und trägt und als Gesellschaftsgeschichte das historisch individuierte kollektive Bewusstsein vorstellt und ausmacht. Dabei erweist sich auch die von individuellen geschichtlichen Formen des Geistes

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losgelöste, „absolute“ Schlussgestalt des Geistes als geschichtlich gegründet und historisch verfaßt.

Geist und Gemeinschaft

Schon bei seinem ersten, noch vereinzelten Auftreten – in Texten und Fragmenten aus Hegels Berner und Frankfurter Zeit – ist der Geistbegriff bei Hegel gesellschaftlich dimensioniert und dient der Anzeige von inter- und überindividuellen Zusammenhängen. Den systematischen Kontext für die kommune Konzeption des Geistes beim frühen Hegel bildet der funktionale Kontrast zwischen der bloß äußerlichen Auferlegtheit gesetzlicher Regelungen des gemeinschaftlichen Lebens und der innerlichen Zugehörigkeit der Gesetze zur Gemeinschaft. Der „gemeinsame Geist“ und die „Gemeinschaft des Geistes“ (Werke 1, 395 und 413), dank derer ein Ganzes organisch operiert, fungiert dabei als Gegenbegriff zu äußerlich auferlegten, “gegebenen” Gesetzen, die das Leben der Gemeinschaft im Allgemeinen und das der religiösen Gemeinschaft im Besonderen – Judentum, Christentum – im Modus von externen Vorgaben vorschreiben („Positivität“; Werke 1, 217). Die intrinsische Inspiration genuiner Gemeinschaft bringt Hegel seit seinen frühen Jenaer Schriften unter den systematischen Begriff der Sittlichkeit. Das Konzept entwickelt der frühe Hegel in metakritischer Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie Kants und Fichtes, insbesondere mit deren kritischer Rechtsphilosophie, die diese wenige Jahre zuvor praktisch zeitgleich vorgelegt hatten (Die Metaphysik der Sitten, 1797; Grundlage des Naturrechts, 1796/97). An der vernunfttheoretisch und transzendentalphilosophisch rekonzipierten Naturrechtslehre Kants und Fichtes kritisiert Hegel den schematischen Charakter und die bloß formale Prägung vernünftiger rechtlicher Regelungen („abstrakt“), gegen die er die konkreten Funktionsmodi gelingenden gemeinschaftlichen Lebens geltend macht. Den historischen Horizont konkreter rechtlich-sittlicher Gemeinschaft bildet beim frühen Hegel die antike polis. Doch im Unterschied zu zeitgenössischen verklärenden Invokationen ästhetischer Gemeinschaft unter den klassischen Griechen – vor allem bei Schiller und Hölderlin –, die das Agonale und Antagonistische der antiken politischen Lebensform ausblenden, insistiert der frühe Hegel auf dem tragischen Charakter griechischen sittlichen Lebens. Für Hegel liefert die attische Tragödie mit ihrem katastrophalen Verlauf der erzieherischen Erlangung von Einsicht und Erkenntnis durch Leid und Mitleid (pathe mathein) das imaginäre Muster für die systematische Genese der Sittlichkeit.

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Abweichend von seiner eigenen späteren Präferenz für die Antigone des Sophokles und ihren tragischen Konflikt zwischen den konträren Sittlichkeiten von familiärer und politischer Gemeinschaft, macht der frühe Hegel den tragischen Gang des Sittlichen exemplarisch fest an den Eumeniden des Aischylos mit ihrer pseudo-mythologischen Ursprungsszene zivischer Rechtssprechung durch den als sittlich-politische Bürgergemeinschaft inszenierten Areopag Athens. In Anlehnung an den tragischen Prozess von Schuld und Sühne im antiken Drama konzipiert Hegel die „Tragödie im [S]ittlichen“ als Vorgang der Diremption in Tod und Vernichtung verbunden mit der sittlichen Salvierung durch einen phoenixartigen Aufstieg aus der Asche (GW 4, 458 f.). Das Subjekt der sittlichen Dialektik von Vernichtung und Verklärung ist für den frühen Hegel „das Absolute“ selbst, das solcherart als der Entfaltung in Gegensätzliches und Gegenständliches („Objektivität“) ineins mit der Rekonstitution aus dem eigenen Untergang fähig betrachtet wird. Die enge Anbindung des Sittlichen an das Absolute als dessen Grund sowie umgekehrt die des Absoluten an das Sittliche als dessen Dimension bekundet sich beim frühen Hegel auch im Ausweis der Sittlichkeit als selber absolut („absolute Sittlichkeit“; GW 4, 467–470) und in deren Korrelation mit einem als absolut designierten Geist („absoluter Geist und vollkommene Sittlichkeit“; GW 4, 484). Die Absolutheit der Sittlichkeit wie der Geistigkeit indiziert beim frühen Hegel die durch das Auseinandertreten in Gegensätze und die damit zusammenhängende Vergegenständlichung hindurchgegangene und abschließend reintegrierte Entstehungs-, Entwicklungs- und Erfolgsgeschichte der sittlichen Gemeinschaft. In der Ausgestaltung seiner in Auseinandersetzung mit Kant und Fichte erarbeiteten Rechtssittenlehre zu einem förmlichen „System der Sittlichkeit“ – der von frühen Editoren so betitelte Jenaer Text Hegels hat sich inzwischen als Dokument seiner fortgesetzten Abarbeitung an Fichtes Rechtslehre erwiesen – unterzieht Hegel die Dynamik rechtlicher Verhältnisse dem von Schelling übernommenen Verfahren der Konstruktion durch iterative und implikative Formfaktoren („Potenzen“). Dabei skizziert der frühe Hegel einen dreistufigen Entwicklungsgang – „[d]ie Bewegung dieser absoluten Sittlichkeit“ – von ursprünglicher, „natürlicher“ über gegensätzliche, „negative“ zu vervollkommneter, „absoluter“ Sittlichkeit (GW 5, 329). Letztere unterliegt noch der weiteren Gliederung, darunter der Differenzierung von Familie und Volk, und umfasst auch die ihrerseits weiter untergliederte Sphäre des Staates, in der bereits einige der später von Hegel systematisch differenzierten Gestaltungen und Momente des nachmals so benannten objektiven Geistes unterschieden werden („Stände“, „Regierung“, „System der Bedürfnisse“; GW 5, 334, 340, 350).

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Doch bleibt die frühe Jenaer Systematik der Sittlichkeit, bei aller genetischen Ausdifferenzierung der Konstitutionsmomente des Sittlichen, noch einem ungeschichtlichen Verständnis von Sittlichkeit und Staatlichkeit verhaftet, das im Wesentlichen an vormodernen Anschauungen orientiert ist. Dies zeigt sich insbesondere an der Präponderanz eines antik inspirierten Tugendbegriffs, den Hegel der gesamten Sphäre des Sittlichen zuordnet, sodass der Entwicklungsgang der Sittlichkeit als systematischer Gang durch die Tugenden konstituiert wird. In Anlehnung an Schellings identitätsphilosophische Konzeption des Absoluten als essentiell aller Differenz enthoben („Indifferenz“) wird dabei vom frühen Hegel die eigentliche, „absolute“ Sittlichkeit als „Indifferenz aller Tugenden“ konzipiert (GW 5, 328). Die explizite Ausweisung von einzelnen Momenten der politischen Sphäre als “absolut” („absoluter Stand“, „absolute Regierung“; GW 5, 334 und 340) indiziert so nicht deren übergeschichtliche Geltung, sondern ihren außergeschichtlichen Status als zeitentrückte Idealformen staatlicher Ordnung. Doch schon in Jena tritt neben die abstrakt-differenzlose, an Schellings Konzeption absoluter Indifferenz orientierte Auffassung des Absoluten ein konkreter, geschichtlicher, differenzierter Begriff des Geistes, der plural konzipiert und einer historisch lokalisierten Gemeinschaft zugeordnet wird („Geist eines Volkes“; GW 5, 375), die neben anderen Völkern besteht („Geist anderer Völker“; GW 5, 375). Die figurative Vergegenständlichung des jeweiligen Volksgeistes weist der frühe Hegel dabei der Mythologie als überindividuellem Kunstwerk („das Werk aller“; GW 5, 377) zu. Doch ist die historisch gegebene Pluralität von geistig geeinten Völkern („Geister“; GW 5, 375) beim frühen Hegel nicht ihrerseits historisch vermittelt durch einen geschlossenen und gezielten Geschichtsgang. Dementsprechend dient Hegels Ausweisung des Geistes eines Volkes samt der in ihm manifesten Sittlichkeit als „absolut“, wie sie sich in Jenaer Systementwürfen findet, der Anzeige einer immer nur partikularen, auf ein je spezifisches Volk und dessen geistig-sittliche Verfassung bezogenen Gesamtheit von Merkmalen und Wesenszügen („einzelne[] Totalität“; GW 6, 312). Mit Hegels ausgereifter Terminologie erfasst, ist der als „absoluter Geist“ ausgewiesene Volksgeist beim Hegel der Jenaer Systementwürfe ein „objektiver Geist“, dessen Integration in eine übergreifende, gesamtgeschichtlich vermittelte Konzeption des Geistes noch aussteht. Doch bahnt sich in den Jenaer Systementwürfen noch eine andere Auffassung des absoluten Geistes an, die zwar auch nicht mit dessen späterer, ausgereifter Konzeption übereinstimmt, die aber den absoluten Geist unabhängig vom Volksgeist einführt und damit die Rekonzeptualisierung des sittlichen Geistes als „objektivem“ (statt „absolutem“) Geist vorbereitet. Den alternativen Begriff

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des absoluten Geistes entwickelt Hegel, noch vor der ebenfalls in den Jenaer Systementwürfen vorgenommenen architektonischen Einführung einer eigenständigen Philosophie des Geistes, innerhalb der System-Keimzelle „Logik und Metaphysik“. Im Rahmen der systematisch abgeteilten Metaphysik – systemarchitektonisch nach der Logik und vor der Naturphilosophie – skizziert Hegel, im Anschluss an die mit traditionellen metaphysischen Gegenständen befasste „Metaphysik der Objektivität“ (Seele, Welt und Gott), die „Metaphysik der Subjektivität“, als deren abschließende Gestalt – nach dem theoretischen Ich und dem praktischen Ich – der absolute Geist figuriert. Der so der Subjektivität statt der Objektivität zugeordnete absolute Geist ist, den Jenaer Systementwürfen zufolge, reflexiv verfasst und von formaler Natur („[d]er formale Geist“, „das sichselbstgleiche, das sich nur auf sich selbst bezieht“; GW 7, 174). Damit ist formell die selbstreflexive Grundstruktur des absoluten Geistes vorbereitet. In der eigens und als solcher identifizierten Philosophie des Geistes wird dann, im dritten und letzten der erhaltenen Jenaer Systementwürfe, die vormals als absolut ausgewiesene Sphäre von Sittlichkeit und Staatlichkeit dem objektiv-aktualisierten Geist („wirklicher Geist“) zugeordnet (GW 8, 253–277). Zentrales Thema des gemeinschaftlich verwirklichten Geistes ist im dritten Jenaer Systementwurf die innere Organisation des Staates („Constitution“), die Hegel als inniges Verhältnis von Gliedern und Ganzem konzipiert. Zur Sphäre des wirklichen Geistes rechnet Hegel im dritten Jenaer Systementwurf aber auch die Bereiche von Kunst, Religion und Wissenschaft. Im Hinblick auf das in diesen Formen des Geistes vorliegende Überschreiten der Sphäre von Sittlichkeit und Staatlichkeit („Erhebung darüber“; GW 8, 265) bringt Hegel wiederum das Prädikat der Absolutheit zur Anwendung („der sich als absoluter Geist wissende Geist“; GW 8, 265) und weist die drei Bereiche explizit als absolut aus („absolute Kunst“, „absolute Religion“, „absolute Wissenschaft“; GW 8, 278, 280 und 286). Absolut sind Kunst, Religion und Philosophie qua Wissenschaft dabei aufgrund der in ihnen vorliegenden Reflexionsform des Wissens von sich, die den gelebten wirklichen Geist zum als solchem gewussten und insofern seiner selbst bewussten Geist erweitert („wissender Geist“; GW 8, 258). Doch finden sich im dritten Jenaer Systementwurf, neben der Antizipation der späteren dreigegliederten Systematik des absoluten Geistes (Kunst, Religion, Wissenschaft/Philosophie), auch Hinweise auf die Geschichte in ihrer Gesamtheit und Geschlossenheit („Weltgeschichte“; GW 8, 287) als Medium für das Wissen des verwirklichten Geistes von sich („Selbstwissen[…] des Geistes“; GW 8, 287). Damit ist die von Hegel später sondierte systematische Übergangsstellung der Weltgeschichte zwischen objektivem und absolutem Geist, noch vor der expliziten Unterscheidung dieser beiden Stufen des Geistes, angelegt und vorbereitet.

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Einen signifikanten Schritt zur expliziten Differenzierung von objektivem und absolutem Geist tut Hegel, noch in Jena, mit der Phänomenologie des Geistes, die dem eponymischen Geist ein eigenes, zentrales Kapitel widmet. Der im Titel des Werkes figurierende Geist bildet den Zielpunkt einer kompletten Erscheinungslehre des Geistes in der Vielfalt seiner Formen. Doch ist der Geist, wenn er zuerst in Erscheinung tritt – darunter als Bewusstsein und Selbstbewusstsein –, nicht schon Geist als solcher. Noch sind die beiden anschließenden Gestalten des Geistes in den abschließenden Kapiteln der Phänomenologie – „Die Religion“ und „Das absolute Wissen“ – dem Geist in dessen engerer, eigentlicher Bedeutung zugeordnet. In der Sache ist der Geist im Geist-Kapitel der Phänomenologie der später so genannte objektive Geist, der systematisch dem subjektiven Geist und speziell der Vernunft folgt und in den absoluten Geist und speziell die Religion übergeht. Als definitorisch für den Geist in engerer, objektiver Bedeutung benennt die Phänomenologie die identifikatorische Integration von Vernunft und Welt, dank derer sich die Vernunft in der Welt als ihrer eigenen Welt wiederzuerkennen vermag (GW 9, 238). Die solcherart von Vernunft durchdrungene Welt – in strikter Korrelation zu einer mit einer eigenen Welt versehenen Vernunft – ist, der Phänomenologie zufolge, die sittliche Welt („sittliche Wirklichkeit“; GW 9, 238; im Original Hervorhebung). Die Welt des (objektiven) Geistes fällt so in der Phänomenologie generell mit der Sphäre der Sittlichkeit zusammen. Doch unterliegt der sittliche Geist in der Phänomenologie einer dreigestaltigen Binnendifferenzierung, die auf die Sittlichkeit im engeren Sinn („[d]er wahre Geist“) noch die Bildung („[d]er sich entfremdete Geist“) und die Moralität („[d]er seiner selbst gewisse Geist“) folgen läßt. Die Abfolge von der Sittlichkeit über die Bildung zur Moralität markiert im Geist-Kapitel der Phänomenologie einen historischen Entwicklungsgang, der die frühere Fixierung auf pseudo-antiker Sittlichkeit in den vorangegangenen Jenaer Schriften und Entwürfen geschichtlich und systematisch revidiert. Auf die antikisch aufgefasste Sittlichkeit folgen jetzt modernere Gestalten des (objektiven) Geistes, die dem pristinen Urzustand der Sittlichkeit zunächst Gespaltenheit und sodann Reintegration hinzufügen. Mit ihrer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung der Gestalten des Geistes, in der sich individualgenetische und welthistorische Perspektiven auf die vielfältigen Formen von Geistigkeit vermischen und überkreuzen, leistet die Phänomenologie einen wichtigen Beitrag zur Historisierung des Geistbegriffs, die der weltlich verwirklichten Vernunft statt einer abstrakt-allgemeinen Ordnung eine geschichtlich geprägte und wandelbare Welt zuordnet. Doch wird Hegel in einem weiteren systematischen Schritt den historisierten (objektiven) Geist noch einer Entfaltungslogik unterziehen, die an die Stelle chronologischer Abfolge die umgekehrt verlaufende aufsteigende Reihung von

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Konstitutionsmomenten setzt. Dadurch werden, generell in der Enzyklopädie und speziell in der Philosophie des Rechts, Recht („abstraktes Recht“) und Moral („Moralität“) – in systemlogischer statt in realhistorischer Perspektive – vor der Sittlichkeit zu stehen kommen, die dann ihrerseits, statt auf die antike Sittlichkeit beschränkt zu sein, moderne Formen der Sittlichkeit, darunter die zivische Gesellschaft und den politischen Staat, explizit einschließt.

Geist und Gesellschaft

Die von Hegel in Jena vorgenommene Engführung von Geist und Sittlichkeit findet ihre methodische und doktrinale Fortsetzung in der enzyklopädischen Darstellung von Hegels reifem philosophischen System. In der Enzyklopädie figuriert die Geistphilosophie als dritter und abschließender Teil, dem die enzyklopädische Abhandlung der Formalontologie („Logik“) und der Naturphilosophie als Vorstufen des noch nicht zu sich selbst gekommenen Geistes vorangehen, um den dreiteiligen Parcours einer Philosophie der rein formalen, der sich gegenständlichen und der ihrer selbst als solchen bewussten Geistigkeit zu bilden. Der Geist erweitert sich so beim reifen Hegel zum zentralen Systemprinzip, das in Logik und Natur bereits vor- und außermenschlich am Werk ist und dessen eigentliche Sphäre über das Individuelle hinausgehende gesellschaftliche Leistungen aller Art umfasst, unter Einschluss gesamtgeschichtlicher Verläufe („Weltgeschichte“) und übergeschichtlicher Kulturleistungen („absoluter Geist“). Im Mittelpunkt der enzyklopädischen Darstellung des Geistes steht bei Hegel, wie schon bei den Jenaer Ansätzen einer systematischen Geist­ philosophie, die Sphäre der Sittlichkeit, die nun aber geschichtlich differenziert dargestellt wird. In der Vorstufe zu der Heidelberger und Berliner Enzyklopädie, der für den schulischen Oberklassenunterricht konzipierten Nürnberger Propädeutik, kommt der Terminus „Sittlichkeit“ zwar genauso wenig vor wie der des objektiven und des absoluten Geistes. Doch liegt in den einschlägigen Nürnberger Schriften die spätere Dreiteilung von subjektivem, objektivem und absolutem Geist unter anderen Namen bereits vor („[d]er Geist in seinem Begriff“, „praktischer Geist“ und „[d]er Geist in seiner reinen Darstellung“; Werke 4, 62 und 65). Auch die spätere enzyklopädische Dreiteilung des objektiven Geistes ist angebahnt mit der Unterscheidung des gesellschaftlich realisierten Geistes („realer Geist“) in Recht, Moralität und Staat (Werke 4, 62). Das gleiche gilt für die Einteilung des nachmalig als „absolut“ ausgewiesenen Geistes in die jeweils im Singular apostrophierten Sphären

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von Kunst, Religion und Wissenschaft (Werke 4, 65–69), wobei allerdings die propädeutische Frühfassung der Enzyklopädie äußerst knapp ausfällt. In der Enzyklopädie selbst, die Hegel in einer ersten Fassung 1817 in Heidelberg publiziert, ist dann der dritte Bestandteil des objektiv-realen Geistes nicht mehr bloß der Staat, sondern die gesamte Sphäre der Sittlichkeit, die aber noch nicht weiter untergliedert ist und die auch noch im Horizont der früheren Jenaer Begrifflichkeit mit dem Fokus auf Tugend und Tugenden ausgeführt wird (Glockner 6, 293). Doch findet sich schon in der Heidelberger Fassung der explizite Einbezug der gesamtgeschichtlichen Dimension („Weltgeschichte“) in die Sphäre der Sittlichkeit (Glockner 6, 298 f.). Dabei bildet die Weltgeschichte den Übergang vom objektiven zum absoluten Geist. Insbesondere markiert die als „Fortschritt des absoluten Geistes“ eingeschätzte Weltgeschichte den historisch-systematischen Übergang von der klassischantiken Kunst zur geoffenbarten Religion (Glockner 6, 302–305). Die detaillierte Ausarbeitung der enzyklopädischen Darstellung des objektiven Geistes unternimmt Hegel, noch vor den beiden Berliner Neubearbeitungen der Enzyklopädie (1827, 1830), im Kontext seiner Berliner Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (ab 1817/18), deren publizierte Version den doppelten Fokus der Philosophie des objektiv-realen Geistes auf Recht und Staat schon im Titel zum Ausdruck bringt („Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß“, lateinische Variante ius naturae et civitatis). Die wegweisende Neuerung der Berliner Philosophie des Rechts als ausgearbeiteter Philosophie des objektiven Geistes liegt in der Rekonzeption der Sittlichkeit, die statt, wie in Jena, für die Solidarität und Solidität der traditionellen Gesellschaft in Gestalt von Familiengemeinschaft und Volksverband zu stehen („sittliche Substanz“), die gesamte, historisch wie systematisch differenzierte Sphäre gesellschaftlichen Lebens umfasst, unter Einschluss der Familie wie des Staates. Vor allem aber führt Hegel in der Berliner Philosophie des Rechts eine an spezifisch modernen Verhältnissen orientierte Differenzierung der nach- und außerfamiliären Gesellschaft ein, die zwischen der zivischen Dimension der Vergesellschaftung („bürgerliche Gesellschaft“; Werke 7, 338) und der spezifisch politisch verfassten Form der Gesellschaft („der eigentlich politische Staat“, „[d]er politische Staat“; Werke 7, 413 und 435) konzeptuell unterscheidet (Werke 7, 339–398 und 398–531). Die Distinktion ist schon für die erste Berliner Vorlesung zum Thema nachweisbar und steht in der gedruckten Fassung im Zentrum von Hegels Auffassung von der gesellschaftlich vermittelten sowie staatlich strukturierten Lebensform des Menschen in der modernen Welt. Die Zuordnung der bürgerlichen Gesellschaft wie des Staates, zusammen mit der Familie, zur Sphäre der Sittlichkeit ist getragen von Hegels Abkopplung des

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Begriffs der Sittlichkeit von vormoderner, antiker oder pseudoantiker substantieller Sozialität und von ihrer Zuweisung an moderne Formen gesellschaftlichen Lebens, das seinerseits in die spezifischen Sozialsphären von bürgerlicher Familie, Zivilgesellschaft und politischem Staat aufgeteilt ist. Mit der systematischen Einfügung der spezifisch modernen Sozialstruktur der bürgerlichen Gesellschaft in die Sphäre der Sittlichkeit greift Hegel auf Analysen der Zivilgesellschaft (civil society) in der schottischen Aufklärung, insbesondere bei Adam Ferguson, zurück. Doch während Ferguson die moderne Gesellschaft insgesamt als durch Kultur und Kommerz verfeinerte, zivilisierte Gesellschaft (civilized society) auffasst, ist die bürgerliche Gesellschaft bei Hegel integraler Bestandteil eines komplexen, gestuften Ganzen, das von der Familie über die bürgerliche Gesellschaft zum Staat reicht. So ist die bürgerliche Gesellschaft bei Hegel eine historisch bedingte und überdies erst spät auftretende Gestalt des objektiven Geistes und speziell der Sittlichkeit. Doch bedeutet die Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft nicht etwa die zeitliche Ablösung oder die faktische Auflösung der Familie. Noch beinhaltet die Abfolge von bürgerlicher Gesellschaft und Staat ein chronologisches Verhältnis von Sukzession und Suppression. Für den Hegel der Philosophie des Rechts sind Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat nicht historische Stadien der Sittlichkeit in einem geschichtlich gestreckten Prozess, sondern systemlogische Konstituentien („Momente“) der Sittlichkeit im Allgemeinen und der modernen Sittlichkeit im Besonderen. Mehr noch: das logische Verhältnis von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat in der Philosophie des Rechts folgt einer systematischen Ordnung, die nicht der Abfolge ihrer Darstellung entspricht, sondern umgekehrt verläuft. Sachlich primär ist der Staat als systematischer Ausgangspunkt und geschichtlicher Zielpunkt der Entwicklung des sittlich-objektiven Geistes. Familie wie bürgerliche Gesellschaft sind so nicht Voraussetzungen des Staates, sondern integrale Bestandteile von dessen systematischer Entfaltung unter historischen Bedingungen. Auch ist der Staat in Hegels Berliner Philosophie des Rechts, bei allem Fokus auf dessen philosophischen Begriff („Idee“), nicht der Staat im Allgemeinen, sondern der moderne Staat als die einzig adäquate Verwirklichung der allgemeinen Staatsidee. Dementsprechend ist die in der Philosophie des Rechts philosophisch porträtierte Familie nicht der traditionelle Familienverband (oikos), sondern die dem modernen Staat und der modernen bürgerlichen Gesellschaft korrespondierende Gestalt privaten Lebens. Insgesamt betrachtet bildet so die in Hegels Philosophie des Rechts logisch entfaltete Sittlichkeit ein System spezifisch moderner Sittlichkeit. Damit ist an die Stelle der früheren Fixierung des Begriffs der Sittlichkeit, beim Jenaer Hegel, auf antike und speziell griechische

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sozial-politische Verhältnisse (polis) die alternative Ausrichtung, beim Berliner Hegel, auf die spezifisch modernen Formen familiären, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens getreten. Die Umdisposition des sittlichen Systems der Philosophie des objektiven Geistes von Antikenfaszination zum Modernefokus führt beim reifen Hegel aber nicht zum Verzicht auf historische Orientierung und geschichtliche Situierung. Vielmehr erweitert Hegel den Ambitus des objektiven Geistes, jenseits der objektiv-geistigen Sphären von Recht, Moral und Sittlichkeit, die den Umkreis der präsentistisch und akualistisch konzipierten Philosophie des Rechts ausmachen, um die Dimension der philosophisch aufgefassten Universalgeschichte („Weltgeschichte“), die Antike und Moderne im Rahmen einer historisch komplettierten Philosophie des objektiven Geistes vermitteln soll (Werke 7, 503–512). Allerdings hat Hegel die weltgeschichtliche Entfaltung des objektiven Geistes nicht in einer eigenen Buchpublikation geliefert, sondern lediglich in seinen postum publizierten einschlägigen Berliner Vorlesungen, die den primären Gegenwartsbezug der Philosophie des Rechts um die historisch-systematische Situierung der Moderne ergänzen. Im Zentrum von Hegels historisch-systematischer Begründung von moderner Sittlichkeit in der Philosophie des Rechts steht die Verschränkung von Substanzhaftigkeit („Substanzialität“) und Subjektbezug („Subjektivität“) in der gesetzlichen Regelung des gesellschaftlichen Lebens (Werke 7, 144). Die sittlich sondierte Moderne ist bei Hegel getragen vom Junktim von gesellschaftlichem Gesetz und individueller Freiheit. Die in der Philosophie des Rechts unter den Formen von bürgerlicher Familie, ziviler Gesellschaft und politischem Staat ausdifferenzierte Sozialität verbindet die für Sittlichkeit charakteristische formelle wie informelle Gesetzlichkeit der Lebensführung mit der für die Moderne spezifischen Freiheitlichkeit des gesellschaftlichen Lebens. Der Schwerpunkt von Hegels Fusion von freier Sittlichkeit und sittlicher Freiheit liegt dabei auf der für die Moderne insgesamt, Hegel zufolge, spezifischen Sozialsphäre der Zivilgesellschaft („bürgerliche Gesellschaft“). Doch auch für den Bereich der Familie und den des Staates im engeren, politischen Sinn insistiert Hegels Philosophie des Rechts auf dem Element von Freiheit im Sinne einer Befreiung von unreflektierter Verhaftetheit in überlieferten Vorstellungen und Vorschriften. Umgekehrt ist aber auch die in der spezifisch modernen, zivilbürgerlichen Gesellschaft vorwaltende Freiheit des Individuums nicht frei von Regelung und Bindung. Das In-, Mit- und Durcheinander von Sittlichkeit und Freiheit in der von Hegel in der Philosophie des Rechts erfassten bürgerlichen Gesellschaft gilt auch für die ökonomische Sphäre („System der Bedürfnisse“; Werke 7,

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346–360), die allzu oft auf atomistische Individualisierung und kompetitive Sozialisierung reduziert wird. Hegel selbst dagegen betont im Hinblick auf das wirtschaftliche Subsystem der Gesellschaft die essentielle Funktion von selbstgegebenen Regeln solidarischen Handelns („Korporation“; Werke 7, 393–398). Im Übrigen ist die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel nicht auf das Ökonomische reduziert, sondern umfasst gleichermaßen die institutionalisierte zivisch-soziale Gewährleistung von Recht und Ordnung („Polizei“, „Rechtspflege“) als Voraussetzung für individuell freies und gesellschaftlich verantwortungsvolles Handeln (Werke 7, 360–382 und 382–398). Schließlich ist in der Philosophie des Rechts auch die supreme sittliche Sphäre – der Staat in dessen engerer, politischer Bedeutung – geprägt von Freiheit als spezifisch modernem essentiellen Element von Sittlichkeit. Der Staat ist für den reifen Hegel der bürgerlichen Gesellschaft nicht einfach entgegengesetzt, als wäre der wirtschaftlich freie Stadtbürger in anderer Hinsicht ein politisch unfreier Staatsbürger. Vielmehr ist bei Hegel schon der Bürger der „bürgerlichen Gesellschaft“ (Englisch civil society, Französisch société civile) immer schon citoyen und nie nur bourgeois. Insbesondere ist für den Hegel der Philosophie des Rechts der Bürger des politischen Staates nicht bloß passives Subjekt, sondern freies Glied eines zivisch-politischen Ganzen, auch wenn Hegel das repräsentative Regierungssystem des modernen Staates nicht demokratisch-parlamentarisch sondern delegiert-inkorporiert („Stände“) konzipiert (Werke 7, 354–357 und 468–483).

Geist und Geschichte

Die vom reifen Hegel vorgenommene Modernisierung der Sittlichkeit hat die Historisierung des objektiven Geistes zur sachlichen Voraussetzung. Der Wechsel von vormodernen und speziell klassisch-antiken Vorstellungen über die gesetzliche Reglementierung des gesellschaftlichen Lebens zur spezifisch modernen Vereinbarung von Gesetz und Freiheit, von Substantialität und Subjektivität, von Gesellschaft und Individuum erfolgt bei Hegel im Medium der philosophischen Reflexion auf die Geschichte. Für den reifen Hegel ist die Geschichte – die philosophisch narrierte Geschichte – die Arena des objektiven, sich gesellschaftlich vergegenständlichenden Geistes. Doch beinhaltet die systematische Historisierung des (objektiven) Geistes bei Hegel nicht dessen historistische Relativierung. Für Hegel ist die philosophisch begriffene Geschichte eine Entwicklungsgeschichte des Geistes im Zeichen von Fortschritt in Gestalt zunehmender Erfahrung von Freiheit („Entwicklung des Freiheitsbegriffs“; Werke 7, 83). Auch werden die

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zurückgelegten Stufen des insgesamt progressiven Geschichtsverlaufs, nach Hegels Auffassung, nicht einfach zurückgelassen, sondern bleiben aufbehalten („aufgehoben“) in geschichtlich-philosophischer Erfahrung. Die Vergangenheit wird bei Hegel lebendig und gegenwärtig gehalten durch gezielt betriebene memorierende Verinnerlichung („Erinnerung“). Im weitesten Sinne steht Hegels gesamte Philosophie, die im Kern Noophänomenologie oder Philosophie des erscheinenden Geistes ist, im Zeichen der Rekollektion. Die Muse von Hegels Philosophieren ist Mnemosyne, die personifizierte Erinnerung, die schon der Jenaer Hegel als „absolute Muse“ apostrophiert und der kollektiven Kreativität der sittlich solidarisierten Gesellschaft („Volk“) zugewiesen hatte (GW 5, 376). Der Zeiten und Räume übergreifende Gesamtzusammenhang des Geschichtsverlaufs firmiert in Hegels Philosophie des objektiven Geist als „Weltgeschichte“ (Werke 7, 503). Der Terminus ersetzt die ursprünglich theologisch geprägte Konzeption einer allgemeinen Geschichte („Universalhistorie“) durch die kosmopolitische Perspektive auf einen die einzelnen Völker, Staaten und Kulturen übergreifenden Sinnzusammenhang geschichtlicher Perioden und Phasen. Systematisch folgt die Weltgeschichte in Hegels enzyklopädischer Darstellung des objektiven Geistes wie in der daraus detaillierten Philosophie des Rechts auf die prinzipielle Begründung des öffentlichen Rechts und des Völkerrechts („[d]as innere[] Staatsrecht“, „[d]as äußere Staatsrecht“). Kant hatte in der reinen Rechtslehre in seiner Metaphysik der Sitten (1797) bei der Abhandlung des öffentlichen Rechts (ius publicum) auf das einzelstaatliche Recht („Staatsrecht“) und das Völkerrecht („Staatenrecht“, „Völkerstaatsrecht“) das zwischenstaatliche Besuchs- und Gastrecht („Weltbürgerrecht“) folgen lassen (AA 6:311–342, 343–351 und 352–355). Bei Hegel ist an die Stelle der kosmopolitischen Transnationalität in der rechtlich-politischen Sphäre das Neben-, Gegen- und Nacheinander einzelner, „individueller“ Staaten getreten. In seiner rechtlich-politischen Darstellung und Einschätzung der Weltgeschichte unterstellt Hegel den konfliktreichen Gang der Geschichte, der durch konkurrierende und sukzedierende kollektive Entitäten („Völker“) hindurch verläuft, einem umfassenden Rechtsprozess („Weltgericht“; Werke 7, 503), der Geschichte als rechtlich geprägte Abfolge von globalen Ordnungszusammenhängen versteht („welthistorische Reiche“; Werke 7, 508), die zunehmend Gesetz mit Freiheit verbinden und Freiheit an Gesetz binden. Das organisierende Prinzip des weltgeschichtlichen Freiheitsparcours ist für Hegel, wie schon bei den zugrundeliegenden einzelstaatlichen Gebilden auf der Ebene des Staatsrechts, der geschichtlich vergegenständlichte, objektive Geist. Als das ideell einigende Band der vielen vergangenen wie gegenwärtigen Staaten samt ihren Völkern ist der Geist der Weltgeschichte, Hegels

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Terminologie zufolge, der den verschiedenen Staatsvölkern gemeine, der „allgemeine“ oder der „Weltgeist“ (GW 19, 384). In weltgeschichtlicher Perspektive unterliegen die einzelnen Staaten und Völker („Völkergeister“), bei aller Befangenheit in ihrer je spezifischen geistigen Prägung („Sittlichkeit“), einem dynamischen Folgeverhältnis („Bewegung“), das, insgesamt betrachtet, den gesellschaftlich vergegenständlichten Geist („sittliche Substanz“) schrittweise und stufenförmig von seinen Besonderheiten befreit, um ihn so sukzessive und kumulativ zum Bewusstsein seiner selbst zu bringen (GW 19, 384 f.). Das eigentliche Auftreten des in seiner sozialen Objektivität zugleich und ineins seiner selbst bewussten Geistes – die Vereinigung von objektivem Geist mit subjektivem Geist – lokalisiert der reife Hegel aber nicht mehr im Umkreis der Weltgeschichte und ihrer Fixierung auf historisch situierte Sittlichkeit. So wie der Geist als Weltgeist die Partikularität des gesellschaftlich vergegenständlichten Geistes („Volksgeister“) zu überwinden fähig ist, vermag es der Geist, in einem weiteren Schritt, die ihm als Weltgeist zugehörige Einschränkung auf praktische, „sittliche“ Verhältnisse („Weltlichkeit“) zu übersteigen, um sich in Gestalt genuiner Erkenntnis („Wissen“) – als Erkenntnis seiner selbst in seiner Vergegenständlichung und Vergeschichtlichung – von der Bindung an gesellschaftlich vermittelte Gegenständlichkeit zu lösen („absoluter Geist“; GW 20, 530). Das Wissen des ganz zu sich gekommenen, „absoluten“ Geistes weist Hegel in der Enzyklopädie den distinkten und sukzessiven Wissensgestalten von Kunst, Religion und Philosophie zu. In der skelettierten enzyklopädischen Fassung des hegelschen Systems erscheinen dabei die drei Grundgestalten des absoluten Geistes im Wesentlichen reduziert auf ihre jeweiligen Vollendungsformen. Es sind dies für die Kunst die klassisch-antike Kunst und speziell die griechische bildende Kunst, für die Religion die geoffenbarte Religion und speziell der reformatorische Protestantismus und für die Philosophie die moderne Philosophie und speziell die kantische und nachkantische Philosophie von moderner Subjektivität und Freiheit. Der durch den enzyklopädischen Fokus auf die jeweilige finale Form verengte Begriff des absoluten Geistes verdeckt allerdings die geschichtliche Dimension des Geistes, die diesem auch in seiner übergeschichtlichen Gestalt als absolutem Wissen zukommt. Der absolute Geist und das diesem zugehörige, absolute Wissen sind bei Hegel nicht jenseits von Sittlichkeit und Geschichtlichkeit angesiedelt, sondern als mit kognitiven Mitteln darauf bezogen und zugleich darüber hinausgehend aufgefasst. Geschichte und Gesellschaft sind so im absoluten Wissen des Geistes vorausgesetzt und bleiben als verinnerlichte vergangene Gestalten präsent. Die in der Enzyklopädie eher unterbelichtete geschichtlich-übergeschichtliche Dimension des

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absoluten Geistes wird von Hegel expliziert in den koordinierten Berliner Vorlesungszyklen zur Philosophie der Kunst, zur Philosophie der Religion und zur Geschichte der Philosophie, die durchweg geschichtlich angelegt sind und die jeweilige Vollendungsgestalt des ästhetisch, religiös und philosophisch-wissenschaftlich artikulierten absoluten Geistes historisch lokalisieren. In der Enzyklopädie wird die geschichtliche Dimension des absoluten Geistes nur knapp und in theologischer Terminologie adressiert („Offenbarung“; GW 19, 389 und 20, 530). Der Geschichte, zusammen mit der Natur, kommt demzufolge eine revelatorische Rolle zu, für die Hegel – unter Rückgriff auf eine Stelle aus dem Römerbrief (9, 21) – die Vorstellung von Natur und Geschichte als „Gefäße[n] seiner [des absoluten Geistes] Ehre“ verwendet (GW 19, 389 und 20, 530). Für Hegel unterliegt der Geist in den Sphären von Natur und Geschichte nicht so sehr der Entäußerung als der Verwirklichung, die dann aber über die Stufen von natürlicher und geschichtlicher Gegenständlichkeit hinaus bis zur übergegensätzlichen Selbsterkenntnis und spekulativen Selbstverwirklichung des Geistes reichen soll1. Daß der Wechsel vom objektiven zum absoluten Geist keinen Abbruch und Sprung beinhaltet, sondern einen gesetzlich geregelten Übergang, der die beiden Grundgestalten des Geistes eher verbindet als trennt, wird deutlich an Hegels abweichender Verortung der Verhältnisbestimmung von objektivem und absolutem Geist in sukzessiven Fassungen der Enzyklopädie. Speziell das Verhältnis von Staat qua Hauptgestalt des objektiven Geistes und Religion qua Grundform des absoluten Geistes wird von Hegel in den beiden Berliner Fassungen der Enzyklopädie an unterschiedlichen systematischen Stellen erörtert. Die Fassung der Enzyklopädie von 1827 ordnet die einschlägigen Ausführungen – es handelt sich um die umfangreichen Erläuterungen zu einem kurzen Paragraphen – dem absoluten Geist zu, genauer: dem von der Kunst zur Religion überleitenden Paragraphen (§ 563; GW 19, 395–400). Dagegen platziert die Fassung der Enzyklopädie von 1830 die inhaltlich übereinstimmenden, aber noch einmal erweiterten Erläuterungen zum selben Themenkomplex im Schlussparagraphen (§ 552) zum objektiven Geist am Übergang zum absoluten Geist (GW 20, 530–541). Die in beiden Fassungen der Enzyklopädie vorliegende Zwischenstellung der Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Religion – das eine Mal innerhalb des absoluten Geistes zwischen Kunst und Religion, das andere Mal innerhalb des objektiven Geistes zwischen objektivem und absolutem 1  Für Hegels eigene historische Kontextualisierung der Geistphilosophie aus der Heidelberger Enzyklopädie siehe Hegel/Schneider 1974.

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Geist – reflektiert den Doppelstatus von Religion wie Staat in Hegels reifer Philosophie moderner Sittlichkeit. Als eine Grundgestalt des Geistes, die der Entwicklung unterliegt und erst an deren Ende zum absolut adäquaten Ausdruck ihres Wesens gelangt, ist die Religion – nach Hegels Einschätzung – über lange Zeit und bis in die jüngste Gegenwart hinein mit Äußerlichkeiten behaftet und ihrem eigentlichen Wesen unangemessen. Auch der Staat steht bei Hegel systematisch zwischen einer geschichtlich geprägten Objektivität und einer in der zivisch-politischen Moderne erreichten Absolutheit gegenüber seinen geschichtlichen Voraussetzungen. Im Hinblick auf die Religion im modernen Staat kritisiert Hegel die nichtreformierte Gestalt der geoffenbarten Religion (Katholizismus) für ihre weltverneinenden sittlichen Vorstellungen (Armut, Keuschheit und Gehorsam) sowie für ihre politisch-theologische Ausrichtung (im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Kirche). In beiden Hinsichten schätzt Hegel die nicht-reformierte Offenbarungsreligion als vor-, un- und antimodern ein. Doch befürwortet Hegel in der Enzyklopädie nicht etwa die strikte Trennung von Religion und Politik sowie von Recht und Moral, die sonst der Moderne zugetraut und zugemutet wird. In Orientierung am zentralen Geistkonzept der Sittlichkeit vertritt Hegel vielmehr die gemeinsame Grundlage von modernem Staat und moderner Religion in einer Geistigkeit, die zugleich freiheitlich individuell und gesellschaftlich geregelt ist. Statt die moderne Sittlichkeit auf Moral oder moralische Religion zu verengen und den modernen Staat auf Rechtsordnung und Gesetzesgehorsam einzuschränken, plädiert der reife Hegel für die substanzielle Sicherung des Staates – auch und gerade des modernen Staates – durch zivisch-politische Gesinnung („Sittlichkeit“) und durch philosophisch purifizierte Religiosität („wahrhafte Religion und Religiosität“, „religiöse Geistigkeit“; GW 20, 531 und 541). Der von Hegel selbst geltend gemachte historische Horizont für die reklamierte substantielle Identität von Staat und Religion in Gestalt einer spezifisch modernen Sittlichkeit ist Platons provokante Gleichsetzung von philosophischer Bildung („Weltweisheit“; GW 20, 534) und politischer Führung (GW 20, 537 f.). Die ihrem geistigen Gehalt nach adäquat ausgestaltete, genuin geistige Religion ist für Hegel substantiell identisch mit der Philosophie in deren moderner Gestalt als Philosophie von Freiheit und Gesetzlichkeit. Der Geist des modernen Staates hegelscher Konzeption ist so im eminenten Sinne philosophisch – getragen von der gedanklichen Durchdringung seiner sittlichen Grundlagen samt der darauf gegründeten Institutionen und Praktiken. Dieser platonisierenden Einschätzung der sittlich-geistigen Dignität des modernen Staates in der Enzyklopädie entspricht die Ausweisung des Staates in der

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Philosophie des Rechts als eines Weltlich-Absoluten („ein Irdisch-Göttliches“; Werke 7, 434 [Zusatz]). Mit einer zivisch-politisch redefinierten Sittlichkeit einerseits und einer philosophisch-religiös geprägten Geistigkeit andererseits vereinigt der moderne Bürgerstaat Hegels – durch seine Zweieinheit von bürgerlicher Gesellschaft und politischem Staat – die konträren, aber komplementären Anforderungen einer modernen Philosophie des Geistes, die ineins eine Philosophie des modernen Geistes zu sein hat. Als Philosophie des objektiven Geistes sucht Hegels politisch-philosophische Pneumatologie Individualität und Sozialität zusammenzudenken. Als Philosophie des absoluten Geistes strebt sie die Einheit von geschichtlicher Erfahrung und gegenwartsbezogenem Wissen an. In beiden Hinsicht ist der Geist bei Hegel keine elusive Entität, sondern der inhärierende Impuls hinter der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit.

Teil 5 Objektiver und absoluter Geist vor, um und nach Hegel: Hintergründe und Kontexte des (enzyklopädischen) Ganzen



Wie hat die westliche Kultur ihre verschiedenen Formen von Wissen gegliedert und gerechtfertigt? Historische Überlegungen zu den Metamorphosen des Baums des Wissens Vittorio Hösle Noch erstaunlicher als die schiere Menge an Wissen, die die Menschheit in den letzten Jahrtausenden erworben hat, ist die Verschiedenartigkeit seiner Formen und Quellen. Ästhetische Wertungen, moralische Verpflichtungen, logische Schlüsse, reguläre Polygone, Naturgesetze, Ereignisse, Zustände und Prozesse auf atomarer und molekularer Ebene, Sterne, Organismen, mentale Zustände, technische Artefakte, soziale Institutionen ganz verschiedener Art – wie etwa Familie und Krieg –, Zeichen, Sprachen und Kunstwerke sind nur einige der Gegenstände, von denen wir Wissen haben können. Da ihr ontologisches Profil so auffallend verschieden ist, haben wir allen Grund, anzunehmen, dass zumindest einige der Erkenntnisoperationen, mit denen wir auf sie zugreifen, entsprechend verschieden sind. Nun ist es zum einen so, dass wir aufgrund des zunehmenden Wissensfortschritts mit der Möglichkeit zu rechnen haben, dass vielleicht schon in naher Zukunft ganz verschiedene Arten von (Erkenntnis-)Gegenständen und ihnen entsprechenden Wissenschaften zur Liste derjenigen, die schon heute anerkannt sind, hinzugefügt werden müssen und diese Liste in einer nicht vorhersagbaren Weise verändern werden. Zum anderen aber zeigt sich in reduktionistischen Programmen das Bedürfnis, besagte Vielfalt unter einen einfachen Begriff zu subsumieren: „Natürliche Selektion“ ist hier ein – noch recht junger und plausibler – Kandidat, da dieser Begriff sowohl in Bezug auf die Evolution von Organismen als auch auf die von Kulturen Anwendung finden kann1. Die Dynamiken, die von der Ausdehnung wissenschaftlicher Forschung bzw. dem Versuch einer Vereinheitlichung von Prinzipien ausgehen, treiben den Kosmos des Wissens in bisweilen entgegengesetzte Richtungen und bilden ihn in jeder Generation um; und in den organisatorischen Veränderungen, welche diejenige soziale Institution, die diesen Kosmos zu fassen versucht – nämlich die Universität –, in ihrer Geschichte durchgemacht hat und immer noch durchmacht, spiegeln sich diese Dynamiken augenscheinlich wider. Am ehesten überzeugend wird wohl eine vermittelnde Position sein, die einerseits die irreduzible Vielfalt von Erkenntnisoperationen und -disziplinen anerkennt, sich andererseits aber 1  Siehe dazu auf sehr hohem intellektuellen Niveau Wilson 1998.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_033

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auch darauf verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, zu verstehen, warum das Universum dieser Disziplinen so strukturiert ist, wie es eben ist. Die altbekannte Metapher vom Baum des Wissens, die eine Disziplin immer noch gerne bemüht, wenn sie ihre eigene Verortung im System der Wissenschaften zu bestimmen versucht2, legt nahe, dass es für das immer mögliche Wachstum neuer Äste doch gewisse Grenzen und Einschränkungen gibt: Denn alle Bäume haben etwas gemeinsam – etwa Wurzeln und Stämme. Wenn diese Metapher also wirklich passend ist, dann ist mit ihr auch zum Ausdruck gebracht, dass die Entwicklung und Ordnung von Erkenntnisdisziplinen gewissen Einschränkungen unterliegt. In diesem Aufsatz will ich der Frage nachgehen, wie man die Untergliederung des Wissens zu wegweisenden Zeiten der westlichen Geistesgeschichte zu bewerkstelligen versucht hat. Doch bevor wir die herausragendsten Gliederungen näher betrachten sowie die Ursachen und Gründe für die größeren Veränderungen untersuchen, die sich zwischen ihnen zugetragen haben, will ich mit einiger anfänglicher Plausibilität die Hypothese wagen, dass es zumal zwei Faktoren sind, welche die Art und Weise bestimmen, in welcher eine Kultur ihr Wissen organisiert und gliedert: Zum einen ist der Aufstieg gewisser Disziplinen in einer bestimmten historischen Epoche zu nennen. Die wissenschaftliche Revolution im 17. Jahrhundert etwa oder das Aufkommen des Historismus im 19. Jahrhundert sind Beispiele für den Beginn einer Fülle neuer Disziplinen. Und auch wenn manche der Gegenstände, mit denen sie sich befassten, schon der Antike und dem Mittelalter bekannt gewesen waren, so gibt es doch gute Gründe, von der Erfindung einer neuen Disziplin zu sprechen, sobald neue Prinzipien und Methoden auf besagte Gegenstände Anwendung finden. Denn es sind ja die logischen Zusammenhänge zwischen den Theoremen, die eine solche Disziplin konstituieren; und sobald die Anzahl solcher neuen Zusammenhänge signifikant zunimmt, sollten wir von einer neuen Disziplin sprechen – auch dann, wenn ihre Gegenstände schon Gegenstände des Nachdenkens von Menschen vor Urzeiten waren. Edmund Husserls berühmte Unterscheidung zwischen abstrakten (oder theoretischen) und konkreten (oder ontologischen) Wissenschaften – getroffen im § 64 der „Prolegomena“ zu seinen Logischen Untersuchungen – deutet auf das hin, was ich meine: Geographie (und Naturgeschichte allgemein) ist eine konkrete Disziplin, weil ihre Einheit durch einen gemeinsamen Gegenstand gegeben ist, auf den sie sich richtet – wenngleich mit durchaus äußerst verschiedenen Methoden (man denke etwa an den Unterschied zwischen physischer Geographie und Humangeographie). Demgegenüber ist die Einheit 2  Siehe z.B. Henriques 2003.

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theoretischer Wissenschaften, wie etwa der theoretischen Physik, in der Gleichartigkeit ihrer Erklärungsprinzipien begründet3. Das Aufkommen einer neuen Disziplin hat mit verschiedenen Ursachen zu tun, von denen zwei recht einfach hervorzuheben sind: Erstens die Entdeckung neuer Schichten der Wirklichkeit – sei es durch Forschungsexkursionen in irgendwelche Teile der Erde oder des Universums, die bisher unbekannt waren, oder sei es durch neue Beobachtungsinstrumente, wie Mikroskope oder Teleskope. Die Anthropologie wurde durch die Entdeckung der neuen Welt in Gang gebracht4; die Mikrobiologie durch die Entwicklung von Mikroskopen im 17. Jahrhundert5. Zweitens ist die Entwicklung neuer theoretischer (oft mathematischer) Instrumente zu nennen, die es uns möglich machen, eine bestimmte Menge von Annahmen systematisch so zu vereinheitlichen, dass eine Disziplin auf ein hinreichendes theoretisches Niveau gelangen kann: Der modernen Physik etwa wäre ohne den Infinitesimalkalkül kein Erfolg beschieden gewesen, welcher es – unter anderem – möglich machte, Momentangeschwindigkeiten zu bestimmen; die Sozialwissenschaften kamen im 19. Jahrhundert dank der Anwendung der Statistik auf gesellschaftliche Daten auf, wie sie der Mathematiker Adolphe Quetelet in seinem Werk Sur l’homme et le développement des ses facultés, ou Essai de physique sociale (Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten) aus dem Jahr 1835 unternommen hatte. Ein Blick auf die wissenschaftliche Revolution zeigt uns aber auch, dass Philosophen wie Bacon und Descartes schon vor den großen Entdeckungen von Physikern wie Newton das Programm einer neuen Wissenschaft entwickelt hatten – teils auf Basis epistemologischer, teils auf Basis moralischer und politischer Gründe. Es sind also nicht nur genuin wissenschaftliche Entdeckungen, durch welche die verschiedenen Formen, die eine Epoche dem Baum des Wissens gibt, bedingt sind. Es sind zweitens auch philosophische Ideen, welche Intellektuelle einer bestimmten Zeit dazu bewegen, in Richtung einer neuen Disziplin zu denken oder gar eine solche zu begründen. Begriffliche Gründe erzeugen das Gefühl, dass eine Lücke im Baum des Wissens klafft, in und aus welcher – mit Hilfe einigen philosophischen Zuschnitts – eine neue Disziplin erblühen könnte. Dass es sie bisher nicht gegeben hat, mag mindestens drei verschiedene Ursachen haben: Menschen mögen bisher keinerlei Wissen von der Existenz der Gegenstände, welche diese neue Disziplin theoretisch behandelt, gehabt haben (man denke beispielsweise an subatomare Teilchen); sie 3  Husserl 1992 (orig. 1900), 235 ff. 4  Vgl. Hodgen 1998. 5  Siehe Ruestow 1996.

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mögen solche Gegenstände fälschlicherweise dem Gegenstandsbereich einer anderen Disziplin zugeordnet haben (so wurde die Religionswissenschaft lange Zeit als Teil der Theologie betrachtet); oder sie mögen durchaus deren eigentümliche Wirklichkeit anerkannt, aber ihr Studium für nicht wertvoll erachtet haben. Bereits lange vor Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis aus dem Jahr 1886 wussten Menschen von der enormen Vielschichtig­ keit menschlichen Sexualverhaltens, aber scheuten die Mühe, es systematisch und detailliert zu untersuchen – mit Ausnahme vielleicht von Dichtern wie Ovid. Im folgenden historischen Überblick, der sich in vier Sektionen mit der Antike, dem Mittelalter, der frühen Neuzeit und dem 19. Jahrhundert befasst, will ich mich zwischen philosophischen Argumenten für eine bestimmte Struktur des Wissens einerseits und dem Aufkommen neuer Disziplinen als einem empirischen Phänomen andererseits erörternd hin und her bewegen. Ich streite damit keineswegs ab, dass es auch externe Ursachen für den Aufschwung bestimmter Wissenschaften gibt – etwa solche, die mit Machtinteressen zu tun haben: Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften beispielsweise wurde offenbar gefördert vom Erfolg einer kapitalistischen Ökonomie; ebenso wohlbekannt ist, dass das Aufkommen orientalistischer Disziplinen wesentlich mit dem französischen und britischen Imperialismus einherging6. Und doch bleiben Genesis und Geltung zwei ganz verschiedene Sphären. Und es bleibt daher eine unverzichtbare Aufgabe der Philosophie, für neue wissenschaftliche Disziplinen einen Platz im Ganzen des Wissens zu finden. Manchmal führt der Versuch, dies zu tun, zu Revolutionen in der Architektonik der Erkenntnistheorie, die auch dann, wenn sie letztlich durch äußerliche Faktoren angeregt wurden, zu einer begrifflich befriedigenderen Strukturierung unserer Erkenntnisoperationen führen können. 1 Der erste umfassende Versuch einer Systematisierung menschlichen Wissens wurde in der Akademie und im Peripatos unternommen. Die Frühgeschichte der Kunst und der Religion zeigt uns, dass die Menschheit bereits in einer Frühphase die eigentümliche Natur zumindest von Lebewesen und Sternen erfasst haben muss; denn deren bildliche Darstellung und Vergöttlichung ergab sich daraus, dass man ihnen einen besonderen Platz im All dessen, was es gibt, zuerkannte. Der künstlerische wie religiöse Blick auf diese Gegenstände geht über das vorwissenschaftliche Wissen von Gegenständen 6  Siehe Said 1978.

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wie z.B. Pflanzen und dem menschlichen Körper hinaus, das die Menschheit seit Anbeginn sammeln musste, um überhaupt überleben zu können; und höchstwahrscheinlich entwickelten Hochkulturen wie Mesopotamien die erste Wissenschaft der Menschheitsgeschichte aus religiösen Kulten. Ich denke hier an die Astronomie, deren Anfang schon bei den Sumerern gemacht worden sein muss und welche das Niveau exakter Beobachtung dann in der alt- und vor allem der neubabylonischen Periode erreichte7. Doch es waren die alten Griechen, denen es vorbehalten war, als erste eine Systematisierung des Wissens von einem Differenzierungsniveau vorzulegen, wie es bis dahin von keiner anderen Kultur erreicht worden war. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass das 5. Jahrhundert die Entstehung einer Disziplin von einem derart einzigartigen Status erlebte, dass diese schon bald komplexe ontologische und epistemologische Überlegungen anstieß. Die Rede ist natürlich von der reinen Mathematik. Die Entdeckung inkommensurabler Größen durch einen exakten indirekten Beweis schon vor 450 v. Chr. erhob die Mathematik vom Stand eines nützlichen Instruments zur Bewältigung praktischer Herausforderungen, als welche sie schon anderen Kulturen bekannt gewesen war, zu dem einer autonomen Wissenschaft, die zugleich Anwendung im Verstehen der physikalischen Welt fand. Schon gegen Ende des 5. Jahrhunderts war die Unterteilung dessen, was man später das Quadrivium nannte, in Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie zum Standard geworden8. Es ist nicht klar, ob Parmenides‘ epistemologische und ontologische Revolution irgendetwas mit der Mathematik zu tun hatte (lediglich von seinem Schüler Zenon wissen wir, dass er offenbar mit dem Problem des Kontinuums und dem der Anwendung der Mathematik auf die empirische Wirklichkeit gerungen hat); aber es gibt kaum Grund zu zweifeln, dass Parmenides eines entdeckt hatte: dass dem metaphysischen Prinzip, das mit dem Satz vom Widerspruch zusammenhängt, ein anderer epistemischer Status zukommen muss als Naturerklärungen, die als δόξα oder bloße Meinung zu betrachten sind. Diese „Meinung“ muss man nicht notwendig so interpretieren, als sei sie eo ipso irreführend9, und doch ist sie klarerweise demjenigen epistemisch unterlegen, was Parmenides den Weg der Wahrheit nennt, und richtet sich auf einen eigenen ontologischen Bereich. Der eigentümliche epistemische Status der Mathematik sowie der ontologische Status ihrer Gegenstände sind zwei von denjenigen Problemen, die Platons Philosophie anregen. Die Gliederung verschiedener ontologischer 7  Zum Sternenkatalog MUL.APIN siehe Watson/Horowitz 2011. 8  Siehe Platon, Protagoras, 318e. 9  Siehe die Interpretation in dem langen Einführungsessay von Luigi Ruggiu in Parmenide (Ruggiu 1991).

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Bezirke und entsprechender epistemischer Vermögen im Liniengleichnis der Politeia hebt zunächst mit der Unterscheidung zwischen dem Sichtbaren und dem Intelligiblen an, die beide jeweils wiederum zweifach unterteilt sind. Während das Fürwahrhaltenen (πίστις) und die Mutmaßung (είκασία) mit Naturgegenständen und deren Bildern zu tun haben, richten sich vernünftiges (νοήσις) und verständiges (διάνοια) Denken auf das intelligible Reich. Was nun ist der Unterschied zwischen den beiden letzteren Vermögen, von welchen ersteres der Dialektik, also dem Innersten der Philosophie, zweiteres hingegen den konkreten Disziplinen (τέχναι), wie z.B. der Geometrie, zugrunde liegt? Platons recht indirekten Erläuterungen zufolge besteht er in zweierlei. Erstens: Das verständige Denken nimmt seinen Ausgangspunkt als unhinterfragte erste Prinzipien hin, wohingegen das vernünftige Denken zum voraussetzungslosen ersten Prinzip aufzusteigen sucht. Zweitens: Das verständige Denken, etwa in der Geometrie, ist gezwungen, Gebrauch von Bildern zu machen, auch wenn Mathematiker sich in der Tat mit Quadraten und Diagonalen als solchen, und nicht mit denen, die sie zeichnen, beschäftigen10. Was Platon mit „Dialektik“ meint, ist bekanntlich schwer präzise zu fassen. Doch zweierlei geht aus dem Charmides und dem Euthydemos klar hervor, wo sie die „königliche Kunst“ genannt wird: Die Dialektik ist die höchste Metadisziplin, welche als solche den Status anderer Wissenschaften beurteilen kann, sich selbst eingeschlossen (da sie eine reflexive Wissenschaft ist)11; die erkenntnistheoretischen Überlegungen in der Politeia sind selbst ein Beispiel für diese Funktion der Dialektik. Und die Dialektik ist auch das Wissen um Gut und Böse. Denn selbst wenn jemand alles Tatsachenwissen zur Verfügung hätte, alle zukünftigen Ereignisse eingeschlossen, aber einen Mangel an ethischem Wissen, würde er nicht glückselig werden können12. Es bedarf eines Wissens, in dem das Herstellen (ποῖειν) von Dingen und das Wissen, wie man diese hergestellten Dinge recht gebraucht13, zusammengedacht ist. Die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie ist Platon fremd – nicht, weil er davon noch keinen Begriff gehabt hätte, sondern weil er sie wohlbegründet verwirft. Ethik und politische Philosophie, so lehrt uns die Politeia, werden nur dann gelingen, wenn sie eine Fundierung in einer epistemologischen und

10   Politeia 509d ff.; vgl. 533b. 11   Charmides 166c, 168a. Ich kann hier nicht die Begründung dafür geben, warum ich glaube, dass Platon tatsächlich an die Existenz der im Dialog hypothetisch diskutierten reflexiven Wissenschaft glaubt. Siehe dazu meine Analyse: Hösle 1984, 424 ff. 12   Charmides 174a ff. 13   Euthydemos 289b.

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metaphysischen Umwendung haben; und die theoretische Philosophie hat das Erfassen der Form des Guten zu ihrem Zentrum. In der Gliederung der mathematischen Disziplinen weicht Platon von derjenigen ab, die Euklid in seinen Elementen vorlegt. Gefolgt ist ihm dabei Nikomachos von Gerasa in seiner Einführung in die Arithmetik aus dem ersten oder zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Beginnend mit der Arithmetik, fährt Platon mit der Geometrie fort, um dann die Stereometrie einzuführen, zu welcher schließlich noch Astronomie und Harmonik hinzugefügt werden. Für Platon liegt in dieser Anordnung eine Zunahme an Konkretheit: Die Geometrie hat es mit zwei Dimensionen zu tun, die Stereometrie mit dreien, während in Astronomie und Harmonik, die er als eng miteinander verwandt begreift, die Bewegung hinzutritt14. Doch Platon scheint nicht der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es eine radikale epistemologische Differenz zwischen Arithmetik und Geometrie (Stereometrie eingeschlossen) auf der einen und Astronomie und Harmonik auf der anderen Seite gibt; er scheint all diese Disziplinen als gleichermaßen nichtempirisch zu betrachten. Dennoch kommt Platon dem modernen Programm einer mathematischen Beschreibung der Natur weit näher als Aristoteles, auch wenn er die Notwendigkeit von Experimenten offenkundig unterschätzt hat. Seine dualistische Erkenntnis­ theorie scheint es unmöglich zu machen, eine wahre Wissenschaft von der Welt, die wir wahrnehmen, denken zu können15. Die explizite Verbindung zwischen dem Timaios und dem Kritias deutet darauf hin, dass Platon die Menschen, ihre politischen Institutionen und ihre historische Entwicklung irgendwie innerhalb der Natur verorten wollte. Doch seine Antwort ist komplex, da Menschen erstens aus einer unsterblichen Seele bestehen, die mit Materiellem verbunden wird, und zweitens die göttlichsten Organe des Menschen, ihr Kopf, ihre Sehkraft und ihr Hörvermögen, allesamt von den Göttern direkt geformt wurden, wohingegen die anderen Teile ihres Körpers sowohl aus göttlicher Vernunft als auch dem Walten der Notwendigkeit hervorgehen16. Platon hat keinerlei Zweifel daran, dass das menschliche Vermögen, Gründe zu erfassen, etwas ist, das sich jeder möglichen naturalistischen Erklärung des Menschen entzieht17. Zugleich sieht er in der Bewegung der Planeten und der Fixsterne den göttlichsten Aspekt der 14   Politeia 528a f., 530c f. 15  Siehe Taylor 1928; hierbei handelt es sich immer noch um den beeindruckendsten Forschungsbeitrag zu diesem Platon-Dialog, und zwar aufgrund seiner Vertrautheit sowohl mit der antiken Wissenschaft als auch mit der Philosophie des Aristoteles. 16   Timaios 42d ff., 69c ff. 17  Siehe die Kritik an Anaxagoras im Phaidon 97b ff.

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Natur – etwas, das in seiner Erhabenheit den Menschen in seinem Unwissen und seiner Lasterhaftigkeit weit übersteigt. Uns ist bekannt, dass Platons zweiter Nachfolger in der Akademie, Xenokrates, die Philosophie – und das bedeutet zu seiner Zeit: das Wissen überhaupt – so unterteilte, wie es für die hellenistische Zeit kanonisch blieb: in Physik, Ethik und Logik18. Gemäß dieser Gliederung war die Physik wohl nicht auf Naturphilosophie beschränkt, sondern schloss die Metaphysik mit ein19. Da ebendiese Gliederung schon in einem frühen Werk des Aristoteles zu finden ist20, scheint es nicht unplausibel, dass sie zurückreicht bis auf Debatten, in die noch Platon selbst involviert gewesen war. Die Logik muss weit mehr umfasst haben als die Syllogistik, die Aristoteles zur Zeit der Topik noch gar nicht entwickelt hatte: und zwar Analysen der Verhältnisse zwischen Grundbegriffen – wodurch sie derjenigen Disziplin nahekommt, die Platon „Dialektik“ nannte (während Aristoteles diesen Ausdruck abwerten wird). Doch weit elaborierter als diese Unterteilung ist eine andere, die erstmals ebenfalls in der Topik Erwähnung findet und später in den Kapiteln E 1 und K 7 der Metaphysik expliziert wird21. Dort versucht Aristoteles, den Ort der „Physik“, d.h. der Naturwissenschaft überhaupt, innerhalb des Ganzen des Wissens zu bestimmen. Er stellt fest, dass jeder Gedanke entweder theoretisch oder praktisch oder poietisch (hervorbringend) ist. Während die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Disziplinen auch heute noch in Gebrauch ist (man beachte jedoch, dass Aristoteles’ Begriff des „Praktischen“ nichts mit „angewandt“ zu tun hat), ist diejenige zwischen poiesis und praxis eine eigentümliche des Aristoteles: Praxis, Tätigkeit, ist ein Zweck-in-sichselbst und verbunden mit moralischer Entscheidung, während poiesis im Hervorbringen eines äußeren Gegenstands besteht22. Das Handwerk ist von Natur aus poietisch, aber es gibt nur ein Handwerk von so großer philosophischer Dignität, dass Aristoteles es näher untersucht: die Dichtkunst und ihre Hervorbringungen, also Dichtungen23. Die praktische Philosophie zielt nicht 18  Sextus Empiricus, Adversus logicos I 16 = Xenocrates, frg. 1 Heinze = Xenocrates frg. 82 Isnardi Parente. 19  Siehe Senocrate Ermodoro, Frammenti (1982), 310. Isnardi Parente führt einige platonische Textpassagen auf, in denen φύσις die Welt der Ideen umfasst, übergeht aber die wichtigste: Nomoi 892c. 20   Topik 105b20 f.; siehe auch Cicero, Academica 1,4,19. 21   Topik 145a15 f.; Metaphysik 1025b25, 1063b35 ff. 22  Siehe Nikomachische Ethik 1140b6 f.; siehe auch Politik 1254a1 ff. zu Werkzeugen als Mitteln der Produktion und Sklaven als Werkzeugen für Handlungen. 23  Auch wenn die Griechen keinen bestimmten Ausdruck für die schönen Künste hatten, ist sich Aristoteles der Tatsache bewusst, dass die Dichtung nur eine von mehreren mimetischen Künsten ist (Poetik 1447a18 ff.).

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darauf ab, etwas über die Welt zu wissen, wie es die theoretische Philosophie tut, sondern auf Tätigkeit und Aneignung24. Da Menschen von Natur aus die am meisten politischen Lebewesen sind und daher solche, deren moralische Handlungen überhaupt nur im Kontext eines Staates gelingen können, wird die praktische Philosophie auch politische Philosophie genannt – im weiteren Sinne des Wortes25. Im engeren Sinne jedoch ist Politik von Ethik unterschieden26. Manche Disziplinen sind der Politik untergeordnet, so etwa die Kriegskunst, die Ökonomie (welche noch die Lehre vom Haushalten ist) und die Rhetorik27. Von diesen dreien hat Aristoteles nur der Rhetorik ein eigenes Werk gewidmet, welche er als „Ableger der Dialektik und auch der Ethik“ charakterisiert, der daher ebenfalls „politisch“ genannt werden kann28. Dass die Rhetorik ein Gegenstück der Dialektik ist, wird schon im ersten Satz des Buchs behauptet. Das gemeinsame Merkmal beider ist, dass keine von ihnen mit einem umgrenzten Thema zu tun hat, sondern auf alle Gegenstandsbereiche angewandt werden kann29. Während die Dialektik die Lehre vom kontroversen Argumentieren ist, beschäftigt sich die Rhetorik mit fortlaufender Rede. Es scheint jedoch unmöglich, den logischen Schriften des Aristoteles einen eindeutigen Platz im triadischen System des Wissens zuzuweisen, das er selbst festgesetzt hat30. Das erklärt, warum sie später unter dem Titel Organon zusammengefasst, also als Instrument für die Realwissenschaften bezeichnet wurden31. Mit Logik und Rhetorik hatte Aristoteles schon zwei der drei Wissenschaften des später so genannten trivium behandelt. Als dann, vom 3. Jahrhundert v. Chr. an, die Grammatik hinzugefügt worden war, standen die sieben artes liberales bereit, fünfzehn Jahrhunderte lang den Aufbau europäischer Erziehung und Bildung zu bestimmen32.

24   Eudemische Ethik 1214b11. 25   Nikomachische Ethik 1094b11. 26  Der letztgenannte Begriff wird z.B. in der Politik 1261a31 gebraucht, um den Bezug zur Nikomachischen Ethik herzustellen. 27   Nikomachische Ethik 1094b3. 28   Rhetorik 1356a25 ff. 29   Rhetorik 1354a1 ff., 1359b2 ff. 30  Innerhalb des Argumentierens unterscheidet Aristoteles zwischen beweisendem, dialektischem und eristischem (Topik 100a25 ff.). Der Unterschied zwischen den ersten beiden hat mit der Art der Prämissen, nicht des Schlusses zu tun. 31  Siehe Diogenes Laertios V 28. 32  Während Varros Disciplinae neun Bücher umfasst, die auch Medizin und Architektur streifen, sind diese als mechanische Künste in Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii von den himmlischen ausgeschlossen; bei der allegorischen Hochzeit sind sie stille Gäste. Roms größter Beitrag zum Universum des Wissens ist die Jurisprudenz.

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Die theoretischen Wissenschaften stehen über den anderen Wissenschaften deshalb, da Kontemplation die tiefste Quelle der Glückseligkeit ist33. In den Kapiteln E 1 und K 7 der Metaphysik benennt Aristoteles drei theoretische Disziplinen: Physik, Mathematik und die Erste Philosophie oder Theologie. Obwohl Aristoteles anerkennt, dass die Mathematik einige ihrer Gegenstände als unbeweglich und abtrennbar von der Materie betrachtet, will er sich nicht auf die unabhängige Existenz mathematischer Gegenstände festlegen, sondern verneint eine solche explizit. Physik andererseits richtet sich auf Gegenstände, die sowohl getrennt existieren als auch beweglich sind. Die Erste Philosophie schließlich betrachtet Gegenstände, die getrennt existieren und nicht beweglich sind. Sie ist auch Theologie zu nennen, da nur solche Gegenstände mit Recht göttlich zu nennen sind. Und da der Wert einer Wissenschaft vom Wert ihrer Gegenstände abhängt, ist sie die wertvollste aller Wissenschaften. Ich kann hier nicht im Einzelnen auseinandersetzen, wie die verschiedenen Aufgaben, welche Aristoteles der Ersten Philosophie zuschreibt – von der Theologie bis zur Wissenschaft vom Seienden als Seienden –, seiner Auffassung nach tatsächlich auch in einer einzigen Wissenschaft vereint werden können34. Aristoteles’ eigentümliche Verbindung zwischen Astronomie und Theologie, wie sie etwa in Metaphysik Λ 7–9 deutlich wird, basiert auf der radikalen Trennung der sublunaren von der supralunaren Welt. Die Regelmäßigkeit der Bewegung der Sterne und die vermeintliche Unwandelbarkeit der letzteren stehen dem Werden und Vergehen in der sublunaren Welt scharf entgegen. Dennoch ist Aristoteles der Begründer der Zoologie als Wissenschaft und scheut keine Mühe, den Wert dieser Subdisziplin der Physik zu rechtfertigen. Nur die Astronomie hat es mit ewigen Gegenständen zu tun – aber über sie wissen wir auch weit weniger als über Pflanzen und Tiere. Neben dem größeren Maß an Gewissheit und Vollständigkeit übertrumpft die Biologie die Astronomie auch aufgrund ihrer größeren Nähe zu uns Menschen. Wie der eigentliche Gegenstand der Architektur nicht der Ziegel, sondern das Haus ist, so hat die Naturphilosophie nicht die materiellen Elemente, sondern deren Zusammensetzung, d.h. die Form- und Finalursachen, die diese gestalten, zu

Während nahezu alle menschlichen Kulturen das Recht kennen, d.h. einklagbare soziale Normen, entwickelten nur die Römer eine Wissenschaft vom Recht. 33  Schon im Protreptikos (frg. 6) argumentiert Aristoteles, dass Theorie höher als jede poiesis steht, da diese niemals ein Zweck-in-sich-selbst sein kann. 34  Vgl. Reale 2008.

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untersuchen; und so ist die Biologie die höchste Wissenschaft der sublunaren Natur35. Die Psychologie ist in der Biologie fundiert, da die Seele das Prinzip animalischen Lebens ist; und deshalb kann Aristoteles auch behaupten, dass sie zur Physik zu zählen ist. Der größte Teil der Affekte – wenn nicht sogar alle – beziehen sich auf die komplexe Einheit von Leib und Seele, weshalb sowohl der „Physiker“ als auch der Dialektiker Zugang zu einem Phänomen wie z.B. dem Zorn haben. Der menschliche Intellekt hingegen gehört nicht zum Skopus der Naturwissenschaften36. Für diejenigen, die mit ihr bekannt und vertraut waren, blieb die aristotelische Systematisierung des Wissens bis ins 17. Jahrhundert hinein mehr oder weniger überzeugend und verbindlich. Die einfachere Dreigliederung von Xenokrates aber behauptete ihre Autorität im Stoizismus und erhielt sich ihre Plausibilität gar noch viel länger: Noch Kant zeigt Hochschätzung für sie – zu Beginn des Vorwortes zu seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Sowohl Zenon37 als auch Chrysipp machten Gebrauch von ihr. Letzterer lehrte, dass man mit der Logik anzuheben, sodann zur Ethik fortzuschreiten und mit der Physik zu schließen hat. Denn die Logik schärft den Geist und macht ihn urteilssicher; die Ethik kann das Verhalten nur dann verbessern, wenn sie auf die Logik bauen kann. Und die Physik ist die göttlichste der Disziplinen und bedarf deshalb tieferer Fundierungen. Es ist wichtig, zu bemerken, dass für Chrysipp die Physik die Theologie als ihren letzten Teil umfasst, deren Lehre mit einer Initiation verglichen wird; dies ergibt sich aus dem stoischen Pantheismus und Korporalismus38. Da die Neuplatoniker diesen Materialismus ebenso ablehnten wie die Integration der Theologie in die Physik, beharrten sie darauf, dass – sogar in der Klassifikation der platonischen Dialoge – eine vierte Gruppe zu ergänzen sei: Während der Timaios durchaus als physikalischer Dialog zu bezeichnen ist, muss der Parmenides ein theologischer genannt werden39. Wie auch bei Aristoteles, darf die Theologie nicht unter die Physik subsumiert werden.

35   De partibus animalium 644b22 ff. 36   De anima 402a4 f., 403a3−b19, De partibus animalium 641a22 ff. 37  Siehe Stoicorum veterum fragmenta (1903−5), I 45 f. 38  Ibid., II 42 ff. 39  Siehe Anonymus, Prolegomena to Platonic Philosophy, (Westerink 1962), 47, der auf ein verlorenes Werk des Iamblichos Bezug nimmt.

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2 Die christliche Philosophie des Mittelalters ist geprägt von der Unterordnung allen Wissens unter die Theologie – genauer gesagt: eine Theologie, die nicht einfach in der Vernunft gegründet ist, wie die rationale Theologie der antiken Philosophie, sondern die Heilige Schrift zur letztlichen Grundlage hat. Unter den verschiedenen Enzyklopädien des Mittelalters40 war die einflussreichste ohne Zweifel das Speculum Maius (Der große Spiegel) von Vinzenz von Beauvais, das in drei Teile (Speculum Naturale, Doctrinale, Historiale; das Speculum Morale wurde später hinzugefügt) gegliedert ist. Doch ich will den Fokus auf zwei im eigentlicheren Sinne philosophische Werke richten, die gezielt den Kosmos des Wissens ihrer Zeit nach abstrakten philosophischen Prinzipien zu strukturieren suchen: Das erste ist Bonaventuras De reductione artium ad theologiam (Die Zurückführung der Künste auf die Theologie), das zweite die Arbor scientiae (Baum der Wissenschaften) des Raimundus Lullus. In seinem kurzen Traktat41 unterscheidet Bonaventura zwischen mechanischen Künsten (Kapitel 2), sinnlicher Erkenntnis (Kapitel 3), philosophischer Erkenntnis (Kapitel 4) und dem Licht der Gnade sowie der Heiligen Schrift (Kapitel 5), wobei diese die vier Hauptschritte des Wissens ausmachen. Der erste beschäftigt sich mit der künstlichen Gestalt, der zweite mit der natürlichen Form, der dritte mit der intellektuellen Wahrheit und der letzte mit der Heilswahrheit. Im Hinblick auf die mechanischen Künste folgt Bonaventura Hugo von St. Victor, der sie in seinem Didascalicon (I 5, I 11) zur Trias aus theoretischer Philosophie, praktischer Philosophie und Logik hinzugefügt hatte – der Logik als einem vierten Teil, der bisher in Aristoteles’ Dreiteilung gefehlt hatte, während die mechanischen Künste irgendwie dessen poietische Disziplinen fortsetzen, aber ihnen größere Aufmerksamkeit und Respekt entgegengebracht wird42. Die sieben mechanischen Künste sind recht heterogen: Spinnen und Weben, Schmieden, Landwirtschaft, Jagen, Schifffahrt, Medizin und die theatralischen Künste. Bonaventura versucht sie auf die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse zurückzuführen und erkennt dabei die Ausnahmestellung der theatralischen Künste an, die später ja auch zu den schönen Künsten zählen werden; die theatralischen Künste gefallen, wohingegen die anderen nützlich sind, bezogen auf das Bedürfnis nach Kleidung, Nahrung oder Unterhalt. Im Kapitel über die sinnliche Erkenntnis verknüpft 40  Zu dieser Gattung siehe die zwei Aufsatzsammlungen von Ribémont (1995 und 2002). 41  Ich gebrauche die folgende zweisprachige Edition: Bonaventure/Hayes 1996. Ich lasse hier Gundassalinus’ De divisione philosophiae beiseite. 42  Siehe Schupp 2003, II 212 ff.

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Bonaventura auf willkürliche Weise die fünf Sinne mit den fünf Elementen; überhaupt ist es schwierig zu verstehen, weshalb die Sinne mit den Künsten in Verbindung gebracht werden sollten. Die philosophische Erkenntnis besteht aus drei Teilen, die jeweils noch einmal dreigeteilt sind. Die Vernunftphilosophie befasst sich mit der Wahrheit der Rede, die Naturphilosophie mit der Wahrheit der Dinge und die Moralphilosophie mit der Wahrheit des Verhaltens. Die Vernunftphilosophie deckt das trivium ab, also Grammatik, Logik und Rhetorik, die als die Disziplinen des Ausdrucks, der Lehre und der Motivation verstanden werden. Bonaventura sieht nicht, dass die traditionelle Ordnung Disziplinen sehr unterschiedlicher Struktur zusammenbringt: Er denkt vor allem an die Logik, wenn er behauptet, dass die Vernunftphilosophie die rationes intelligendi zum Gegenstand hat, also die Gründe für das Erfassen von etwas, und er bezieht sich deutlich auf die Grammatik und Rhetorik, wenn er behauptet, dass der erste Teil der Philosophie die Auslegung regelt. Nur aufgrund seines sehr vagen Begriffs von Lehre kann er die Logik mit den anderen Disziplinen in ein Verhältnis setzen, wo es doch offenkundig ist, dass alle Disziplinen lehren wollen und dass es nur eine Disziplin über das Lehren gibt, nämlich die Pädagogik – und sicherlich nicht die Logik. Die Naturphilosophie ist, wie Aristoteles’ theoretische Wissenschaften, unterteilt in Physik im engeren Sinne, Mathematik und Metaphysik; sie sollen der Materie, der Seele und der göttlichen Weisheit entsprechen. Die praktische Philosophie schließlich erhält einen dritten Teil dadurch, dass sie zwischen individueller Ethik (moralis philosophia monastica) und politischer Philosophie die Ökonomie einschließt, die, ganz wie in Aristoteles’ Bemerkungen in der Politik und an den meisten Stellen der heterogenen Schrift des Corpus Aristotelicum mit dem Titel Oikonomika, mit der Institution der Familie befasst ist – nicht mit den Gegenständen der modernen Disziplin „Ökonomie“. Als viertes diskutiert Bonaventura die Schrift und ihre literale, allegorische, moralische und anagogische Auslegung. Dass hierin das letzte Ziel menschlichen Wissens liegt, zeigt sich noch mehr im zweiten Teil des Traktats, wo die im Titel angekündigte Zurückführung der Künste auf die Theologie versucht wird. Bonaventura hebt damit an, die drei Schritte philosophischer Erkenntnis auf dieselbe Stufe mit den mechanischen Künsten, der sinnlichen Erkenntnis und dem Licht der Heiligen Schrift zu stellen. So kann er von einer vierteiligen zu einer sechsteiligen Gliederung übergehen. Doch was ist damit gewonnen? Nun, es ermöglicht ihm eine Parallelisierung der Erkenntnisschritte mit dem Hexaemeron, also den sechs Tagen des Schöpfungsberichts der Genesis. Hierbei entspricht das Wissen, das im Licht der eschatologischen Zukunft erworben werden wird, der Heiligung des siebten Tages durch Gott (Kapitel 6 und 7). Die letzten neunzehn Kapitel

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versuchen, in der sinnlichen Erkenntnis, den Vollzügen der mechanischen Künste und den drei Teilen der Philosophie einen Reflex derselben trinitarischen Struktur zu entdecken – manchmal der immanenten, manchmal der ökonomischen Trinität. Die Weisheit Gottes ist in aller Erkenntnis und aller Natur verborgen enthalten; und in jedem Ding, das sinnlich wahrgenommen und gewusst wird, ist Gott intern präsent. Deshalb dienen alle Erkenntnisse der Theologie: „omnes cognitiones famulantur theologiae“ (Kapitel 26). Bonaventuras Interesse an diesen Erkenntnissen unabhängig von deren Verweischarakter auf die fundamentalen Prinzipien christlicher Theologie ist also durchaus begrenzt. Es ist umstritten, ob Raimundus Lullus’ Arbor scientiae aus dem Jahr 1296/97 zuerst auf Latein oder auf Katalanisch verfasst wurde43. Trotz der Anspielung auf den Baum in Genesis 3,17 und des Einflusses der dichotomischen Einteilung der Wirklichkeit in der berühmten arbor porphyriana ist diese Schrift, soweit ich sehe, der erste Versuch, die Baum-Metapher zu genuin enzyklopädischen Zwecken zu gebrauchen. Dennoch stellt Lullus anders als spätere Autoren nicht wirklich einen Baum vor, der sich in die verschiedenen Disziplinen verzweigt. Im Gegenteil: Trotz der zwei Titelwörter im Singular beschäftigt sich Lullus’ Buch tatsächlich mit einem kleinen Wald, nämlich sechzehn Bäumen, wovon vierzehn für verschiedene Gegenstände und die ihnen entsprechenden Wissenschaften stehen. Lediglich die letzten beiden Bücher, die die umfangreichsten sind und zusammen die Hälfte des Werks ausmachen, sind von anderer Art, da sie der arbor exemplificalis und der arbor quaestionalis, also dem Baum der Beispiele und dem Baum der Fragen, gewidmet sind. Sie exemplifizieren teilweise die Lehren des Buchs auf literarische Weise, teilweise geben sie Hinweise dazu, wie diejenigen Fragen zu beantworten wären, die mit den dargelegten Inhalten zusammenhängen. Aber die ersten vierzehn Wissenschaften werden so aufgefasst, dass sie verschiedene Schichten der Wirklichkeit erfassen, was eine Ausweitung der neun Subjekte von Lullus’ berühmter Ars darstellt44. Die arbor elementalis, vegetalis, sensualis, imaginalis, humanalis, moralis, imperialis, apostolicalis, caelestialis, angelicalis, aeviternalis, maternalis, divinalis et humanalis und divinalis sind den Elementen, Pflanzen, Organismen mit Sinneswahrnehmung, Organismen mit Vorstellungsvermögen, der menschlichen Natur, den Tugenden und 43  Pere Villalba Varneda, der kürzlich das Werk im Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis herausgegeben hat (Lullus 2000), argumentiert in seiner langen „Introductio generalis“ (I 5*−188*) für ein lateinisches Original. Lola Badia jedoch vertritt die Auffassung, dass der katalanische Text dem lateinischen vorausgeht (Badia 2002, 2). 44  Zur komplexen Numerologie der Arbor Scientiae siehe Pring-Mill 2002.

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Lastern, politischen Strukturen, kirchlichen Hierarchien, Himmelskörpern, Engeln, dem Paradies und der Hölle, Maria, Jesus Christus und Gott gewidmet. Lullus entrollt die große Kette der Wesen45, welche von den entsprechenden Wissenschaften erfasst werden muss und sich von der anorganischen Natur über verschiedene Arten von Organismen zu den Menschen, ihrer moralischen, politischen und kirchlichen Organisation, und schließlich bis zum Himmel selbst erstreckt. Auch für ihn sind die supralunaren Körper etwas Höherstehendes als Menschen, da sie mit den Engeln in Verbindung stehen. Die letzten fünf Reiche gehören zur Theologie im engeren Sinne, auch wenn Lullus einer der wenigen mittelalterlichen Denker ist, die einen radikalen Rationalismus vertreten, d.h. darauf pochen, dass alle Glaubensartikel einer vernünftigen Begründung zu unterziehen sind. Bemerkenswert ist, dass in dieser Einteilung der Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften verschwunden ist; die Moralphilosophie findet Eingang in das Kontinuum der traditionellen theoretischen Disziplinen. Desweiteren fehlen die Mathematik wie auch die Disziplinen des triviums, obwohl Lullus ja Texte über Geometrie, Logik und Rhetorik verfasst hat. Eine Erklärung dafür mag sein, dass Lullus Schwierigkeiten hatte, den formalen Charakter von Logik und Mathematik in sein ontologisches Schema einzupassen. Weniger überraschend ist das – von Vinzenz von Beauvais abgesehen – übliche Fehlen der Geschichte, welche gar nicht als Wissenschaft betrachtet wurde. Die Baum-Metapher jedenfalls wird nun auf jeden einzelnen Baum angewandt, der aus sieben Teilen besteht: radices, truncus, brancae, rami, folia, flores, fructus, also: Wurzeln, Stamm, Äste, Zweige, Blätter, Blüten und Früchte. Im Falle des ersten Baumes, um nur ein Beispiel anzuführen, werden die Wurzeln mit den Prinzipien identifiziert, der Stamm mit nicht-ausdifferenzierter Körperlichkeit, die Äste mit den Vermögen, die Zweige mit den Operationen, die Blätter mit den Akzidenzien, die Blüten mit den Instrumenten und die Früchte mit den Körpern, die aus den verschiedenen Elementen bestehen. Lullus betont die fundamentale Strukturgleichheit der verschiedenen Bäume untereinander, und er trägt auch der Tatsache Rechnung, dass die späteren Bäume die früheren voraussetzen. So schreibt er, dass die Wurzeln der arbor vegetalis jeweils gedoppelt sind, da sie sowohl eine elementarische als auch eine vegetative Natur hat. Analog dazu ist die sensitive Natur der vegetativen und letztere der elementarischen aufgepropft. Hier werden Metaphern, die mit

45  Zur Geschichte dieses Konzepts siehe die klassische Studie von Arthur A. Lovejoy, The Great Chain of Being: A Study of the History of an Idea (Lovejoy 1936).

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der Kultivierung von Bäumen zu tun haben, gebraucht, um die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Wissenschaften zu klären46. 3 Der beeindruckendste Versuch einer Systematisierung des Wissens in der frühen Neuzeit findet sich bei Francis Bacon, der im Jahr 1605 sein Werk Of the Proficience and Advancement of Learning, Divine and Human publizierte47. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts blieb es eine Autorität: d’Alemberts berühmter „Discours préliminaire de l’encyclopédie“ aus dem Jahr 1751 etwa bespricht es in aller Ausführlichkeit. Zugleich stellen das 17. und 18. Jahrhundert die mit wichtigsten Epochen des Wachsens neuer Äste am Baum des Wissens dar. Deshalb verspricht ein Vergleich zwischen Bacon und der Encyclopédie fruchtbare Einsichten in die Art und Weise, wie das Aufkommen neuer Disziplinen der Philosophie die Aufgabe aufnötigt, sich mit neuen Realitätsschichten auseinanderzusetzen und gleichzeitig so viel als möglich derjenigen fundamentalen Strukturen, die bisher entwickelt worden sind, beizubehalten. Die besondere Attraktivität von Bacons System des Wissens ergibt sich aus seiner Zwischenstellung zwischen einer Bildung im Geiste der Renaissance und der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts, die er durch seine methodologischen Ideen antizipiert, auch wenn er kaum zu deren eigentlichem Inhalt beigetragen hat48. Während des erste Buch des Advancement die Vorzüglichkeit der Gelehrsamkeit und das Verdienstvolle ihrer Intensivierung gegen theologische und politische Einwände und „die Irrtümer und Unzulänglichkeiten gelehrter Männer selbst“ (4) verteidigt, bietet das zweite Buch „einen kleinen Globus der intellektuellen Welt“ (221). Inspiriert durch die Atlantiküberquerung (61), will Bacon sich hier nicht auf die „existierenden und schon erfundenen Wissenschaften“ beschränken, sondern auch „Gebiete des Wissens, die noch nicht zureichend erschlossen sind und verfolgt werden“ (63), erkunden. Er präsentiert nicht einfach „eine große 46  I 117 und 131. Siehe die hervorragenden Klärungen von Bonner 2002. 47  Ich werde mich auf das englische Original konzentrieren, nicht auf die erweiterte lateinische Übersetzung, die in die Instauratio magna integriert ist, welche nach Bacons Plan sechs Teile haben sollte, wiederum in Übereinstimmung mit den sechs Werken der Schöpfung. Für den englischen Text gebrauche ich die folgende Edition: Bacon/Kitchin 1973. Nur gelegentlich weise ich auf die lateinische Version hin. 48  Zu Vorläufern von Bacons Klassifikation, wie z.B. Petrus Ramus, vgl. Gaukroger 2001, 18 ff. Zu einigen Enzyklopädisten ab dem 16. Jahrhundert siehe Frängsmyyr 2001.

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Musterrolle der Wissenschaften“, sondern sucht nach „ein bisschen Saatgut für den Fortschritt“ (140)49. Seine Forderung nach institutionellen Veränderungen, wie z.B. die nach Investitionen in „Fundamentalwissenschaften“, angemessenem Gehalt für das Lehrpersonal, finanzieller Unterstützung von Experimenten, fortlaufender Evaluierung akademischer Einrichtungen und internationaler Zusammenarbeit zwischen den europäischen Universitäten, lasse ich beiseite und widme mich seiner Gliederung des Wissens. Da er sich dem „Zusammenhang und der Ganzheit des Wissens“ verpflichtet fühlt, führt er seine Gliederungen „als Linien und Adern eher denn als Abschnitte und Abtrennungen“ ein (105); doch er betont, dass sie der Natur und nicht schlicht irgendwelchen Nützlichkeitserwägungen folgen (152 f.). Bacon ist also natürlichen Arten auf der Spur und versichert, keinen Bereich des Seienden in seiner schematischen Darstellung auszulassen, „so dass nichts auf dem materiellen Globus sei, was nicht gleichermaßen im kristallenen Globus, oder dem der Form, sei“ (188). Die erste Unterscheidung trifft er zwischen menschlichem und göttlichem Wissen; und obwohl letzteres, wie im Mittelalter, als „Sabbat der Kontemplation aller Menschen“ (90, 209) aufgefasst und daher gegen Ende des Buches näher besprochen wird, fällt auf, dass ihm weit weniger Text gewidmet ist als dem menschlichen Wissen. Beide Arten von Wissen sind zunächst entsprechend der drei Teile des menschlichen Intellekts, Erinnerungsvermögen, Vorstellungsvermögen und Vernunft, in Geschichte, Dichtung und Philosophie unterteilt (69), obwohl dann das letzte Kapitel, das der Theologie gewidmet ist, diese Dreiteilung durch eine Zweiteilung ersetzt: zwischen dem Wesen der Offenbarung und ihrem Inhalt, wobei letzterer seinerseits noch einmal in Glaubensinhalte, Verhaltensregeln, liturgische Vorschriften und Kirchenregiment (213, 219) unterteilt ist, also etwa in das, was wir heute Dogmatik, Moraltheologie, Liturgiewissenschaft und kanonisches Recht nennen würden. Bacons Zuordnung der Disziplinen zu Vermögen hat die problematische Konsequenz, dass verschiedene Bereiche des Seienden zweimal auftauchen, und zwar sowohl in der Geschichte als auch in der Philosophie. Das gilt nicht nur für das, was wir heute Geisteswissenschaften nennen, sondern auch für die Naturwissenschaften; denn Bacon unterteilt die Geschichte in die Natur-, politische, Kirchen- und Geistesgeschichte. „Wissenschaften sind wie Pyramiden, deren Basis die Geschichte ist. Und so ist auch die Naturgeschichte

49  Vgl. Kusukawa 1996, 70: „Bacon’s was a unique journey through the intellectual globe, leading to unknown territories, not a metaphysician’s guide to a spiritual Jerusalem, or a humanist’s guide to the ideal of classical learning.“

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die Basis der Naturphilosophie“ (95)50. Während Bacon m.E. zurecht Wilhelm Windelbands berühmte Charakterisierung der Naturwissenschaften als nomothetischer Wissenschaften und der Geisteswissenschaften als idiographischer Wissenschaften vermeidet (immerhin thematisiert die Geologie der Großen Seen besondere Gegenstände und die allgemeine Linguistik universale Merkmale von Sprache), kann man gegen Bacon leicht den Einwand formulieren, dass auch die Geschichtsschreibung das logische Schließen und alle anderen Wissenschaften Erinnerung voraussetzen. Zudem ist es unbefriedigend, dass im All des Wissens nur die Dichtung einen Platz hat, nicht aber deren theoretisch-analysierende Betrachtung. Und noch irritierender für uns heute ist die Trennung der Dichtung von den anderen schönen Künsten, die nur in der lateinischen Version überhaupt Erwähnung finden – und zwar im Zusammenhang mit den sinnlichen Künsten, die sich auf den menschlichen Körper beziehen51. Bacons originellster Beitrag in Bezug auf die Unterteilung der Geschichte ist, dass er explizit die Geistesgeschichte erwähnt und vorsieht: „Denn kein Mensch hat sich je vorgenommen, den allgemeinen Stand des Wissens von Generation zu Generation zu beschreiben und darzustellen […]; ohne dies scheint mir die Weltgeschichte wie eine Statue des Polyphem zu sein, der das Auge fehlt; denn der Teil fehlt, der wohl der allerstärkste Ausdruck des Geistes und Lebens der Person ist“ (69). Allein eine Vertrautheit mit der Geschichte des Wissens „wird gelehrte Männer zu einem weisen Umgang und Verwalten ihres Wissens führen“ (70). Bacon unterteilt die Naturgeschichte in die Geschichte der Natur in ihrem normalen Verlauf, in ihrem Abweichen und in ihrer Veränderung – „das bedeutet, Geschichte der Geschöpfe, Geschichte der Wunder und Geschichte der Künste“ (70; Originalkursivierung). Die Unterscheidung der ersten beiden Äste setzt eine Metaphysik der Natur voraus, die immer noch weit mehr aristotelisch als spinozistisch ist: Bacon vertritt nicht die Auffassung, dass alle natürlichen Ereignisse durch allgemeine Gesetze und vorhergehende Ereignisse zu erklären sind, auch wenn er dazu auffordert, den Glauben an fabelhafte Erzählungen abzulehnen. (Montaigne, der keine Metaphysik der Naturgesetze hat, vertrat zumindest die These, dass abnorme Wesen, wie etwa siamesische Zwillinge, zur Natur gehören und nicht 50  Siehe Aristoteles, Analytica priora 46a26, für den Gebrauch von ἱστορία im Sinne einer vorwissenschaftlichen Sammlung von Tatsachen, die die Natur betreffen. 51  Siehe Bacon/Spedding 1857−59, II 343, wo Bacon erwähnt, dass die Künste, die Sehen und Hören betreffen, in höherem Maße als die anderen sinnlichen Künste für frei gehalten worden sind: „Atque artes, quae ad visum aut auditum spectant, prae aliis praecipue liberales habitae sunt.“ Im englischen Text wird die Architektur als ein Zweig der gemischten Mathematik (99) und einmal in einem Vergleich (163) erwähnt.

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ihr entgegen auftreten könnten: Essais II 30.) Äußerst wichtig ist der Ort, den Bacon den immer noch sehr unvollkommenen mechanischen Künsten zuerkennt, die „der Förderung und dem Nutzen des menschlichen Lebens dienen mögen“ (72). Sie werden als aus den Wundern der Natur erwachsen gedacht: Bacon hat immer noch keine Idee davon, dass die mechanischen (Ingenieurs-)Wissenschaften in den genuinen Naturwissenschaften fundiert sind. Die Unterscheidung im Aristotelischen Corpus zwischen Physik und den Mechanischen Problemen, also dem wahrscheinlich nicht von Aristoteles stammenden Traktat davon, was „gegen die Natur erfolgt, bewirkt durch die Kunst zum Wohle der Menschheit“ (847a10 ff.), findet ihre Fortschreibung bei Bacon (man beachte allerdings Novum Organum II 28) und auch bis zu d’Alembert52. Bacons Untergliederung der politischen Geschichte in Berichte (memorials), antiquarische Sammlungen (antiquity) und vollkommene Geschichte (perfect history) hat mit verschiedenen Schritten, denselben Gegenstand zu thematisieren, zu tun, nicht mit verschiedenen Bereichen der Geschichte. Was er „verdaute Geschichte“ (ruminated history) nennt, wie z.B. Machiavellis Discorsi, „gehört, so glaube ich, eher zu den Politik- […] als zu den Geschichtsbüchern“ (79). Hier tritt Geschichte also als ein Vorbereitungsstadium für dasjenige auf, was wir heute als Sozialwissenschaften bezeichnen. Natur- und politische Geschichte werden sodann mit der Mathematik zur Kosmographie verknüpft. Die Kirchengeschichte schließlich besteht aus der Geschichte der Kirche im engeren Sinne, der Geschichte der Prophetie und der Geschichte der Vorsehung. Dichtung, definiert als fingierte Geschichte, ist untergliedert in erzählende, darstellende und anspielungsreiche (oder parabolische). Während die ersten beiden Kategorien auf Platon zurückgehen53, gehört die dritte klarerweise nicht zur selben Gliederungsebene; denn es kann ja auch anspielungsreiche Erzählungen oder Dramen geben – und Bacon will wohl keine derartigen Überschneidungen zwischen seinen Gliederungsbegriffen zulassen. Überraschend ist immer noch, wie lange Zeit es dauerte, bis die Lyrik als eine eigenständige Untergattung der Dichtung auftreten konnte. Doch Bacon deutet schon auf die Revolution in der Neubewertung von Dichtung gegen Ende des 18. Jahrhunderts hin, wenn er anerkennt, dass die Dichtung im Hinblick auf Geist und Beredsamkeit der Redekunst nicht weit unterlegen ist (85), auch wenn die Rhetorik zu einem ganz anderen Gliederungszweig gehört.

52  Eine Philosophie der Technik, aufgefasst als basierend auf dem bewussten Gebrauch seltener Antezedensbedingungen, aber als dieselben allgemeinen Naturgesetze voraussetzend, findet sich bei Wandschneider 2004. 53   Politeia 392c ff.

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Philosophie im eigentlichen Sinne ist dann untergliedert in die göttliche Philosophie, die Naturphilosophie und die Humanphilosophie (85, 105). Aber alle drei zweigen von einem gemeinsamen Stamm ab, „der eine Dimension und Quantität von Ganzheit und Zusammenhang hat, bevor es zur Teilung kommt und er sich in Arme und Äste verzweigt.“ Besagte gemeinsame Wissenschaft ist die Erste Philosophie, die anders als bei Aristoteles von der Theologie unterschieden wird (92). Sie behandelt Prinzipien, die sich über alle besonderen Teile der Philosophie hin erstrecken. Es mag überraschen, dass Bacon die göttliche Philosophie aufführt, da wir ja schon gesehen haben, dass das göttliche Wissen am Ende des Buches seinen Platz hat. Doch was Bacon hier im Sinn hat, ist eine ganz andere Disziplin, nämlich die natürliche Theologie, die nicht auf Offenbarung beruht, sondern auf der „Betrachtung Seiner Geschöpfe“ (88), mit der Angelologie als einem legitimen Anhang, auch wenn sie oft in einer „fantasieartigen“ Weise betrieben wird. Die Naturphilosophie setzt sich aus Naturwissenschaft und Naturklugheitslehre (natural prudence) zusammen, welche Experimente aufsetzt. Bacon gliedert die erste in Physik und Metaphysik (wobei die letztere nicht mehr mit der Ersten Philosophie zusammenfällt); die Physik beschäftigt sich mit Material- und Wirkursachen, die Metaphysik mit Form- und Zweckursachen der Natur. Bacon lehnt, darin Leibniz ähnlich, keineswegs eine teleologische Betrachtung der Natur ab – allerdings nur, solange sie nicht die Suche nach Wirkursachen ersetzt (97 f.). Die Verquickung der Metaphysik mit Formursachen erklärt, warum Bacon die Mathematik als Zweig der Metaphysik betrachtet und nicht, wie Aristoteles, als eine dritte Disziplin, die zur Physik und Metaphysik hinzutritt; Bacon unterteilt sie in reine und vermischte Mathematik: Geometrie und Arithmetik gehören in die erste Gruppe, Perspektive, Musik, Astronomie und andere in die zweite, deren weiteres Wachstum er voraussagt. Und doch bleibt das Problem, dass eine Anwendung der Mathematik in den Wissenschaften vom Menschen durch diese Kategorisierung ausgeschlossen ist – da die Metaphysik ja zur Naturphilosophie gehört. Und noch weniger erfasst Bacon die Autonomie der Mathematik als Wissenschaft. Die Biologie, welche in Aristoteles’ Wissenschaftskonzeption so wichtig war, fehlt bei Bacon weitgehend, was sicherlich der christlich geprägten, tief klaffenden Lücke zwischen den Menschen und den anderen Lebewesen geschuldet ist. Bacons Humanphilosophie untersucht den Menschen zuerst, wie er „vereinzelt (segregate)“, sodann, wie er „zusammen mit anderen (congregate)“ ist, d.h. als Individuum und in Gesellschaft. Menschen als Individuen betrachtet bestehen aus Körper und Geist; entsprechend gibt es eine Lehre von den „Sympathien und Harmonien“ beider (106), eine Untersuchung der körperlichen Gesundheit, Schönheit und Stärke sowie – in einer vor-cartesianischen

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Weise – der körperlichen Lust, gefördert durch die Medizin, Kosmetik, Athletik bzw. die „Lustkunst (art Voluptuary)“, und schließlich eine Wissenschaft vom Geist, sowohl seiner Substanz als auch seinen Funktionen nach. Anhänge zum ersten Teil beschäftigen sich mit dem, was wir heute parapsychologische Phänomene nennen, wie z.B. außersinnlicher Wahrnehmung und Telekinese. Weit detaillierter angelegt sind die Erörterungen intellektueller und willentlicher Funktionen, welche die Gegenstände der Vernunft- bzw. der Moralphilosophie sind. In der Vernunftphilosophie werden die Quellen des Wissens, mit denen Bacon anhob, ihrerseits Gegenstände des Wissens (121); ihre Untersuchung wird „die Kunst der Künste“ (122) genannt. Bacon unterscheidet vier Künste: die der Erfindung, des Urteilens, des Gedächtnisses und der Rede. Die erste ist weiter unterteilt in die der Erfindung der Wissenschaften – ein Wissen, das „allen Rest mit erwerben sollte“ (122) – und die der Erfindung – oder eher: Vorbereitung und Anregung – von Argumenten, also die Topik. Die Lehre vom Urteilen besteht aus Analytik und Elenktik (elenches), welche die Funktionen der Anweisung bzw. Warnung erfüllen54. Das Bewahren des Wissens wird entweder durch die Schrift oder das Gedächtnis geleistet, wobei letzteres durch Vorbegriffe und Embleme geleitet wird. Im Hinblick auf den Wissenstransfer an Andere unterscheidet Bacon das Werkzeug, die Methode und die Veranschaulichung der Vermittlung, die jeweils grob den drei Disziplinen des Triviums entsprechen. Während Bacon anerkennt, dass die Methode „gut in der Logik untergebracht wurde“, ist er auf die Vermittlung des Wissens fokussiert, die wesentlich für dessen Fortschritt ist, da Wissenschaft ein intersubjektives Unternehmen ist (140). Zwei Anhänge beschäftigen sich mit kritischen und „pedantischen“, d.h. pädagogischen, Fragen. Die Moralphilosophie soll sich sowohl mit dem Wesen des Guten als auch der moralischen Kultur beschäftigen. Das moralisch Gute kann das Individuum als solches oder in seinen sozialen Rollen betreffen; und das privat Gute teilt sich in das aktiv und das passiv Gute, das selbst wiederum in bewahrendes und vollendendes gegliedert ist, während die Lehre von den Pflichten sowohl allgemeine staatsbürgerliche Pflichten als auch spezielle berufsgebundene Pflichten thematisiert und versucht, mögliche Konflikte zwischen verschiedenen Pflichten zu lösen. Das Kapitel über die moralische Kultur fordert das, was wir heute Moralpsychologie nennen würden, und beharrt auf einer Lehre der 54  Bacon folgt nicht derjenigen Interpretation des aristotelischen Organon, gemäß welcher die Topik zwischen den Analytiken und den Sophistischen Widerlegungen vermittelt – eine Interpretation, die durch die Anordnung der Werke in der Andronikos-Ausgabe nahegelegt wird und manchmal im Mittelalter vertreten wurde. Sie wurde endgültig widerlegt, als Christian Brandis 1833 zeigen konnte, dass die Topik älter als die Analytiken ist.

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Charaktere und der Affekte; ohne diese könnte die Moralität „den Menschen zu pedantisch, überheblich und unverträglich machen“ (175). Das bürgerliche Wissen schließlich ist in eine Lehre von der Unterredung, der Geschäftsführung und der Regierung unterteilt, wobei die letztere die Jurisprudenz einschließt. Ein schwerwiegender Einwand gegen diese Gliederung ist, dass Bacon damit die Differenz zwischen einer Psychologie des Denkens und der Logik ebenso wenig fassen kann wie diejenige zwischen einer Psychologie des Willens und der Moral. Seine empiristische Systemanlage lässt keinen Raum für eine radikale Unterscheidung zwischen Sein und Sollen. Bevor wir nun auf die Veränderungen zu sprechen kommen, die die Gliede­ rungen der Encyclopédie gegenüber Bacons Text aufweisen, sollte ich die beiden weitreichendsten Mutationen erwähnen, die der Baum der Wissenschaften in der Zwischenzeit durchgemacht hat. Die cartesianische Revolution ist natürlich die erste. Descartes selbst setzt den Gebrauch der Metapher des Baumes der Wissenschaften fort: Im Vorwort der französischen Ausgabe von Les Principes de la Philosophie (Die Prinzipien der Philosophie) spricht er von der Philosophie als einem Baum, dessen Wurzeln in der Metaphysik, dessen Stamm in der Physik und dessen Hauptäste, von denen allein Früchte geerntet werden können, in der Mechanik, Medizin und Moral (der vollendeten, nicht der vorläufigen, die er selbst skizziert) bestehen55. Aber dieser Vergleich verbirgt Descartes’ eigene geistige Revolution weit mehr, als er sie zum Ausdruck zu bringen vermag – jedenfalls solange man sich nicht die Originalität seiner Metaphysikkonzeption bewusst macht. Deren Gegenstände sind nämlich ausschließlich Gott und die Seele. Die aristotelische und mittelalterliche Vision eines Kosmos, in dem die supralunare Sphäre zwischen der sublunaren, in welcher wir leben, und Gott vermittelt, ist von Grund auf ersetzt durch eine Perspektive, die im Laufe des 17. Jahrhunderts – am beeindruckendsten durch Newtons Synthese von Galileis terrestrischer Physik mit Keplers Astronomie – alle vermeintlichen Unterschiede dieser beiden Sphären aufhebt, ebenso wie die antike Trennung von Physik und Mechanik. Es gibt keinen besonderen ontischen Status der Sterne mehr – und das Konzept der scala naturae verliert so zumindest seine traditionelle Form, durch die sie über den Menschen hinaus ins Universum reichte. Unsere Maschinen sind plötzlich so natürlich wie alle anderen Geschehnisse in der Welt. Materie ist Ausdehnung; mathematische Quantitäten – und keine Qualitäten – machen ihr Wesen aus. Während dies technische Unternehmungen des Menschen im großen Stile befördert, ist der Preis, der dafür zu zahlen ist, ein Gefühl des Verlorenseins: 55  Descartes 1897−1913, IX 2, 14 f.

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Das ewige Schweigen solch unendlicher Räume ängstigte Pascal56. Das subjektive Zentrum, welches die Basis von Descartes’ Projekt bildet, also die Seele mit ihrem cogito, ist nicht mehr Teil der Natur, sondern zugänglich nur auf ganz andere Weise als der Rest der Welt – nämlich durch Introspektion, die auf einen selbst beschränkt ist. Weder Descartes noch seine Nachfolger wollten damit dem Solipsismus das Wort reden, aber die scharfe Unterscheidung zwischen einem erst- und einem drittpersonalen Zugang bedrohte die althergebrachte Idee, dass verschiedene intellektuelle Operationen verschiedenen ontologischen Bereichen zugeordnet sein müssen. Epistemologisch gesehen bezieht sich die Introspektion nur auf mich, während ich ontologisch betrachtet nicht von anderen Personen, die ebenfalls erstpersonal auf sich selbst Bezug nehmen, unterschieden bin, auch wenn dieser Bezug für jeden Anderen, mich selbst eingeschlossen, versperrt ist. Während die aristotelische Unterteilung eine horizontale Grenzlinie zwischen geistigen Aktivitäten, die wir mit Tieren gemein haben, und dem menschlichen Intellekt zog, besteht die fundamentale Unterscheidung für Descartes in einer – wenn man so will – vertikalen Linie zwischen allen unseren geistigen Akten und den physischen Zuständen, mit denen sie verbunden sind. Da Descartes Subjektivität zugleich allen anderen, nicht-menschlichen Organismen abspricht, tritt dieser vertikale Schnitt jedoch an einer Stelle in der Natur auf, die zusammenfällt mit einem der großen Einschnitte in der traditionellen scala naturae. Für seine Nachfolger aber, die dem Tierreich mehr zuerkannten und zugleich keine Panpsychisten werden wollten, wurde die Sache komplizierter. Während die cartesianische Revolution eine Unterteilung des Wissens in Theologie, Naturwissenschaft und eine Psychologie, die auf Introspektion basiert, nahelegte, entwickelte schon das frühe 18. Jahrhundert ein Bedürfnis danach, das, was Bacon die „gesellschaftliche (congregate)“ Humanphilosophie nannte, in eine nach-cartesianische Theorie der Wissenschaften zu integrieren. Die originellste Arbeit in diese Richtung ist Giambattista Vicos Principj di scienza nuova (Prinzipien einer Neuen Wissenschaft) aus dem Jahr 1725 (mit der dritten und letzten Auflage 1744). Dort wird eine neue Wissenschaft von der „Welt der Nationen“ vorgeführt, die als drittes ontologisches Reich neben der Welt Gottes und des Geistes sowie derjenigen der Natur aufgefasst wird57. (Die Zusammenführung der Welt Gottes und derjenigen des Geistes hat ihre Wurzeln wahrscheinlich in Vicos Sympathie für den Okkasionalismus.) Während es zwar falsch wäre, Vicos Philosophie der menschlichen Kultur, 56  „Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie“ (Pascal 1982 [orig. 1670], 152 = Nr. 130). 57  Siehe Vico/Nicolini 1911−41, IV 1, 5 f. und 34. (Ich gebe auch die kanonische Paragraph­en­ nummerierung von Nicolini an: 2, 42.).

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die sowohl die Geistes- als auch die Sozialwissenschaften umfasst, primär als Geschichtsphilosophie aufzufassen, hebt Vico doch das intellektuelle Niveau der Geschichtsschreibung dadurch an, dass er behauptet, eine ideale, ewige Geschichte gefunden zu haben: Durch die Verbindung mit einer solchen universalen Struktur könne die Geschichte selbst zu einer Wissenschaft werden. Die jahrtausendealte Unterscheidung von Geschichte und Wissenschaft stand so am Anfang ihrer Auflösung. Vico reflektiert außerdem die Tatsache, dass die Geisteswissenschaften später als die Naturwissenschaften aufkommen mussten – ganz wie das Auge einen Spiegel braucht, bevor es sich selbst sehen kann58. Das längste (zweite) Buch seines Hauptwerks ist explizit gemäß dem Baum der Wissenschaften gegliedert: Der Stamm besteht aus der Metaphysik, ein Ast aus Logik, Moral, Ökonomie und Politik (welcher Reflexionen über die Geschichte angehängt werden), der andere aus Physik, deren Töchtern, Kosmographie und Astronomie, sowie den Töchtern der letzteren, nämlich Chronologie und Geographie59. Obwohl Vico wohl überzeugt ist, dass dies die auch für seine aufgeklärte Zeit richtige Weise ist, das Wissen zu systematisieren60, gibt das zweite Buch tatsächlich nicht den Stand des Wissens zu Vicos Zeit wieder. Es beschäftigt sich mit der poetischen Weisheit – und alle soeben erwähnten Disziplinen werden als „poetisch“ bezeichnet. Was soll das bedeuten? Vico hat ein Interesse daran, Metaphysik, Logik, moralische Werte, Familienstruktur, politische Ordnung und das Naturbild zu rekonstruieren, wie sie den archaischen Zeiten eigentümlich waren; deshalb ist seine Auseinandersetzung auch mit dem zweiten Ast seines Baums ein hermeneutisches Unterfangen. In der Neuen Wissenschaft beschäftigt sich Vico nicht mit der Naturphilosophie; deshalb ist er auch kein enzyklopädischer Denker mehr. Aber er zielt darauf ab, die enzyklopädische Sicht, die frühere Kulturen auf die Welt hatten, zu verstehen; und in diesem Aufsaugen der Idee eines Baumes der Wissenschaften durch das, was in der früheren Architektonik nur eine Disziplin darin gewesen war, deutet Vico von ferne schon auf den hermeneutischen Imperialismus des 20. Jahrhunderts voraus, der auf dem Fehlschluss beruht, dass, da jede Theorie ein Produkt der Kultur ist, die Theorie der Kultur alles umfasse. Das größte Projekt der französischen Aufklärung, die Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke), vermittelt schon in seinem Titel zwischen der Idee einer systematischen 58  IV 1 95, 118 (= par. 236, 331). 59  IV 1 140 (= par. 367). 60  IV 1 217 (= par. 502).

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Entfaltung aller Disziplinen für eine breite Öffentlichkeit (was ja die ursprüngliche Bedeutung von ἐγκύκλιος παιδεία und besonders ihrer humanistischen Anpassung ist) und der Anhäufung von Wissen durch alphabetisch geordnete Einträge zu allen möglichen Themen61. Jean Le Rond d’Alemberts „Discours préliminaire“ (Einleitung) wurde oft als das aussagekräftigste Manifest französischer Aufklärung betrachtet62. In seinem dritten und letzten Teil integriert er Denis Diderots „Prospectus“ aus dem Jahr 1750; gefolgt wird dieser von Diderots „Explication détaillée du systeme des connoissances humaines“ (Detaillierte Darstellung des Systems menschlichen Wissens), begleitet von einer graphischen Darstellung und einer Analyse des „Systeme général de la connoissance humaine suivant le chancelier Bacon“ (Allgemeines System des menschlichen Wissens nach Kanzler Bacon), bevor die einzelnen Einträge folgen63. Ich kann hier nicht die vielen Ideen diskutieren – wie z.B. die sensualistische Erkenntnistheorie, die von Locke und Condillac beeinflusst ist und eingeborene Ideen ablehnt, während sie die Unterscheidung zwischen äußerer Wahrnehmung und Reflexion beibehält und auf Basis letzterer zu den Ideen Gottes und des Naturrechts zu gelangen beansprucht (6 ff./72 ff.); die Analyse des Ursprungs der verschiedenen Wissenschaften, die von elementaren Bedürfnissen ihren Ausgang nehmen und dann zu zunehmend abstrakteren Begriffen emporführen (14 ff./77 ff.); die Gegenüberstellung eines 61  Zu den grundlegenden Änderungen hin zu den Klassifikationen der Encyclopédie im Hinblick auf Bacon und Ephraim Chambers (der kein philosophischer Geist war) siehe Darnton 2009 (orig. 1984), 191−213: „Philosophers Trim the Tree of Knowledge: The Epistemological Strategy of the Encyclopédie“. Besonders schließe ich mich Darntons Bemerkungen an, die davor warnen, die eklektischen (oder, wie er meint, sogar inkonsistenten) epistemologischen Behauptungen von d’Alembert als Zeichen dafür zu werten, dass d’Alembert diskreditieren wollte, was er sagte (203 f.). In diesem brillanten Essay vermisst man jedoch eine Diskussion der bemerkenswerten philosophischen Unterschiede zwischen Diderot und d’Alembert, auch wenn diese in ihrem späteren Leben immer deutlicher hervortraten; außerdem halte ich den Vergleich zwischen Bacons und d’Alemberts System des Wissens für nicht hinreichend detailliert. 62  Der französische Text ist am Anfang des ersten Bandes des Nachdrucks der Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1969) zu finden, leichter zugänglich jedoch in Alembert/Groult 1999, wo jedoch nicht die Übersichtsgrafik enthalten ist. Eine exzellente, mit Anmerkungen versehene englische Übersetzung ist Alembert/ Schwab 1995. (Die Übersichtsgrafik auf S. 144 hat die „Architektur“ ausgelassen.) Ich gebe zuerst die Seitenzahlen der Übersetzung an und füge danach die Seitenzahl der Edition von Groult an. Wenn ich nur eine Seitenzahl anführe, beziehe ich mich auf die Übersichtsgrafik. 63  In der englischen Version enthalten die Seiten 143−164 Diderots Text; in Groults Edition die Seiten 171−188.

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systematischen Geistes, der gutgeheißen, und eines Geistes des Systems, der verurteilt wird (22 f./83, 94 f./135 f.), obwohl d’Alembert zur selben Zeit auf eine monistische Erklärung des Universums als „einer großen Wahrheit“ (29/88) hofft; die leidenschaftliche Verteidigung der Hoheit und überlegenen Nützlichkeit der mechanischen Künste (40 ff./96 ff., 122 ff./153 ff.), denen so viele Bildtafeln der Enzyklopädie gewidmet sind; und die profunden Reflexionen über den Preis, den man für den Verlust des Lateinischen als wissenschaftlicher Universalsprache zu zahlen hat (92 f./134). Ich werde mich hier auf den „genealogischen oder enzyklopädischen Baum“ konzentrieren, „der die verschiedenen Zweige des Wissens von einem einzigen Standpunkt zu fassen vermag und dazu dienen wird, deren Ursprung sowie ihre Verhältnisse untereinander anzuzeigen“ (45 f./99). Zwei Aspekte sind hier entscheidend. Erstens ist sich d’Alembert weit mehr als seine Vorgänger der Tatsache bewusst, dass seine Untergliederung nur eine unter vielen möglichen anderen ist. Da für ihn nur einzelne Gegenstände real sind, gibt es mehrere gleichermaßen gerechtfertigte Arten, allgemeine Gesichtspunkte von ihnen zu abstrahieren. Der Baum solle nicht die Aufmerksamkeit vom Studium der Einzeldinge ablenken (48 f./101 f.; 58 f./109 f.). D’Alembert hat keine Theorie natürlicher Arten; daher kann er weder zu seiner eigenen Zufriedenstellung noch zu der des Lesers erklären, warum manche Unterteilungen plausibler als andere sein sollen. Zweitens lehnt d’Alembert trotzdem bewusst eine Gliederung ab, die auf der historischen Entwicklung der Wissenschaften beruht. Denn diese Entwicklung ist abrupt und unordentlich; und in ihr tritt eine so grundlegende Disziplin wie die Logik recht spät auf (30/89; 46 f./100). Mit seinem Baum möchte er aber „eine Art von Weltkarte“, „une espece de Mappemonde“, vorlegen, während die Artikel einzelne Länderkarten sind (47/101). In diesen Kontext gehört auch d’Alemberts Bezugnahme auf Bacon (50/ 102), die Gründergestalt in der Reihe derjenigen Genies, die später als Geburts­ väter der Moderne gefeiert werden (74 ff./120 ff.; 87 f./130 f.). Aber trotz dieses Bedürfnisses, „dem unsterblichen Kanzler Englands“ zu folgen, unterscheidet sich d’Alemberts Baum des Wissens mehr von demjenigen Bacons, als er dies im „Discours“ explizit macht, würde es doch, wie Diderot am Ende bemerkt, „zu lange dauern“, all diejenigen Gründe im Detail zu erklären, aus denen er von dessen Modell abwich (159/183) – Gründe, die überdies nur Philosophen angemessen beurteilen können (164/187 f.). Ich will nun versuchen, die Hauptunterschiede zwischen diesen beiden Bäumen zu benennen. Erstens gibt es bei d’Alembert keine Art von göttlichem Wissen, die dem menschlichen Wissen irgendwie entspräche. Dies lässt sich aus den kritischen Zweifeln erklären, die im 18. Jahrhundert sowohl in Bezug auf die Inhalte der Offenbarung als auch auf das Phänomen der Offenbarung als solches aufgekommen sind –

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teils aufgrund der historischen Bibelkritik. Zwar gibt es eine unterwürfige Anspielung auf die geoffenbarte Religion (26/85 f.), aber deren Bedeutung ist, wie wir sehen werden, doch drastisch reduziert. Zweitens: Obwohl d’Alembert Bacons Unterteilung der Künste und Wissenschaften in auf Erinnerungsvermögen, Vorstellungsvermögen und Vernunft beruhende akzeptiert, kehrt er die Ordnung der beiden letzteren um. Das Vorstellungsvermögen, so wird erklärt, bringt Erinnerungsvermögen und Vernunft zusammen – und die Vernunft wird gerade in ihren abstraktesten Operationen, der Metaphysik und Geometrie, ihrerseits vorstellend (51 f./103 f.). Drittens: Während bei Bacon nur die Dichtung an das Vorstellungsvermögen gebunden ist, findet sie sich diesbezüglich bei d’Alembert in der Gesellschaft der anderen schönen Künste (51/103; 55/106). Dies ist das Ergebnis eines langen Prozesses, der im 16. Jahrhundert begann und im 18. Jahrhundert vollendet wurde – ein Prozess, der schließlich zur Trennung von Architektur, Skulptur, Malerei und Graphik sowie Musik und Dichtung sowohl von den mechanischen Künsten als auch den Wissenschaften führte – und zu ihrer gemeinsamen Eingliederung in eine eigenständige Gruppe (156 f./181)64. Die erzählende und darstellende Dichtung ist weiter untergliedert (144); die Oper war Bacon noch unbekannt und der Roman hatte gerade erst seinen Aufschwung erfahren. Viertens: Was die Untergliederung der Geschichte und der Philosophie angeht, hält d’Alembert an der großen Kette der Wesen fest und zeigt sich daher irritiert davon, dass in Bacons Gliederung der Philosophie die Naturphilosophie zwischen göttlicher und Humanphilosophie vermittelt. Er kehrt die Ordnung um, die wir bei Lullus fanden, und hebt mit Gott an, unterhalb welchem die Offenbarung die Existenz geistiger Wesen lehrt (der Satz macht klar, dass d’Alembert nicht wirklich an Engel glaubt), beschäftigt sich dann mit dem Menschen, der als Seele und Leib zusammengesetzt ist, und zuletzt mit der Natur65. Deshalb beginnt er auch mit der heiligen Geschichte, die – basierend auf der Offenbarung – von der Kirchengeschichte, die auf Tradition basiert, unterschieden ist66. Außerdem wird die Geistesgeschichte, zusammen mit der eigentlichen politischen Geschichte, der politischen Geschichte in einem weiteren 64  Vgl. Kristeller 1951 und 1952. Man beachte, dass die „praktische“ Architektur und Skulptur immer noch unter den Künsten, Handwerken und Manufakturen aufgeführt sind (145; 148/173). 65  Die Umkehrung ist allerdings nicht vollständig, da Vegetabilien und Tiere wie auch Menschen und Sterne in beiden Bäumen dieselbe Stellung einnehmen. 66  In der Übersichtsgrafik am Ende scheinen die beiden denselben Rang wie die politische und die Naturgeschichte einzunehmen; aber in der „Detaillierten Darstellung“ werden sie unter die heilige Geschichte in einem weiteren Sinne subsumiert (143/171).

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Sinne subsumiert, welche „die großen Nationen und die großen Genies“ umfasst (53/104). Die Naturgeschichte ist wie bei Bacon in die Gleichförmigkeit der Natur, Abweichungen im Naturverlauf und Künste, Handwerke und Manufakturen als Gebrauchsformen der Natur unterteilt, welche, wie bei Bacon, immer noch mit den Irrungen und Abweichungen des Naturverlaufs verbunden werden (147/172). Der dritte Teil ist, fünftens, weitaus umfangreicher; die Übersichtsgrafik am Ende listet nicht einmal alle Handwerkskünste auf, sondern schließt mit einem „etc.“, weil angenommen wird, es gebe mehr als 250 (144; 147 f./173). Die ersten beiden Teile beschäftigen sich mit der Geschichte des Himmels, der Meteore, von Erde und Meer, von Mineralien, Vegetabilien, Tieren und – seltsamerweise – den Elementen ganz am Ende. Erwähnenswert ist, dass die Geschichte des Himmels (im Abschnitt über die Gleichförmigkeit der Natur) typographisch vom Rest abgehoben ist; vielleicht nur deshalb, weil im französischen Original alle anderen Charakterisierungen mit „des“ beginnen, vielleicht aber auch, weil d’Alembert, darin den Griechen nicht unähnlich, eine besondere Bewunderung für das großartige Spektakel empfindet, das die Astronomie uns vor Augen führt (21/82). Seine Gliederung scheint in jedem Fall vorauszusetzen, dass die Sterne einen höheren Platz in der scala naturae besetzen als die Organismen, auch wenn der Mensch, der höher als die Natur steht, selbst ein Organismus ist. Die in der Vernunft begründete Philosophie hat vier Teile: einen allgemeinen, nämlich Ontologie oder Metaphysik, welche die Wissenschaft von der Möglichkeit einschließt (149/174), und drei besondere: Theologie67, die Wissenschaft vom Menschen und diejenige von der Natur. Man beachte, dass d’Alembert, sechstens, einen Begriff von Metaphysik hat, der dem aristotelischen weit mehr ähnelt als demjenigen Bacons (der diese Disziplin ja der Naturphilosophie unterordnet), obwohl er sie anders als Aristoteles nicht mit der Theologie identifiziert. D’Alembert erkennt, wohl nur der Form nach, sowohl natürliche als auch Offenbarungstheologie an und versteht die Offenbarungstheologie als eine Anwendung der Vernunft auf diejenigen Tatsachen, die durch die heilige Geschichte gegeben sind. Seine Kritik an Bacon, dass „die Abtrennung der Theologie von der Philosophie gleichbedeutend damit wäre, den Sprössling von seinem Stamm abzuschneiden, mit dem er durch seine eigene Natur vereint ist“ (54/105), ist schwach, da ja die Philosophie 67  In der „Detaillierten Darstellung“ gehört die Theologie, zusammen mit der Lehre von den Engeln und Dämonen sowie der Wissenschaft von der Seele, zur Pneumatologie (149/ 174 f.). Es ist seltsam, dass die Übersichtsgrafik, obgleich ebenfalls von Diderot verfasst, näher am Text des eigentlichen „Discours“ liegt. Hat er diese Grafik gezeichnet, bevor er seinen eigenen Text geschrieben hat?

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gemäß seiner eigenen Systematik des Wissens einer der drei Äste ist, nicht der Stamm. Die Übersicht am Ende erwähnt nur in diesem speziellen Fall einen Missbrauch, nämlich „Aberglauben“ (144, 149/175). Da in d’Alemberts System der Mensch vor der Natur kommt, ist sein Körper nicht unter der Wissenschaft vom Menschen aufgeführt; was diesen Punkt betrifft, erweist sich d’Alembert als ein echter Erbe des Descartes, während Bacon näher an Aristoteles bleibt. In Bezug auf den Geist folgt d’Alembert Bacon darin, dass er eine Wissenschaft von der Seele (Pneumatologie) annimmt – und zudem eine Wissenschaft ihrer Operationen, die unterteilt ist in Logik und Ethik. Die Logik hat ihrerseits nur drei Teile, weil die Kunst der Erfindung wieder verschwunden ist. Die Kunst des Denkens schließt die Erfassung von Ideen, die Beurteilung von Propositionen, die Argumentation und die Methode ein; die Kunst der Erinnerung ist kaum anders gefasst als bei Bacon; die Kunst der Vermittlung befasst scharfsinnigerweise nicht mehr die Logik, sondern nur noch Grammatik und Rhetorik unter sich. Philologie, Kritik und Pädagogik sind Teile der Grammatik. Die Ethik hat einen allgemeinen und einen besonderen Teil, wobei letzterer die Wissenschaft vom Recht oder die Jurisprudenz ist, die ihrerseits noch einmal in einen natürlichen, ökonomischen und politischen Teil zerfällt. Bemerkenswert ist, wie „ökonomisch“ nun eine zweite Bedeutung erhält. Zunächst erläutert uns d’Alembert, dass sie die „Wissenschaft von den Pflichten eines Menschen ist, sofern er Familienmitglied ist“; da aber Gesellschaften nicht weniger tüchtig als Individuen sein sollen, erwähnt er auch den Innen- und Außenhandel über Land und Meer (151/176). Ökonomie ist hier nicht mehr, wie noch bei Vico, die Lehre vom Haushalt, sondern diejenige Disziplin, die heute als Sozialwissenschaft gelehrt wird – auch wenn Adam Smiths große Synthese The Wealth of Nations erst im Jahr 1776 erschien. Der Aufstieg der Ökonomie als Wissenschaft hatte zur Voraussetzung, dass man verstand, dass es Gesetze der sozialen Welt gibt, die nicht auf individuelle Absichten zu reduzieren sind und manchmal sogar diesen zuwiderlaufen – eine Einsicht, zu der Vico in bemerkenswerter Weise beigetragen hat. Aber erst im 19. Jahrhundert wird dies zu einer Emanzipation der Sozialwissenschaften von der Ethik führen, zu der sie in d’Alemberts Baum immer noch gehören. Die Naturwissenschaft beginnt mit einem allgemeinen Teil, der unterteilt ist in eine Metaphysik der Körper, die sich mit Eigenschaften wie z.B. der Undurchdringlichkeit und deren Messung durch die Mathematik befasst; diese wiederum besteht aus reiner, gemischter und Physiko-Mathematik, in welchen Quantität für sich allein, in realem Seienden bzw. in deren Wirkungen betrachtet wird. Wie schon bei Bacon – und so anders als bei Platon – ist Mathematik keine autonome Wissenschaft, sondern eine Subdisziplin der Naturwissenschaften. Natürlich erhöht sich die Anzahl mathematischer Disziplinen bei d’Alembert (77/122) dadurch, dass er

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die Algebra und die Infinitesimalrechnung hinzuzählt (152 f./177 f.), aber auch Militärarchitektur und Taktik werden zur reinen Mathematik gerechnet (145). Die gemischte Mathematik umfasst Mechanik, geometrische Astronomie, Optik, Akustik, Pneumatik und die Analyse von Glücksspielen. Die besondere Physik schließlich ist nicht entlang der Eigenschaften ihrer Gegenstände strukturiert, sondern nach dem subjektiven Kriterium, was „für uns wissenswert“ ist (55/106). In der Übersichtsgrafik kommt die Zoologie, unter die auch die Medizin gerechnet wird, zuerst und ist von der Botanik durch physikalische Astronomie, Meteorologie und Kosmologie getrennt, wobei Mineralogie und Chemie ganz am Ende folgen. In der „Detaillierten Darstellung“ aber kommen Zoologie und Medizin nach Astronomie, Meteorologie, Kosmologie (welche unter anderem Geologie und Hydrologie umfasst), Mineralogie und Botanik, deren Zweige Landwirtschaft und Gärtnerei sind. Die Chemie bleibt auch in dieser Ordnung auf dem letzten Platz – ist sie doch „die Nachahmerin und Rivalin der Natur“ (155/180). 4 Soweit ich sehe, rühren die beiden letzten großen Versuche, eine enzyklopädische Übersicht über alle Wissenschaften zu gewinnen, von zwei sehr verschiedenen Philosophen her: Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Auguste Comte. Ihre philosophischen Positionen sind in weiten Teilen unvereinbar: Hegel entwickelt eine Alternative zum Begriffsempirismus, wohingegen Comtes Positivismus auf Erfahrung als letztgültiges Kriterium verpflichtet ist. Und doch teilen sie nicht nur eine grundsätzliche enzyklopädische Ambition, sondern zugleich lehnen beide Bacons und d’Alemberts Versuch ab, die Gliederung der Wissenschaften nach Maßgabe der menschlichen Vermögen vorzunehmen68. Stattdessen wollen sie die verschiedenen Wissenschaften den verschiedenen Ordnungen der Phänomene selbst koordinieren – und beide wollen dabei von den einfacheren zu den komplexeren fortschreiten, welche die früheren voraussetzen, ohne selbst von diesen schon vorausgesetzt zu sein. Hegels 68  Comte nennt diese Versuche „par cela seul radicalement vicieuses“, also „schon aus diesem Grund allein von Grund auf fehlerhaft“ (Auguste Comte, Philosophie des sciences, ed. J. Grange [Paris: Gallimard, 1996], 86). Diese Ausgabe enthält nur die ersten beiden Vorlesungen des Cours de philosophie positive; aber diese sind auch die einzigen, die mich in diesem Kontext interessieren. Obwohl Comte a priori-Klassifikationen zurückweist (88), betrachtet er seine eigene Untergliederung als eine Alternative zu einer rein empirischen (112).

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enzyklopädisches Interesse schreibt sich von Immanuel Kants philosophischer Revolution her. Sicher waren Kants Interessen weit eher fundierungstheoretischer als enzyklopädischer Natur. Er zerstörte die in der Leibniz-Wolff’schen Schule verbreitete systematische Gliederung des Wissens von Grund auf und korrigierte sogar seine eigene Vorstellung davon, wie Philosophie untergliedert sein müsse, im Jahrzehnt zwischen 1781 und 1790 (als er seine erste Kritik veröffentlichte, träumte er noch nicht einmal von einer dritten). Und doch sind die enzyklopädischen Interessen des Deutschen Idealismus im Kapitel „Die Architektonik der reinen Vernunft“ am Ende der ersten Kritik antizipiert69. Die auf Kant zurückgehenden geistigen Veränderungen sind vor allem die folgenden: Gegen den Empirismus britischer Provenienz argumentiert Kant für synthetisch-apriorisches Wissen und vertritt vor allem offensiv, dass die Ethik eine autonome Fundierung in einem formalen Gesetz haben müsse und nicht auf eine Klugheitslehre davon, wie man glückselig wird, reduziert werden dürfe. Und so ist es auch sein Anliegen, scharf zwischen apriorischen und aposteriorischen Elementen menschlichen Wissens zu unterscheiden, das seine Gliederung der Wissenschaften am offenkundigsten von derjenigen Bacons und d’Alemberts unterscheidet. Metaphysik wurde Kant zufolge fälschlicherweise als eine Wissenschaft von den ersten Prinzipien verstanden. Dies führt nicht nur deshalb in die Irre, weil uns eine solche Definition noch keinerlei Kriterium gibt, anhand dessen wir erste und zweite Prinzipien voneinander unterscheiden können, sondern auch deshalb, weil das eigentliche Definiens der Metaphysik ihr apriorischer Ursprung und nicht die Ausdehnung ihrer Gegenstände sein muss70. Das dritte Kapitel der „Transzendentalen Methodenlehre“ der Kritik der reinen Vernunft bestimmt die Architektonik als die Kunst, ein System zu konstruieren. Ein System wird als Gegenteil eines bloßen Aggregats vorgestellt und mit einem Organismus verglichen. Obzwar es wachsen kann, müssen die inneren Proportionen dieselben bleiben; das Fehlen eines einzigen Glieds würde sich unmittelbar bemerkbar machen, die Hinzufügung eines neuen würde unterbunden werden. Kant unterscheidet außerdem zwischen einer technischen und einer architektonischen Einheit; die erste gibt uns ein bloß empirisches und daher zufälliges Schema, die zweite hingegen hat ihren Grund in einer Idee71. Der Begründer einer Wissenschaft braucht keinen bewussten Begriff von dieser Idee zu haben, solange er sich tatsächlich an ihr orientiert. Es ist aber nicht nur so, dass jede Einzelwissenschaft 69  Siehe auch den Anfang des § 79 der Kritik der Urteilskraft, B 364. 70  Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 870 ff./A 842 ff. 71  B 861/A 833. Zur Gegenüberstellung von technisch und architektonisch vgl. B 875/A 847 und Kritik der Urteilskraft B 305.

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auf eine systematische Form drängt; vielmehr bilden alle Wissenschaften zusammen ihrerseits ein System, bringen also eine ihnen zugrundeliegende Idee zur Entfaltung. Kant ist hier nur an dem System der reinen Vernunft interessiert, d.h. eines der beiden Stämme, die von der Wurzel unserer Erkenntniskraft herrühren72. Sodann unterscheidet er, recht ähnlich wie Bacon, zwischen his­ torischer und rationaler Erkenntnis. Für Kant hat diese Unterscheidung aber nur mit der Art der subjektiven Aneignung zu tun: Wer ein philosophisches System auswendig lernt und sogar, wie ein Papagei, dessen Beweisgänge aufsagen kann, hat nur historisches Wissen von ihm. Die nächste Unterteilung ist diejenige zwischen Philosophie und Mathematik; die erste beschäftigt sich mit Begriffen, die zweite mit deren Konstruktion. An der Philosophie selbst wird deren Schul- und ihr Weltbegriff unterschieden. Philosophie im letzteren Sinne kommt die Aufgabe zu, alles Wissen auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft hinzuordnen, deren Gesetzgeber sie wird – eine Aufgabe, die an die der königlichen Kunst aus Platons Euthydemos erinnert. Unter den wesentlichen Zwecken gibt es nur einen einzigen Endzweck, nämlich die Bestimmung des Menschen; und es ist die Moralphilosophie, die ihr gewidmet ist. Sie handelt von dem, was sein soll, und ist darin der Naturphilosophie, die sich mit dem, was ist, befasst, entgegengesetzt, auch wenn beide zu einem einzigen philosophischen System gehören. Die scharfe Trennung „normativer“ und „deskriptiver“ Disziplinen, wie wir es heute ausdrücken würden, ist etwas Neues und für Kant sehr Charakteristisches. Orthogonal zu dieser Aufteilung ist die Unterscheidung reiner und empirischer Philosophie. Kants Interesse liegt in der erstgenannten, welche er weiter in eine Propädeutik, also das Geschäft der Kritiken, und Metaphysik im eigentlichen Sinne unterteilt, wobei diese noch einmal in eine Metaphysik der Natur und eine Metaphysik der Sitten zerfällt; letztere darf jedoch nicht die Anthropologie zu ihrer Voraussetzung haben, da diese zur empirischen Philosophie zu zählen ist. Die Metaphysik der Natur kennt vier Teile, von denen aber nur die ersten beiden wirkliches Wissen darstellen; aber soweit Scheinwissen ein notwendiger Spross der Vernunft ist, will Kant es in seinen Baum des Wissens eingeschlossen wissen – und ist in dieser Hinsicht ziemlich ungewöhnlich73. Die letzten beiden Äste beschäftigen sich daher mit dem illegitimen Gebrauch der Vernunft und führen zur rationalen Kosmologie und Theologie: Erstere betrachtet den inneren Zusammenhang der Gegenstände der Erfahrung, die zweite hingegen einen äußeren. Die beiden legitimen Zweige sind die Ontologie, die sich mit Gegenständen überhaupt befasst, und die rationale Physiologie, die es mit 72   Kritik der reinen Vernunft B 863/A 835. Zur Stamm-Metapher siehe B 29. 73  Vgl. B 869/A 841.

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gegebenen Gegenständen zu tun hat. Diese teilt sich noch einmal in rationale Physik und rationale Psychologie auf: Der Gegenstand der ersteren ist durch den äußeren Sinn zugänglich, derjenige der zweiteren durch den inneren. Es ist nicht schwer, Hegels System, wie es sich in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften in den drei Auflagen 1817, 1827 und 1830 dargestellt findet, an diese letzte Unterteilung zurückzubinden. Hegels Hauptwerk bietet keine Ordnung aller Wissenschaften überhaupt an, sondern eben nur der philosophischen Wissenschaften, d.h. Subdisziplinen. Aber da jede einzelne philosophische Wissenschaft die Prinzipien einer Einzelwissenschaft begründet und es keine legitime Einzelwissenschaft geben kann, die ohne eine solche philosophische Begründung auskommt, kann dieser Unterschied für unsere Zwecke außen vor bleiben. Ähnlich wie bei Kant hat Hegels Wissenschaft der Logik – unter anderem – Eigenschaften von Gegenständen überhaupt zum Thema, die Philosophie der Natur die Natur, die Philosophie des Geistes den Geist. Dabei sind nun folgende Differenzen so weitreichend, dass besagte Analogien zwischen Kant und Hegel leicht übersehen zu werden drohen: Erstens hat Hegel nichts, das mit Kants propädeutischem Teil zu vergleichen wäre, da er den Versuch, Wissen vorweg, d.h. bevor man sich selbst auf ein Wissen verpflichtet, einer Untersuchung unterziehen zu wollen, für selbstwidersprüchlich hält74. Zweitens: Hegel gebraucht dreigliedrige Unterteilungen, Kant zieht zweiteilige vor. Bekanntlich soll in Hegels Dialektik der Gegenstand, der der dritten Kategorie entspricht, aus der Entäußerung, die durch die zweite repräsentiert wird, zur Einheit der ersten zurückkehren – und die eigentümliche Rolle des Geistes innerhalb des Seienden ist genau dies: die idealen Strukturen, die der Natur zugrunde liegen, zu erfassen (§ 18). Diese Struktur ermöglicht es Hegel, Menschen als sehr spezielle Organismen zu verstehen. In seiner Ordnung der Wissenschaften kommt er Aristoteles und Bacon näher als d’Alembert, von dem wir gesehen haben, dass er die Geistes- vor den Naturwissenschaften abhandelt. Auch wenn Hegel keine Theorie der Evolution hat, ist es problemlos möglich, eine solche in sein System einzuzeichnen. Hegel ist jedoch gleichzeitig darauf verpflichtet, dem Geist eine spezielle Rolle zuzuerkennen: Menschen haben das Vermögen, sich zur Ebene der Normativität zu erheben, was bedeutet, dass sie sich explizit auf das Reich des Logischen beziehen können. Hegels Dreigliederung weist eine gewisse Affinität zu Gottlob Freges Unterscheidung von Gedanken, Dingen der Außenwelt und Vorstellungen auf, wie dieser sie in seinem Aufsatz Der Gedanke entwickelt hat.

74   Enzyklopädie § 10 Anmerkung. Sofern nicht anders vermerkt, beziehe ich mich auf die letzte Auflage (1830).

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Drittens: Hegels Wissenschaft der Logik vereint einige recht verschiedene Funktionen in sich. Sie gibt vor, wie die aristotelische Metaphysik die Bestimmungen des Seienden als solchen zu untersuchen, bevor dieses in Natur und Geist ausdifferenziert ist, enthält aber zugleich eine Art formaler Logik. Tatsächlich kann Hegel beanspruchen, eine der ersten Alternativen zum Psychologismus anzubieten, der unter diesem Namen zwar erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkam, tatsächlich aber die Verortung der Logik bei Bacon und d’Alembert charakterisiert. (Bei Aristoteles blieb ihre Stellung unklar, wie wir gesehen haben.) Wie später Husserl in seinen Logischen Untersuchungen, weist Hegel die Idee, dass die Logik eine Subdisziplin der Psychologie sei, scharf zurück: Schlüsse etwa beziehen sich auf das Seiende als solches und müssen daher eng mit der Metaphysik zusammengedacht werden. Gleichzeitig sind Begriff, Urteil und Syllogismus nicht nur Kategorien der Wissenschaft der Logik (§§ 163 ff.), sondern treten erneut in der Philosophie des Geistes auf – nun allerdings als die geistigen Vermögen und Vollzüge, die diese logischen Strukturen erfassen (§ 467). Die Wissenschaft der Logik hat noch zwei weitere Funktionen: Sie ist eine Theorie über die Bedingungen der Möglichkeit aller Theorien, sich selbst eingeschlossen; so ist sie ein reflexiv transzendentales Werk. Und sie beansprucht, eine Lehre von den Attributen des Absoluten zu sein (§ 86), also eine Form von rationaler Theologie. (Da Hegel ein Panentheist ist, behandeln all seine Disziplinen irgendwie Gott. Deshalb schreibt er, dass die Wissenschaft der Logik Gottes Wesen vor der Schöpfung zum Thema hat.)75 Es mag überraschen, dass Hegel diese vier verschiedenen Aufgaben in einer einzigen Disziplin zusammenführen will – und tatsächlich muss man Zweifel daran haben, ob Hegels Wissenschaft der Logik eine gangbare Disziplin ist. Und doch hat Hegel gute Gründe wie auch berühmte Vorgänger für sein Vorhaben. Wie d’Alembert und Kant lässt er keinen Raum für Offenbarungstheologie; wir werden aber sehen, dass er eine Religionsphilosophie hat, welche sich unter anderem mit dem Glauben an Offenbarung befasst. Doch diese Religionsphilosophie gehört zur Philosophie des Geistes und ist scharf von philosophischer Theologie zu unterscheiden. Während Bacon und d’Alembert zwischen der Ersten Philosophie bzw. Metaphysik auf der einen und natürlicher Theologie auf der anderen Seite unterscheiden, kehrt Hegel zur aristotelischen Verschmelzung von Metaphysik und Theologie zurück, welche auf der Idee basiert, dass Gott das Sein in seiner höchsten Form sei. Hegel geht noch weiter, da es aus seiner Sicht irreführend ist, zu glauben, Gott sei 75  Einleitung in die Wissenschaft der Logik (Werke 5, 44). Zu den Aufgaben von Hegels Logik siehe Hösle 1987, 61 ff.

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ein bestimmter Gegenstand neben anderen. Gott ist die Vernunft, die sich selbst in der Wirklichkeit manifestiert. Logik und transzendentale Theorie müssen ebenfalls mit der Theologie verschmolzen werden, da sie notwendige Voraussetzungen des Denkens überhaupt und des Denkens über Gott im Besonderen sind; und diese Voraussetzungen können nichts sein, das Gott äußerlich wäre, sondern müssen ein konstitutiver Teil seines Wesens sein. Neben dieser basalen dreigliedrigen Struktur kennt Hegel auch eine zweiteilige Gliederung seines Systems der philosophischen Wissenschaften, nämlich in Logik und die sogenannte Realphilosophie. Denn die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes gleichen einander darin, dass sie es mit realen Gegenständen zu tun haben, die allesamt zeitlich (und die natürlichen auch noch räumlich) verfasst sind, während die Logik ideale Strukturen ohne räumliche oder zeitliche Eigenschaften thematisiert. Durch seine Anerkennung eines solchen idealen Reiches kommt Hegel Platon näher als Bacon und d’Alembert, auch wenn er zugleich die für Kant charakteristische radikale Scheidung von Sein und Sollen ablehnt, da er dafür argumentiert, dass ideale Strukturen die reale Welt tatsächlich durchwalten. Seine Naturphilosophie unterteilt sich in Mechanik, Physik und organische Physik. Interessanterweise nennt Hegel in der ersten Auflage der Enzyklopädie den ersten Teil nicht „Mechanik“, sondern „Mathematik“ – wahrscheinlich, um diese Disziplin in seiner Enzyklopädie auch noch abgedeckt zu haben. Der Wechsel dieses Titels hat wahrscheinlich mit der Einsicht zu tun, dass eher Arithmetik und Infinitesimalrechnung, mit denen sich die Wissenschaft der Logik befasst, Teile der Mathematik sind, während die Geometrie, die nach Hegel den Raum voraussetzt und damit die erste Kategorie der Natur, nicht reine Mathematik ist. Hegel erfasst zwar noch nicht die Unterscheidung zwischen mathematischer und physikalischer Geometrie, doch seine Verknüpfung der Arithmetik – und nicht der Geometrie – mit der Logik kann als ein entfernter Vorgriff auf Freges diesbezügliche Auffassung gewertet werden76. In der zweiten und dritten Auflage hebt die „Mechanik“ mit Raum, Zeit, Bewegung, Trägheit und Gravitation an und endet mit „absoluter Mechanik“, der Basis der Astronomie. Die Physik beschäftigt sich mit konkreteren Phänomenen, wie z.B. dem Licht, dem Klang, der Elektrizität oder chemischen Prozessen – ohne Zweifel der heterogenste und am wenigsten überzeugende Teil der Enzyklopädie, auch weil die entsprechenden wissenschaftlichen Theorien damals noch sehr im Werden begriffen waren. Der stärkste Teil der Naturphilosophie ist die organische Physik. Hegel erkennt – in der Nachfolge sowohl des Aristoteles als auch des Kant der Kritik der Urteilskraft – die eigentümliche Stellung von Organismen an, die er weit 76  Ich beziehe mich auf § 14 der Grundlagen der Arithmetik (Frege 1988, 28 f.).

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höher als die Sterne einstuft77. Nicht nur Botanik und Zoologie, sondern überraschenderweise auch die Geologie haben ihren Platz in Hegels organischer Physik78. Es wäre falsch, das Reich des Mentalen mit dem Gegenstand von Hegels Philosophie des Geistes gleichzusetzen. Denn zum einen spricht Hegel den Tieren nicht das Mentale ab (§ 351), obwohl er bestreitet, dass sie Geist haben; zum anderen schließt seine Philosophie des Geistes soziale Institutionen ein: Obwohl er Vicos Neue Wissenschaft nicht kannte, will Hegel, als großer Bewunderer Montesquieus, diejenigen Disziplinen der sozialen Welt, welche im 18. Jahrhundert emporzukommen begannen, in seine Enzyklopädie integrieren. Hegel gliedert seine Philosophie des Geistes in drei Teile: in den subjektiven, den objektiven und den absoluten Geist. Diejenigen Disziplinen, die sich mit ersterem befassen, nennt er Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie. Sie schreiten von der Seele zum Geist im eigentlichen Sinne fort, dem ein Erkenntnis- und Willensvermögen zukommt. Hegel verortet die Sprache in der Psychologie; auffallend ist in diesem Kontext, dass die Rhetorik fehlt, deren Niedergang im späten 18. Jahrhundert begann – eng verbunden mit dem Aufstieg der Poetik, welche seit Aristoteles als der Rhetorik unterlegen angesehen worden war. Geist im eigentlichen Sinne ist in den theoretischen und praktischen Geist unterteilt (nur in der dritten Auflage fügt Hegel einen dritten Teil hinzu, den er mit „der freie Geist“ betitelt, um seine allgemeine dreigliedrige Struktur einhalten zu können); und es sind die vom praktischen (oder freien) Willen hervorgebrachten sozialen Institutionen, die den objektiven Geist bilden. Hegels Lehre vom objektiven Geist soll verschiedene Disziplinen abdecken: Sie ist eine normative Theorie des Naturrechts, enthält Elemente einer Theorie moralischen Verhaltens, auch wenn sie zugleich die Emanzipation kantischer Moralität von sittlichen Institutionen kritisiert, und bietet eine Theorie der großen sozialen Institutionen: Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat. Besonders wichtig ist die Anerkennung der politischen Ökonomie als einer neuen Disziplin und der Wirtschaft als einer treibenden Kraft der bürgerlichen Gesellschaft (§§ 524 ff.; siehe Philosophie des Rechts § 189). Der schillernde Status zwischen einer normativen und einer deskriptiven Theorie der sozialen Welt ist ohne Zweifel das Hauptproblem dieses Teils der Enzyklopädie. Diese endet mit einer Lehre vom absoluten Geist, der keineswegs einen außerweltlichen Gott bedeutet. Absoluter Geist sind für Hegel diejenigen Akte, durch welche Menschen Sinn im Wesen des Universums zu finden versuchen: Kunst, Religion und Philosophie. Hegel deckt damit 77  Siehe die mündlichen Zusätze zu § 268 und § 341. 78  Zu Hegels Philosophie der Biologie siehe das exzellente Buch von Spahn 2007.

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die modernen Geisteswissenschaften ab, welche die verschiedenen Künste von der Architektur bis zur Dichtung, die verschiedenen Religionen und die Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung studieren – und welchen die deutsche Kultur im späten 18. Jahrhundert besonders zugetan war: Genannt seien hier nur Johann Joachim Winckelmann, Johann Gottfried Herder und die Gebrüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Während die Breite dieser intellektuellen Interessen die provinzielle Engstirnigkeit traditionellen Christentums überwand, liegt ein Unterschied zwischen Hegels Zugang und den wertfreien modernen Geisteswissenschaften darin, dass der absolute Geist seine Fundierung in den logischen Strukturen hat, die in der Wissenschaft der Logik entwickelt werden. Auf deren Basis kann Hegel behaupten, dass das Christentum die höchste Religion sei, auch wenn die Form der Religion selbst niedriger als die der Philosophie steht. Die Geschichtswissenschaft ist für Hegel keine eigenständige Disziplin, da sie nur mit der zeitlichen Entfaltung von Entitäten zu tun hat, die zuallererst von einem systematischen Standpunkt aus zu erfassen sind, bevor ihre Entwicklung begriffen werden kann. Während die Enzyklopädie die Weltgeschichte an das Ende des objektiven Geistes setzt, erörtern Hegels Vorlesungen detailliert auch die historische Entwicklung von Kunst, Religion und Philosophie. Hegels Vertrautheit mit nichteuropäischen Kulturen, die seit dem 16. Jahrhundert studiert worden waren, ist beeindruckend, auch wenn er in seinem System keinen Platz für die Grundlagendisziplin der Hermeneutik hat, die durch seinen Kollegen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher auf ein neues Niveau gehoben wurde. Auch fehlte ihm ein näheres Interesse an Linguistik, welche wiederum dank eines anderen Kollegen, Franz Bopp, in die Lage versetzt wurde, Züge des Verbalsystems der indogermanischen Ursprache zu rekonstruieren, und durch Wilhelm von Humboldt zu einer weitreichenden Kategorisierung aller menschlichen Sprachen gelangte. Im selben Jahr, in welchem Hegel die letzte Auflage seiner Enzyklopädie publizierte, erschien der erste Band von Comtes Cours de philosophie positive (Kurs der positiven Philosophie), welcher eine „Übersichtstafel“, eine Zusammenschau, enthielt, in welcher die Vorlesungen für die folgenden Bände ebenso wie das zugrundeliegende System der Wissenschaften im Detail aufgeführt waren. In der ersten Vorlesung entwickelt Comte sein berühmtes Gesetz der drei Phasen, demgemäß die positive Phase, welche durch die wissenschaftliche Methode und den Glauben an unveränderliche Gesetze gekennzeichnet ist, die theologische und die metaphysische Phase ablöst – sowohl in der individuellen als auch der gesellschaftlichen Entwicklung. Leider jedoch trete diese Entwicklung nicht im selben Tempo in allen Disziplinen auf – und während der Aufschwung der positiven Methode in den Naturwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr zu bändigen sei, seien die Sozialwissenschaften

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immer noch in der metaphysischen oder gar der theologischen Phase befangen. Das letztliche Ziel von Comtes Kurs besteht darin, eine wissenschaftliche soziale Physik vorzuschlagen – doch um dorthin zu gelangen, müssen wir ihren Ort im Baum des Wissens verstehen (die Metaphern von Stamm und Ast werden oft gebraucht: 61, 65, 67, 77, 85). Nur durch ein philosophisches Verständnis der Natur der anderen Wissenschaften hätten wir eine Chance, eine wirklich wissenschaftliche „Soziologie“ zu entwickeln – das ist der Ausdruck, den Comte für besagte neue Disziplin prägt (50)79. Comte begreift, dass die Arbeitsteilung, die so notwendig für den Fortschritt der Wissenschaften ist, auch widrige Effekte hatte, und möchte ihnen entgegenwirken durch die Einführung des generalistischen, positivistischen Philosophen als eines neuen Spezialisten (69). Dessen Übersicht über die Ergebnisse und Methoden der verschiedenen Wissenschaften stelle den einzigen Weg dar, die logischen Gesetze des menschlichen Geistes zu entdecken, die auf Beobachtung gegründet sein müssen – und zwar durch Beobachtung nur mittels des äußeren Sinns, da Comte die von Pierre Maine de Biran favorisierte Introspektion als eine ungültige Methode ablehnt. Denn Beobachtung des eigenen Denkens sei unmöglich, weil Subjekt und Objekt dabei koinzidieren würden, und die Beobachtung der eigenen Leidenschaften werde durch eben diese selbst verhindert (71 ff.). Comte will das Bildungssystem neu strukturieren (75 ff.); er hofft, dass die neuen Generalisten die Entwicklung der Einzelwissenschaften fördern werden (77 ff.); und er erwartet größere gesellschaftliche Stabilität dadurch, dass alle Wissenschaften miteinander in Stimmigkeit gebracht werden (80 ff.). Aber wie ordnet er, in seiner zweiten Vorlesung, die verschiedenen Wissenschaften an, deren Gipfel die Soziologie sein soll? Die erste Unterteilung wird zwischen theoretischen und praktischen Unternehmungen, Wissenschaften und Künsten getroffen (89 ff.). Man beachte, dass „praktisch“ hier eine sehr andere Bedeutung als bei Aristoteles hat; sie entspricht eher derjenigen der von ihm „poietisch“ und später „mechanisch“ genannten Künste. Comte unterstreicht, dass die Existenz menschlicher Technologie nicht mit der Unwandelbarkeit der Naturgesetze konfligiert, wie Bacon und auf seine Weise auch d’Alembert unterstellt hatten. Obwohl er die Nützlichkeit nichtangewandter Forschung verteidigt, erkennt es Comte als Zeichen seiner Zeit an, dass eine dritte Gruppe zwischen theoretischen Wissenschaftlern und anwendenden Handwerkern aufkommt, nämlich die der Ingenieure. Innerhalb der Wissenschaften unterscheidet Comte zwischen allgemeinen Theorien, die 79  Wir wissen heute, dass das Wort bereits ein halbes Jahrhundert vorher gebraucht wurde – nämlich in einem unveröffentlichten Manuskript von Emmanuel Joseph Sieyès (Guilhaumou 2006).

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auf Gesetze aus sind, und Beschreibungen von Einzelgegenständen, womit er gewissermaßen die alte Gegenüberstellung von Wissenschaft und Geschichte fortschreibt. Allgemeine Physiologie auf der einen und Zoologie sowie Botanik auf der anderen Seite sind hier seine Beispiele (94 ff.). Gegenstand des Kurses sind aber nur die allgemeinen Wissenschaften. Aber wie sind sie in eine Ordnung zu bringen? Obwohl er zugleich anerkennt, dass jede Klassifikation etwas Künstliches hat (77, 98), schlägt Comte die wechselseitige Abhängigkeit als Ordnungskriterium vor. Eine solche dogmatische Klassifikation ist, wie Comte in Übereinstimmung mit d’Alembert feststellt, nicht dieselbe wie eine historische, welche sich nach dem faktischen Aufkommen der verschiedenen Disziplinen richtet, auch wenn es gewisse Parallelen zwischen beiden Zugängen gebe (98 ff.). Die dogmatische Klassifikation habe mit denjenigen Phänomenen anzuheben, die einfacher, allgemeiner und abstrakter sind – eine Idee, die schon der Ordnung des Quadrivium (oder besser: Quinquivium) in Platons Politeia zugrunde lag. Für Comte verläuft die erste basale Trennlinie innerhalb des Wirklichen zwischen unbelebter Materie und Organismen; doch die Lehre von ersterer ist ihrerseits aufgeteilt in Astronomie, als eine allgemeinere Disziplin, und die terrestrische Physik, die wiederum aus Physik im engeren Sinne und Chemie bestehe. Die Lehre von den Organismen wird sodann eingeteilt in Physiologie und Verhaltenslehre in Bezug auf Artgenossen; und dieser zweite Teil, die soziale Physik, sei von besonderer Wichtigkeit für den Menschen. Comte schreibt seiner eigenen Klassifikation vier Vorteile zu: Sie entspreche der faktischen Gliederung der Wissenschaften; sie stimme mit deren historischem Aufkommen als exakten Disziplinen überein; sie erkläre, warum die früheren Wissenschaften, die weniger von den anderen abhängig sind als die folgenden, auch präziser seien; und sie stelle einen Kanon für die richtige Erziehung dar. Lediglich am Ende offenbart Comte die größte klaffende Leerstelle seiner Klassifikation: Er ließ bewusst die Mathematik aus, welche nicht Teil, sondern Grundlage der Naturphilosophie sei (120). Damit machen Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Physiologie und Soziologie seine enzyklopädische Strukturformel aus. In jeder einzelnen dieser Disziplinen findet die positivistische Methode eine modifizierte Anwendung, aber innerhalb derselben fundamentalen Wissenschaft (117). Es fällt nicht schwer, die entscheidenden Grenzen von Comtes Entwurf aufzuzeigen. Erstens: Er kann die eigentümliche Differenz zwischen Mathematik und den Naturwissenschaften nicht wirklich fassen; noch weniger hat er in seinem System einen Ort für die Logik oder seine eigene Reflexion auf Wissenschaft. Zweitens: Die Astronomie der Physik und Chemie vorzuordnen, mag zwar im frühen 19. Jahrhundert noch eine gewisse Plausibilität gehabt haben, ist aber unhaltbar, seit die Wissenschaft die chemischen Prozesse

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in Sternen entdeckt hat. Natürlich ist die Astronomie weniger allgemein als die Physik und die Chemie, wie auch die Geologie weniger allgemein ist als die Astronomie. Am eklatantesten fällt jedoch, drittens, das Fehlen der Psychologie auf. Wir haben gesehen, dass dies mit dem schwierigen methodologischen Status der Introspektion zu tun hat. Die experimentelle Psychologie, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts von Denkern wie Wilhelm Wundt und William James entwickelt wurde, hätte wohl Comtes Test bestanden und wäre wohlwollend in sein System integriert worden, solange sie an die Physiologie gebunden bleibt (71). Seine These, dass das soziale Verhalten von Menschen lediglich ein Sonderfall animalischer Sozialität ist, wurde von der Soziobiologie in triumphaler Weise bestätigt; und ohne Zweifel hätte Comte die Darwinsche Revolution mit dem gleichen Enthusiasmus begrüßt wie Herbert Spencer, wenn er nicht schon 1857 verstorben wäre. Viertens: Comte hat kein Äquivalent zu Hegels absolutem Geist – und seine allgemeine Verpflichtung auf die positivistische Methode versperrt ihm den Zugang zu den Eigentümlichkeiten der hermeneutischen Methode, ohne die die Geisteswissenschaften nicht arbeiten können, wie Wilhelm Dilthey in seiner Polemik gegen den Positivismus richtig gesehen hat. Zuzugeben ist, dass Comtes Konzept von Soziologie die Soziologie der Kunst und vor allem der Religion und der Philosophie durchaus umfasst; aber es ist reduktionistisch und trägt den kategorialen Neuartigkeiten, die in dieser Sphäre auftreten, nicht angemessen Rechnung. Die spätere Soziologie vor allem Max Webers kann weit mehr in dieser Sphäre erklären, die nun von der Höhe des absoluten Geistes auf die Ebene der Kultur versetzt wurde; doch der Preis dieser Transformation war, dass die Sozialwissenschaften nun gänzlich von der Ethik getrennt sind wie auch von jeder Sicht auf die Welt, die der Gültigkeit der eigenen Reflexionen noch einen genuinen Platz zuerkennt80. Dieser Aufsatz sollte nur von unserer schwierigen Lage erzählen, keine Lösung anbieten. Comtes und Hegels Systematisierungen unseres Wissens sind und bleiben die ausgereiftesten Leistungen enzyklopädischer Philosophen, Sinn in dem Kosmos der Disziplinen zu finden; während Comtes Versuch sicherlich einfacher und weniger durch metaphysische Annahmen überfrachtet ist als derjenige Hegels, können wir in meinen Augen mehr von Hegel lernen, wenn wir wieder Normativität in den Baum des Wissens injizieren wollen. Denn ein Zugang wie derjenige Comtes ist in grundsätzlicher Weise unfähig, zu erklären, woher Normativität eigentlich rührt (selbst wenn er 80   Zur Entwicklung der wertfreien Sozialwissenschaften siehe meinen Aufsatz „Zur Philosophie der Geschichte der Sozialwissenschaften“, nun in Hösle 1999, 125−165 und 230−233.

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später seine lächerliche Religion der Humanität einführte, um dieses Problem zu lösen). Kein Baumpfleger jedoch sollte vergessen, dass alle Arbeit des Pfropfens tief verdorben ist, die den endgültigen Baum von jeder nennenswerten Verbindung mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse abkapselt – einer Verbindung, die irgendwann einmal den Prozess der Menschwerdung in Gang gebracht hat81. 81  Vorliegender Text ist eine Übersetzung des ursprünglich auf Englisch erschienenen Aufsatzes „How Did the Western Culture Subdivide Its Various Forms of Knowledge and Justify Them? Historical Reflections on the Metamorphoses of the Tree of Knowledge“, publiziert in: Vittorio Hösle (Hg.) (2014): Forms of Truth and the Unity of Knowledge, University of Notre Dame Press, Notre Dame, 29−69; aus dem Englischen übersetzt von Thomas Oehl; Übersetzung durchgesehen und autorisiert von Vittorio Hösle; dem Verlag University of Notre Dame Press sei hiermit herzlich für die Erlaubnis gedankt, diesen Aufsatz in Übersetzung im vorliegenden Band publizieren zu dürfen.

Kant und der „Standpunkt der Sittlichkeit“ Zur Destruktion der Kantischen Philosophie durch Hegel Rolf-Peter Horstmann Hegels Kritik an der kantischen Philosophie ist bekanntlich ebenso umfassend wie grundsätzlich. Umfassend ist diese Kritik in dem Sinne, dass es keinen Bereich der kantischen Philosophie gibt, der von Hegel nicht kritisiert worden wäre: ob es sich um Kants Erkenntnistheorie handelt oder um seine Metaphysikkritik, ob es um seine praktische Philosophie geht oder um seine Theorie der Urteilskraft, ob es sich um Kants Naturphilosophie oder um seine Rechts- und Staatstheorie dreht – Hegel kann und will allen diesen mannigfaltigen Aspekten des kantischen philosophischen Unternehmens kaum etwas Positives abgewinnen. Zwar ist in diese generelle Ablehnung aus unterschiedlichem Anlass das eine oder andere anerkennende Wort eingewoben, doch konstatieren diese anerkennenden Wendungen immer nur ein eingeschränktes Verdienst, einen relativen Wert der kantischen Philosophie. Grundsätzlich ist Hegels Kritik an Kants philosophischen Bemühungen insofern, als sie sich nicht damit begnügt, mit immanenten Einwänden gegen jeweils spezifische kantische Behauptungen vorzugehen, Kants Thesen also gleichsam im Rahmen der von Kant akzeptierten Vorgaben zu destruieren. Sie zielt vielmehr darauf, den gesamten kantischen Ansatz in Frage zu stellen: Es geht Hegel in seiner Auseinandersetzung mit Kant um den Nachweis, dass Kant nicht etwa allein deshalb mit vielen seiner philosophischen Behauptungen scheitert, weil diese nicht einmal durch seine eigenen Prinzipien gedeckt sind, sondern dass dieses Scheitern unmittelbar mit den von Kant in Anspruch genommenen Prinzipien zusammenhängt. Kant-Kritik ist für Hegel daher Prinzipienkritik, und Prinzipienkritik ist für ihn Kritik an grundsätzlich irreführenden Weisen der philosophischen Weltbetrachtung. Mit dem kritischen Zugriff auf die kantische Philosophie reiht sich Hegel einerseits relativ nahtlos ein in die Reihe derjenigen seiner Zeitgenossen, die – wie z.B. Fichte und Schelling – ihre eigenen philosophischen Projekte in kritischer Distanzierung vom kantischen Entwurf auf den Weg gebracht haben. Die gerade gekennzeichnete Art des kritischen Bezugs auf Kant macht jedoch deutlich, dass Hegel andererseits durchaus eigene, von seinen Zeitgenossen nicht betretene Wege der Kant-Kritik beschreitet. Dies zeigt sich vor allem an der unterschiedlichen Rhetorik des Kant- Bezugs bei Fichte und Schelling auf der einen, bei Hegel auf der anderen Seite. Fichte, Schelling und einige ihnen verwandte Geister haben lange Zeit versucht, ihrem Publikum

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_034

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klarzumachen, dass sie sich in ihren philosophischen Bemühungen dem ‚Geist‘ bzw. den ‚Resultaten‘ der kantischen Philosophie verpflichtet fühlen. Sie haben dadurch – aus welchen Gründen auch immer – den Eindruck evoziert, dass ihre eigenen Bemühungen durchaus in den allgemeinen Rahmen der kantischen Philosophie integrierbar sind, dass sie keine echten Alternativen zu einem kantischen Ansatz darstellen. Ganz anders Hegel: er hat es zu keiner Zeit unterlassen, darauf zu insistieren, dass Kant schon im Ansatz irrt, dass es keine Brücke zwischen dem, was er schon früh „die wahre Philosophie“ nennt, und einem Denken unter kantischen Voraussetzungen gibt, dass Kant folgen heißt, die Idee der Philosophie verfehlen und preisgeben. Für Hegel ist insofern immer evident gewesen, dass wahres Philosophieren nur in einer Gestalt auftreten kann, die vollständig anders ist als die, in der sich kantisches Denken und Denken à la Kant formiert. Bedenkt man dazu, was die kantische Philosophie für Hegel repräsentiert, dann wird noch ein weiterer Zug seiner Kritik an Kant auffallend. Kant ist nicht hauptsächlich deshalb ein Gegenstand der kritischen Aufmerksamkeit Hegels geworden, weil er nun einmal der bedeutendste und wirkungsmächtigste Philosoph der für Hegel jüngsten Vergangenheit gewesen ist. Kant ist für Hegel nicht primär deshalb von Interesse, weil die Abgrenzung von ihm zu den unvermeidlichen Ritualen einer philosophischen Generation gehört, die ihre eigene Wirksamkeit im übergroßen Schatten Kants begonnen hat und deren Ziel es sein muss, aus diesem Schatten herauszutreten, wenn sie für die Besonderheit und Neuheit ihres eigenen philosophischen Wirkens Gehör finden will. Wenn überhaupt, dann haben solche mehr zeithistorischen Gesichtspunkte sicher keine dominierenden Motive für Hegels Auseinandersetzung mit Kant abgegeben. Für Hegel ist Kant ein natürlicher philosophischer Gegner aus sehr viel ambitiöseren Gründen: Hegel nimmt Kant mit dessen Anspruch beim Wort, der Vollender der Philosophie der Neuzeit zu sein. Kant, so Hegel, hat es tatsächlich geschafft, ein philosophisches System zu etablieren, das das Beste aus den repräsentationalistischen, eudaimonistischen und szientistischen Elementen macht, denen die neuzeitliche Philosophie hat Rechnung tragen wollen. Die kantische Philosophie ist insofern nicht nur als eine philosophische Position unter manchen anderen von Bedeutung, sie ist vielmehr wichtig als der paradigmatische Ausdruck eines Typs von Philosophie, eben des die Neuzeit dominierenden. Lässt man sich mit diesem Bild von der kantischen Philosophie im Kopf auf eine kritische Auseinandersetzung mit Kant ein, so heißt dies, dass man, indem man kritisch auf Kant zielt, sich gegen eine ganze Tradition und nicht nur gegen eine einzelne Position in dieser Tradition wendet. Hegel will mit seiner Kant-Kritik genau dies: er will einen Typ von Philosophie, eine philosophische Tradition vernichten, die ihre exemplarische

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Form in der kantischen Philosophie gefunden hat. Kant-Kritik unter dieser Perspektive ist daher Kampf gegen das neuzeitliche philosophische Weltbild und seine Grundlagen1. 1 Nun ist es eine Sache, den generellen Anspruch und die leitende Tendenz der hegelschen Kant-Kritik zur Kenntnis zu nehmen, eine ganz andere ist es, Anspruch und Tendenz in der konkreten Auseinandersetzung Hegels mit Kant auszuweisen. Ersteres ist deshalb relativ einfach zu bewerkstelligen, weil Hegel sowohl den Anspruch als auch die Tendenz seiner Kritik oft und gern von seinen frühesten veröffentlichten Schriften an bis in sein Spätwerk hinein zum Ausdruck bringt. Versucht man letzteres, so ist man gut beraten, wenn man sich zunächst des allgemeinen Kontexts vergewissert, in den Hegel seine kritischen Überlegungen stellt. Dies soll hier zunächst geschehen. Hegel hat bekanntlich seine Kant-Kritik eingebettet in sein Konzept von Philosophiegeschichte. Diesem Konzept zufolge ist Philosophiegeschichte die Geschichte der Selbsterkenntnis der Vernunft, da Philosophie nichts anderes als der Prozess der Verständigung der Vernunft über sich selbst sein soll2. Dieser Prozess stellt sich deshalb als ein geschichtlicher dar, weil er ein Entwicklungsprozess in der Zeit ist, in dem die Vernunft durch die Entfaltung der in ihr angelegten Bestimmungen, wie Hegel es nennt: zu sich selbst kommt. In jeder im Laufe der Zeit hervorgebrachten philosophischen Position spricht sich also die Vernunft in einer ihrer Bestimmungen aus. Philosophische Positionen sind insofern allesamt vernünftig. Sie unterscheiden sich nur durch die mehr oder weniger große Beschränktheit, Einseitigkeit und Abstraktheit der Bestimmung, unter der sich die Vernunft in ihnen jeweils zum Ausdruck bringt. Hegel nimmt nun für die Philosophie seiner Zeit, die er mit der kantischen (und jacobischen) Philosophie beginnen lässt, in Anspruch, dass mit ihr der Prozess der Selbsterkenntnis der Vernunft vollendet ist, weil die Vernunft sich in ihr als realisierte Totalität begreift. Die Vernunft hat sich ihrer Realität versichert, indem sie die Realität als vernünftig erkannt hat. Genau dies bezeugt die Geschichte der Philosophie in ausgezeichneter Weise, so Hegel, wenn man sie als eine Geschichte nicht der Irrtümer und Falschheiten, sondern der Einseitigkeiten und partiellen Wahrheiten verstehen lernt. 1  Vgl. zu einigen Details des Bildes vom hegelschen Umgang mit Kant, das hier skizziert worden ist, Horstmann 1995a; 1995b; 1996a. 2  Vgl. dazu Horstmann 1996b.

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In den durch diese Thesen über die philosophische Bedeutung der Philosophiegeschichte bereit gestellten Rahmen passt Hegel auch seine KantKritik ein. Diese Einbindung hat nun allerdings zur Folge, dass Hegel seinen kritischen Umgang mit Kant relativ enge Grenzen setzen muss: Er darf Kants Philosophie nur bis zu einem gewissen Punkt ablehnen; er muss es vermeiden, die kantische Philosophie zur Gänze zu Fall zu bringen. Dieser Zwang steht nun in einer gewissen Spannung, wenn nicht gar in einem direkten Widerspruch zu der eingangs angeführten prinzipienkritischen und weltbilddestruierenden Intention der hegelschen Auseinandersetzung mit Kant. Hegel scheint sich dieser durch die eigenen Vorgaben erzeugten Spannung auch durchaus bewusst gewesen zu sein, wie man der Strategie entnehmen kann, die er bei der Bewertung der einzelnen Teile der kantischen Philosophie verfolgt. Diese Strategie besteht darin, Kant eine ungenügende Einsicht in den wahrhaft philosophischen Gehalt seiner Theorie zu attestieren. Auf diese Weise kann Hegel auf der einen Seite durchaus zugestehen, dass auch der kantischen Philosophie in einem von ihrem Schöpfer nicht realisierten Sinn ein philosophischer Wert beizumessen ist. Dieses Zugeständnis dient der Wahrung seines Interesses, Kant in sein Konzept von Philosophiegeschichte integrieren zu können. Zugleich erlaubt ihm diese Strategie, auf der anderen Seite darauf zu insistieren, dass Kants Philosophie schon im Ansatz deshalb scheitert, weil Kant einen systematisch irreführenden Zugriff auf die zentralen Elemente seiner eigenen Theorie nur zu deutlich zur Schau stellt: Kant, so Hegel in der seiner Zeit verpflichteten Terminologie, behandelt die Vernunft mit dem Verstand. Dieses Muster zieht sich wie ein roter Faden durch Hegels Kant-Kritik in allen ihren Teilen. Für Hegel ist das kantische philosophische System durch die Abfolge der drei Kritiken inhaltlich bestimmt, d.h. für Hegel besteht Kants philosophisches Werk aus der theoretischen und der praktischen Philosophie sowie der Theorie der Urteilskraft. Auf jeden dieser Teile meint Hegel sein kritisches Muster applizieren zu können. So ist das Kernstück seiner Kritik an Kants theoretischer Philosophie die Behauptung, dass Kant zwar mit seiner Idee von der transzendentalen Einheit der Apperzeption eine im Prinzip wahrhaft philosophische Einsicht zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie und seiner Metaphysikkritik gemacht habe, dass er aber mit dieser Einsicht letztlich nichts habe anfangen können, weil er der Idee der transzendentalen Einheit der Apperzeption eine vollständig einseitige subjektivistische Deutung gegeben habe, die nur in philosophisches Chaos habe führen können3. Ähnlich 3  Vgl. dazu das Kapitel über Hegels Kritik an Kants Kategorienlehre in Horstmann 1997, 181–199.

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unerfreulich für Kant ist die hegelsche Diagnose des Schicksals der kantischen praktischen Philosophie. Auch hier hält Hegel dafür, dass Kants Vorstellungen über Freiheit und Willensautonomie einen echten philosophischen Sinn anzeigen, der sich allerdings bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt in den formalistischen und tautologischen Grundsätzen seiner ethischen Theorie4. Und was schließlich die Theorie der Urteilskraft betrifft, so sieht Hegel auch bei diesem Teilstück der kantischen Philosophie wenig Veranlassung, seine kritische Strategie zu überdenken: in diesem Kontext sind es die von Kant immerhin erwogenen Vorstellungen eines intuitiven Verstandes bzw. einer intellektuellen Anschauung, denen Hegel philosophische Fruchtbarkeit attestiert. Zugleich jedoch insistiert er darauf, dass Kant mit diesen Vorstellungen schlichtweg nichts Vernünftiges habe anfangen können5. Kurz und gut: Hegel unterstellt der kantischen Philosophie in allen ihren Teilen einen durchaus unphilosophischen Umgang mit eigentlich philosophiefähigen Ideen. 2 In dieses Bild von der hegelschen Kant-Kritik passt nun eine Bemerkung schlecht, die Hegel ganz am Ende der Einleitung in die Grundlinien der Philosophie des Rechts macht. Dort heißt es im Zusammenhang einer eher belanglosen Bemerkung zu den Termini ‚Moralität‘ und ‚Sittlichkeit‘: Moralität und Sittlichkeit, die gewöhnlich etwa als gleichbedeutend gelten, sind hier in wesentlich verschiedenem Sinne genommen. Inzwischen scheint auch die Vorstellung sie zu unterscheiden; der Kantische Sprach­ gebrauch bedient sich vorzugsweise des Ausdrucks Moralität, wie denn die praktischen Prinzipien dieser Philosophie sich durchaus auf diesen Begriff beschränken, den Standpunkt der Sittlichkeit sogar unmöglich machen, ja selbst sie ausdrücklich zernichten und empören6. Diese sowohl in dem gedruckten Text der Philosophie des Rechts als auch in allen bisher bekannten Nachschriften der hegelschen Vorlesungen über Rechtsphilosophie von Hegel selbst vollständig unkommentiert gebliebene Bemerkung irritiert deshalb, weil Hegel hier allem Anschein nach behauptet, es gäbe einen Bereich der kantischen Philosophie, der sich nicht etwa nur 4  Vgl. zu diesem Aspekt der hegelschen Kant-Kritik Wildt 1982, 27–194 und Siep 1992, 182–194. 5  Vgl. zu diesem Thema die Arbeiten in Fulda 1990. 6  Hegel, GW 14, § 33 Anm.

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durch eine unphilosophische Einstellung zu einem eigentlich philosophiefähigen Gehalt auszeichnet, sondern der vielmehr seinen Gegenstand so thematisiert, dass ein wahrhaft philosophischer Begriff von ihm erst gar nicht möglich ist. Da der von Hegel in seiner Bemerkung erwähnte Standpunkt der Sittlichkeit der ist, von dem aus hauptsächlich die Inhalte der traditionellen politischen Philosophie angesprochen werden, scheint Hegel also der kantischen politischen Philosophie jeden auch nur potentiellen philosophischen Wert abzusprechen. Sollte dies der Fall sein, würde Hegels Kant-Kritik in Sachen politische Philosophie sehr viel harscher ausgefallen sein als seine Kritik an den Hauptteilen der kantischen Philosophie. Die Frage ist, ob und, wenn ja, wie Hegel dieses harsche Urteil über die politische Philosophie Kants verträglich machen kann mit seiner generellen Strategie im Umgang mit Kant. Zunächst bedarf es einiger Erläuterungen, die angeführte Passage betreffend. Zuerst ist zu bemerken, dass die oben zitierte Bemerkung aus der Einleitung in die Rechtsphilosophie wenn auch nicht im Rahmen der Philosophie des Rechts, so doch in anderen Kontexten ihre Parallelen findet und von Hegel bisweilen auch breiter ausgearbeitet worden ist. Geht man zunächst den Parallelen nach, so wird man sich sofort an Hegels Kritik der kantischen Moralphilosophie erinnert finden, die er in dem berühmten Kapitel über Moralität in der Phänomenologie des Geistes entwickelt. Dort versucht Hegel bekanntlich zu zeigen, dass die Grundsätze der kantischen Moralphilosophie, konsequent aufgefasst, den Begriff der Moralität zu einem widersprüchlichen Begriff machen und dadurch Moralität vernichten. Diese Kritik an der ethischen Theorie Kants hat zwar zur unmittelbaren Folge, dass die kantische (praktische) Philosophie den „Standpunkt der Sittlichkeit“ unmöglich macht – denn für Hegel macht Moralität nur Sinn, wenn es einen sittlichen Standpunkt gibt –, doch diese Konsequenz wird explizit von Hegel in der Phänomenologie nicht gezogen. Die Überlegungen Hegels in der Phänomenologie weisen daher zwar in die gleiche Richtung wie die Bemerkung in der Philosophie des Rechts, sie können diese Bemerkung aber nur implizit stützen. Dies gilt auch für einen kurzen Passus in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in dem Hegel besonders in Anspielung auf Kant davor warnt, die Freiheit, das Prinzip der kantischen praktischen Philosophie, als unentwickelte Abstraktion auf die Wirklichkeit anzuwenden. Denn, so Hegel: „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören“7. Ist hier die zerstörende Funktion einseitiger oder abstrakter Prinzipien auch für die sittliche Wirklichkeit angedeutet und in einen Zusammenhang mit der kantischen Philosophie gebracht, so hat dieser Passus doch wenig erklärenden 7  Hegel, Werke 16, 553.

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Wert. Ähnlich wie die Passage aus der Einleitung in die Philosophie des Rechts verweist er mehr auf ein hegelsches Unbehagen, als dass er es erklärt. Um sich der eigentlichen Ausarbeitung des hier interessierenden hegelschen Diktums aus der Philosophie des Rechts zu nähern, bedarf es eines großen Schrittes zurück in die Zeit des ersten öffentlichen Auftretens Hegels in der Rolle des Philosophen. Gemeint ist Hegels frühe Jenaer Zeit. In jener Zeit hat Hegel seine schon in der sogenannten Differenzschrift (1801) angedeutete und in Glauben und Wissen (1802) ausgeführte Kritik an der kantischen Philosophie in ihrem ganzen Umfang zu einer Kritik an der kantischen Rechts- und Moralphilosophie spezifiziert und sie unter den Titel Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts dem Publikum 1802/03 vorgestellt. Obwohl diese Schrift keineswegs nur eine Auseinandersetzung mit Kants Rechts- und Moralphilosophie darstellt, sondern auch andere Ansätze in der Rechtsphilosophie der Tradition kritisiert, ist der Hauptangriffspunkt der hegelschen Überlegungen die Betrachtungsart des Naturrechts, die er als die formelle oder apriorische bezeichnet und als deren Hauptrepräsentanten er Kant und Fichte identifiziert. Diese Kritik an Kant im Rahmen des Naturrechtsaufsatzes macht nun genau das deutlich, was Hegel in der Einleitung zur Philosophie des Rechts nur lapidar konstatiert. Sie zeigt erstens den Sinn der von Hegel in Anspruch genommenen Unterscheidung zwischen Sittlichkeit und Moralität auf, und sie erklärt zweitens, warum in Hegels Augen die praktischen Prinzipien der kantischen Philosophie den Standpunkt der Sittlichkeit unmöglich machen. Was die Unterscheidung zwischen Sittlichkeit und Moralität betrifft, so korrespondiert sie im Naturrechtsaufsatz der von Naturrecht und Moral. Das Naturrecht wird von Hegel hier verstanden als die Wissenschaft von der absoluten Sittlichkeit, die Moral als die Wissenschaft von der Sittlichkeit des Individuums8. Als ‚(absolute) Sittlichkeit‘ bezeichnet Hegel ein lebendiges Ganzes von Sitten und Gebräuchen eines Volkes9, das der Sittlichkeit des Individuums vorgängig ist, sie konstituiert und bestimmt. Einen Standpunkt der Sittlichkeit nimmt man dann ein, wenn man alle ethischen, rechtlichen und politischen Verhältnisse, in denen einzelne Individuen zueinander stehen können, als Fälle oder als Konkretisierungen der die absolute Sittlichkeit auszeichnenden Strukturen aufzufassen und darzustellen in der Lage ist. Demgegenüber bezeichnet Hegel mit dem Terminus ‚Moralität‘ die Summe der das Individuum auszeichnenden moralischen Einstellungen. Den Standpunkt der Moralität in Sachen einnehmen, die die Beziehungen von 8  Hegel, GW 4, 467. 9  Hegel, GW 4, 479.

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einzelnen Individuen zueinander betreffen, heißt einer Betrachtungsart ethischer, rechtlicher und politischer, kurz: sittlicher Verhältnisse das Wort reden, die von der Voraussetzung ausgeht, dass die Gesamtheit dieser Verhältnisse, also die hegelsche Sittlichkeit, aus Festsetzungen über die moralische Natur und die ethischen Eigenschaften von Individuen allererst sich entwickelt und bildet. Hegel nimmt nun bereits im Naturrechtsaufsatz seine terminologische Differenzierung zwischen Sittlichkeit und Moralität zum Anlass, auf ihre etymologische Berechtigung und auf ihre sachliche Relevanz für die Beurteilung der kantischen (und fichteschen) Position hinzuweisen. Er schreibt: Wir bemerken hier auch eine Andeutung der Sprache, die sonst verworfen, aus dem Vorherigen vollkommen gerechtfertigt wird, daß es nämlich in der Natur der absoluten Sittlichkeit ist, ein Allgemeines oder Sitten zu sein; daß also das griechische Wort, welches Sittlichkeit bezeichnet, und das deutsche diese ihre Natur vortrefflich ausdrücken; daß aber die neuern Systeme der Sittlichkeit, da sie ein Fürsichsein und die Einzelheit zum Prinzip machen, nicht ermangeln können, an diesen Worten ihre Beziehung auszustellen; und diese innere Andeutung sich so mächtig erweist, daß jene Systeme, um ihre Sache zu bezeichnen, jene Worte nicht dazu mißbrauchen konnten, sondern das Wort Moralität annahmen, das zwar nach seinem Ursprung gleichfalls dahin deutet, aber weil es mehr ein erst gemachtes Wort ist, nicht so unmittelbar seiner schlechtern Bedeutung widersträubt10. Diese Klärung des Gebrauchs der Termini ‚Sittlichkeit‘ und ‚Moralität‘ durch Hegel lässt allerdings noch nicht erkennen, wieso denn Moralität und ihre Prinzipien Sittlichkeit – wie es in der Rechtsphilosophie heißt – zernichtet und empört. Für den Hegel des Naturrechtsaufsatzes liegt dieser Zusammenhang aufgrund der folgenden Überlegung auf der Hand: Geht man von der Realität eines überindividuellen sittlichen Kosmos, eben eines Ganzes von Sitten und Gebräuchen eines Volkes, aus und akzeptiert die These, dass dieser sittliche Kosmos das festlegt, was sittliche Eigenschaft des einzelnen Individuums sein kann, dann muss man die jeweiligen sittlichen Eigenschaften eines einzelnen Individuums als die Spezifikationen oder Besonderungen eines wesentlich allgemeinen, da überindividuellen, Charakters des sittlichen Kosmos betrachten. Da jede Besonderung zu unterscheiden ist von dem Allgemeinen, dessen Besonderung es darstellt, ist das jeweils Besondere in Hegels Augen und in 10  Hegel, GW 4, 467.

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seiner Terminologie ein Negatives oder eine Negation11. Eine Negation ist also immer etwas Sekundäres, etwas, welches das Gegebensein oder die Realität von etwas Anderem voraussetzt, dessen Negation es ist. Geht man nun daran – wie es für Hegel im Rahmen des kantischen Ansatzes geschieht –, durch den Rekurs auf das einzelne Individuum, seine Natur und seine Eigenschaften, den sittlichen Kosmos zu konstruieren, dann macht man das begrifflich und real Spätere zum ontologisch Früheren, man setzt, in Hegels Sprache, Negationen als Realität. Dies aber bedeutet nach Hegel nicht nur, einen logischen Fehler zu begehen, es heißt eine falsche Realität entwerfen und insofern den ‚wahren‘ sittlichen Kosmos verkennen. Für Hegel besagt diese Überlegung Verschiedenes: zum einen folgt aus ihr, dass die Moral als die Wissenschaft der Sittlichkeit des Individuums immer dem Naturrecht als der Wissenschaft der absoluten Sittlichkeit nachgeordnet ist; zum anderen beinhaltet sie, dass individuelle sittliche Eigenschaften oder Tugenden als Dispositionen zu sittlichem Handeln aufzufassen sind; und schließlich macht sie deutlich, warum Kants Ansatz in der politischen Philosophie nichts taugt. Alle diese drei Punkte spricht Hegel in einem einzigen, wie üblich zu langen Satz im Naturrechtsaufsatz an. Dieser Satz lautet: Diese Tugenden [gemeint sind die sittlichen Eigenschaften eines Individuums, z.B. Tapferkeit, Sparsamkeit, R.P.H.], die an sich Möglich­ keiten und in einer negativen Bedeutung sind, sind der Gegenstand der Moral, und man sieht, daß das Verhältnis des Naturrechts und der Moral sich auf diese Weise umgekehrt hat; daß nämlich der Moral nur das Gebiet des an sich Negativen zukommt, dem Naturrecht aber das wahrhaft Positive, nach seinem Namen, daß es konstruieren soll, wie die sittliche Natur zu ihrem wahrhaften Rechte gelangt; dahingegen, wenn sowohl das Negative, als auch dieses als die Abstraktion der Äußerlichkeit, des formalen Sittengesetzes, des reinen Willens und des Willens des Einzelnen, und dann die Synthesen dieser Abstraktionen wie der Zwang, die Beschränkung der Freiheit des Einzelnen durch den Begriff der allgemeinen Freiheit usw. die Bestimmung des Naturrechts ausdrückten, es ein Naturunrecht sein würde, indem bei der Zugrundelegung solcher Negationen als Realitäten die sittliche Natur in das höchste Verderben und Unglück versetzt wird12.

11  Vgl. idem, S. 467 ff. 12  Hegel, GW 4, 468.

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Was auch immer von dieser gerade skizzierten kritischen Evaluierung des kantischen Ansatzes in Sachen Rechts- und Moralphilosophie zu halten sein mag, einigermaßen offensichtlich ist, dass die Überlegungen wie die von Hegel im Naturrechtsaufsatz vorgetragenen den argumentativen Hintergrund abgeben für das uns hier beschäftigende Diktum aus der Einleitung in die Philosophie des Rechts, demzufolge die kantischen praktischen Prinzipien Sittlichkeit zernichten und empören. Ebenso offensichtlich ist, dass die Basis der oben referierten Kant-Kritik die hegelsche Überzeugung darstellt, die sittliche Wirklichkeit sei – wie alle Wirklichkeit – in gewisser Weise selbs­ texplikativ. Dies in dem Sinne, dass die sittliche Wirklichkeit sich zeigt in dem, was der logischen Form nach ihr Negatives ist, nämlich den sittlichen Einstellungen von Individuen, gruppenspezifischen Verhaltensformen und Weisen gesellschaftlicher Praxis. Die Plausibilität der These von der Selbs­ texplikativität der (sittlichen) Wirklichkeit entscheidet daher letztlich über die Frage, ob in eine über diese These zu charakterisierende Position ein Ansatz wie der von Kant im Kontext seiner praktischen Philosophie gewählte als wenigstens partiell philosophisch gehaltvoll integriert werden kann. Dies vor allem deshalb, weil für Hegel die Korrektheit besagter These eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Philosophie überhaupt darstellt. Geht man nun der hegelschen These von der Selbstexplikativität der Wirklichkeit nach, so ist man also unmittelbar an Hegels Konzeption von Philosophie verwiesen, nicht nur weil er diese These in deren Rahmen entwickelt, sondern weil seine Konzeption von Philosophie mit dieser These steht und fällt. Hegel nach seiner Konzeption von Philosophie, d.h. nach seiner Auffassung über Aufgabe, Sinn und Zweck der Philosophie zu befragen, ist auf den ersten Blick ein dankbares Unterfangen. Über kaum ein anderes philosophisches Thema hat sich nämlich Hegel zu allen Zeiten seines Schaffens so ausführlich geäußert, wie zu der Frage, was denn Philosophie, ihr Gegenstand und ihre Methode sowie was denn das Eigentümliche philosophischer Erkenntnis im Unterschied zu anderen Weisen wissenschaftlicher Weltanschauung sei. Hinzu kommt, dass Hegel diese seine Auffassung von Philosophie primär nicht etwa in den mehr hermetischen, esoterischen oder ‚technischen‘ Teilen seiner philosophischen Lehren, sondern vor allem in den eher exoterischen Partien seiner Schriften elaboriert hat. Die meisten seiner Äußerungen zur Philosophie finden sich in Einleitungen, Vorreden und anderen mehr programmatischen Expositionen, in Texten also, die die Funktion haben, den mit den Geheimnissen spekulativen Philosophierens nicht vertrauten Leser einzuführen in die ihm abverlangte philosophische Betrachtungsart bzw. hinzuführen

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auf einen Standpunkt, den er zunächst einmal im Modus der Beschreibung vorgestellt bekommt13. 3 Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Hegels wortreiche Freigebig­ keit bei der Etablierung seines Philosophiebegriffs in exoterischen Kontexten auf das Bemerkenswerteste kontrastiert mit einer an Wortlosigkeit grenzenden Spärlichkeit bei der systematischen Ausarbeitung seines Konzepts von Philosophie im Kontext des Systems. Man kann sogar sagen, dass er die zentralen Gedanken seines Philosophiekonzepts eigentlich überhaupt nur angedeutet und nie ausgeführt hat. Natürlich kann hier nicht auf die Details der hegelschen Konzeption von Philosophie eingegangen werden. Es muss genügen, den für die negative Beurteilung der kantischen politischen Philosophie relevanten Aspekt herauszuheben. Dies ist der Aspekt, der auf die These von der Selbstexplikativität der Wirklichkeit führt. Da Hegel die Wirklichkeit weitgehend mit dem identifiziert, was er „Vernunft“ nennt14, interessiert im hiesigen Kontext also hauptsächlich Hegels Überzeugung von der Selbsterkenntnis bzw. Selbstreproduktion der Vernunft, die von der Differenzschrift bis zur letzten Auflage der Enzyklopädie seinen Philosophiebegriff definiert (vgl. GW IV 10, 14 und 30 f.; Enzyklopädie, Einleitung). Die Vernunft, die Hegel im Sinne von Wirklichkeit versteht, ist für ihn durch wenigstens drei Festsetzungen charakterisiert: (1) es gibt nur eine Vernunft, und alles, was irgendwie wirklich ist, ist Ausdruck dieser einen Vernunft; (2) diese eine Vernunft muss gedacht werden als Einheit von Denken und Sein; (3) die eine Vernunft wird sich als die Gesamtheit der Wirklichkeit durchsichtig im Rahmen eines Erkenntnisprozesses15. Diese am besten als ‚Vernunftontologie‘ zu bezeichnende Auffassung ist der Hintergrund, vor dem Hegel seine Konzeption von Philosophie organisiert. Philosophie wird in diesem Rahmen zunächst gedeutet als die Weise, in der die Vernunft sich selbst erkennt bzw. in der die Vernunft sich selbst 13  Verwiesen sei auf den ersten Teil der Differenzschrift, die Vorrede der Phänomenologie des Geistes, die Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts sowie die Einleitung in die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. 14  Dies spricht er besonders klar aus in Enzyklopädie, § 6. 15   Die hier als drei Festsetzungen angeführten Charakteristika des hegelschen Vernunftbegriffs sind an anderer Stelle genauer dargestellt. Vgl. Horstmann 1996b, a.a.O. 165 ff.

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reproduziert. Die Charakterisierung von Philosophie als Selbsterkenntnis bzw. Selbstreproduktion der Vernunft macht auf den ersten Blick einen vollständig unproblematischen Eindruck: Wenn es stimmt, dass die Vernunft an sich alle Realität ist, dies aber ‚eigentlich‘ erst dann ist, wenn sie sich als diese Realität erkannt hat, dann spricht nichts dagegen, quasi definitionsartig diesen Prozess der Selbsterkenntnis als ‚Philosophie‘ zu bezeichnen – die Philosophie erhält auf diese Weise sowohl eine klar angebbare Aufgabe als auch ein deutlich definiertes Ziel. Zu achten ist hier allerdings darauf, dass die Philosophie unter dieser Beschreibung zu einem Unternehmen erklärt wird, dessen Subjekt und Adressat die Vernunft ist – Philosophie ist Selbstdarstellung der Vernunft für sich selbst, sie ist eine Weise des Umgangs der Vernunft mit sich selbst. Nun mag ja das Projekt, Philosophie als Selbsterkenntnis der Vernunft zu begreifen, durchaus seine suggestiven Perspektiven haben, wenigstens dann, wenn man es in einem eher schlagwortartigen Zustand belässt. Es aus diesem Zustand zu befreien und es in eine sachhaltige Beschreibung zu transformieren, macht indessen selbst Hegel beträchtliche Schwierigkeiten. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich Hegels letztes publiziertes Wort in dieser Sache ansieht, nämlich die Ausführungen zur Philosophie in den letzten Paragraphen der dritten Auflage der Enzyklopädie. Diesen Paragraphen entnimmt man nämlich, dass die Philosophie nur als eine von verschiedenen Weisen fungieren soll, in der die Vernunft sich selbst (für sich selbst) darstellt. Diese verschiedenen Weisen sind neben der Philosophie bekanntlich Kunst und Religion, und ebenso bekannt ist, dass Hegel diese drei Weisen unterscheidet durch die Art, in der sich die Vernunft in jeder dieser Weisen zu sich selbst verhält: während sich in der Kunst die Vernunft anschauend und d.h. für Hegel unmittelbar auf sich selbst bezieht, realisiert sie dieses Selbstverhältnis in der Religion unter der Form der Vorstellung, die mit der aufgehobenen Unmittelbarkeit in Verbindung gebracht wird. In der Philosophie schließlich wird der Selbstbezug der Vernunft im Modus des Erkennens hergestellt. Die Theorie epistemischer Modalitäten, die dieser Funktionsanalyse von Kunst, Religion und Philosophie zugrunde liegt, braucht hier nicht zu interessieren, obwohl auch sie ihre noch zu lüftenden Geheimnisse hat. Wichtiger und schwieriger zu verstehen ist in diesem Kontext etwas anderes: die Weise nämlich, in der die logische und d.h. bei Hegel immer auch: ontologische (s.o.) Modalität der Notwendigkeit eingeführt und als Merkmal der epistemischen Modalität „Erkennen“ interpretiert wird. Folgt man dem Paragraphen 573 der Enzyklopädie, so ist die Situation ja folgende: Das Erkennen, welches die Philosophie darstellt, soll es mit notwendigen Inhalten und Formen zu tun haben bzw. es soll die Notwendigkeit dieser Inhalte und Formen begreifen. Dieses Begreifen oder Erkennen soll dann realisiert

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sein, wenn die Form-Inhalt-Differenz zur Disposition gestellt werden kann und wenn gilt, dass als Inhalt allein eine Form übrig bleibt, „die sich selbst zum Inhalt bestimmt und identisch mit ihm bleibt“16. Berücksichtigt man nun, dass „Form“ hier soviel wie „Modus der Repräsentation eines Inhalts“ bedeutet, und bedenkt außerdem, dass hier ja der Sache nach immer noch von der Selbsterkenntnis der Vernunft die Rede ist, dann sieht man sich der These konfrontiert, dass die Vernunft genau der Modus der Repräsentation ist, der einen Modus der Repräsentation repräsentiert, von dem – soll er notwendig sein – gilt, dass er nur sich selbst repräsentiert. Nach dieser Interpretation kommt also „Notwendigkeit“ nur solchen Sachverhalten zu, die als Selbstbeziehungen gedeutet werden können. An dieser Stelle möchte man mit einem großen, von Hegel verehrten deutschen Dichter sagen: man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Denn klarerweise möchte Hegel auf die Weise Selbstreferenz, verstanden als reinen Beziehungsbegriff, mit ontologischer Notwendigkeit ausstatten. Man muss nun diese hier skizzierte Operation Hegels gar nicht einmal um ihrer selbst willen kritisieren, man muss ihr auch gar nicht unbedingt mangelnde Plausibilität oder ein Übermaß an konzeptueller Exzentrizität vorwerfen, – dennoch hat sie ihren Preis. Dieser Preis zeigt sich zuerst und besonders deutlich an Hegels Philosophiebegriff selbst, soweit in ihn der Gedanke der Selbsterkenntnis der Vernunft eingeht. Er besteht in der Einsicht, dass man, gegeben die hegelsche Konzeption von Vernunft und Vernunfterkenntnis, eigentlich alles, was man philosophisch begreifen kann, als vernünftig begreifen muss. Hegel hat diese Einsicht bekanntlich in die trotzig-affirmative These von der Reziprozität von Vernünftigkeit und Wirklichkeit gebracht und insofern die Selbstexplikativität der Wirklichkeit behaupten können. Geflissentlich im Dunkeln gelassen hat er eine Auskunft darüber, wieso diese Reziprozität nicht eher Anlass zur Resignation hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Philosophie gibt. Schließlich könnte man ja auch bedauern, dass für die Philosophie nur das wirklich ist, was vernünftig ist, und umgekehrt. Dieses Bedauern sprach ja schon das 19. Jahrhundert in so unterschiedlichen Gestalten wie Schopenhauer und Nietzsche auch deutlich aus. Und natürlich gibt es viele gute Gründe, dieses Bedauern auch am Ende des 20. Jahrhunderts zu teilen. Was besagt dies alles nun für die mittlerweile wohl etwas aus dem Blick geratene Ausgangsfrage, für die Frage also, ob Hegels kritische Bemerkung gegen Kants politische Philosophie in der Anmerkung zu § 33 der Philosophie des Rechts verträglich gemacht werden kann mit dem allgemeinen Tenor seiner Kant-Kritik? Folgt man den vorangegangenen Ausführungen, dann liegt die Antwort auf der Hand: Wenn und solange Hegel seine eigene Position 16  Hegel, GW 20, § 573.

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ernst nimmt, hat er eigentlich keine Möglichkeit, seine Kritik an Kants politischer Philosophie, wie in der angeführten Stelle formuliert, in eine partielle Anerkennung des kantischen Ansatzes umzudeuten. Eine solche Anerkennung ist durch seinen Philosophiebegriff ausgeschlossen, der vollständig unverträglich ist mit allen philosophischen Modellen, die nicht auf die hegelsche Konzeption von Vernunft und Wirklichkeit setzen. Dieses Ergebnis ist eigentlich auch nicht weiter verwunderlich, wenn man, wie anfangs bereits angedeutet, bedenkt, dass Hegel sein ganzes philosophisches Leben damit zugebracht hat, eine philosophisch ernst zu nehmende Alternative zu den Weisen der Weltdeutung auszuarbeiten, die von der für ihn im kantischen kritischen Unternehmen kulminierenden Tradition neuzeitlichen Philosophierens bereitgestellt worden sind. Wie seine explizite Auseinandersetzung mit kantischen Überzeugungen zeigt, konnte Hegel seine Bemühungen um ein alternatives Weltbild auf mehrfache Weise zu dem, was er bekämpfte, in Beziehung setzen. Er konnte seine Theorie als das Ergebnis der Überwindung von Einseitigkeiten und Abstraktionen ausgeben, denen die neuzeitliche Philosophie und mit ihr Kant aufgesessen war. Diese Präsentation nimmt allerdings implizit die Voraussetzung in Anspruch, dass Hegels Philosophie und die neuzeitliche philosophische Tradition dasselbe thematisieren, sozusagen von derselben Welt reden. Hegels generelle Strategie in seiner Auseinandersetzung mit Kant lebt davon, dass er dem Leser keinen Anlass gibt, diese Voraussetzung in Frage zu stellen. Hegel konnte aber seine Philosophie auch ganz anders in ein Verhältnis zur Tradition bringen. Er konnte behaupten, die Philosophie der Neuzeit thematisiere eine ganz andere (und manifest „falsche“) Welt als seine eigene Philosophie. Hegels Vorwurf, Kants Philosophie mache den Standpunkt der Sittlichkeit unmöglich, verweist in diese Richtung. Denn dieser Vorwurf besagt ja, dass die kantische Philosophie die „eigentliche“ Wirklichkeit nicht in den Blick bringen kann. Es ist dieser Vorwurf, der Hegels Kant-Kritik brisant macht, weil er mit dem Anspruch verbunden ist, die „wahre“ Welt allererst entdecken zu müssen. Hegels Diktum von Kant als dem Zernichter der Sittlichkeit hat daher nicht nur eine polemische Bedeutung, es vergegenwärtigt vielmehr direkt und eindrücklich das philosophische Programm Hegels17.

17  Vorliegender Text ist die zur Veröffentlichung in diesem Sammelband vom Verfasser neu durchgesehene Fassung eines älteren Aufsatzes (Rolf-Peter Horstmann: „Kant und der „Standpunkt der Sittlichkeit“. Zur Destruktion der Kantischen Philosophie durch Hegel“, in: Sonderheft der Revue Internationale de Philosophie, 4 (1999), Paris 1999, 557–572). Am genannten Erscheinungsort war der Aufsatz mit der Widmung „Für Michael Theunissen zum 65. Geburtstag“ versehen.

Kultur der Institutionen und des Vollzugs Absoluter vs. objektivierter Geist (bei Hegel) Pirmin Stekeler-Weithofer

Wissende Haltung zur Tatsache menschlichen Geistes

Man kann Texte so lesen, wie der Finger dem Wortlaut folgt. Oder man versteht schon Inhalte, indem man sich selbst und anderen alternative Formulierungen anbietet und sie als im Wesentlichen inhaltsgleich bewertet1. In diesem Sinn ist meine ‚These‘ zu lesen, dass es in Hegels Philosophie des Geistes um eine wissende Haltung zur Tatsache des menschlichen Wissens geht. Das geschieht in bewusster Kontrastierung nicht nur zu theologischen Mythen über Seele und Geist, sondern auch zu einer szientistischen Physiologisierung des Erkennens im Naturalismus. Seit Thomas Hobbes und Baruch Spinoza stellt sich dieser Naturalismus als aufklärerische Kritik an einem von ihm als Spiritualismus oder Mentalismus vorgestellten Gegenweltbild dar. Dabei ist dieser Naturalismus selbst zutiefst zweideutig. Diese Zweideutigkeit des naiven Realismus zeigt sich besonders schön in der ‚Physiologie des Verstandes‘ von John Locke, wie Kant dessen Erkenntnistheorie kritisch nennt. Denn Locke unterstellt auf der einen Seite, wie Hobbes und Spinoza, metaphysisch eine physikalistisch verfasste Welt an sich, welche unsere Reaktionen auf deren Ereignisse, vermittelt über 1  Heidegger erläutert in seinem bis heute unterschätzten Buch Kant und das Problem der Metaphysik (1998 [orig. 1929]) auf S. 201 die „Grundabsicht“ seiner „Interpretation der Kritik der reinen Vernunft“, „den entscheidenden Gehalt dieses Werkes dadurch sichtbar zu machen, daß dasjenige herauszustellen versucht wurde, was Kant „hat sagen wollen“. Bei diesem Verfahren macht sich die Auslegung eine Maxime zu eigen, die Kant selbst auf die Interpretation philosophischer Untersuchungen angewandt wissen wollte und die er am Schluß einer Entgegnung auf die Kritik des Leibnizianers Eberhard in folgenden Worten festgelegt hat“. Es folgt ein für jede ernstzunehmende Lektüre philosophisch ernstzunehmender Texte bedenkenswertes Zitat aus Kant, AA 6, 71: „So möchte denn wohl die Kritik der reinen Vernunft die eigentliche Apologie für Leibniz, selbst wider seine, ihn mit nicht ehrenden Lobsprüchen erhebende, Anhänger sein; wie sie es denn auch für verschiedene ältere Philosophen sein kann, die mancher Geschichtsschreiber der Philosophie, bei allem ihnen erteilten Lobe, doch lauter Unsinn reden läßt, dessen Absicht er nicht errät, indem er den Schlüssel aller Auslegungen reiner Vernunftprodukte aus bloßen Begriffen, die Kritik der Vernunft selbst (als die gemeinschaftliche Quelle für alle) vernachlässigt, und, über dem Wortforschen dessen, was jene gesagt haben, dasjenige nicht sehen kann, was sie haben sagen wollen.“

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_035

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unsere Sinnlichkeit, kausal hervorbringen soll. Andererseits weist Locke auf George Berkeley2 und David Hume voraus, welche die Einsicht des Descartes in das Primat des Vollzugs des Erkennens vor dem Erkannten empiristisch radikalisieren und damit ihrerseits auf Kants Einsicht vorausweisen, nach welcher alles wirkliche Weltwissen auf Erscheinungen geht. Das Schwanken des Naturalismus zwischen einem empiristischen und einem materialistischen Weltbild und dessen metaphysischer Charakter als bloße Glaubensphilosophie sind bis heute noch nicht voll begriffen. Das zeigt sich schon darin, dass man den Titel „Idealismus“ nicht mehr als Einsicht in das Primat des subjektiven und intersubjektiven kognitiven Zugangs zu den Gegenständen (von Descartes über Berkeley, Hume und Kant bis Hegel) versteht, sondern als dogmatische Metaphysik des Mentalen und eines frei über den Wassern der Welt schwebenden Geistes missdeutet. Außerdem verkennt man die Wiederholung des ambivalenten Denkens Lockes mit seinem Schwanken zwischen einem naiven Empirismus und einem naiven Realismus im metaphysisch-dogmatischen Selbstverständnis der empirischtheoretischen Kognitionswissenschaft. Bei Wilfrid Sellars heißt die ‚naive‘ Alltags(meta)physik eines John Locke „manifestes Weltbild“. Nach diesem Weltbild existieren Tische, Berge und Planeten ‚unabhängig von uns‘ (in klassischer Diktion ‚von unserem Geist‘). Aber wir erkennen einiges über sie durch Vermittlung unserer Sinne (in klassischer empiristischer Diktion: durch ihre Eindrücke, Impressionen). In der dramatisierten Geschichte vom „Umsturz des Weltbilds (in) der Physik“ der ersten 30 Jahre des letzten Jahrhunderts, welche die gegenwärtige Debatte offenbar immer noch in Atem hält, wird behauptet, dass das ‚wahre‘ Weltbild das der neuen theoretischen Physik ist und dass dieses das manifeste Weltbild revidiere. Aber schon Martin Heidegger hat auf den Denkfehler hingewiesen, welcher darin besteht, die praktischen Erfahrungen der Lebenswelt im Umgang mit Dingen der Welt empiristisch zu missdeuten, als ginge es um ein metaphysisches Weltbild und nicht um den robusten Ausgangs- und Zielort von allen durch verbale Theorien artikulierten allgemeinen Wissensansprüchen. Daher gibt es auch das ‚Rätsel‘ nicht, das Arthur Eddington in den 20er Jahren am Beispiel der „zwei Tische“ formuliert hat: Im Alltag erscheint der Tisch, wie eine Wand oder ein Fels, als undurchdringlich; aber für die Mikrophysik ‚besteht‘ er – und schon seine Bestandteile, die Atome – aus lauter Löchern: Der ‚leere Raum‘ im Atom ist ja umfangsmäßig weit größer als die subatomaren Teilchen. 2  Tipton 1988.

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Dabei liegt eines der Probleme in mereologischen Metaphern oder Bildern. Schon dass Körperdinge mittlerer Größe ‚aus subatomaren Teilchen‘ und deren Bewegungsprozesse ‚bestehen‘, ist eine Metapher. Ein anderes Problem liegt in einer naiv-realistischen Deutung theoretischer Modellierungen, deren ‚Gegenstände‘ in der Welt als theorie- und damit ‚geistesunabhängig‘ existent missdeutet werden. Dabei wäre unter anderem auch die Klärung der Frage wichtig, was es überhaupt heißen kann zu sagen, dass es „keine gewöhnlichen Objekte“ gebe, weil, wie z.B. Peter van Inwagen zu meinen scheint, nur für höhere Lebewesen hinreichend klare Identitätsbedingungen definiert sind. Nur bei ihnen könne daher, solange sie leben, von einer „Existenz“ die Rede sein, jedenfalls wenn man sich an das von W.V.O. Quine bekannt gemachte Prinzip hält ‚no entity without identity‘. Es ist allerdings die Frage, wie dieses sprachtechnische Prinzip, idealisiert in der mathematischen Logik, überhaupt sinnvoll auf die vielen völlig unterschiedlichen Gegenstandsarten in unseren Reden über die wirkliche Welt anzuwenden ist. Das ist eine Frage, welche über den Horizont gegenwärtiger philosophischer Debatten offenbar hinausgeht – was durchaus kein Ruhmesblatt analytischer Philosophie ist. Lockes Physiologie des Verstandes ist am Ende in seiner Ambivalenz ganz gut (nach einer Idee von Johannes Haag)3 als erfahrungsbasierter naiver Realismus zu verstehen. Kants transzendentale Ästhetik als reflexionslogische Analyse von Erfahrung in der Anschauung – im Kontrast zu einer bloß animalischen enaktiven Perzeption wie bei Alva Noë4 und im methodologisch empiristischen Behaviorismus – weist die Naivität eines empiristischen Erfahrungsrealismus auf. Denn es kann, wie Hegel noch radikaler als Descartes und Kant sieht, ein ‚unmittelbares‘ Erkennen metaphysischer Objekte überhaupt nicht geben. Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungsgegenständen und einem per definitionem unerkennbaren Ding an sich will eben das ausdrücken, öffnet aber durch seinen problematischen Umgang mit der Kontrastierung eines mundus sensibilis der Gegenstände der Anschauung und eines mundus intelligibilis von reinen Denkgegenständen allerlei Fehldeutungen und sogar einer neuen metaphysischen Glaubensphilosophie Tür und Tor. Dabei wäre der zentrale Gedanke Kants, dass eine Anschauung eines Gegenstandes g perfektiv (faktiv) sein soll, durchaus ernst zu nehmen. Das heißt nämlich, dass man ein g nur anschauen kann, wenn es g gibt. Wie später auch bei Edmund Husserl und in leider bloß schwächerer Form bei Bertrand Russell soll eine Evidenz als Beziehung der Bekanntschaft mit praktisch 3  Haag 2007. 4  Noë 2004.

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Zuhandenem über dessen Widerständigkeit das wirkliche Vorhandensein von Gegen-Ständen in der gegenwärtigen Umwelt jetzt und hier konstituieren. Heidegger und dann auch Friedrich Kambartel5 haben Kants Gegenstände der Anschauung auf diese Weise robust pragmatisch, praktisch und damit antiempiristisch rekonstruiert. Die inneren Tensionen eines Lockeanischen Erfahrungsrealismus rühren dagegen daher, dass die ganz zu Unrecht bevorzugte visuelle ‚Erfahrung‘ einen unmittelbaren Zugang zu wirklichen Körperdingen in ihrer Räumlichkeit und Verortung garantieren kann. Das hatte schon Descartes in seinen skeptischen Überlegungen zu Phantasmata gesehen. Descartes betont immerhin die Binnensicht denkender Anschauung, indem er erklärt, dass dasjenige als wirklich existent von uns gesetzt wird, was im Ganzen gesehen klar und distinkt erfahren, nicht bloß durch einen der Sinne perzipiert wird. Das englische Wort „experience“ ist daher aufgrund seiner schwachen Lesart im Sinne rein animalisch-behavioraler Perzeption für eine Analyse eines wahrnehmendpraktischen Gegenstandsbezugs in präsentischer Anschauung grundsätzlich unbrauchbar (gemacht worden). Im Übrigen spielt der cartesische Gott als Garant objektiver Wahrheit eine ähnliche Rolle wie Kants Rede von einem Ding an sich, nur dass Descartes aus der Annahme, dass Gott nicht bösartig ist, die Glaubwürdigkeit endlichen Wissens folgert. Kant überlegt hier weiter und fügt hinzu, dass alle Objekte der Anschauung zwar ‚empirisch‘ wirklich hier und jetzt existieren, doch ganz offenbar als ‚bloße Erscheinungsdinge‘ aufzufassen sind. Mit eben diesem Kommentar verlässt Kant die metaphysische und zugleich schwankende naiv-realistische Erkenntnistheorie Lockes, ohne in den rein subjektivistischen (eher solipsistischen oder autistischen als ‚skeptischen‘) radikalen Empirismus (und damit subjektiven Idealismus) eines Berkeley und Hume zu verfallen. Diese sind zwar nicht, wie der naive Erfahrungsrealismus Lockes, rein inkonsistent. Aber sie missdeuten menschliches Erkennen und Wissen, indem sie es als 5  Kambartel 1992: „Das Wort „Anschauung“ steht in diesem Zusammenhang nicht für eine besondere Art von Wahrnehmung, sondern für unsere Fähigkeit, in gewissen Urteilen mehr oder minder unmittelbar übereinzustimmen, indem wir schlicht unsere normalen Sinne benutzen, um gemeinsam eine Unterscheidung zu treffen, zum Beispiel indem wir aufmerksam hinsehen oder uns durch Anfassen überzeugen, oder etwa gewisse optisch oder haptisch wahrnehmbaren Veränderungen erzeugen. Entsprechend möge eine Feststellung oder Regelbefolgung anschaulich evident heißen genau dann, wenn ihre Wahrheit oder Richtigkeit sich in Gegenwart bestimmter (relevanter) unmittelbar zugänglicher anschaulicher Verhältnisse nicht bestreiten läßt, also ohne weitere Argumentation schlicht „gezeigt“ werden kann, indem sich die Beteiligten auf gegebene (vorhandene oder hervorgerufene) anschauliche Erscheinungen (z.B. Figuren oder Marken) beziehen.“

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bloße Variante animalischen Verhaltens in Reaktion auf Perzeptionen darstellen, gerade wie der scheinbar besonders ‚wissenschaftliche‘ Behaviorismus des letzten Jahrhunderts, der inzwischen durch einen naiven Glauben an einen Naturalismus und Realismus abgelöst wurde. Das geschieht spätestens seit der Wiederbelebung des Lockeanismus durch W.V.O. Quine oder dann auch, weltweit besonders publikumswirksam, durch Daniel Dennett6. Deren ‚Empirismuskritik‘, die sich gegen den Logischen Empirismus bei Russell, dem frühen Wittgenstein oder Carnap richtet, gießt sozusagen Humes Kind der Metaphysikkritik mit dem Waschwasser spekulativer Mythen aus, um auf eine ‚wissenschaftliche‘, ‚empirische‘ Untersuchung zu setzen, deren logisch-methodische Voraussetzungen unbefragt bleiben. Das Ergebnis ist ein Behaviorismus, angereichert durch eine animalische Kognitionstheorie. Kants Rede davon, dass die Gegenstände des Erfahrungswissens Erschei­ nungen sind, lässt sich vor dem Hintergrund der obigen Skizze so verstehen: Es muss in der Tat die Rede von Gegenständen und der objektive Variablenbereich durch einen ganz anderen Begriff der ‚Existenz des Gegenstandes‘ ersetzt werden, als der naive Erfahrungsrealismus unterstellt. Kants Kritik der reinen Vernunft lässt sich so als Gesamtprojekt einer Kritik sowohl am Naiven Realismus (im Rationalismus der Tradition des Descartes, Spinoza und Leibniz) als auch am Naiven Empirismus in der Tradition Berkeleys und Humes begreifen. Zentraler methodischer Punkt ist die Unterscheidung transzendentallogischer Reflexion von empirischen Theorien. Wahre Aufklärung lehrt daher spätestens seit Kant, dass der Naturalismus sowohl als Empirismus wie bei Hume als auch als Materialismus wie bei Hobbes, d’Holbach oder LaMettrie Varianten einer dogmatischen Metaphysik, einer reinen Glaubensphilosophie sind. Man denkt in diesem Glauben eben so wenig wie in den religiösen Redeformen darüber nach, was es überhaupt heißt, an die gegebenen ‚Erklärungen‘ des Lebens überhaupt und des menschlichen Geistes im Besonderen auch nur glauben zu können. Von einer notwendigerweise anzuerkennenden ‚Begründung‘ des Natu­ ralismus über die berechtigte, aber langweilige Kritik an jedem Glauben an Gespenster und Dämonen hinaus kann also keine Rede sein. Das sieht man freilich erst, wenn man den grundsätzlichen Unterschied begriffen hat, der die Gegenstandsbereiche des Geistes, des Selbstwissens über unser praktisches Leben als personale Subjekte, von der Natur unterscheidet, welche als solche nur Dinge und Ereignisse ‚enthält‘, die von selbst geschehen und von uns bloß beobachtet und theoretisch beschrieben bzw. ‚erklärt werden‘. 6  Dennett 1993.

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Ein Grundproblem eines robusten Selbstverständnisses sinnkritischer Philosophie liegt also schon darin, dass man den besonderen transzendentalen Status spekulativer Kommentare zur unbezweifelbar als gegeben anzuerkennenden großen Tatsache personalen menschlichen Lebens nicht angemessen in seiner Bedeutung versteht. Das Missverstehen beginnt schon bei den Wörtern, wenn man zum Beispiel „transzendental“ nicht als äquivalent zu „voraussetzungslogisch“ zu lesen in der Lage ist, sondern mit „transzendent“ im Sinne von „hinterweltlerisch“ verwechselt. Das Wort „absolut“ wird zumeist nicht einfach als Verneinung des Wortes „relativ“ verstanden und der Ausdruck „a priori“ nicht einfach als Verneinung des Ausdrucks „im Nachhinein“. Noch absurder sind Angriffe auf die Unterscheidung zwischen „synthetisch“ und „analytisch“, da „synthetisch“ nur „nicht analytisch“ bedeutet und „analytisch“ nur „durch konventionelle Verbaldefinitionen bestimmt“. Wo von Spekulation die Rede ist, geht es dann auch nicht um unsichere Annahmen, sondern um reflexionslogische Überlegungen ‚auf höchster Ebene‘, in der es um einen holistischen Gesamtrahmen, um die ‚Totalität‘ der Welt, also aller Dinge und Prozesse zu tun ist, aber zum Beispiel auch um das unendliche Gesamt aller natürlichen Zahlen oder, in der ‚höheren Arithmetik‘ der Naiven Mengenlehre, um die Totalität aller ‚reinen konsistenten Mengen‘ im Standardmodell und Variablenbereich für axiomatische Teiltheorien7. In einer Philosophie des Alltagssprachgefühls denkt man so, als hätte es die existentialen Reflexionen auf uns selbst in der Welt, wie sie von Descartes über Kant und Hegel bis zu Heidegger führen, damit auch auf das Verhältnis zwischen Denken und Leben im Vollzug auf der einen Seite, Wissen und den als wahr bewerteten Gedankeninhalten auf der anderen, gar nicht gegeben. Man verkennt insbesondere, dass reflexionslogische Kommentare zu Leben und Wissen frei sind, und das heißt insbesondere, dass man sie, wenn man es für nötig befindet, durch eigene Verbesserungen der Formulierungen besser begreifen kann, als wenn man nur erst einem intuitiven Empfinden unmittelbarer Zustimmung oder Ablehnung des Wortklangs folgt8. 7  Gerade auch bei Georg Cantor wird die Totalität aller Mengen so definiert, dass sich über sie hinaus keine zusätzlichen Mengen als Gegenstände der entsprechenden Art konsistent hinnehmen lassen. Auch die Bestimmung aller reellen Zahlen bei David Hilbert ist am Ende wortgleich zu Anselms Definition Gottes, „quo maius cogitari non potest“. Gott ist wiederum die Totalität der ganzen Welt, die Spinoza „Natur“ nennt, womit er aber den Kontrast von Natur und Geist, der handlungsfreien Welt und der Welt des Handelns unverstehbar macht bzw. fälschlich miteinander identifiziert. Diese Identifikation ist der Grundfehler jedes Naturalismus. 8  Außerdem ist in der Philosophie von einem ‚Argument‘ für eine ‚These‘ nicht zu verlangen, dass es die in heutigen philosophischen Essays üblich gewordene Form des so genannten

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Das Wort „principium“ ist natürlich die Übersetzung von „archē“, das sowohl den Beginn von etwas, zum Beispiel den gründenden Anfang einer Wissenschaft überschreibt, als auch die Herrschaft dieser anfänglichen Grundlegungen, nämlich als Rahmenbestimmungen des jeweils folgenden Gesamtaufbaus. Gerade prinzipielle Kommentare zum framework unserer Praxisformen und zu Institutionen wie denen des Rechts oder der Wissenschaft sind als passend einzusehen. Entsprechende ‚Thesen‘ sind also nicht einfach ‚zweiwertig‘ als wahr oder falsch vorauszusetzen. Sie leisten eher etwas, was alle guten Texte leisten: Sie teilen die Leser in zwei Klassen ein, nämlich in diejenigen, welche ihren guten Sinn in Abgrenzung irreführender Anwendungen in selbständiger Projektion auf das wirkliche Leben in der realen Erfahrungswelt zu erfassen in der Lage sind, und diejenigen, welche das aus diversen Gründen nicht können oder nicht zu können glauben. Letzteres kann die Folge dessen sein, dass man sich schematisch anwendbare Regeln wünscht, oder dass man sich ‚beweisen‘ lassen möchte, dass die Sätze, welche die Regeln artikulieren, in einem scheinbar schon bekannten Sinn ‚wahr‘, ‚immer verlässlich‘ oder ‚notwendigerweise anzuerkennen‘ seien. Es gibt daher wenige Wörter, die so verwirren wie „Wahrheit“ und „Not­ wendigkeit“. Schon das Notwendige oder Zwingende formalen Regelfolgens bezieht sich nur erst auf formale, d.h. verbale oder ausdruckstechnische Übergänge. Der Modus Ponens ist nur das zugehörige Schema einer Wenndann- oder Pfeilregel, ob als Regel einer bedingten Erlaubnis (entitlement) oder als Regel einer (bedingten) Verpflichtung (commitment). Die Angemessenheit und Sinnbegrenzung des realen Gebrauchs einer solchen Regel ist, wie im Fall eines pfeilartigen Wegweisers für Wanderer, je in erfahrener und souveräner Weise frei zu beurteilen, und zwar im Blick auf relevante Besonderheiten der konkreten Umstände – in der gegenwärtigen Anschauung, wie Kant sagen würde, oder der jeweiligen Praxis, wie ich mit Wittgenstein erläuternd hinzufügen möchte. Es gibt also, wie im Grunde schon Kant sieht, immer zwei Stufen des Wissens. Die erste ist das Wissen des Verstandes, das ein Wissen ist, wie man Regeln folgt. Man wird verständig, indem man im formellen Sprach- und Rechenunterricht gewisse Regeln richtig zu befolgen lernt. Die zweite Stufe ist die der Vernunft, des Wissens um die Begrenzungen der sinnvollen Anwendung Modus Ponens: „wenn p, dann q, und es gilt p, daher gilt q“ annimmt. Das ist schon deswegen so, weil die so genannten Thesen nur Merksätze und damit bloß erst anfängliche, prinzipielle, damit aber gerade robust und höchst allgemein unterscheidende Kommentierungen zu wichtigen Teilmomenten oder Teilformen einer uns praktisch längst schon bekannten, weil alltäglich und gemeinsam praktizierten Lebensform sind.

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von Regeln, welche immer einer durch praktische Erfahrung informierten Urteilskraft im freien Vollzug des Lebens und Handelns bedarf. Wer blind einer Regel oder einem Pfeil folgt, muss sich nicht wundern, wenn er in Sackgassen oder Schlimmerem landet. Sokrates hat das im Blick auf blinde Anwendungen logischer Schlussschemata als Erster erkannt und entsprechende formalistische Sophistereien scharf kritisiert. Jede Haltung zu Wahrheit und Wissen, die das nicht weiß, ist kein zureichendes Wissen über die grundsätzliche Verfassung von Regeln und Sätzen, ihre immer bloß interne Notwendigkeit im bloß erst formalen Folgern. Alles generisch-allgemeine Wissen muss immer noch in strenger Bezugnahme auf besondere Umstände als gut und angemessen anwendbar beurteilt werden. Ich schlage hier nun vor, die Wörter „Wissen“ und „Geist“ gerade auch bei Hegel als im Wesentlichen inhaltsgleiche Obertitel zu lesen, welche über den ausdifferenzierenden Untertiteln „Verstand“, „Intelligenz“, „Vernunft“ usf. stehen. Diese nennen Momente oder Teilaspekte unserer geistigen Gesamtfähigkeit und artikulieren damit auch Kontraste zu den Wesen, denen diese Fähigkeiten aus diversen Ursachen abgehen. Das Wort „Wissen“ im allgemeinsten Sinn des Wortes steht in der Tat wie das Wort „Geist“ für die Gesamtform der sapientia oder Weisheit des homo sapiens mit seinen Fähigkeiten, das Leben eines personalen Subjekts zu führen. Tiere sind nichtpersonale Subjekte. Inhaltlich ist Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse dann als prinzipieller, d.h. robuster und ‚anfänglicher‘ Ordnungs­ vorschlag der Themenbereiche einer erneuerten Disziplin Philosophie und der entsprechend philosophischen Wissenschaften zu lesen. Philosophisch heißt dabei eine Sachwissenschaft nicht schon dann, wenn sie theoretisch verfasst ist, sondern erst dann, wenn der beschränkte Sinnrahmen ihrer Gegenstände, Themen und Methoden, samt der Artikulationsformen in Theorie und Empirie hinreichend reflektiert und nur dadurch bewusst ist. Philosophische Logik ist dabei die Disziplin der Entwicklung wissenschaftlichen bzw. philosophischen Selbstbewusstseins der einzelnen Sach­ disziplinen im akademischen System der neu zu formenden Universität. Deren Erneuerung ist spätestens durch die neu entwickelten Fächer der Chemie und des Elektromagnetismus, auch der Physiologie, zuvor schon der Gravitationsmechanik Newtons nötig geworden, aber auch durch das Unpassende der Oberherrschaft von Theologen und Reverends über das niedere und höhere Bildungswesen, von der Grundschule und dem Gymnasium bis zur Universität, ob in Deutschland oder England. Die Erneuerung der Philosophie aber wird spätestens seit Kant notwendig, da jetzt philosophia nicht mehr Überschrift über dem Gesamtbereich theoretischen Welt-Wissens (epistēmē, theoria, scientia) ist, sondern über einer sinnkritischen Analyse möglichen

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Wissens und Glaubens und einer methodologischen Ortsbestimmung disziplinär begrenzter und institutionell geformter Wissenschaften. Die skizzenhaften Merksätze in Hegels Enzyklopädie des Systems der theoretischen und zugleich logisch-methodisch selbstbewussten Wissenschaften stehen dann erstens in der ironisch-souveränen Tradition der Gnomen eines Heraklits, weisen zweitens ganz offenbar auf heutige Handouts für Studierende mit ihren ‚Thesen‘ voraus. Ich lese Hegels Titel „Natur“ und „Geist“ in eben diesem Kontext radikal als Überschriften für zwei thematisch und damit methodisch grundsätzlich verschiedene Gegenstandsgesamtbereiche des Wissens und damit als Vorschlag der Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft nicht bloß avant la lèttre (etwa bei Dilthey), sondern auch lange vor den Halbkopien Hegels im Neukantianismus (etwa bei Rickert und Windelband) und den durchaus irreführenden Unterscheidungen zwischen verstehenden und erklärenden bzw. idiographisch-historischen und nomothetisch-gesetzesartigen Wissenschaften. Hegel ist nach meinem Lesevorschlag der Denker der modernen Universität. Wenn die Philosophie nach seiner Zeit nicht mehr so wichtig erscheint, dann nur deswegen, weil sein Konzept einer universitären Gesamtwissenschaft nach und nach weltweit etabliert wird, aber ohne dass man sich des Konzepts und Projekts, seiner Rahmenbedingungen und Gliederungen immer voll bewusst bliebe. Heute wird eine Erinnerung an diese Entwicklung deswegen wieder so wichtig, weil die Form selbstbewusster Wissenschaft sowohl beim empirischen Datensammeln als auch beim Basteln rein hypothetischer Theorien dauernd in Vergessenheit zu fallen droht.

Methodischer Autismus in empiristischen Theorien des Mentalen

Vor den Wortprägungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts werden in Hegels Enzyklopädie der Wissenschaften also die Natur- und die Geisteswissenschaften in ihrer jeweiligen prinzipiellen Logik der Forschung und in ihrem immer dialogisch-dialektischen Streit um kanonische Artikulationen generischen Wissens als kollektive Arbeit am Begriff thematisiert. Im angelsächsischen Sprachraum gibt es dagegen bis heute eine science nur für den Bereich des Naturgeschehens und des empirisch beobachtbaren sozialen Durchschnittverhaltens in den sogenannten social sciences. Eine Wissenschaft (scientia) des Geistigen gibt es nicht. Das liegt auch daran, dass man sich seit Hobbes, Locke und Hume in gewisser Weise vor dem Wort „spirit“ ängstigt und daher das Mentale des „mind“ oder „Gemüts“ mit dem allgemeinen Geist

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verwechselt, an dem wir teilzunehmen lernen müssen, um personale Subjekte zu werden. Das Wort „Gemüt“ ist gerade auch bei Kant – wie in der deutschen Sprachtradition überhaupt – eine Art säkularisierte Variation des Ausdrucks „Seele“ und steht für alles Innere, das wiederum metaphorisch auf die PsychoPhysiologie subjektiven Verhaltens in enaktiven Kognitionen verweist. Der englische Ausdruck “humanities” steht mehr oder weniger verschämt für eine bloße Entwicklungsgeschichte ohne theoretisch-allgemeines Verstehen. Als bloße historia ist sie nur Zuarbeit für eine Fernsehgeisteswissenschaft im History Channel. Es ist daher ein schönes Zeichen eines fast abgrundtiefen und weltweit festgefahrenen sachlichen und sprachlichen Unverständnisses, wenn man eine bloße philosophy of mind als säkularisierte Theorie des Gemüts oder der kognitiven Psyche mit einer Philosophie des Geistes und innerleibliche mind-body-relations mit Verhältnissen zwischen physischer, natürlicher Welt und einem transsubjektiven, daher geistigen Wissen und Können verwechselt. Rückt man den allgemeinen Rahmen zurecht, erweist sich der objektive Geist als thematischer Gegenstand aller Kultur- und Institutionenwissenschaften, von den Sprach-, Literatur- und Geschichtswissenschaften über die Staats-, Rechts- und (auch ökonomischen) Gesellschaftswissenschaften bis zur Humanpsychologie und Pädagogik. Der absolute Geist dagegen ist die Vollzugsform gemeinsamen personalen Lebens, wobei allerdings eine mitwissende Reflexion auf Geist und Natur im Mittelpunkt steht. Sie ist das (Selbst-) Bewusstsein der Con-Scientia, des Mit-Wissens um die große Tatsache, dass wir Menschen geistige Wesen, also personale Subjekte sind, und der praktischen, durchaus auch emotionalen Haltung zu dieser Tatsache. Religion, Kunst und Philosophie sind dabei drei grundsätzliche Formen, gemäß welchen wir uns explizit und damit zumindest partiell bewusst zu uns selbst verhalten. Indem wir dies tun, sind wir selbst der absolute Geist im Vollzug. Wenn wir aber Religion, Kunst und Philosophie in einer positiven, d. h. rein empirisch-narrativen, Kulturgeschichte (historia) und dann auch in einer theoretischen Überlegung zu den institutionellen Formen zum thematischen Gegenstand machen, gehen wir in Distanz zu unseren eigenen Vollzügen und Haltungen. In dieser Objektivierung durch formale Vergegenständlichung erscheinen unsere Praxisformen, gerade auch die des Religiösen, der Kunst und die seltsamen Reden der Philosophen, als ein scheinbar merkwürdiges und fremdes, manchmal geradezu sinnloses und unverständliches Verhalten. Wir treten also in der Betrachtung des objektiven Geistes aus dem Vollzug, auch aus dem eines spekulativen, d.h. hochstufigen, Selbst-Wissens erst einmal

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heraus. Wenn wir diese (Selbst-)Distanzierung als ersten Schritt eines reflexiven Selbstbewusstseins nicht in einem zweiten Schritt dadurch aufheben, dass wir den Inhalt von der Form unterscheiden und den haltbaren Inhalt tätig anerkennen, entfremdet uns schon der erste Schritt in seiner Selbst-Verdinglichung ironischerweise von uns selbst. Indem wir so partiell aus der Praxis, ein personales Subjekt zu sein, aussteigen, besteht die Gefahr, dass wir uns selbst nur als animal mit vermeintlich mehr oder weniger angeborenem Sozialverhalten und unsere Sprache bloß als semiotisches Signalsystem betrachten. Eben dieser Gefahr ist der naive Realismus und Empirismus, Naturalismus und Behaviorismus von Locke bis in die gegenwärtige Kognitionsphilosophie erlegen. Auch das Wissen darüber, was Wissen ist, ist als solches am Ende praktisch, wie Hegel hervorhebt, also nicht bloß theoretisch, schon gar nicht beschränkt auf den akademischen Bereich kritischer Kommentare zu diversen Wissensansprüchen oder Glaubenshaltungen. Aristoteles nennt seine noēsis noēseōs „göttlich“, wohl um zu sagen, dass das Ideal absoluter Wahrheit in Wirklichkeit am besten erreichbar ist in der spekulativen Reflexion auf die Gesamtverfassung des Wissens bzw. des Geistes und in einer entsprechenden Berücksichtigung im wirklichen Urteilen, Schließen und Handeln. So jedenfalls scheint Hegel Aristoteles zu lesen. Die verdeckte, latente Wahrheit von Theologie und Religion als Praxisfor­ men der Tradition erkennt am Ende nur, wer das Ungediegene sowohl jedes mythologisierenden Aberglaubens als auch jeder überheblichen Religions­ kritik zu sehen gelernt hat. Ungediegen heißt dabei alles, was nicht fertig entwickelt, erwachsen, voll gebildet ist. Dabei zeigt sich Halbbildung nirgends so deutlich wie dort, wo man sich nur noch an den Ausdrucksformen, Bildern und Metaphern festhält und auf dem Weg zum Inhalt auf der juvenilen Ebene des schematischen Verstandes wie in bloß essayistischen Übungen verharrt.

Idealismus als Anerkennung der Absolutheit subjektiver Vollzüge

Hegels so genanntes System des absoluten und objektiven Idealismus ist insgesamt nicht das, wofür man es hält. Es ist kein Weltgeistspiritualismus, sondern aufgeklärteste Einsicht in das Primat des Wissens vor der Wahrheit, der Praxis vor der theoretischen Reflexion und des allgemeinen, materialbegrifflichen Denkens sogar noch vor bestimmten Objektwahrnehmungen. Dass das, was als Wirklichkeit einem Schein gegenübergestellt wird, durch das vernünftige Urteilen bestimmt ist, ergibt sich am Ende als Entwicklung eines

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Nachdenkens, das mit Descartes’ Einsicht in den absoluten Vorrang denkenden Lebensvollzugs vor relationalen Aussagen über Sachen beginnt. Wir müssen daher die übliche Lesart des hegelschen Idealismus loswerden. Es handelt sich nicht um ein bewusstseinsphilosophisches Weltbild. Hegel ist nicht mit Malebranche oder vielleicht auch Berkeley zu verwechseln. Es geht in seiner sinnkritischen Onto-Theo-Logie um die Explikation des Absoluten im Sinne der Gesamtordnung unseres allbekannten Wissens im Vollzug, dabei auch der durch besondere Themen und durch Disziplinen bestimmten Methoden der Forschung und Darstellung. Wesentliche Ursachen für die allzu üblichen Fehleinschätzungen bestehen, erstens, in der sowohl gnomischen als auch generischen Sprachform, in welcher Hegel seine Überlegungen präsentiert, zweitens in der Missachtung des inhaltlichen Schwerpunkts von Hegels negativer Philosophie. Die Sprachform präsentiert sich inhaltlich dialogisch als Folge orakelartiger, dialektischer, figurativer, daher auch ironisch-katachrestischer Merksätze. Es wird dabei eine radikale Kritik an jedem Glaubenssystem im Sinne eines theologischen, szientifischen oder weltanschaulichen Weltbildes entwickelt, durch das man wie durch eine getönte Brille mit eingebauten Scheuklappen die ganze Welt und sich selbst scheinbar ‚objektiv‘ wie einen endlichen Gegenstand von der Seite, von außen, sub specie aeternitatis oder aus der Sicht eines vorgestellten überzeitlichen Gottes her betrachtet. Man muss also erstens die Textart lesen lernen, zweitens die natürliche Torheit der Moderne, den Empirismus und naiven Objektivismus, überwinden. Von der unaufhebbaren Zentriertheit des Lebens und Wissens im Subjekt und seiner Endlichkeit ist nie ganz abzusehen. Sogar noch das primitive Denken und mythische Urteilen der Vergangenheit kann inhaltlich weiser sein als eine Aufklärung, welche Texte, die dem Wortklang nach irreführen mögen, in einer Art Autodafé der Vernunft gleich ganz verbrennen will. Wir tun entsprechend gut daran, Hegel zu folgen und alle Reden über Gott oder Geist, über das Sein oder die Seele, über das Absolute oder die ganze Welt nicht durch ein Rasiermesser vermeintlicher Ontologie-, Glaubens- oder Sprachkritik wegzuschneiden, sondern ihren spekulativen, prinzipientheoretischen Sinn durch neue Formulierungen aufzuheben. Ironischerweise fordert schon Hobbes, der ganz offenbar selbst wesentlich mit Metaphern argumentiert, eine Sprache, welche alle figurativen Redeformen vermeiden soll. In analoger Weise ist die Analytische Philosophie selbstblind. Sie übersieht das Problematische ihrer Identifizierung klarer und deutlicher Sprache mit einer kanonischen Schreibweise formaler Prädikatenlogik wie bei Rudolf Carnap, W.V.O. Quine oder David Lewis.

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Richard Montagues Gleichsetzung natürlicher Sprache mit einer formalen Automatensprache ist bestenfalls dann sinnvoll, wenn wir uns der analogischen Zuordnungen zwischen Sprache als Kalkül und Sprache als Praxisform bewusst bleiben. Wenn es nun in der Gegenwart um eine Philosophie des Geistes bzw. eine philosophische Psychologie oder Seelenlehre zu tun ist, halten fast alle Analytischen Philosophen mit Peter Bieri den Hinweis auf Hegels Philosophie des Geistes für ein rhetorisch notwendiges Lippenbekenntnis. Man will damit aber wohl nur zeigen, dass man den Titel von Hegels Phänomenologie des Geistes und die Überschriften im dritten Teil seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften kennt. Hegels Ansatz erklärt man in einem der nächsten Sätze für inzwischen völlig überholt. Es erscheint daher als unzeitgemäß, die Möglichkeit auch nur zu erwägen, ob nicht umgekehrt vieles an der ‚philosophy of mind‘, an den psychophysiologischen Theorien des Inneren, gerade auch in den ‚empirischen‘ Kognitionstheorien, wie sie heute Konjunktur haben, reiner Anachronismus, Rückkehr zu den Metaphern bei Locke und Hume ist. Diese wären zu konfrontieren mit den zwar sprachlich schwierigen, aber bei geeigneter Kompetenz im kritischen Umgang mit Sprache und Logik gerade nicht bloß dunklen Überlegungen Hegels zu Geist und Gemüt und zur Metaphorik des Inneren. Nicht die Hirnforschung, sondern die Begriffs- und Ideengeschichte ist wahre Dekonstruktion christlich geprägter Seelenmetaphysik. Zugleich ist sie Rekonstruktion der von dieser verschütteten antiken Einsichten in die grammatischen Ursachen der Hypostasierung von Gegenständen reflektierender Rede. Hegel kritisiert in der Tat alle ‚individualistischen‘ bzw. ‚subjektivistischen‘ Bewusstseinstheorien, wie sie im kontinentalen Cartesianismus ebenso wie im britischen Empirismus als Erbe christlicher Vorstellungen zu begreifen sind. Besonders diffus sind dabei die naturalistischen bzw. biologistischen Gebräuche von Wörtern wie „consciousness“ und „mind“, Bewusstsein und Gemüt. Daher bleibt zu prüfen, ob die zugehörigen reflexionsphilosophischen Überzeugungen, denen zufolge ein Zugang zum Mentalen mit einer Art Selbstbeobachtung der einzelnen Individuen zu beginnen habe, einer sinnkritischen Begriffs- und Sprachanalyse standhalten, zumal wenn wir die Aufgabe einer sinnanalytischen Metaphysik-, Ontologie-, Theorie- und eben damit Vorurteilskritik ernst (genug) nehmen. Die Frage ist also, ob die empiristischen Grundüberzeugungen im international praktizierten Diskurs um den subjektiven Geist des mind, also des bloßen Gemüts, der Einzelseele, überhaupt schon hinreichend befragt sind. Denn sie halten einer begriffs- und dann auch sprachanalytischen Kritik keineswegs stand, wenn man sich nicht mit bloßen

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Versicherungen abspeisen lässt, wenn also die Aufgabe einer Metaphysik-, Ontologie- bzw. Vorurteilskritik ernst genug genommen wird.

Kritik am Empirismus

Wilfrid Sellars hat erkannt, dass seine Kritik am Sinnesdatenempirismus in der Tradition Hegels steht. Diese Kritik bedeutet den Zusammenbruch des gesamten Ansatzes der klassischen Erkenntnistheorie, und zwar von Descartes über Hume sogar bis zu Kant und in die so genannte Analytische Epistemologie hinein, und zwar unter Einschluss gegenwärtiger biologistischer Kognitionstheorien. Jeder unmittelbare Beginn bei einer vermeintlich unmittelbaren Selbstgewissheit oder einer unmittelbaren Beobachtung der Einzelsubjekte hat von vornherein eine Mystifizierung geistiger Fähigkeiten zur Folge. Das liegt daran, dass diese Fähigkeiten nur als Teilhabe an einem Gemeinschaftsprojekt, einer Praxis, zu begreifen sind, wie nach Platon und Aristoteles besonders Hegel und dann auch Wittgenstein erkennen. Man kann aber auch nicht mit einem ebenfalls vermeintlich unmittelbaren Bezug auf Objekte beginnen. Das immerhin hat Kant ernst genommen. Es gibt kein unvermitteltes Fundament irgendeines Wissens in einer schon gegenstandsbezogenen Empirie, wie dies der gegenwärtig herrschende szientifische Naturalismus oder Kognitivismus unterstellt. Man kann das logisch auch so ausdrücken: Da Erkenntnis und Wissen immer relational sind, lassen sie sich weder allein vom Subjekt, noch allein vom Objekt her definieren oder auch nur verstehen. Und da generisches Wissen immer allgemein ist, enthält es schon Formen der Überschreitung je subjektivlokaler Perspektiven. Die Folge ist, dass auf der Subjektseite die Relationen der Personen zueinander zu berücksichtigen sind, zumal wir nur zusammen zu einem gemeinsamen Träger unseres Wissens werden. Damit ist neben der Beziehung von mir oder uns auf das Objekt (also die Objektwelt) immer auch die Beziehung von mir zu dir oder zu ihm, also zwischen uns Subjekten oder Personen, als logischer Strukturteil jedes Wissens(anspruches) zu berücksichtigen – wie neuerdings Robert Brandom mit Recht betont9. Dabei ist die Zeitlichkeit und Endlichkeit unserer realen Wissensentwicklung angemessen zu berücksichtigen. Am Ende ist ein rein objektfixierter oder rein formaler, idealer Begriff des Wissens und der Wahrheit logisch so naiv, ungediegen, juvenil wie die 9  Brandom 1994.

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Vorstellung, Wörter wie „groß“ oder „gut“ klassifizierten Gegenstände ohne Berücksichtigung der impliziten Standards, in Bezug auf welche etwas größer oder besser als der je als Maßstab oder Kanon unterstellte Maßstab ist. Eben das sollte übrigens schon als eine der Kerneinsichten Platons anerkannt werden. Reales Wissen ist immer endlich, ‚bürgerlich‘, pragmatisch. Die Rede von einem absoluten Wissen dient nicht anders als die von einem vollkommenen Kreis nur der Reflexion und Artikulation einer Form, deren reale Existenz nie vollkommen ist. Das gilt für die Entwicklung und Kontrolle von allen Wahrheits- bzw. Richtigkeitsansprüchen, auch der Erfüllung irgendwelcher institutioneller Normen des Richtigen. Diese begrifflichen Tatsachen sind anzuerkennen. Es ist unsinnig, ihnen entgehen zu wollen. Dabei hängt das individuelle Vermögen des einzelnen Sprechens und damit des Denkens systematisch von einer gemeinsam tradierten Praxis oder Institution der Sprache i.w.S. und damit des unter anderem immer auch sprachlich fixierten und tradierten Wissens ab. In eben diesem allgemeinen Sinn ist es ein überindividueller Geist, an dem jeder von uns sozusagen teilhat, sofern er überhaupt irgendetwas Geistiges tut oder leistet, z.B. etwas weiß oder auch nur etwas Bedeutungsvolles, wenn auch noch möglicherweise Falsches sagt oder denkt. Eben diese, im Grunde triviale, weil (material)begriffliche, Abhängigkeit aller geistigen Fähigkeiten einzelner Personen von einer gemeinsamen Kultur der Vernunft ist die Basiseinsicht Hegels. Angesichts von Hegels Leistungen in den entsprechenden Analysen unserer mentalen Begriffe und seiner Sinnkritik sowohl des Physikalismus als auch jedes individuenzentrierten oder eben subjektiven Idealismus in Nachfolge der Einsichten des Aristoteles ist es nachgerade ein Treppenwitz der Rezeptionsgeschichte, dass Hegel bis heute als idealistischer Metaphysiker abgetan wird.

Der Geist einer Praxis und die Praxis des Geistes

Über die Frage nach dem Geist einer Praxis oder dem Sinn einer Rede hinaus steht hier offenbar die noch höherstufigere Frage nach dem Sinn unserer reflektierenden Reden über einen Geist von X oder einer Seele von Y im Zentrum der Betrachtung. Es geht um die Frage nach dem sinnvollen Gebrauch entsprechender Sätze. Es gibt hier immer einen engen Zusammenhang von ‚Ontologie‘ des Geistigen, logischer Formanalyse der Rede über Geistiges, Philosophie des Geistes, philosophische Anthropologie, Philosophie der Psychologie und der Sozialwissenschaften und Ethik im allgemeinsten Sinn. Denn eigentlich

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werden unter diesen Titeln je nur besondere Aspekte unserer Bezugnahmen auf das Reich des Geistes thematisch. In einer philosophischen Anthropologie geht es um die begrifflichen Differenzen zwischen Mensch und Tier, zwischen geistbegabten Lebewesen und Tieren, deren Benehmen bloß auf präsentischen Zuständen und Wahrneh­ mungen, nicht auf allgemein explizierbaren Gründen beruht. Daher ist auch das Spartendenken in der Philosophie systematisch eher abwegig: Die Seele ist nicht etwa bloß Thema der Theologie und Religionsphilosophie, sondern jeder (philosophischen, d.h. begriffsanalytischen) Psychologie und insbesondere der Philosophie der Person. Tatsächlich wird das, was man heute manchmal eher etwas aufgeregt unter der neuen Spartenüberschrift einer Philosophie der Person diskutiert, bei Platon und Aristoteles als Begriff bzw. Idee der psychē oder Seele und der aretē qua Gesamt- und personaler Kompetenz sowohl im Sinn personaler Fähigkeiten des unmittelbaren Handelns als auch personaler Haltungen (qua hexis oder habitus) analysiert. Leider pflegt die undifferenzierte behavioristische Rede von „Dispositionen“ die Dinge gleich wieder zu verunklaren. Noch nicht einmal das Benehmen der Tiere ist rein dispositionell angemessen zu begreifen, schon gar nicht das Urteilen und Handeln der Menschen. Erst recht wird schnell übersehen, was schon Kant klar sieht, dass Dispositionen ebenso wie jede Rede von Kräften durch Denken, also Reden in die Dinge und Wesen gesetzt werden. In einer Art phänomenologischen Revirement führt uns ein Weg vom Beispiel zum Begriff: Das Wort „Geist“ kommt unter anderem in Ausdrücken der folgenden Art vor: „Der Geist, den dieser Text atmet“; „Der Geist der Gesetze“; „Dem Geist einer Formulierung oder einer Untersuchung gerecht werden“; „Zeitgeist“; „Stichwörter zum geistigen Zustand der Zeit“; „Der Geist einer Epoche“; „Der Geist des Christentums“; „Sein Geist hat sich getrübt“; „Sein Geist überragte die der anderen“; „Gott ist Geist“; „Rübezahl ist ein Naturgeist“; „Im Gehölz waren Elfen und Geister“; „Die Geister, die er rief, wurde er nicht los“. Man sieht dabei, dass manche dieser idiomatischen Gebräuche des Wortes „der Geist“ mit dem Gebrauch der Ausdrücke „der (wesentliche) Sinn“ oder auch „das Wesen“ weitgehend übereinstimmen, aber auch mit „Kultur“ und „Pflege“, „Sinn“ und „Inhaltsverstehen“. Das Wort „Seele“ kommt u.a. in Ausdrücken der folgenden Art vor: „Er ist eine Seele von Mensch“; „Er hat seine Seele verkauft“; „Sie leidet an einer Krankheit der Seele“; „Mit Leib und Seele tut er dieses“; „Seelenverwandtschaft“; „Die Weltseele zu Pferde“; „Ein Dorf von 300 Seelen“; „Seine Seele hat den Körper verlassen“; „Er glaubt an die Unsterblichkeit der Seele“; „Seelenwanderung“; „Sie sah die Seele ihres Urgroßvaters vor sich“; „Beten für die Seelen der Abgeschiedenen“; „Die Seelen der Verstorbenen um Hilfe bitten“. Man sieht,

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dass manche idiomatische Gebräuche des Wortes „Seele“ mit dem Gebrauch der Wörter „Person“, „Persönlichkeit“ oder „Charakter“ zusammenfallen. Andere verweisen auf das Gemüt, das Innere, das Mentale, den ‚Mind‘. Die Unterstellung einer physizistischen, d.h. sich am Muster der Rede über konkrete Dinge orientierenden Basis als eines selbstverständlichen Ausgangspunktes für alle ‚objektiven‘ Geltungsansprüche, Wissens- und Wahrheitsbedingungen verschiebt offenbar die Diskussionslage dadurch, dass bestimmte Fragen, nämlich die nach der Verfassung, nach Status, Sicherheit und topischem Bereichs- oder gar Interessenbezug ‚naturwissenschaftlicher Erklärungen‘ von Phänomenen und realen Erfahrungen nicht mehr gestellt werden können. Ihre Beantwortung wird damit unterstellt, als angeblich klar vorausgesetzt. Ist die Naturwissenschaft, so scheint man rhetorisch zu fragen, mit ihren Leitwissenschaften, der Physik (seit Newton) und der Biologie (seit Darwin und der Entwicklung der modernen Genetik) nicht gerade aufgrund ihres technischen Erfolgs und ihrer sicheren empirisch-experimentellen Kontrollierbarkeit der beste Ausgangspunkt und das beste Paradigma auch für jede wissenschaftliche Erforschung und theoretische Erklärung der ‚geistigen Fähigkeiten‘ der Menschen etwa im Unterschied zu Tieren? Die Überzeugungskraft dieser ‚Argumentation‘ hat als allgemeine Folge eine entsprechende Transformation der Erkenntnistheorie in eine physizistische, heute vorzugsweise biologistische, sich am Muster (neuro-) physiologischen Wissens und evolutionstheoretischer Erklärungen orientierende Kognitionstheorie. An diese Bewegung der ‚Naturalisierung‘ der Erkenntnistheorie und einer naturalisierten Kognitionstheorie, die sich am neuen Wissenschaftsparadigma der Biologie ausrichtet und damit in den Rahmen des allgemeinen Physizismus stellt, sind jetzt ganz offenbar alte Fragen erneut zu stellen. Zu diesen gehört z.B. die Frage, wie sich denn ein wirkliches oder angebliches, reales oder ideales Wissen über die Arbeitsweise unseres Gehirns verhält zu unseren realen Erfahrungen als empfindende und fühlende, denkende und handelnde, sprechende und mit anderen kooperierende Wesen, also als Personen. Dazu gehören auch Fragen nach der Reichweite und dem rechten Verständnis neurophysiologischen Wissens oder nach dem Erklärungsanspruch einer Theorie der Wahrnehmung oder der Sprachverarbeitung: Wie sind die gegebenen Theorien ‚wirklich zu verstehen‘? Welche Aufklärungs- oder Erklärungsansprüche werden explizit gestellt oder implizit unterstellt? Welche dieser Ansprüche werden ‚wirklich‘ befriedigend erfüllt, also nicht nur so, dass bloß manche, vielleicht lediglich diffuse oder gegenüber starken Versprechungen oder Erwartungen faktisch bloß sehr bescheidene Ansprüche befriedigt werden?

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Die Unterscheidung zwischen einer wissenschaftlichen Erklärung und der Befriedigung eines vagen Erklärungsbedürfnisses durch mythologieartige Kosmologien, die möglicherweise bloß der äußeren Form oder dem Anschein nach ‚wissenschaftlich‘ heißen können, ist noch nicht einmal als Problem erkannt. Es wird nicht gesehen, dass gerade die selbstgewisse Kritik an der angeblichen Unaufgeklärtheit ‚religiöser‘, etwa ‚theologischer‘ Mythologien und das Plädoyer für eine ‚wissenschaftliche Aufklärung‘ blind für die Tatsache machen kann, dass die eigenen wissenschaftlichen Kosmologien selbst Mythologiecharakter haben oder erhalten können. Zur Rechtfertigung der modernen Kosmologien unter Einschluss einer kosmologisch-genetischen und daher „wissenschaftlich“ genannten ‚Erklärung des Bewusstseins‘ und zu ihrem rechten Verständnis reichen die üblichen Forderungen nach Konsi­ stenz und nach Kohärenz mit dem ‚realen‘, d.h. in Handlungsorientierungen und technischen Reproduktionen erfolgreichen Wissen bei weitem nicht aus, schon gar nicht die Erfüllung des (in vielen Fällen verständlichen) Wunsches nach einer theoretischen Form der Darstellung mit ihren exakten, sprachtechnisch leicht lern- und kontrollierbaren Regelungen der syntaktosemantischen Wohlgeformtheit der Sätze und der formal für zulässig gehaltenen Deduktionen. Mit anderen Worten, Exaktheit der theoretischen Artikulation und Kohä­ renz mit technisch verwertbarem Wissen sind allzu oberflächliche Bedingungen, als dass sie ernsthaft als entscheidende Kriterien in einer Debatte um ‚kosmologische‘ Erklärungen der Genese und Wirklichkeit unserer realen Erfahrungs- und Handlungswelt taugen könnten. Wer sich mit ihren Kontrolle und einem vagen Befriedigungsgefühl zufrieden gibt, der ist in der Frage, was zureichende kosmologische Erklärungen etwa des ‚Phänomens‘ des Bewusstseins sein sollen und sein können, möglicherweise noch allzu bedürfnislos. Eine weitere zentrale Frage ist diese: Wie beurteilen wir Thesen, die sagen, wissenschaftliche, gerade auch kosmologische, Erklärungsansprüche ließen sich ‚möglicherweise‘, etwa in einer fernen Zukunft, erfüllen? Was wird dabei versprochen? Dabei müssen zumindest Frage und Antworttypen schon vorcharakterisiert sein, bevor überhaupt etwas gesagt oder versprochen ist. Es steht außer Frage, dass es auch in absehbarer Zeit keine theoretische ‚Erklärung‘ geistiger (‚mentaler‘) Kompetenzen und deren Ausübung auf physizistischer Basis geben kann. Es gilt sogar, dass wir mit einer solchen nicht rechnen sollten oder können, zumal, wie gesagt, unklar ist, welche Bedingungen eine solche Erklärung erfüllen sollte und erfüllen könnte, über den bloßen Glauben hinaus, die Bedingungen seien erfüllt. Ein solcher Glaube beruht

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am Ende bloß auf Befriedigungsgefühlen. Ohne die Unterscheidung zwischen realer und bloß versprochener Erklärung und zwischen einer wissenschaftlichen Kausalerklärung und einer kosmologieartigen Rahmenerzählung verstehen wir die Bedeutung der folgenden Frage kaum: Was wird in den materialen, sich am medizinisch-physiologischen Forschungsrahmen orientierenden Kognitionswissenschaften mehr geleistet, als dass notwendige, zum Teil physiologische, zum Teil pädagogisch-soziale, Voraussetzungen und Vorbedin­ gungen beschrieben und untersucht werden, wie sie für die Teilnahme an einer gemeinsamen Praxis des ‚geistigen‘ Lebens, also des (ggf. ‚bewussten‘) Wahrnehmens, Redens, Verstehens, Nachdenkens, Urteilens, Planens usf. vor­aus­gesetzt werden? Diese Untersuchungen setzen ersichtlich schon voraus, dass wir selbst die Kompetenzen haben und die zugehörige soziale, institutionelle Praxis kennen. Transzendentale Reflexion ‚erklärt‘ diese Praxis nicht als solche, sondern expliziert ihre Formen. Erklärt werden eher besondere Kompetenzlimitie­rungen. Untersucht werden daher in den Kogni­ tionswissenschaften Ursachen ‚mentaler‘ Ausfälle oder eines kognitiven Unvermögens individueller Personen, nicht, was es heißt, die entsprechende Kompetenz zu haben. Ironischerweise, so könnte man sagen, sind alle kosmologischen Erklärungen der Gegenwart teleologisch insofern, als sie die Kenntnis der Gegenwart voraussetzen. Das gilt insbesondere für jede ‚evolutionstheoretische‘ Erklärung. Insofern sind alle Kosmologien grundsätzlich von der Art einer Mythologie, nicht von der Art einer kausalen Theorie der generischen Erklärung wiederholbarer Ereignisverläufe, die übrigens in der Regel in einem statistischstochastischen Rahmen zu sehen sind, in dem ‚deterministische‘ Erklärungen nur einen idealen Grenzfall ausmachen. Daran ändert auch das ‚wissenschaftliche‘ Aussehen der modernen Kosmologien nichts. Hegel hat also durchaus recht zu betonen, dass jede genetische Geschichte, sei sie Naturgeschichte, sei sie Kultur-, Institutionen- oder Geistesgeschichte, in jeder ihrer möglichen realen Verfassung als erzählte oder dargestellte Geschichte ‚teleologisch‘ verfasst ist. In der gegenwärtigen Diskussion ist dies dort anerkannt, wo man von einem „anthropischen Prinzip“ spricht. Es ist daher auch mehr als bloße Ironie, dass Geschichte immer eine Art Theodizee darstellt, nicht weil sie normative ‚Rechtfertigung‘ der bloß faktischen Gegenwart wäre, sondern weil diese Gegenwart unvermeidlicher Ausgangs- und Mittelpunkt aller Darstellung und Erklärung bleibt, sogar noch in allen fingierten Perspektivenwechseln, wie wir sie aus Erzählungen kennen, welche die Gegenwart als Vergangenheit aus einer Zukunft betrachtet oder den Ort unseres Lebens aus der Perspektive eines anderen Ortes.

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Auch hier ist immer sehr genau zu verstehen, was wir hier und heute tun, wenn wir so reden und solche Reden für gut erklären oder für wahr halten. Die ‚Rechtfertigung‘ Gottes in der Form der Anerkennung der Totalität der Gegenwart nimmt dann allerdings verschiedene Formen an, je nach dem, wie wir die Debatte um Rolle und ‚Wahrheit‘ kosmologisch-mythologischer Geschichtserzählungen und entsprechender Bewertungen beantworten. Wir sollten daher die allgemeine Struktur jeder Kosmologie oder Geschichte unterscheiden lernen von den konkreten Disputen um ‚richtige‘ Kosmologien oder Geschichten bzw. um ein Verständnis derartiger Richtigkeitsansprüche. Ich halte es hier für eine zentrale Einsicht Hegels, die er in gewissem Sinn aus Schellings Geschichts- und Naturphilosophie übernimmt, dass die Debatte um Geschichte, und zwar um jede Entwicklungsgeschichte sowohl der gegenwärtigen Natur, als auch der gegenwärtigen humanen Lebens-, Wissens- und Handlungswelt, eher der Debatte um gute und richtige Mythologien analog ist als einer Debatte um generische, unter bestimmten Bedingungen reproduzierbare, insofern zeitallgemein ‚wahre‘, z.B. ‚mechanische‘ Erklärungen. Die Stoßrichtung dieser Einsicht richtet sich ontologie- und metaphysikkritisch gegen jede ‚realistische‘ Deutung dessen, was wir als ‚Wissen‘ tradieren. Hier geht es insbesondere darum, was wir als historisches oder kosmologisches ‚Wissen‘ ansehen, bzw. was wir als Entwicklungsgeschichte für befriedigend halten. Hinzu kommt die Tatsache, auf die Hegel mit besonderem Nachdruck als bedenkenswert hinweist, dass die Geschichtsschreibung selbst ihre Geschichte hat, dass sie dauernd umstritten bleibt, dauernd umgeschrieben wird und nie als ‚die wahre Geschichte‘ stehen bleibt, dem Singularbegriff der Geschichte zum Trotz. Die berühmte, sattelzeitkonforme Erfindung der Rede von ‚der Geschichte‘ um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird damit schon von Hegel, so meine ich, als Titel für einen einheitlichen Gegenstandsbereich und eine einheitliche Wissens- und Urteilsform, der gemeinsamen Bemühung um ‚eine‘ Kosmologie, um eine möglichst gute und richtige Fortschreibung von Kosmologien verstanden, nicht einfach als Unterstellung einer wahren historischen Wirklichkeit, die es nur richtig abzubilden und ihren Verlauf kausal zu ‚erklären‘ gelte. Wer diese metastufigen Grundeinsichten in die logische Komplexität von Theorien, Erklärungen, Entwicklungsgeschichten und Kosmologien, und in die Formen der Debatten um ihre ‚Richtigkeit‘ und um das rechte Verständnis zugehöriger Richtigkeitskriterien nicht als Problem erkennt, der wird nicht einmal in Ansätzen Hegels Überlegungen folgen, geschweige denn, ihnen gerecht werden können. Vor diesem Hintergrund ist auch die Kritik Richard Rortys an der alle Unterschiede verschiedener Redebereiche nivellierenden Vorstellung eines

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korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs als Wiederaufnahme einer Kritik Hegels zu begreifen10. Die Idee vom Wissen als bloßem Spiegel der Natur oder einer gegebenen Realität verdeckt den realen, pragmatischen Ort unserer Geltungsansprüche. Aber schon die Einsichten des älteren Amerikanischen Pragmatismus, besonders die von William James, stehen trotz aller Kritik an einem möglicherweise fehlverstandenen Hegelianismus und subjektiven Idealismus sowohl historisch als auch systematisch in enger Nachfolge des Deutschen Idealismus. Das ist so, nicht zuletzt durch die Vermittlung der Amerikanischen Transzendentalisten. Fichtes Einsicht in das Primat des Vollzugssubjektes vor jeder Anerkennung von Aussagen über dieses oder über andere Gegenstände ist dabei die Kerneinsicht des ‚absoluten‘ Idealismus, der zugleich Einsicht in die Absolutheit subjektiven Lebensvollzugs ist. Es stellt sich damit die Transzendentalphilosophie insgesamt als kritische Fortführung einer Grundeinsicht des Descartes dar, der bei aller Zweideutigkeit seiner Überlegungen der erste war, der die Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem, was von uns als richtig anerkannt ist, und unserer Anerkennung selbst bemerkt hatte, und damit zwischen unseren symbolischen Modellierungen von Welt einerseits, und unserer Beurteilung der Modelle als passend oder wahr andererseits. Kant ist es, der dieser erkenntnis- oder wissenstheoretischen Grundeinsicht des Descartes, die auch die Grundlage der Überlegungen der später so genannten britischen Empiristen bildet, eine sowohl sinnkritische als auch ontologische, gegenstandskonstitutive Wende gibt, die nicht bloß, wie bei Berkeley, subjektzentrierter Idealismus bleibt, und auch nicht, wie bei Hume, behavioristischer Relativismus. Kant sieht, dass das, was wir als Welt oder Wirklichkeit oder Objektivität ansprechen, gerade das ist, was in einer von uns als wahr bewerteten empirischen Erkenntnis oder einem allgemeinen, auf Formen gehenden Wissen gesagt oder artikuliert ist. Der Begriff des Wissens also definiert den Wahrheitsbegriff, so kann man diese neue Sicht und diesen kopernikanischen Perspektivenwechsel Kants mit Fichte kurz darstellen. Damit wird unsere Praxis der Bewertung von Aussagen und Geltungsansprüchen als hinreichend oder richtig und unsere Praxis der Idealisierung dieser Praxis konstitutiv für das, was wir Wirklichkeit oder Objektivität nennen. Es wird damit klar, dass unsere eigene Fiktion eines idealen Schiedsrichters, nämlich eines Gottes, nur eine analogische Darstellung der Form unserer eigenen, auf Ansprüche reflektierenden, Schiedsrichterurteile und dann auch des idealisierenden Übergangs von realen Wissensansprüchen 10  Rorty 1981.

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zu einer idealen oder ‚absoluten‘ Wahrheit ist. Realiter gibt es nur die wirklichen Bewertungen der Ansprüche als mehr oder minder hinreichend erfüllt. Die Formen dieser Urteile werden keineswegs nur von religiösen Menschen gebraucht und sind, bei Gott, keine Erfindungen irregeleiteter Philosophen. Sie werden vielmehr gerade auch in den Wissenschaften und in ihrem üblichen Selbstbild mehr oder minder unbefragt unterstellt. Die Folge ist, dass der abgestorbene Geist eines unbegriffenen Gottes in gewissem Sinn nach der Säkularisierung der wissenschaftlichen Aufklärung durch die wissenschaftliche Weltanschauung schwebt11. Dass wir die Wahrheit nie kennen werden, kann freilich mehreres heißen, z.B. die Tautologie, dass wir ein Ideal realiter nie erreichen werden, da es sprachlich gerade als unerreichbar konstituiert ist. So ist z.B. auch die ideale Form eines Kreises nur in einer verbalen Weise gegeben, durch eine Nennung und durch die Nennung zugehöriger idealer Bedingungen, genauer, durch eine kontrafaktischen Entgrenzung der realiter, in der Welt der Körpergestaltungen bloß endlichen und begrenzten Erfüllbarkeiten von Formbedingungen. Brandoms Kritik an einem fundamentalen logischen Aufbau der Welt oder des Wissens setzt die Tradition Rortys und Sellars’ fort, jetzt aber im klaren Wissen darum, dass es sich bei diesen pragmatischen Grundeinsichten um eine Fortsetzung und Neuformulierung der Überlegungen Kants und Hegels handelt. Die Kritik richtet sich zunächst gegen die Unmittelbarkeiten eines Sinnesdatenempirismus, dann aber auch gegen neue ontologische Realismen etwa eines biologistischen Physizismus. Der Tatsache, dass wir uns immer schon auf einer recht hohen Stufe einer spiralförmigen, sozusagen stufenweise auf sich selbst zurückgebogenen Leiter einer partiell immer auch reflektierten Entwicklung in der Kontrolle von Wissen und anderer institutioneller Gebräuche befinden, können wir nicht entfliehen. Insbesondere setzen wir die weitgehende Beherrschung der Praxis voraus, die wir mit dem Titel „Sprache“ (i.w.S.) überschreiben. Sprache i.e.S. ist dabei nur das ‚linguistische‘ System sprachlicher Formen. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Identifikation der sprachlichen Formen selbst, sogar auf der scheinbar unmittelbaren Ebene 11  Die Vorstellung einer absoluten Wahrheit als eine Art Gespenst hinter unserem wirklichen Wissen äußert sich ironischerweise gerade auch in einer Skepsis, wie sie Emil du BoisReymonds in Bezug auf physiologische Erklärungen mentaler und geistiger Fähigkeiten artikuliert, in dem berühmten Ausruf im Reichstag: „Ignoramus, Ignorabimus“, also: „Wir wissen es nicht und werden es nicht wissen“. Das trotzige „Wir werden wissen“ auf dem Grab von David Hilbert wie auch Karl Poppers Rede von einer ‚Wahrheitsähnlichkeit‘ und einer asymptotischen Annäherung an die absolute Wahrheit wie schon bei Charles Sanders Peirce überzeugen bestenfalls zum Teil.

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der syntaktischen Konfiguration von Grundformen in komplexen Strukturen, immer in einem (leider oft bloß impliziten) Blick auf die Funktion der realen Gebräuche der Sprache als Mittel in der wirklichen Verständigung geschieht. Damit hängt der Begriff der Sprache i.e.S. systematisch von dem der Sprache i.w.S., der tradierten Praxis oder Institution ab. Sprache i.e.S. ist das Ergebnis einer auf die Praxis unter verschiedenen Aspekten oder Interessen reflektierenden Rekonstruktion eines Systems syntaktischer bzw. semantischer, auf die Ausdrucksgestalt bzw. das deduktive Folgern und Begründen abstellender Formen. In einer ontologie- und metaphysikkritischen Philosophie des Geistes ist es nachgerade eine Ironie der Rezeptionsgeschichte Hegels, dass er von einer teils formalistischen, teils biologistischen oder gar physikalistischen Metaphysik mit dem Argument abgetan wird, er sei idealistischer Metaphysiker. Die antimetaphysische Leistung von Hegels Analysen unserer mentalen Begriffe und ihr Beitrag zur Aufdeckung der Grundirrtümer sowohl des Naturalismus als auch jedes individuenzentrierten oder eben subjektiven Idealismus sind im Rahmen dieser Vorverurteilung in Vergessenheit geraten.

Teil 6 Objektiver und absoluter Geist nach Hegel – im Lichte der analytischen Philosophie



Kunst, Religion und Philosophie als Formen der Erkenntnis Christian Georg Martin Kunst, Religion und Philosophie bilden Hegel zufolge zusammengehörige Formen der Erkenntnis, d. h. formverwandte Weisen selbsttransparenter Darstellung von Wahrheit. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich dazu beitragen, diese Auffassung Hegels verständlicher zu machen, indem ich eine mögliche Begründung für sie skizziere. Als Ausgangspunkt soll hierbei das folgende Zitat aus dem Abschnitt „Stellung der Kunst im Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit und zur Religion und Philosophie“ aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik dienen: Die Unterschiede dieser Formen liegen im Begriff des absoluten Geistes selber. Der Geist als wahrer Geist ist an und für sich und dadurch kein der Gegenständlichkeit abstraktjenseitiges Wesen, sondern innerhalb derselben im endlichen Geiste die Erinnerung des Wesens aller Dinge: das Endliche in seiner Wesentlichkeit sich ergreifend und somit selber wesentlich und absolut. Die erste Form nun dieses Erfassens ist ein unmittelbares und eben darum sinnliches Wissen, ein Wissen in Form und Gestalt des Sinnlichen und Objektiven selber, in welchem das Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt. Die zweite Form sodann ist das vorstellende Bewußtsein, die dritte endlich das freie Denken des absoluten Geistes1. Gemessen an einer an empirischer Erkenntnis orientierten Vorstellung von Wissen muss Hegels Auskunft, Kunst, Religion und Philosophie – denn auf diese drei ,Formen‘ bezieht sich die zitierte Passage – stellten ein Wissen dar, zumindest fragwürdig erscheinen. Näher betrachtet ist an dieser Passage jedoch nicht nur erstaunlich, dass Hegel von Kunst, Religion und Philosophie als einem Wissen spricht, sondern dass sich das Wissen, das diesen drei Typen geistiger Tätigkeit entsprechen soll, ihm zufolge wesentlich darin unterscheidet, wie es Wissen ist, es sich bei Kunst, Religion und Philosophie also um eigene Formen des Wissens handeln soll. Weiter betrachtet Hegel diese Formen offenbar als spezifisch zusammengehörig oder verwandt – nämlich so, dass sie 1  Werke 13, 139.

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_036

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zusammen eine eigene „Sphäre“ des Wissens, die er die „absolute Sphäre des Geistes“ nennt2, ausmachen. Zudem nimmt er an, dass sich solches Wissen als „absolutes“ von „endlichem“ Wissen unterscheidet und dass die drei Formen absoluten Wissens – Kunst, Religion und Philosophie – untereinander linear geordnet sind. Zusammengenommen markieren die genannten Annahmen eine epistemische Auffassung der Kunst, der Religion und der Philosophie, die für Hegel spezifisch ist. Der vorliegende Beitrag versucht nicht, diese Auffassung historisch zu verorten oder philologisch aufzuklären, sondern verfolgt das Anliegen, dadurch zu ihrem Verständnis beizutragen, dass er einen Weg skizziert, auf dem sich für eine solche Position argumentieren lässt. Ein möglicher Vorteil einer solchen argumentativen Rekonstruktion besteht darin, dass sie einen in den Stand setzt zu fragen, ob gewisse notorische Züge von Hegels Auffassung der Kunst, der Religion und der Philosophie (wie etwa seine Rede von der Kunst als einem „Vergangenen“3 oder von der Philosophie als „im Dienste der Wahrheit fortdauernde[m] Gottesdienst“4) sich aus seiner Auffassung derselben als Formen des Wissens ergeben oder vielmehr kollaterale Annahmen darstellen, die von der Warte dieser Konzeption aus gegebenenfalls sogar zurückgewiesen werden können. Der folgende Versuch, Kunst, Religion und Philosophie mit Hegel als Formen des Wissens zu erweisen, zielt darauf ab, die Philosophie des absoluten Geistes als integralen Bestandteil seiner Geistphilosophie in den Blick zu bringen. Es ist weithin üblich, Hegels ,Lehre vom absoluten Geist‘ deflationistisch zu lesen und in ihr etwa einen methodologischen Anhang zu der in seiner Philosophie des subjektiven und objektiven Geistes entwickelten Auffassung des Erkennens und Handelns als sozialer, sich geschichtlich entwickelnder Praxis zu sehen, der sachlich nichts Neues bringe5. Andere Interpreten, die erkennen, dass eine solche Lesart philologisch nicht aufgeht, in der Konzeption des Geistes als einer 2  Werke 13, 139. 3  Vgl. Werke 13, 23–26 und 142–143. 4  Werke 13, 139. 5  So sieht Robert Brandom etwa in den letzten beiden Kapiteln der Phänomenologie bloß eine Art Appendix zur „substantiellen Arbeit“ der vorangegangenen Teile, deren Thema „the cognitive, recognitive, and practical dimensions of conceptual activity“ seien (Brandom 2014, Kapitel 14). Dabei solle das Religionskapitel zeigen, dass die zuvor philosophisch artikulierten Einsichten in die Verfasstheit solcher Aktivität auf unmittelbar-bildhafte und daher „weniger transparente“ Weise auch in der Religion zu finden seien. Das Kapitel „Absolutes Wissen“ stelle dagegen eine Art nachträglicher Methodenreflexion zum Gedankengang der Phänomenologie dar. – Der Lesart Terry Pinkards zufolge ist das, was Hegel „absoluten Geist“ nennt, einfach die sich auf verschiedene Weisen artikulierende Einsicht, dass menschliche

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sozialen Praxis aber ebenfalls den originellen und tragfähigen Kern von Hegels Geistbegriff sehen, erblicken in seiner Philosophie des absoluten Geistes einen dogmatisch-metaphysischen Rückfall Hegels hinter seine eigenen Einsichten zugunsten der Ansetzung eines jenseits jener Praxis verorteten, quasigöttlichen Selbst6. Was von dieser Warte aus als irrationales Residuum in Hegels Geistbegriff anmutet, steht im Zentrum des Interesses anderer, theologisch motivierter Interpreten7. – Bei aller Verschiedenheit ist den drei genannten Herangehensweisen gemeinsam, Hegels Geistphilosophie nicht als integrales Ganzes, sondern als Ensemble voneinander ablösbarer Theoriestücke anzusehen. Dagegen versucht der folgende Gedankengang zu zeigen, dass seine Philosophie des absoluten Geistes eine Voraussetzung einholt, ohne die sich Erkennen und Handeln gar nicht als solche verstehen lassen, und dass sich der Begriff des absoluten Geistes genau aus der im Durchdenken endlicher Formen des Geistes gewonnenen Einsicht, dass geistige Aktivität der entsprechenden Form für sich genommen unverständlich ist, ergibt. Dabei ist mit „absolutem Geist“ aber kein jenseits unserer gemeinsamen geistigen Vollzüge angesiedeltes Selbst bezeichnet, sondern die Form des Wissens, die unsere geistige Aktivität als geschichtliche Praxis der Kunst, Religion und Philosophie aufweist. Die folgenden Überlegungen gehen nicht von einem bestimmten Begriff des Wissens bzw. der Erkenntnis aus, sondern nehmen ihren Ausgang von einer schematischen Erläuterung dieses Begriffs, die im Zuge des Gedankengangs konkret gefüllt wird. Schematisch lässt sich Wissen als Tätigkeit charakterisieren, die sich selbst als objektiv gültig oder wahr durchsichtig ist – kurz, als Aktivität, die transparent wahr ist8. Ich werde eine Aktivität „transparent Gemeinschaften die „absoluten Prinzipien“, nach denen sie ihr Leben einrichten, selbst setzen (vgl. Pinkard 1996, 223; 254). 6  Habermas hat sich in philologischer Absicht kritisch gegen die Tendenz gewandt, den „metaphysischen Begriff des absoluten Geistes zu deflationieren“ (Habermas 1999, 217). Hegel verlange von seinen Lesern am Ende nämlich, „zur Erkenntnis einer alles bloß Subjektive überwältigenden Macht des Geistes [zu] konvertieren, die schicksalhaft […] durch die Geschichte der intersubjektiven Lebensformen hindurchgreift“ (ebd., 220). Damit falle er hinter seine eigenen Ansätze zu einem „post-mentalistischen Konzept einer sich selbst begründenden und genügenden Aufklärungskultur“ zugunsten der abstrakten „Denkfigur von Selbstbewußtsein oder Subjektivität“ (ebd., 188) zurück, die er zuvor wirksam kritisiert habe. 7  Theunissen unterstreicht: „Der absolute Geist selber ist auch ohne den endlichen Geist, was er wesensmäßig ist“, und spricht in diesem Zusammenhang von einer „absolute[n] Souveränität Gottes gegenüber der Welt“ (Theunissen 1970, 119). 8  Es könnte vielleicht überraschen, dass Wissen hier als Aktivität und nicht etwa als Disposition oder Fähigkeit charakterisiert wird. Überraschend ist es jedoch nur, solange kein klarer, nicht-psychologischer Begriff der Aktivität verfügbar ist. Der vorliegende Beitrag kann zur

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wahr“ nennen, wenn ihre Wahrheit und die zu ihr gehörige Weise des Für-wahr-Haltens intern aufeinander bezogen sind. Was bloß für wahr gehalten wird und außerdem wahr ist, ist darum noch nicht Erkenntnis. Es muss vielmehr eins vermöge des anderen sein, d. h. seine Wahrheit muss eine gewisse Weise des Für-Wahr-Haltens mit sich bringen, und die Weise, in der es für wahr gehalten wird, muss seine Wahrheit manifestieren. Unterschiedliche Typen geistiger Aktivität könnten so mit unterschiedlichen Typen transparenter Wahrheit einhergehen. Eine Form der Erkenntnis wäre dann – als Weise der Einheit von Erkenntnis – die einem Typ geistiger Aktivität entsprechende Weise selbsttransparenter Verbindlichkeit, mit Bezug auf die solche Aktivität ihre Einheit hat. Es könnte sich entsprechend zeigen, dass es keinen Begriff der objektiven Verbindlichkeit oder Wahrheit überhaupt gibt, sondern sich die Begriffe der Wahrheit und Erkenntnis nur im Durchgang durch eine Reihe von Begriffen geistiger Vollzüge in den Blick nehmen lassen, die je eigene Formen objektiver Verbindlichkeit und ihrer möglichen Transparenz mit sich bringen. Die Begriffe der Wahrheit und Erkenntnis wären so zwar nicht unabhängig von der Reihe ihrer besonderen, an bestimmte Typen geistiger Aktivität gekoppelten Formen verständlich, aber darum nicht notwendigerweise homonym, weil die entsprechenden Begriffe geistiger Vollzüge eine intern zusammenhängende Ordnung bildeten. Der folgende Gedankengang, der diese Annahme konkret auszuweisen sucht, gliedert sich in vier Hauptschritte. Im ersten Schritt nehme ich im Ausgang von Hegels Konzeption des Geistes den internen Zusammenhang zwischen den formalen Begriffen der Wahrheit, des Urteils, des Inhalts und der Erkenntnis schematisch in den Blick. Im zweiten Schritt betrachte ich zwei Formen endlicher Erkenntnis – empirische und praktische. Dabei kann eine Form der Erkenntnis „endlich“ genannt werden, wenn die geistige Aktivität, deren Einheit diese Form ausmacht, für ihre Wahrheit nicht allein als spontane Aktivität aufkommt. Im dritten Schritt werden Kunst, Religion und Philosophie als Typen geistiger Aktivität in den Blick genommen, die als spontane Aktivitäten für ihre Wahrheit selbst aufkommen, und insofern den Charakter absoluter, d. h. selbstbewahrheitender Erkenntnis haben. Schließlich wird im vierten Schritt die formale Zusammengehörigkeit von Kunst, Religion und Philosophie betrachtet, der gemäß sie die Sphäre des absoluten Geistes ausmachen.

Klärung eines solchen Begriffs allerdings nur indirekt beitragen. Um den Aktivitätscharakter des Wissens wenigstens sprachlich zu markieren, gebrauche ich im Folgenden bevorzugt den Ausdruck „Erkenntnis“ anstelle von „Wissen“.

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Geist – Wahrheit – Denken – Urteil – Erkenntnis

Unter „Geist“ verstehe ich mit Hegel nicht bloß die Sphäre des Bewusstseins, sondern den Prozess, im Zuge dessen Selbstbestimmungszentren, die leibhaftig in einem inhomogen organisierten Raum-Zeit-Spielraum verankert sind – d. h. Personen –, den betreffenden Spielraum zu einer gemeinsamen, bedeutungsvollen Welt artikulieren und gestalten9. Selbstbestimmung meint dabei die Selbstanreicherung mit Bestimmtheit eigener Art – nämlich von Bedeutung als Möglichkeit von Verbindlichkeit –, die geistige Aktivität aus sich bezieht. Was ich soeben die Leibhaftigkeit des Geistes genannt habe, setzt zwar voraus, dass Personen einen Leib haben, doch macht Leiblichkeit nur einen untergeordneten Aspekt der Leibhaftigkeit des Geistes aus. Diese besteht vielmehr darin, dass die Bedeutung oder der Gehalt, den geistige Aktivität aus sich bezieht, nicht erst nachträglich an vermeintlich unabhängig davon vorhandene “Bedeutungsträger“ geheftet wird, sondern geistige Vollzüge, die mögliche Verbindlichkeit aus sich beziehen, von vornherein ein sinnlich-materiales Moment aufweisen, d. h. im weitesten Sinne Ausdrucks- und Zeichenvollzüge sind. Geistige Aktivität hat ihrer Form nach einen allgemeinen, einen besonderen und einen einzelnen Aspekt, die wesentlich zusammengehören. Ihr allgemeiner Aspekt besteht darin, aus sich Gehalt oder mögliche Verbindlichkeit zu beziehen, die nicht in besonderem Dafürhalten aufgeht. Ihr besonderes Moment besteht dagegen darin, dass sie solchen Gehalt nur unter bestimmten Umständen – etwa denjenigen einer natürlichen Sprache – aus sich beziehen kann, die ein diesem Gehalt äußerliches, zufälliges Moment in Spiel bringen. Einzeln ist geistige Aktivität, insofern ihre allgemeine und besondere Dimension ihr jeweiliges Bestehen nur haben, insofern sie sich an wirklichen, selbst nicht wiederholbaren Vollzügen darstellen. Geistige Aktivität in ihrer Besonderheit und Einzelheit zu betrachten, heißt, sie im weitesten Sinne psychologisch zu betrachten. Dass Besonderes und Allgemeines an solcher Aktivität nicht von Hause aus geschieden sind, kann übersehen lassen, dass geistige Aktivität überhaupt eine nicht-psychologische Dimension mit sich bringt. Insofern geistige Aktivität sich auf den inhomogen organisierten RaumZeit-Spielraum richtet, innerhalb dessen sich (personale oder soziale) Zentren solcher Aktivität leibhaft verorten, bezieht sie ihre Wahrheit oder objektive Verbindlichkeit nicht allein aus dem, was an ihr selbstbezügliches 9  Vgl. § 381 der Berliner Enzyklopädie (Werke 10, 17). Für eine Begründung der im vorliegenden Beitrag vorausgesetzten Lesart von Hegels Geistbegriff vgl. Martin 2012, 618–627.

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Sichbestimmen ist, sondern ist als einbeziehende Selbstbestimmung sozusagen auf ein ,Entgegenkommen‘ der raum-zeitlichen Realität angewiesen, auf die sie sich artikulierend bezieht. Selbst wenn es Formen geistiger Aktivität geben sollte, welche ihre objektive Verbindlichkeit allein aus der nicht-psychologischen Dimension ihrer selbst beziehen, sind geistige Vollzüge jeden Typs als einzelne und somit auch zufällig bestimmte niemals automatisch Garanten der durch sie ins Spiel gebrachten möglichen Verbindlichkeit. Insofern geistige Aktivität sich auf die zu ihr gehörige Fähigkeit zur Artikulation des Verbindlichen als störbar bezieht, bringt sie nicht nur mögliche Verbindlichkeit, sondern Verbindlichkeitsansprüche mit sich. Der nächstliegende Fall des Anspruchs auf objektive Verbindlichkeit ist das Urteil. Jeder Akt, der seine eigene Besonderheit und Einzelheit als irrelevant und sich seiner allgemeinen Dimension nach als objektiv bindend oder gültig setzt, kann ein Urteil genannt werden. Dabei kann Urteilen nicht darin bestehen, einem wahrheitsfähigen Inhalt oder ,Gedanken‘ ein vermeintliches ,Wahrheitsprädikat‘ beizulegen. Jeder Gedanke beinhaltet nämlich schon als solcher ein Prädikat. Der Versuch, das Urteilen als Wahrheitsprädikation zu erklären, führt deshalb auf einen Regress. Denn wenn das bloße Beilegen eines Prädikats, das zu jedem Gedanken als solchem gehört, kein Urteil darstellt, kann auch das bloße Beilegen eines vermeintlichen Wahrheitsprädikats kein Urteil darstellen. Das Wahrheitsprädikat müsste dem in Frage stehenden Gedanken vielmehr urteilend beigelegt werden, damit solches Beilegen ein Urteil ausmachen würde, was als Definition des Urteilsbegriffs offenbar zirkulär ist. Der Begriff des Urteils kann somit nicht durch die Begriffe der Prädikation, des wahrheitsfähigen Inhalts und der Wahrheit erklärt werden10. Das Urteilen lässt sich somit zwar nicht zirkelfrei unter Bezug auf den Wahrheitsbegriff erklären, ist aber dennoch intern auf diesen bezogen – denn es beansprucht Wahrheit. Daraus folgt, dass auch der Wahrheitsbegriff intern auf den Urteilsbegriff bezogen ist. Denn wenn sich der Urteilsbegriff intern auf den Wahrheitsbegriff bezieht, dieser jedoch kein unabhängiges ,Merkmal‘ von jenem bildet, kann sich der Urteilsbegriff nur derart auf den Wahrheitsbegriff beziehen, dass sich dieser seinerseits intern auf ihn bezieht. Die Begriffe des Urteilens und der Wahrheit sind daher „Wechselbegriffe“ – keiner ist ohne den Bezug auf den anderen verständlich. Damit hängt zusammen, dass der Wahrheitsbegriff undefinierbar ist, er sich also nicht in logisch voneinander 10  Im Unterschied zu Frege, der zwischen Denken als ,Fassen‘ eines ,Gedankens‘ und Urteilen als ,Anerkennung‘ seiner Wahrheit unterscheidet (vgl. Frege 1993, 35), nehmen weder Kant noch Hegel ein denkendes Sich-Befassen mit wahrheitsfähigen Inhalten an, das selbst noch kein Urteilen ist.

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unabhängige Merkmale zerlegen lässt11. Während eine Realdefinition der Wahrheit ihrem Inhalt nach erst erklären möchte, was Wahrheit ist, setzt sie ihrer Form – ihrem urteilsmäßig artikulierten Anspruch nach – voraus, dass bereits klar ist, was ein Wahrheitsanspruch ist. Dass der Wahrheitsbegriff undefinierbar ist, kann nicht bedeuten, dass es sich bei ihm um einen „atomaren“ oder „logisch einfachen“ Begriff handeln würde, der sich nur unmittelbar durch eine Art „intellektuelle Anschauung“ „erfassen“ ließe12. Denn da sich der Wahrheitsbegriff intern auf den Urteilsbegriff bezieht, kann es sich bei ihm nicht um einen logisch einfachen Begriff handeln (einmal angenommen, dass die Rede von solchen Begriffen überhaupt Sinn ergibt). Ist der Wahrheitsbegriff weder definierbar noch unmittelbar erfassbar, kann er (als) das, was er ist, nur im Zusammenhang mit geistigen Vollzügen (verständlich) sein, die transparent das manifestieren, was er auf den Begriff bringt – nämlich Wahrheit13. Der Begriff der Wahrheit ist damit nicht nur intern 11  Kant hat bekanntlich die Auffassung vertreten, dass es kein allgemeines Kriterium der Wahrheit gebe (vgl. Kant 1990, = KrV B82). Wie ich an dieser Stelle nur behaupten kann, lässt sich auf der Grundlage seiner Argumentation zugleich ein Argument gegen die Definierbarkeit des Wahrheitsbegriffs – dessen Zerlegung in selbständige Merkmale – gewinnen. Hegel war Kants Zurückweisung eines allgemeinen Wahrheitskriteriums natürlich bekannt (vgl. Werke 2, 460–461; Werke 6, 265–267). Seine scheinbar schwankende Einstellung hierzu lässt sich am sinnvollsten als Ausdruck einer grundsätzlichen Übereinstimmung mit Kant verbunden mit einer abweichenden Auffassung über die weitergehenden Implikationen verstehen. 12  Frege hat nicht nur dafür argumentiert, dass der Wahrheitsbegriff undefinierbar ist (vgl. Frege 1993, 31–32), sondern daraus zugleich (unter Vorbehalt) die Folgerung gezogen, dass „der Inhalt des Wortes „wahr“ ganz einzigartig ist“ (ebd., 32). Diese Wendung könnte zumindest nahelegen, dass es sich beim Wahrheitsbegriff Frege zufolge um einen logisch einfachen, völlig für sich stehenden Begriff handeln soll, der sich somit auch nur unmittelbar ,fassen‘ ließe; vgl. jedoch Fn. 13. 13  Im Anschluss an Kant und Frege hat Hans-Peter Falk neuerdings dafür argumentiert, dass der Wahrheitsbegriff undefinierbar sei (vgl. Falk 2010, 36–39), und zugleich die These vertreten, dass die Bedeutung von „wahr“ dadurch festgelegt werde, „daß gewisse Sätze wahr sind“ (ebd., 66) – nämlich „Mir-scheint-Sätze“, die einen Wahrnehmungseindruck irrtumsimmun artikulieren (womit Falk keinen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus verbunden wissen will). – Cora Diamond hat im Anschluss an eine Bemerkung Freges („In den Gesetzen des Wahrseins wird die Bedeutung des Wortes „wahr“ entwickelt“, Frege 1993, 31) die Auffassung entfaltet und in Varianten dem frühen und späten Wittgenstein zugeschrieben, dass der Wahrheitsbegriff 1. undefinierbar sei und sein Inhalt 2. durch die Sätze der Logik bestimmt sei (vgl. Diamond 2003). Die Position, die ich in diesem Aufsatz Hegel zuschreibe, stimmt mit den zuvor genannten somit darin überein, dass der

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auf den Begriff geistiger Vollzüge von der Art des Urteilens bezogen, sondern erhält seinen Gehalt nur im Zusammenhang mit exemplarisch verbindlichen Fällen solcher Vollzüge. Die Begriffe der Wahrheit und des Urteils lassen sich somit auch nur anhand exemplarischer Instanzen geistiger Vollzüge in die Sprache einführen, die transparent wahr sind. Was Wahrheit und Urteilen sind, ist daher überhaupt nicht unabhängig von paradigmatischen Fällen von Erkenntnis zu verstehen. Entsprechend ist der Wahrheitsbegriff überhaupt nur bestimmt, insofern Wahrheit das ist, was mustergültige Instanzen geistiger Aktivität durchsichtig darstellen, und nur dank der Rückbindung an solche Instanzen hat ein Ausdruck wie „wahr“ seine Bedeutung. Was Wahrheit ist, lässt sich demgemäß nur im Zusammenhang mit Urteilsakten verstehen, die transparent wahr sind und somit ein Wissen manifestieren. Insofern das Urteilen fehlbar ist, kommt aber nicht einfach jedes beliebige Urteil als Kandidat für die Fixierung des Wahrheitsbegriffs in Frage. Entsprechend ist zu fragen, welchen Typs geistige Aktivität sein muss, damit entsprechende Akte für die Fixierung des Wahrheitsbegriffs hinreichen. Dass der Begriff der Wahrheit seinen Gehalt nicht unabhängig vom Vollzug exemplarisch verbindlicher Akte hat, legt daher nahe, dass dieser Begriff wesentlich mehrdeutig ist. Damit ist gemeint, dass unterschiedliche Formen geistiger Aktivität mit unterschiedlichen Typen objektiver Verbindlichkeit einhergehen – derart, dass sich diese nicht als Arten einer unabhängig von ihnen bestimmten Gattung der Wahrheit überhaupt verstehen lassen, ohne darum unverbunden nebeneinander zu stehen. Vielmehr würden die Begriffe bestimmter geistiger Vollzüge und von diesen ins Spiel gebrachter Typen objektiver Verbindlichkeit die Glieder einer begrifflichen Ordnung bilden, die eine philosophische Untersuchung des Wahrheitsbegriffs derart durchzugehen hat, dass sie sie als Reihe intern aufeinander bezogener Wahrheitssinne erweist. Dafür, dass dem so ist, spricht bislang nur, dass sich der Wahrheitsbegriff in letzter Instanz regressfrei nur an solchen Typen geistiger Aktivität erläutern lässt, die ihre objektive Verbindlichkeit – im Unterschied zu empirischer und praktischer Erkenntnis – rein aus sich beziehen, ohne von der Gunst von Wahrnehmungs- und Handlungsumständen abzuhängen. Dies könnte verständlich machen, weshalb Hegels Philosophie, die sich in ihrer Gänze Wahrheitsbegriff, weil er weder definierbar noch logisch einfach ist, seine Bestimmtheit nur im Zusammenhang mit exemplarischen Fällen des transparent Wahren oder Gültigen haben kann. Die Differenz zu Falk und Diamond besteht darin, dass diese mustergültigen Fälle transparenter Wahrheit von Hegelscher Warte aus diejenige Sphäre der Erkenntnis ausmachen, die er „absoluten Geist“ nennt, und die Kunst, Religion und Philosophie umfasst.

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als Untersuchung des Wahrheitsbegriffs versteht14, in einer philosophischen Betrachtung der Geschichte der Kunst, Religion und Philosophie gipfelt. In einer Betrachtung von Kunst, Religion und Philosophie würde sie deshalb gipfeln, weil diese Formen geistiger Aktivität ihre objektive Verbindlichkeit oder Wahrheit nirgendwo anders her als aus sich selbst beziehen und insofern selbstbewahrheitend sind. Wesentlich geschichtlich wäre diese Betrachtung, weil eine Untersuchung des Wahrheitsbegriffs und der seinen intern zusammenhängenden Sinnen entsprechenden Formen geistiger Aktivität überhaupt nicht unabhängig vom Blick auf exemplarische, transparent selbstbewahrheitende Instanzen (die klassischen Werke der Kunst und Philosophie sowie die Weltreligionen) durchgeführt werden könnte, im Zusammenhang mit denen dieser Begriff seine Bestimmtheit hat15. Doch zurück von diesem Vorblick auf den absoluten Geist zum Ausgangs­ begriff des Geistes als solchen! Der Geist wurde eingeführt als Prozess leibhaftiger Selbstbestimmung, die vermöge ihrer allgemeinen Natur mögliche und wirkliche objektive Verbindlichkeit aus sich bezieht, wenngleich die wirkliche Einlösung von Verbindlichkeitsansprüchen aufgrund der Partikularität, die zu geistiger Aktivität als wirklicher gehört, im jeweiligen Fall kein Automatismus ist. Dass geistige Aktivität einen ,Gehalt‘, eine ,Bedeutung‘ oder einen ,Sinn‘ ,hat‘ (Ausdrücke, zwischen denen hier nicht weiter unterschieden wird), ergibt sich daraus, dass solche Aktivität mögliche Verbindlichkeit aus sich bezieht, 14  Vgl. etwa § 1 der Berliner Enzyklopädie (Werke 8, 41). 15  Von hier aus ergibt sich ein nüchternes Verständnis von Hegels scheinbar überspannter Charakterisierung des absoluten Geistes als des „Geist[es] in seiner absoluten Wahrheit“ (Werke 10, 32) bzw. der „Region der Wahrheit an sich selbst“ (Werke 13, 137). Seine Philosophie gipfelt in einer philosophischen Geschichte der Kunst, Religion und Philosophie, weil das Erkennen „der Wahrheit“ (vgl. Werke 8, 41), das Sache der Philosophie ist, es letzten Endes erfordert, den vernünftigen Zusammenhang mustergültiger Instanzen geistiger Aktivität, die transparent wahr ist (d. h. die klassischen Werke der Kunst, Philosophie sowie die Weltreligionen) und ohne die es keinen kohärenten Wahrheitsbegriff gäbe, als solchen zu rekapitulieren. Dieser Blickwinkel erlaubt es, Hegels Rede von „absoluter Wahrheit“, „der Wahrheit“ oder „Wahrheit an sich“ einen nüchternen Sinn abzugewinnen. Denn die Philosophie handelt so betrachtet weder von allem noch von beliebigem Wahren noch von dem ,abstrakten Begriff‘ der Wahrheit ,überhaupt‘ oder ,im Allgemeinen‘ – solche Worte sagen nämlich nichts. Sie handelt vielmehr von „dem Wahren“ im Sinne konkreter Fälle geistiger Aktivität, die exemplarisch für ihre Wahrheit einsteht, dank derer wir überhaupt über einen Wahrheitsbegriff verfügen. Dieser ist entsprechend kein ,abstrakter Begriff‘, sondern eine geschichtliche Wirklichkeit, da er an das sich geschichtlich entwickelnde, vernünftige Ganze geistiger Vollzüge gekoppelt ist, die Muster dessen sind, was dieser Begriff auf den Begriff bringt – Muster objektiver Verbindlichkeit.

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und ist keine unabhängig davon verständliche Annahme. Mit den Ausdrücken „Sinn“, „Gehalt“ oder „Bedeutung“ werden also keine ,abstrakten Gegenstände‘, sondern die Bestimmtheit möglicher objektiver Verbindlichkeit (bzw. Beiträge zu dieser) bezeichnet, die geistige Aktivität mit sich bringt. Geistige Vollzüge beziehen sich daher nicht auf semantische Gehalte oder Sinne, sondern sie beziehen Sinn und Gehalt aus sich selbst. Insofern geistige Tätigkeit die Möglichkeit objektiver Verbindlichkeit aus sich bezieht und damit einen Gehalt aufweist, ist sie ein Denken. Dieser Begriff des Denkens ist denkbar weit und umfangsgleich mit dem des Geistes, weil er sich auf den Möglichkeiten von Verbindlichkeit ins Spiel bringenden Aspekt bezieht, den leibhaftige Selbstbestimmung mit sich bringt. Ein derart weiter Begriff des Denkens verunklart aber nicht den Begriff ,eigentlichen‘ Denkens, sondern beugt dem Missverständnis vor, Vollzüge wie Singen oder Beten seien nicht eben so sehr Ausübungen unserer Fähigkeit zu denken wie in sich gekehrtes Sinnieren. Dabei ist zugestanden, dass Vollzüge wie die zuerst genannten nicht auf die Möglichkeiten objektiver Verbindlichkeit, welche sie mit sich bringen, fokussiert sind und sich insofern nicht als Vollzüge des Denkens thematisch sind. Entsprechend kann zwischen Vollzügen unterschieden werden, die unthematisch durch unsere Fähigkeit zu denken geprägt sind, und Vollzügen des Denkens als solchen. Letzteres nennt Hegel „Nachdenken16.“ Weil Denken kein ,Erfassen‘ abstrakter Gegenstände namens ,Gedanken‘ ist, sondern sein Gehalt in Möglichkeiten objektiver Verbindlichkeit besteht, deren Quelle in ihm selbst liegt, ist Denken wesentlich – d. h. nicht erst nachträglich durch ,Reflexion‘ – auf sich selbst bezogen oder seiner selbst bewusst. Insofern es einen Gehalt mit sich bringt, ist es nämlich nicht auf ein selbständiges Etwas, sondern auf bestimmte Möglichkeiten von Verbindlichkeit bezogen – und damit auf etwas, was, insofern es verstanden wird, als auf gelingende oder fehlgehende Stellungnahme bezogen verstanden wird. Indem das Denken auf einen Gehalt hin transparent ist, ist es daher mit sich selbst als Subjekt der Stellungnahme konfrontiert. Es ist daher nicht zunächst selbstvergessenes Sich-Befassen mit wahrheitsfähigen Gehalten, zu deren Wahrheitswert bloß gelegentlich in nachgeordneten Urteilsakten Stellung genommen wird. Vielmehr vollzieht sich Denken von vornherein im Horizont der Stellungnahme zum Gedachten – paradigmatisch als Urteilen oder privativ im Modus der Urteilsenthaltung. Der Begriff des Denkens lässt sich daher nur von dem des Urteilens her verstehen und wer überhaupt denkt, hat damit auch schon geurteilt und tut es auch, indem er es unter gewissen Umständen für angezeigt erachtet, sich des Urteils zu enthalten. 16  Vgl. § 2 der Berliner Enzyklopädie (Werke 8, 42–43).

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Insofern geistige Aktivität ihren Gehalt dem Sachverhalt verdankt, dass sie ihre besondere und einzelne Dimension als irrelevant setzt, und insofern ein Akt, der seine besondere und einzelne Dimension als irrelevant setzt, ein Urteilsakt ist, ist der Grundmodus des Denkens das Urteilen. Insofern Denken somit wesentlich Urteilen ist und Urteilen ein Akt ist, der seine eigene besondere und einzelne Dimension als irrelevant setzt, ist Denken wesentlich selbstbewusst. Dass das Denken seiner selbst bewusst ist, bedeutet: Was auch immer gedacht wird, der Akt des Denkens tritt dabei in sich selbst ein, d. h. er gehört sozusagen von Haus aus mit zum jeweils gedachten Inhalt. Dass der Akt des Denkens von Hause aus mit zum jeweils gedachten Inhalt gehört, bedeutet, dass der Selbstbezug des Denkens die Dimension objektiver Verbindlichkeit, die Akte des Denkens eröffnen, mit ausmacht – und zwar nicht bloß möglicher, sondern wirklicher, aus sich bezogener Verbindlichkeit. Geistige Vollzüge beziehen dann nämlich minimal derart objektive Verbindlichkeit aus sich selbst, dass sie sich auf sich selbst wahrheitsgemäß als geistige Vollzüge beziehen. Dass der Akt des Denkens als solcher in seinen eigenen Inhalt eingeht, bedeutet nicht, dass das Denken vornehmlich mit sich selbst befasst sei. Wenn das Denken in allem, was es denkt, jedoch immer sich selbst mitdenkt, muss der Selbstbezug des Denkens intern mit den anderweitigen Inhalten des Denkens vermittelt sein, weil das Denken, statt sich als selbstbewusstes in die Einheit eines Akts zusammenzuhalten, sonst in zwei Akte zerfiele (einen bewusstlosen und einen leer um sich selbst kreisenden). Da der Inhalt eines Akts des Denkens die Bestimmtheit der möglichen Verbindlichkeit eines solchen Akts ist, muss der Akt des Denkens, um mit seinem anderweitigen Inhalt intern vermittelt zu sein, derart in sich eintreten, dass er auf die Wirklichkeit seiner jeweiligen möglichen Verbindlichkeit bezogen ist. Der Akt des Denkens tritt daher minimal als mögliche Quelle der Einsicht in die Wahrheit seines Inhalts in sich ein. Um derart in sich eintreten zu können, muss das Denken über ein (gegebenenfalls als unzulänglich reflektiertes) Verständnis von Umständen verfügen, aus denen sich die objektive Verbindlichkeit seines Inhalts ergäbe. Insofern das Denken, dass p, mit einem wenigstens rudimentären Verständnis von Umständen, unter denen es angemessen wäre, so zu urteilen, in sich eintritt, hat es den Charakter möglicher Erkenntnis. Systematische Einsicht in verschiedene Formen der Erkenntnis ließe sich dann gewinnen, wenn solche Formen für sich genommen derart durch interne Unstimmigkeiten geprägt sind, dass sich aus dem Aufweis derselben der Übergang zum Begriff einer weiteren Erkenntnisform ergibt, welche die vorausliegende Unstimmigkeit beseitigt. Die zu einer Erkenntnisform gehörige Unstimmigkeit müsste sich daran festmachen lassen, dass die Reichweite der betreffenden Form begrenzt ist und sie somit den Bezug auf etwas mit sich

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bringt, was sich im Rahmen von geistiger Aktivität der betreffenden Form nicht einholen lässt. Insofern Erkenntnis aufgrund der Selbstbezüglichkeit des Denkens ein rudimentärer Bezug auf sich selbst eingeschrieben ist, bringt sie den Anspruch auf Selbsterkenntnis mit sich. Dass Erkenntnis von einer Form dem Anspruch auf Selbsterkenntnis, den sie mit sich bringt, aufgrund ihrer eigenen, formalen Beschränktheit nicht angemessen nachzukommen vermag, bedeutet, dass sie mit Ansprüchen einhergeht, die sich mit den Mitteln geistiger Aktivität der betreffenden Form nicht einlösen, sondern bloß hinausschieben lassen. Geistige Aktivität einer bestimmten Form bringt damit aber keine definiten Ansprüche mit sich, die sich durch Aktivität dieser Form bloß nicht einlösen lassen, sondern das zu ihr gehörige Herausschieben ist Symptom eines von ihrer Warte aus selbst noch nicht einmal kohärent formulierbaren Anspruchs. Dessen kohärente Formulierung ergibt somit selbst schon den Begriff einer weiteren Form von Erkenntnis, welche ihm Genüge zu leisten vermag. Dass sich auf dem angedeuteten Weg tatsächlich eine systematische Übersicht einer Reihe von Erkenntnisformen gewinnen lässt, deren Begriffe jeweils durch Aufweis ihrer formalen Beschränktheit auf den Begriff ihres Nachfolgers hinausweisen, soll nun wenigstens holzschnittartig unter Beweis gestellt werden. Dabei gehe ich von der nächstliegenden Form der Erkenntnis – dem empirischen Erkennen – aus.

Empirische und praktische Erkenntnis

Die Form empirischer Erkenntnis zeichnet sich dadurch aus, dass entsprechende Denkakte in sich als unter Umständen vollzogen eintreten, die sozusagen handgreiflich oder ,manifest‘ Einsicht in die Wahrheit ihres Inhalts gewähren. Dass der Denkakt, in dem ein empirisches Urteil besteht, in sich als unter Umständen unternommen eintritt, die manifest Einsicht in die Wahrheit seines Inhalts gewähren, unterscheidet empirisches Urteilen vom bloßen Raten. Zum Urteil dass p gehört somit nicht nur ein allgemeines Verständnis von Umständen, unter denen es angemessen ist, so zu urteilen, sondern zu urteilen dass p, heißt anzunehmen, dass der betreffende, einzelne Akt des Denkens unter derartigen Umständen vollzogen wird. Der Urteilsakt beinhaltet für sich genommen natürlich nicht den Nachweis, dass er wirklich unter Umständen, die Einsicht in die Wahrheit seines Inhalts gewährleisten, vollzogen wird, sondern bloß den Anspruch hierauf. Da ein empirisches Urteil kein spontaner Akt ist, der sich als solcher selbst bewahrheitet, sondern seine Wahrheit davon abhängt, dass er relevante

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Umstände seines Vollzugs in sich einbezieht, bringt sein Erkenntnisanspruch einen Regress mit sich. Insofern empirische Urteilsakte (die Einsicht in) ihre Wahrheit nämlich nicht unmittelbar aus sich beziehen, weil sie Akte einbeziehenden Sichbestimmens sind, lässt sich immer wieder erneut die Frage aufwerfen, ob der Einbezug der Umstände, der zur Einsicht in die Wahrheit des Gedachten erforderlich ist, keine Verzerrung dieser Umstände mit sich bringt. Daraus, dass der Erkenntnisanspruch empirischen Urteilens auf einen Regress führt, folgt nicht, dass wir nicht über empirische Erkenntnis verfügen könnten. Es bedeutet nur, dass das Wissen, das den Regress stoppt, kein empirisches Wissen sein kann. Es muss sich bei ihm um Wissen von unserer Fähigkeit zu empirischer Erkenntnis handeln, von der wir ihrerseits nicht durch Erfahrung wissen. Doch nicht nur die Wirklichkeit empirischer Erkenntnis, sondern auch ihre Möglichkeit, d. h. der Anspruch auf solche Erkenntnis, setzt Erkenntnis voraus, die ihrer Form nach nicht-empirisch ist. Für sich genommen kann empirisches Urteilen nämlich nicht einmal die Verständlichkeit dessen, was es zu sein beansprucht – Erkenntnis – gewährleisten. Denn wie gezeigt sind die formalen Begriffe der Wahrheit und der Erkenntnis nur im Zusammenhang mit Vollzügen, die Muster des transparent Wahren sind, bestimmt und verständlich. Unabhängig von unserem Engagement in solchen offenkundig wahren Akten hätten wir kein Verständnis von Wahrheit und Erkenntnis und könnten daher nicht einmal Wahrheits- bzw. Erkenntnisansprüche erheben. Wenn die Begriffe der Wahrheit und der Erkenntnis ihre Bestimmtheit nur im Zusammenhang mit mustergültigen Instanzen auf ihre objektive Verbindlichkeit hin durchsichtiger Akte haben, die Aktivität empirischen Urteilens aber ein endloses Hinausschieben solcher Durchsichtigkeit ist (weil entsprechende Akte die Einsicht in die Wahrheit ihres Inhalts nicht allein aus sich selbst beziehen können), können die Begriffe der Wahrheit, des Urteils und der Erkenntnis ihren Gehalt nicht (allein) im Zusammenhang mit Fällen empirischen Urteilens haben. Empirisches Urteilen ist daher keine für sich allein mögliche bzw. verständliche Form geistiger Aktivität. Die Form empirischer Erkenntnis weist somit über sich hinaus auf eine Form geistiger Aktivität, deren Wahrheit nicht von solchem abhängt, was sie nicht aus sich bezieht (sondern bloß in sich einbezieht) – die Form praktischer Erkenntnis. Diese Form zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass der jeweilige, einzelne Akt des Denkens in sich als das eintritt, was seinen Inhalt wahr macht. Empirisches Erkennen wird durch die Tatsachen bewahrheitet, praktisches Erkennen bewahrheitet sich selbst, indem der jeweilige Akt des Denkens in sich als das eintritt, was sein Gedachtes zur Tatsache macht. Dass die Form praktischer Erkenntnis ein internes Defizit empirischer Erkenntnis wettmacht,

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lässt sich daran festmachen, dass das empirischem Urteilen als solchem eingeschriebene (,präreflexive‘) Selbstbewusstsein selbst nicht die Form empirischer Erkenntnis aufweist, weil es sich bei ihm nicht um eine Erkenntnis von solchem, was ohnehin schon ist, handelt, sondern um Erkenntnis, die mit der Realisierung ihres Erkannten einhergeht. Es ist charakteristisch für die Form praktischer Erkenntnis, dass ein entsprechender Denkakt in sich als das eintritt, was seinen Inhalt zur Tatsache macht. Dass praktische Erkenntnis von sich als dem weiß, was ihren Inhalt verwirklicht, bedeutet, dass solche Erkenntnis einen spezifischen Nexus von Selbstbewusstsein (Denken) und Bewusstsein (Gedachtem) mit sich bringt. Praktisches Denken besteht nämlich darin, sich mit einer Handlung gewissen Typs auf eine Weise zu befassen, die der Vollzug einer solchen Handlung ist. Diese Einheit von Denken und Gedachtem, die für praktisches Denken charakteristisch ist, muss sich in einer formalen Beschaffenheit der gedachten Handlung zeigen. Die einzige Beschaffenheit einer Handlung, in deren Bewusstsein das Wissen, eine solche Handlung zu vollziehen, bestehen kann, ist, dass sie sich als eine Handlung, die ,umstandslos‘ zu vollziehen ist, darstellt. Vollgültige Fälle praktischen Denkens – wenngleich natürliche nicht alle Fälle solchen Denkens – sind daher wesentlich zugleich Fälle des Wissens darum, was (ohne weitere Umstände) zu tun ist, und Fälle des Wissens davon, es zu tun. Entsprechend hat praktische Erkenntnis zugleich eine Handlungsdimension und eine moralische Dimension – und im formal grundlegenden Fall hat sie beide nur in Abhängigkeit von der jeweils anderen. Die Form praktischer Erkenntnis bringt damit zwei Dimensionen objektiver Verbindlichkeit mit sich. Sie zeichnet sich nämlich nicht nur dadurch aus, dass der einzelne Akt des Denkens in sich selbst als das eintritt, was seinen Inhalt wirklich macht, sondern ist – ihrer moralischen Dimension nach – dadurch charakterisiert, dass sie auch die Verbindlichkeit ihres Inhalts aus ihrer Form zu beziehen vermag. Zu praktischer Erkenntnis gehört also nicht nur die Verwirklichung des Gedachten, sondern sie bezieht auch die Bestimmtheit dessen, was zu verwirklichen ist – des Guten – aus sich selbst – der Form praktischer Selbstbestimmung17. Entsprechend der beiden Dimensionen von Verbindlichkeit, die sie aus sich bezieht, weist die Form praktischer Erkenntnis zwei Arten interner Unstimmigkeit auf, aufgrund derer sie über sich hinausweist:

17  Vgl.: „Die subjektive Idee als das an und für sich Bestimmte und sich selbst gleicher, einfacher Inhalt ist das Gute“ (Werke 8, 388).

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(1) Ein Akt praktischer Erkenntnis besteht darin, wissentlich eine Handlung gewissen Typs zu vollziehen, indem man eine Handlung solchen Typs als (umstandslos) zu vollziehen denkt. Das, was an praktischer Erkenntnis Denken ist (die Vorstellung einer Handlung als umstandslos zu vollziehen), und das, was an ihr praktisch ist (der Vollzug einer solchen Handlung), können keine unabhängigen Bestandteile praktischer Erkenntnis sein – so, als bestünde diese aus theoretischem ,Denken an eine mögliche Handlung‘ und gedankenlosem ,Ausagieren‘. In diesem Fall gäbe es keine praktische Erkenntnis. Praktische Erkenntnis ist vielmehr vermöge dessen praktisch, was an ihr Denken ist. Insofern das Denken, als leibhaft verkörpertes, Teil der Welt ist, in der ein Denker handelt, lassen sich das, was an praktischer Erkenntnis praktisch ist, und das, was an ihr Denken ist, nicht einmal logisch säuberlich auseinanderhalten. Obwohl jemand etwas nämlich im Normalfall nur tut, wenn er es zu tun meint, ist, was er tut, nicht einfach endgültig und vollständig durch das bestimmt, was er zu tun meint, sondern zugleich davon abhängig, dass er es als Teil einer Welt tut, von der er kein erschöpfendes Wissen besitzt. Die Bestimmtheit einer Handlung hängt somit einerseits von der sich auf sich beziehenden Selbstbestimmung eines Handelnden ab und andererseits von intransparenten Zügen der Person, deren Handlungen in der Welt, in der sie sich findet, unvorhergesehene Folgen haben können. Praktische Erkenntnis ist daher nicht rein selbstbewahrheitend: Die Bestimmtheit einer Handlung hängt nicht ausschließlich daran, wie sie ,gemeint‘ war (d. h. an der Beschreibung, unter der sie unternommen wird), sondern zugleich an ihrem Vollzug unter Umständen, die der Handelnde – ebenso wie sich selbst – nicht vollends überblickt und kontrolliert18. Während die Form empirischer Erkenntnis – isoliert betrachtet – einen Rechtfertigungsregress mit sich brachte, bringt die Form praktischer Erkenntnis somit einen Progress konkurrierender Handlungsbeschreibungen mit sich. Ein einzelner Akt praktischen Denkens beansprucht so zwar von sich, eine Handlung beabsichtigten Typs zu vollziehen, doch vermag er die Wahrheit der entsprechenden Handlungsbeschreibung nicht allein aus sich heraus zu garantieren. Die Form praktischer Erkenntnis lässt daher keine Handlungen zu, von denen sich wissen ließe, dass sie in jeder Hinsicht so sind, wie sie sein wollen, und die damit geeignet wären, den Begriff der objektiven Gültigkeit oder Wahrheit zu fixieren.

18  Vgl. etwa Hegels Bemerkung „Das Bemühen der Rechtfertigung durch die Absicht ist das Isolieren einer einzelnen Seite überhaupt, die als das subjektive Wesen der Handlung behauptet wird“ (Werke 7, 223).

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(2) Die Form praktischer Erkenntnis deutet nicht nur aufgrund einer internen Unstimmigkeit, die zur ihrer Handlungsdimension gehört, über sich hinaus auf eine weitere Form der Erkenntnis, sondern zugleich aufgrund einer entsprechenden Unstimmigkeit, die ihre ethische Dimension betrifft. Die Bestimmtheit dessen, was unbedingt zu tun ist, – des Guten – kann ihre Quelle nämlich in nichts anderem als der allgemeinen Form praktischer Selbstbestimmung als derjenigen internen Norm haben, die dem Handeln als solchem innewohnt. Insofern praktische Selbstbestimmung sich dieser allgemeinen Form gemäß vollzieht, verwirklicht sie das Gute. Das Gute lässt sich jedoch nur durch Kooperation einzelner Zentren selbstbezüglichen Sichbestimmens – Personen – verwirklichen oder erhalten, die es als endliche nicht vermögen, den Maßstab des Guten, der ihrem Dasein als Handelnden eingeschrieben ist, vollends zu realisieren, indem sie sicherstellen, dass die Welt, wie sie ist, und die Welt, wie sie sein sollte, zusammenfallen, und somit das ,höchste Gut‘ realisieren. Da sich das Bestimmen dessen, was zu tun ist, und die Verwirklichung des derart Bestimmten – Absicht und Handlung – nicht trennscharf auseinander halten lassen, gehört zu unserer praktischen Selbstbestimmung nicht etwa ein vollständig transparenter Begriff des höchsten Guts, von dem nur leider einzuräumen ist, dass wir es nicht restlos zu verwirklichen vermögen. Vielmehr lässt sich von der Warte praktischer Erkenntnis aus gar nicht abschließend klären, was unter dem ,höchsten Gut‘ überhaupt zu verstehen ist. Ihrer moralischen Dimension gemäß bringt die Form praktischer Erkenntnis somit zwar Vorstellungen einer Weltordnung mit sich, die als höchstes Gut gilt, doch lässt sich dem Streben nach einer solchen Ordnung innerhalb der Sphäre des Praktischen – der Welt des „objektiven Geistes“ – kein klarer Sinn abgewinnen. Daher weist die Welt des objektiven Geistes, die durch solches Streben geprägt ist, eine Entwicklungsform auf, die zwar für Fortschritt Raum lässt, jedoch nicht für einen Fixpunkt in Gestalt einer Welt, die vollends so wäre, wie sie sein soll – nämlich vollends gut. Die Vorstellung einer Welt, die vollendet gut wäre, ist keine Vorstellung, der sich von der Warte praktischer Erkenntnis aus ein stimmiger Sinn abgewinnen ließe, obwohl es zur Form praktischer Erkenntnis gehört, derartige Vorstellungen mit sich zu bringen und nach ihrer Verwirklichung zu streben19. 19  Dass die Form praktischer Erkenntnis, die sich als Welt des objektiven Geistes realisiert, eine Form endlicher Erkenntnis ist, zu der inkohärente Versuche gehören, die zu ihr gehörige Beschränkung zu überschreiten, bedeutet nicht, dass es keine moralisch-sittliche Erkenntnis bzw. kein als solches erkanntes Gutes gäbe. Es bedeutet vielmehr, dass die

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Die Form praktischer Erkenntnis deutet somit ihrer moralischen Dimension nach über sich hinaus auf eine Form leibhaftig verkörperter Selbstbestimmung, die einen Ausschnitt der prosaischen Welt tatsächlich so bestimmt, dass er auf vollendete Weise durch unerschöpfliche Sinnfülle geprägt ist und damit eine geistige Welt für sich ausmacht – die Kunst.

Kunst – Religion – Philosophie

Das Kunstwerk stellt anschaulich unter Beweis, was es heißt, dass Selbstbestimmung einen Ausschnitt der durch theoretische und praktische Vollzüge artikulierten Welt restlos zu einem Sinnzusammenhang – einer Welt für sich – gestaltet, der seine Verbindlichkeit allein sich selbst verdankt. Die Kunst gibt so einem Anspruch Gestalt, der auf dem Boden moralisch-sittlicher Praxis erwächst, ohne dort einen definiten Sinn zu gewinnen. Auf diese Weise kompensiert die (von der) Kunst (eröffnete Reihe von Erkenntnisformen) die der Form praktischer Erkenntnis eingeschriebene Beschränkung. Dies bedeutet weder, dass die Kunst in Konkurrenz zur moralisch-sittlichen Praxis stünde, noch, dass sie keinen ,Einfluss‘ auf diese zu nehmen vermag, sondern, dass sie eine Antwort auf die dem Streben nach Verwirklichung des Guten inhärenten Grenzen (des Vermögens und Sinns) darstellt. Zur Form der Kunst gehört es, dass der Akt des Denkens als leibhaftig verkörperter, einen Ausschnitt der prosaischen Welt umfassender Akt in sich eintritt – und zwar so, dass er aus sich unerschöpflichen Sinn und Verbindlichkeit bezieht und den betreffenden Ausschnitt damit in eine Welt für sich verwandelt. Kunstwerke sind von hegelscher Warte aus somit Akte des Denkens von eigentümlicher Form. Dass Hegel in den Vorlesungen über Ästhetik vornehmlich am Kunstwerk selbst statt an seiner Produktion oder Rezeption interessiert ist, bestätigt diese Behauptung eher, als sie in Frage zu stellen. Denn Hegel ist nicht an psychologischer Aktivität interessiert, die zum Kunstwerk vonseiten des Künstlers oder Betrachters hinzukommt, sondern an der Form selbstbewahrheitender Aktivität, die das Kunstwerk selbst ist. Von dieser Warte aus ist es somit ein Kategorienfehler, das Kunstwerk als Gegenstand, statt als Gestalt geistiger Aktivität zu betrachten.

Form moralisch-sittlicher Erkenntnis uns nicht mit einem vollständigen, unüberbietbaren Maß der Vollkommenheit ausstattet. Vgl. in diesem Zusammenhang Hegels Kritik an Kants Begriff des höchsten Gutes (Werke 3, 456; Werke 20, 370–71).

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Dass die Kunst eine Form geistiger Aktivität ist, die für ihre objektive Verbindlichkeit selbst einsteht oder sich selbst wahr macht, zeigt sich daran, dass sie nicht mit Referenzanspruch auftritt und daher auch nicht durch Tatsachen bewahrheitet bzw. widerlegt werden kann. Dass Kunst eine Form geistiger Aktivität ist, deren objektive Verbindlichkeit oder Wahrheit allein von ihr selbst abhängt, bedeutet nicht, dass das Kunstwerk nicht an die Welt, in der es situiert ist, zurückgebunden wäre, sondern, dass diese Welt bloß das Material, aber nicht die Form des Kunstwerks bereitstellt. Eben deshalb lässt sich ein Kunstwerk durch Verweis auf Tatsachen weder bestätigen noch widerlegen. Kunst ist insofern nicht-repräsentational, als sie den referentiellen Apparat, der zu endlicher geistiger Aktivität gehört, inkorporiert und außer Kraft setzt. Das Kunstwerk stellt so augenfällig die Macht leibhaftiger Selbstbestimmung unter Beweis, Gehalt und Verbindlichkeit aus sich selbst zu beziehen. Insofern die Kunst für ihre Wahrheit selbst einsteht, ist sie ihrem Gehalt nach in sich geschlossen. Sie beansprucht nicht, etwas zu repräsentieren oder auf etwas einzuwirken, sondern eröffnet eine Welt für sich. Dass ein Kunstwerk eine Welt für sich eröffnet, bedeutet, dass es ein unerschöpfliches Gefüge verbindlicher – interner – Beziehungen eröffnet. Die Behauptung, dass sich zwischen Elementen eines Kunstwerks interne Beziehungen aufweisen lassen, setzt voraus, dass es von sich her irgendwie in Elemente artikuliert ist. Von solcher Artikulation ist aber nur dort auszugehen, wo bereits Sinn und damit Vollzüge, die mögliche Verbindlichkeit ins Spiel bringen, anzutreffen sind. Die der Kunst eigene Form des Sinns ist daher wesentlich sekundär, d. h. die Kunst besteht in Operationen, die auf solches operieren, was selbst schon Aspekte möglicher empirischer oder praktischer Verbindlichkeit mit sich bringt, und dieses auf etwas hin verwandeln, was seine selbstausweisende Verbindlichkeit oder ,ästhetische Wahrheit‘ rein sich selbst verdankt. Die Kunst erzeugt ihren Gehalt somit nicht aus dem Nichts, sondern verwandelt ihr bereits durch theoretische und praktische Vollzüge geprägtes ,Material‘ in etwas, was seine Verbindlichkeit aus sich bezieht. Das ,Medium‘ oder ,Material‘, auf das die Kunst angewiesen ist, entstammt somit nicht direkt der Natur, sondern ist einer Welt entnommen, die geistige Tätigkeit bereits erkennend artikuliert und handelnd gestaltet hat. Dass die Kunst eine Form selbstbewussten Denkens ist, lässt sich daran festmachen, dass der medial verkörperte und daher sinnlich erlebbar in sich eintretende Akt des Denkens im Zuge seines Selbsteintritts eine Verwandlung primären, für seine Wahrheit nicht selbst einstehenden Sinns in sekundären, für seine Verbindlichkeit selbst einstehenden Sinn mit sich bringt. Die Kunst ist somit wesentlich ein Verfahren der Verfremdung endlichen, fremdbezüglichen Sinns (möglicher Verbindlichkeiten, für deren wirkliche Verbindlichkeit

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geistige Aktivität nicht allein als solche einzustehen vermag) in absoluten Sinn (objektiver Verbindlichkeit, welche das Kunstwerk rein aus sich bezieht). Wesentlich sinnverfremdend kann ästhetische Aktivität aber nur sein, insofern sie wesentlich selbstbewusst ist. Dieses nicht-individuelle Selbstbewusstsein ist (dem Umgang mit) dem Kunstwerk als solchem eingeschrieben – nicht etwa begleitenden psychologischen Akten. So ist etwa die Sprache des Gedichts insofern selbstbewusst, als es sich bei ihr um eine als wesentlich (und nicht etwa als zufällig) auftretende Verfremdung üblicher Sprache handelt – derart, dass diese Verfremdung ihre eigene, unerschöpfliche Verbindlichkeit mit sich bringt. Kunst bezieht ihren Gehalt oder ästhetischen Sinn – die Bestimmtheit ihrer Verbindlichkeit – somit derart aus sich, dass sie Elemente, die bereits im Horizont theoretischer oder praktischer Aktivität situiert sind, in einen Zusammenhang eigener Art einbezieht, der seine Verbindlichkeit nur aus sich schöpft. Indem die Kunst ihre Verbindlichkeit aus sich selbst bezieht, ist ästhetischer Sinn selbstbewahrheitend. Selbstbewahrheitender ästhetischer Sinn – der dem Kunstwerk eignende Typ von Verbindlichkeit – ist als sekundärer jedoch verwandelnd auf profanen, nicht-ästhetischen Sinn zurückbezogen. Die Kunst ist eine Form der Erkenntnis, weil ihr selbstbewahrheitender Charakter im Kunstwerk als solchem transparent ist. Würde dieses nämlich nicht anschaulich als unerschöpfliches Gefüge interner Beziehungen erlebt – worin gerade die Verbindlichkeit oder Wahrheit des Kunstwerks besteht –, hätten wir es überhaupt nicht mit einem Kunstwerk zu tun. Weil der als unerschöpflich erlebte Sinn des Kunstwerks ein sekundärer, verwandelnd auf die Welt der Erfahrung und des Handelns zurückbezogener ist, gibt das Kunstwerk in der Tat indirekt auf eine eigentümliche – nur durch es zu leistende – Weise etwas über die Welt und nicht nur über das interne Beziehungsgefüge, in dem es besteht, zu erkennen. Es gibt also nicht dadurch etwas über die Welt zu erkennen, dass es diese ,repräsentieren‘ oder ,praktisch verändern‘ würde (was es natürlich auch kann), sondern dass es dem ,Stoff‘, aus dem diese Welt gemacht ist, seine ,Härte‘ (die im empirischen Erkennen und praktischen Handeln ebenso sehr punktuell aufgehoben wie global bestätigt wird) nimmt, indem es zeigt, dass dieser in etwas verwandelbar ist, dessen unerschöpfliche Verbindlichkeit sich allein der Aktivität des Geistes selbst verdankt. Interpretation setzt die dem Kunstwerk eigene Verfremdung (im Medium der Sprache) ausbuchstabierend fort. Zu ihr gehört so wesentlich der Aufweis, dass und wie das Kunstwerk primären (seine Verbindlichkeit einem Außenbezug verdankenden) Sinn in sekundären Sinn (seine Verbindlichkeit in der internen Verweisungsganzheit des Kunstwerks findenden) Sinn verwandelt. Interpretation übersetzt den Gehalt des Kunstwerks somit nicht in einen

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anderen, nicht-ästhetischen Sinn. Sie führt nicht vom Sinn des Kunstwerks weg, sondern – ausbuchstabierend oder verdichtend – zu ihm hin. Genau deshalb verlangt sie die historische Kenntnis von Weltumständen, aus denen ein Kunstwerk heraus entsteht – nicht, um das Kunstwerk als Repräsentation solcher Umstände zu deuten, sondern um zu zeigen, wie es diese Umstände in ein Gebilde verwandelt, das seine anschaubare Verbindlichkeit sich selbst verdankt. Die soeben dargestellte Auffassung der Kunst als einer Form der Erkenntnis ist schematisch. Mit ihr ist nicht der Anspruch verbunden, den Begriff der Kunst hinreichend geklärt zu haben, sondern sie zeigt nur den Ort besonderer, an ein jeweiliges ,Medium‘ geknüpfter Kunstformen an, welche eine philosophische Klärung des Begriffs der Kunst zu durchlaufen hätte, insofern Gehalt- und Verbindlichkeitsform von Kunstwerken an ihr jeweiliges Medium – ihre Form ,geistiger Materialität‘ – gekoppelt sind. Eine serielle Betrachtung der Künste wäre möglich, wenn gezeigt werden könnte, dass der Begriff einer Kunst(form) dadurch über sich hinausweist, dass eine solche Form ihrem zugehörigen Medium entsprechend durch eine gewisse epistemische Beschränktheit charakterisiert ist, sie also etwas mit sich bringt, was sich im Rahmen dieser Form selbst nicht transparent fassen lässt, wobei sich durch den Aufweis dieser Beschränktheit der Begriff einer weiteren Kunst(form) ergäbe, für die sie nicht besteht. Derartiges kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Um den nun anstehenden Übergang vom Begriff der Kunst zu dem der Religion vorzubereiten, möchte ich jedoch immerhin einen seriellen Blick auf diejenige Kunst werfen, die nach Hegel deshalb die höchste ist, weil ihr Medium – die Sprache – sich durch unbeschränktes Ausdruckspotential auszeichnet, – die Literatur20. Die gattungspoetische Unterscheidung von Epik, Lyrik und Dramatik ist somit nun als letzter Streckenabschnitt einer seriellen Betrachtung der Künste darzustellen. Die Epik zeichnet sich als eigentümliche Form des Denkens dadurch aus, dass primärem, welt- und handlungsbezogenen Sprachgebrauch nachgebildete Sprechakte derart in sich eintreten, dass sie ihren Gehalt als integralen Beitrag zur Sinnfülle eines Ganzen solcher Aktivität präsentieren, das seine Verbindlichkeit allein sich selbst verdankt. Der Satz „An der vorderen rechten Ecke des Tischs liegt noch ein Brotkrümelchen“ könnte auch in einem alltäglichen Zusammenhang begegnen. Der epische Gebrauch dieses Satzes besteht darin, ihn als Beitrag zu einem Ganzen von Sätzen zu präsentieren, das seine Verbindlichkeit aus dem potentiell unerschöpflichen Gefüge interner Relationen erhält, in denen seine Bestandteile zueinander stehen. So lädt die 20  Vgl. Hegels Charakterisierung der Literatur als der “allgemeine[n] Kunst” (Werke 13, 123).

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Epik Sätze, die für sich genommen auch in alltäglichen Kontexten begegnen, mit Bedeutsamkeit auf. Die interne Grenze epischen Denkens besteht darin, dass sprachlich verkörperte geistige Aktivität nur derart in sich eintritt, dass solche Aspekte dieser Aktivität, die (im Prinzip auch) in nicht-ästhetischen Zusammenhängen einen Beitrag zum Sinn von (theoretischen oder praktischen) Äußerungen leisten könnten, nun als Beiträge zu epischem Sinn auftreten. Damit trägt die Epik aber nicht dem semantischen Potential von Aspekten der Sprachmaterie Rechnung, die keinen linguistisch kodifizierten Beitrag zum Sinn von Äußerungen leisten. So leisten etwa Gleichklänge üblicherweise keinen Beitrag zum Sinn von Äußerungen, während sich der lyrische Akt des Denkens dadurch auszeichnet, mit seinem ganzen ,Klangkörper‘ in sich einzutreten, d. h. diesen Körper als etwas zu präsentieren, was einen unverzichtbaren Beitrag zum Sinn des Gedichts leistet21. So können dann etwa Gleichklänge im Gedicht eine semantische Funktion annehmen. Die expressive Beschränktheit der Lyrik besteht darin, dass der mitsamt seines Klangkörpers in sich eintretende Akt des Denkens, in dem ein Gedicht besteht, zwar jeweils auch Akt eines einzelnen, leibhaftigen Selbstbestimmungszentrums – einer Person – ist, in sich jedoch nicht als Akt einer lebendigen Person eintritt, sondern nur als Sprechakt, dessen indexikalischer Apparat von seiner referentiellen Funktion entbunden ist und somit im Modus des Als-ob auftritt, dessen Zentrum kein wirkliches, sondern ein ,lyrisches Ich‘ bildet. Das Drama überschreitet – als gleichsam lebendig gewordenes Gedicht – dessen Beschränkung, insofern sich der dramatische Denkakt dadurch auszeichnet, nicht bloß mit seinem Klangkörper in sich einzutreten, sondern als Akt leibhaftiger, lebender Personen. Die Grenze des Dramas, die für Hegel zugleich die Grenze der Kunst ausmacht, besteht jedoch darin, dass die dramatis personae zwar wirkliche, lebendige Personen sind – aber eben genau genommen, weil ein Kunstwerk immer nur einen Ausschnitt der ,prosaischen‘ Welt in ein Gefüge ästhetischen Sinns verwandelt, nur verfremdete Aspekte solcher Personen. Die das Drama zur Aufführung bringenden Personen treten zwar in den Gehalt des dramatischen Akts als solche ein (d. h. ihre leibhaftige Darbietung leistet einen Beitrag zum dramatischen Sinn und instanziiert nicht nur einen durch den Dramentext festgelegten Gehalt), aber sie ,agieren‘ dabei eben (nur) als Schauspieler. Das Drama zeigt daher nicht, dass der je Einzelne als die wirkliche Person, die er ist, sich in einer Form geistiger Tätigkeit zu 21  Zur Dichtung als Form der Erkenntnis vgl. Martin 2016.

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engagieren vermag, die derart selbstbewahrheitenden Sinn mit sich bringt, dass er als der wirkliche Einzelne, der er ist, in dieses Geschehen miteinbezogen ist. Die Form religiösen Denkens zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass der einzelne Denkende mitsamt der ,prosaischen‘ Welt, in der er lebt, derart in den Inhalt seines Denkens eintritt, dass dieses – wie die Kunst – einen Sinnzusammenhang eröffnet, der seine Verbindlichkeit allein sich selbst verdankt. Insofern religiöse Aktivität ihre Verbindlichkeit nirgendwoher bezieht, als aus sich selbst, ist ihr Sinn kein endlicher (empirischer oder moralischer). Indem die einzelne Person jedoch mitsamt der profanen Welt in den Gehalt religiösen Denkens eintritt, verwandelt religiöse Aktivität nicht bloß wie die Kunst einen Ausschnitt dieser Welt in eine ästhetische Welt für sich, sondern lässt die Welt selbst als Sinnzusammenhang sehen, der sich und sein Offenbarwerden als solcher einer sich in ihm manifestierenden Quelle absoluter Verbindlichkeit verdankt. Im Verhältnis zur Kunst vollzieht die Religion somit einen Umschwung, indem sie eine Perspektive eröffnet, von der aus sich, was in der Kunst als sekundärer Sinn erscheint, als primär darstellt: Im religiösen Denken wird offenbar, dass es eine Warte gibt, von der aus die Welt das ist, wohinein die Kunst einen Ausschnitt derselben erst verwandelt – ein Zusammenhang, der seine verbindliche Sinnfülle unbedingter, sich selbst bewahrheitender Selbstbestimmung verdankt22. Wenn religiöses Denken sich dadurch auszeichnet, dass die in ihm engagierte Person oder Personengemeinschaft mitsamt der prosaischen Welt, in der sie sich findet, in sich eintritt, folgt daraus, dass das ,Medium‘ oder ,Material‘ religiöser Aktivität die prosaische Welt als solche ist. Eben dies ist mit Hegels Auskunft gemeint, das Medium der Religion sei die ,Vorstellung‘. Denn dies 22  Religion als Form selbstbewahrheitender Erkenntnis aufzufassen, bedeutet nicht zu behaupten, alles, was als religiöse Überzeugung gilt, sei automatisch ein Wissen. Sogenannte ,religiöse Überzeugungen‘ könnten nämlich ihrer Form nach ein verworrenes Ineinander religiöser und nicht-religiöser Gedanken darstellen. Daraus, dass die Religion eine Form selbstbewahrheitender Erkenntnis ist, folgt nur, dass zu tatsächlichen Religionen gewisse wahre Gedanken und eine eigentümliche Weise der Einsicht in ihre Wahrheit gehören, sich die Wahrheit dieser Gedanken also nur so – nämlich religiös – einsehen lässt. Es ist eine schwierige Frage, ob sich solche Gedanken ihrem Inhalt nach abstrakt charakterisieren lassen. Zu vermuten ist, dass sie davon handeln, dass das unbedingt Wahre, Gute, Ewige eine Wirklichkeit darstellt, innerhalb derer jeder Einzelne als der, der er ist, eine unverzichtbare Rolle spielt. Dagegen spielt für das Unbedingte oder Selbstbewahrheitende, wie es sich in den anderen beiden Reichen des absoluten Geistes – der Kunst und der Philosophie – darstellt, die wirkliche, einzelne Person als solche keine Rolle.

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bedeutet, dass die ,Elemente‘ religiösen Gehalts diejenigen Agenten und Dinge sind, welche die profane Welt ausmachen – nur dass religiöser Sinn nicht beansprucht, einen Handlungszusammenhang in der profanen Welt zu repräsentieren, sondern diese als einen Handlungszusammenhang – eine Geschichte – zu erweisen, deren Wahrheit nicht empirisch einsehbar, sondern von einem absoluten Selbstbestimmungszentrum – Gott – verbürgt und vermittelt ist. Insofern sich die Religion zur Darstellung der Welt als absoluter Geschichte nämlich der profanen Welt der Personen und Dinge verfremdend als ihres Mediums bedient, muss sie auch die Quelle der Bestimmtheit und Verbindlichkeit ihres Sinns als Person vorstellen. Bei dieser kann es sich jedoch nicht einfach um eine endliche Person handeln, die am religiösen Geschehen teilhat, weil eine solche offenbar nicht die Autorität hat, für die objektive Verbindlichkeit einer Botschaft einzustehen, die die Welt als Schöpfung erweist. Religiöse Aktivität präsentiert die Bezogenheit endlicher Selbstbestimmungszentren auf religiösen Sinn daher derart, dass dieser von einer absoluten Person mitgeteilt, bewahrheitet und verbürgt ist. Die formale Beschränktheit der Religion als Erkenntnisform besteht darin, dass sie die ihre Wahrheit verbürgende Aktivität nur unmittelbar als absolute Person vorstellen, aber nicht als solche erweisen kann. Dies liegt daran, dass sie – der Form des Vorstellens gemäß – den Ursprung ihres Gehalts und seiner Verbindlichkeit nicht in demjenigen Quellpunkt leibhaftiger Selbstbestimmung verortet, der als allgemeiner individuellem Belieben entzogen ist, sondern diese Quelle als ,absolutes Individuum‘ absondert, das diesen Gehalt stiften, mitteilen und verbürgen soll. Damit bezieht sie ihren Gehalt jedoch auf eine Weise aus dem verbindlichkeitsstiftenden Zentrum geistiger Aktivität, die sich einem blinden Wirken der Einbildungskraft verdankt, weshalb religiöse Aktivität den Zusammenhang und die Verbindlichkeit ihres Gehalts nicht transparent ausweisen kann, indem sie diesen im Modus reinen, voraussetzungslosen Denkens einholt, obwohl sie als Theologie in diese Richtung strebt. Der Religion ist so von Haus aus ein Delegieren semantischer und epistemischer Transparenz an den ,großen Anderen‘ eingeschrieben. Die Form philosophischen Denkens besteht dagegen darin, dass die Selbstbestimmung des Denkens in sich als das eintritt, was sich – ohne bestimmte Gehalte und deren Verbindlichkeit unmittelbar vorauszusetzen – derart aus sich heraus entfaltet, dass es genau dadurch für Bestimmtheit und Verbindlichkeit seiner Gehalte einsteht. Das philosophische Denken bezieht seine Verbindlichkeit damit wie die Kunst und die Religion nirgendwoher als aus sich selbst – dem allgemeinen, reinen Sichbestimmen, welches Hegel den „Begriff“ nennt. Im Unterschied zu Kunst und Religion ist die allgemeine Dimension reinen Sichbestimmens in der Philosophie jedoch als Quelle

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ihrer Bestimmtheit und Verbindlichkeit transparent. Genau dies macht die Philosophie zu einem Unternehmen, das nicht von unmittelbar vorausgesetzter Bestimmtheit ausgehen muss, sondern nur solchen Gehalt zulässt, den thematisch voraussetzungsloses Denken transparent aus sich zu beziehen vermag23. Indem Philosophie die Quelle ihrer eigenen Verbindlichkeit nirgendwo als in der allgemeinen Dimension der leibhaftigen Selbstbestimmung des Geistes verortet, vermag sie zugleich anzugeben, woraus solche epistemischen Aktivitäten ihre objektive Verbindlichkeit beziehen, die es ihrer eigenen Form nach nicht vermögen, die Quelle ihrer Verbindlichkeit verzerrungslos in den Blick zu bringen. Die Philosophie steht so nach Hegel genau insofern höher als Kunst und Religion, als sie es vermag, die Form der entsprechenden Typen von Erkenntnis reflexiv zur Klarheit zu bringen, während Aktivität anderer Form nicht zu transparenter Selbsterkenntnis ihrer eigenen Form hinreicht. Insoweit die Philosophie eine Erkenntnis der Erkenntnisformen ist, thematisiert sie solches, was von der Warte anderer geistiger Aktivität aus nicht fokussiert als solches thematisch ist, weil es als Form nur einen unabgehobenen – obzwar ,regierenden‘ oder einheitsstiftenden – Aspekt solcher Aktivität ausmacht. Um eine Form der Erkenntnis als solche in den Blick zu bringen, ist die Philosophie daher auf den verfremdenden Gebrauch von Ausdrücken (wie z. B. „Form“) angewiesen, die ihre ursprüngliche Heimat im Zusammenhang anderer Erkenntnisformen haben. Die Philosophie teilt daher mit der Religion die Angewiesenheit auf Bilder oder Symbole des Unbedingten. Während religiöses Denken jedoch in nichts weiter als im Gebrauch solcher Symbole besteht, schillern die sprachlichen Bilder, von denen die Philosophie Gebrauch macht, zwischen der in ihnen angelegten Verdinglichung der absoluten Form und ihrer Durchsichtigkeit als Bilder derselben. Die Philosophie kann daher von den zu ihr gehörigen sprachlichen Bildern des Unbedingten nur im Zusammenhang einer immanenten Kritik der solchen Bildern anhaftenden Verdinglichungstendenzen durchsichtig Gebrauch machen und hat daher wesentlich eine phänomenologische Seite. Auch die Artikulationsform der Kunst lässt die Philosophie nicht einfach hinter sich, sondern nimmt sie als unselbständigen Aspekt in sich auf, was sich etwa an der philosophischen Bedeutung des Stils zeigt. Philosophische Texte sind im Unterschied zu wissenschaftlichen Texten nämlich solche, in denen Stil nicht nur Beiwerk ist, sondern etwas zur Sache beiträgt, weswegen die 23  Zu Hegels Konzeption der Philosophie als immanenter Entfaltung thematisch voraussetzungslosen Denkens vgl. Houlgate 2006 und Martin 2012.

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Klassiker der Philosophie nicht bloß zufällig „gut geschrieben“ sind. – So viel an dieser Stelle zur Frage, weshalb und inwiefern die Formen der Kunst und Religion in der Form der Philosophie ,aufgehoben‘ sind24.

Der Begriff des absoluten Geistes

Im ersten Teil dieses Aufsatzes habe ich eine Begründung dafür skizziert, dass mit formal voneinander verschiedenen Typen geistiger Aktivität zu rechnen ist, die als solche mit unterschiedlichen Formen objektiver Verbindlichkeit oder Wahrheit einhergehen. Insofern solche Typen geistiger Aktivität je eigene Weisen des Transparentwerdens von Wahrheit mit sich bringen, handelt es sich bei ihnen um Erkenntnisformen. Weiter habe ich dafür argumentiert, dass sich der formale Begriff der objektiven Verbindlichkeit oder Wahrheit (und die damit intern zusammenhängenden Begriffe des Gehalts, des Urteils und der Erkenntnis) gar nicht abstrakt-allgemein definieren, einführen und verstehen lassen, sondern nur im Zusammenhang mit dem Vollzug mustergültiger, nämlich transparent wahrer Akte. Anschließend bin ich im zweiten und dritten Teil des Aufsatzes eine Reihe besonderer Typen geistiger Aktivität durchgegangen, die mit je eigentümlichen Weisen der Wahrheitstransparenz einhergehen und insofern Formen der Erkenntnis sind. Dabei habe ich behauptet, dass der interne Zusammenhang dieser Reihe darin besteht, dass der Begriff einer Erkenntnisform aufgrund der zu ihr gehörigen Beschränktheit, der gemäß entsprechende geistige Aktivität nur ein verzerrtes Verständnis ihrer selbst gewinnen kann, jeweils über sich auf den Begriff einer weiteren Erkenntnisform hinausdeutet, die das verzerrende Selbstverständnis ihres Vorgängers wettmacht. Die durchlaufenen Erkenntnisformen – empirische 24  Indem die Begriffe der Kunst und Religion aufgrund der zu diesen Formen gehörigen Beschränkungen über sich auf den Begriff der Philosophie als einer Form der Erkenntnis hinausweisen, die derartige Schranken nicht aufweist, ist der Begriff der Philosophie derart auf die Begriffe der Kunst und Religion zurückbezogen, dass in der Form der Philosophie die Formen der Kunst und Religion als untergeordnete Aspekte verwandelt erhalten sind. Hegel kann daher behaupten, dass die Philosophie die „Einheit der Kunst und Religion“ (Werke 10, 378) sei. Wie bei der Religion handelt es sich auch bei der Philosophie um solche transparent selbstbewahrheitenden Vollzüge, die sich nicht nur – wie das Denken der Kunst – verwandelnd auf einen Weltausschnitt beziehen, sondern keinen irgendwie begrenzten Bezugsbereich haben. Wie in der Kunst bezieht die Philosophie ihren Gehalt und ihre Verbindlichkeit als geistige Aktivität jedoch transparent aus sich selbst und setzt als ihre Quelle keine einzelne, auch jenseits solcher Aktivität verortete, absolute Person an.

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und praktische Erkenntnis einerseits, Kunst, Religion und Philosophie andererseits – weisen nun aber untereinander formale Bezüge auf, aufgrund derer sich die drei zuletzt genannten unter einen eigenen, formalen Begriff bringen lassen – denjenigen der absoluten Erkenntnis oder, wie Hegel auch, obwohl nicht ausschließlich, sagt, des absoluten Geistes. Die formale Gemeinsamkeit von Kunst, Religion und Philosophie besteht darin, dass entsprechende geistige Vollzüge ihre objektive Verbindlichkeit oder Wahrheit transparent aus sich selbst beziehen und sie daher nicht von Tatsachen abhängen, die sie angemessen zu repräsentieren hätten (wie im Fall empirischer Erkenntnis) oder unter unkontrollierbaren Weltumständen erst verwirklichen würden (wie im Fall praktischer Erkenntnis). Weil der Begriff der Erkenntnis kein abstrakt-allgemeiner Begriff ist, der unabhängig vom Begriff seiner Arten und exemplarischer Instanzen bestimmt und verständlich wäre, geht auch der Begriff des absoluten Geistes den Begriffen der Kunst, Religion und Philosophie nicht logisch voran, sondern ist ihnen als Begriff ihres formalen Zusammenhangs nachgeordnet. Kunst, Religion und Philosophie betreiben daher nicht einfach alle auf je spezifische Weise dasselbe, so dass sich abstrakt – nämlich, ohne Kunst, Religion und Philosophie zu erwähnen – angeben ließe, was sie denn allesamt betreiben. Sie lassen sich dennoch schematisch von empirischer und praktischer Erkenntnis als Formen endlicher, d. h. fremdbewahrheiteter Erkenntnis abgrenzen – nämlich genau insofern, als sich ihre objektive Verbindlichkeit allein aus der entsprechenden geistigen Aktivität ergibt und nicht vom Bezug auf solches abhängt, das selbst nicht geistige Aktivität ist. Wie gezeigt ist der Wahrheitsbegriff nicht nur intern an bestimmte Typen geistiger Aktivität, die ihre je eigene Weise objektiver Verbindlichkeit mit sich bringen, gekoppelt, sondern wegen seiner Undefinierbarkeit ist er überhaupt nur zusammen mit paradigmatischen, auf ihr objektives Gelingen hin transparenten geistigen Vollzügen bestimmt und verständlich. Dies bedeutet aber, dass sich, was Wahrheit und Erkenntnis sind, nicht unter ausschließlichem Bezug auf Vollzüge von der Form endlicher, fremdbewahrheiteter Erkenntnis verstehen lässt, weil solche Vollzüge durch ein Moment des Ausstands oder Aufschubs transparenter Verbindlichkeit gekennzeichnet sind, das sich im empirischen Erkennen als Rechtfertigungsregress, im praktischen dagegen unter anderem als Progress der Handlungsbeschreibungen zeigt. Was Wahrheit, Gehalt und Erkenntnis sind, lässt sich somit nur im Zusammenhang mit Instanzen absoluter Erkenntnis verstehen, denen insofern ein Vorrang vor endlichen Formen der Erkenntnis zukommt. Aus diesem Vorrang folgt nicht, dass die Menschheit auf Kunst, Religionen und Philosophie als Formen der Hochkultur zu warten hatte, um zu verstehen,

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was Wahrheit und Erkenntnis sind. Wenn zu geistiger Aktivität als solcher nämlich ein rudimentäres Verständnis unbedingter Verbindlichkeit gehört und ein solches Verständnis an paradigmatischen Instanzen auf ihre Verbindlichkeit hin durchsichtiger geistiger Aktivität gekoppelt ist, solche Instanzen aber Fälle absoluter Erkenntnis sind, muss Aktivität entsprechender Form immer schon in unsere geistigen Vollzüge hineinspielen. Wir beginnen daher nicht zunächst als empirisch Erkennende und Handelnde und leisten uns nachträglich hin und wieder den vermeintlichen Luxus der Kunst, Religion und Philosophie, sondern es muss eine ,Nullstufe‘ des absoluten Geistes – eine primitive Vorform des Künstlerischen, Religiösen und Philosophischen geben, die von vornherein momenthaft zu unserer geistigen Aktivität gehört. Weil die Begriffe der Wahrheit, des Gehalts und der Erkenntnis ihre Bestimmtheit nur im Zusammenhang mit paradigmatischen, transparent selbstbewahrheitenden Vollzügen haben, kann sich eine philosophische Betrachtung der drei Reiche des absoluten Geistes nicht auf eine schematische, abstrakt-allgemeine Charakterisierung dieser Reiche beschränken, sondern muss wesentlich eine philosophische Geschichte der Kunst, Religion und Philosophie einschließen. Diese wird insofern eine philosophische Geschichte sein, als sie keine empirische Beschreibung der Entwicklung von Kunst, Religion und Philosophie anstrebt, sondern als begriffliche Untersuchung die Beiträge aufdeckt, die wegweisende Werke und Taten der Kunst, Religion und Philosophie zur Bestimmung des Wahrheitsbegriffs (bzw. des Systems der mit ihm zusammenhängenden formalen Begriffe) geleistet haben. Da dieser Begriff eine (wenn auch höchst komplexe) Form der Einheit aufweist, lässt sich ein solcher Nachweis nur führen, indem eine Entwicklungslogik des Zusammenhangs entsprechender Beiträge konstruiert wird, die dem historischen Verlauf seine vermeintliche Zufälligkeit nimmt, indem sie ihn rückwirkend als rational erweist. Dass absolute Erkenntnis im Unterschied zu endlicher Erkenntnis selbstbewahrheitend ist, bedeutet offenbar nicht, dass die entsprechenden Formen geistiger Aktivität keine Weisen des Nichtgelingens oder der Unverbindlichkeit zuließen. Ihr Nichtgelingen kann jedoch nicht darin bestehen, dass entsprechende Vollzüge einen ästhetischen, religiösen oder philosophischen Gehalt aufwiesen, der jedoch nicht durch die entsprechende Aktivität bewahrheitet würde. Denn nur solcher Gehalt ist ästhetisch, religiös oder philosophisch, den entsprechende Aktivität selbst bewahrheitet. Dennoch ist offensichtlich nicht jedes Kunstwerk als solches gelungen oder jeder Beitrag zur Philosophie als solcher transparenterweise wahr. Dass ein Kunstwerk oder ein Beitrag zur Philosophie schlecht oder unwahr ist, bedeutet jedoch, dass die entsprechende Aktivität ihren ästhetischen oder philosophischen Gehalt nur scheinbar

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hat. Insofern Kunst oder Philosophie ,schlecht‘ oder ,falsch‘ ist, handelt es sich (wie bei falschen Dollars) überhaupt nicht um Kunst oder Philosophie (geistige Aktivität, die ihre Wahrheit aus sich bezieht), sondern bloß um den Anschein davon, wobei Sein und Schein sich durchdringen können – im Fall der Philosophie etwa in Gestalt eines undurchsichtigen Durcheinander aus philosophischen und nicht-philosophischen Gedanken. Der Begriff der Erkenntnis ist der interne Zusammenhang der Reihe von Erkenntnisformen, die ihre jeweilige Kontur im Zuge der Geschichte des Vollzugs mustergültiger Instanzen entsprechender geistiger Aktivität gewinnen, insoweit sich diese Geschichte rückblickend als vernünftig erweisen lässt. Abschließend ist die Frage zu stellen, wie sich die Beiträge zu Erkenntnis, die Vollzüge von entsprechender Form zu leisten vermögen, zueinander verhalten. Wie angedeutet weisen die Begriffe solcher Formen aufgrund epistemischer Beschränkungen, die diese Formen als solche mit sich bringen, auf Begriffe anderer Formen hinaus, die keine entsprechende Beschränkung aufweisen und es daher erlauben, die Unstimmigkeit, die sich von der Warte geistiger Aktivität der vorangehenden Form, sofern diese isoliert betrachtet wird, ergibt, wett zu machen. Der Nachfolger einer Erkenntnisform in der Reihe solcher Formen vermag somit nicht etwas besser zu leisten, was geistige Aktivität der logisch vorangehenden Form zwar auch, wenngleich nicht so gut leisten könnte, sondern er vermag etwas zu leisten, was die Vorgängerform ins Spiel bringt, ohne es leisten zu können. Dies bedeutet, dass Erkenntnisformen durch ihre jeweiligen Nachfolger in der Reihe der Formen, deren interner Zusammenhang den Begriff der Erkenntnis ausmacht, nicht überflüssig gemacht werden, da die nachfolgende Form jeweils ihr eigenes epistemisches Geschäft hat – und nicht etwa dasselbe wie ihr Vorgänger. Weder macht praktische Erkenntnis empirische überflüssig noch macht Philosophie Religion und Kunst epistemisch verzichtbar. Vielmehr zeichnet sich die jeweils nachfolgende Erkenntnisform dadurch aus, dass sie einen Spielraum einnimmt, den ihre Vorgängerform eröffnet, ohne ihn sinnvoll einnehmen zu können. Die Formen der Erkenntnis stehen daher als Erkenntnisformen in einem Ergänzungsverhältnis. Das Verhältnis, in dem die nachfolgenden Formen zu ihren Vorgängern stehen, ist somit – von philosophischer Warte aus betrachtet – ein grenzunterstreichendes Ergänzungsverhältnis. Der Begriff der Nachfolgerform rückt nämlich sozusagen den Begriff ihres Vorgängers zurecht, indem sie die epistemische Reichweite entsprechender geistiger Aktivität als begrenzt ausweist und damit bestimmte reale Fälle solcher Aktivität als Ausdruck der Tendenz zur Überschreitung ihrer Form zu erkennen erlaubt.

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Daraus, dass die Formen der Erkenntnis ungeachtet dessen, dass die jeweilige Nachfolgerform eine Unstimmigkeit in dem zu ihrem Vorgänger gehörigen Selbstbezug wettmacht, in einem Ergänzungsverhältnis stehen, folgt, dass der epistemische Vorrang der Philosophie gegenüber der Kunst und der Religion nicht darin bestehen kann, dass Philosophie Kunst und Religion epistemisch verzichtbar machen würde. Sie steht allenfalls insofern höher als diese, als sie einen transparenten Begriff der Kunst und Religion als epistemischer Formen zu gewinnen erlaubt. Dass sie diesen Begriff zu gewinnen erlaubt, bedeutet nicht, dass sie Kunst und Religion als epistemisch verzichtbar erweisen würde, sondern dass sie den Ort ihrer Unverzichtbarkeit zu bezeichnen erlaubt. Von einer epistemischen Verzichtbarkeit der Kunst und Religion ließe sich nämlich nur dann sprechen, wenn sich ästhetische und religiöse Erkenntnis auf philosophische Erkenntnis reduzieren ließe, was voraussetzt, dass sich auf der Grundlage des Begriffs der Philosophie eine reduktive Erklärung der Begriffe der Kunst und Religion geben lässt. Eine solche Erklärung lässt sich Hegels Auffassung der Philosophie zufolge aber schon deshalb nicht geben, weil Philosophie als immanente Entfaltung der zum Denken als vernünftigem Sichbestimmen gehörigen Momente überhaupt nicht mit reduktiven Erklärungen arbeitet. Für ein absolutes Ende der Kunst oder der Religion – die Ablösung ihrer Erkenntnisfunktion durch die Philosophie – ist in Hegels Philosophie des absoluten Geistes daher systematisch kein Platz. Sollte Hegel Gegenteiliges behauptet haben, wäre diese Feststellung unabhängig von einer philosophischen Begründung des Behaupteten uninteressant25. In Hegels Philosophie des absoluten Geistes ist systematisch jedoch allenfalls für den Nachweis Platz, dass Kunst und Religion in einem frühen Stadium der Selbstentfaltung des Geistes zu distinkten Typen geistiger Aktivität gewisse epistemische Funktionen erfüllten, die letzten Endes nicht sie, sondern die Philosophie zu erfüllen geeignet ist. Dies ist jedoch ungenau formuliert. Denn statt sich so auszudrücken, dass etwa die Dichtung zu einer Zeit, als es noch keine Theologie oder Philosophie gab, gewisse epistemische Funktionen erfüllte, von denen sich später zeigte, dass sie eigentlich in den Aufgabenbereich der Theologie oder Philosophie gehören, wäre es präziser zu sagen, dass es eine Epoche der Entwicklung des Geistes gab, in der Dichtung, Religion, und

25  Vgl. in diesem Zusammenhang die in Fn. 3 genannten Passagen aus den Vorlesungen über die Ästhetik.

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Philosophie noch gar nicht als distinkte Aktivitäten voneinander geschieden waren26. In jedem Fall können nicht alle epistemischen Aufgaben der Kunst und Religion so geartet sein, dass sie irgendwann einmal von der Philosophie übernommen werden könnten, da es sich bei Kunst und Religion sonst überhaupt nicht um eigene Formen des Wissens handeln würde. An dieser Stelle ist es nicht mehr möglich, die epistemische Unverzichtbarkeit von Kunst und Religion ihrer Bestimmtheit nach genauer in den Blick zu nehmen. Nach dieser Bestimmtheit zu fragen, setzt jedoch voraus, Kunst und Religion überhaupt als Formen der Erkenntnis zu betrachten, die mit der Philosophie darin übereinkommen, dass entsprechende geistige Aktivität ihre Wahrheit aus sich allein bezieht. Es war das Anliegen dieses Aufsatzes, eine Begründung für diese Auffassung zu geben.

26  Der Sachverhalt ist bezeichnend, dass Hegel Homer und Hesiod nicht etwa nur in den Vorlesungen über die Ästhetik, sondern auch in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion und über die Geschichte der Philosophie behandelt.

Empirische Erkenntnis als absolute Erkenntnis Sebastian Rödl Objektivität Ein Urteil, dass dies und das der Fall ist, ist der Akt eines Subjekts. Doch Urteile sind objektiv: Ob es richtig ist, so und so zu urteilen, hängt davon ab – es hängt allein davon ab –, was geurteilt wird; es ist unabhängig von Bestimmungen desjenigen, der urteilt. Wenn wir das, was einer urteilt, den Gegenstand seines Urteils nennen, können wir sagen: ein Urteil ist objektiv, weil seine Geltung allein von seinem Gegenstand abhängt. Dies, seine Objektivität, definiert das Urteil und unterscheidet es vom sinnlichen Bewusstsein. Ein Urteil ist objektiv, weil seine Geltung nur von dem abhängt, was es urteilt, und nicht von irgendwelchen Bestimmungen desjenigen, der urteilt. Das scheint zu implizieren, dass ein Urteil objektiv ist, insofern sein Subjekt nicht in seinem Gegenstand vorkommt. Genauer: insofern es dort nicht als sein Subjekt vorkommt. Ein Subjekt mag über sich selbst urteilen; es mag der Gegenstand seines Urteils sein. Aber insofern sein Urteil objektiv ist, ist es der Gegenstand seines Urteils nicht als derjenige, der dieses Urteil fällt. Ein Urteil, indem es objektiv ist, handelt von etwas anderem als sich selbst. Wenn das richtig ist, dann ist ein Urteil, insofern es objektiv ist, in be­ stimmter Weise gegliedert: Was geurteilt wird, ist von dem Akt, in dem es ge­ urteilt wird, unterschieden, die Kraft vom Inhalt, wie Frege es formuliert. In moderner Terminologie ist ein Urteil eine propositionale Einstellung: Es gibt die Proposition, den Gegenstand des Urteils, und es gibt die Einstellung des Subjektes zu diesem Gegenstand, in der es ihn etwa bejaht.

Die erste Person

Urteile sind objektiv: Ihre Geltung hängt nicht von irgendwelchen Bestim­ mungen derjenigen ab, die urteilt. Daraus scheint zu folgen, dass der Akt des Urteilens unterschieden ist von dem, was geurteilt wird; dem, was geurteilt wird, ist es nicht wesentlich, dass es geurteilt wird. Obwohl ein Urteil von etwas anderem als dem Akt des Urteilens handelt, müssen wir Raum lassen für Urteile, deren Gegenstand nicht nur ihr Subjekt ist, sondern ihr Gegenstand als das Subjekt des jeweiligen Urteils. Denn es gibt solche Urteile: Urteile, deren sprachlicher Ausdruck ein Pronomen der

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_037

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ersten Person erfordert. Wenn das, was so ausgedrückt wird, ein Urteil ist, dann ist es objektiv, und wenn es objektiv ist, ist es so gegliedert, wie Urteile als objektiv gegliedert sind: in Kraft und Inhalt. Wenn das Bewusstsein, das mithilfe des Pronomens der ersten Person ausgedrückt wird, ein Urteil ist, wird es also eine propositionale Einstellung sein. Dann gibt es Propositionen, die sich, wiewohl sie von der Einstellung des Subjekts zu eben dieser Proposition verschieden sind, doch auf dieses Subjekt als Subjekt dieser Einstellung beziehen. Die Idee einer solchen Proposition ist beunruhigend. Ihre nominale Definition – sie bezieht sich auf das Subjekt, das eine Einstellung zu ihr hat und bezieht sich auf es als dieses Subjekt – impliziert, dass es für jede sol­ che Proposition und jeden solchen Inhalt nur ein Subjekt gibt, das eine Einstellung zu ihr haben kann, nur ein Subjekt, das ihm Kraft verleihen kann. Die Proposition bezieht sich auf, sagen wir, Dr. Lauben, und sie bezieht sich auf ihn als denjenigen, der eine Einstellung zu eben dieser Proposition hat. Niemand außer Dr. Lauben kann eine Einstellung zu einer Proposition haben, die sich auf Dr. Lauben in dieser Weise bezieht. Es gibt demnach hier nicht verschiedene Subjekte, die den gleichen Inhalt bejahen; der Inhalt ist durch ein unzerreißbares Band mit demjenigen verbunden, der ihn bejaht. Das ist beunruhigend, denn es scheint, dass ein objektives Urteil, als objektiv, geteilt werden kann; was geurteilt wird, ist gleichgültig dagegen, dass es geurteilt wird, es ist deshalb da, um von jeder und jedem geurteilt zu werden. Die Unterscheidung von Kraft und Inhalt spiegelt die Objektivität des Denkens eben dadurch wider, dass sie es möglich macht, dass verschiedene Subjekte in verschiedenen Akten denselben Inhalt bejahen. Man mag erwidern, dass die Objektivität eines Urteils in erster Linie darin liegt, dass seine Gültigkeit allein davon abhängt, was geurteilt wird, nicht davon, dass es geurteilt wird. Der private Inhalt – den nur diejenige bejahen kann, auf die er sich bezieht – ist objektiv in diesem Sinne: Seine Gültigkeit hängt nicht davon ab, ob ihn jemand bejaht. Ihm fehlt ein Merkmal, das gewöhnlicherweise Objektivität begleitet: er kann nicht von Verschiedenen bejaht werden. Dieses Merkmal fehlt ihm nicht, weil er nicht objektiv ist, son­ dern wegen der besonderen Weise, in der er sich auf seinen Gegenstand be­ zieht, eine Weise, in der nur diejenige, die dieser Gegenstand ist, sich auf ihn beziehen kann. Folglich steht es uns frei, einen Ersatz für das zu erfinden, was ihm fehlt: Wir postulieren, dass, obwohl eine Andere als das Subjekt eines erst­ personalen Urteils dessen Inhalt nicht bejahen kann, sie einen anderen Inhalt bejahen kann, der, und zwar so, dass sie eben dies versteht, mit dem Inhalt, den sie nicht bejahen kann, korreliert ist: beide Inhalte sind so korreliert, dass

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der eine dann und nur dann gültig ist, wenn der andere gültig ist, und das nicht per accidens, sondern kraft der Beschaffenheit der Inhalte1. Man mag mit dieser Antwort unzufrieden sein. Man mag versuchen, ihre Inkohärenz zu beweisen. Aber jeder solche angebliche Beweis wäre so lange unbefriedigend, als er sich nicht zu dem Motiv der Idee privater Inhalte verhält: der Vorstellung, dass die Objektivität des Urteils darin liegt, dass das, was geurteilt wird, etwas anderes ist als der Akt, in dem es geurteilt wird. Denn dies enthält, dass sich ein objektives Urteil in Kraft und Inhalt gliedert. Dann ist ein erstpersonales Urteil entweder nicht objektiv oder es ist so gegliedert. Wenn das Letztere, ist sein Inhalt privat. Selbstbewusstsein Urteilen, insofern es objektiv ist, handelt von etwas anderem als sich selbst. Dies setzt die Idee erstpersonalen Urteilens unter Spannung: Erstpersonales Urteilen bejaht private Propositionen, Propositionen, die nur einem Subjekt vorbehalten sind. Die Spannung wird unerträglich, wenn wir bemerken, dass Urteilen als solches selbstbewusst ist: So und so zu urteilen ist, sich bewusst zu sein, eben dies zu urteilen, sich dessen bewusst zu sein nicht in einem anderen Akt, sondern in eben diesem Urteilen. Wenn zu urteilen nichts anderes ist als zu verstehen, dass man eben so ur­ teilt, dann ist das, was geurteilt wird, nichts anderes als der Akt, in dem man es urteilt. Denn dann ist der geistige Akt, der ausgedrückt wird durch p, derselbe wie der, der durch Ich denke, dass p ausgedrückt wird; und wenn der Akt einer ist, ist auch das, was in ihm geurteilt wird, eines. Es ist sinnlos zu sagen, in einem Urteil würden zwei Dinge geurteilt: erstens p und zweitens Ich denke, dass p. Wenn zu urteilen, dass p, dasselbe ist wie zu urteilen, dass man eben dies urteilt, dann gibt es nicht zusätzlich zum Urteil, dass p ein Urteil, dass man das urteilt. Das Ich denke bezeichnet nichts Weiteres, das geurteilt wird. Wenn unsere Notation uns verwirrt, können wir eine entwickeln, in der Ich denke dem p intern ist; vielleicht wird die Figur p durch die Wörter Ich denke geformt. Urteilen ist objektiv, haben wir gesagt: Seine Geltung hängt allein davon ab, was geurteilt wird, nicht von Bestimmungen derjenigen, die urteilt. Und Urteilen ist selbstbewusst, sagen wir: So und so urteilen ist, sich bewusst zu sein, dass man so urteilt. Wenn die Objektivität des Urteilens darin besteht, dass das, was geurteilt wird, gleichgültig ist dagegen, dass es geurteilt wird, 1  Vgl. McDowell, 1998, 222.

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dann schließt die Objektivität des Urteils sein Selbstbewusstsein aus, und umgekehrt sein Selbstbewusstsein seine Objektivität. Denn wenn Urteilen selbstbewusst ist, dann enthält, was geurteilt wird, als solches das Ich denke; es enthält als solches sein Geurteiltwerden.

Objektivität und Selbstbewusstsein

Vielleicht ist eine dieser Ideen falsch: Denken ist tatsächlich nicht objek­ tiv; oder Denken ist tatsächlich nicht selbstbewusst. Jedoch haben manche erwogen, Kant zum Beispiel, dass Selbstbewusstsein, weit entfernt davon, die Objektivität des Urteilens auszuschließen, diese konstituiert. Wenn dies richtig ist, dann können wir die Spannung nicht dadurch lösen, dass wir die Objektivität oder das Selbstbewusstsein des Urteilens leugnen. Die Spannung muss eine scheinbare sein. Es muss bloßer Schein sein, dass die Objektivität des Denkens darin besteht, dass das, was gedacht wird, etwas anderes ist als der Akt, in dem es geurteilt wird. Urteilen ist objektiv, weil seine Gültigkeit allein davon abhängt, was geurteilt wird, und nicht von Bestimmungen des Subjektes, das urteilt. Es muss ein Irrtum sein anzunehmen, dass das bedeu­ tet, dass ein Urteil sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht. Wenn die Objektivität des Urteilens sein Selbstbewusstsein ist, dann muss es umgekehrt so sein, dass ein Urteil, genau weil es objektiv ist, sich auf sich selbst bezieht. Urteilen ist objektiv: Seine Gültigkeit hängt von keiner Bestimmung des ur­ teilenden Subjekts ab, sondern von dem, was es urteilt, allein. Das bedeutet, so wird behauptet, dass ein Urteil, insofern es objektiv ist, sich auf etwas ande­ res bezieht als auf den Akt, in dem es geurteilt wird. Diese Vorstellung ist eta­ bliert wie keine andere. Gegen Relativismus, Skeptizismus, Konstruktivismus, die die Objektivität des Urteilens leugnen, wollen wir darauf beharren, dass das Urteilen in einem vorliegenden Gegenstand verankert ist, der es bindet und ihm eine Orientierung gibt. Wir müssen an diesem Gegenstand fest­ halten und uns gegen die verantwortungslose Anmaßung auflehnen, ihn zu dekonstruieren. Der Wunsch, das Urteilen in etwas anderem als sich selbst zu verankern, ist eine Quelle des Szientismus. Naturwissenschaft, Erkenntnis der Natur, ist Erkenntnis von etwas, das sich von seinem Erkanntwerden unterscheidet; der Gegenstand der Naturwissenschaft ist gleichgültig gegen seine Erkenntnis. Wenn das objektive Urteil von etwas anderem als sich selbst handelt, dann ist es zuvörderst Naturwissenschaft. Aber den Szientismus kann man nicht ernst nehmen. Die Naturwissenschaft ist das Maß aller Dinge: das ist zu ab­ surd. Die Erkenntnis dessen, was zu tun gut ist, was gerecht ist, ist kein Teil

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der Naturwissenschaft. Doch ist es Urteilen; es ist objektiv. Wenn objektives Urteilen von etwas anderem als sich selbst handelt, dann brauchen wir einen Gegenstand für solches Urteilen: etwas anderes als unser Urteilen, das der Maßstab unserer Versuche ist, es zu erkennen. Also gibt es diesen Gegenstand: Güte, Gerechtigkeit, Werte, Gründe. Es handelt sich nicht um Natur, nicht um etwas, das in der Erfahrung gegeben wird. Doch es ist ein Gegenstand, der sich von unserer Erkenntnis seiner unterscheidet. Die Beschwörung eines solchen Gegenstands ruft den Einwand hervor, dass er sich zu sehr von der Natur un­ terscheidet, dem Paradigma eines Gegenstands der Erkenntnis, der von sei­ ner Erkenntnis unabhängig ist. Wenn die Objektivität des Urteilens mit der Unabhängigkeit des Gegenstands gleichgesetzt wird, gibt es keine Antwort auf diesen Einwand. Es gibt nur das Beharren: Die Erkenntnis des Guten und des Gerechten ist objektiv; weil es diese Objektivität gibt, gibt es diesen Gegenstand: Güte, Gerechtigkeit, Werte, Gründe. Szientismus, Realismus auf der einen Seite und Konstruktivismus, Subjektivismus auf der anderen lassen eine Idee unangefochten: dass die Objektivität des Urteilens darin besteht, dass sein Gegenstand etwas ande­ res ist als der Akt seiner Erkenntnis. Wir müssen die entgegengesetzte Idee in Erwägung ziehen: Urteilen ist objektiv, weil sein Gegenstand nichts an­ deres ist als der Akt, ihn zu erkennen. Dann gilt, dass, obwohl es Erkenntnis eines Gegenstands gibt, der sich vom Akt seiner Erkenntnis unterscheidet – Erkenntnis der Natur, empirische Erkenntnis –, diese nur Erkenntnis ist, in­ sofern sie Selbsterkenntnis ist; es mangelt ihr an Objektivität und sie ist mangelhaft als Erkenntnis, insofern sie sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht. Obwohl praktische Erkenntnis den Rahmen des vorliegenden Essays übersteigt, bereitet dieser doch den Boden für eine Untersuchung praktischer Erkenntnis, die sich freigemacht hat vom Widerstreit des Konstruktivismus und des Realismus. Denn sein Ergebnis impliziert, dass die Auffassung der Erkenntnis des Guten und Gerechten als Erkenntnis eines Gegenstands, der unabhängig davon vorliegt, dass er erkannt wird, nicht die Objektivität die­ ser Erkenntnis untermauert, sondern sie im Gegenteil unerträglich begrenzt: die Natur mag nur eine Erscheinung sein; das Gute kann das niemals sein.

Objektive Gültigkeit ist selbstbewusste Gültigkeit

Urteilen ist objektiv, haben wir gesagt: Seine Gültigkeit hängt allein von dem ab, was geurteilt wird, und von keiner Bestimmung des urteilenden Subjektes. Und Urteilen ist selbstbewusst: Etwas zu urteilen heißt, sich als dieses urtei­ lend zu verstehen. Aber nicht nur ist Urteilen objektiv und selbstbewusst;

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seine Gültigkeit ist in seinem Selbstbewusstsein eingeschlossen. Ich urteile nicht in einem Akt, dass die Dinge so sind, und in einem weiteren Akt, dass es richtig ist, dies zu urteilen. Sondern darin, dass ich urteile, dass die Dinge so liegen, urteile ich, dass es richtig ist, dies zu urteilen. Ein gültiges Urteil ist der Gedanke seiner eigenen Gültigkeit: ein gültiges Urteil ist selbstbewusst gültig. Diese Merkmale der Gültigkeit des Urteils – sie ist selbstbewusst, sie ist objektiv – mögen voneinander unabhängig erscheinen. Wo sie auftauchen, mögen sie per accidens zusammengekommen sein: in unseren Urteilen oder in manchen unserer Urteile. Das aber ist falsch. Die Objektivität der Geltung des Urteilens ist nichts anderes als ihr Selbstbewusstsein. Die Gültigkeit eines Urteils hängt allein davon ab, was es urteilt: Ein Urteil, dass dies und das der Fall ist, ist gültig kraft dessen, dass eben dies der Fall ist, und kraft dessen allein. Das Urteil also, dass das der Fall ist, kraft dessen al­ lein ein gegebenes Urteil gültig ist, ist eben dieses Urteil: wenn ich urteile, dass das der Fall ist, kraft dessen mein Urteil, dass dies und das der Fall ist, gültig ist, dann urteile ich und urteile nur: dass dies und das der Fall ist. Weil also die Gültigkeit eines Urteils allein davon abhängt, was es urteilt, und nicht von irgendeiner Bestimmung desjenigen, der urteilt, urteilt das Urteil, dass ein ge­ gebenes Urteil gültig ist, nichts anderes als eben jenes Urteil. Das Bewusstsein eines Urteils als objektiv gültig ist nichts anderes als dieses Urteil; ein Urteil ist das Bewusstsein seiner eigenen Gültigkeit. Dies liegt in der Idee eines fregeschen Gedankens: Ein fregescher Gedanke stellt die Bedingung vor, unter der er wahr ist, das heißt, die Bedingung, unter der es richtig ist, ihn zu bejahen. Daraus folgt, dass etwas zu urteilen nichts anderes ist als zu urteilen, dass die Bedingungen gegeben sind, unter denen es richtig ist, eben dies zu urteilen. Wenn wir die Variable p verwenden, um etwas anzuzeigen, das geurteilt wird, oder wenn wir von einer Tatsache oder Tatsachen sprechen als von dem, was in einem gültigen Urteil erkannt wird, dann sprechen wir von etwas, dessen sich bewusst zu sein dasselbe ist, wie sich der Geltung eben dieses Bewusstseins bewusst zu sein. (Frege hat nicht erkannt, dass diese Auffassung dessen, was geurteilt wird, die Unterscheidung von Kraft und Inhalt unterläuft.)

„Urteil“ und Urteil

Die Gültigkeit eines Urteils hängt von keinem Merkmal des Urteils ab außer dem, was es urteilt. Sie hängt nicht von irgendeiner gegebenen Bestimmung des Subjekts des Urteils ab. Der Begriff gegeben muss hier so verstanden wer­ den, dass die Disjunktion erschöpfend ist: Eine Bestimmung des Subjekts eines

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Urteils ist dann und nur dann gegeben, wenn sie nicht in dem enthalten ist, was es urteilt. Also ist eine gegebene Bestimmung eine, von der man nicht denkt, dass das Subjekt sie besitzt, indem man nur urteilt, was es urteilt. Wir können uns die Bedeutung der Idee einer gegebenen Bestimmung eines Subjekts klarmachen, indem wir Tyler Burges Erläuterung der Form demonstrativer Urteile betrachten (er nennt sie ,beliefs de re‘)2. Was ein de­ monstratives Urteil urteilt, ist nach Burge etwas, das durch einen offenen Satz ausgedrückt wird. Der Sinn eines offenen Satzes stellt nicht alles bereit, was notwendig ist, um den Wahrheitswert des durch ihn ausgedrückten Urteils zu fixieren. Er tut dies nur zusammen mit kontextabhängigen Beziehungen, in denen das Subjekt zu Gegenständen seiner Umgebung steht. Diese sind kein Teil dessen, was es urteilt; wie Burge sagt, sind sie kein Teil seiner „kognitiven Welt“. Das heißt, die kontextabhängigen Beziehungen, in denen das Subjekt zu Gegenständen seiner Umgebung steht, sind gegebene Bestimmungen dieses Subjekts. Was Burge beschreibt, ist kein Urteil, denn es ist nicht der Gedanke seiner eigenen Gültigkeit. Ein Bewusstsein der Geltung des Aktes, den Burge be­ schreibt, ist unter anderem ein Bewusstsein der relevanten kontextabhängigen Beziehungen, und der Akt, den Burge beschreibt, ist kein Bewusstsein dieser. Die Geltung des von Burge so genannten demonstrativen Urteils hängt also nicht allein davon ab, wovon es ein Bewusstsein ist; sie hängt darüber hinaus von einer gegebenen Bestimmung des Subjekts ab, nämlich von den kontextab­ hängigen Beziehungen, die außerhalb dieses Bewusstseins liegen. Wir können das, was Burge beschreibt, als „Urteil“ bezeichnen. Ein „Urteil“ ist kein Urteil. Ein „Urteil“ mag eine externe oder eine interne Beschreibung erhalten. Wir beschreiben es intern, wenn wir „die kognitive Welt“ des Subjekts beschreiben und angeben, was ihm im fraglichen „Urteil“ bewusst ist. Wir beschreiben es extern, wenn wir darüber hinaus einen Gegenstand als dasjenige identifizie­ ren, das in der richtigen kontextabhängigen Beziehung zu dem Subjekt steht. Wir mögen dieselben Sätze verwenden, um eine interne und eine externe Beschreibung eines „Urteils“ zu geben. Zum Beispiel mögen wir von einem Löwen sagen, er „urteile“, dass dort drüben eine Antilope ist; wir mögen sagen, er sei sich der Antilope bewusst und sei sich ihrer als dort drüben bewusst. Als interne Beschreibung beschreibt das ein Bewusstsein, das nicht durch das, wovon es ein Bewusstsein ist, die fragliche Antilope als seinen Gegenstand identifiziert. Als externe Beschreibung identifiziert sie die Antilope und drückt dann ein Bewusstsein aus, das sich von dem „Urteil“ unterscheidet, das sie beschreibt. Denn wenn die Antilope als der Gegenstand des „Urteils“ 2  Burge 1977.

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identifiziert wird, dann in einem Bewusstsein der einschlägigen kontextab­ hängigen Beziehungen, in denen das Subjekt zu diesem Gegenstand steht; ein Bewusstsein der Weise, in der es von diesem Gegenstand affiziert wird. Wenn wir sagen, dass das Subjekt sich der Antilope bewusst ist, müssen wir darauf achten, ob wir von innerhalb oder außerhalb dieses Bewusstseins sprechen3. Burge behauptet, dass ein demonstratives, und das heißt: ein Wahrneh­ mungsurteil, ein „Urteil“ sei. Das ist falsch. Wenn es wahr wäre, dann gäbe es den Gedanken der Gültigkeit eines Wahrnehmungsurteils nicht. Denn erstens kann der Gedanke der Geltung eines Wahrnehmungsurteils nichts anderes sein als ein Wahrnehmungsurteil, und zweitens ist kein „Urteil“ ein Bewusstsein der Geltung eines (anderen) „Urteils“. Denn ein „Urteil“ kann die Gültigkeit eines anderen „Urteils“ nur vermittels kontextabhängiger Beziehungen bestimmen, die also außerhalb des Bewusstseins liegen, welches jenes „Urteil“ ist. Folglich ist es genauso wenig ein Bewusstsein der Geltung dieses „Urteils“ wie das frag­ liche andere „Urteil“. Ein Wahrnehmungsurteil „Dort drüben ist eine Antilope“ ist kein „Urteil“. Denn es ist der Gedanke seiner eigenen Gültigkeit. Folglich ist das, was in die­ sem Urteil geurteilt wird, nichts anderes als die Korrektheit, es zu urteilen; es enthält alles, von dem abhängt, ob es richtig ist, so zu urteilen. Insbesondere ist ein Wahrnehmungsurteil ein Bewusstsein der relevanten „kontextabhängi­ gen Beziehungen“; es ist ein Bewusstsein der Affektion des Subjekts durch den Gegenstand seines Urteils. Wir mögen versucht sein zu denken, dass die Geltung eines Wahr­ nehmungsurteils nicht in diesem Urteil selbst gedacht wird, sondern von außerhalb seiner etabliert werden muss, indem man es mit etwas anderem als sich selbst vergleicht, und zwar mit der Tatsache, die es vorstellt. Dies ist ein Versuch, den Unterschied von externer und interner Beschreibung, welcher nur beim „Urteil“ angemessen ist, auf ein Urteil anzuwenden. Aber im Gegensatz zum „Urteil“ ist ein Urteil objektiv, und folglich ist diese Unterscheidung auf es nicht anwendbar. Um ein Urteil mit den Tatsachen zu vergleichen, müs­ sen wir uns dieser Tatsachen als Tatsachen bewusst sein. Und die Auffassung der relevanten Tatsachen als Tatsachen ist nichts anderes als das Urteil, des­ sen Gültigkeit, wie wir feierlich verkünden, durch diesen Vergleich begründet wird. Wir sind nicht, wie wir uns einbildeten, aus dem Urteil herausgetreten. Ein Urteil mit den Tatsachen zu vergleichen, bedeutet, es mit sich selbst zu vergleichen, was bedeutet, nichts zu tun. Man mag dagegen einwenden, dass,

3   Ich gebe lediglich eine negative Charakterisierung der internen Beschreibung eines „Urteils“. Für unsere gegenwärtigen Zwecke müssen wir die Möglichkeit einer positiven Charakterisierung nicht untersuchen.

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obwohl es keine Beurteilung der Gültigkeit eines Urteils geben kann, die es mit den Tatsachen vergleicht, die dieses Urteil zu repräsentieren vorgibt, es den­ noch richtig sein kann, dass seine Gültigkeit in der Beziehung, in der es zu den Tatsachen steht, liegt. Doch was in dem ersten Teil dieses Satzes zugegeben wird, sorgt dafür, dass der zweite Teil bedeutungslos ist. Die Gültigkeit eines Urteils ist objektiv, sie hängt allein davon ab, was es urteilt. Das heißt, das Bewusstsein dessen, kraft dessen allein ein Urteil gültig ist, ist nichts anderes als dieses Urteil. Mithin ist ein Urteil, das objektiv gül­ tig ist, ein Urteil seiner eigenen Gültigkeit. Die Vorstellung, dass wir genötigt sind, oder dazu genötigt wären, wenn wir es nur fertigbrächten, die Gültigkeit unseres Urteils von außen sicherzustellen, ist leer. Insbesondere ist es eine Verwirrung zu denken, dass die Gültigkeit eines Urteils von außerhalb dieses Urteils festgestellt werden muss, weil die Gültigkeit des Urteils objektiv ist. Das Gegenteil ist richtig: Ein Akt, der solcher Art ist, dass die Idee einer Feststellung seiner Gültigkeit von außerhalb seiner verständlich ist, ist aus diesem Grund nicht objektiv. Objektive Gültigkeit ist nur in dem Akt erfassbar, um dessen Gültigkeit es geht. Es ist nicht nur nicht notwendig, ein Urteil zu etwas ande­ rem als sich selbst in Beziehung zu setzen, um seine Gültigkeit sicherzustellen. Die Idee der Prüfung eines Urteils, die es zu etwas anderem in Beziehung setzt, um seine Gültigkeit sicherzustellen, ist leer. Das ist es, was es bedeutet, dass Urteilen objektiv ist. In einem Wahrnehmungsurteil ist das, was es urteilt, nur verfügbar als etwas, das geurteilt werden kann, indem eine Bedingung gegeben ist, die nicht durch das Urteilen selbst erfüllt ist: die Affektion durch den Gegenstand des Urteils. Dies reflektiert die Form eines Wahrnehmungsurteils: Die Antilope da drüben grast. Was in diesem Urteil geurteilt wird, ist nur mittels sinnlicher Affektion durch die Antilope verfügbar als etwas, das geurteilt werden kann. Diese Abhängigkeit des Urteils von sinnlicher Affektion ist dem, was geur­ teilt wird, intern: in meinem Urteilen verstehe ich mein Urteil als auf diese Weise abhängig. Also ist diese Abhängigkeit nicht außerhalb der „kognitiven Welt“ des Subjekts. Die Abhängigkeit des Wahrnehmungsurteils von sinnlicher Affektion liegt durch das Urteilen selbst vor, nämlich als Merkmal dessen, was es urteilt. Die sinnliche Affektion dagegen nicht; sie ist etwas anderes als das Urteil. Dass die Affektion durch einen Gegenstand eine Bedingung des Urteils ist, beinhaltet nicht, dass die Gültigkeit eines Urteils in seiner Beziehung zu diesem Gegenstand besteht. Ein Urteil ist sein eigener Maßstab: Es ist gültig allein kraft dessen, was es urteilt. Darin liegt seine Objektivität. Dennoch, obwohl ein Wahrnehmungsurteil diese Bestimmung des Urteils aufweist – objektive Gültigkeit –, begrenzt seine Abhängigkeit von den Sinnen seine Objektivität.

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Die Objektivität des Urteilsakts

Die Geltung von Urteilen ist objektiv: Sie hängt allein davon ab, was geurteilt wird, und nicht von irgendeiner Bestimmung derjenigen, die urteilt. Da objek­ tive Geltung selbstbewusste Geltung ist, ist nicht nur die Geltung des Urteils objektiv; das Urteilen, der Akt, ist objektiv. Es ist im selben Sinn objektiv wie seine Geltung: Ein Urteil, der Akt, hängt allein von dem ab, was es urteilt, und von keiner Bestimmung des Subjekts, das so urteilt. Im Urteilen urteile ich, dass es richtig ist, dies zu urteilen; urteilen, dass es richtig ist, etwas zu urteilen, ist dasselbe, wie es zu urteilen. Folglich kann ich nicht im Urteilen, dass die Dinge so sind, etwas als etwas verstehen, das erklärt, warum ich so urteile, das nicht, nicht als solches, zeigt, dass mein Urteil gültig ist. Wenn ich das täte, würde ich, indem ich erkläre, warum ich urteile, dass die Dinge so sind, es für eine offene Frage halten, ob es richtig ist, so zu urteilen. Im Urteilen aber halte ich das nicht für eine offene Frage. Wenn die Vorstellung von etwas, das erklärt, warum ich so urteile, wie ich es tue, in meinem Urteilen enthalten sein soll, dann reicht es nicht, dass ich in einem zweiten Gedanken bemerke, dass ein Urteil, indem eben dies es erklärt, gültig ist. Vielmehr muss die Erkenntnis von etwas als Ursache meines Urteils der gleiche Akt sein wie die Erkenntnis meines Urteils als gültig kraft eben dieser Ursache. Deshalb habe ich gesagt, dass das, was mein Urteil erklärt, als solches seine Gültigkeit ausweisen muss. Dass ich etwas als etwas begreife, das zeigt, dass es gültig ist, so zu urteilen, wie ich es tue, und dass ich es als das verstehe, was erklärt, warum ich so urteile, ist ein und dasselbe. Wir können etwas, das ein Urteilen so erklärt, einen Grund nennen. Man mag sagen, dass, obwohl man nicht im Urteilen etwas als das verstehen kann, das erklärt, warum man urteilt, wie man es tut, wenn es nicht zeigt, dass es richtig ist, so zu urteilen, es doch möglich ist, so ein Urteilen zu erklären, das von dieser seiner Erklärung verschieden ist. Dies ist wahr. Jedoch weist die, die urteilt, im Urteilen diese Erklärung zurück; ihr Urteil ist der Gedanke der Ungültigkeit dieser Erklärung. Folglich kann eine solche Erklärung nur für ungültige Urteile gültig sein, und ein Urteil so zu erklären heißt, es für ungültig zu halten. Was ein Urteil erklärt, zeigt als solches seine Gültigkeit. Aber die Gültigkeit eines Urteils hängt von keiner gegebenen Bestimmung des urteilenden Subjekts ab, sondern allein von dem, was es urteilt. Folglich rekurriert die Erklärung eines Urteils nicht auf irgendeine gegebene Bestimmung des urtei­ lenden Subjekts; sie rekurriert auf das, was es urteilt, allein – jedenfalls, wenn das Urteil gültig ist. Wenn wir ein Urteil erklären, wenden wir uns von allen gegebenen Bestimmungen des urteilenden Subjekts ab und erwägen allein,

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was es urteilt. So ist Urteilen, der Akt, objektiv: Er hängt von keiner gegebenen Bestimmung des Subjekts ab, sondern allein von dem, was es urteilt. Gültiges Urteilen jedenfalls. Wenn mich zum Beispiel jemand fragt, Warum denkst du, dass A?, und ich sage, weil B, dann soll er verstehen, warum ich urteile, was ich urteile, dadurch, dass er erwägt, was ich urteile, und nur das: A und B, und eines auf der Grundlage des anderen. Um meine Erklärung zu verstehen, muss er sich dem zuwenden, was ich urteile, und nicht einer gegebenen Bestimmung meiner, der urteilt. Wenn er annimmt, dass ich von einer gegebenen Bestimmung mei­ ner spreche, wenn ich sage, ich urteile A, weil B, dann fasst er meine Antwort nicht in dem Sinne auf, in dem ich sie gebe. Ich erkläre, warum ich urteile, dass A, durch etwas, das zeigt, dass es richtig ist, das zu urteilen. Diese Erklärung kann nicht auf eine gegebene Bestimmung rekurrieren, die mir, dem urteilen­ den Subjekt, anhängt. Denn die Geltung des Urteils hängt von keiner solchen Bestimmung ab. Ein Aspekt davon ist, dass ich, wenn ich die Frage Warum denkst du, dass A? mit Weil B beantworte, B als etwas begreife, das der Fall ist. Das heißt, ich urteile B. Daher versteht der, der mich fragt, meine Antwort nur so, wie ich sie meine, wenn er B als etwas begreift, das der Fall ist, nur dann also, wenn er urteilt, dass B. Darauf werden wir zurückkommen. Die Ursache von etwas macht es notwendig. Da die Gültigkeit eines Urteils selbstbewusst ist, ist etwas, wodurch ein gültiges Urteil notwendig ist, etwas, durch das es gültig ist. Die Geltung eines Urteils besteht allein darin, dass die Dinge so sind, wie in diesem Urteil geurteilt wird. Was erklärt, warum jemand urteilt, dass die Dinge so sind, schließt mithin aus, dass sie nicht so sind; kraft dessen, was erklärt, warum sie urteilt, dass die Dinge so sind, müssen sie so sein. Ein gültiges Urteil zu erklären, bedeutet zu erkennen, dass die Dinge so sein müssen, wie das Urteil urteilt. Wenn ich zum Beispiel erkläre, Ich urteile A, weil B, dann stelle ich B als etwas vor, kraft dessen A nicht verfehlen kann, der Fall zu sein. Diese Form der Erklärung eines Urteils kann man Schluss oder Rechtfertigung nennen. Ein Schluss begründet die Gültigkeit seiner Konklusion: gegeben die Prämissen (gegeben, dass B), können die Dinge nicht anders sein, als in der Konklusion (A) geurteilt wird. Wenn ich etwas aus etwas schließe, etwas auf der Grundlage von etwas urteile, erkenne ich eben darin, dass die Dinge so sein müssen, wie ich urteile. Ein Urteil, dass die Dinge so sind, ist gültig kraft dessen, dass sie so sind, und allein kraft dessen. Mithin zeigt eine Erklärung, warum jemand urteilt, dass die Dinge so sind, dass sie eben so sind; sie schließt aus, dass sie anders sind. Die Frage Warum denkst du, dass die Dinge so sind? ist die gleiche wie Was schließt aus, dass sie nicht so sind? – außer es ist entschieden, dass das Urteil

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ungültig ist. Ich erkläre, warum jemand urteilt, was sie urteilt, durch etwas, kraft dessen die Dinge so sein müssen, wie sie urteilt. Und wenn du etwas sagst und ich antworte, Ich verstehe, dann meine ich damit, Ich verstehe, warum es so sein muss, wie du sagst. Und wenn ich sage, Ich verstehe nicht, dann meine ich, Ich kann nicht folgen; Ich verstehe nicht, wie das, was du sagst, zeigt, dass es so ist, wie du sagst4. Ein gültiges Urteil weist selbst jede Erklärung seiner zurück, die offen lässt, ob es gültig ist. Die Erklärung eines gültigen Urteils zeigt seine Gültigkeit und rekurriert daher nur auf das, was es urteilt. Ein gültiges Urteil als solches be­ greift also das, was es urteilt, als hinreichend, um es, dieses Urteil, zu erklären. Es ist sich also seiner bewusst als notwendig allein kraft dessen, was es urteilt. Darin liegt die Objektivität des Urteilens. Ein Urteil begreift sich selbst so, dass es allein durch das, was es urteilt, erklärt wird. Das bedeutet, es begreift sich als notwendig kraft dessen, dass es urteilt, was es urteilt, kraft dessen also, dass es das Urteil ist, das es ist. Und ein Urteil, das notwendig ist, indem es das Urteil ist, das es ist, ist unbedingt notwendig. Also begreift sich ein Urteil als unbe­ dingt notwendig. Es tut dies, weil es der Gedanke seiner eigenen Gültigkeit ist, welche Gültigkeit folglich objektiv ist: Es hängt von nichts ab als dem, wovon das Urteil selbst das Urteil ist. Man mag einwenden, dass ich, wenn ich sage, Ich urteile A, weil B, nicht sage, dass die Dinge schlechthin so sein müssen, wie ich urteile. Ich sage, sie müs­ sen so sein, gegeben B. Das ist richtig, aber kein Einwand. Es bedeutet nicht, dass die Notwendigkeit, die ich behaupte, bedingt ist. Ich sage nicht: Die Dinge müssen so sein, wenn B. Damit würde ich ihrem Sosein Notwendigkeit unter einer Bedingung zuschreiben. Sondern ich sage, sie müssen so sein, weil B. Die Bedingung ist erfüllt, B ist der Fall; also ist die Notwendigkeit unbedingt. Jedoch werden wir finden, dass diese Artikulation des Gedankens der (unbedingten)

4  Dies wird als Transparenz des Urteilens beschrieben: Mein Bewusstsein, dass ich urteile, was ich urteile, ist ein Bewusstsein der Gültigkeit dieses Urteilens, welches seinerseits nichts anderes als dieses Urteilen ist. Somit bin ich mir meiner bewusst, des denkenden Subjekts, indem ich mir dessen bewusst bin, was ich urteile, des Gegenstands. Ich bin transparent; ich finde mich im Gegenstand. Diese Metapher ist unglücklich. Sie suggeriert, dass es etwas Inneres gibt, dessen ich mir dadurch bewusst bin, dass mir etwas Äußeres bewusst ist. Das innere Etwas ist transparent; ich bin mir seiner auf eine Weise bewusst, in der ich mir des Wassers bewusst bin, wenn ich etwas in und durch Wasser sehe. Das ist irreführend. Es ist die Natur des Urteilens, im Gegensatz zu sinnlichem Bewusstsein, selbst das Bewusstsein sei­ ner Gültigkeit zu sein. Jede Vorstellung eines Mediums, durch das wir urteilen, repräsentiert Urteilen als eine Form sinnlichen Bewusstseins, abhängig von gegebenen Bestimmungen des Subjekts, und löst so den Begriff der Objektivität des Urteilens auf.

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Notwendigkeit eines Urteils, Es muss so sein, weil B, seine Objektivität zu unterminieren droht.

Die Erklärung des empirischen Urteils und seines Gegenstands

Die Objektivität eines Urteils beinhaltet, dass die Notwendigkeit eines Urteilsakts nichts anderes ist als die Notwendigkeit dessen, was geurteilt wird: das, kraft dessen es notwendig ist zu urteilen, dass die Dinge so sind, ist etwas, kraft dessen sie so sein müssen. Nichts anderes kann ein Urteil notwendig ma­ chen, jedenfalls nicht, wenn das Urteil gültig ist. Es überrascht nicht, dass dies eine Konsequenz der Objektivität des Urteils ist. Wir haben gesehen, dass die Objektivität des Urteils unvereinbar ist mit der Unterscheidung des Urteilsakts von dem, was in ihm geurteilt wird. Da Urteilen objektiv ist, sind die Erklärung eines Urteils und die Erklärung dessen, was geurteilt wird, also die Frage Warum denkst du, dass die Dinge so sind? und die Frage Warum sind sie so?, intern miteinander verknüpft. Die Antworten auf diese Fragen können im empirischen Urteil auseinanderfal­ len, aber die Anwendbarkeit der einen Frage schließt die Anwendbarkeit der anderen ein. Erstens sind sie nicht notwendig verschieden: meine Erklärung, warum die Dinge so sind, erklärt als solche, warum ich urteile, dass sie so sind. Wenn B erklärt, warum A – wenn also gilt A, weil B –, dann ist es kein Zufall, dass A, gegeben B. Gegeben B, muss A der Fall sein. Indem ich verstehe, dass B ausschließt, dass die Dinge anders sind als A, erkenne ich B als etwas, das zeigt, dass es richtig ist, A zu urteilen. Und das drücke ich so aus, dass ich erkläre, Ich urteile A, weil B. Zweitens kann es zwar sein, dass der Grund, aus dem ich urteile, dass die Dinge so sind, nicht erklärt, warum sie so sind. Jedoch ver­ weist etwas, das ausschließt, dass die Dinge anders sind, als ich urteile, auf eine Ordnung, gemäß der etwas etwas anderes erklärt, eine Ordnung, in die ich das, was ich urteile, einfüge, indem ich mein Urteil rechtfertige. Die Erklärung eines (gültigen) Urteils verweist nicht auf gegebene Bestimmungen derjenigen, die urteilt; sie rekurriert allein auf das, was geurteilt wird. Ein Urteil ist mithin ein Gedanke seiner selbst, der seine Notwendigkeit allein in dem, was geurteilt wird, findet. Das gilt für empirische Urteile, weil sie Urteile sind. Ein empirisches Urteil schließt von dem, was es erklären kann, jede gegebene Bestimmung des Subjekts aus; und das heißt, es begreift sich selbst als so beschaffen, dass es mit dem, was es urteilt, alles bereitstellt, was nötig ist, um es zu erklären. Jedoch begreift ein empirisches Urteil, als em­ pirisch, seine Notwendigkeit nicht aus dem, was es urteilt. In einem empiri­ schen Urteil ist der Gedanke, dass die Dinge so sind, wie es urteilt, nicht selbst

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die Erkenntnis, dass sie so sein müssen. Das folgt aus seinem Charakter als empirisch: Es hängt von sinnlicher Affektion ab. Es gibt eine Bedingung des Urteilens, die nicht durch es selbst erfüllt ist. Folglich begreift das Urteil nicht durch das, was es urteilt, seine eigene unbedingte Notwendigkeit. Als Urteil ist das empirische Urteil der Gedanke seiner Notwendigkeit. Als empirisch begreift es seine Notwendigkeit nicht. Dies bedeutet, dass das em­ pirische Urteil, als empirisch, ein Verständnis davon hat, dass es ihm an etwas mangelt, das zu ihm als Urteil gehört. Ein empirisches Urteil ist sich bewusst, dass es eines Grundes bedarf, der seine Gültigkeit ausweist: eines Grundes, der nicht schon immer in dem Urteil erkannt ist, dessen Grund er ist. Ein empiri­ sches Urteil ist der Drang sich selbst zu erweitern, um ein Bewusstsein seines Grundes einzuschließen; das empirische Urteil A ist der Drang, sich selbst zu dem Urteil A, weil B zu erweitern. Dass empirische Urteile die Vorstellung eines Grundes enthalten, durch den ihre Notwendigkeit erkannt werden kann, kann man so ausdrücken, dass man sagt, dass ein empirisches Urteil, dass die Dinge so sind, die Frage aufwirft: Warum sind sie so? Wir sagen, es wirft die Frage auf, um anzuzeigen, dass sich die Frage im Urteil erhebt; die Frage ist da, indem das Urteil da ist; sie entspringt keiner anderen Quelle jenseits des Urteils. Da das, was in einem em­ pirischen Urteil geurteilt wird, diese Frage aufwirft, enthält das, was in solch einem Urteil geurteilt wird, die Vorstellung von etwas, das einen Grund, aus dem es geurteilt wird, bereitstellen würde. Denn was erklärt, warum die Dinge so sind, ist als solches ein hinreichender Grund für das Urteil, dass sie so sind. Die Frage Warum sind die Dinge so? erhebt sich innerhalb des Urteils, dass sie so sind. Denn wenn die Frage dem Urteil nicht intern ist, ist es die Antwort auf sie auch nicht. Und dann kann ich die Antwort auf die Frage Warum sind die Dinge so? nicht als etwas verstehen, was erklärt, warum ich urteile, dass sie so sind. Denn eine Erklärung meines Urteils, die sich nur auf das bezieht, was ich urteile, ist kein Akt, der sich von dem Urteil unterscheidet, das so er­ klärt wird. (Falls das Urteil gültig ist. Das setzen wir überall voraus.) Und wenn das, was erklärt, warum die Dinge so sind, wie ich urteile, nicht erklären kann, warum ich so urteile, hat mein Urteil eine Ursache, die gleichgültig ist dagegen, ob die Dinge so sind, wie ich urteile, dass sie sind. Mein Urteil aber weist selbst diese Vorstellung zurück. Innerhalb des empirischen Urteils tritt die Frage auf, warum die Dinge so sind, wie dieses Urteil urteilt. Eine Frage, die innerhalb des empirischen Urteils auftritt, muss innerhalb des empirischen Urteils beantwortet wer­ den. Doch sieht man leicht, dass die Frage nicht innerhalb des empirischen Urteils beantwortet werden kann. Denn das Bewusstsein eines Grundes, der zeigt, warum die Dinge so sind, wie geurteilt wird, ist selbst ein Urteil. Zudem

Empirische Erkenntnis als absolute Erkenntnis

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ist es ein empirisches Urteil. Und jedes empirische Urteil wirft die genannte Frage auf; jedes empirische Urteil bedarf eines Grundes, da das Bewusstsein seines Grundes nicht immer schon im Urteil selbst enthalten ist. Empirisches Urteilen kann sich nicht durch sich selbst begreifen. Ein empirisches Urteil ist der Gedanke seiner selbst als gültig. Dies bedeu­ tet, dass es das, was es urteilt, als hinreichend für eine Erklärung seiner selbst begreift. Als empirisch jedoch versteht es das, was es urteilt, als unfähig, seine eigene Notwendigkeit darzutun. Wir könnten sagen, seine Notwendigkeit, und das heißt, seine Gültigkeit, ist nicht in dem empirischen Urteil gegeben, son­ dern ist ihm aufgegeben. Es wäre ein verhängnisvolles Missverständnis zu glau­ ben, dass wir dadurch, dass wir dies sagen, die innere Widersprüchlichkeit des empirischen Urteils auflösen. Im Gegenteil. Wir legen den Widerspruch dar. Ein empirisches Urteil, als Urteil, ist sich seiner Gültigkeit bewusst. Doch die Gültigkeit ist aufgegeben. Das empirische Urteil erreicht niemals sich selbst5.

Empirisches Urteilen als Widerspruch

Ein Urteil ist der Gedanke seiner Gültigkeit und das heißt, seiner Notwendigkeit. Seine Notwendigkeit wird in einer Erklärung verstanden, die zeigt, dass die Dinge so sein müssen, wie (dass sie nicht anders sein können, als) in die­ sem Urteil geurteilt wird, dass sie sind. Die Notwendigkeit eines Urteils ist daher nichts anderes als die Notwendigkeit dessen, was es urteilt. Aber der Gegenstand eines empirischen Urteils ist als solcher nicht notwendig. Der Gegenstand eines empirischen Urteils ist ihm als einem Urteil unangemessen6. Man könnte meinen, dies sei absurd. Wir müssen die Notwendigkeit eines Urteils von der Notwendigkeit dessen, was geurteilt wird, unterscheiden; wir müssen die Erklärung des Urteilens von der Erklärung dessen, was geurteilt wird, unterscheiden. Und das können wir auf folgende Weise tun: Meine Suche nach etwas, auf das ich mein Urteil, dass die Dinge so sind, stützen kann, endet in meiner Wahrnehmung, dass sie so sind. Indem ich wahrnehme, dass die Dinge so sind, erkenne ich, dass sie nicht anders sein können. Sie müssen so sein, wie ich wahrnehme; also erkenne ich kraft meiner Wahrnehmung, dass 5  Der Sinn von Kants Dialektik ist nicht, den Widerspruch des empirischen Urteils aufzulösen. Sie soll ihn aufweisen und die Erkenntnis innerhalb dieses Widerspruchs fixieren. Dass der spezifische Unterschied, empirisch, dem Genus, Urteilen, widerspricht, ist der grundlegende Gedanke der Kritik der reinen Vernunft. 6  Eine traditionelle Weise dies auszudrücken, ist zu sagen, dass der Gegenstand empirischer Urteile eine Erscheinung ist.

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sie so sind. Wenn ich aber wahrnehme, dass die Dinge so sind, erkenne ich darin nicht, warum sie so sind. Wenn ich will, kann ich nach etwas suchen, das zeigt, warum die Dinge so sind, wie ich sie wahrnehme. Aber das ist nicht notwendig um einzusehen, dass die Dinge so sind, wie ich urteile. Damit bin ich fertig, wenn ich sehe, höre oder fühle, dass sie so sind. Wenn wir diese Unterscheidung machen, isolieren wir das Erkennen, dass die Dinge so sind, von dem Verstehen, warum sie es sind7. Wir behaupten, dass, obwohl es letztlich unmöglich sein mag zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie ein empirisches Urteil sagt, das keine Unvollkommenheit der Erkenntnis, dass sie so sind, bedeutet. Ein Regress in der Erklärung des Urteilens, der uns hindert einzusehen, dass die Dinge so sind, wie wir urtei­ len, würde die innere Verstehbarkeit des Urteils auflösen. Dieser Regress aber endet in der Wahrnehmung. Ein Regress in der Erklärung dessen, was geur­ teilt wird, der uns hindert, letztlich zu verstehen, warum die Dinge so sind, hat dagegen nicht dieses Resultat; er lässt die Verstehbarkeit des Urteils, das nur behauptet, dass die Dinge so sind, unberührt. Wenn es wahr wäre, dass das Dass und das Warum auf diese Weise vonein­ ander getrennt sind, dann wäre es undenkbar, dass wir jemals die Frage Warum stellen8. Ich wäre zufrieden, wenn ich die Notwendigkeit, so zu urteilen, wie ich es tue, aufgewiesen habe. Damit berühre ich die Frage, warum die Dinge so sind, wie ich urteile, nicht. Daraus folgt, dass die Frage, warum sie so sind, nicht innerhalb des Urteilens auftauchen kann: Ich stehe im Urteilen nicht vor dieser Frage. Aber wenn die Frage ihren Ursprung nicht im Urteilen hat, dann kann sie sich nicht auf den Gegenstand des Urteils beziehen: wie Dinge sind. Wenn wir behaupten, dass die Wahrnehmung die Forderung nach einem Grund erfüllt, durch die empirisches Urteilen bestimmt ist, leugnen wir, dass das Urteil die Tendenz dazu ist, sich zu einer Erklärung dessen, was es urteilt, zu erweitern. Wir verwandeln empirisches Urteilen in das, was Hegel „tieri­ sches Anstieren“9 nennt. Es ist richtig, dass die Frage, ob die Dinge so sind, durch meine Wahrnehmung, dass sie es sind, beantwortet wird. Aber es ist falsch zu denken, dass dies bedeutet, dass die Wahrnehmung die Forderung nach einem Grund erfüllt und 7   Es ist bemerkenswert, dass es heutzutage als Kuriosität angesehen wird, dass diese Unterscheidung in der Antike nicht gemacht wurde. 8  Vgl. Hegel: „Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie“, in: Werke 2, 221: „Wenn aber jede Tatsache des Bewußtseins unmittelbare Gewißheit hat, so ist eine Einsicht, daß etwas nur bedingterweise existiere, unmöglich; denn bedingterweise existieren und für sich nichts Gewisses sein, ist gleichbedeutend.“ 9  Hegel: loc. cit.

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den Regress der Rechtfertigung beendet. Meine Wahrnehmung, dass die Dinge so sind, rechtfertigt mein Urteil, dass sie es sind, denn gegeben, dass ich p wahrnehme, können die Dinge nicht anders sein als p. Offensichtlich bedeutet dies nicht, dass ich mein Urteil p darauf, dass ich p wahrnehme, gründe. Nicht die Tatsache, dass ich p wahrnehme, ist der Grund meines Urteils p, sondern meine Wahrnehmung, dass p. Wenn jedoch mein Wahrnehmen mein Urteil be­ gründet, im Gegensatz zu der Tatsache, dass ich wahrnehme, dann nur, weil es selbst der Gedanke seiner eigenen Geltung ist. Wir können uns das klarma­ chen, indem wir sagen, dass, wenn meine Wahrnehmung p mein Urteil recht­ fertigt, nicht die Wahrnehmung als Tatsache, die mich betrifft, mein Urteil rechtfertigt, sondern die Tatsache, die ich wahrnehme, und die mir darin, dass ich sie wahrnehme, als Tatsache offenbar ist. Das nämlich ist Urteilen: das Auffassen einer Tatsache als Tatsache. Also beantwortet die Wahrnehmung, dass die Dinge so sind, die Frage, ob die Dinge so sind, nur deswegen, weil sie das Urteil ist, dass sie es sind. Wenn Wahrnehmung als etwas anderes dargestellt wird als das Urteil, das sie rechtfertigt, also eine Frage beantwortet, die das Urteil nicht durch sich selbst beantwortet, dann drückt sich darin die Einsicht aus, dass empiri­ sches Urteilen nicht mit sich selbst zufrieden ist. Es ist das Bewusstsein eines Mangels: Das empirische Urteil bedarf eines Grundes, der nicht durch es selbst gegeben ist, eines Grundes, der nicht in dem erkannt wird, was das fragliche Urteil erkennt. Denn als Urteil versteht es sich selbst als gültig; es schließt aus, dass die Dinge anders sind, als es urteilt. Als empirisch legt das, was es urteilt, nicht fest, dass die Dinge nicht anders sein können. So weist das Urteil über sich selbst hinaus auf etwas, das ausschließt, was es ausschließt, was es jedoch nicht durch das, was es urteilt, ausschließt. Es verweist dadurch nicht auf Wahrnehmung. Im Gegenteil, Wahrnehmen ist Urteilen und daher ist manches Urteilen Wahrnehmen, und es ist diese Bestimmung von Urteilen, aufgrund derer es einen Grund verlangt. Da diese Forderung dem Urteil intern ist, wird sie nur durch eine Erklärung erfüllt, die in dem, was geurteilt wird, die Notwendigkeit findet, dies zu urteilen – in dem, was geurteilt wird, und nicht in irgendeiner gegebenen Bestimmung des Subjekts, das urteilt. Da es eine Forderung ist, wird diese nur durch eine Erklärung erfüllt, die das, was geurteilt wird, erweitert: Ich urteile nicht nur A, sondern A auf der Basis von B. Die Frage, ob die Dinge so liegen, kann nicht von der Frage isoliert wer­ den, warum sie so liegen. Doch es scheint, dass es möglich sein muss, die Notwendigkeit eines Urteils, seine Gültigkeit, zu verstehen, ohne gleichzeitig die Notwendigkeit dessen zu verstehen, was geurteilt wird. Also versuchen wir zu denken, dass das Urteil von Tatsachen handelt, die so sind, wie sie sind. Ihnen haftet als Gegenstand des Urteilens keine Vorstellung von Notwendigkeit

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an. Ein Urteil ist notwendig oder gültig durch seine Verankerung in solchen Tatsachen. Solche Tatsachen mögen notwendig sein, aber das wäre ein zusätz­ liches Merkmal ihrer; die Vorstellung ihrer Notwendigkeit wäre der Erkenntnis der Tatsache als solcher extern. Und sie wäre dem Gedanken des Urteils von seiner eigenen Notwendigkeit, der diesem Urteil intern ist, äußerlich. Der Wunsch, das empirische Urteil in Tatsachen zu verankern (wie der Wunsch, es mit Tatsachen zu vergleichen, der oben erörtert wurde), spiegelt den formalen Charakter dessen wider, was in einem empirischen Urteil geur­ teilt wird. Obwohl ein empirisches Urteil die Erkenntnis seiner Gültigkeit und daher seiner Notwendigkeit ist, stellt das, was geurteilt wird, keine Einsicht in diese Notwendigkeit bereit: der Gegenstand des empirischen Urteils ist kon­ tingent. Darin liegt der innere Widerspruch des empirischen Urteils. Denn ein empirisches Urteil ist nicht nur empirisch; es ist außerdem ein Urteil. Aufgrund der Objektivität, die ein empirisches Urteil als Urteil definiert, ist seine Notwendigkeit nichts anderes als die Notwendigkeit dessen, was es ur­ teilt. Die Vorstellung, dass empirisches Urteilen den Begriff der Notwendigkeit nicht auf das, was es urteilt, anwendet, leugnet seine Objektivität. Wir versuchen zu denken, dass ein empirisches Urteil nicht schlechthin notwendig ist; es ist notwendig, gegeben dass die Dinge so liegen, wie sie liegen. Dies aber lässt sich nicht von Urteilen denken. Im Gegensatz zu „Urteilen“. Ein „Urteil“ ist nicht selbst die Erkenntnis seiner Gültigkeit; seine Gültigkeit hat Bedingungen und die Erkenntnis dieser Bedingungen ist ein vom „Urteil“ ver­ schiedener Akt. Ein Urteil hingegen ist die Erkenntnis seiner selbst als gültig, und daher gibt es keine Bedingungen seiner Gültigkeit, die nicht in ihm selbst erkannt sind. Mein Urteil, dass die Bedingung erfüllt ist, unter der es richtig ist zu urteilen, dass die Dinge so liegen – nämlich, dass die Dinge so liegen –, ist nichts anderes als dieses Urteil. Also ist das Urteil, dass ein Urteil notwendig ist, weil die Dinge so liegen, wie sie liegen, eben dieses Urteil; und also ist es das Urteil, dass dieses Urteil schlechthin notwendig ist. Dass ein geistiger Akt aufgrund einer Bedingung notwendig ist, ist nur verständlich, wenn die Erkenntnis, dass diese Bedingung vorliegt, verschie­ den ist von dem Akt, dessen Bedingung sie sein soll. Es ist nur verständlich, wenn der Akt ein „Urteil“ und kein Urteil ist. Die Erkenntnis, dass die Dinge so und so liegen, ist keine verschiedene Erkenntnis von der, der gemäß eben diese Erkenntnis in der Tatsache verankert ist, dass sie so liegen. Da es dieselbe Erkenntnis ist, ist das Urteil, dass die Dinge so liegen, selbst die Erkenntnis, dass es eben dadurch erklärt wird, dass die Dinge so liegen, und dadurch allein. Empirisches Urteilen aber kann allein durch das, was es urteilt, seine eigene Notwendigkeit nicht begreifen. Um also das zu sein, was es ist, erweitert es

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sich, um etwas einzuschließen, das zeigt, warum die Dinge so liegen müssen, wie es urteilt, dass sie liegen. Letztlich ist die Notwendigkeit eines Urteils nichts anderes als die Notwendigkeit dessen, was geurteilt wird, die Erklärung eines Urteils nichts anderes als die Erklärung dessen, was geurteilt wird. So ist es, weil Urteilen objektiv ist. Da Urteilen objektiv ist, ist der Gegenstand des Urteils das, was un­ bedingt notwendig ist. Also ist empirisches Urteilen, insofern es empirisch ist, als Urteilen defizitär. Das empirische Urteil, als empirisch, widerspricht dem, was es ist: Urteil. Das empirische Urteil ist ein Widerspruch.

Absolute Erkenntnis

Da empirische Erkenntnis ein Widerspruch ist, können wir Erkenntnis so­ lange nicht begreifen, als wir nur empirische Erkenntnis betrachten und sie als Archetyp des Erkennens auffassen. Empirische Erkenntnis ist nur durch ihre Beziehung zu Erkenntnis, die nicht empirisch ist und keinen anderen Gegenstand hat als sich selbst, als Erkenntnis begreiflich. Ferner wird diese Beziehung innerhalb der empirischen Erkenntnis verstanden, was bedeutet, dass empirische Erkenntnis immer schon absolute Erkenntnis ist und sich immer schon als solche begreift.

Selbstbewusstsein und die Idee der Bildung als „immanentes Moment des Absoluten“ Über einige Unterschiede zwischen Kant, Hegel und McDowell Andrea Kern 1 In Mind and World charakterisiert John McDowell Kants Konzeption des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand in einer Weise, die mit Hegels Lesart von Kant, wie dieser sie insbesondere in seinem frühen Text „Glauben und Wissen“ entwickelt, in den folgenden zwei Punkten übereinstimmt: Er teilt mit Hegel erstens die Behauptung, dass Kant eine richtige Einsicht in das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand hat, der zufolge beide Vermögen wechselseitig voneinander abhängig sind; und zweitens die Behauptung, dass Kant seine eigene Einsicht in das Verhältnis zwischen beiden Vermögen nicht wirklich begreifen kann. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass McDowell sich zugleich in einer entscheidenden Hinsicht von Hegels Kant-Verständnis absetzt, was Folgen für seine Auffassung davon hat, welche Rolle die Bildung für unser Verständnis der Einheit von Sinnlichkeit und Verstand spielt. McDowell glaubt, dass man die Idee einer „wirklichen Verbindung“ zwischen Verstand und Sinnlichkeit nur begreifen kann, wenn man über einen belastbaren Begriff der zweiten Natur verfügt1. Ein solcher Begriff der zweiten Natur, so McDowells Diagnose des Scheiterns Kants, steht Kant nicht zur Verfügung. Hegel teilt diese Diagnose nicht. Dies liegt daran, dass er ein anderes Verständnis von dem Problem hat, mit dem die kantische Erläuterung dieser Einheit konfrontiert ist. Die Lösung dieses Problems, so werde ich zeigen, führt Hegel auf einen Begriff der Bildung als „immanentes Moment des Absoluten“. (Werke 7, § 187) Als „immanentes Moment des Absoluten“ kann ihre Rolle nicht darin bestehen, begreiflich zu machen, wie Verstand und Sinnlichkeit eine „wirkliche Verbindung“ haben können. Die Aufgabe, die die Idee der Bildung bei Hegel hat, kann man vielmehr

1  Vgl. McDowell, 1994 (V.1.), 98: „Since he [Kant, A.K.] does not contemplate a naturalism of second nature, and since bald naturalism has no appeal for him, he cannot find a place in nature for this required real connection between concepts and intuitions.“

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_038

Selbstbewusstsein und die Idee der Bildung

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nur beschreiben, wenn man sich zu einem „Standpunkt“ berechtigt hat, auf dem die Frage nach der Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Verstand gar nicht aufkommen kann, ohne je schon beantwortet zu sein. Ich werde im Folgenden in drei Schritten vorgehen: In einem ersten Schritt werde ich eine Lesart von Kant skizzieren, nach der es Kant darum geht, die Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Verstand in einer Weise zu begreifen, die die Frage unterminiert, von der McDowell meint, dass wir zu ihrer Beantwortung einen belastbaren Begriff der zweiten Natur benötigen. In einem zweiten Schritt werde ich zeigen, weshalb die kantische Erläuterung dieser Einheit in Hegels Augen unzureichend ist und welche Konsequenz Hegel daraus zieht. In einem dritten Schritt werde ich zeigen, was es heißt, Bildung als ein „immanentes Moment des Absoluten“ zu begreifen. 2 Hegel und McDowell eint der Gedanke, dass es Kant in der Transzendentalen Deduktion darum geht, sich zu der Behauptung zu berechtigen, dass ein Subjekt, das im Besitz von Vorstellungen ist, die sich auf einen Gegenstand beziehen, im Besitz zweier Vermögen sein muss, zwischen denen ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis besteht. Ihm muss ein Vermögen der Sinnlichkeit zukommen, durch das es Vorstellungen von Gegenständen empfangen kann, indem es von den Gegenständen affiziert wird; und ihm muss ein Verstandesvermögen zukommen, durch das es begriffliche Vorstellungen von Gegenständen bilden kann, die es in Urteilen miteinander verbindet. Die zentrale Einsicht Kants besteht Hegel wie McDowell zufolge darin, dass der Beitrag, den diese beiden Vermögen zur Hervorbringung von gegenstandsbezogenen Vorstellungen leisten, nur begreiflich ist, wenn wir beide als Vermögen verstehen, die wechselseitig voneinander abhängig sind. Hegel charakterisiert diese wechselseitige Abhängigkeit als eine, der zufolge die Kantischen Formen der Anschauung und die Formen des Denkens gar nicht als besondere isolierte Vermögen auseinanderliegen, wie man es sich gewöhnlich vorstellt. Eine und ebendieselbe synthetische Einheit (…) ist das Prinzip des Anschauens und des Verstandes; der Verstand ist allein die höhere Potenz, in welcher die Identität, die im Anschauen ganz und gar in die Mannigfaltigkeit versenkt ist, zugleich als ihr entgegengesetzt sich in sich als Allgemeinheit, wodurch sie die höhere Potenz ist, konstituiert. Werke 2, 305

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Hegel versteht die These einer wechselseitigen Abhängigkeit beider Vermögen demnach wie folgt: Sie besagt, dass die Akte beider Vermögen durch dasselbe Prinzip bestimmt sind, nämlich das Prinzip einer „synthetischen Einheit“ von Vorstellungen. Nach Hegels Deutung der Abhängigkeitsthese müssen wir sinnliches Anschauen und Urteilen als Vermögen begreifen, die zwar in einem bestimmten Sinn voneinander unterschieden sind, doch nicht wie zwei Vermögen, denen zwei verschiedene Prinzipien zugrunde liegen, durch die ihre Akte bestimmt sind, sondern wie zwei Stufen der Verwirklichung einunddesselben Prinzips. Hegel nennt den Verstand die „höhere Potenz“ der Sinnlichkeit. Betrachten wir beide Vermögen mit Blick auf das ihnen zugrunde liegende Prinzip, können wir sie nicht voneinander unterscheiden. Was die Vermögen voneinander unterscheidet, kommt allein in den Blick, wenn wir die Art und Weise betrachten, in der beide Vermögen dieses Prinzip jeweils verwirklichen. Während die Sinnlichkeit das Prinzip der „synthetischen Einheit“ in einer Weise verwirklicht, die gebunden ist an einen gegebenen Gegenstand, in den sie sich „versenkt“, (Werke 2, 305) ist der Verstand dadurch von ihr unterschieden, dass er dieses Prinzip unabhängig von einem gegebenen Gegenstand verwirklichen kann − auf eine Weise, die nicht von etwas anderem als seiner eigenen Tätigkeit abhängig ist. In diesem Sinne verleiht der Verstand, wenn er ein Urteil fällt, dem Prinzip der synthetischen Einheit einen höheren Grad der Wirklichkeit. Das erklärt, weshalb Kant den Verstand mit dem Vermögen, Vorstellungen gemäß diesem Prinzip zu verbinden, identifiziert2. McDowell folgt dieser hegelschen Lesart Kants auf dem Fuß, wenn er schreibt, dass der kantische Gedanke, demzufolge empirisches Wissen aus der Zusammenarbeit von Sinnlichkeit und Verstand resultiert, nur verständlich ist, „if we can achieve a firm grip on this thought: receptivity does not make an even notionally separable contribution to the co-operation. (…) We should understand what Kant calls ‘intuition’ – experiental intake – not as a bare getting of an extra-conceptual Given, but as a kind of occurrence or state that already has conceptual content.“3 Oder: „The function that gives unity to the various representations in an ostensible seeing is the same as the function that gives unity to the mere synthesis of various representations in an intuition.“4 McDowell ist nun der Meinung, dass Kant nicht in der Lage ist, die zentrale Idee, auf die die Transzendentale Deduktion zusteuert, nämlich dass sinnliche Akte als solche, d.h. qua Manifestationen der Sinnlichkeit, genau dasselbe Prinzip verwirklichen, das den Verstand definiert, mit seinen eigenen Mitteln 2  Vgl. u.a. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 134/135; B 153. Im Folgenden als KrV abgekürzt. 3  McDowell 1994 (I.4.), 9. 4  McDowell 2009a, 31.

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zu begreifen. McDowells Diagnose des Scheiterns Kants besteht aus zwei Schritten: In einem ersten Schritt schreibt er Kant die Einsicht zu, dass die Idee einer synthetischen Einheit einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen, die den Anspruch erheben, sich auf Gegenstände zu beziehen, verlangt, dass wir nicht nur eine „begriffliche Verbindung“ zwischen Anschauungen und Begriffen annehmen, sondern eine „wirkliche Verbindung.“5 Ein Beispiel für die Position, der zufolge zwar eine „begriffliche“, jedoch keine „wirkliche“ Verbindung besteht, ist die Auffassung von Gareth Evans. Evans behauptet, dass bestimmte sinnliche Akte vom Verstand abhängig sind, nämlich diejenigen, deren Rolle darin besteht, Erfahrungen bereitzustellen, die für den Inhalt der Urteile bedeutsam sind. Doch er bestreitet, dass sinnliche Akte als solche vom Verstand abhängig sind6. Evans will sagen, dass ein sinnlicher Akt nur dann als „Erfahrung“ zählen kann, die für den Inhalt des Urteils bedeutsam ist, wenn man sich diesen sinnlichen Akt selbstbewusst machen kann. Der Inhalt dieses Aktes jedoch soll von einer Art sein, die nicht voraussetzt, dass hierfür ein Urteilsvermögen erforderlich ist7. Nach McDowell hat Kant klar gesehen, dass eine bloß begriffliche Verbin­ dung zwischen Sinnlichkeit und Verstand nicht ausreicht, um die Idee einer synthetischen Einheit von Vorstellungen zu verstehen, die den Anspruch erheben, auf einen Gegenstand bezogen zu sein. Wir müssen das Urteilsvermögen vielmehr als ein Vermögen begreifen, dessen Prinzip der synthetischen Einheit von Vorstellungen in die Bestimmung des Inhalts der sinnlichen Akte selbst eingeht. In einem zweiten Schritt behauptet McDowell, dass Kant die Idee einer „wirklichen Verbindung“ zwischen Verstand und Sinnlichkeit letztlich nicht verständlich machen kann, weil er nicht über einen belastbaren Begriff der zweiten Natur verfügt, der es ihm erlauben würde, diese Verbindung als Teil der Natur einer bestimmten Art von Wesen zu begreifen. Da Kant die Natur mit demjenigen Reich identifiziert, dessen Gesetze Gegenstand empirischen Wissens sind, ist ihm dieser Weg verschlossen. Um seiner Einsicht Geltung verschaffen zu können, muss er einen Ausweg suchen. Diesen Ausweg glaubt Kant, so McDowell, in der Idee eines Übersinnlichen zu finden, das die Sinnlichkeit vermittels des Verstandes in transzendentaler Weise affiziert. Diese Idee, so 5  Vgl. McDowell 1994 (V.4.), 98. 6  Evans 1982, 227 ff. 7  Einige Kantinterpreten schreiben Kant ein Verständnis dieser Art zu. Ich habe diese Kant-Lesart diskutiert und kritisiert in „Spontaneity and Receptivity in Kant’s Theory of Knowledge.“

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McDowell, müsste Kant jedoch nach seinen eigenen Maßstäben unverständlich finden. McDowell beschreibt Kants Scheitern entsprechend wie folgt: Kant is peculiarly brilliant here. Even though he has no intelligible way to deal with it, he manages to hold on to the insight that a merely notional connection of concepts with intuitions will not do. That forces him into a way out that is unintelligible by his own lights. The real connection has to be that spontaneity is involved in the transcendental affection of receptivity by the supersensible. And now the good thought that our sensibility opens us to a reality that is not external to the conceptual can show up only in a distorted form, as if the ordinary empirical world were constituted by appearances of a reality beyond. McDowell 1994, V.4., 98

Weil Kant keinen belastbaren Begriff der zweiten Natur hat, so McDowell, muss er die wirkliche Verbindung zwischen Verstand und Sinnlichkeit in einer Weise denken, die genau dasjenige Verständnis von Sinnlichkeit, welches mit der Einsicht in ihre wirkliche Verbindung mit dem Verstand einhergeht, ruiniert: Statt verstehen zu können, wie die Sinnlichkeit ein Vermögen der empirischen Erkenntnis sein kann, wird die empirische Welt zu einer Welt der bloßen Erscheinungen depotenziert, hinter der sich eine unzugängliche „wahre Wirklichkeit“ befindet. 3 Hegel teilt diese Diagnose nicht. Gleichwohl teilt er jedoch den Gedanken McDowells, dass Kant die Einheit von Verstand und Sinnlichkeit in einer Weise denkt, durch die er sein eigenes Unternehmen zunichte macht, das (unter anderem) darin besteht, zu verstehen, wie Vorstellungen möglich sind, die auf Gegenstände bezogen sind, die unabhängig von Vorstellungen derselben so sind, wie sie sind. Hegels eigene Diagnose des kantischen Scheiterns lautet anders. Nach Hegel gründet Kants Scheitern in dessen Annahme, dass das Urteilsvermögen eines Subjekts nur dann eine Einheit sein kann, die aus apriorischen Elementen besteht, wenn es eine „reine Einheit“ ist, die in dem Sinne rein ist, dass sie eine „nicht ursprünglich synthetische[] Einheit“ ist. (Werke 2, 309.)8

8  Vgl. auch 329.

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Kant nimmt an, so Hegels Diagnose, dass das Urteilsvermögen eines Subjekts nur dann aus apriorischen Elementen bestehen kann, wenn diese eine Einheit bilden, die als solche keine Elemente der Sinnlichkeit enthält. Dieses Verständnis des Urteilsvermögens eines Subjekts hat zur Folge, so Hegel, dass Kant den Verstand als ein bloß subjektives Vermögen des Menschen verstehen muss, für den das Mannigfaltige der Sinnlichkeit, das empirische Bewußtsein als Anschauung und Empfindung an sich etwas Unverbundenes, die Welt ein sich Zerfallendes ist, das erst durch die Wohltat des Selbstbewußtseins der verständigen Menschen einen objektiven Zusammenhang und Halt, Substantialität, Vielheit und sogar Wirklichkeit und Möglichkeit erhält, – eine objektive Bestimmtheit, welche der Mensch hinsieht und hinauswirft. Werke 2, 309.

Nach Hegel ist diese Subjektivierung des Urteilsvermögens die unvermeidliche Kehrseite von Kants Annahme, dass die Idee eines Urteilsvermögens, das aus apriorischen Elementen besteht, verlangt, dass man ausschließt, dass dieses Vermögen, qua Vermögen, sinnliche Elemente enthält. Darum kann Kant nicht umhin, das Urteilsvermögen zu einer bloß subjektiven Eigenschaft des Menschen zu depotenzieren, der die empirische Welt als etwas Äußerliches gegenübersteht. 4 Ich werde im Folgenden zwischen zwei Lesarten der These unterscheiden, der zufolge Kant die wirkliche Verbindung zwischen sinnlichem Anschauen und Urteilen mit seinen Mitteln nicht begreifen kann. Nach der ersten Lesart besagt sie, dass Kant nicht in der Lage ist zu begreifen, wie das Urteilsvermögen eine Einheit sein kann, die von einem Vermögen der Sinnlichkeit abhängt. Das ist die Lesart McDowells. McDowell meint daher, dass es genügt, eine Position zu erreichen, die die Einheit beider Vermögen in diesem Sinne begreift. Nach der zweiten Lesart besagt die These, dass Kant nicht in der Lage ist, zu begreifen, wie das Urteilsvermögen eine Einheit sein kann, die von einem Akt der Sinnlichkeit abhängt. Das ist die Lesart Hegels. Da McDowell beide Lesarten nicht voneinander unterscheidet, muss er die Pointe von Hegels Kritik an Kant missverstehen. Ich werde daher zunächst die kantische Position in der Weise rekonstruieren, wie sie Grundlage für Hegels Kritik ist. Dann werde ich die

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Konsequenz aufzeigen, die sich aus dieser Kritik für Hegels Konzeption des Selbstbewusstseins und die Rolle der Bildung ergibt. Kant eröffnet die Transzendentale Logik mit der Behauptung, er werde nun eine Aufgabe unternehmen, die bislang kaum unternommen wurde: nämlich eine „Zergliederung“ nicht der Begriffe des Verstandes, sondern „des Verstandesvermögens selbst“. (KrV, B 90) Im Lichte dieser Charakterisierung seines Unternehmens können wir das Resultat der Transzendentalen Deduktion der Begriffe des Verstandes wie folgt beschreiben: Die Idee des Verstandes ist die Idee eines Vermögens zu urteilen, in dessen Besitz ein sinnliches Wesen nicht sein kann, ohne über bestimmte apriorische Begriffe zu verfügen, die sogenannten Kategorien. Wie wir oben gesehen haben, wirft Hegel Kant vor, er habe eine falsche Konzeption der Idee des „Apriorischen“. In der Tat hängt viel von unserem Verständnis seiner Kritik an der kantischen Position davon ab, welche Idee des Apriorischen er Kant zuschreibt. Nach Hegel besteht die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion unter anderem darin, die relevante Idee apriorischer Begriffe, die der Gegenstand der Deduktion sind, näher zu bestimmen. Hegel zufolge hat Kant erst mit dem Abschluss der Deduktion seine Konzeption des Apriorischen erreicht, d.h. dann, wenn wir verstanden haben, wie solche apriorischen Begriffe möglich sind. Denn die „Möglichkeit“ solcher Begriffe ist es, die wir vor der Deduktion noch nicht verstehen9. Die Vorstellung, die wir vor der Deduktion von sogenannten apriorischen Begriffen haben und mit der wir in die Deduktion einsteigen, ist die, dass es sich hierbei um Begriffe handelt, deren Gebrauch allgemein und notwendig ist, weil sie Begriffe sind, die eine besondere Rolle spielen: Ihre Rolle besteht darin, „Regeln des Denkens“ zu sein, denen der Verstand folgen muss, um eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen in der Weise miteinander verbinden zu können, durch die er die Einheit eines Urteils sowie die Einheit einer Anschauung hervorbringt, deren Gegenstand er denken kann. (KrV, B 76) Aus der Rolle dieser Begriffe folgt, dass sie nicht durch Erfahrungen von Gegenständen erworben werden können. Denn sie sind als Begriffe verstanden, die konstitutiv dafür sind, dass man Erfahrungen haben kann, deren Gegenstand man denken kann. Mit diesem vorläufigen Verständnis apriorischer Begriffe steigen wir in die Transzendentale Deduktion ein, deren Aufgabe es nun ist, eine Sorge zu beseitigen: nämlich die Sorge, dass diese „subjektiven Bedingungen des Denkens“ bloß subjektiv sein könnten, d.h. keine Gültigkeit für die Gegenstände haben, wie sie uns in der Erfahrung gegeben sind. (KrV, B 122) Um diese Sorge 9  Ibidem. Vgl. dazu, dass der Aufweis der Möglichkeit apriorischer Begriffe das zentrale Thema der Transzendentalen Deduktion ist, Engstrom 2006.

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beiseite zu räumen, zeigt Kant, dass die Begriffe, durch die Gegenstände gedacht werden, nicht bloß subjektive Bedingungen des Denkens sind, sondern „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt“ und also „a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung [gelten]“. (KrV, B 162) Im Lichte dieses Ergebnisses kann Kant sodann schließen, dass ein Subjekt, das im Besitz eines Urteilsvermögens ist, eo ipso im Besitz apriorischen Wissens von den Gegenständen der Erfahrung ist. Denn im Besitz eines Urteilsvermögens zu sein, heißt sodann, im Besitz von Begriffen zu sein, deren Verwendung im Urteilen das Bewusstsein einschließt, dass durch diese Begriffe die Gegenstände der Erfahrung als solche möglich sind. Es heißt, im Besitz von Begriffen zu sein, zu deren Verwendung im Urteilen das Bewusstsein gehört, dass die Gegenstände der Erfahrung in notwendiger Übereinstimmung mit diesen Begriffen sind, und also den Status von Wissen von den Gegenständen der Erfahrung haben, dessen man sich in genau diesem Sinne als apriorischen Wissens bewusst ist: nämlich als eines Wissens, das in jedem Wissen von Gegenständen der Erfahrung als dasjenige enthalten ist, das dieses Wissen ermöglicht. Die Idee eines Urteilsvermögens ist folglich die Idee eines Vermögens, in dessen Besitz zu sein bedeutet, dass man ein Vermögen der Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung hat, dessen Besitzes man sich bewusst ist. Diese Lesart weicht in einer entscheidenden Hinsicht von einem weitverbreiteten Kant-Verständnis ab. Diesem Verständnis zufolge soll die Arbeit der Deduktion im Wesentlichen darin bestehen, eine apriorische Rechtfertigung für den Gebrauch von Begriffen zu liefern, deren apriorischen Status als subjektive Bedingungen des Denkens wir vor der Deduktion erkannt haben, um ihnen sodann durch diese Rechtfertigung den Status von apriorischem Wissen zu verleihen. Da Hegel der Meinung ist, dass Kant die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand in einem bestimmten Sinn begreift, kann er diese Lesart nicht teilen. Die Aufgabe der Deduktion besteht ihm zufolge nicht darin, eine apriorische Rechtfertigung für den Gebrauch von Begriffen zu liefern, deren apriorischen Status als subjektive Bedingungen des Denkens wir unabhängig von und vor dieser Rechtfertigung eingesehen haben. Denn dies hieße zu bestreiten, dass der Verstand, qua Vermögen, von der Sinnlichkeit abhängig ist. Hegel versteht die Aufgabe, der sich Kant in der Deduktion stellt, anders: nämlich als die Aufgabe, begreiflich zu machen, wie es apriorische Begriffe im Sinne von subjektiven Bedingungen des Denkens überhaupt geben kann. Hegel zufolge geht es in der Deduktion darum, zu verstehen, wie apriorische Begriffe im Sinne von Begriffen, derer wir uns als subjektiver Bedingungen des Denkens bewusst sind, überhaupt möglich sind. Nach Hegel beansprucht Kant zu zeigen, dass derjenige Standpunkt, den wir einnehmen müssen, um die Möglichkeit apriorischer Begriffe

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einzusehen, ein Standpunkt ist, von dem aus man die Frage, die uns am Anfang der Transzendentalen Deduktion noch beunruhigt hat, gar nicht mehr formulieren kann, ohne sie schon beantwortet zu haben. Nach dieser Lesart ist es einunddasselbe, zu verstehen, was es heißt, dass es bestimmte apriorische Begriffe gibt, die subjektive Bedingungen des Denkens sind, und darin gerechtfertigt zu sein, diese Begriffe in Urteilen zu verwenden, die einen Objektivitätsanspruch erheben. Nach dieser Lesart gehört es zur Pointe der kantischen Argumentation, dass es ausgeschlossen ist, dass wir von bestimmten Begriffen, derer wir uns als subjektiver Bedingungen des Denkens bewusst sind, zugleich denken könnten, dass sie bloß subjektiv sind. Die Idee, diese Begriffe könnten bloß subjektiv sein, ist nach dieser Lesart vielmehr unvereinbar mit der Idee, dass sie „Regeln des Denkens“ sind. Kant sagt dies zu Beginn der Deduktion ganz ausdrücklich. Diese Begriffe als bloß subjektiv vorzustellen, hieße, sie als Begriffe vorzustellen, die „ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung“ sind. (KrV, B 123) Was Kant damit sagen will, ist nicht, dass wir uns dann, wenn wir sie als bloß subjektiv vorstellen, eine ganz besondere Art von Begriffen vorstellen, nämlich solche, die „ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung“ sind, sondern, dass diese Begriffe dann nichts weiter als ein „bloßes Hirngespinst“ wären. (Ebd.) D.h. sie wären etwas, das nur so scheint, als wäre es ein Begriff, der eine „subjektive Bedingung des Denkens“ ist, doch in Wahrheit gar kein solcher Begriff ist. (Ebd.) Nach dieser Lesart ist es eine Bedingung der Verständlichkeit eines apriorischen Begriffs des Urteilens, dass er als ein Begriff vorgestellt wird, der in notwendiger Übereinstimmung mit den Gegenständen der Erfahrung ist und eo ipso den Status von Wissen hat. Die Sorge, um die es in der Deduktion geht, kann folglich nicht als die Sorge beschrieben werden, dass ein Wesen im Besitz von apriorischen Begriffen sein könnte, derer es sich als Regeln des Denkens bewusst ist, ohne darin gerechtfertigt zu sein, diese zur Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung zu verwenden. Die Sorge der Deduktion ist vielmehr die, dass es möglich scheint, dass diejenigen Begriffe, die wir als „subjektive Bedingungen des Denkens“ erkannt zu haben vermeinen, überhaupt keine solchen Bedingungen sind, sondern ein „bloßes Hirngespinst“. 5 Kants Analyse des Urteilsvermögens kulminiert in dem Gedanken, dass es sich bei ihm um ein Vermögen handelt, das, qua Vermögen, apriorisches Wissen von den Gegenständen der Erfahrung enthält, dessen sich das Subjekt dieses Vermögen a priori bewusst ist. Ein Urteilsvermögen zu haben heißt, ein

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Bewusstsein von Vorstellungen von Gegenständen der Erfahrung zu haben, die in jedem empirischen Wissen, das man erwerben kann, als dasjenige enthalten sind, das dieses empirische Wissen ermöglicht. In seiner grundlegenden Bestimmung ist der Verstand folglich ein Vermögen der Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung, das ein apriorisches Bewusstsein seiner selbst hat. Daraus folgt, dass der Verstand niemals bloß der Gegenstand eines Bewusstseins sein kann, weil es dieses Vermögen, das der Verstand ist, gar nicht unabhängig von einem Bewusstsein seiner selbst gibt. Es ist diese Struktur, aufgrund derer Kant das Bewusstsein, in dem das Verstandesvermögen besteht, als Selbstbewusstsein charakterisiert und die Idee des Verstandes mit der Idee des Selbstbewusstseins identifiziert10. Kant nennt diesen Akt des Selbstbewusstseins, in dem sich der Verstand als Vermögen der Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung konstituiert, einen Akt der „ursprünglichen Apperzeption“, um deutlich zu machen, dass es sich hierbei nicht um einen Akt handelt, der in der Ausübung eines Vermögens des Selbstbewusstseins besteht, sondern um jenen Akt, in dem das Vermögen zu selbstbewussten Akten, ganz gleich, was ihr Inhalt ist, besteht. Dieses Selbstbewusstsein ist daher sämtlichen Ausübungen des Verstandes, ganz gleich, welchen Inhalt sie haben, eingeschrieben. Es ist, wie Kant sagt, „in allem Bewußtsein ein und dasselbe“. (KrV, B 132) In §§ 14−15 beansprucht Kant, mit dem „ursprünglichen“ Selbstbewusstsein die grundlegende Einheit identifiziert zu haben, von der nicht nur jeder Akt des Urteilens vermittels der Kategorien abhängt, sondern auch die Kategorien selbst. Was er damit meint, können wir wie folgt reformulieren: Er meint damit das Bewusstsein, das ein Vermögen der Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung von sich selbst hat und welches daher „in allem Bewußtsein“, in dem dieses Vermögen zur Ausübung kommt, als „ein und dasselbe“ präsent ist, mithin sämtliche Ausübungen dieses Vermögens, wie Kant sagt, „begleitet“. (Ebd.) 6 McDowell meint, dass es uns darum gehen muss, uns zu einer Position zu berechtigen, die er einen „entspannten Naturalismus“ nennt. (McDowell 1994, V.2., 89) Einem solch „entspannten Naturalismus“ zufolge besteht die 10  Zur Identifikation des Verstandes mit dem Selbstbewusstsein vgl. den außerordentlich hilfreichen und wichtigen Aufsatz von Engstrom 2013, dem die obigen Überlegungen zum kantischen Selbstbewusstsein verpflichtet sind.

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Rolle und Bedeutung der Begriffe der Erziehung und Bildung darin, einen Prozess der Transformation zu beschreiben, in dem ein sinnliches Wesen, das zunächst nur potentiell mit dem Verstand verbunden ist, in ein Wesen transformiert wird, dessen Sinnlichkeit den Charakter eines selbstbewussten Erkenntnisvermögens annimmt11. Die Rolle der Erziehung ist es, eine Einheit zwischen zwei Vermögen zu verwirklichen, die zunächst nur potentiell besteht, jedoch nicht in Wirklichkeit. Dieser Gedanke zieht sich gleichsam wie ein Leitfaden durch die Arbeiten McDowells, den er an verschiedenen Stellen zur Geltung bringt, wie etwa an den folgenden: Our nature is largely second nature, and our second nature is the way it is not just because of the potentialities we were born with, but also because of upbringing, our Bildung. McDowell 1994, 87

Human Individuality is not just biological, not exhausted by the singleness of a particular human animal. A fully fledged human individual is a free agent. (…) Freedom is responsiveness to reasons. It is not a natural endowment, not something we are born with (…). McDowell 2009b, 166

The idea of participation in a communal form of life is needed for a satisfactory understanding of responsiveness to reasons. (…) Respon­ siveness to reasons (…) marks out a fully fledged human individual as no longer a merely biological particular, but a being of a metaphysically new kind (…). McDowell 2009b, 172

Das Kind, so die Idee, ist nur potentiell ein vernünftiges Tier, jedoch nicht in Wirklichkeit. Zu einer solch vernünftigen Wirklichkeit wird das Tun und Dasein des Kindes erst dadurch, dass es gebildet wird. Bildung ist nach McDowell ein Prozess, in dem ein zunächst bloß sinnliches Individuum eine metaphysische Transformation durchmacht. Ein Individuum einer metaphysisch neuen Art entsteht. Die Wirklichkeit eines Kindes, welches noch zu bilden ist, ist nach dieser Auffassung nicht dieselbe wie jene, in der das Tun und Dasein eines Individuums besteht, welches einen Prozess der Bildung durchlaufen hat. Wie wir gleich sehen werden, bestreitet Hegel dies. Die Rolle der Bildung besteht nach Hegel nicht darin, die Potentialität einer „metaphysisch neuen 11  Vgl. dazu meine ausführliche Kritik in Kern 2017.

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Art“, die das Kind charakterisiert, in eine Wirklichkeit zu verwandeln. Ein erwachsener Mensch unterscheidet sich von einem Kind nicht dadurch, dass er zu einer metaphysisch neuen Art gehört. Hegel versteht Bildung vielmehr als ein „immanentes Moment des Absoluten“. (Werke 7, § 187) Das schließt es aus, dass diejenige Wirklichkeit, die ihr Resultat ist, eine andere sein kann als jene, von der sie ausgeht. Hegel gelangt zu diesem Verständnis von Bildung, weil er erkennt, dass der Standpunkt, den wir erreichen, wenn wir das kantische Selbstbewusstsein haben, nicht der Standpunkt des „absoluten Wissens“ sein kann12. Der grundlegende Akt des kantischen Selbstbewusstseins, so haben wir oben gesehen, besteht in dem Bewusstsein, das ein Vermögen der Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung von sich selbst hat. Als ein solches enthält es ein Bewusstsein der Einheit seines Vermögens zu urteilen mit seinem Vermögen, sinnliche Anschauungen zu haben, die es beide als Aspekte jenes Vermögens begreift, als dessen es sich selbst bewusst ist. McDowell meint, dass es hinreichend ist, sich zu einer Position zu berechtigen, die die Einheit beider Vermögen in diesem Sinne behaupten kann. Hegels Kritik an Kant beruht dagegen auf der Einsicht, dass ein Verständnis von Selbstbewusstsein, nach dem dieses wesentlich Vermögensbewusstsein ist, unzureichend ist. In Hegels Augen verstrickt sich das kantische Selbstbewusstsein in einen „Widerspruch.“13 Dieser besteht − aus der Perspektive der Phänomenologie des Geistes gesprochen − darin, dass es unfähig ist, sein eigenes Dasein zu begreifen. Es ist ein Selbstbewusstsein, das unfähig ist, sich „seiner selbst in seinem Dasein gewiss[]“ zu sein. (Werke 3, 519) Ein Selbstbewusstsein jedoch, das sich kraft dessen, worin es besteht, seines Daseins nicht gewiss ist, erfasst seinen eigenen Begriff nicht. Denn es hat eine Vorstellung von Selbstbewusstsein, die mit der Wirklichkeit dessen, was es vorstellt, nicht identisch ist. Hegel nennt ein Selbstbewusstsein, das seinen eigenen Begriff begreift, „de[n] sich selbst wissende[n] Geist“. (Werke 3, 529) Der „sich selbst wissende Geist“ ist diejenige Konzeption des Selbstbewusstseins, in der das Selbstbewusstsein qua dessen, worin es besteht, sich seines Daseins gewiss ist. Das kantische Selbstbewusstsein ist dazu nicht in der Lage, weil es Selbstbewusstsein als das Bewusstsein einer Einheit begreift, deren Elemente – die Vermögen des Verstandes und der Sinnlichkeit – keine Antwort auf die Frage enthalten, wie es jenen Akt des Selbstbewusstseins geben kann, in dem die Einheit beider Vermögen besteht. Dies liegt daran, dass die Einheit, deren Bewusstsein das kantische Selbstbewusstsein ausmacht, bloß Vermögen 12  Siehe Werke 3, 530 f. 13  Werke 2, u.a. 318 und folgende.

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enthält. Als bloßes Bewusstsein von Vermögen kann das Selbstbewusstsein seine eigene Wirklichkeit nicht durch die Elemente jener Einheit erklären, in deren Bewusstsein es besteht. Denn als bloßes Vermögensbewusstsein stellt es keine Einheit vor, die eine Wirklichkeit enthält. Das heißt, es stellt etwas vor, dessen Wirklichkeit das Selbstbewusstsein qua Selbstbewusstsein nicht begreifen kann. In „Glauben und Wissen“ drückt Hegel diese Kritik so aus, dass er sagt, das Selbstbewusstsein sei hier zu einem „absoluten intellektuellen Punkte“, zu einem „fixen intellektuellen Eins“ reduziert. (Werke 2, 319) Der innere Widerspruch, in dem sich diese Konzeption von Selbstbewusst­ sein nach Hegel befindet, besteht darin, dass ein Selbstbewusstsein, das kein Bewusstsein seiner Wirklichkeit enthält, mit jener Wirklichkeit, deren Bewusstsein es ist, nicht identisch sein kann. Das aber müsste es sein, um Selbstbewusstsein zu sein. Ein Selbstbewusstsein, das kein Bewusstsein seiner Wirklichkeit enthält, kann sich daher immer nur als die Voraussetzung bestimmter Akte begreifen – eben jener Akte, die Ausübungen desjenigen Vermögens sind, in deren Bewusstsein Selbstbewusstsein besteht –, doch nicht als etwas, das mit der Wirklichkeit bestimmter Akte identisch ist. Hegels „Radikalisierung“ der kantischen Position, wie McDowell es ausdrückt, besteht darin, diesen Widerspruch aufzulösen. Das Selbstbewusstsein, so schließt Hegel, muss seine „Verwirklichung“ „durch sich selbst“ begreifen. (Werke 3, 233) Seine Frage lautet: Wie muss Selbstbewusstsein verfasst sein, damit es seine eigene Wirklichkeit begreifen kann? 7 Wir können den Gang der Argumentation, den Hegel in der Phänomenologie des Geistes entfaltet, so verstehen, dass es darum geht, den Begriff des Selbstbewusstseins Schritt für Schritt von jenen Missverständnissen zu befreien, die uns daran hindern, diesen Begriff vollkommen zu verstehen, und zu denen, unter anderem, das kantische Missverständnis gehört. Nach Hegel zeigt sich daran, dass das kantische Selbstbewusstsein nicht in der Lage ist, das Bewusstsein, in dem es besteht, durch sich selbst zu erklären, zweierlei: Erstens, dass das Vermögensbewusstsein, das Kant beschreibt, nicht das grundlegende Selbstbewusstsein sein kann, sondern von einem solchen abgeleitet sein muss. Und zweitens, dass die Annahme, auf der die damit einhergehende Konzeption von Selbstbewusstsein beruht, ein Missverständnis sein muss. Die irrige Annahme, die Hegel als die Voraussetzung dieser Konzeption des Selbstbewusstseins identifiziert, hatten wir oben benannt: Sie besteht in dem Gedanken, dass der Verstand nur dann eine Einheit sein kann, die

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apriorische Elemente enthält, wenn er qua Einheit keine Akte der Sinnlichkeit enthält. Das ist es, was Hegel Kant in „Glauben und Wissen“ vorwirft. Kants Scheitern macht uns klar, dass und weshalb dieser Gedanke ein Irrtum sein muss. Sich von dem kantischen Missverständnis zu befreien, heißt nach Hegel, ein Verständnis von Selbstbewusstsein zu entwickeln, das beides miteinander verbindet: das Bewusstsein apriorischer Elemente mit dem Bewusstsein eines Aktes der Sinnlichkeit. Hegel entwickelt einen solchen Begriff des Selbstbewusstseins in der Phänomenologie des Geistes ab Kap. IV. Für die Zwecke unserer Frage werde ich mich im Folgenden auf die beiden wesentlichen Schritte seiner Argumentation beschränken, die hinreichend dafür sind, um zu verstehen, wie Hegel den Zusammenhang zwischen der Idee des Selbstbewusstseins und der Idee der Bildung begreift: In einem ersten Schritt charakterisiert Hegel das Selbstbewusstsein als eine Einheit von Elementen, die den Charakter einer „Bewegung“ hat. (Werke 3, 121) Diese „Bewegung“ besteht darin, dass das Selbstbewusstsein einen Akt des Bewusstseins vollzieht, der auf einen Gegenstand der sinnlichen Welt gerichtet ist, indem es auf sich selbst als ein Vermögen der Wahrnehmung und des Verstandes zurückkommt, dem es durch diesen Akt einen Inhalt verleiht. Indem es diese „Bewegung“ vollzieht, hat es gleichermaßen ein Bewusstsein von der sinnlichen Welt wie von sich selbst. Denn es hat das eine Bewusstsein genau dadurch, dass es das jeweils andere Bewusstsein hat. Hegel schreibt: Das Sein der Meinung, die Einzelnheit und die ihr entgegengesetzte Allgemeinheit der Wahrnehmung, so wie das leere Innere des Verstandes, sind nicht mehr als Wesen, sondern als Momente des Selbstbewußtseins, das heißt als Abstraktionen oder Unterschiede, welche für das Bewußtsein selbst zugleich nichtig (…) sind. Ebd.

Versteht man das Selbstbewusstsein als eine Einheit, die diese Struktur hat, beginnt man, das Selbstbewusstsein als etwas zu begreifen, das sich „durch sich selbst verwirklicht“. Denn es besteht nun in einer Einheit von Elementen, die als solche ein Bewusstsein der Wirklichkeit jener Einheit enthält, in der das Selbstbewusstsein besteht. Das Selbstbewusstsein enthält nun als eines seiner „Momente“ einen Akt des Bewusstseins, durch den es sich auf die sinnliche Welt richtet, indem es sich dieses Aktes als einer Verwirklichung seines Vermögens der Wahrnehmung wie auch des Verstandes bewusst ist.

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Hegel folgert daraus, dass für ein Selbstbewusstsein, das sich auf diese Weise begreift, der Gegenstand, auf den es sich qua Bewusstsein bezieht, „in sich Leben geworden“ ist. (Ebd., 122) Hegel bemerkt ausdrücklich, dass das Verständnis des Begriffs des Lebens, wie er ihn an dieser Stelle einführt, noch vollkommen abstrakt und minimal ist. Was damit gesagt werden soll, ist an dieser Stelle nicht mehr, als dass der Gegenstand, auf den sich ein Bewusstsein bezieht, welches Selbstbewusstsein ist, in seinem Charakter „reflektiertes Sein“ ist. (Ebd.) D.h. der Gegenstand steht dem Bewusstsein, das sich auf ihn richtet, nicht als etwas ihm Äußerliches gegenüber, sondern als etwas, das mit diesem Bewusstsein eine „Einheit“ bildet. (Ebd.) In diesem Sinn ist „der Gegenstand“, so Hegel, „durch diese Reflexion in sich Leben geworden“. (Ebd.) Damit jedoch ist das Selbstbewusstsein noch nicht völlig begriffen. Dies liegt daran, so Hegel, dass ein Selbstbewusstsein, das sich auf diese Weise begreift, sich auf das Leben als einen Gegenstand der Wahrnehmung bezieht und damit einen Gegenstand hat, der – qua Gegenstand der Wahrnehmung – vom Bewusstsein dieses Gegenstands verschieden ist. Hegel schließt daraus, dass das Selbstbewusstsein seine eigene Wirklichkeit, und damit sich selbst, noch nicht begreifen kann, wenn es sie bloß als einen Gegenstand der Wahrnehmung begreift. Denn dies hieße, dass das „Leben“, das sein Gegenstand ist, als etwas begriffen wäre, von dem es sich selbst, durch genau dieses Bewusstsein, das es von ihm hat, „entzweit“. (Ebd.) Als einen Gegenstand der Wahrnehmung kann es das Leben, als dessen Bewusstsein es sich begreift, nur „als seiend von sich unterscheide(n)“, und damit nur als etwas begreifen, mit dem es selbst nicht identisch ist. (Ebd.) Hegel schließt daraus − und darin besteht der zweite Schritt seines Arguments −, dass Selbstbewusstsein in einer Einheit bestehen muss, die das Leben, auf das es sich qua Bewusstsein richtet, nicht als Gegenstand der Wahrnehmung begreift, den es als seiend von sich unterscheidet, sondern als etwas, das von sich aus „auf das Bewußtsein (verweist)“. (Ebd. 125) Es muss das Leben, dessen Bewusstsein es ist, als einen Gegenstand begreifen, der von sich aus dadurch bestimmt ist, der Gegenstand eines Bewusstseins zu sein. Es muss das Leben, dessen es sich bewusst ist, als eines begreifen, das sich in dem Bewusstsein, das es von ihm hat, verwirklicht. Ein Selbstbewusstsein, das sich eines solchen Lebens bewusst ist ‒ Hegel nennt es „dies andere Leben, für welches die Gattung als solche und welches für sich selbst Gattung ist“ ‒, (Ebd.) begreift seine eigene Wirklichkeit als die Verwirklichung des Begriffs einer Lebensform, deren Wirklichkeit qua Wirklichkeit selbstbewusst ist. Selbstbewusstsein erweist sich damit wesentlich als „lebendige[s] Selbstbewußtsein“. (Ebd. 127) Der „Begriff des Selbstbewußtseins“, so Hegel, charakterisiert in seiner grundlegenden

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Verwendung eine Lebensform, die er nicht ihrem Inhalt nach beschreibt – indem er etwa eine bestimmte Eigenschaft oder ein bestimmtes Vermögen bezeichnen würde, das die fraglichen Individuen haben, die diese Lebensform ausmachen –, sondern ihrer Form nach, indem er die Art und Weise bestimmt, wie diese Lebensform sich verwirklicht. (Ebd. 126) In diesem Sinn bezeichnet der Begriff des Selbstbewusstseins, wie Michael Thompson es im Anschluss an Hegel ausdrückt, die „Form“ einer Lebensform14. Die Lebensform, die der Gegenstand des Selbstbewusstseins ist, ist damit, wie Hegel sagt, „abstrakt“ bestimmt. (Werke 3, 125) Hegel wird diesen „abstrakten Gegenstand“ des Selbstbewusstseins im weiteren Fortgang „bereichern“ und damit zur „Entfaltung“ bringen. (Ebd.) Für unsere Zwecke können wir von den einzelnen Schritten von Hegels „Entfaltung“ dieses zunächst nur abstrakt gefassten Gegenstands des Selbstbewusstseins absehen, da es genügt, die Struktur des Bewusstseins vor Augen zu haben, in der nach Hegel Selbstbewusstsein besteht. Die zentrale Einsicht, die Hegel als Antwort auf das kantische Missverständnis gewinnt, besteht darin, dass der Begriff des Selbstbewusstseins, in seiner grundlegenden Verwendung, weder einen „intellektuellen Punkt“ beschreibt, noch eine besondere Fähigkeit eines sinnlichen Wesens, sondern die Form einer Lebensform, deren genuine Art und Weise der Verwirklichung er beschreibt. Daraus folgt, dass man den Begriff des Selbstbewusstseins nicht verwenden kann, ohne damit die Wirklichkeit eines Bewusstseins zu beschreiben: eines Bewusstseins, das qua Bewusstsein ein Bewusstsein seiner Wirklichkeit hat. Denn die Einheit des Bewusstseins, die der Begriff des Selbstbewusstseins – auf jeder möglichen Ebene seiner Verwendung – dann beschreibt, ist „abstrakt“ gesprochen stets dieselbe: Er beschreibt die Einheit des einzelnen Bewusstseins eines Individuums mit dem allgemeinen Bewusstsein einer Lebensform, deren Wirklichkeit, qua Lebensform, im Bewusstsein genau dieser Einheit besteht15. Ein Individuum, dessen Tun eine selbstbewusste Lebensform manifestiert, hat folglich qua dessen, dass es eine solche Lebensform manifestiert, das Bewusstsein einer solchen Einheit, und also Selbstbewusstsein, dessen Wirklichkeit sein Tun und Dasein – auf je unterschiedlichen Stufen, auf je unterschiedliche Weise – ist. Der Begriff des Selbstbewusstseins, verstanden als der Begriff der Form einer Lebensform, erweist sich damit − so wird Hegel später, nachdem er diesen Formbegriff weiter entfaltet hat, sagen − als der Begriff eines 14  Ebd., S. 127. Vgl. dazu M. Thompson, “Formen der Natur: erste, zwei, lebendige, vernünftige und phronetische”. 15  Vgl. Werke 3, 234.

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an sich allgemeine[n] Selbstbewußtsein[s], das sich in einem anderen Bewußtsein so wirklich ist, daß dieses vollkommene Selbständigkeit hat, oder ein Ding für es, und daß es ebendarin der Einheit mit ihm sich bewußt ist, und in dieser Einheit mit diesem gegenständlichen Wesen erst Selbstbewußtsein ist. Ebd.

Hegel betont hier zwei Punkte: Eine Lebensform, deren Form Selbstbewusstsein ist, ist eine Lebensform, die ein „allgemeines Selbstbewußtsein“ enthält. Das heißt, es ist eine Lebensform, zu der ein Bewusstsein gehört, dessen Subjekt nicht ein einzelnes Individuum ist, das sich durch dieses Bewusstsein von einem anderen Individuum unterscheidet, sondern dessen Subjekt ein allgemeines ist. Betrachtet man dieses „allgemeine Selbstbewußtsein“, das eine solche Lebensform ausmacht, jedoch bloß als etwas Allgemeines, ist es noch nicht als wirkliches Bewusstsein, und also noch nicht als Selbstbewusstsein begriffen, sondern nur als die „Abstraktion“ von einem solchen. (Ebd.) Als Selbstbewusstsein ist dieses allgemeine Bewusstsein der Lebensform erst begriffen, wenn es qua Bewusstsein seine eigene Wirklichkeit enthält. Hegel schließt daraus, dass Selbstbewusstsein in der Einheit des Bewusstseins einer Lebensform mit einem „gegenständlichen Wesen“ bestehen muss, dessen Bewusstsein darin besteht, die Wirklichkeit dieser Einheit zu sein. (Ebd.) Selbstbewusstsein ist das Bewusstsein einer Lebensform, die ihre Individuen genau dadurch verwirklichen, dass sie ihr „Tun und Dasein“ als die Verwirklichung jener Lebensform begreifen, deren Bewusstsein Selbstbewusstsein ist. (Ebd.) Hegels Entfaltung des „Begriffs des Selbstbewusstseins“ mündet somit in dem Gedanken, dass die vollkommene Gestalt einer selbstbewussten Lebensform im „Leben eines Volks“ besteht. (Ebd.) Das „Leben eines Volks“ stellt nach Hegel genau diejenige Gestalt einer selbstbewussten Lebensform dar, in der der Begriff einer solchen Lebensform seine „vollendete Realität“ hat: In dem Leben eines Volks hat in der Tat der Begriff der Verwirklichung der selbstbewußten Vernunft, in der Selbständigkeit des Anderen die vollständige Einheit mit ihm anzuschauen, oder diese von mir vorgefundene freie Dingheit eines anderen, welche das Negative meiner selbst ist, als mein für mich Sein zum Gegenstande zu haben, – seine vollendete Realität. Ebd.

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Für unsere Zwecke ist hier vor allem entscheidend, wie Hegel auf die Idee des „Lebens eines Volks“ stößt: nämlich indem er den zunächst abstrakt verstandenen Begriff einer selbstbewussten Lebensform zur Entfaltung bringt. Dies führt ihn dazu, das Leben eines Volks als die vollkommene Verwirklichung dieses Begriffs zu bestimmen. Dies bedeutet einerseits, dass der Begriff des Lebens eines Volks nicht identisch ist mit dem Begriff einer selbstbewussten Lebensform. Doch es bedeutet andererseits auch, dass er nichts anderes beschreibt. Was Hegel damit sagen möchte ist, dass er diejenige Gestalt einer solchen Lebensform beschreibt, in der sich der Begriff dieser Lebensform vollkommen verwirklicht. Das bedeutet in Hegels Augen, dass er diejenige Gestalt eines selbstbewussten Lebens darstellt, vermittels derer wir den Begriff einer solchen Lebensform vollkommen verstehen, weil wir ihn in dieser Gestalt als einen Begriff verstehen, der die Wirklichkeit, die er beschreibt, in keinem Sinn mehr voraussetzt, sondern durch sich selbst begreift. Der Begriff einer selbstbewussten Lebensform ist gegenüber dem Begriff des Lebens eines Volks abstrakt, insofern er von all jenen Bestimmungen abstrahiert, die darin enthalten sind, dass es sich hierbei um den Begriff einer Wirklichkeit handelt, deren Form er beschreibt. Für unsere Zwecke genügt es, den abstrakten Begriff einer selbstbewussten Lebensform zu betrachten, um Hegels Korrektur am kantischen Begriff des Selbstbewusstseins zu verstehen und die Konsequenzen, die dies für den Begriff der Bildung hat. Denn versteht man Selbstbewusstsein als einen Begriff, der die Form einer Lebensform beschreibt, dann begreift man Selbstbewusstsein nicht mehr, wie Kant, als ein Bewusstsein, das die uneinholbare Voraussetzung von Akten einer bestimmten Art darstellt. Man begreift es vielmehr als ein Bewusstsein, das mit dem Tun und Dasein einer bestimmten Art von Individuen identisch ist. (Ebd.) Wir hatten oben gesehen, dass Hegel Kant vorwirft, dieser habe eine falsche Konzeption des Apriorischen, weil er von der irrigen Annahme geleitet sei, der Verstand könne nur dann eine Einheit sein, die apriorische Elemente enthält, wenn diese Einheit keinen Akt der Sinnlichkeit enthält. Der Begriff einer selbstbewussten Lebensform ist der Begriff einer solchen Einheit, die Kant in Hegels Augen für unmöglich hielt: der Einheit eines sinnlichen Bewusstseins mit einem apriorischen Bewusstsein. Denn eine selbstbewusste Lebensform ist eine Lebensform, die sich im Leben von Individuen verwirklicht, die sich ihres Tuns und Daseins als der Manifestation jener Lebensform, die sie verwirklichen, bewusst sind. Das Bewusstsein eines Individuums, das sich seines Tuns und Daseins als der Manifestation einer Lebensform bewusst ist, enthält damit qua dessen, dass es sich seines Tuns und Daseins auf diese Weise bewusst ist,

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Kern

ein apriorisches Bewusstsein jener Lebensform, als dessen Manifestation es sein Tun und Dasein versteht. Da jedoch dieses apriorische Bewusstsein seiner Lebensform ein Aspekt seines Selbstbewusstseins ist, bedeutet dies, dass man den Inhalt dieses Bewusstseins nicht beschreiben kann, ohne Akte der Sinnlichkeit zu beschreiben: eben jene sinnlichen Akte, in deren Vollzug das Leben der fraglichen Individuen besteht. Selbstbewusstsein ist folglich eine apriorische Einheit, die als solche sinnliche Akte enthält. Dieses Lebensformbewusstsein ist in einem vollends kantischen Sinne ein apriorisches Bewusstsein: Es ist ein Bewusstsein, das ein Individuum nicht durch Erfahrung rechtfertigen kann, da es die Bedingung der Wirklichkeit des Tuns und Daseins von Individuen ist, die eine selbstbewusste Lebensform verwirklichen. In diesem Sinne ist es notwendig und allgemein. Da dieses Bewusstsein aber in nichts anderem als im Selbstbewusstsein solcher Individuen besteht, ist es zugleich irreduzibel an das Bewusstsein eines solchen Individuums gebunden. (Ebd.) Darin besteht die vom kantischen Missverständnis gereinigte Konzeption des Apriorischen, das „wahrhaft Apriorische“, wie Hegel es nennt16. Damit ist das Selbstbewusstsein auf eine Weise begriffen, in der es ein Bewusstsein seiner eigenen Wirklichkeit enthält, da diese nun keine andere ist als die Wirklichkeit des Tuns und Daseins eines Individuums, das eine selbstbewusste Lebensform manifestiert. Als ein Begriff, der die Form einer Lebensform beschreibt, entzieht sich das Selbstbewusstsein nicht mehr der Erkenntnis seiner eigenen Wirklichkeit, sondern ist, wie Hegel sagt, ein „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein“. (Werke 3, 127) 8 Die Begriffe der Erziehung und Bildung haben nach Hegel ihren Ort in der Erläuterung der Verwirklichung des Begriffs einer selbstbewussten Lebensform. Hegel beschreibt die Rolle der Bildung in der Rechtsphilosophie wie folgt: Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. (…) Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität 16  Ebd. Vgl. auch Werke 2, 309–310 und 426.

Selbstbewusstsein und die Idee der Bildung

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gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein. – Ebenso macht zugleich diese Form der Allgemeinheit, zu der sich die Besonderheit verarbeitet und heraufgebildet hat, die Verständigkeit, daß die Besonderheit zum wahrhaften Fürsichsein der Einzelheit wird und, indem sie der Allgemeinheit den erfüllenden Inhalt und ihre unendliche Selbstbestimmung gibt, selbst in der Sittlichkeit als unendlich fürsichseiende, freie Subjektivität ist. Dies ist der Standpunkt, der die Bildung als immanentes Moment des Absoluten und ihren unendlichen Wert erweist. Werke 7, § 187

Wenn Hegel Bildung als ein „immanentes Moment des Absoluten“ bezeichnet, dann möchte er damit sagen, dass die „Arbeit der Bildung“ ein wesentliches Merkmal einer selbstbewussten Lebensform ist. Ohne Bildung keine selbstbewusste Lebensform – und umgekehrt. Eine selbstbewusste Lebensform ist eine Lebensform, deren Individuen dadurch „würdig und fähig“ werden, diese Lebensform so zu verwirklichen, wie es ihrem Begriff entspricht, nämlich auf selbstbewusste Weise, indem sie die Elemente des Selbstbewusstseins auf selbstbewusste Weise herausbilden. Das ist die Bedeutung des Begriffs der „Bildung“. Bildung bedeutet, so Hegel, Tätigkeiten zu vollziehen, deren Sinn darin besteht, das einzelne Bewusstsein eines Individuums als eines herauszubilden, das die „Form der Allgemeinheit“ hat, und dadurch das allgemeine Bewusstsein selbst herauszubilden, indem das einzelne Bewusstsein den „erfüllenden Inhalt“ in dieses allgemeine Bewusstsein bringt. Durch die Arbeit der Bildung verwandelt sich das Individuum in der Tat. Doch die Verwandlung, die das Individuum durchläuft, indem es die Arbeit der Bildung vollzieht, besteht nach Hegel nicht in der Verwandlung eines Individuums, das zunächst ein bloß sinnliches Wesen ist, in ein Individuum, das nun zu einer metaphysisch neuen Art gehört. Es ist vielmehr die Verwandlung eines Individuums, dessen Tun und Dasein eine selbstbewusste Lebensform in „unmittelbarer, natürlicher“ Weise verwirklicht, in ein Individuum, das diese Lebensform in „geistiger“ Weise verwirklicht. Damit will Hegel sagen, dass das Bewusstsein, das ein kleines Kind von der Einheit seines Tuns und Daseins mit der Lebensform hat, die es verwirklicht, verschieden ist von jenem Bewusstsein, das ein Erwachsener hat, der durch die Arbeit der Bildung gegangen ist. Sein Bewusstsein der Einheit mit der Lebensform, die es verwirklicht, hat noch nicht die „Gestalt der Allgemeinheit“. Das kleine Kind hat das Bewusstsein der Einheit seines Daseins mit seiner Lebensform nicht dadurch, dass es eine allgemeine Vorstellung von seiner Lebensform hat und damit ein Bewusstsein der Differenz zwischen seinem individuellen Leben und der Allgemeinheit seiner

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Kern

Lebensform. Sein Selbstbewusstsein besteht in einer Einheit von Elementen, von deren Differenz es nur ein „unmittelbares“ Bewusstsein hat, etwa wenn es hungrig ist und schreit. Die Arbeit der Bildung besteht darin, das unmittelbare Bewusstsein dieser Einheit, in der das Tun und Dasein des Kindes besteht, in ein geistiges Bewusstsein dieser Einheit zu verwandeln. Ein solch geistiges Bewusstsein hat ein Individuum dann, wenn das Bewusstsein der Einheit seines Tuns und Daseins mit der Lebensform, die es verwirklicht, durch eine allgemeine Vorstellung seiner Lebensform vermittelt ist. Hat es eine solch allgemeine Vorstellung von seiner Lebensform, dann erhält das Bewusstsein der Einheit, das es ausmacht, einen anderen, eben geistigen Charakter. Dieser veränderte Charakter seines Einheitsbewusstseins besteht darin, dass es sein eigenes Tun und Dasein nun als die Verwirklichung jener Lebensform begreift, von der es eine allgemeine Vorstellung hat − womit sein Selbstbewusstsein nichts mehr anderes ist als das Bewusstsein der Wirklichkeit seines eigenen Begriffs. Wenn Hegel behauptet, dass die Verwirklichung einer selbstbewussten Lebensform wesentlich eine Sache der Bildung ist, dann will er damit also nicht einfach darauf hinweisen, dass Bildung eine notwendige Bedingung dafür ist, dass es selbstbewusste Individuen geben kann. Er will damit vielmehr sagen, dass Bildung ein Moment der Verwirklichung einer Lebensform ist, deren Wirklichkeit – auf allen Stufen ihrer Verwirklichung – darin besteht, selbstbewusste Wirklichkeit zu sein. Versteht man Bildung auf diese Weise, so Hegel, dann versteht man sie als ein „immanentes Moment des Absoluten“. 9 In der Erläuterung einer selbstbewussten Lebensform hat die Idee eines Prozesses der Transformation eines sinnlichen Wesens, das zunächst nur potentiell selbstbewusst erkenntnisfähig ist, in ein selbstbewusst erkenntnisfähiges Individuum keinen Platz. Denn als Charakterisierung der Form einer Lebensform beschreibt der Begriff des Selbstbewusstseins keine Fähigkeit, von der man sagen kann, dass sie für ein Tun und Dasein, etwa das eines Kindes, eine bloße Potentialität darstellt. Ebenso wenig beschreibt er eine Fähigkeit, von der man sagen kann, dass sie einem Individuum angeboren ist. Er beschreibt überhaupt nichts von der Art, von dem man sich fragen kann, ob ein Individuum es qua erster oder zweiter Natur besitzt. Er beschreibt vielmehr die genuine Art und Weise der Verwirklichung einer Lebensform, deren Beschreibung, als ein „absoluter Durchgangspunkt“, den Begriff der Bildung verlangt.

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Nach diesem Verständnis von Bildung ist Bildung keine Bedingung, von der die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins eines Individuums abhängig ist, und deren Wirklichkeit ihrerseits, d.h. die Wirklichkeit der Bildung, sich dieses Selbstbewusstsein nur erklären könnte, indem es die Wirklichkeit von Selbstbewusstsein – nämlich dasjenige eines anderen Individuums – voraussetzte −und so weiter. Der Begriff der Bildung beschreibt vielmehr die genuine Weise der Verwirklichung einer selbstbewussten Lebensform. Dieser Begriff der Bildung, der Bildung als ein „immanentes Moment des Absoluten“ erweist, beruht auf einem Verständnis von Selbstbewusstsein, nach dem man den Begriff des Selbstbewusstseins nicht verwenden kann, um damit etwas zu Verwirklichendes zu beschreiben, ohne damit zugleich die Wirklichkeit desjenigen zu beschreiben, für den das Selbstbewusstsein noch etwas zu Verwirklichendes ist: als eine zu vervollkommnende Wirklichkeit.

Primärtexte von G.W.F. Hegel I. Gesammelte Werke, hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, bisher 32 Bde., Hamburg (Felix Meiner) 1968 ff. Band

Titel

Abk.

4 5 6 8 9 11

Jenaer kritische Schriften Schriften und Entwürfe (1799–1808)a Jenaer Systementwürfe I Jenaer Systementwürfe III Phänomenologie des Geistes Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13) Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817) Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Grundlinien der Philosophie des Rechts Vorlesungsmanuskripte I (1816–1831)b Vorlesungsmanuskripte II (1816–1831) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832)c Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1822 und 1825 Nachschriften zum Kolleg des Wintersemesters 1827/28 und Sekundäre Überlieferung Anhang Vorlesungen über die Philosophie des Rechts Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1817/18, 1818/19 und 1819/20

GW 4 GW 5 GW 6 GW 8 GW 9 GW 11

12 13 14,1 17 18 19 20 21 25 25,1 25,2 25,3 26 26,1

© koninklijke brill nv, leiden, 2018 | doi 10.1163/9789004363182_039

GW 12 GW 13 GW 14,1 GW 17 GW 18 GW 19 GW 20 GW 21 GW 25 GW 25,1 GW 25,2 GW 25,3 GW 26 GW 26,1

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Primärtexte von G.W.F. Hegel

Band

Titel

Abk.

26,2

Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1821/22 und 1822/23 Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1824/25 und 1831 Anhang Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie

GW 26,2

26,3 26,4 30

GW 26,3 GW 26,4 GW 30

a Auch: Hegel, G.W.F., System der Sittlichkeit (Critik des Fichteschen Naturrechts), hg. v. H. Brandt, Hamburg (Felix Meiner) 2002. b Auch: Hegel, G.W.F., Berliner Schriften (1818–1831), hg. v. W. Jaeschke, Hamburg (Felix Meiner) 1997. c Auch: Hegel, G.W.F., Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), hg. v. H.-J. Gawoll, Hamburg (Felix Meiner) 2008.

II. Werke in 20 Bänden: Theorie-Werkausgabe, hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986 Band

Titel

Abk.

1 2 3 4 5 6 7 10 11 12 17 18

Frühe Schriften Jenaer Schriften 1801–1807 Phänomenologie des Geistes Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817 Wissenschaft der Logik I Wissenschaft der Logik II Grundlinien der Philosophie des Rechts Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III Berliner Schriften 1818–1831 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Vorlesungen über die Philosophie der Religion II Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III

Werke 1 Werke 2 Werke 3 Werke 4 Werke 5 Werke 6 Werke 7 Werke 10 Werke 11 Werke 12 Werke 17 Werke 18

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Primärtexte von G.W.F. Hegel

III. Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg (Felix Meiner) 1983 ff. Band

Titel

Abk.

1

Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18. Mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19 Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von H.G. Hotho Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Teil 1. Einleitung. Der Begriff der Religion Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, 1. Teil 2,1. Die bestimmte Religion Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, 2. Teil 2,2. Die bestimmte Religion Vorlesungen über die Philosophie der Religion III. Teil 3. Die vollendete Religion Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Teil 1. Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Orientalische Philosophie Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. Teil 2. Griechische Philosophie. I. Thales bis Kyniker Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Teil 3. Griechische Philosophie. II. Plato bis Proklos Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie IV. Teil 4. Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23. Nachschriften von Karl Gustav Julius von Griesheim, Heinrich Gustav Hotho und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler

Vorlesungen 1

2 3 4,1 4,2 5 6 7 8 9 12

Vorlesungen 2 Vorlesungen 3 Vorlesungen 4,1 Vorlesungen 4,2 Vorlesungen 5 Vorlesungen 6 Vorlesungen 7 Vorlesungen 8 Vorlesungen 9 Vorlesungen 12

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Primärtexte von G.W.F. Hegel

IV. Andere Werke und Textausgaben Titel

Abk.

Briefe von und an Hegel, Bd. 1: (1785–1812), hg. v. J. Hoffmeister u. F. Nicolin, Hamburg (Felix Meiner) 1969 ff. Sämtliche Werke: Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hg. v. H. Glockner., Stuttgart-Bad Cannstatt (FrommannHolzboog) 1953 ff. Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil. hg. v. R. Bubner, Stuttgart (Reclam) 1971 Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826. Mitschrift von der Pfordten, hg. v. A. Gethmann-Siefert u.a., Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2004 Philosophie der Kunst oder Ästhetik (Berlin 1826), hg. v. A. Gethmann-Siefert u.a., München (Wilhelm Fink) 2004 System der Sittlichkeit, in: Frühe politische Systeme, hg. v. G. Göhler, Frankfurt am Main (Ullstein) 1974 Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hg. v. D. Henrich, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983 Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1: Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg (Felix Meiner) 1955 Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Bd. 4, hg. v. K.-H. Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt (FrommannHolzboog) 1974 Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Nebst einer Schrift über die Beweise vom Daseyn Gottes. Zweiter Theil, hg. v. P. Marheineke, Berlin (Duncker & Humblot) 1840. „Hegels Notizen zum absoluten Geist. Eingeleitet und herausgegeben von Helmut Schneider“, in: HegelStudien, 9 (1974), 9–38. „Eine Nachschrift der Vorlesung Hegels über Ästhetik im Wintersemester 1820/21“, hg. v. H. Schneider, in: Hegel-Studien 26, 1991, 89–92.

Briefe 1 Glockner + Bd.Num. Hegel/Bubner 1971 Hegel/GethmannSiefert 2004a Hegel/GethmannSiefert 2004b Hegel/Göhler 1974 Hegel/Henrich 1983 Hegel/Hoffmeister 1955 Hegel/Ilting 1974 Hegel/Marheineke 1840 Hegel/Schneider 1974 Hegel/Schneider 1991

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Primärtexte von G.W.F. Hegel

Titel

Abk.

Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, in: Sämtliche Werke: Kritische Ausgabe, Bd. 18, hg. v. G. Lasson u. J. Hoffmeister, 20 Bd., Meiner Verlag, Leipzig 1911, Hamburg nach 1951 (SW 18)

SW 18

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Register Ästhetik 148, 155, 192, 392, 401, 430–455, 486, 487, 500, 504, 505, 514, 519, 520, 541, 668, 800, 823, 839 Affektion, sinnliche 861, 866 Allgemeingültigkeit 103, 326, 339, 346 Anerkennung 61, 77, 85, 123, 129–132, 154, 160, 163, 171, 172, 179, 183–186, 197–199, 209, 220, 232, 264–265, 299, 302–305, 310–311, 317–330, 336, 342, 346–350, 375, 381, 534, 538, 548, 549, 557, 577, 613, 617, 625, 629, 692, 777, 778, 797, 808, 817, 818, 828 Anerkennung, gegenseitige 330, 577 Anerkennung, Kampf um 171, 181, 184, 187, 188, 209, 311, 327, 613, 625 Anschauung 37, 72, 152, 280, 291, 319, 337, 385, 386, 434–437, 440, 443, 453, 460–479, 501, 515, 595, 637, 662, 671, 682, 684, 788, 800–804, 823, 829, 873–878 An-sich-Sein 84, 88, 101, 103–106, 110–112, 115–118, 151, 337, 540 Antigone 109, 110, 191–200, 206–212, 518, 565, 726 Antike 113, 153, 201, 284, 401, 453, 458, 476, 482, 483, 490, 494–499, 567, 663, 723, 725, 744–746, 764, 868 An-und-für-sich-Sein 60, 116, 332 Arbeit 59, 61, 85, 89–92, 145, 155, 316, 324, 325, 487, 489, 510, 511, 635, 692, 696, 709, 712–716, 824, 890–892 Arbeit des Künstlers 468, 471, 473, 488 Arbeitsteilung 505, 508, 510, 516, 521, 780 Aristoteles 137–141, 145, 151–156, 212, 235–239, 532, 551, 602, 607, 662, 749–755, 760–762, 770–780, 808–813 Ausdruck, indexikalischer 364 Autonomie 87, 220, 264, 275, 290, 301, 305, 477, 478, 495, 620, 621, 676, 704, 705, 762, 788 Bacon, Francis 105, 745, 758–780 Baum des Wissens 744, 745, 758, 768, 774, 780, 782

Bedürfnis 89, 134, 211, 223, 247, 248, 331, 339, 476, 487, 493, 501–509, 525, 552, 572, 630, 682, 686, 696, 743, 754, 765 Bedürfnis der Philosophie 682 Begriffslogik/begriffslogisch 365–369, 543 Behaviorismus 800, 802, 808 Bewusstsein, sinnliches 853, 864, 889 Bewusstsein(s), Umkehr/Umkehrung des  102, 104 Bewusstsein, unglückliches 69, 75, 634, 672, 697 Bildung 30, 45, 90, 92–95, 106, 147, 181, 201, 214, 218–225, 231, 246, 247, 260, 264, 268, 291, 319, 326, 327, 331–338, 372, 415, 479, 481–503, 552, 590–592, 625, 626, 677, 685, 689, 692, 714, 729, 738, 751, 758, 872–893 Bildung, formelle 497–498, 503, 590 Bildung, Reich der 83, 88, 89, 94, 689 Bonaventura 754–756 Brandom, Robert 102, 104, 365, 399, 811, 819, 824 Buchstabe 269, 303, 430, 431, 724 Burge, Tyler 859, 860 Christentum 64, 67, 96, 137, 201, 259–271, 296–301, 304, 309–322, 328, 329, 336, 371, 381, 387, 439, 440, 476, 496, 504, 530, 534–536, 545–549, 569–577, 645, 672–691, 702, 714, 717, 725, 779, 813 Comic 526 Comte, August 772, 779–782 D’Alembert, Jean Le Rond 758, 761, 767–881 Denken, negatives vs. positives 360 Descartes, René 157, 355–359, 369, 745, 764, 765, 771, 799–803, 809, 811, 818 Destruktion 103, 118, 784, 797 Dialektik 36, 105, 117, 131, 151, 171, 206, 209, 325, 327, 330, 333–334, 340, 342, 350, 375, 407, 479, 489, 491, 601, 624–628, 638, 707, 716, 723, 726, 748–753, 775, 867 Diamond, Cora 829–830 Dimensionen des Geistes 463

928 Dualismus 31, 32, 141, 214, 277, 280, 282, 285, 293, 614 Dynamik 57–58, 158, 169, 171, 175–185, 188, 189, 283, 317, 319, 481, 562, 726, 743 Einheit, gottmenschliche 363–365, 445 Einstellung, propositionale 853, 854 Empirismus 101, 383, 387, 616, 772, 773, 799, 801, 802, 808–811, 819 Endliche(s), ein/das 74, 136, 266, 292, 444, 489, 531, 536, 537, 546, 547, 600, 623, 627, 630, 640, 657, 706, 715, 823 Endlichkeit 36, 52, 68–70, 73, 83, 114, 124, 126, 134–136, 168, 169, 172, 173, 261–263, 292, 298, 334, 434, 444, 445, 455, 467, 470, 489, 523, 532, 534, 576, 594, 600, 602, 622, 626, 634, 639, 640, 658, 659, 654–656, 669, 671, 687, 809, 811 Endzweck 155, 239, 421, 425, 620, 687, 693–696, 699, 700, 704–707, 711, 747 Entfremdung 62, 63, 113, 201, 543, 551, 676, 678 Entscheidung 87, 125, 128, 218, 294, 344, 447, 481, 491, 525, 554, 646, 750 Erfahrung 36, 59–66, 70, 78, 79, 100, 103, 104, 107–113, 136, 179, 187, 194, 198–201, 213–219, 225, 270, 377, 380, 453, 483, 484, 489, 490, 493, 510, 531, 572, 577, 690–692, 734, 735, 739, 772, 774, 800, 805, 835, 841, 857, 875, 878–883, 890 Erkenntnis, absolute 849, 853, 871 Erkenntnis, empirische 818, 823, 834, 835, 837, 853, 857, 871 Erkenntnis, praktische 31, 830, 834–837, 850, 857 Erkenntnis, theoretische 243, 531 Erkenntnistheorie 101, 183, 185, 746, 767, 784, 787, 798, 801, 811, 814 Eschatologie 504, 506 Evolution 180, 188, 743, 775 Existenz 30, 44, 45, 71, 73, 103, 108, 136, 137, 163, 173, 218, 223, 224, 226, 239, 249, 266, 292, 295, 302, 305, 315, 322, 324, 334, 339, 365–368, 371, 381, 385, 456, 467, 493, 501, 504, 509, 519, 531, 542, 554–558, 561, 563, 564, 572–574, 583, 622–625, 631, 635, 671, 710, 715, 745, 748, 752, 769, 780, 800, 802, 812 Existenz, besondere 305, 554, 561, 563

Register Faktizität 117, 168, 180, 185, 188 Falk, Hans-Peter 851, 852 Familie 58, 61, 62, 86–88, 94, 97, 102, 108, 109, 123, 139, 147–149, 152–156, 165, 166, 173–178, 182, 193, 200, 204, 221, 222, 225, 229, 231, 255, 257, 271, 275, 287, 301, 326, 334, 435, 538, 551–558, 561–564, 572, 575, 644, 660, 697, 726, 732, 733, 743, 755, 778 Ferguson, Adam 724, 732 Fichte, Johann Gottlieb 28, 35, 98, 101, 109, 128, 168, 185, 308, 361, 368, 393, 482, 520, 552, 600, 602, 648, 715, 721–726, 784, 790, 791, 818 Finitismus (des Geistes) 27, 29, 32, 33 Form (und Inhalt) 134, 136, 467, 469–472, 476, 478, 492, 543, 623, 636 Fortschritt (advancement) 41, 155, 171, 179, 181, 207, 209, 302, 337, 348, 419, 420, 422, 428, 447, 469, 526, 687, 693, 709, 711, 712, 731, 734, 758, 759, 763, 780, 838 Frankfurter Schule 81, 530 Frege, Gottlob 367, 775, 777, 828, 829, 853, 858 Freiheit, absolute 62, 74, 77, 84, 88, 95, 109, 110, 684 Freiheit, konkrete 253, 255, 258, 263–267, 270, 271 Freiheit, praktische 214–216, 220, 226 Freiheit, wirkliche 92, 347 Für-es-Sein 103, 104, 105, 115, 118 Für-sich-Sein 35, 88, 105, 106, 111, 540, 541, 791, 891 Fundamentalismus 233, 829 Furcht (des Todes) 115, 576, 639, 640, 656, 657, 695 Gebrauchswert 89, 90 Gefühl 37, 62, 149, 217, 227, 231, 232, 280, 291, 311, 331, 501, 531, 555, 556, 561, 573, 574, 661, 671, 693, 745, 764 Gefühlstotalität 556, 560 Gegenständlichkeit 63, 65, 67, 73, 74, 139, 400, 402, 405, 736, 737, 823 Gegenwart (presence/present) 36, 41, 43, 116, 225, 286, 287, 295, 416–418, 424–428, 494, 495, 509, 513, 519, 525, 535, 536, 600–605, 619, 622, 623,

Register 627–629, 632, 634–640, 661, 666, 713, 738, 801, 810, 816, 817 Geist, absoluter (absolute spirit) 25, 28, 34, 50, 57–60, 71, 76, 77, 82, 134, 135, 141, 145, 150, 189, 190, 207, 211, 227, 231, 234, 235, 272, 274, 281, 355, 357, 361, 381, 385–393, 397, 399–410, 413–418, 421–428, 434, 437, 453, 455, 459, 460, 463, 469, 470, 472, 478, 530, 540, 566, 581, 587, 595, 643–651, 655–669, 671, 673–675, 683–685, 692, 696, 706, 714, 716, 720, 726–731, 736, 737, 830, 831 Geist, entfremdeter 110, 111, 685, 729 Geist, freier 285, 386, 647, 658, 706 Geist, objektiver (objective spirit) 28, 34, 50, 115, 119, 127, 151, 160, 161, 169, 189, 207, 231, 234, 235, 238, 281, 286, 335, 351, 385, 386, 387, 413, 414, 420–422, 425, 429, 455, 457, 478, 479, 521–523, 538, 558, 560, 581, 587, 595, 643, 647, 656–661, 667–669, 695, 696, 714, 716, 729, 735–737 Geist, praktischer 139, 150, 368, 377, 379, 382, 558, 730 Geist, subjektiver (subjective spirit) 34, 37, 41, 50, 51, 81, 139, 145, 147–150, 161, 166, 167, 189, 213–216, 220, 235, 281, 304, 386, 429, 432, 435, 458, 463, 478, 483, 485, 505, 538, 550, 554, 555, 560, 561, 568, 547, 587, 668, 669, 729, 736 Geist, theoretischer 139, 558 Geisteswissenschaft 759, 760, 766, 779, 782, 806, 807 Geistphilosophie (philosophy of mind) 99, 149, 807, 810 Geltung 63, 92, 109, 112, 115, 118, 157, 165, 174, 177, 178, 181, 185–189, 256, 337, 379, 384, 437, 530, 563, 582, 644, 646, 660, 727, 746, 853, 855, 858–863, 869, 875, 882 Gemeinde 48, 76–78, 234, 255, 276, 309, 315, 319, 321, 327, 329, 430, 446, 535–539, 674, 677, 679, 687, 690–692, 709, 714 Gemeinschaft 81, 85–89, 129–131, 146, 148, 165–167, 173, 175, 176, 189, 199, 200, 218, 221–224, 227–230, 308–312, 315–325, 328, 329, 333, 351, 492, 495, 498, 500, 512, 538, 561, 615–617, 622, 624, 652, 655, 656, 661, 689, 693, 698, 725–727

929 Gemüt 279, 305, 487, 488, 491, 515, 554, 556, 559–562, 568–571, 724, 806, 807, 810, 814 Gerechtigkeit 116, 117, 152, 164, 191, 192–211, 228, 229, 268, 291, 300, 301, 308, 309, 316, 317, 327–329, 446, 515, 671, 857 Geschichte 645, 676, 817, 799 Geschichtlichkeit (historicity) 28, 161, 175, 326, 413, 420, 448, 541, 553, 720, 722, 736 Geschichtsbewusstsein 180 Geschichtshaftigkeit 158, 159, 179, 181, 188 Gesellschaft, bürgerliche 58, 86–89, 92, 93, 145, 147, 153–156, 165, 171, 173, 176–178, 204, 205, 221, 222, 225, 242, 248, 255–257, 267, 269, 271, 275, 279, 287, 301, 306, 316, 334, 342, 343, 350, 435, 479, 486, 499, 516, 538, 586, 618, 626, 631–634, 644, 678, 731, 733, 739, 778 Gesellschaft, multikulturelle 82, 335–340, 352 Gesetz, göttliches 194, 295, 405 Gesetz, menschliches 194, 405 Gesichtspunkt, endlicher 234, 245, 249 Gesinnung, moralische 511, 708 Gesinnung, sittliche 110, 268, 269, 331, 562–565, 705, 706 Gewalt, gesetzgebende 93, 97, 254 Gewissen 59–64, 68–70, 73, 74, 83–86, 91–97, 111, 112, 128, 130, 140, 175, 257, 266–272, 297, 300, 303, 304, 310, 400, 472, 539, 622, 628, 673, 688, 690, 691, 696–701, 704, 705 Gewissensfreiheit 704 Gewohnheit 163, 174, 187, 213–227, 231, 232, 487 Glauben 28, 49, 50, 62, 88, 101, 285, 298, 300, 304, 305, 313, 314, 329, 430, 453, 460, 469, 472, 491, 530–535, 545, 547, 570, 573, 674, 681, 689, 691, 706, 760, 776, 779, 790, 802, 804, 806, 809, 815, 872, 884, 885 Glück 207, 235, 246, 247, 249, 445, 687, 688, 693, 694 Glückseligkeit 95, 274, 558, 559, 752 Göschel-Rezension 375, 379 Götterbild 94, 195 Gottesbeweis 42–44, 135–137, 285, 373, 377, 381, 384, 658 Gotteslehre 532

930 Gute, das 84, 88, 97, 125, 154, 156, 301, 351, 603, 611, 615–617, 632, 699, 706, 857 Gut, höchstes 838 Habermas, Jürgen 28, 29, 32–36, 39, 45, 81, 102, 106, 107, 145, 334, 336, 389, 401, 825 Handeln, heroisches 203, 495, 505, 515–519, 522–526 Handlung, sittliche 131, 194, 195 Handlungstheorie 102, 125 Heroenrecht 170, 171 Herr 88, 93, 247, 298, 445, 489, 681, 683 Hotho, Heinrich Gustav 279, 281, 291, 296, 433, 437, 440–442, 447–452, 484 Humanus 446, 497 Ich, das 35, 67, 68, 72, 77, 101, 105, 107, 108, 113, 118, 124, 129, 130, 146, 220, 325, 358, 360, 368, 374, 376, 379, 436, 531, 537–540, 546, 555, 601, 602, 608, 611, 612, 617, 620, 622, 627, 631, 632, 640, 679, 685, 695, 728, 843, 855, 856, 864 Ideal, ästhetisches 442, 443, 513, 517, 518, 522, 523 Ideal, transzendentales 135 Idealismus, absoluter 389, 601 Idealismus, Deutscher 479, 482, 484, 512, 552, 773, 818 Idealismus, objektiver 102, 808 Idealismus, subjektiver 634, 801, 812, 818, 820 Idealismus, transzendentaler 108, 620 Idee (der Philosophie) 101, 124, 137, 140, 458–460, 463, 785 Idee (des ewigen Friedens) 688, 706 Idee, absolute 32, 34, 35, 46, 47, 51, 138, 155, 263, 343, 434, 456, 459, 460, 542, 544, 608, 647, 662, 664, 668–670, 709, 712–718 Identität 46–48, 131, 136, 138, 180–182, 189, 220, 228, 238, 249, 272, 232, 315, 322–328, 392, 395–397, 409, 434, 463, 468, 541–543, 562, 573, 574, 602, 608, 611–615, 621, 627–629, 632, 640, 653, 654, 682, 683, 695, 704, 716, 723, 738, 873 Imperativ, kategorischer 90, 92, 341, 346, 614, 698, 703, 705, 708 Inhabitanz 213, 215, 225–231 Inklusion 181, 182

Register Jenseits 79, 86, 103, 277, 436, 465, 491, 535, 547, 638, 685, 691, 692, 706, 733 Kammerdiener 111, 699 Kant, Immanuel 42, 72, 91, 95, 96, 98, 109, 117, 125–128, 145, 149, 152, 155–158, 215, 227, 285, 291, 308, 326, 346, 356–363, 368, 378, 408, 425, 462, 474, 481, 489, 501, 510–513, 529–533, 559, 602, 603, 614, 617, 622, 679, 689, 699, 703–708, 713, 715, 721–726, 735, 753, 773–777, 784–807, 811, 813, 818, 828, 829, 856, 872–885, 889 Kant-Kritik (Hegels) 785–789, 793, 796, 797 Karfreitag, spekulativer 530–536, 544 Knecht 85, 92, 489, 692 Kognitionstheorie 802, 810, 811, 814 Kollegnachschriften 433, 447–449 Konflikt 129, 134, 192–197, 200, 201, 204, 205, 209, 210, 271–273, 294, 320, 324, 327, 394, 396, 400–402, 407, 476, 494, 507, 515, 518, 530, 553, 565, 661, 688, 726, 763 Konkurrenz 30, 89, 839 Korporation 91–93, 96, 97, 155, 309, 316–320, 520, 626 Krise (crisis) 116, 182, 215, 232, 242, 413–429, 566 Kulturstaat 182 Kunst, Ende der 242, 392, 403, 438, 448, 497, 572, 851 Kunstform, klassische 401, 443, 444, 475 Kunstschöne, das 434–445, 450, 451, 474 Lebensphilosophie 159, 161 Lebenswelt 159, 161, 169, 188, 234, 549, 552, 555, 560–565, 571–576, 665, 666, 799 Leidenschaft 203, 206, 207, 277, 494, 558, 568–571, 693–699, 702, 703, 712, 768, 780 Liebe 87, 137, 152, 193, 203, 224, 258, 265, 319, 420, 493, 517, 543, 548–577, 605, 606, 614, 638, 670, 676–678, 723 Liebe Gottes 137, 258, 319, 543, 670 Lull, Ramon 754–757, 769 Logik, formale 363, 776 Logik, spekulative 42, 43, 363 Logik, Wissenschaft der 50, 202, 432, 435, 442, 462, 466, 484, 543, 602, 603, 608, 616, 633, 635, 710, 718, 776

931

Register Markt 89, 92, 94, 97, 173, 256, 316–319 Marxismus 28, 520 Marx, Karl 81, 158, 159, 432, 602, 667, 710, 716, 718, Materialismus 389, 390, 410, 753, 802 McDowell, John 115, 116, 213, 361, 383, 389, 405, 603, 615, 616, 855, 872–877, 881–884 Melancholie 61, 71, 505, 526, 552 Menschenrechte 81, 191, 192, 208–211, 308, 309, 323–328, 503 Menschwerdung (Gottes) 73, 137, 298, 299, 328, 477, 496, 535, 536, 540, 543, 544, 783 Mentalismus 798 Metaphysik 29, 31, 70, 78, 106, 114, 119, 138, 159, 160, 235, 238, 239, 258, 378, 389, 390, 401, 410, 436, 514, 521, 547, 549, 602, 607, 614, 679–682, 685, 706, 728, 750–755, 760–766, 769–776, 799, 810 Metaphysikkritik 784, 802, 811, 812, 817, 820 Mill, John Stuart 344–346, 350, 756 Millenarismus 511–514, 519, 520, 526 Monarch 93, 323 Monarchie 147, 267, 323, 549 Monismus 31, 32, 167, 293, 372, 597 Montesquieu, Charles Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 146, 509, 510, 521, 675, 720, 722, 724, 778 Moralität 58, 62, 74, 83–85, 107, 109, 111, 125, 129–132, 145–153, 166, 170, 171, 179, 184, 189, 198, 204, 213, 234–238, 291, 333, 339–342, 346–348, 351, 386, 387, 435, 510, 519, 539–541, 557, 566, 585, 652, 676, 677, 685, 688–692, 698–700, 705, 708, 729, 730, 764, 778, 788–791 Moralphilosophie 125, 145, 150–153, 227, 755, 757, 763, 774, 789, 790, 793 Mutterliebe 446, 569, 570 Mythologie 454, 490, 512, 727, 815–817 Natur, zweite 85, 173, 214, 222, 226, 231, 232, 322, 386, 872–876 Naturalismus 116, 213, 223, 224, 624, 798, 799, 802, 803, 808, 811, 820 Naturrechtsaufsatz 284, 293, 533, 790–793 Naturwissenschaft 28, 32, 33, 183, 185, 624, 750, 753, 759–762, 765, 766, 771, 775 Negativität 48, 61–63, 66–70, 75, 78, 350, 381, 385, 408, 465, 467, 473, 536, 537, 542–547, 570, 695, 696

Negativität, absolute 48, 62, 75, 350, 695 Negativität, Überwindung der 696 Normativität 117, 161, 162, 165, 166, 179, 180–186, 189, 334, 562, 775, 782 Ökonomie 117, 147, 169, 549, 746, 751, 755, 766, 771, 778 Offenbarung 38, 44, 47, 51, 53, 70, 71, 124, 137, 258, 263, 264, 286, 290, 292, 295, 300, 338, 430, 460, 535, 543, 544, 630, 655, 737, 738, 759, 762, 768–770, 776 Onto-Theo-Logie 809 Panlogismus 138, 160, 186, 199 Parlament 97, 734 Patriotismus 93, 97, 509 Person, erste 854 Philologie 430, 431, 448, 771 Philosophiegeschichte 635, 636, 665, 786, 787 Philosophie, praktische 91, 154, 239, 613, 725, 748–751, 754, 785, 788, 789 Philosophie, Verwirklichung der 710 Physikalismus 812 Platon 239, 257, 383, 468, 473, 474, 638, 749, 761, 771, 777, 811, 813 Pluralität 161, 163, 169, 186, 195, 196, 265, 296, 305–307, 497, 500, 727 Poiesis 74, 418, 425, 750, 752 Polis 61, 87–89, 94, 109, 147, 154, 192, 197–200, 257, 258, 266, 284, 468, 697, 725, 733 Politik (politics) 117, 151, 191, 192, 202, 204, 207, 234, 242–246, 268, 279, 309–313, 317, 319, 328–330, 424, 561, 681, 699, 738, 750, 751, 755, 761, 766 Prinzip (der Freiheit) 210, 322, 564, 715 Prinzip (der Innerlichkeit) 568 Prinzip (der Subjektivität) 256 Prinzipienkritik 784 Privatrecht 146–148, 576 Proposition/propositional 356, 658, 771, 853–855 Rawls, John 209, 332, 339, 340, 343–350 Realismus 32, 509, 798–802, 808, 857 Recht, öffentliches 145, 150, 152 Rechtspflege 90–95, 155, 316, 350, 586, 648, 734 Rechtszustand 110, 198, 332, 346, 672, 689, 697

932 Regierungsgewalt 93, 254, 255 Reich (der Bildung) 88, 89, 94, 689 Reich (der Zwecke) 95, 513, 689, 704 Reich (Gottes) 307, 511, 512, 514, 709 Reich, römisches 45, 83, 87, 89, 109, 110, 147, 180, 182, 187, 189, 198, 273, 534, 585, 653, 693, 697 Reich, welthistorisches 180, 181, 423, 735 Reichtum 155, 195, 238, 239, 284, 541, 568, 569, 571 Religiosität 39, 48–50, 247, 285, 286, 312, 552, 560, 570, 657–660, 668, 674–682, 687, 688, 700, 738 Republik 507, 509, 676 Republikanismus 154, 308–310, 313, 315, 509, 510 Res cogitans 85, 356–359 Revolution, Französische 36, 88–90, 110, 113, 253, 302, 303, 507, 513 Rosenzweig, Franz 148, 149, 383, 387, 388, 639, 640 Rückkehr (aus der Natur) 390 Rückkehr (aus seinem Anderen) 404 Satz, spekulativer 57, 58, 68, 70, 136 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 98, 101, 105–108, 114, 168, 368, 373–383, 388, 393, 441, 482, 602, 682, 715, 723, 726, 727, 785, 817 Schicksal 36, 44, 68, 192, 197, 198, 201–204, 207–211, 677–680, 692, 694, 697, 699 Schmerz 436, 444, 445, 467, 474, 531–533, 544, 546, 559, 570, 576, 621, 622, 687, 695 Schuld 110, 112, 127, 153, 198, 201, 207, 502, 519, 618, 700, 726 Seele, schöne 76–78, 130, 677, 690, 699 Selbst, drittes 83, 84, 91, 92 Selbst, erstes 83, 88, 92, 94, 96 Selbst, zweites 83, 84, 90–96 Selbständigkeit 70, 128, 132, 175, 206, 220, 256, 325, 395, 406, 446, 515–519, 522–526, 537, 682, 690, 888 Selbstbefragung, kritische 409, 410 Selbstbegrenzung 118, 406–409 Selbstbestimmung 128, 147, 164, 166, 181, 188, 219, 220, 228, 254, 272, 406, 407, 479, 485, 555, 557, 564, 609–612, 827, 828, 831, 832, 836–840, 843–846, 891

Register Selbstbewegung 391, 392, 397–400, 404–409 Selbstbewusstsein, allgemeines 328, 888 Selbstbewusstsein, heroisches 126, 153 Selbstbewusstsein, reines 370, 539 Selbstbeziehung 101, 105, 260, 535, 796 Selbstexplikativität (der Wirklichkeit)  793–796 Selbstgefühl 49, 218, 220, 557, 618 Selbstischkeit 555, 557 Selbstsucht 671, 694, 697 Selbstsüchtigkeit 694, 699, 707 Selbstverständigung 158, 184, 187, 390, 397, 399–405, 408, 649, 656–665 Selbstzweck 106, 155, 184, 246, 443, 518, 565, 589–593, 599, 688, 693, 700, 702 Seligkeit 139, 141, 274 Sinnlichkeit 71, 76, 94, 104, 383, 438, 459–461, 476, 478, 496, 559, 570, 571, 714, 799, 873–879, 882–885, 889, 890 Sittlichkeit, antike 45, 257, 729, 730 Sittlichkeit, moderne 203, 505, 518–526, 732, 738 Sittlichkeit, Standpunkt der 705, 788–790, 797 Skeptizismus 390, 408, 409, 629, 723, 856 Smith, Adam 724, 771 Sollen 222, 241, 707, 764, 777 Sozialontologie 161, 163, 188 Soziologie/soziologisch 169, 598, 604, 780–782 Spiritualismus 798, 808 Staat, ästhetischer 507, 512 Staat, moderner 82, 83, 97, 191, 203, 254–257, 263, 294, 306, 498, 516–518, 732, 738 Staat, moralischer 506–508, 511–513 Staat, politischer 730, 731 Staatsmacht 62, 108, 109, 192, 202, 272, 304, 673, 683 Strukturerrungenschaften 183 Subjekt, absolutes 380, 388, 546 Subjekt, endliches 48, 373, 381, 384–388 Subjektivität, Recht der 199, 258, 696, 704 Subjektivität, übergreifende 537, 546 Subjektivität, vertiefte 255–258, 266 Substantialität 53, 175, 238, 257, 284, 301, 312, 347, 464, 466, 515, 562, 563, 565, 734, 877, 890 Substanz, absolute 538, 669

Register Substanz, geistige 45, 48, 64, 283, 466, 657, 695–697 Substanz, sittliche 38, 40, 48, 49, 52, 87, 92, 153, 197, 199, 229, 265, 464, 652, 653, 685, 731, 736 Sünde 374–396, 380–382, 385, 387 System (der Bedürfnisse) 90–96, 155, 726, 733 System (der Sittlichkeit) 224, 314, 393–399 Systementwurf 102, 134, 149, 396–399, 539, 541, 683, 685, 721, 727, 728 Tathandlung 28, 35 Teleologie/teleologisch 42, 43, 44, 117, 127, 239, 262, 454, 762, 816 Terror 62, 68, 89, 90, 111 Theunissen, Michael 28, 77, 160, 410, 455, 457, 458, 477, 514, 543, 797, 825 Tod (Gottes) 79, 529–536, 544–547 Toleranz 82, 295, 335 Tragik/tragisch 66, 191, 192–199, 688 Tragische, das 192, 194 Tragödie 67, 73, 76, 109, 153, 192, 193–203, 209, 210, 245, 405, 476, 486, 493, 495, 524, 525, 533, 725, 726 Transzendentalphilosophie 78, 101, 108, 114, 602, 818 Tugendlehre 146, 152, 153 Überzeugung 82, 111, 127–130, 227, 303, 306 Unendliche(s), ein/das 42, 43, 52, 61, 75, 134–138, 282, 293, 320–322, 328, 434, 531, 532, 536, 547, 574, 600, 623, 630, 640, 678, 690–692, 706, 713, 714 Urteil 61, 73, 74, 80, 86, 127, 130, 179, 209, 447, 666, 670, 687, 689, 698–700, 704, 705, 776, 789, 827, 828, 834, 853, 854, 858, 860, 864–870 Urteilsakt 830–835, 862, 865 Verantwortung 104, 125–128, 132, 198, 215, 228, 246, 313, 320, 447, 500, 517, 519, 554, 563, 571, 577, 734, 856 Vereinigung 61, 66, 75, 133, 319, 340, 459, 463, 540, 548–553, 562, 574, 586, 633, 676–683, 690, 694–696, 708, 722, 736 Verfassung 202–207, 224, 225, 229–232, 254, 266–271, 285, 287, 292, 297, 300–302,

933 314, 323, 348, 349, 388, 535–538, 547, 586, 598, 676, 679, 682–686, 706, 727, 805, 814, 816 Vermittlung, absolute 478, 479 Vernunft, gesetzgebende 704 Vernunft, reine 531, 629, 773, 774, 802, 867 Versöhnung 50, 60, 112, 116, 134, 135, 197, 198, 203, 235, 263, 272, 304, 320, 321, 342, 423–428, 434, 446, 464, 475, 535, 539–550, 553, 600, 601, 624, 627–631, 637, 661, 668, 673–678, 682–686, 690–692, 709, 722, 723 Vertrauen 35, 36, 214, 224, 227–231, 393, 394, 452, 486, 500, 534, 697 Verweltlichung (Gottes) 514 Vico, Giambattista 765, 766, 771, 778 Wahre, das 102, 238, 266, 287, 315, 324, 347, 359, 391, 456, 593, 618, 635 Wahrnehmung 61, 325, 369, 404, 603, 756, 763, 767, 801, 808, 814, 829, 830, 860, 861, 867–869, 885, 886 Welt, innere 555, 559, 560, 571, 680 Welt, römische siehe Reich, römisches Welt, sittliche 43, 109, 110, 285, 534, 582, 708, 729 Weltbild 22, 482, 786, 797, 799 Weltgeist 36, 41, 42, 46, 171, 179, 191, 205, 207, 230, 236, 292, 325, 327, 435, 566, 672, 685, 687, 692, 697–702, 736, 808 Weltgericht 147, 171, 192, 205, 207, 208, 326, 327, 420, 426, 436, 687, 694, 698, 700, 703–707, 735 Wende, Kopernikanische 818 Wesenslogik 365 Western-Film 526 Wille 33, 106, 110–112, 125, 128, 129, 139, 149, 152, 153, 196, 205, 216, 247, 286, 288, 307, 335, 340–342, 376–378, 388, 582, 618, 621, 647, 652, 661, 669, 683, 695, 698, 699, 701, 704, 712, 890 Wille, allgemeiner 112, 288, 340–342, 683 Wille, besonderer 341 Wille, böser 196 Wille, freier 582, 621, 647, 652, 661, 669, 712 Wille, göttlicher 286, 335 Wille, guter 205, 698, 699 Wille, subjektiver 152, 701, 704, 890

934 Wissen, absolutes 58, 73, 95, 114, 230, 337, 391, 392, 402, 405–409, 539, 540, 543, 616, 629, 685, 688, 692, 729, 736, 812 Wissen, erscheinendes 101, 104, 106 Wissen, philosophisches 106, 112, 272, 536, 635, 673

Register Zeitalter 336, 401, 495, 499, 518, 524, 526, 530, 545, 597, 715 Zeit, posthistorische 255–235, 240–248 Zivilgesellschaft 179, 182, 732, 733 Zurechenbarkeit 125–127, 132, 165 Zutrauen 49, 184, 224, 525, 526, 586