Liebe und Konsum: Ästhetik und Poetik eines Zusammenhangs in Romanen der Moderne und Postmoderne 9783839446232

Love and capitalism - these don't square! Or do they? On the relationship between two formative phenomena of (post-

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German Pages 372 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Dank
I. Einleitung: »… noch einmal von Liebe zu reden.«
II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven
III. Orte: Warenhaus und Supermarkt
IV. Objekte: Fetische und Fiktionswerte
V. Medien: Die Persistenz des Codes
VI. Kein Ende in Sicht: Liebe und Konsum als condition postmoderne
Literaturverzeichnis
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Liebe und Konsum: Ästhetik und Poetik eines Zusammenhangs in Romanen der Moderne und Postmoderne
 9783839446232

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Annemarie Opp Liebe und Konsum

Konsumästhetik  | Band 4

Die Reihe wird herausgegeben von Moritz Baßler, Heinz Drügh, Birgit Richard und Wolfgang Ullrich.

Annemarie Opp (Dr. phil.), geb. 1983, studierte Germanistik, Philosophie und Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Bayreuth, Hobart (Australien) und Frankfurt a.M. Sie promovierte 2018 an der Goethe-Universität Frankfurt im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft.

Annemarie Opp

Liebe und Konsum Ästhetik und Poetik eines Zusammenhangs in Romanen der Moderne und Postmoderne

Diese Arbeit wurde als Dissertation am Fachbereich 10 | Neuere Philologien der Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereicht und verteidigt. Die Promotion wurde von der Volkswagenstiftung gefördert und entstand im Rahmen des Forschungsverbundprojekts »Konsumästhetik – Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. D.30 © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4623-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4623-2 https://doi.org/10.14361/9783839446232 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Meinen Eltern

Inhalt

Dank  | 11 I. Einleitung: »… noch einmal von Liebe zu reden.«  | 13 1. Liebe und Konsum: Wahlverwandtschaften | 13 2. Forschungsstand | 19 3. Orte – Objekte – Medien: Struktur und Textauswahl  | 23

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven  | 31 1. Romantische Ideale: Die romantische Ethik und der Geist des modernen Konsums | 31 1.1 ›Instinctivism‹, ›Manipulationism‹ und ›Veblenesque Theory‹: Konsum-Kultur-Revolution | 32 1.2 Moderner Konsum und Hedonismus | 36 1.3 Die Geburt des modernen Konsums aus der romantischen Ethik | 42 2. Romantische Praxen: Liebe in Zeiten des Kapitalismus | 51 2.1 Unwahrscheinlichkeiten: Liebe als Kommunikationscode | 51 2.2 Liebe – Konsum – Kapitalismus: Zusammenhänge, Paradoxien und Katalysen | 58 2.2.1 Die Romantisierung der Waren | 61 2.2.2 Die Verdinglichung der romantischen Liebe  | 66 2.2.3 Liebes-Konsum-Geschichten: Zur Fiktionalität von Liebe | 74 2.3 Fazit | 77 3. Romantische Dinge: Konsum und Fetischisierung | 79 3.1 Die Liebe der Dinge | 80 3.1.1 Transzendental-ökonomischer Fetischismus | 81 3.1.2 Warenfetischismus und Konsumkultur | 86 3.2 Von Menschen und Dingen: Habenwollen  | 92 3.2.1 Bedeutungstransfers zwischen Individuum, Welt und Konsumgütern | 92 3.2.2 Gebrauchs- und Fiktionswerte | 95 3.3 Fazit | 101

4. Schlussfolgerungen: Thematisch-formale Cluster des Zusammenhangs von Liebe und Konsum | 102

III. Orte: Warenhaus und Supermarkt  | 109 1. Émile Zola: Au Bonheur des Dames  | 111 1.1 Identitäten und Ambivalenzen: Liebe und Konsum um 1900 | 112 1.2 Identitätsangebote: Das Warenhaus als Verführungsanstalt | 120 1.3 Bedingungen und Möglichkeiten: Liebe als Ménage à trois | 127 1.3.1 Liebe auf den ersten Blick: Denise, Mouret und das Warenhaus | 129 1.3.2 Die Ménage à trois als Triumph von Liebe und Konsum | 137 2. David Wagner: Vier Äpfel  | 153 2.1 ›Markentreue‹ und ›Produktaffären‹: Der Supermarkt als Liebestopos | 154 2.1.1 Liebe im Supermarkt | 154 2.1.2 ›Queen of the Supermarket‹: L. | 165 2.2 Konsum-Texturen: Waren- und Deutungsangebote | 176 2.3 Die Verzauberung der Welt durch Zahlenpoetik: Liebe ist (k)ein Algorithmus | 185 3. Zusammenfassung | 196 Anmerkungen | 198

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswerte  | 207 1. F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby | 209 1.1 »[H]is Platonic conception of himself«: die Identitätskonstruktion Jay Gatsbys | 212 1.2 Die Inkarnation der Illusion Gatsbys: »The Golden Girl«  | 222 1.3 Die Tücke des Objekts: ›Green Lights‹ und ›Yellow Cars‹ | 227 1.4 Text-Konsum-Objekte | 239 2. Christoph Peters: Mitsukos Restaurant  | 242 2.1 Dilettantismus, Romantik und Fetischismus | 243 2.2 Essen als Liebesdiskurs | 252 2.3 Liebes-Objekte: Scheitern am Fetisch | 264 2.4 Poetischer Fetischismus | 276 3. Zusammenfassung | 281

V. Medien: Die Persistenz des Codes  | 285 1. Liebe und Konsum: Medienrealitäten  | 285 2. Digitale Liebe: Daniel Glattauers Gut gegen Nordwind  | 292 2.1 Vom Brief- zum E‑Mail-Roman | 292 2.2 Der Code schreibt sich fort: Romantische Liebe 2.0  | 297 2.2.1 Buchstaben-Liebe | 298 2.2.2 Präsenz in Absenz: Substitutive Körperlichkeiten | 307 2.2.3 Buchstaben-Identitäten | 316 3. Love Virtually | 323

VI. Kein Ende in Sicht: Liebe und Konsum als condition postmoderne  | 331 Literaturverzeichnis  | 347 1. 2. 3. 4.

Siglen | 347 Primärliteratur | 347 Sekundärliteratur | 351 Audio-visuelle Medien | 369

Dank

Die intensive Beschäftigung mit der Verbindung von Liebe und Konsum macht deutlich, dass das Leben aus lauter (Un-)Wahrscheinlichkeiten, Ambivalenzen und Möglichkeiten besteht – die Möglichkeit des Scheiterns immer mit eingerechnet. Dass dieses Dissertationsprojekt nicht gescheitert, sondern zum Erfolg geworden ist, verdanke ich den folgenden Personen. Mein erster Dank gilt Prof. Dr. Heinz Drügh, sowohl für die Möglichkeit, mich mit dem Thema Liebe und Konsum wissenschaftlich zu beschäftigen, als auch für die Betreuung der dabei entstandenen Arbeit. Ich danke ihm sehr für die fachliche Unterstützung wie die ebenso notwendige wissenschaftliche Freiheit und nicht zuletzt auch für die Einbindung in das spannende Forschungsfeld der Konsumästhetik. Für ihr Interesse und die Bereitschaft zur Begutachtung dieser Arbeit danke ich Prof. Dr. Susanne Komfort-Hein. Ebenso gilt mein Dank Prof. Dr. Moritz Baßler für die prompte Erstellung des Drittgutachtens. Zudem möchte ich ihm und den Mitgliedern des Forschungsverbundprojekts Konsumästhetik – Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen, in dessen Rahmen die Arbeit entstanden ist, herzlich für das stets wertvolle und konstruktive Feedback danken, aus dem sich fruchtbare, interdisziplinäre Synergieeffekte ergeben haben: Dr. Simon Bieling, Eleni Blechinger, Dr. Katja Gunkel, Melanie Horn, Prof. Dr. Birgit Richard, Prof. Dr. Wolfgang Ullrich und Antonia Wagner. In diesem Zusammenhang gilt mein Dank auch der Volkswagenstiftung, die das Projekt von 2013 bis 2016 gefördert hat. Für Anregungen, Hinweise, Kritik, Rat und unzählige, wertvolle Gespräche in allen akademischen wie außerakademischen Lebenslagen möchte ich außerdem herzlich danken: Dr. Claudia Bamberg, Dr. Marc Feldmeier, Prof. Dr. Julika Griem, Prof. Dr. Thomas Hecken, Dr. Katrin Henzel, Nina Holst, Kathrin Kazmaier, Ruth Knepel, Franziska Mader, Prof. Dr. Harald Neumeyer, Eric Schlegel, Anika Ullmann und Dr. Olivia Varwig. Mein ganz besonderer Dank gilt Alexander Melzer, der mir auf diesem Weg durch alle Höhen und Tiefen mit liebevoller Unterstützung immer zur Seite gestanden hat.

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Schließlich danke ich von Herzen meinen Eltern, Mary und Mario Opp, ohne die ich diesen Weg nicht hätte gehen können: für die Erweckung und Förderung meiner Liebe für das Lesen und die Literatur, für die bedingungslose Unterstützung während meiner Studiums- und Promotionszeit, für Rat und Tat in jeder Lebenssituation – herzlichsten Dank. Frankfurt, im Dezember 2018

I. Einleitung: »… noch einmal von Liebe zu reden.«

1. L iebe und K onsum : W ahlverwandtschaf ten ›Wahre Liebe lässt sich nicht kaufen‹ – so könnte der grundsätzliche, wenn auch etwas offensichtliche Einwand gegen eine Arbeit lauten, die sich die Untersuchung des Zusammenhangs von Liebe und Konsum auf die Fahnen geschrieben hat. Ursprung dieses Einwands ist eine trivial-romantische – und damit unzureichende – Auffassung von Liebe,1 die diese als letztes Residuum menschlicher Existenz abgrenzen möchte, das noch nicht von den Logiken des kapitalistischen Marktes beherrscht wird. Befreit man sich jedoch vom ›rosaroten Schleier‹ dieses Verständnisses, so wird klar, dass das Verhältnis von Liebe und Kapitalismus alles andere als derart einfach ist. Betrachtet man den Einwand zunächst näher, so stellt sich die Frage nach dem Wesen der Liebe, das als ›wahr‹ zu gelten hat. Diese Frage jedoch ist müßig, denn je nachdem, welche Disziplin man befragt, erhält man andere Antworten: Die Liebe wird wahlweise als Gottheit, als anthropologische Konstante, als biochemischer Cocktail, als Psychopathologie oder gern auch als das schlichtweg Unbestimmbare definiert.2 Dieser definitorischen Misere entgeht man nur 1 | Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997]. Frankfurt a.M. 1998, S. 346: Luhmann führt aus, dass das Liebeskonzept als romantisch bezeichnet wird, jedoch »ohne Kenntnis der Romantik«. Die Trennung von Liebe und Kapitalismus findet nach wie vor Zustimmung, so bspw. bei Luhmann selbst (ebd.), bei Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest. München 2002, S. 109, oder auch Susan Wolf: Introduction. In: Dies., Christopher Grau (Hg.): Understanding Love. Philosophy, Film, and Fiction. Oxford 2014, S. 3. 2 | Vgl. Elke Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit. Frankfurt a.M., New York 2005, S. 11-13; Stefan Neuhaus: Paarbildungen. Figurationen der Liebe in Gegenwartsliteratur und -film. In: Ders. (Hg.): Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft. Würzburg 2012, S. 273-292, S. 273f.

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Liebe und Konsum

dann, wenn man das Unterfangen, Liebe ontologisch fassen zu wollen, aufgibt.3 Daher legt diese Untersuchung dezidiert keinen Wert auf die Frage, was Liebe ist, und interessiert sich vielmehr dafür, wie Liebe kommuniziert und wie von ihr erzählt wird. Niklas Luhmann hat den bis dato brauchbarsten Ansatz dafür geliefert, indem er sich von jeglicher ontologischer Bestimmung abwendet und Liebe eben nicht als Gefühl, sondern als »Kommunikationscode«4 definiert, der unabhängig davon funktioniert, ob »faktisch lokalisierte[n] Qualitäten, Gefühle, Ursächlichkeiten«5 vorliegen oder nicht. Mit dieser Definition entkommt man dem analytisch unsicheren Terrain des psychischen Systems der betreffenden Personen und wendet sich stattdessen dem zu, was objektiv beobachtbar ist: die Kommunikation.6 Dieser Ansatz ist für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung von Liebe ungemein praktikabel, ist doch die literarische Verhandlung von Liebe stets eine Verhandlung von Liebe als Kommunikation.7 In der literaturwissenschaftlichen und soziologischen Liebesforschung herrscht überwiegend Einigkeit darüber, dass die romantische Liebe und der zugehörige Code ein Produkt der Literatur sind: »Liebe und Literatur scheinen zusammenzugehören. Ist die Liebe das favorisierte Thema literarischer Darstellungen, so war und ist die fiktive Liebesgeschichte oft Vorbild für die in der Realität Liebenden. […] Ohne Literatur keine Liebe, ohne Liebe keine Literatur.«8 Niels Werber spricht von der »Koevolution intimer und literarischer 3 | Vgl. Peter Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. Konstanz 2003, S. 18. 4 | Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität [1982]. Frankfurt a.M. 1994, S. 23. 5 | Ebd. 6 | Vgl. ebd., S. 76. 7 | Vgl. allgemein zum Zusammenhang von Systemtheorie und Literatur: Niels Werber (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Berlin, New York 2011; Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen 1993; Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992; vgl. zudem zur systemtheoretischen Untersuchung von Liebe in der Literatur: Elke Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft?; Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003; Christian Metz: Die Narratologie der Liebe. Achim von Arnims Gräfin Dolores. Berlin u.a. 2012. 8 | Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft, S. 14. Vgl. dazu auch: Hartmann Tyrell: Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer »quantitativen Bestimmtheit«. In: Dirk Baecker u.a. (Hg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1987, S. 570-599, S. 573; Oliver Jahraus: Liebe als Medienrealität. In: Stefan Neuhaus (Hg.): Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft. Würzburg 2012, S. 21-33, S. 21; Werber: Liebe als Roman, S. 10, 17f.;

I. Einleitung: »… noch einmal von Liebe zu reden.«

Kommunikation« seit dem 18.  Jahrhundert, weil im Roman »die Differenz von Kommunikation und Bewußtsein offen zutage« liegt und er damit den »unmittelbaren, unverstellten, transparenten Einblick in das Innere des Menschen«9 ermöglicht. Der Roman als Ursprungsort romantischer Liebe erweist sich somit als Analysegegenstand par excellence für die Untersuchung eben dieser Liebessemantik: »Der moderne Roman vermag also beides: Er bearbeitet die Unterscheidung psychischer und sozialer Systeme, die Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation oder auch die Differenz von Individualität und Rolle, und er setzt sich mit der Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation auseinander, die genau aus dieser Differenz resultiert.«10 Der Literatur scheint daher auch die Idealvorstellung einer Liebe zu entspringen, die vorgibt, von allen ökonomischen Zwängen frei zu sein. Die bedeutendste Veränderung des romantischen Liebescodes gegenüber den vorherigen Liebessemantiken ist die Höchstrelevanz genau eines Partners, womit die Wahl eben jener einzigartigen Person verbunden ist, für die kein anderes Kriterium als die Liebe selbst gelten darf: »Liebe um Liebe« definiert Luhmann in Anlehnung an Jean Paul die »Existenzformel«11 der romantischen Liebe. Diese Begründung in sich selbst bringt Belastungen mit sich, die die romantische Liebe durch die Ausstattung mit ›Latenzschutz‹ zu lösen sucht:12 Ist die Partnerwahl fast immer Zufall13 und bedingt durch Faktoren, die außerhalb der Liebe liegen, so hat die Liebe genau diesen Umstand zu verdecken, gar zu dementieren: Romantische Liebe muss, so Hartmann Tyrell, von den Logiken der Wahl, dem »Denken in Optionen und Alternativen, alle[m] Bewußtsein von Kosten und Nutzen, wie es den heutigen ›Marktdiskurs‹ über Intimbeziehungen und Partnerwahl so nachhaltig beherrscht«,14 ausgenommen sein. Ex negativo wird hier jedoch, entgegen der Argumentationsabsicht Tyrells, die Verbindung romantischer Liebe zur Ökonomie und zum Kapitalismus behauptet: Denn wenn es gilt, diese Verbindung zu verdecken, dann heißt das auch: Sie existiert. Rolf Haubl: Wahre Liebe kostet nichts? Erlebnisrationalität der romantischen Liebe. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2005), H. 1, S. 119-130, S. 119; vgl. zum Einsetzen des neuen Liebesmodells mit Goethes Die Leiden des jungen Werthers: Gerhard Neumann: Lektüren der Liebe. In: Ders., Heinrich Meier (Hg.): Über die Liebe. Ein Symposion. 3. Aufl. München 2008, S. 9-79, S. 9f. 9 | Werber: Liebe als Roman, S. 16. 10 | Ebd. 11 | Luhmann: Liebe als Passion, S. 175. 12 | Vgl. Niels Werber: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (1982). In: Oliver Jahraus, Armin Nassehi u.a (Hg.): Luhmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2012, S. 157-162, S. 162. 13 | Vgl. Luhmann: Liebe als Passion, S. 180. 14 | Hartmann Tyrell: Romantische Liebe, S. 593, Fußnote 5.

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So nimmt es wenig Wunder, dass ein dezidierter Zusammenhang von Liebe und Konsum in der soziologischen Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten herausgearbeitet wurde, der ganz bewusst nicht ausschließlich kulturkritisch argumentiert.15 Allen voran sind hier die Arbeiten Eva Illouz’ zu nennen,16 die mit Consuming the Romantic Utopia (1997) – in deutscher Übersetzung als Der Konsum der Romantik (2003) erschienen – eine einschlägige Studie zu diesem Zusammenhang vorgelegt hat, in der deutlich wird, dass Liebe und Konsum alles andere als Antipoden sind. Illouz weist im Gegenteil nach, »dass die Warenwelt und die Teilhabe am Freizeitmarkt die Liebesbeziehung mit Bedeutungen und Vergnügen versehen, die der Phänomenologie der romantischen Beziehung eher entsprechen als ihr feindlich gegenüberstehen.«17 Neben Illouz hat sich auch Daniel Miller in verschiedenen Arbeiten mit diesem Zusammenhang auseinandergesetzt. In A Theory of Shopping (1998) legt er anhand von ethnografischen Erhebungen dar, wie sich zwischenmenschliche Beziehungen, darunter eben auch Liebesbeziehungen, im alltäglichen Akt des Einkaufens im Supermarkt manifestieren können: Seine Befunde zeigen »how shoppers develop and imagine those social relationships which they most care about through the medium of selecting goods.«18 Er postuliert damit eine genuine Bedeutung des Konsums für familiäre Liebe und vice versa; 15 | In den kulturkritischen Beiträgen zu Kapitalismus und Konsum spielt das Thema Liebe immer mal wieder eine Rolle, so z.B. in Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus. Überarb. Neuauflage. Frankfurt a.M. 2009, S. 33-36, 112-121; Zygmunt Bauman: Consuming Life. Cambridge 2007; Arlie Russell Hochschild: The Commercialization of Intimate Life. Notes from Home and Work. Berkeley, London u.a. 2003; Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest. München 2002, S. 123-138. Vgl. allg. zur Kritik an diesen Ansätzen: Thomas Hecken: Das Versagen der Intellektuellen. Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter. Bielefeld 2010. 16 | Vgl.: Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn [Original: Consuming the Romantic Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, 1997]. Frankfurt a.M. 2007; Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Übers. v. Martin Hartmann [Original: Cold Intim­ acies. The Making of Emotional Capitalism, 2007]. Frankfurt a.M. 2007; Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Übers. v. Michael Adrian [Original: Saving the Modern Soul. Therapy, Emotions and the Culture of Self-Help, 2008]. Frankfurt a.M. 2009; Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Übers. v. Michael Adrian [Original: Why Love Hurts. A Sociological Explanation, 2012]. Berlin 2011. 17 | Vgl. Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 141. 18 | Daniel Miller: Making Love in Supermarkets. In: Ders.: A Theory of Shopping [1998], Cambridge 2005, S. 15-72, S. 5.

I. Einleitung: »… noch einmal von Liebe zu reden.«

in weiteren Publikationen geht er zudem immer wieder auf die Relevanz von (käuflichen) Dingen für die emotionalen Befindlichkeiten des Individuums ein.19 Die Arbeiten Millers und Illouz’ sind jedoch nicht die ersten in dieser Hinsicht, obgleich man anhand der breiten Rezeption von Der Konsum der Romantik im deutschsprachigen Raum diesen Eindruck gewinnen könnte.20 Bereits ein ganzes Jahrzehnt vor Illouz und Miller hat sich Colin Campbell in The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism (1987) in Anlehnung an die Arbeit Max Webers mit den Ursprüngen des modernen Konsums in Abgrenzung von den bis dahin existierenden Theorien auseinandergesetzt und dafür eine spezifisch romantische Ethik verantwortlich gemacht. Die romantische Liebe erweist sich darin als entscheidender Geburtshelfer des modernen Konsums.21 Das Phänomen des Konsums wird daher in dieser Untersuchung in Anlehnung an Campbell nicht nur im streng wirtschaftswissenschaftlichen Sinn als Akt des Kaufens verstanden, sondern umfasst in Erinnerung an die ursprüngliche Wortbedeutung ebenso die unterschiedlichen Arten des Ge- oder Verbrauchs der Dinge, die vielfältigen Formen ihrer Aneignung. Die Verflochtenheit von Liebe und Konsum muss dabei, so zeigen die genannten Untersuchungen, nicht notwendigerweise primär der Gegenstand von Konsumkritik sein, sondern kann jenseits dessen als Ausgangspunkt für die Analyse moderner Subjektivität in einer ihrer charakteristischsten, wenngleich ambivalenten Zustandsformen begriffen werden. Wenn romantische Liebe nach den sozialwissenschaftlichen Befunden derart eng mit dem Phänomen des Konsums verbunden ist, so dass man gar von ›Wahlverwandtschaften‹ sprechen könnte, und die Literatur wiederum den Ausdifferenzierungsprozess der romantischen Liebe reflektiert,22 so liegt die Frage nahe, inwiefern dieser Zusammenhang auch im Ursprungsmedium romantischer Liebe, dem Roman, zu finden ist. So umfassend die literatur-

19 | Vgl. Daniel Miller: The Comfort of Things. Cambridge 2008; Ders.: Stuff. Cambridge 2010. 20 | Vgl. Kap. I/2. 21 | Vgl. Colin Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism [1987]. York 2005. 22 | Vgl. Werber: Liebe als Passion, S. 159. Dies ist auch hinsichtlich der Funktion wichtig, die Albrecht Koschorke der Literatur innerhalb der Systemtheorie zuweist: Narrative Texte sind ihm zufolge ›Hypercodes‹, die an den Rändern und zwischen den sich ausdifferenzierenden Systemen agieren, also genau in dem Bereich, den die Systeme selbst nicht beobachten können. Vgl. Koschorke: Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung. In: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart, Weimar 2004, S. 174-185, S. 181f.

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wissenschaftliche Liebesforschung ist,23 so sehr fehlt bislang eine Analyse des Zusammenhangs von Liebe und Konsum in der Literatur. Es ist daher das zentrale Anliegen dieser Untersuchung, diese Lücke zu schließen. Dabei geht es nicht um die bloße thematische Repräsentation von Liebe und Konsum oder die Verifizierung der soziologischen Befunde in der Literatur. Vielmehr ist das Ziel die Analyse einer genuin ästhetischen und poetischen Verhandlung dieses Zusammenhangs, die den literarischen Text in den Mittelpunkt stellt. Dies ist eingebettet in den größeren Forschungszusammenhang der Konsumästhetik, die es sich zur Aufgabe macht, Kunst und Konsum gerade nicht als unvereinbare Gegensätze, sondern als interdependente Phänomene zu behandeln.24 Die Methodik des Projekts ist daher kulturwissenschaftlich fundiert, sie schließt an Vorarbeiten aus dem Umfeld des New Historicism bzw. der Kulturpoetik an.25 Kunst wird in diesem Zusammenhang – unabhängig davon, ob es sich um ›hohe‹ oder ›populäre‹ Darstellungsformen handelt – die Rolle eines Erkenntnismittels zugetraut, und zwar insofern, als die präzise Analyse künstlerischer Darstellungen des Konsums auf kultursemiotischem Weg eine Verschaltung gesellschaftlicher Paradigmen lesbar machen kann. Der Aspekt der Materialität wird dabei nicht nur im Sinne der Material Culture Studies26 bezüglich der 23 | Vgl. den Forschungsbericht Julia Bobsiens in: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe. Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1770-1800. Tübingen 1994, S. 10-75; ein kürzerer, konziser Überblick findet sich in: Stefan Neuhaus: Paarbildungen, S. 273f., Fußnote 3. 24 | Der Verknüpfung von Konsum und Kunst in einer genuinen ›Konsumästhetik‹ widmet sich das von der Volkswagenstiftung geförderte Forschungsverbundprojekt Konsumästhetik – Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen (2013-2016). Vgl. dazu die gleichnamige, von dieser Forschergruppe begründete Reihe im transcript Verlag sowie: Heinz Drügh, Björn Weyand, Christian Metz (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Berlin 2010. Abgesehen davon zeugen Publikationen wie Michael Hutters Ernste Spiele. Geschichten vom Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus (München, 2015) von der Relevanz dieser Verknüpfung abseits der üblichen kulturkritischen Verurteilung, wie sie beispielsweise noch Gernot Böhme in Ästhetischer Kapitalismus (Berlin, 2016) betreibt. Vgl. zur ›Ästhetisierung des Ökonomischen‹ auch Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. 3. Aufl. Berlin 2013, S. 133-197, sowie zur Notwendigkeit einer Verknüpfung der Wirtschafts- mit den Geisteswissenschaften: Gary Saul Morson, Morton Schapiro: Cents and Sensibility. What Economics Can Learn from the Humanities. Princeton, Oxford 2017. 25 | Vgl. Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. 2. akt. Aufl. Tübingen u.a. 2001; Ders.: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005. 26 | Vgl. Hans Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005.

I. Einleitung: »… noch einmal von Liebe zu reden.«

ästhetisierten, käuflichen Dinge, sondern auch in Bezug auf die Texte selbst, auf ihre Materialität und Zeichenhaftigkeit, zu erhellen sein: Denn es ist nicht nur von Interesse, wie »die ›Fäden‹ aus den unterschiedlichsten kulturellen Bereichen in einen Text hinein […] und auch wieder aus ihm hinaus[führen]«,27 sondern auch, wie die Verwebungsstrukturen − um im Bild der Fadenmetapher zu bleiben − von Literatur selbst funktionieren. Das bedeutet eine genaue und detaillierte Analyse der Texte, um herauszuarbeiten, welche narrativen und semiologischen Verfahren in den Romanen die Phänomene Liebe und Konsum verhandeln und vor allem auch: konstituieren. Auf der Folie theoretischer Überlegungen, für die die sozialwissenschaftlichen Studien die Grundlage bilden und die in thematisch-formalen Clustern des Zusammenhangs von Liebe und Konsum münden, soll daher in einem close reading ausgewählter Romane um 1900 und 2000 untersucht werden, wie diese Verbindung ästhetisch und poetisch wirksam wird.

2. F orschungsstand Der Zusammenhang von Liebe und Konsum wurde bisher vor allem in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesen.28 Bereits um 1900 beschäftigte sich Georg Simmel mit der »Rolle des Geldes in den Beziehungen der Geschlechter«29 und Werner Sombart diagnostizierte einen direkten Zu-

27 | Moritz Baßler: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: Ansgar und Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart 2003, S. 132-156, S. 134. 28 | Das Thema findet mittlerweile auch Eingang in die Wirtschaftswissenschaften, vgl. dazu: Alvin Roth: Who Gets What – And Why? The Hidden World of Matchmaking and Market Design. London 2015; sowie: Jon Birger: Date-onomics: How Dating Became a Lopsided Numbers Game. New York 2015. Darüber hinaus findet sich der Zusammenhang zunehmend auch in populärwissenschaftlichen Publikationen wie bspw. Richard David Precht: Liebe. Ein unordentliches Gefühl. München 2009, oder Anabel Dillig: Diesen Partner in den Warenkorb legen. Das neue Liebesverständnis einer vernünftigen Generation. München 2012. 29 | Georg Simmel: Die Rolle des Geldes in den Beziehungen der Geschlechter [1898]. In: Ders: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1985, S. 139-156. Es handelt sich dabei um ein Fragment, das zu Simmels Philosophie des Geldes gehört. Er verhandelt darin vor allem die Prostitution, die Geldheirat sowie Sinn und Zweck von Heiratsannoncen.

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sammenhang von Liebe und Luxus.30 In der jüngeren Forschung ist neben den bereits erwähnten Studien Illouz’, Millers und Campbells die Untersuchung zur Bedeutung von Geld für Intimbeziehungen von Christine Wimbauer31 ebenso zu nennen wie Wolfgang Ullrichs Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?. Ullrich geht darin immer wieder auf die Verbindung von Konsum und Emotionen ein, indem er beispielsweise das Warenhaus als den idealen Ort für ein Rendezvous definiert oder die dem Verliebtsein ähnliche Spannung beschreibt, die von Konsumgütern ausgehen kann, wodurch diese wiederum anthropomorphisiert und gar in den Rang eines Partners erhoben werden können.32 Deutlich kulturkritischer sieht Zygmunt Bauman in Consuming Life die Veränderungen der zwischenmenschlichen Beziehungen im Zeitalter des Konsumismus,33 in ähnlichem Ton nimmt sich Arlie Russell Hochschild in ihrer Essay-Sammlung The Commercialization of Intimate Life34 dem Thema der Kommodifizierung von Gefühlen aus feministischer Perspektive an. Darüber hinaus widmete sich die Zeitschrift WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung in einem Schwerpunkt 2005 dem Thema Liebe und Kapitalismus, im Zuge dessen die Analysen von Eva Illouz in verschiedenen Beiträgen weitergedacht und vor allem auf eine Ökonomisierung von Paarbeziehungen, speziell die Rolle von Geld fokussierend, perspektiviert wurden. Hier ist vor allem Rolf Haubls Beitrag mit dem sprechenden Titel Wahre Liebe kostet nichts? zu erwähnen, der unter anderem die Bedeutung von Liebesbeweisen herausarbeitet (die in der Regel etwas kosten müssen, da sie sonst nichts wert sind) und auf die der Liebe und dem Konsum gemeinsame Eigenschaft des Exzesses abhebt.35 In der literaturwissenschaftlichen Forschung ist das Zusammendenken von Affekten und Ökonomie im Zuge der kulturwissenschaftlichen Orientierung der Disziplin durchaus vorhanden. Albrecht Koschorkes Körperströme

30 | Vgl. Werner Sombart: Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung [1913]. Berlin 1983 (Reprint der 2. Aufl. von 1922). Vgl. auch Kap. II/1. 31 | Vgl. Christine Wimbauer: Geld und Liebe. Zur symbolischen Bedeutung von Geld in Paarbeziehungen. Frankfurt a.M., New York 2003. 32 | Vgl. Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2009. 33 | Vgl. Zygmunt Bauman: Consuming Life. Cambridge 2007. 34 | Vgl. Arlie Russell Hochschild: The Commercialization of Intimate Life. Notes from Home and Work. Berkeley, London u.a. 2003. 35 | Vgl. Rolf Haubl: Wahre Liebe kostet nichts? Erlebnisrationalität der romantischen Liebe. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2005), H. 1, S. 119-130.

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und Schriftverkehr zur Mediologie des 18. Jahrhunderts36 basiert ebenso darauf wie Jochen Hörischs Untersuchungen zu Gott, Geld, Medien und zur Poesie des Geldes,37 oder auch Joseph Vogels Studie Kalkül und Leidenschaft.38 Diesen Arbeiten ist jedoch gemein, dass sie allgemein von Emotionen und Ökonomie handeln und nicht Liebe und/oder Konsum als solche ins Auge fassen. Zudem tendieren diese vorwiegend diskursanalytischen und zuweilen auch kulturkritischen Auseinandersetzungen dazu, Literatur als ›Belegspender‹39 zu funktionalisieren, indem sie die thematische Darstellung der Verbindung von Emotionen und Ökonomie in ihre größeren, diskursanalytisch-historischen Betrachtungen einbetten und diese nicht poetologisch oder narratologisch zu fassen versuchen, das heißt: Sie laufen Gefahr, ihren eigentlichen Gegenstand, den literarischen Text, aus dem Blick zu verlieren. Die spezifische Verflechtung von Liebe und Konsum ist in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher lediglich marginal behandelt worden. Barbara Vinkens Studie zu Gustave Flaubert enthält eine Besprechung der Problematik in Madame Bovary (1857),40 die jedoch sehr stark auf den religiös-theologischen Subtext des Romans ausgerichtet ist. Auch Mario Vargas Llosa fasst in seiner Untersuchung von Flauberts Roman den Zusammenhang von Liebe und Geld ins Auge und verweist auf die unbedingte Interdependenz von beiden.41 Christian Metz widmet dem Verhältnis von Liebe und Geld beziehungsweise Konsum in seiner Analyse von Achim von Arnims Gräfin Dolores zwei Kapitel.42 Darüber hinaus hat er diesen Zusammenhang auch in Leanne 36 | Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. 37 | Vgl. Jochen Hörisch: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe. Frankfurt a.M. 1983; Ders.: Gott, Geld, Medien. Frankfurt a.M. 2004; Ders.: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a.M. 1996. 38 | Vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. München 2002. 39 | Ich entleihe diesen Terminus von Simone Winko, die damit die lediglich thematische Erfassung von Emotionen in der Literatur bezeichnet: Vgl. Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, S. 12. 40 | Vgl. Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne. Frankfurt a.M. 2009, Kapitel: Lesen, Lieben, Essen sowie Die Passion der Madame Bovary, S. 75-97. 41 | Vgl. Mario Vargas Llosa: Flaubert und Madame Bovary. Die ewige Orgie. Übers. v. Maralde Meyer-Minnemann [Original: La orgía perpetua. Flaubert y ›Madame Bovary‹, 1975]. Frankfurt a.M. 1996, S. 128-148. 42 | Vgl. Christian Metz: Die Narratologie der Liebe. Achim von Arnims Gräfin Dolores. Berlin u.a. 2012, Kapitel: Gekaufte Liebe. Geld regiert die Liebeswelt und Zirkulation ohne Ende. Die Ökonomisierung der Ehe, S. 170-180.

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Shaptons experimentellem Roman Important Artifacts and Personal Property … (2009) untersucht, womit eine exemplarische Lektüre des Zusammenhangs von Liebe und Konsum vorgeführt wird, die sich diesem nicht nur thematisch, sondern auch poetologisch annimmt.43 Dem Thema der Liebe (beziehungsweise Ehe) als geschäftlicher Transaktion widmet sich Niels Werber in seiner einschlägigen Studie Liebe als Roman, indem er die »Ökonomie der Liebe« anhand von Antoine Furetières Le Roman bourgeois (1666) beleuchtet.44 Marcel Krings schließlich wägt zwischen ›Geld oder Liebe‹ in seiner Analyse von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) ab, womit er allerdings zu dem Ergebnis kommt, dass der Zusammenhang zwischen Liebe und Ökonomie lediglich darin bestehe, dass letztere erstere ersetze.45 In jenen Studien, die vor allem an dem Verhältnis von Literatur und Ökonomie interessiert sind, finden sich immer wieder Kapitel, die den Zusammenhang von Liebe und Konsum zumindest tangieren. Thomas Wegmann widmet sich in Dichtung und Warenzeichen in einem Kapitel der sich ständig auf der Suche nach Liebe befindlichen ›Konsumnomadin‹ Doris aus Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen (1932)46 und Uwe Lindemann geht in seiner umfassenden Untersuchung des Warenhauses in einem kurzen Kapitel auf ›Liebe als Konsum‹ ein.47 Franziska Schößler lotet in Börsenfieber und Kaufrausch das Zusammenspiel von Börsenspekulation und Weiblichkeit anhand von Arthur Schnitzlers Fräulein Else (1924) aus,48 während Irmgard Hnilica in ihrer Arbeit 43 | Vgl. Christian Metz: Warenästhetik, Liebe und literarische Selbstreflexion in Leanne Shaptons Romanexperiment Bedeutende Objekte. In: Heinz Drügh u.a. (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Berlin 2011, S. 269-295. Ulrike Vedder hat sich ebenfalls mit der Bedeutung von Dingen in Shaptons Roman auseinandergesetzt, vgl.: Auktionskatalog, Fotoroman, Liebesinventar. Vom Wert der Dinge in Leanne Shaptons Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck. In: Thomas Wegmann, Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. Berlin 2012, S. 199-216. 44 | Vgl. Werber: Liebe als Roman, S. 267-277. 45 | Vgl. Marcel Krings: Geld oder Liebe. Familienmodelle in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren. In: Text & Kontext. Jahrbuch für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 30 (2008), S. 112-149. 46 | Vgl. Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850-2000. Göttingen 2011, S. 329-355. 47 | Vgl. Uwe Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne. Köln, Weimar u.a. 2015, S. 94-99. 48 | Vgl. Franziska Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld 2009, S. 157-173.

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zur Romantisierung des bürgerlichen Kaufmanns »Liebe als Geschäft« abhandelt und dieses zugleich kulturkritisch abqualifiziert.49 Schließlich ist noch auf Rachel Bowlbys Studie Shopping with Freud50 zu verweisen, die anhand literarischer Texte wie Oscar Wildes Dorian Gray oder Vladimir Nabokovs Lolita die Verbindung von Psychologie, Sexualität und Konsum beleuchtet. Diesen Untersuchungen ist gemein, dass sie den Zusammenhang von Liebe und Konsum zwar ins Auge fassen, darauf jedoch lediglich ein Schlaglicht werfen und diesen nicht systematisch auf bereiten. Daraus ergibt sich folgendes Forschungsdesiderat: Es existiert bis dato keine Arbeit, die den Zusammenhang von Liebe und Konsum erstens explizit in den Mittelpunkt des analytischen Interesses stellt, diesen zweitens systematisch aufarbeitet und drittens anhand der Lektüre ausgewählter Romane für eine literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar macht. Die vorliegende Arbeit schließt daher sowohl an die sozialwissenschaftlichen als auch die literaturwissenschaftlichen Analysen an. Sie versteht sich als genuiner Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Liebes- wie Konsumforschung, indem sie den Zusammenhang nicht nur wie bisher diskursgeschichtlich, sondern vor allem anhand der ästhetischen Beschaffenheit der Texte und ihrer poetischen Verfahren untersucht.

3. O rte – O bjek te – M edien : S truk tur und Te x tauswahl Ist der Fokus einmal auf den Zusammenhang von Liebe und Konsum gerichtet, fällt dessen Ubiquität in der Liebesliteratur spätestens seit dem Ende des 18.  Jahrhunderts auf. Der Ursprungstext der romantischen Liebe in der deutschen Literatur, der auch international breit rezipiert wurde, weist diesen Zusammenhang bereits auf: Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774).51 Werthers Liebe zu Lotte ist objektorientiert: Zu den geliebten Objekten gehören nicht nur die blassrosa Schleifen, die Werther mit ins Grab nimmt, oder die Pistolen, die er aus Lottes Hand zu empfangen meint, sondern, wie Roland

49 | Vgl. Irmtraud Hnilica: Im Zauberkreis der großen Waage. Die Romantisierung des bürgerlichen Kaufmanns in Gustav Freytags Soll und Haben. Heidelberg 2012, S. 176187. Vgl. dazu auch Kap. III/1.1. 50 | Vgl. Rachel Bowlby: Shopping with Freud. London u.a. 1993. 51 | Vgl. Gerhard Neumann: »Heut ist mein Geburtstag«. Liebe und Identität in Goethes Werther. In: Waltraud Wiethölter (Hg.): Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Tübingen 2001, S. 117-143.

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Barthes festhält, auch Lotte selbst.52 Mitte des 19. Jahrhunderts stirbt Flauberts Madame Bovary nicht mehr wie Werther an unerfüllter Liebe, sondern aufgrund eines ungedeckten Wechsels. »Liebe und Geld stützen und aktivieren sich gegenseitig«53 in Madame Bovary (1857), vermerkt Mario Vargas Llosa. Die Liebe, so Llosa weiter, ist für Emma nicht vollkommen, wenn sie sich nicht gleichzeitig anhand des Konsums von Luxusgütern materialisiert.54 Mit dem nicht mehr zu kompensierendem Negativum von Geld endet nicht nur Emmas Liebe beziehungsweise ihre Fantasien davon, sondern auch ihr Leben – denn Liebe und Konsum sind integraler Bestandteil der Identität Emma Bovarys. Mit der Zeit um 1900, dem Aufkommen der Warenhäuser in den Metropolen und der Entstehung der modernen westlichen Konsumgesellschaft, wie wir sie heute kennen, wird die Verbindung von Liebe und Konsum zunehmend explizit. In den Warenhausromanen, allen voran Émile Zolas Au Bonheur des Dames (1883),55 geht es nicht nur um den Rausch der Waren, sondern immer wieder auch um Liebschaften, die sich an den Ort des Warenhauses anlagern.56 Gleichzeitig widmen sich Autoren in dieser Zeit zunehmend den Phänomenen des Konsums, die dadurch auch in Liebesromanen Eingang finden, wie beispielsweise in The Golden Bowl (1904) von Henry James57 oder in den Erzählungen Arthur Schnitzlers. In der Zeit bis zum zweiten Weltkrieg, insbesondere in den Goldenen Zwanzigern, werden mit der Etablierung von Werbung58 und Marken59 Konsumphänomene auch in der (Liebes-)Literatur ubiquitär. James Joyce‹ Ulysses (1922) und F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby (1925)60 sind ebenso gute Beispiele dafür wie Irmgard Keuns Das kunstseidene 52 | Vgl. Roland Barthes: Die Liebe lieben [Aimer l’amour]. In: Ders.: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. v. Hans-Horst Henschen [Original: Fragments d’un discours amoureux, 1977]. Frankfurt a.M. 1988, S. 85. 53 | Llosa: Flaubert und Madame Bovary, S. 140. 54 | Vgl. ebd.: »Liebe und Geld stützen und aktivieren sich gegenseitig. Emma muß sich mit schönen Gegenständen umgeben, wenn sie liebt, die physische Welt verschönen, um sich herum einen Dekor schaffen, der genauso schwelgerisch ist wie ihre Gefühle. Sie ist eine Frau, für die die Lust nicht vollkommen ist, wenn sie sich nicht materialisiert: sie projiziert die körperliche Lust auf die Dinge, und die Dinge ihrerseits vermehren und verlängern die körperliche Lust.« 55 | Vgl. Kap. III/1. 56 | Vgl. Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne, S. 94-99. 57 | Vgl. Miranda El-Rayess: Henry James and the Culture of Consumption. Cambridge 2014, insbes. S. 143-151. 58 | Vgl. Urs Meyer: Poetik der Werbung. Berlin 2010. 59 | Vgl. Björn Weyand: Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900-2000. Berlin, Boston 2013. 60 | Vgl. Kap. IV/1.

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Mädchen (1932), ein Roman, der auch die Kehrseiten des Konsumrauschs der ›Roaring Twenties‹ nicht verschweigt und dessen Protagonistin Doris auf der beständigen Suche nach einem modus vivendi ist, der Liebe und Konsum erfolgreich vereint. In der Zeit nach 1945 setzt schließlich die Popliteratur diese Tendenzen fort und intensiviert die Auseinandersetzung mit Konsumphänomenen derart, dass sie der Einsatzpunkt für die literaturwissenschaftliche Erforschung von Konsum wird.61 In Folge dessen ist für die Gegenwartsliteratur festzuhalten, dass nahezu jeder Liebesroman ohne größere Mühen unter dem Aspekt von Liebe und Konsum untersucht werden könnte. Damit stellt sich die Frage nach der Textauswahl für ein Projekt, das sich diesem ubiquitären Zusammenhang erstmals explizit widmet. Der Versuch, diesen literaturgeschichtlich aufzuarbeiten und in enzyklopädischer Vollständigkeit abzubilden, wäre allein aufgrund der Materialfülle der Primärquellen unmittelbar zum Scheitern verurteilt. Stattdessen folgt die Arbeit einem anderen Ansatz und macht sich eine exemplarische Kartierung der Verbindung von Liebe und Konsum zur Aufgabe. Dabei orientiert sich das Untersuchungsinteresse an drei Aspekten, die für den Zusammenhang von Liebe und Konsum systematisch wie analytisch signifikant sind: Orte, Objekte und Medien. Liebe wie Konsum sind an spezifische Orte gebunden, von denen das Warenhaus und in dessen Nachfolge der Supermarkt zwei der signifikantesten sind. Objekte wiederum spielen nicht nur für den Konsum, der sich überwiegend auf die materielle Kultur bezieht, sondern auch für die Liebe eine wichtige Rolle, indem beispielsweise Liebesgaben dem Ausdruck von Gefühlen und Zugehörigkeit dienen. Und der Aspekt des Mediums trägt der Tatsache Rechnung, dass die romantische Liebe nicht nur ein Produkt des Mediums der Literatur ist, sondern sich in Rekurrenz auf die Tradition des (Liebes-)Briefromans im digitalen Zeitalter auf intrikate Weise mit den Konsumoberflächen des Internets verknüpft. Über die Aspekte Ort, Objekt und Medium organisiert sich die Textauswahl, die sich ganz bewusst nicht nur auf den deutschsprachigen Raum beschränkt: Das erlaubt der Untersuchung, dem Phänomen in seinen signifikantesten Ausprägungen gerecht zu werden.62 Die ausgewählten Romane stehen 61 | Vgl. dazu Moritz Baßler: Warenwort und Markenname. In: Ders.: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. 2. Aufl. München 2005, S. 155-183; Thomas Hecken: POP. Geschichte eines Konzepts 1955-2009. Bielefeld 2009, S. 259-304; Ders.: Das Versagen der Intellektuellen, S. 105-151. Vgl. auch: Heinz Drügh: Germanistik. In: Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner (Hg.): Handbuch Popkultur. Stuttgart 2017, S. 340345. 62 | Die Idee einer Nationalliteratur ist mit der Postmoderne ohnehin längst überholt. Schon Friedrich Schlegel mochten solch willkürliche Grenzziehungen nicht einleuchten: »Sich nur auf die Literatur einer gewissen Zeit oder einer Nation einschränken wollen,

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daher prototypisch für die Menge an möglichen literarischen Texten, die sich dem Thema Liebe und Konsum widmen. Ein entscheidendes Kriterium der Auswahl ist der Ausschluss all jener Liebesromane, die Konsum lediglich metaphorisch verhandeln. Stattdessen werden nur jene Texte ins Auge gefasst, die Konsum ganz konkret als Akt des Kaufens, des Ge- und Verbrauchs der Dinge sowie ihre Aneignung thematisieren. Damit geht die zeitliche Abgrenzung am Ende des 19. Jahrhunderts einher, denn erst ab 1850 entsteht zusammen mit dem Aufkommen der Warenhäuser die moderne, westliche Konsumgesellschaft, die in ihren Grundzügen – wie dem Massenkonsum – bis heute Bestand hat.63 Dadurch geraten Romane des Literaturkanons in den Blick, die mit dem Fokus auf den Zusammenhang von Liebe und Konsum neu akzentuiert werden können. Diese werden in einen Dialog mit Romanen der Gegenwartsliteratur seit der Jahrtausendwende gesetzt, die gerade nicht dem ohnehin konsumaffinen Terrain der Popliteratur entstammen, sondern stattdessen erhellen, wie das Erzählen von Liebe im Zusammenhang mit Konsum in der Literatur des Post-Pop64 funktioniert. Die Arbeit bietet damit keine historische Darstellung und auch keinen Vergleich zwischen Gestern und Heute – viel eher geht es um eine exemplarische historische Dimensionierung des Themas.65

geht gar nicht an, weil eine immer auf die andere zurückführt und alle Literatur nicht allein vor- und nacheinander, sondern auch nebeneinander innig zusammenhängend ein großes Ganzes bilden«, schreibt Schlegel in seiner »Geschichte der europäischen Literatur« (Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur [1803/04]. In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 11: Wissenschaft der europäischen Literatur. Hg. v. Ernst Behler. München, Paderborn u.a. 1958, S. 3-185, S. 11.) 63 | Vgl. Grant McCracken: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities [1988]. Bloomington, Indianapolis 1990, S. 28; Campbell: The Romantic Ethic, S. 18f. 64 | Heinz Drügh und Stephan Dietrich vermerken, dass Pop bereits um das Jahr 2000 zu einem Paradigma ›abgesunken‹, also kanonisch geworden ist, so dass sich Literatur dessen ganz selbstverständlich bedient, ohne dies jedoch gezielt auszustellen, wie es noch die Popliteratur praktiziert. Christoph Peters und David Wagner, deren Romane auch in dieser Arbeit analysiert werden, werden von Dietrich und Drügh als exemplarische Vertreter eines Erzählens nach der Popliteratur herangezogen. Vgl. Stephan Dietrich, Heinz Drügh: Um 2000. Pop-Literatur, an ihren Rändern betrachtet. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 47 (2002), H. 1, S. 95-120, S. 104. 65 | Die Auswahl dieser Zeiträume orientiert sich somit auch an dem zeitlichen Rahmen, den Eva Illouz in Der Konsum der Romantik absteckt: Auch sie legt den Fokus zunächst auf die Zeit um 1900 (bis in die 20er Jahre hinein), um danach direkt zur Jahrtausendwende zu springen. Vgl. Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 40-43.

I. Einleitung: »… noch einmal von Liebe zu reden.«

Anhand dieser Parameter ist der Einsatzpunkt der Untersuchung fast zwangsläufig gegeben: Émile Zolas Au Bonheur des Dames (1883).66 Es ist für den Zusammenhang von Liebe und Konsum signifikant, dass einer der ersten und wohl bekanntesten Warenhausromane der Literaturgeschichte zugleich eine Liebesgeschichte erzählt – ändern sich mit Eingang in die moderne Konsumgesellschaft doch nicht nur die Liebesbeziehungen selbst, sondern auch das Erzählen davon. Dem gegenüber steht David Wagners Roman Vier Äpfel (2009), der nicht mehr das Warenhaus, sondern den Supermarkt als Schauplatz hat. An zwei signifikanten Orten der (Post-)Moderne kann so das Erzählen von Liebe in enger Verbindung zum Konsum aufgezeigt werden. Der Aspekt des Objekts rückt zunächst F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby (1925) in den Mittelpunkt. Als einer der signifikantesten Vertreter der ›Roaring Twenties‹ stellt der Roman die exzessive Konsumkultur der aufstrebenden amerikanischen Gesellschaft zur Schau, während er zugleich eine der tragischsten Liebesgeschichten der Literaturgeschichte erzählt. Christoph Peters’ Roman Mitsuko Restaurant (2009) verschreibt sich dagegen dem Kontrast von westlicher Konsumgesellschaft und fernöstlicher Kultur, der anhand von Liebe ausgetragen wird. An beiden Romanen lässt sich die signifikante Rolle käuflicher Objekte und des sich daran anlagernden Fetischismus für das Erzählen von Liebe nachvollziehen. Die Bedeutung von Medien für die Verknüpfung von Liebe und Konsum wird schließlich an Daniel Glattauers E‑Mail-Roman Gut gegen Nordwind (2006) deutlich werden: Der literarhistorisch wichtigste Referenztext hierzu – Goethes Die Leiden des jungen Werthers – fällt jedoch zum einen aus dem zeitlichen Rahmen, den sich die Untersuchung vorgegeben hat, und wurde zum anderen bereits intensiven Lektüren unterzogen, weshalb auf eine gesonderte Betrachtung von Goethes Briefroman in dieser Arbeit verzichtet wird. Stattdessen wird die Analyse von Glattauers Roman durchgängig im Hinblick auf die Tradition des Briefromans und insbesondere auf Die Leiden des jungen Werthers kontextualisiert sowie auf die Möglichkeit von Liebe in Zeiten der Digitalität perspektiviert. 66 | Der Ort des Warenhauses rechtfertigt in besonderem Maß eine nicht nur auf den deutschsprachigen Raum beschränkte Herangehensweise, gilt Au Bonheur des Dames doch als »›Ur-Text‹ der Warenhausliteratur« (Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger: Einführung. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination. Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 9-19, S. 14). Zolas Roman ist ein »in seiner Wirkungskraft unübertroffenes Beispiel« und stellt »ein Arsenal von Topoi und Figuren bereit, die in Folgepublikationen verschiedener Nationen und Sprachen ihre Spuren hinterließen.« (ebd., S. 10) Allein in Deutschland erschienen bis 1900 mindestens fünf verschiedene Übersetzungen von Au Bonheur des Dames (vgl. ebd.).

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Anhand dieser Auswahl kann die Signifikanz des Zusammenhangs von Liebe und Konsum exemplarisch an Texten der Moderne (zeitlich wie topologisch gleichursprünglich mit der modernen Konsumgesellschaft67) wie Postmoderne (in der die Konsumkultur omnipräsent ist) vorgeführt werden. Dabei wird sich nicht zuletzt zeigen, dass Literatur wie Konsum eine zentrale Rolle für die condition postmoderne der Liebe spielt: Dazu zählt einerseits der Befund, dass eine Interdependenz zwischen der Liebe selbst und den Erzählungen von ihr sowie deren Lektüre (man könnten auch sagen: Konsum) besteht: »Il y a des gens qui n’auraient jamais été amoureux s’ils n’avaient jamais entendu parler de l’amour«,68 stellt La Rochefoucauld bereits im 17. Jahrhundert fest. Eva Illouz vermerkt in diesem Zusammenhang, dass die Identität von Individuen in der Postmoderne zwar auf Erzählungen gründet, nicht mehr aber auf Meta-Erzählungen – oder auch: einem grand récit – von Liebe. Der Text der Identität, die Autobiografie, besteht vielmehr »aus ineinander geschachtelten Textebenen, welche die ›narrative Einheit des menschlichen Strebens‹ und damit die Einheit des romantischen Strebens für immer fragmentieren.«69 Andererseits geht damit die Einsicht einher, dass – im Anschluss an das Diktum La Rochefoucaulds – »man nur das wiederholen kann, was bereits gesagt wurde«.70 Umberto Eco nutzte signifikanterweise die Liebe und den Satz ›Ich liebe Dich‹, um die Postmoderne zu definieren. Es geht dabei um die Unmöglichkeit, diesen Satz zu sagen, ohne dass dieser immer schon Zitat und somit uneigentliche Rede, also: nicht authentisch ist. Wie aber kann dann in der Postmoderne noch von Liebe geredet werden? Eco schlägt vor, das Zitat offenzulegen, die »Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon Gesagten« anzunehmen

67 | Vgl. Moritz Baßler: Moderne und Postmoderne. Über die Verdrängung der Kulturindustrie und die Rückkehr des Realismus als Phantastik. In: Sabina Becker, Helmuth Kiesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin 2007, S. 435-450, S. 437. Für den Beginn der literarischen Moderne werden in der literaturwissenschaftlichen Forschung verschiedene Zeitpunkte veranschlagt, die von ›um 1800‹ bis ›um 1900‹ reichen. Es wird hier in Anschluss an Baßler die engere Definition bevorzugt, die die Moderne in den Jahrzehnten um 1900 beginnen lässt: »Diese Moderne ist – was selten betont wird – gleichursprünglich mit der modernen Marken- und Warenkultur sowie der später so genannten Kulturindustrie; sie entsteht zur selben Zeit (in den Jahrzehnten um 1900) in denselben urbanen Zentren westlicher Überflussgesellschaften« (ebd.). 68 | François de la Rochefoucauld: Réflexions ou Sentences et Maximes morales [1678]. In: Ders.: Œuvres complètes. Hg. v. L. Martin-Cháuffier, Jean Marchand. Paris 1986, S. 385-471, S. 421 (Maxime 136) [Übersetzung: »Es gibt Leute, die sich niemals verliebt hätten, wenn sie nie von Liebe hätten sprechen hören.«]. 69 | Illouz: Konsum der Romantik, S. 191f. 70 | Ebd., S. 223.

I. Einleitung: »… noch einmal von Liebe zu reden.«

und »mit Vergnügen das Spiel der Ironie« 71 zu spielen. Eva Illouz hält fest, dass die Menschen in der Postmoderne bezweifeln, »dass sie verliebt sind, und zwar gerade deswegen, weil sie zu viel darüber gehört haben.« 72 Und Oliver Jahraus bescheinigt dem Satz, »mit dem man die eigene emotionale Disposition einfach und klar ausdrücken könnte«,73 die größte Gefahr des Scheiterns von Liebe überhaupt.74 Jüngst wird daher nicht nur in (populär-)philosophischen Abhandlungen, sondern auch in der Forschungsliteratur des Öfteren das Ende der romantischen Liebe beschworen, auch und gerade aufgrund der Verbindungen der Liebe mit dem Kapitalismus.75 Die vorliegende Arbeit tritt den Gegenbeweis an: Sie wird zeigen, dass die Konsumkultur ein zentraler Faktor ist, um Liebe wieder ins Spiel zu bringen – und »noch einmal von Liebe zu reden.« 76

71 | Umberto Eco: Postmodernismus, Ironie und Vergnügen. In: Ders.: Nachschrift zum Namen der Rose. Übers. v. Burkhart Kroeber [Original: Postille a „Il nome della rose“, 1983]. München, Wien 1984, S. 76-83, S. 79. 72 | Illouz: Konsum der Romantik, S. 224. 73 | Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 28. 74 | Vgl. dazu auch Roland Barthes: Ich liebe dich [Je t’aime]. In: Ders.: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. v. Hans-Horst Henschen [Original: Fragments d’un discours amoureux, 1977]. Frankfurt a.M. 1988, S. 136-145. 75 | Vgl. z.B. Karl Lenz: Romantische Liebe – Ende eines Beziehungsideals? In: Kornelia Hahn, Günter Burkart (Hg.): Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts. Studien zur Soziologie intimer Beziehungen. Opladen 1998, S. 65-85; Sven Hillenkamp: Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit. Frankfurt a.M. u.a. 2014; Alan Badiou: Lob der Liebe. Ein Gespräch mit Nicolas Truong. Übers. v. Richard Streuer [Original: Éloge de l’amour, 2009]. Wien 2011, S. 15-21. 76 | Eco: Postmodernismus, Ironie und Vergnügen, S. 79.

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II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

1. R omantische I de ale : D ie romantische E thik und der  G eist des modernen K onsums Colin Campbell dürfte das Verdienst zukommen, als einer der ersten explizit auf den Zusammenhang von Liebe und Kapitalismus verwiesen und eine Theorie zum Zusammenhang von Konsum und Romantik vorgelegt zu haben. Methodisch folgt er in seiner Untersuchung Max Weber, dem sie auch ihren Namen verdankt: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism.1 Campbell geht es darin vor allem um das Anliegen, die andere Seite der industriellen Revolution zu beleuchten und eine Theorie zur Entstehung modernen Konsums vorzulegen: [T]here has been a belated recognition of the fact that any understanding of the industrial revolution as constituting a dramatic transformation in supply logically ›presupposes a concomitant development and extension of consumption‹ and hence that a consumer revolution forms the ›necessary analogue to the industrial revolution, the necessary convulsion on the demand side of the equation to match the convulsion on the supply side‹. (RE 17) 2 1 | Colin Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism [1987]. York 2005. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle RE mit nachgestellter Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen. 2 | Grant McCracken verweist in seinen Untersuchungen in Culture and Consumption (1988) vor allem auf Neil McKendrick, der als einer der ersten auf die Einseitigkeit der Betrachtung der sozialen Transformationen im 18. Jahrhundert aufmerksam gemacht hat, wenn die Ursachen dafür lediglich in der industriellen Revolution gesucht werden, und der in Folge dessen auf die Bedeutung einer Konsumrevolution verweist. Vgl. Neil McKendrick, John Brewer, J. H. Plumb: The Birth of a Consumer Society: The Commercialization of Eighteenth-Century England. Bloomington 1982. Der Konsumrevolution hat sich u.a. auch Jan de Vries eingehend gewidmet in: The Industrious Revolution. Consu-

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Die zentrale Frage für Campbell ist jene nach der Ursache für die Expansion des Konsums. Das bloße Vorhandensein einer größeren Anzahl und Auswahl von Gütern sowie die finanziellen Mittel, sich diese leisten zu können, sind für ihn keine zureichenden Gründe: Vielmehr muss man zwischen der bloßen »ability to buy inessentials« und der »willingness to do so« (RE 18) unterscheiden und damit die Ursachen in »those values and attitudes which govern consumption« (ebd.) suchen.

1.1 ›Instinctivism‹, ›Manipulationism‹ und ›Veblenesque Theor y‹: Konsum-Kultur-Revolution Campbell stellt zunächst drei Thesen zur Entstehung von Bedürfnissen und Begehren von Konsumenten vor. Das zentrale Problem hierbei ist ihm zufolge die charakteristischste Eigenart modernen Konsums: ›insatiability‹ – Unersättlichkeit in einer speziellen Ausprägung: Der moderne Konsument zeichnet sich aus durch »an insatiability which arises out of a basic inexhaustibility of wants themselves, which forever arise, phoenix-like, from the ashes of their predecessors.« (RE 37) Konsum wird hier also nicht nur im streng wirtschaftswissenschaftlichen Sinn als Verbrauch von Ressourcen verstanden, sondern in einem breiteren, anthropologischen Sinn als Ge- und Verbrauch von Gütern zur Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen und Begehren. Die Ursachen, Entwicklungen und Veränderungen modernen Konsumverhaltens kann durch ›rationale‹ und meist ahistorisch angelegte Erklärungen der klassischen Wirtschaftswissenschaften, wie beispielsweise dem Grenznutzenprinzip, nicht begründet werden. Campbell führt daher drei Haupttheoriestränge der Sozialwissenschaften an, die sich den Ursachen von ›consumer wants‹, den Konsumbegehren, im Unterschied zu ›needs‹, also Bedürfnissen,3 widmen.4 Dies ist erstens der ›Instinctivism‹, ein biologisch-anthropologischer Ansatz, der davon ausgeht, dass die Konsumbegehren dem Menschen angeboren sind und unter den richtigen Bedingungen zum Ausdruck kommen (vgl. RE 43). Dies treffe jedoch laut Campbell allenfalls auf die Konsumbedürfnisse zu, wie des Stillens von Hunger oder Durst, nicht aber auf individuelle Konsumbegehren wie beispielsweise das Besitzen eines neuen Autos oder Smartmer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present. Cambridge 2008. Er fokussiert dabei jedoch weniger den individuellen Konsumenten als vielmehr die Rolle des Haushalts als Familien- bzw. Gemeinschaftsverbund. 3 | Die Unterscheidung von ›wants‹ und ›needs‹ wird im Folgenden anhand von ›Begehren‹ und ›Bedürfnis‹ wiedergegeben. 4 | Vgl. dazu auch die dieser Unterscheidung ähnliche Distinktion von ›comfort‹ und ›pleasure‹ bei Tibor Scitovsky: The Joyless Economy: An Inquiry into Human Satisfaction and Consumer Dissatisfaction. 2. überarb. Aufl. New York, Oxford 1992, S. 59-79.

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phones usw. Die Theorie des ›Instinctivism‹ verfehle es zudem zu erklären, warum die Konsumbegehren von Individuum zu Individuum stark variieren und sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern (vgl. RE 45). Dem diametral entgegengesetzt ist zweitens die Theorie des ›Manipulationism‹, die annimmt, dass Konsumbegehren aktiv durch äußere Einflüsse wie Werbung, Marketing und Massenmedien kreiert werden. Diese Theorie weist dem Konsumenten eine passive und allein dem Produzenten eine aktive Rolle zu. Campbells Kritik an dieser Theorie konzentriert sich vor allem darauf, dass ihr die Annahme zu Grunde liegt, es sei möglich, durch gezielte, rational genauestens kalkulierte Maßnahmen die Motivation des Konsumenten zum Kauf zu manipulieren. Doch die Manipulationen können nicht auf die Motivation der Konsumenten direkt zielen – diese sind zu variabel, sprunghaft und in ihrem Umfang kaum wissenschaftlich korrekt zu erfassen –, sondern nur auf deren »symbolic meanings which are attached to products […] [and] as much a ›real‹ part of the product as its constituent ingredients.« (RE 47f.) Zudem werde die Rolle der Emotionen grundsätzlich negativ bewertet: Sobald es um Emotionen und Imaginationen im Gegensatz zu rationalen Entscheidungen geht, wird Manipulation und Ausbeutung unterstellt. Diese Annahme verkenne, dass Konsum mitnichten vorwiegend rational gesteuert wird: »[T]he dimension of affective attachment can be said to be more basic to consumption than any issue of rational calculation.« (RE 48) Der Appell an Emotion und Imagination, der in vielen Werbebotschaften an den Kunden ergeht, kann damit nicht grundsätzlich dem Verdacht der Manipulation unterstellt werden. Darüber hinaus lenken diese Annahmen von der für Campbell wichtigen Frage nach dem Ursprung der Begehren ab: »[H]ow is it that wants come to be formed in consumers«? (RE 48) Der dritte Theoriestrang, dem sich Campbell widmet, ist jener von Thorstein Veblen in The Theory of the Leisure Class (1899) begründete Zusammenhang von Konsum und sozialem Status. Veblen interessiert sich für die auch Campbell umtreibende Frage, wie Konsumprodukte Bedeutungen außerhalb ihres Gebrauchswertes annehmen – allerdings, so bemängelt Campbell, engt er dies auf den Aspekt des sozialen Status ein: ›Conspicuous consumption‹5 hat die Funktion, den pekuniären Reichtum und den damit verbundenen sozialen Status einer Person anzuzeigen. Daraus resultiert in der utilitaristischen Konsumtheorie zum einen der sogenannte ›Veblen effect‹, wonach der Preis eines Produkts weniger Indikator des tatsächlichen Gebrauchswerts, sondern vielmehr ein kulturell bedeutsames Symbol an sich ist; zum anderen haben damit der ›bandwagon effect‹ und ›snob effect‹ Eingang in die wirtschaftswissenschaftlichen Konsumtheorien gefunden, wonach der Konsument durch 5 | Vgl. Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class [1899]. Oxford, New York 2007, S. 49-69.

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das Verhalten der anderen Konsumenten entweder zum gleichen Konsum angeregt oder von diesem eher abgehalten wird (vgl. RE 50). Campbell wirft dieser Theorie »extreme simplicity« (ebd.) vor und führt dafür eine ganze Reihe von Gründen an. Zunächst einmal beschreibe Veblen mit seiner Theorie der Emulation zwei grundsätzlich verschiedene Vorgänge: Einerseits das Konkurrieren innerhalb der eigenen peer group, also den Angehörigen der gleichen sozialen Schicht; andererseits das Streben nach einem Ideal, das von den oberen Schichten einer Gesellschaft verkörpert wird, was eine Orientierung an den Klassen über der eigenen Schicht bedeutet. Veblen verkenne zudem, dass die symbolischen Bedeutungen von Konsum nicht immer jene des sozialen Status betreffen müssen, sondern durchaus verschiedenster Natur sein können. Darüber hinaus werde sozialer Status nicht allein durch Reichtum und Freizeit signifiziert, sondern beispielsweise auch durch noble Geburt, Intellektualität usw. Viel eher seien es die Neureichen, die durch ›conspicuous consumption‹ ihren Status markieren und zementieren wollen. Dies erfolge unter Zuhilfenahme von ›tastemakers‹, wie Architekten, Designern und Modeschöpfern, und nicht anhand einer Orientierung an der traditionellen ›leisure class‹ (vgl. RE 54). Schließlich liefert Veblen laut Campbell keine Erklärung der zentralen Fragen: Wie werden Konsumbegehren generiert und wie verändern sich diese? Wie erklären sich die Unterschiede und Verschiebungen hinsichtlich traditionellen und modernen Konsums, allen voran die Unersättlichkeit nach Innovationen? Die Theorie der ›conspicuous consumption‹ sei letztendlich auf alle Gesellschaften zu allen Zeiten anwendbar und damit für eine Erklärung des Phänomens des modernen Konsums unbrauchbar.6 Campbells Anliegen ist es also, den modernen Konsum nicht nur anhand einzelner Phänomene, sondern mit Blick auf seine sämtlichen Facetten zu erklären. Die Konsumrevolution des 18. Jahrhunderts ist bei ihm zunächst einmal durch mehrere Faktoren gekennzeichnet: Erstens ging diese nicht von den oberen Klassen, sondern von der Mittelschicht aus; zweitens kam das Phänomen der Mode auf; drittens waren es vor allem Konsum- und Luxusgüter, die die plötzliche Nachfrage bestimmten; viertens war mit der Konsum- eine umfassende Kulturrevolution verbunden: Diese schließt das Aufkommen der ›leisure class‹, die Entstehung des modernen Romans sowie dessen Markt und Publikum ebenso ein wie den damit verbundenen Triumphzug der romantischen Liebe (vgl. RE 21-28). Ist die Liebe an sich natürlich keine Erfindung dieser Zeit, so entwickeln sich jedoch die distinkten, bis heute gültigen Eigenschaften romantischer Liebe genau dann: die Festlegung auf einen einzigen 6 | Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Frank Trentmann, wenn er ›conspicuous consumption‹ als »a partial view of humanity and the dynamics of consumption« beschreibt (Frank Trentmann: The Empire of Things. How We Became a World of Consu­ mers, from the Fifteenth Century to the Twenty-first. London u.a. 2017, S. 14f.).

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Partner, die Einzigartigkeit desselben, die Vereinigung der Liebenden auf allen Ebenen, die Idealisierung des Liebespartners, die Plötzlichkeit der Liebe auf den ersten Blick, der Vorrang der Liebe vor allen anderen Dingen und Belangen, insbesondere materieller Art, sowie das Primat der Emotion gegenüber der Rationalität (vgl. RE 27).7 Selbst wenn die Erfindung der romantischen Liebe kein integraler Teil der Konsumrevolution gewesen sein sollte – Campbell räumt ein, dass dies nicht unabweisbar evident ist –, so ist sie dennoch aufs Engste mit der zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung und dem entstehenden Markt für Erzählliteratur verknüpft, insbesondere mit Romanen, deren populärstes Thema sie ist.8 Das ist laut Campbell auch der Grund, warum das Romanlesen als moralisch verwerflich galt: Es bestand die Befürchtung, dass besonders junge Frauen diese Romane nicht als Fiktion, sondern als Anleitung – eine Art Selbsthilfelektüre des 18. Jahrhunderts – verständen. Die Grenzen zwischen Liebe in der Fiktion und Liebe in der Realität beginnen dadurch zu verschwimmen. Darüber hinaus wurde in einem säkularen Kontext möglich, was vormals der Religion vorbehalten war: die Ausübung einer passionierten Leidenschaft (vgl. RE 26f.). Das Paradox, das sich mit dieser Kulturrevolution verbindet und welches Campbell lösen möchte, besteht darin, dass diese Revolution von einer Klasse ausging, von der man es am wenigsten vermutet hätte:9 »What is surprising, however, constituting one of the central conundrums of cultural history, is that the evidence strongly suggests that the consumer revolution was carried through by exactly those sections of English society with the strongest Puritan traditions, that is, the middle or trading classes, together with artisans and sections of the yeomanry.« (RE  31) Mehr noch, die Konsumkulturrevolution wurde nicht nur von dieser Schicht getragen, sondern hat genau dort ihren Ursprung.10 Damit stehen die Nachahmungstheorien à la Veblen zur Disposition: Stimmt man den Analysen Max Webers und Karl Marx‹ zu, dass die kapitalistische Gesellschaft von der Bourgeoisie ausgeht, die die aristokratische Klasse 7 | Campbell beruft sich dabei auf Lawrence Stone: The Family, Sex and Marriage in England 1500-1800. London 1977, S. 284. 8 | Vgl. dazu Oliver Jahraus: Liebe als Medienrealität. In: Stefan Neuhaus (Hg.): Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft. Würzburg 2012, S. 21-33. 9 | Vgl. Andreas Reckwitz: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld 2008, S. 219-233: Reckwitz beharrt auf der starren Opposition von bürgerlicher Kultur und dem Konsum, der bei ihm als ›das Andere‹ der Rationalität in Stellung gebracht wird. Reckwitz orientiert sich darüber hinaus vor allem an den von Campbell als unzureichend explanatorisch markierten Theorien, wie jene von Veblen und Sombart. 10 | Vgl. RE 33: Das Lesen von Romanen und der Kult romantischer Liebe sind bspw. keine genuin aristokratischen Praktiken, sondern stammen aus der Mittelschicht.

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in ihrer Herrschaft schließlich abgelöst hat, so käme dieser Schicht gemäß den Nachahmungstheorien eine eigenartige Doppelrolle zu: »On the one hand, regarded as defying the aristocratic ethic, and on the other, as adopting it.« (RE 34) Eine andere Perspektive ist also notwendig, denn laut Campbell wurde die Konsumkulturrevolution vielmehr durch eine »specifically bourgeois consumer ethic[,] a set of values and beliefs which were distinct to this section of English society« (RE 35) ausgelöst und durchgeführt.

1.2 Moderner Konsum und Hedonismus Anhand des Begriffs ›Luxus‹ differenziert Campbell zwischen »need and satisfaction« und »desire and pleasure« (RE 60). Ist Luxus nach der Sombart’schen Definition das über das Notwendige Hinausgehende,11 so meint Luxus bei Campbell auch die »sensuous or pleasurable experience« (RE 59). Die vorherige Distinktion von ›need‹ und ›want‹ wiederaufnehmend, bezeichnet ›need‹ bei Campbell einen Seinszustand des Mangels, der behoben werden muss, um bestimmte Bedingungen der Existenz aufrechtzuerhalten – am einfachsten exemplifiziert anhand des Zustands von Hunger, der durch Nahrungsaufnahme beseitigt wird, woraufhin sich Befriedigung, ›satisfaction‹, einstellt. ›Pleasure‹ dagegen ist kein Seinszustand, sondern vielmehr »a quality of experience«, »our favourable reaction to certain patterns of sensation.« (RE 60) ›Desire‹ ist somit die »motivational disposition to experience such patterns, and this is typically triggered by the presence in the environment of a recognized source of pleasure.« (RE 60) Das Paradebeispiel hierfür wäre jenes des Geschlechtsverkehrs, der auf die Begegnung mit einem potentiellen Partner folgt. ›Satisfaction-seeking‹ und ›pleasure-seeking‹ sind damit zwei völlig verschiedene Vorgänge: Ersterer hat seinen Ursprung im Individuum selbst, letzterer ist die Reaktion auf einen äußerlichen Anreiz, um noch größere Stimulation zu erfahren. Die Existenz von »naturally occuring pleasure« (RE 65) ist gebunden an die Existenz von Bedürfnissen, die der Satisfaktion bedürfen: »This follows naturally from the fact that it would be necessary to allow the discomforts associated with a need to develop before pleasure could be gained from the process of its alleviation. In fact, extinction of the experience of need involves the elimination of all such naturally arising powerful stimuli and hence the very possibility of intense pleasure.« (RE 65) In einer Gesellschaft jedoch, die wirtschaftlich in der Lage ist, weitgehend alle grundlegenden Bedürfnisse wie eine Behausung und Nahrung zu befriedigen, erwächst das Problem des Verlusts von ›pleasure‹, also Vergnügen. Im traditionellen Hedonismus, der von jenem 11 | Vgl. Werner Sombart: Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung [1913]. Berlin 1983 (Reprint der 2. Aufl. von 1922), S. 85.

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des modernen Konsums abzugrenzen ist, geht es vor allem um Erfahrungen, die Vergnügen bringen – wie besondere Speisen und Getränke, die sich von der bloßen Nahrungsaufnahme unterscheiden, Sex, Tanz usw. – und nicht, wie im modernen Hedonismus, um Vergnügen an sich, welches prinzipiell aus allen Erfahrungen des Lebens gewonnen werden kann (vgl. RE  69). Jan de Vries vermerkt dazu, dass die Suche nach Vergnügen im traditionellen Hedonismus grundsätzlich zur Befriedigung gelangen kann, jene im modernen Hedonismus jedoch nicht.12 Für den Übergang von traditionellem zu modernem Hedonismus ist die Verschiebung von ›sensations‹, also dem konkreten Fühlen, vor allem anhand der Nahsinne, hin zur Emotion entscheidend: Diese, so Campbell, verknüpft mentale Bilder mit physischen Stimuli, wodurch sie dem Individuum die Möglichkeit eröffne, von diesem selbst kontrollierte Stimulation zu generieren. Emotionen werden von Campbell als »states of high arousal« (RE  69) definiert, die eine ganze Reihe von intensiven, physiologischen Reaktionen hervorrufen können, welche die allein sensorische Stimulation weit übertreffen. Die Verlagerung von Emotionen aus der Umwelt in das Individuum im Zuge der Entzauberung der Welt (Max Weber), die umfassende Alphabetisierung, die Ausbildung von Selbstreflexion im Individuum, die Trennung der Subjektivität von der Objekthaftigkeit der Welt sowie die daraus resultierende Individualisierung sind laut Campbell die Hauptgründe dafür, dass das Individuum überhaupt Kontrolle über Emotionen erlangen konnte – was wiederum eine entscheidende Entwicklung für die Entstehung des modernen Hedonismus war (vgl. RE 72f.).13 Die (christliche) Religion ist Campbell zufolge der wichtigste kulturelle Bereich, in dem die Kultivierung von Emotionen betrieben wurde: This is because such intensely fateful issues as one’s state of sin (or grace) and one’s hopes for salvation, together with the extremely powerful emotions which they can arouse, are coupled with the necessity of presenting invisible divine agencies by means of symbols. Naturally enough, the potential to arouse these feelings then becomes attached to the symbols themselves. This is in marked contrast to the powerful emotions aroused by such real events as a battle or a shipwreck, where the emotion arises from the experienced reality rather than a ›symbol‹. (RE 74)

Im Zuge der Säkularisierung verblasste die religiöse Dimension der symbolischen Bedeutungen, die Wirkkraft der Emotionen jedoch blieb, und schlug 12 | Vgl. Jan de Vries: The Industrious Revolution, S. 23f. 13 | Vgl. zum Zusammenhang von Individualisierung, Romantik und Konsum auch Undine Eberlein: Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne. Frankfurt a.M., New York 2000, S. 331-350.

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sich laut Campbell beispielweise in der Literatur in Form von »graveyard poetry and the Gothic novel« (RE 75) nieder, die weiterhin die Lust am Nervenkitzel der Furcht und des Grauens befriedigten, wie es vormals Vorstellungen der Hölle und des Teufels getan hatten. Das Individuum ist dieser Verknüpfung aufgrund der Säkularisierung jedoch nicht mehr machtlos ausgeliefert – man hat nun die Wahl, von einem Gedicht oder Roman derart emotional erregt zu werden oder nicht: »Hence through the process of manipulating belief, and thus granting or denying symbols their power, an individual can successfully adjust the nature and intensity of his emotional experience; something which requires a skilful use of the faculty of imagination.« (RE 76) Es ist die Macht der eigenen Einbildungskraft, die dem Individuum die Kontrolle über seine Emotionen und die Stimuli, die Vergnügen hervorrufen, verleiht. Dies sind die zwei Charakteristika, die den modernen Hedonismus laut Campbell insbesondere kennzeichnen: Vergnügen wird erstens vor allem über emotionale, nicht mehr (nur) sensorische Stimulation ausgelöst, während zweitens die Bilder, die emotional stimulieren sollen, meist imaginativer Natur und damit von der Existenz real existierender Stimuli unabhängig sind. Dies schlägt sich in der Aktivität des ›day-dreaming‹14 nieder: Während im traditionellen Hedonismus die Bilder meist nur Erinnerungen sind und unverändert eingesetzt werden, ist das Individuum im modernen Hedonismus much more an artist of the imagination, someone who takes images from memory or the existing environment, and rearranges or otherwise improves them in his mind in such a way that they become distinctly pleasing. No longer are they ›taken as given‹ from past experience but crafted into unique products, pleasure being the guiding principle. In this sense, the contemporary hedonist is a dream artist, the special psychic skills by modern man making this possible. Crucial to this process is the ability to gain pleasure from the emotions so aroused, for, when the images are adjusted, so too are the emotions. As a direct consequence, convincing day-dreams are created, such that individuals react subjectively to them as if they were real. This is the distinctively modern faculty, the ability to create an illusion which is known to be false but felt to be true. […] All this drastically alters the nature of hedonism, for not only does modern man take pleasure in his day-dreams, but obtaining enjoyment from them radically changes his view of the place of pleasure in real life. (RE 78) 14 | Campbell grenzt das ›day-dreaming‹ von der Aktivität des ›fantasizing‹ ab, indem er postuliert, letzteres habe keine Anbindung an die Realität, was zwar für eine größere Möglichkeitsvielfalt sorge, jedoch auch das Potential einer Realisierung entbehre. ›Day-dreaming‹ dagegen berge immer die Möglichkeit in sich, dass das Imaginierte wahr werden könne. Da die Differenzierung für die hier vorgelegte Argumentation keine weitere Rolle spielt, wird auf eine nähere Erläuterung bzw. Kritik an dieser Stelle verzichtet (vgl. RE 84f.).

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Der Sinn und Zweck von ›day-dreaming‹ ist einzig und allein die Generierung von ›pleasure‹, es ist das Scharnier zwischen dem Entstehen von Begehren und dessen Erfüllung: Traum und Begehren werden daher oft miteinander vermengt und verwechselt, wodurch sich das Element des Träumens im Begehren selbst eingenistet hat (vgl. RE 85). Damit wird das Begehren an sich zu einer »pleasurable activity« (RE 86), wodurch sich auch der Status der Erfüllung verschiebt: »wanting rather than having is the main focus of pleasure-seeking.« (RE 86) Wird dem Begehren selbst der Vorzug gegeben, dann verkommt die Erfüllung von Begehren zu einer desillusionierenden Erfahrung: »The real experience in question may yield considerable pleasure, some of which may not have been anticipated, but despite this, much of the quality of the dreampleasure is bound to be absent.« (Ebd.) Im modernen Hedonismus wendet sich das Individuum daher bald einem neuem Objekt des Begehrens zu, um das Vergnügen und die Lust des ›day-dreaming‹ erneut zu erfahren. Damit geht ein permanentes Changieren zwischen Traum und Realität einher: Sobald sich die Realität in Form der Erfüllung des Begehrens einschaltet, werden die Traumimaginationen von dieser gelöst und auf ein neues Begehrensobjekt verschoben. Ein weiteres, zentrales Charakteristikum des modernen Hedonismus ist jenes der Innovation und des Neuen – es ist für eine der zentralen Institutionen der modernen Konsumgesellschaft verantwortlich: die Mode (vgl. RE  93f.). Wurde im traditionellen Hedonismus vor allem das begehrt, was man bereits kannte und daher sicher sein konnte, dass es Vergnügen bereitet, so begehrt der moderne Hedonist vor allem das, was er noch nicht kennt, denn erst die Qualität des Unbekannten erlaubt die Entfaltung des ›day-dreaming‹. Campbell fasst dieses Phänomen im Begriff des ›longing‹,15 der Sehnsucht also, die sich vom Begehren insofern unterscheidet, als sie sich nicht auf ein bestimmtes Objekt richtet, sondern ungerichtet beziehungsweise unbestimmt ist (vgl. RE 87). Sehnsucht und ein permanentes, aber diffuses Gefühl der Unzufriedenheit sind direkte Konsequenzen aus der Praxis des ›day-dreaming‹. Aus diesem Befund resümiert Campbell: The central insight required is the realization that individuals do not so much seek satisfaction from products, as pleasure from the self-illusory experiences which they construct from their associated meanings. The essential activity of consumption is thus not the actual selection, purchase or use of products, but the imaginative pleasure-seeking to which the product image lends itself, ›real‹ consumption being largely a resultant of this ›mentalistic‹ hedonism. Viewed in this way, the emphasis upon novelty as well as that upon insatiability both become comprehensible. (RE 89) 15 | Vgl. dazu auch: Susan Stewart: On longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection. Durham u.a. 2007.

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Der Konsum selbst wird damit zum Bestandteil einer größeren und komplexeren Struktur: »The visible practice of consumption is thus no more than a small part of a complex pattern of hedonistic behaviour, the majority of which occurs in the imagination of the consumer.« (Ebd.) Der Charakter des modernen Hedonismus erweist sich als grundsätzlich anti-materialistisch: Die tatsächlichen Produkteigenschaften werden zur Nebensache, entscheidend ist das Merkmal der Neuheit, denn nur diese macht Objekte zu potentiellem »dream material« (ebd.), anhand dessen der Konsument die Möglichkeit hat, das Vergnügen der ›day-dreams‹ zu realisieren. Obgleich dem Konsum die Enttäuschung folgt, so bleibt das durch ›day-dreaming‹ erzeugte ›longing‹ doch erhalten und sorgt dafür, dass sich erworbener Objekte schnell wieder entledigt wird und dafür neue akquiriert werden – eine Tatsache, die bisherige Konsumtheorien laut Campbell nur schwer erklären konnten. Die Interaktion zwischen Illusion und Realität ist also der Schlüssel zum Verständnis modernen Konsums: This dynamic interaction between illusion and reality is key to the understanding of modern consumerism and, indeed, modern hedonism generally. […] This is because wish-directed day-dreaming turns the future into a perfectly illusioned present. One does not repeat cycles of sensory pleasure-seeking as in traditional hedonism so much as continually strive to close the gap between imagined and experienced pleasures. Whatever one experiences in reality it is possible to ›adjust‹ in imagination so as to make appear more pleasurable; thus the illusion is always better than the reality: the promise more interesting than actuality. (RE 90)

Der Konsument ist sich dabei durchaus bewusst, dass das Vergnügen »a self-illusioned quality of experience« (ebd.) ist, die Imaginationen und Illusionen also ›hausgemacht‹ sind. Dies führt jedoch nicht zur Aufgabe des ›day-dreaming‹, es wird vielmehr noch angeheizt durch die Unzufriedenheit mit der Realität: »Hence the dissatisfaction with existence and the consequent readiness to seize whatever new pleasures are promised, which characterize the modern attitude of longing.« (Ebd.) Ausdruck des Erfolgs von ›day-dreaming‹ ist die Werbung, die meist nicht primär die Bedürfnisse, sondern die Träume potentieller Konsumenten fokussiert, und damit die beworbenen Produkte mit Illusionen und schließlich Begehren verknüpft (vgl. RE 91). Werbung ist jedoch nicht die Quelle des ›day-dreaming‹, so betont Campbell, sie macht sich dessen enge Verknüpfung mit käuflichen Waren lediglich zunutze:16 »Thus although advertisers make use of the fact that people day-dream, and indeed feed those dreams, the prac16 | Vgl. dazu den (kulturkritischeren) Ansatz Niklas Luhmanns in: Die Realität der Massenmedien [1996]. 5. Aufl. Wiesbaden 2017, S. 60-69.

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tice of day-dreaming is itself endemic to modern societies and does not require the commercial institution of advertising to ensure its continued existence.« (RE  91) Hiermit erklärt sich auch die Signifikanz von Produktrepräsentationen gegenüber den Produkten selbst, nicht nur in der Werbung, sondern auch in Magazinen und Zeitungen, auf Plakaten, Kalendern etc. (vgl. ebd.). Daraus resultiert außerdem das Phänomen des sogenannten ›window-shopping‹, bei dem die Konsumenten durch Warenhäuser streifen und sich an den Produkten, ihrer Präsentation und Bewerbung berauschen, ohne tatsächlich etwas zu kaufen.17 Mit dem Konzept des ›day-dreaming‹ legt Colin Campbell eine Theorie vor, die zentrale Phänomene und Funktionsweisen der modernen Konsumgesellschaft erklärt, wie beispielsweise die Unersättlichkeit hinsichtlich des Konsums, das Bedürfnis nach Innovation, das Aufkommen von Moden und die Differenz zwischen Produktversprechen und Realität, die zu ebenjener Unersättlichkeit führt. Die bisherigen Theorien von Veblen und Co. konnten immer nur bestimmte Aspekte erklären – die Dynamik des modernen Hedonismus dagegen braucht, so insistiert Campbell abschließend, nicht den Vergleich mit anderen Gesellschaftsschichten. Man könnte argumentieren, dass Veblens Theorie auf eine andere Form des Bedürfnisses abzielt, nämlich jene des ›social comfort‹. Diese Formulierung stammt von Jan de Vries, der hinsichtlich der existierenden Konsumtheorien eine grobe Kartierung vorgenommen hat, auf die zur besseren Orientierung und Einordnung der Argumentation Campbells hier kurz eingegangen werden soll. Die Befriedigung basaler Bedürfnisse zur Existenzsicherung – das, was mit Scitovsky als ›comfort‹ bezeichnet werden kann – ist ebenso wie die Befriedigung von ›pleasure‹ im traditionellen Hedonismus keine Erscheinung einer spezifischen Konsumrevolution der Neuzeit. Der Bedarf kann in beiden Fällen befriedigt werden, das Begehren ist also grundsätzlich limitiert – nichtsdestotrotz gehen die meisten klassischen ökonomischen Theorien bis heute von diesen Annahmen aus.18 De Vries differenziert nun den Bedarf nach ›comfort‹ im modernen Hedonismus in jenen des persönlichen und des sozialen Bereichs: »social comfort«19 wird vor allem durch jene Mechanismen bedient, die Thorstein Veblen für die Konsumrevolution seit dem 18. Jahrhundert verantwortlich macht: die Abgrenzung von ande17 | Vgl. zu diesem Phänomen und der daraus resultierenden ›commodified visual mobility‹: Anne Friedberg: Window Shopping. Cinema and the Postmodern. Berkeley u.a. 1993. 18 | Der Grund dafür dürfte in der wortwörtlichen Unberechenbarkeit der Motivation von Konsumenten liegen: Diese lässt sich erstens nur sehr aufwendig erforschen und zweitens nicht zwangsläufig in Zahlen und Statistiken abbilden. Vgl. de Vries: The Industrious Revolution, S. 20f. 19 | De Vries: Industrious Revolution, S. 22.

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ren Schichten und die Statussicherung. Da der Konsument damit von anderen abhängig ist, ist der Konsumprozess potentiell unendlich. Auch das Begehren von ›pleasure‹ zum persönlichen ›comfort‹ ist unendlich, insbesondere aufgrund des Einsetzens von Langeweile, die sich nach dem Konsum unmittelbar einstellen kann. Der nun mit einer starken Imaginationskraft ausgestattete Konsument begibt sich mittels ›day-dreaming‹ rasch auf die Suche nach neuen Stimuli, deren Novität sich beim Konsum neuerlich erschöpft. Das Begehren von ›pleasure‹ im modernen Hedonismus ist niemals vollständig stillgestellt und somit potentiell unendlich.20 Diese hedonistische Dynamik, so Campbell, macht auch vor der romantischen Liebesbeziehung nicht Halt: »The cycle of desire-acquisition-use-desillusionement-renewed-desire is a general feature of modern hedonism, and applies to romantic interpersonal relationships as much as the consumption of cultural products such as clothes and records.« (RE 90) Dem Zusammenhang zwischen einer spezifisch romantischen Ethik und modernem Konsum soll nun näher nachgegangen werden.

1.3 Die Geburt des modernen Konsums aus der romantischen Ethik Colin Campbell identifiziert die Entstehung der Konsumgesellschaft als eine Kulturrevolution, die eine Reihe sozialkultureller Innovationen umfasste: unter anderem das System der Mode, die Popularität des Romanlesens sowie den Triumphzug der romantischen Liebe. Diese haben den modernen Hedonismus zuallererst möglich gemacht. Campbell subsumiert diese Innovationen unter der intellektuellen und ästhetischen Bewegung des ›Romanticism‹,21 die er mit der Empfindsamkeit zusammendenkt (vgl. RE 99). 20 | Vgl. ebd., S. 23f. 21 | Der Begriff bezieht sich bei Campbell auf das angelsächsische Verständnis der Romantik, das in seinen Nuancierungen nicht eins zu eins auf die deutsche Romantik übertragbar ist. Die letztendlich für Campbell entscheidenden Argumente, der Individualismus und die Imaginationskraft, sind jedoch auch Bestandteil des Verständnisses einer deutschen Romantik, weshalb im Folgenden darauf verzichtet wird, auf die etwaigen Unterschiede detailliert einzugehen. Vgl. dazu allg. Detlef Kremer: Romantik. 2. überarb., akt. Aufl. Stuttgart, Weimar 2003. Zudem gibt es auch Forschungsbeiträge, die Ökonomie, insbesondere Geld, mit der deutschen Romantik und Geistesgeschichte zusammendenken, vgl. Richard T. Gray: Money Matters. Economics and the German Cultural Imagination, 1770-1850. Seattle 2008, insbes. S. 63-78, und: Marc Shell: Money, Language, and Thought. Literary and Philosophic Economics from the Medieval to the Modern Era. Baltimore 1982. Ähnlich auch: Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Weimar 2002, S. 16-19.

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Er beginnt seine Ausführungen dazu in Anlehnung an das Vorbild Max Webers mit der Analyse des Protestantismus und legt dar, dass dieser nicht frei von ›pleasure‹ war, was insbesondere für die Strömung des Puritanismus zutrifft – »the most powerful anti-hedonistic forces which the world has known.« (RE 101) Campbell begründet seine These damit, dass die protestantische Ethik nicht nur zu einer neuartigen Verbindung von sinnlicher und spiritueller Liebe in der Ehe führte, sondern den Verzicht auf Konsum ebenso sanktionierte wie das irrationale Übermaß desselben – bedeutete dies doch die Anhäufung von Reichtum, die als Sünde galt. Ebenso sündhaft war das Vergnügen um des Vergnügens willen, so dass das Vergnügen der Puritaner vor allem in »secondary pleasure« (RE 102) bestand – Vergnügen also, das von Gott gewollt oder verlangt beziehungsweise durch die Vernunft begründet wurde. So diente beispielsweise der Geschlechtsverkehr der Fortpflanzung, da dessen Verzicht das Aussterben der Menschen bedeuten würde: Demnach war es also vernünftig und aus Sicht der protestantischen Ethik sinnvoll und gottgefällig, nicht darauf zu verzichten. Auch das Ideal der Güte und des Wohlwollens im Deismus, der ›benevo­ lence‹, stand in engem Zusammenhang mit ›pleasure‹: Güte als zentrale Eigenschaft Gottes galt als göttliche Eigenschaft des Menschen, die der Liebe Gottes, also Gefühlen, entsprang. Im frühen 18.  Jahrhundert wurde sie zunehmend mit einem ihr inhärenten Vergnügen verknüpft, das sich mit wohlwollenden Gefühlen und Taten einstellte (vgl. RE 120f.). In der calvinistischen Tradition wiederum kam es zu einer Verschiebung innerhalb der Lehre der Prädestination und der damit verbundenen Suche nach Zeichen, ob man von Gott erwählt sei oder nicht. Obgleich Calvin selbst jegliche Emotion suspekt war und diese von ihm als potentiell gefährlich angesehen wurden, entwickelte sich in den nachfolgenden Generationen der Calvinisten eine alternative Ethik: »[W]hilst the idea that emotional states had a special spiritual significance and that consequently certain displays of feeling were to be considered as signs of godliness was to outlast the collapse of Calvinism as a coherent theological system to become incorporated into the Enlightenment-based theodicy of benevolence which replaced it.« (RE 127) Da auch die Nicht-Erwählten entweder davon überzeugt sein konnten, auserwählt zu sein, oder ebenso gute Taten vollbringen konnten, bedurfte es eines zusätzlichen Zeichens: des Erlebnisses der göttlichen Gnade. Das sich daran anschließende Problem war jedoch, dass nicht klar war, wie ein solches Erlebnis auszusehen hatte. Dies wurde durch die Verschiebung in die Subjektivität gelöst: Ein intensives, hochgradig subjektives Erlebnis wird zum religiösen Wert, das heißt, es geht nicht um das Wissen oder Verhalten des Individuums, sondern um seine Innerlichkeit. Das Individuum war deshalb dazu angehalten, diese genauestens zu beobachten, zu analysieren und dokumentieren – in Tagebüchern, Autobiographien u.ä. Die Dokumentation des Erlebnisses, das sich zum Beispiel anhand von »true

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grief for sin« (RE 131), Verzweiflung oder Melancholie äußern konnte, und dessen Kommunikation an die Mitmenschen gab jenen mögliche Anhaltspunkte dafür, das Erlebnis bei sich selbst zu identifizieren. Für Campbell ist das zentrale Charakteristikum dieser Entwicklung, dass es zu einer Kultivierung von Emotionen und deren Zurschaustellung kam: True faith, holiness, sanctity, the mark of the ›saint‹, could not only be manifest to the individual within his own heart, he could also manifest it to others, not by any particular action but through a distinctive form of profound emotional sensibility, and not just when seeking membership of the church, but throughout life. In this way, a link was forged between displays of feeling and assumptions about the fundamental spiritual state of an individual which was to long outlive the decline of Calvinism and to influence profoundly the eighteenth-century movements of sensibility and Romanticism. (RE 131)

Campbell zieht anhand der Kultivierung von Emotionen eine direkte Linie vom Protestantismus und seinen unterschiedlichen Ausprägungen zum ›Romanticism‹ und zur Empfindsamkeit: Durch die Säkularisierung, mit der unter anderem auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen, eine prosperierende, stetig wachsende Wirtschaft und eine damit zusammenhängende Konsumsteigerung verbunden war, wurden die religiös codierten Emotionen in Funktion und Bedeutung transformiert: »[T]hese religiously generated emotions had become a source of pleasure in themselves and hence there was a widespread reluctance to abandom them.« (RE 133) Im 18. Jahrhundert, so Campbell, kam es in diesem Zuge zu einer Romantisierung der Vorstellung vom Tod und der Verdammung, entsprechende Emotionen und Dispositionen wie die Melancholie wurden um ihrer selbst willen kultiviert: »Puritans, or those who inherited their mentality, had become addicted to the stimulation of powerful emotions and were now seeking substitutes for the original. An obvious place to find them was in literature where artificially created feelings could be experienced by ›living‹ real-life situations vicariously« (RE 134). Diese Reinterpretation des Puritanismus auf einer empfindsamen und nicht calvinistischen Basis wurde maßgeblich von der Mittelschicht getragen. Die enge Verbindung von Empfindsamkeit und Protestantismus offenbarte sich schließlich in der für Campbells Argumentation wichtigen ›sensibility‹: Der Begriff mutierte im Laufe des 18. Jahrhunderts von einer verstandesbasierten Konnotation hin zur Bedeutung eines »refined, or moral feeling« (RE 139). Damit verbunden war ein Charakterideal: Wer ›sensibility‹ besaß, der galt als guter Mensch. In der Praxis bedeutete ›sensibility‹ die »susceptibility to tender feelings, typically exhibited by a show of tears« (RE 140). Die öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen, insbesondere solcher von moralischer Bedeutung wie Mitleid, Mitgefühl und Güte (›benevolence‹), hatte vor allem zwei Funktionen: erstens, um sich selbst und andere davon zu überzeugen, dass man die

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Charaktereigenschaft der ›sensibility‹ tatsächlich besaß; zweitens, um diesen Gefühlen intensiv zu frönen, um sich an dem Vergnügen (›pleasure‹), das diese Gefühle mit sich brachten, zu ergötzen: »[T]hus, it was that sound ethical justification was provided for an emotionalist hedonism.« (RE 141) Campbell untermauert diese These durch den Verweis auf gängige, zeitgenössische sprachliche Wendungen, die im Zusammenhang mit den Emotionen der ›sensibility‹ häufig das damit verbundene Vergnügen zur Sprache brachten (dies bezeichnenderweise oft durch die Verwendung des Wortes ›luxury‹).22 Anhand von Jane Austens Sense and Sensibility (1811) erläutert Campbell, dass die romantische Liebe auch nur ein Teil dieses Kults der ›sensibility‹ war und diesem ihre Popularität verdankt: It is important to recognize that romantic love is little more than one element in the total ethic of sensibility, and hence that its rise to prominence in the eighteenth century can only be understood in terms of this more-embracing cultural movement. Its beliefs exactly parallel those present in the wider context, simply being applied to interpersonal heterosexual relationships. In that sense, romantic sensibility is but a special instance of sensibility in general. (RE 146)

Die zentralen Eigenschaften romantischer Liebe wie die Liebe auf den ersten Blick, das Bedeutungssupremat der Liebe über alles andere sowie die Idealisierung des Liebespartners zum Seelenverwandten haben ihr Pendant im Kult der ›sensibility‹ in Form der Bedeutsamkeit des ersten Eindrucks einer Person, der Superiorität alles Geistigen über das Materielle sowie dem Ideal der Freundschaft. Der Kult der ›sensibility‹ hatte schließlich die enge Verknüpfung von Emotionen, Vergnügen und Moral zur Folge: Shaftesbury erhebt in Characteristics of Man, Manners, Opinion, Times (1711) die Gefühle zu jener Instanz, die einzig das Gute wahrhaftig anzeigen können – er postuliert einen intuitiven, moralischen Sinn per se. Doch damit nicht genug, er weitet dies auf die Ästhetik aus: Die Verbindung des Guten mit dem Schönen basiert nicht mehr auf der Instanz der Vernunft, sondern jener des Gefühls: »Since, however, pleasure had long been a defining characteristic of the beautiful, it could now also serve – in the form of emotional indulgence – as an indicator of virtue, a natural conclusion being that whatever aroused feelings of pleasure was both beautiful and good.« (RE 151) Campbell zufolge werden Ethik und Ästhetik somit austauschbar – und ›sensibility‹ ist der Begriff, der beide unter sich vereint. Die enge Verbindung von Gefühlsregung und Moral hatte zur Folge, dass bei der Rezeption des Schönen neue Standards gesetzt wurden: »Responsiveness to beauty thus 22 | Vgl. RE 141: Campbell bezieht sich vor allem auf eine Auflistung bei J. M. S. Tompkins: The popular novel in England 1770-1880. Lincoln, Nebr. 1961, S. 103.

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became a crucial moral quality such that any deficiency in this respect became a moral lapse, whilst correspondingly virtue became an aesthetic quality, such that, in turn, any moral lapse was ›bad taste‹.« (RE 152) Diese neuen Standards sind, so Campbell, der Grund, warum die Mittelschicht ihre Einstellung zu Konsum und Luxus vom 17. zum 18. Jahrhundert so grundlegend ändern konnte. Die Qualität der ›sensibility‹ offenbarte sich nicht nur im Umgang mit anderen Menschen, sondern insbesondere auch im jeweiligen Gespür für Ästhetik im Sinne des Schönen und damit Guten. Dies konnte anhand der Reaktion auf Kunstwerke oder die Natur beobachtet werden, oder eben durch die Auswahl von käuflichen Waren: Alle Produkte, die einen bestimmten Geschmack suggerierten, implizierten auch einen moralischen Standpunkt: »Asceticism was now [im 18. Jahrhundert, AO] less significant than manifesting sensibility, something which required continuing evidence of one’s good taste.« (RE 153) Geschmack bekam dadurch eine spezifisch ästhetisch-ethische Qualität:23 »It was, therefore, precisely because the middle classes had such strong Puritan inheritance that they were eager to ›follow fashion‹ and hence to consume ›luxury‹ goods. This they did out of a deep-seated fear that they might be (and be thought to be) lacking in virtue. Their predominant concern was thus to protect their character by manifesting ›taste‹, rather than improve their status by exhibiting pecuniary strength.« (RE 153f.) Geschmack wurde für das Konsumverhalten unabdingbar: Damit wurde zum einen die Auswahl erleichtert, zum anderen das Verlangen nach Innovationen sichergestellt (vgl. RE 157). Das Aufkommen der Mode löste das zentrale Problem der Suche nach einem allgemein anerkannten ästhetischen Standard, der nicht nur die Bedürfnisse und Wünsche der Konsumenten erfüllte, sondern auch als Basis für ein Charakterideal fungieren konnte. Die Kombination eines standardisierten Mechanismus mit der Möglichkeit, das im modernen Hedonismus stets begehrte Neue beständig hervorzubringen, machte das »Western European fashion pattern« zu einem großen Erfolg: »[T]his pattern does embody a fixed and agreed aesthetic standard by which beauty is determined: it is the criterion of stimulative pleasure as achieved through novelty.« (RE 158) Hiermit wird deutlich, dass die Hervorbringung von Innovationen kein Trick der Produzenten ist, sondern ein Bedürfnis der Konsumenten im modernen Hedonismus: Gäbe es dieses nicht, dürfte jegliche Innovation am Markt auf wenig Interesse stoßen (vgl. RE 159).24 23 | Vgl. dazu auch: Julia Schöll: Interessiertes Wohlgefallen. Ethik und Ästhetik um 1800. München 2015. 24 | Campbell versucht im Folgenden nachzuweisen, dass die aristokratische Ethik im Gegensatz zu jener der Mittelschicht keinerlei Einfluss auf die Entstehung der Konsumgesellschaft hatte. Er geht in dieser Argumentation vom Sonderfall des englischen Gentlemans aus, der so jedoch nicht auf kontinentaleuropäische Gesellschaften übertragbar sein dürfte. Die strikte Leugnung einer Vorbildfunktion der aristokratischen Schicht,

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

Die Popularität der Romanlektüre im 18. Jahrhundert ist unmittelbar mit dem Kult der ›sensibility‹ verbunden, verlangt diese doch beständig nach Neuem und intensiven emotionalen Erfahrungen. Campbell weist daraufhin, dass sich die zeitgenössische Kritik an diesem Trend derselben Argumente bediente, die auch gegen den modernen Konsum ins Feld geführt wurden: »a concern with self-illusory pleasure, and a taste for novelty« (RE 176). Das Lesen der Romane konnte zu einer generellen Unzufriedenheit mit der Realität führen, weil mittels der Imagination real nicht verfügbare Erfahrungen exploriert wurden, die Vergnügen verhießen. Campbell argumentiert, dass das Lesen von Romanen »a critical change in attitude towards the world« (RE 176) mit sich bringen konnte und damit die bis dahin geltenden Regeln und Traditionen hinterfragt wurden. Der Literatur wird hier in Verbindung mit der Imaginationskraft der Leser eine bemerkenswerte transformative Macht zugeschrieben. Mit dem Niedergang der Empfindsamkeit ging schließlich das Auf blühen der Romantik als einer allgemein europäischen, kulturellen Bewegung – ähnlich der Epochen der Renaissance oder der Aufklärung – einher (vgl. RE 180).25 Campbell versammelt die Eigenschaften einer romantischen Metaphysik (anstelle einer romantischen Philosophie, von der er meint, dass es sie so eindeutig nicht gegeben habe26): die Bedeutung der Kreativität als göttliche Gabe, Pantheismus und Mystizismus, Genieästhetik, die Bedeutung des Individuums in seiner Einzigartigkeit (Individualität), die Zentralstellung des Künstlers und der Kunst, eine grundsätzlich ästhetische Weltanschauung, die Entdeckung eines genuin Nicht-Bewussten,27 die Betonung von Leidenschaft (›passion‹) gegenüber dem bloßen Gefühl (›sentiment‹), die Unterscheidung in eine Welt der Erscheinungen und der Realität im gemeinen Sinn und jener Welt der Wahrheit, Schönheit und des Guten, die ewig, unendlich und im romantischen Sinne die einzig reale ist (vgl. RE 181-187). Insbesondere die Auffassung, wie sie von Thorstein Veblen und Werner Sombart mit Vehemenz vertreten werden, erscheint für den Sachverhalt unnötig verengend, da es nur schwerlich einleuchtet, nicht von einem Sowohl-als-auch auszugehen. Für die vorliegende Arbeit ist diese Problematik zweitrangig, weshalb auf eine intensive Diskussion der Argumentation Campbells an dieser Stelle verzichtet wird. 25 | Da die Romantik eine europäische Bewegung war, lässt sich Campbells Argumentation, die sich stark auf England bezieht, im Allgemeinen auch auf den Rest des Kontinents übertragen. 26 | Diese Behauptung lässt sich hinsichtlich der spezifisch deutschen Konfiguration der romantischen Bewegung bestreiten, die sehr stark philosophisch geprägt war, womit sich ohne Schwierigkeiten eine deutsche romantische Philosophie definieren lässt. Vgl. Kremer: Romantik, S. 59-88. 27 | Vgl. Henri F. Ellenberger: The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of Dynamic Psychiatry. New York 1970.

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dass allein die Poesie das Gute im Menschen hervorbringen könne, misst der Fakultät der Einbildungskraft von Künstlern wie Rezipienten eine enorme Bedeutung bei: It is noticeable how such a theory places almost as much emphasis upon the ›re-creative‹ abilities of the reader as upon the original creative faculties of the poet, for whilst the latter must be moved by what he sees, and also capable of translating this experience into an affective, and hence effective, work of art, the former must possess sufficient imaginative skill to be able to use the words on the page to produce a convincing illusion. The reader is also, in that sense, assumed to be a creative artist, capable of conjuring up images which have the power to ›move‹ him. (RE 189)

Die Produktion von Gefühlen im Leser ist unmittelbar mit ›pleasure‹ verbunden, jedoch nicht in Form des schnöden ›amusements‹, sondern in einer genuin ethischen Funktion: »Pleasure is no less than the poet’s medium of truth, his means of acknowledging the beauty of the universe, and his manner of giving expression to the essential dignity of man« (RE 190). ›Pleasure‹ wird damit zum moralischen Agens, in direkter Verbindung zur Tugend, als »essential ingredient in human conduct« (RE 191). In dieser Konsequenz wurde die Einbildungskraft zur wichtigsten persönlichen Eigenschaft, nur sie eröffnete den Zugang zur Welt der Wahrheit, der Schönheit und des Guten: Since the key characteristic of the divine was taken to be creativity, both in the sense of productivity and of originality, imagination became the most significant and prized of personal qualities, with the capacity to manifest this in the works of art and through an ability to enter fully into those created by others, both acting as unambiguous signs of its presence. Since, in addition, the true and perfect world which imagination revealed was necessarily the realm of beauty, any exercise of this faculty was accompanied by pleasure, such that use of the imagination and the experiencing of pleasure became largely commensurate. Thus the Romantic was someone who had an ideal sensitivity to pleasure, and indicated this fact by the spontaneity and intensity of his emotions. (RE 193)

Der Romantiker war somit in der Lage, mittels seiner Kunstwerke, die im Grunde Verkörperungen seiner Imaginationen sind, anderen, also den Rezipienten seiner Kunst, Vergnügen zu bereiten, und, wie Campbell es formuliert, sie damit ›geistig zu erneuern‹. Gleichzeitig war der Romantiker aufgrund seiner idealistischen Orientierung unabhängig von allem Materiellem und Utilitaristischem: »This ideal of character is the only one of those examined that places a high moral value directly upon the experience of pleasure, whilst actually devaluing a utilitarian preoccupation with comfort.« (RE  193) Dies führte zu einer Spannung zwischen dem Künstler-Individuum und der

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

Gesellschaft, in der dieser lebte – was die Funktion der Einbildungskraft und des ›day-dreaming‹, mittels derer eine andere Gesellschaftsordnung vorgestellt werden konnte, jedoch zementierte: »This ›adverse imagination‹ of the culture could drive the Romantic into that form of inner exile from society which daydreaming and fantasizing represented, finding in his ›inner eye‹ both the bliss which soothed despair and the inspiration necessary for renewed attempts to convert others.« (RE 194) Eine Form, diese andere Gesellschaftsordnung zu leben, war laut Campbell der ›Bohemianism‹ mit dem Bohemian als »the social embodiment of Romanticism« (RE 195, vgl. dazu RE 195-201).28 Damit sind nun alle Ingredienzen zusammengetragen, anhand derer Campbell schließlich zu jener These gelangt, die der Grundpfeiler seiner Untersuchung ist und die Verknüpfung von romantischer Ethik und modernem Konsum offenlegt: The romantic ideal of character, together with its associated theory of moral renewal through art, functioned to stimulate and legitimate that form of autonomous, self-illusory hedonism which underlies modern consumer behaviour. At the same time, romantic ideas concerning the role and function of the artist served to ensure that a continuous supply of novel and stimulating cultural products would be forthcoming, and that via Bohemia, the limits to prevailing taste would repeatedly be tested and overthrown. The romantic world-view provided the highest possible motives with which to justify day-dreaming, longing and the rejection of reality, together with the pursuit of originality in life and art; and by so doing, enabled pleasure to be ranked above comfort, counteracting both traditionalistic and utilitarian restraints on desire. (RE 200f.) 28 | Andreas Reckwitz nimmt in seiner Theorie des modernen Konsumsubjekts Campbells Überlegungen zur Romantik auf und weitet den Einfluss ästhetischer Bewegungen auf die Etablierung moderner Konsumkultur aus: »In allen drei zentralen ästhetischen Bewegungen der Moderne, Romantik, Avantgarde und Postmodernismus, bahnen sich damit zentrale Dispositionen der modernen Konsumkultur an: die Prämierung des Erlebens statt des Handelns, die Kontingenz von Bedeutungen statt der Natürlichkeit der Dinge, die Gegenstände der äußeren Welt als Instrumente innerer Imaginationen, Lustprinzip statt Realitätsprinzip, Selbstexpression statt Moralität, eine artifizielle Stilisierung der eigenen Person, schließlich und vor allem eine Prämierung des Neuen anstelle der Stabilität des Bewährten.« (Reckwitz: Unscharfe Grenzen, S. 228) Reckwitz postuliert jedoch im Gegensatz zu Campbell die holzschnittartige Opposition rein rationaler bürgerlicher Kultur und irrationaler, exzessiver, unmoralischer Konsumkultur: Die bürgerliche Kultur sei demnach an ihren äußeren Grenzen von diesen ästhetischen Bewegungen bedroht worden, so dass das moderne Konsumideal von außen in die bürgerliche Kultur eingedrungen sei (vgl. ebd., S. 225). Campbell dagegen sieht die Ursprünge moderner Konsumkultur im Rahmen einer genuinen ästhetischen Ethik als integralen Bestandteil der bürgerlichen Kultur selbst.

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Die romantische Ethik transformierte den traditionellen zum modernen Hedonismus und legitimierte damit grundlegende Charakteristika modernen Konsums: das Streben nach Vergnügen um seiner selbst willen, die Macht der Einbildungskraft und die Imagination einer alternativen Realität, das Begehren von Innovationen und die Verfügbarkeit derselben: »In all these ways, Romanticism has served to provide ethical support for that restless and continuous pattern of consumption which so distinguishes the behaviour of modern man.« (RE 201) Der Geist des modernen Konsums, geboren aus der romantischen Ethik, äußert sich also darin, in der Realität all das Vergnügen erleben zu wollen, an dem man sich bereits in der Imagination berauscht hat: Die Bilder der Einbildungskraft und die damit verbundenen Emotionen sind wichtiger als der Konsum des Produkts selbst, dessen Erfahrung die Erwartungen nie ganz erfüllen kann. Nichtsdestotrotz führt dies zum unerlässlichen Konsum immer neuer Dinge – denn nur so kann das Begehren wenigstens ansatzweise gestillt werden. Die diesem Verhalten zugrundeliegende Unzufriedenheit mit der Realität ist ein zentrales Merkmal der Moderne und entsprechender Institutionen wie der Mode oder der romantischen Liebe (vgl. RE 205f.). Dabei ist es nicht nur so, dass die romantische Ethik den modernen Konsum zuallererst möglich gemacht hat, sondern der moderne Konsum befeuert wiederum seinerseits romantische Leidenschaften: eine Verbindung, die laut Campbell seit zweihundert Jahren kontinuierlich anhält (vgl. RE 216). Abschließend perspektiviert Campbell seine Untersuchung im Hinblick auf Max Webers Protestantische Ethik und die Frage, ob ›Romanticism‹ und Puritanismus Antipoden seien. Campbell verortet die Ursprünge beider im Protestantismus selbst: Während sich aus der calvinistischen Prägung der Rationalismus und Utilitarismus entwickelte, die Weber als zentrale Entwicklungen für den Kapitalismus beschreibt, so liegt der Ursprung der romantischen Ethik in der empfindsamen Auslegung des Puritanismus, wie Campbell darlegt (vgl. RE 219). Protestantismus und ›Romanticism‹ stehen sich also nicht als Gegensätze gegenüber, da sie in ihren Ursprüngen gleiche Werte vertreten. Die symbiotische Verbindung beider ist vielmehr eine zentrale Eigenschaft moderner Gesellschaften:29

29 | Vgl. dazu auch Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017, S. 18-20: In seiner jüngsten Studie unterstreicht Reckwitz diesen Zusammenhang, indem er die romantische Liebe und den Konsum als Prozesse der »Singularisierung« beschreibt, die in der Spätmoderne die Vorherrschaft gegenüber der Logik des Allgemeinen und der Rationalisierung angetreten haben. Ebenso wie Campbell verortet er den Ursprung dieser »Singularitäten« in der Romantik.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven The cultural logic of modernity is not merely that of rationality as expressed in the activities of calculation and experiment; it is also that of passion, and the creative dreaming born of longing. Yet, more crucial than either is the tension generated between them, for it is upon this that the dynamism of the West ultimately depends. The main source of its restless energy does not derive from science and technology alone, nor yet from fashion, the avant-garde and Bohemia, but from the strain between dream and reality, pleasure and utility. (RE 227)

2. R omantische P r a xen : L iebe in Z eiten des K apitalismus Während Colin Campbells Überlegungen im deutschsprachigen Diskurs bisher wenig bis gar nicht rezipiert wurden, haben die zahlreichen Publikationen Eva Illouz’ in der Soziologie den Zusammenhang von Liebe und Kapitalismus populär gemacht.30 Ihre Thesen sollen im Folgenden dargelegt und dabei an geeigneten Stellen mit jener einflussreichen Theorie von Liebe zusammengebracht werden, die sich nicht mehr an einer (vergeblich) ontologischen Bestimmung versucht,31 sondern Liebe als Code auffasst: Niklas Luhmanns systemtheoretische Figuration der Liebe.32

2.1 Unwahrscheinlichkeiten: Liebe als Kommunikationscode »In der Moderne können wir schließlich nicht mehr sagen, was die Liebe ist. Wir sind unfähig, die Identität der Liebe ohne Differenz (schon gar nicht: ohne historische Differenz) zu denken, als eine Substanz mit Akzidentien, als etwas, das sich klassifizieren läßt, nicht einmal als etwas, das als abgegrenztes

30 | Vgl. Kap. I/1, Fußnote 16. 31 | Derartige Bestimmungsversuche enden oft, wie Stefan Neuhaus darlegt, in der Bestimmung der Liebe als etwas Undefinierbarem bzw. Unerreichbarem. Dies ist jedoch für eine wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens wenig hilfreich, weil Liebe damit alles Mögliche sein kann. Vgl. Stefan Neuhaus: Paarbildungen. Figurationen der Liebe in Gegenwartsliteratur und -film. In: Ders. (Hg.): Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft. Würzburg 2012, S. 273-292, S. 273f. 32 | Eva Illouz verweist in Der Konsum der Romantik lediglich an einer Stelle auf Luhmanns Definition der Liebe als Code, ohne weiter darauf einzugehen: Vgl. Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn [Original: Consuming the Romantic Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, 1997]. Frankfurt a.M. 2007, S. 210. Ein zumindest punktuelles Zusammendenken beider Theorien soll hier nachträglich versucht werden.

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Phänomen in einer Welt von Phänomenen vorkommt.«33 Die Leistungsfähigkeit des systemtheoretischen Liebesbegriffs liegt in der Abkehr von der Annahme, Liebe existiere als ontologische Entität, deren Wesen man bestimmen könne.34 Dagegen setzt Luhmann die zunächst sperrige, aber für die literaturwissenschaftliche Analyse von Liebe und Liebesgeschichten äußerst geeignete Bestimmung als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium: »In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.«35 Für die Literaturwissenschaft ist diese Definition praktikabel, denn »[a]uch fiktionale Figuren kommunizieren und verwenden bzw. modifizieren dabei den Kommunikationscode der Liebe, wobei die konstitutive Polyvalenz der Literatur Rezeptions- und Deutungsspielräume eröffnet.«36 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind laut Luhmann dazu da, an sich unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlich zu machen. Doch warum ist Liebe unwahrscheinlich? Die Semantik romantischer Liebe, die seit Ende des 18. Jahrhunderts verbindlich wird und somit prinzipiell alle Schichten einschließt,37 verlangt dem Individuum zunächst einmal viel ab: Es geht um nichts weniger als die Realisierung von »Höchstrelevanz«,38 die sich auf genau eine Person bezieht. Diese Selektion ist, wie Hartmann Tyrell ausführt, »monopolistisch«,39 das heißt der Liebesbeziehung kommt höchste Priorität zu, andere Intim- oder Nahbeziehungen, wie z.B. auch Freundschaften, müssen weniger wichtig sein. Die Liebe wird zur »wichtigste[n] Angelegenheit des Lebens«,40 eine Funktion, die

33 | Peter Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. Konstanz 2003, S. 13, Herv. i. O. 34 | Vgl. zu dieser Problematik Elke Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit. Frankfurt a.M., New York 2005, S. 11-13. 35 | Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität [1982]. Frankfurt a.M. 1994, S. 23. 36 | Neuhaus: Paarbildungen, S. 276 (Herv. getilgt). 37 | Vgl. Hartmann Tyrell: Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer »quantitativen Bestimmtheit«. In: Dirk Baecker u.a. (Hg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1987, S. 570-599, S. 574, 591. 38 | Tyrell: Romantische Liebe, S. 570. 39 | Ebd., S. 571. 40 | Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. 3. Aufl. Tübingen 1966, S. 579.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

ehemals die Religion innehatte.41 Damit geht einher, dass das Verhältnis der Liebe zu ihrer Umwelt ein »devaluative[s]«42 ist, alles andere also nie so wichtig sein kann oder darf wie die Liebe selbst. Deshalb kommt die Erfahrung der Liebe für das Individuum einem »Umsturz der Werte«43 gleich, indem sich die Liebe vor alle anderen Werte schiebt. Die ›quantitative Bestimmtheit‹ der romantischen Liebe nach Tyrell liegt in der Festlegung auf exakt zwei Liebende: »Die Liebe mit ihrer Höchstrelevanzambition ist konstitutiv unteilbar. Lieben meint das absolute, alternativenlose Präferieren des Geliebten.«44 Diese Exklusivität, die die Anwesenheit beziehungsweise Abwesenheit des Geliebten zu einem zentralen Faktor dieser Sozialbeziehung macht und insbesondere die sexuelle Interaktion als das schlechthin Intime codiert,45 lässt keinerlei Raum für Dritte. Der Vorteil dieser Konstellation von Zweiheit liegt in ihrer Komplexitätsreduktion, aus der wiederum eine Unmittelbarkeit in der Kommunikation folgt, die die Besonderheit, aber auch potentielle Zerbrechlichkeit der Intimbeziehung markiert.46 Die romantische Liebe zu zweit ist darüber hinaus auf Gegenseitigkeit und Erwiderung, also Reziprozität angewiesen: »Liebe, die nicht erwidert wird, ist konstitutiv defizitär; sie bleibt ›unerfüllt‹ und wird zum Inbegriff von Unglück.«47 In dieser Hinsicht ist romantische Liebe gnadenlos: Sie muss zu hundert Prozent erwidert werden, alles darunter ist das Gegenteil des vollkommenen Glücks, das die Liebe begehrt. Diese strikte Gegenseitigkeit der Liebe ist nicht erzwingbar, damit völlig kontingent und mithin unwahrscheinlich: Kommt es doch dazu, wird dies als ›Wunder‹ gefeiert.48 Die Unwahrscheinlichkeit von Liebe speist sich nun laut Luhmann vor allem aus dem Problem der »höchstpersönlichen Kommunikation«,49 wenn Liebe als soziales und nicht als psychisches Problem definiert wird: »[E]s geht überhaupt nicht darum, was Einzelpersonen fühlen oder denken, wenn sie sich verlieben, sondern darum, wie man diese Sachverhalte kommuniziert.«50 Der Vorteil dieser das Soziale fokussierenden Herangehensweise liegt darin, dass sie zuallererst »die Funktion des Psychischen, also der Emotionalisierung 41 | Vgl. Tyrell: Romantische Liebe, S. 571f. 42 | Ebd., S. 572 (Herv. getilgt). 43 | Ebd., S. 571. 44 | Ebd., S. 575. 45 | Vgl. ebd., S. 586-88. 46 | Vgl. ebd., S. 583f. 47 | Ebd., S. 579, Herv. i. O. 48 | Vgl. ebd., S. 581. 49 | Luhmann: Liebe als Passion, S. 24. 50 | Niels Werber: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (1982). In: Oliver Jahraus, Armin Nassehi u.a (Hg.): Luhmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2012, S. 157-162, S. 160.

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erkennen«51 lässt. Mit der höchstpersönlichen Kommunikation sucht sich der Sprecher von anderen Individuen zu unterscheiden: »Je individueller, idiosynkratischer, absonderlicher der eigene Standpunkt und die eigene Weltsicht, desto unwahrscheinlicher wird der Konsens und das Interesse bei anderen.«52 Der Adressat (Alter) dieser Kommunikation hat diesen individualisierten Weltbezug des Senders (Ego) zu bestätigen: »Diese Komplementärrolle des Weltbestätigers wird einem zugemutet, obwohl mitimpliziert ist, daß dieser Weltentwurf einzigartig, also nicht konsensfähig ist.«53 Es geht daher in der Liebeskommunikation nicht um ›totale Kommunikation‹, sondern um »Universalität des Bezuges […] im Sinne einer laufenden Mitbeachtung des Partners in allen Lebenslagen«.54 In der funktional ausdifferenzierten und polykontexturalen Gesellschaft, die »keine Einheit in sich hat außer der bloßen Operation der Kommunikation«,55 ist auch das Bewusstsein der Individuen uneinheitlich, es lässt sich nicht länger »in einer EINS verrechnen«,56 wie Peter Fuchs konstatiert. Genau diese Funktion übernimmt die romantische Liebe: »Unter dieser Voraussetzung könnten evolutionär Sozialformen begünstigt werden, in denen es um die Einheit des Bewußtseins geht, und unsere These ist zunächst die, daß eine dieser begünstigten Sozialformen die Erfindung der modernen Liebe ist.«57 Liebe wirkt damit hochgradig identitätsstiftend: In der Liebe geht es um die EINS des Anderen, um die Komplettberücksichtigung des Anderen oder um die Komplettzugänglichkeit des Anderen (auch im Blick auf den Körper) – und zwar genau in dem Moment, in dem diese EINS, diese Komplettheit durch die Differenzierungsform der Gesellschaft außer Kraft gesetzt wird. Ich würde dies die fundamentale soziale Funktion von Sozialsystemen nennen, die seit der Romantik unter dem Titel ›Liebe‹ exerziert werden und denen wir hier den Namen ›Intimsysteme‹ geben werden. 58

Der Erfolg der Kommunikation im Intimsystem ist jedoch gerade aufgrund der Individualisierung der Weltverhältnisse äußerst unwahrscheinlich: »Je individueller das Persönliche gedacht wird, desto unwahrscheinlicher wird es auch, 51 | Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 27. 52 | Luhmann: Liebe als Passion, S. 24. 53 | Ebd., S. 25. 54 | Ebd. 55 | Ebd., S. 23. 56 | Ebd., S. 22. 57 | Ebd., S. 24. Vgl. auch: Rolf Haubl: Wahre Liebe kostet nichts? Erlebnisrationalität der romantischen Liebe. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2005), H. 1, S. 119-130, S. 120. 58 | Luhmann: Liebe als Passion, S. 24.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

daß man Partner mit erwarteten Eigenschaften trifft.«59 Mehr noch, die Komplettberücksichtigung des anderen schließt beispielsweise dessen Idiosynkrasien nicht aus, sondern ein – und zwar in der Form, dass diese Eigentümlichkeiten nicht einfach ignoriert oder akzeptiert, sondern: geliebt werden sollen. Die Liebeskommunikation erweist sich somit als extrem aufwendig, belastend und prekär60 – womit Liebe zuweilen schlichtweg inkommunikabel wird.61 Das liegt unter anderem auch daran, dass in der Liebeskommunikation nicht an der Information, sondern an der Mitteilung angeschlossen wird, das heißt, es geht nicht um das Was, sondern das Wie der Kommunikation.62 Diese Verschiebung vom auf klärerischen hin zum romantischen Displacement, wie Peter Fuchs es nennt,63 hat zur Konsequenz, dass der Fokus der Kommunikation auf der Selbstreferenz und damit dem Innenbezug der kommunizierenden Personen liegt: »Vom Bewußtsein her gesehen, ist die Referenz auf das Innen des Anderen (genauer: auf seine Innen/Außen-Differenz in seinem Innen), dieser Versuch des Auslotens des Unauslotbaren identisch mit dem Versuch des psychischen Verstehens.«64 Liebeskommunikation ist daher äußerst fragil gegenüber rationalen, also an der Information interessierten Kommunikationsversuchen, was wiederum für die Irrationalität, Verrücktheit oder den Wahnsinn verantwortlich ist, die man der Liebe gern zuschreibt: Dies ist »der deutliche Effekt einer bestimmten kommunikativen Struktur, die in die Tiefe der Person hineinrechnet, um sie zur Gänze zu erreichen, um sie als EINS konstruieren zu können.«65 Damit hängt jedoch gleichzeitig der »blinde[n] Fleck des Intimsystems«66 zusammen – dass nämlich die Unwahrscheinlichkeit von Liebe darin begründet liegt, dass »in ihr das Bewußtsein als ein komplett Betreubares, komplett Akzeptables gefordert wird«.67 Dieses Bewusstsein ist jedoch nicht berechenbar und verhält sich in der Kommunikation gar »dämonisch«;68 den59 | Ebd., S. 170, Herv. i. O. 60 | Vgl. Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen, S. 28-31. 61 | Vgl. Luhmann: Liebe als Passion, S. 153-161: Dies mag zunächst paradox klingen, wurde Liebe doch als Kommunikationscode definiert. Laut Luhmann ist die Inkommunikabilität jedoch Bestandteil des Codes: »Die Erfahrung von Inkommunikabilität ist ein Aspekt der Ausdifferenzierung von Sozialsystemen für Intimität. Sie widerspricht der Intimität nicht, sie entspricht ihr; und mit der Ausdifferenzierung solcher Systeme fällt sie zwangsläufig an.« (ebd., S. 155). 62 | Vgl. Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen, S. 37. 63 | Vgl. ebd., S. 36f. 64 | Ebd., S. 38. Vgl. zum ›Verstehen‹ auch Luhmann: Liebe als Passion, S. 28f. 65 | Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen, S. 38. 66 | Ebd., S. 75. 67 | Ebd. 68 | Ebd.

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noch muss es in der intimen Kommunikation so behandelt werden, als wäre es mit einem anderen, ebenso dämonisch agierenden Bewusstsein kompatibel: »Was also gelingen kann, das ist die Kommunikation der Komplettberücksichtigung, nicht diese selbst«.69 Um dies zu bewerkstelligen, differenzieren sich Systeme anhand eines binären Codes, einer Leitdifferenz aus, die die Annahme oder Ablehnung entsprechender Kommunikationen im System regelt. Für das Intimsystem hat Luhmann jedoch keinen eindeutigen Code festgelegt, was zu verschiedenen Vorschlägen in der Forschung geführt hat.70 Peter Fuchs liefert die bis dato schlüssigste Variante in Form des Codes von WIR ZWEI/Rest der Welt, anhand dessen sich die Grenze des Intimsystems und seine Ausdifferenzierung genau bestimmen lassen: »Sein Innen ist bestimmt durch die Referenz auf das WIR, und das Außen, das ist alles Andere.« 71 Es wird demzufolge nur solche Kommunikation realisiert, die dieses WIR ZWEI betrifft. Aus der fundamentalen Unterscheidung von WIR ZWEI/Rest der Welt resultiert damit: das Lieben, das heißt »die kommunikative Anzeige wechselseitiger Höchstrelevanz, also der reziproken Komplettberücksichtigung der EINS des Anderen.« 72 Die ›Anzeige‹ meint hier nicht nur Worte, sondern »jeden als Kommunikation deutbaren Anschluß, der sich versteht als auf diese Komplettberücksichtigung bezogen«,73 – Blicke, Auslassungen, Berührungen usw.74 Auf der Grundlage dieses Codes konstituieren die Liebenden einen ›Sonderhorizont‹,75 eine »Son-

69 | Ebd., S. 76. 70 | Vgl. Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft, S. 18f.: Luhmann selbst formulierte zunächst ›Du und kein anderer‹ als Code der Liebe, was jedoch laut Reinhardt-Becker kein Gegensatzpaar, sondern eine Tautologie und damit nicht binär ist. Ein späterer Vorschlag stammt aus Liebe als Passion: ›persönlich/unpersönlich‹ ist jedoch nicht minder problematisch, da er es nicht vermag, zwischen Liebes- und Freundschaftskommunikation zu unterscheiden. Hartman Tyrell schlägt ›Verstehen/Nicht-Verstehen‹ als Nebencode vor, den Reinhardt-Becker gern zum Hauptcode erheben möchte (vgl. Tyrell: Romantische Liebe, S. 570f.) Das Problem an dieser Unterscheidung ist jedoch, dass sie ebenso wenig wie ›persönlich/unpersönlich‹ exklusiv auf das Liebessystem anwendbar ist. 71 | Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen, S. 43. 72 | Ebd., S. 44. 73 | Ebd. 74 | Sexualität ist als Funktion zwar vom Intimsystem getrennt, in der Komplettberücksichtigung des anderen jedoch immer schon impliziert, das heißt, dass darüber nicht geredet werden muss. Im Gegenteil zeigt die ›Aktualisierung‹ von Sexualität gerade den Krisenfall an. Vgl. Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen, S. 45f. 75 | Vgl. Werber: Liebe als Passion, S. 159.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

derwelt, in der die Liebe sich immer neu informiert, indem sie das, was etwas für den anderen bedeutet, ihrer Reproduktion zu Grunde legt.« 76 Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium macht also jene unwahrscheinliche, aufwendige und prekäre Kommunikation wahrscheinlich, indem durch den Kommunikationscode ›Liebe‹ Regeln, Leitvorschriften, Bilder bereitgestellt werden, anhand dessen sich entsprechende Gefühle ausdrücken, zuallererst produzieren oder gar vortäuschen lassen.77 Liebe fungiert damit als eine Formatierung sozialer Systeme, an die die Selbstbeobachtung psychischer Systeme gebunden ist: Ohne diese Formatierung würden die erlebenden psychischen Systeme das Wort Liebe nicht einmal kennen und könnten sich folglich auch das entsprechende Gefühl nicht selbst zuschreiben.78 Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Liebe agiert also als Verstärker und »ratifiziert unwahrscheinliche Sinnzumutungen wie das Ertragen von Idiosynkrasien etc.« 79 Auch bei der Entstehung der Intimsysteme spielt der Kommunikationscode eine Rolle: Der »Startmechanismus Zufall«80 stellt sicher, dass Intimsysteme nicht unter Zwang entstehen oder geplant werden. Dieser Zufall muss jedoch kaschiert werden, geht die Liebessemantik doch von Vorherbestimmung aus, da der jeweils andere sonst austauschbar würde: Es könnte alles auch ganz anders sein. Um eine derartige Beobachtung des Codes zu vermeiden, wird Liebe mit »Latenzschutz«81 ausgestattet: »Die Semantik kompensiert ihre eigene Kontingenz mit einer Metaphorik, die das Gegenteil behauptet,« 82 das heißt: Es handelt sich nicht um Zufall, sondern um Schicksal und Vorherbestimmung, wie bei der Liebe auf den ersten Blick. Dieser Latenzschutz wird sehr häufig anhand des Erzählens der eigenen System- und damit Liebesgeschichte bewerkstelligt, die nach Peter Fuchs gar zum Nebencode im Intimsystem avancieren kann.83 Dies führt zum einen zu einer »Überstabilisierung von Identität«,84 zum anderen ist diese Geschichte aber auch umdeutbar und reversibel: Was einmal zur Begründung von Liebe diente, kann auch für ihr Ende verantwortlich gemacht werden.

76 | Luhmann: Liebe als Passion, S. 178. 77 | Vgl. ebd., S. 23, sowie: Werber: Liebe als Passion, S. 161. 78 | Vgl. Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen, S. 16. 79 | Ebd., S. 52. 80 | Luhmann: Liebe als Passion, S. 180. 81 | Werber: Liebe als Passion, S. 162. 82 | Ebd. 83 | Vgl. Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen, S. 62f. 84 | Ebd., S. 63.

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Diese System-Liebesgeschichten basieren vor allem auf jenen Liebesgeschichten, die sich über Medien – Literatur, Film, Werbung etc. – verbreiten.85 Elke Reinhardt-Becker postuliert eine existenzielle Beziehung von Liebe und Literatur: »Ohne Literatur keine Liebe, ohne Liebe keine Literatur.« 86 Die Literatur steht damit am Anfang der romantischen Liebe. Laut Peter Fuchs fungieren medial verbreitete Liebesgeschichten im Intimsystem als Programm,87 das heißt, sie verhandeln die Anpassung des Systems an seine Umwelt und stellen die richtige Zuweisung von Codewerten sicher: »[E]s ist unter modernen Bedingungen kaum möglich, nicht auf publizierte, verfilmte, besungene, gedichtete Liebesgeschichten zu stoßen, die vorführen, was so alles in der Liebe zu geschehen hat oder geschehen kann«.88 Eine wesentliche Quelle derartiger Liebesgeschichten ist die Konsumsphäre, nicht nur weil Bücher und Filme auch Konsumobjekte sind, die gekauft und konsumiert werden wollen, sondern weil sich beispielsweise auch die Werbung von Beginn an der Narration von (Liebes-)Geschichten bedient, um Konsum zu initiieren und intensivieren. Die enge Verbindung von Liebe und Konsum soll im Folgenden anhand von Eva Illouz’ Untersuchungen aufgeschlüsselt werden.

2.2 Liebe – Konsum – Kapitalismus: Zusammenhänge, Paradoxien und Katalysen 89 Liebe und Kapitalismus könnten, so die allgemeine Wahrnehmung und Wunschvorstellung, unterschiedlicher nicht sein: Emotion, Uneigennützigkeit, Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit auf der einen, Rationalität, Eigeninteresse, Rentabilität, Austauschbarkeit der Partner auf der anderen Seite – so die oft propagierte Rollenverteilung.90 Entgegen dieser Wahrnehmung jedoch 85 | Vgl. Niklas Luhmann: Liebe. Eine Übung. Frankfurt a.M. 2008, S. 73. 86 | Reinhardt-Becker: Seelenbund, S. 14. Vgl. Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 21-33, sowie: Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003. 87 | Vgl. Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen, S. 67. 88 | Ebd. 89 | Damit ist hier nicht die Verwendung des Begriffs bei Roland Barthes, sondern die gemein geläufigere aus dem naturwissenschaftlichen Kontext im Sinn der Herbeiführung und Beschleunigung eines Vorgangs gemeint. 90 | Vgl. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn [Original: Consuming the Romantic Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, 1997]. Frankfurt a.M. 2007, S. 27. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle KdR mit nachgestellter Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

sind Gefühle keine hermetisch abgeriegelten Entitäten, sondern kulturell geprägt: Eva Illouz legt in Anlehnung an die Theorie von Stanley Schachter und Jerome E. Singer dar, wie es gemeinhin zur Ausbildung von Gefühlen kommt, wobei die Kultur eine vierfache Rolle übernimmt. Am Anfang des Prozesses steht eine diffuse physiologische Erregung, die durch Kultur »etikettiert« (KdR 29), also mit Bedeutung versehen wird. In einem zweiten Schritt »enthalten diese Etiketten Bedeutungen, die in eine ganze Reihe von Normen, Vorschriften und Verboten eingebettet sind.« (Ebd.) Drittens sind es kulturelle Werte, die die Intensität der physiologischen Erregung bewerten. Schließlich »stellt die Kultur Symbole, Kunstwerke, Geschichten und Bilder – symbolische ›Schnappschüsse‹ – zur Verfügung, mit deren Hilfe sich romantische Empfindungen rekapitulieren und kommunizieren lassen.« (KdR  30) Emotionen und insbesondere die Liebe sind damit kulturellen, also auch ökonomischen wie politischen Einflüssen nicht nur ausgesetzt, sondern von ihnen abhängig: »Kultur fungiert dabei als Rahmen, innerhalb dessen emotionale Erfahrung organisiert, ›etikettiert‹, klassifiziert und interpretiert wird. Kulturelle Rahmenbedingungen bezeichnen und bestimmen das Gefühl, begrenzen seine Intensität, spezifizieren die damit verbundenen Normen und Werte und liefern Symbole und kulturelle Szenarien, die das Gefühl gesellschaftlich kommunizierbar machen.« (KdR 28f.) Es fällt nicht schwer, an dieser Stelle eine Verbindung zu Luhmanns Konzeption von Liebe als Kommunikationscode herzustellen, ist dieser doch darüber definiert, Regeln bereitzustellen, anhand derer man »Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren«91 kann. Mehr noch, Illouz führt zwei »einflussreiche Repertoires« (KdR 30) an, anhand derer Liebe Bedeutung zugeschrieben, ausgedrückt und kontrolliert wird: erstens das von hedonistischen Werten bestimmte Rendezvous, zweitens die von »therapeutischen und ökonomischen Bezeichnungen eingerahmt[e]« (ebd.) Institution der Ehe. Die Sphäre der Ökonomie im Allgemeinen und jene des Konsums im Besonderen erweisen sich somit als zentrale Quellen für die Produktion, Signifikation sowie Kommunikation von Emotionen und damit auch von Liebe. Illouz’ Anliegen ist es – und damit erweitert sie den Luhmann’schen Zugang zur Liebe – diese Quellen offenzulegen und nach dem Ursprung dieser emotionsformenden, kulturellen Bedeutung zu fragen (vgl. KdR 31f.). Kapitalismus und romantische Liebe haben nicht nur beide einen tendenziell demokratischen Charakter, da sie prinzipiell alle einbeziehen (vgl. KdR 26), sondern teilen darüber hinaus auch zwei Leitmotive: die Souveränität des Individuums gegenüber der Gruppe und die Aura der Transgression – beide versprechen die Überwindung des Ist-Zustandes und fordern eine bessere Welt in der Zukunft (vgl. KdR 36f.). Während der Kapitalismus, frei nach Adam Smith, am besten funktioniert, wenn jedes Individuum den jeweiligen Eigen91 | Luhmann: Liebe als Passion, S. 23.

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nutz zu maximieren sucht, so entpuppt sich die romantische Liebe durch die Maxime der freien Partnerwahl als subversive Macht, die »die Grenzen der Regeln, welche die Gruppe zusammenhalten« (KdR 35) erkundet. Die utopische Dimension der romantischen Liebe rührt von ihrem religiösen Erbe her: Mit dem allgemeinen Bedeutungsverlust der Religion im 19. Jahrhundert wurde auch die romantische Liebe säkularisiert, indem die enge Verwebung von Liebes- und Religionsdiskurs aufgehoben wurde. Paradoxerweise ging dies jedoch mit ihrer eigenen »Sakralisierung« (KdR 34) einher, die Liebe wurde selbst zu einer Religion (vgl. KdR  58f.):92 »[D]ie Sehnsucht nach einer Utopie, die den Kern der romantischen Liebe bildet, weist tief reichende Affinitäten zur Erfahrung des Heiligen auf.« (KdR 34) Es ist damit nicht mehr das Gottvertrauen, das dem Individuum einen Platz in der Welt zuweist und diesen legitimiert, sondern die Wahl des einen, richtigen Partners anhand der romantischen Liebe. In diesem Zuge nimmt romantische Liebe Charakteristika von Ritualen an: »Sie schöpfte zunehmend aus Themen und Bildern, die einen temporären Zugang zu einer machtvollen kollektiven Utopie von Überfluss, Individualität und schöpferischer Selbsterfüllung boten, und die utopischen Bedeutungen erfuhr man mittels des zyklischen Vollzugs von Konsumritualen« (KdR 35). Quelle dieser Bilder und Themen sind Werbung, Hollywood-Filme, Zeitschriften und Liebesromane, kurz: die Massenkultur. Sie unterfüttert das romantische Ideal mit der Gleichsetzung von Liebe und persönlichem Glück und verwandelt »das alte romantische Ideal in eine visuelle ›Utopie‹, die Elemente des amerikanischen Traums (von Überfluss und Selbstvertrauen) mit romantischer Fantasie verband.« (KdR 60) Die bis heute andauernde Wirkmacht romantischer Liebe entfaltet sich daher laut Eva Illouz anhand einer spezifischen religiösen Kategorie: der Liminalität (nach Victor Turner).93 Als Schwellenzustand bildet sie eine »Kategorie des Rituals, in der die Hierarchien der regulären Ordnung auf den Kopf gestellt werden, Energien der ›communitas‹ freigesetzt werden und in einer organischen Verbindung zusammenfließen.« (KdR  38) Diese Erfahrung des Schwellenzustandes, zu dem die Liebe den Zugang eröffnet, wird maßgeblich durch »Symbole, Werte und Klassenverhältnisse der kapitalistischen amerikanischen Gesellschaft geprägt« (KdR  38). Das heißt, dass die Opposition zum gesellschaftlichen Ist-Zustand, geprägt von utilitaristischen Werten, vom Markt selbst bestimmt wird: »Vor allem die Bedeutungen, die im 92 | Vgl. dazu auch: Haubl: Wahre Liebe kostet nichts?, S. 120; Hartmann Tyrell: Romantische Liebe, S. 571f. Daher handelt es sich bei diesem Vorgang auch im Sinne Giorgio Agambens um ›Säkularisierung‹ und nicht um eine ›Profanierung‹, die eine Neutralisierung der Wirkmacht der Liebe mit sich bringen würde. Vgl. Giorgio Agamben: Profanierungen. Übers. v. Marianne Schneider [Original: Profanazioni, 2005]. Frankfurt a.M. 2005, S. 74f. 93 | Vgl. Victor Turner: The Forest of Symbols: Aspects of Ndembu Ritual. Ithaca 1967.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

Freizeitkonsum enthalten sind, überwinden temporär die durch Arbeit, Geld und Austausch gesetzten Bedingungen. Dadurch, dass romantische Liebe in die Freizeitsphäre eingebettet ist, bleibt sie tief in der Tradition verwurzelt, das ›unordentliche‹ Individuum gegenüber der wohlgeordneten Gruppe hervorzuheben, wobei diese Betonung nun im Konsumidiom der postmodernen Kultur ihren Ausdruck findet.« (KdR 38f.) Das Paradox des Kapitalismus, das in der Opposition von Konsum- und Produktionssphäre begründet liegt und von den Menschen zeitgleich harte Arbeit und hedonistisches Verhalten abverlangt, prägt auch die romantische Liebesbeziehung: »[D]ie postmoderne Kultur des Spätkapitalismus [artikuliert] eine wirkungsmächtige Utopie der Liebe, die die Überschreitung durch den Konsum von Freizeit und Natur verspricht. Romantische Praktiken beinhalten grenzüberschreitende Rituale, die den Werten der Produktionssphäre entgegenstehen und die persönliche Freiheit in den Vordergrund stellen, doch diese Rituale basieren letztendlich auf dem Markt.« (KdR 39) Dieses enge Zusammenwirken von Liebe und Kapitalismus hat laut Eva Illouz vor allem anhand von zwei Prozessen statt: der Romantisierung der Waren und der Verdinglichung der romantischen Liebe (vgl. KdR 53). Auf beides soll im Folgenden genauer eingegangen werden.

2.2.1 Die Romantisierung der Waren Mit dem Aufkommen der Werbeindustrie in der Mitte des 19.  Jahrhunderts und deren Professionalisierung am Anfang des 20.  Jahrhunderts94 ging die Verknüpfung von käuflichen Waren mit einer »romantische[n] Aura« (KdR 53) einher. Dabei orientierte sich die Werbung an den von Konsum geprägten romantischen Idealen, die die ebenfalls erst entstehende Filmindustrie verbreitete, unter anderem die Verbindung der »erstrebenswerten und doch widersprüchlichen Erfordernisse der Konsumkultur […]: lebenslanges Eheglück und Konsum.« (KdR 63) Die Verbindung von Liebe, Ehe, Glück und Konsum, Freizeit, Spaß fand laut Illouz zunächst vor allem anhand von zwei Produktkategorien statt: Haushaltsprodukte und ich-expressive Produkte (vgl. KdR 65). Erstere betonten häuslichen Komfort und standen für die viktorianische Moral der Mittelschicht, da das Paar in diesen Werbeanzeigen durch eine »signifikante räumliche Distanz« (KdR  66) getrennt in vorwiegend häuslichen Szenen in klarer Geschlechterrollenverteilung agiert. Ich-expressive Produkte dagegen widmeten sich »dem Ausdruck und der Steigerung des Selbstgefühls« (KdR 65), vor allem anhand von Mode- und Schönheitsprodukten. Die in diesen Anzeigen abgebildeten Paare sind oft in enger physischer Nähe und luxuriöser Kleidung zu sehen: Anhand von »Opulenz und sanfte[r] Erotik« (ebd.) wurde eine neue Moral propagiert, geprägt von Werten der Konsumsphäre und der Arbeiterschicht. Gleichzeitig boten diese Produkte und ihre Werbung 94 | Vgl. Guido Zurstiege: Werbeforschung. Konstanz 2007, S. 19-26.

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»die Möglichkeit, neue Vorstellungen vom Ich zu verwirklichen.« (KdR 66)95 Ich-expressive Produkte sollten in diesem Rahmen »Waffen der ›Verführung‹ und […] der Selbstvergewisserung« (KdR 67) sein – also der ›Oberflächenverschönerung‹ dienen – womit es zu einer Erweiterung der seit den Anfängen der romantischen Liebe existierenden Verbindung von Liebe und Schönheit kam: »Die Verbindung von Schönheit und Liebe wurde erweitert, um damit auch die Sehnsucht nach Selbstausdruck zu erfassen, und die neue Verknüpfung von Schönheit, Selbstausdruck und Liebesromantik wurde im Gegenzug durch die Konsumkultur gestützt. Die Liebe wurde damit zu einem Mittel, eine Definition des Selbst zu verstärken, die sich um die Waren herum gruppierte, die Schönheit, Jugend, Charme, Glanz und verführerische Kraft versprachen.« (Ebd.) Diese hedonistische Prägung der Werbebilder signalisiert den Umbruch von der viktorianischen zu einer hedonistischen, also konsumorientierten Moral, die allmählich auch von der Mittelschicht angenommen wurde. Die Romantisierung der Waren wurde damit zu einem umfassenden Prozess, der eine breite Palette an Produkten umfasste. Nach Eva Illouz werden dabei zwei Ebenen des Konsums von der romantischen Aura durchdrungen: »Die erste betrifft den Konsum des beworbenen Produkts, was ich offenen Konsum nenne. Doch die Romantik wird auch mit einem anderen Typus des Konsums assoziiert, auf den sie sich jedoch nie explizit bezieht: Die Aktivität, die das Paar gerade vorführt, besteht oftmals im Konsum von Freizeit. Diese letztgenannte Kategorie des Konsums […] bezeichne ich als verborgenen Konsum.«96 (KdR 69) Die Objekte des verborgenen Konsums erscheinen »natürlich ›romantisch‹« (KdR  69), da sie nie als Konsumobjekte benannt werden – so kann auch ein an sich völlig ›unromantisch‹ anmutendes Produkt wie Motoröl plötzlich romantisch wirken (vgl. KdR 70). Illouz schlüsselt drei Arten von Einbettungen romantischer Aktivitäten auf, die im Dienste dieser ›Naturalisierung‹ stehen: »(1) Glamour und Eleganz begleiten die verborgene Darstellung von Luxusgütern (vor allem Kleidung und Schmuck); (2) ›Intensität und Erregung‹ werden üblicherweise mit Natur in Gestalt einer Reiseware assoziiert […]; (3) ›Intimität‹ und ›Romantik‹ werden mit Kinobesuch, Tanzen oder einem Abendessen bei Kerzenschein assoziiert.« (KdR 71) Konsumakte werden durch die Assoziation mit Liebesromantik somit unsichtbar amplifiziert, das heißt: »Liebe ist der Ausgangspunkt für vielfältige Konsumakte, offene und verborgene, die sich gegenseitig verstärken« (KdR 70). Die Wirkmacht dieser Werbebilder schlägt sich in den von Illouz dokumentierten Debatten um das sich verändernde Ehemodell um 1900 nieder: Die Fokussierung von Vergnügen und Spaß sowie das Wecken von Erwartungen und Fantasien, die der Realität selten standhielten, wurde für erhöhte Scheidungs95 | Vgl. dazu auch Kap. II/3.2. 96 | Herv. i. O.

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raten verantwortlich gemacht. Damit wurde der ältere Diskurs um die schädliche Wirkung des Romanlesens inklusive der Überstimulierung der Einbildungskraft wiederbelebt und in den noch älteren Moraldiskurs um Fiktion und Realität eingebettet (vgl. KdR  72-76).97 Das Ergebnis war laut Illouz ein neues hybrides Eheideal, das die Erwartungen an romantische Liebe und Leidenschaft als Grundlage der Ehe mit den Werten von Sicherheit und Stabilität zu verknüpfen suchte. Hedonistische Werte wurden dabei mit der viktorianischen Moral kombiniert, indem die Ehe zur Partnerschaft oder Kameradschaft wurde, die jedoch ihrerseits auf hedonistischen Idealen gegründet wurde: Das Zusammenleben sollte »durch regelmäßige wiederkehrende Freizeiterlebnisse geprägt sein« (KdR 77). Schließlich wurde dies noch an den entstehenden therapeutischen Diskurs angebunden, um in Schieflage geratene Ehen wieder auf Kurs zu bringen: »In dieser Hinsicht bedeutete, einer Ehe Dauer zu verleihen, ja sogar die Leidenschaft aufrechtzuerhalten, ›harte Arbeit‹.« (KdR 78) Die widersprüchlichen Implikationen des Kapitalismus – Arbeit und Hedonismus – gingen somit auch in das bis heute gültige Eheideal ein. Die Aspekte von Arbeit und Anstrengung für das Gelingen von Liebesbeziehungen und Ehen ist in der Werbung jedoch nicht anzutreffen (vgl. KdR 111). Im Unterschied zum Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Aspekt der Produktinformation in Werbekampagnen bis zur Gegenwart immer mehr an Bedeutung verloren. Stattdessen werden Produkte mit »immateriellen Werten wie Glück und warmen menschlichen Beziehungen wie auch mit Mode, Schönheit, Berühmtheit und einem glamourösen Lebensstil« (KdR  102) assoziiert: Werbung nimmt »die ätherische Qualität von Träumen« (ebd.)98 an, deren Realitätssuggestion anhand der Vermittlung durch Fotografien oder Filme gesteigert wurde: Die Personen und Dinge, die in traumgleichen Fantasien miteinander in Beziehung gesetzt wurden und einen Blick auf einen Bereich erlaubten, in dem Wohlstand und Liebe im Übermaß vorhanden waren, schlossen dabei an die Sehnsüchte der Konsumenten nach Liebe, Freiheit und Gleichheit wie auch nach Jugend, Schönheit, Status und Reichtum an. Die Werbung lieferte damit ein reichhaltiges Lexikon und eine einflussreiche Syntax, um Visionen der Harmonie, der Intimität und des Erfolgs zu formulieren. (KdR 102)

Werbung als »Ästhetik der Utopie« (KdR 103) hat sich also die transgressive und utopische Qualität der romantischen Liebe zunutze gemacht, um ihre eigene Wirkmacht zu verstärken: »Die Macht der Werbung liegt nicht darin, dass sie 97 | Vgl. auch Kap. II/1.2. 98 | An dieser Stelle verwundert der fehlende Verweis Illouz’ auf Campbells Studie am allermeisten, wird das ›day-dreaming‹ hier doch fast wortwörtlich angesprochen.

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das Bewusstsein lenkt, sondern vielmehr darin, Bedeutungen zu artikulieren, welche die Wünsche des Konsumenten an die Marktkräfte binden. Die Liebesbeziehung bildete dabei einen der wichtigsten ›Kanäle des Begehrens‹, die von der Werbebranche benutzt wurden, um die eigene Bilderwelt sowohl lebensecht als auch traumhaft erscheinen zu lassen« (KdR 103). Dabei spielen die Waren selbst in ihrer Dinghaftigkeit als Vermittler der Beziehungen zwischen den Individuen eine zentrale Rolle: »Indem sie Waren als Attribute erotischer Anziehung oder wirklicher Intimität darstellte, nutzte die Werbung die romantische Liebe, um dem Konsum Fetischcharakter zu verleihen, d.h. um das erotische Verlangen auf Waren zu verlagern, die im Gegenzug selbst zu bloßen Objekten der Begierde wurden. Auf diese Weise wurde der langweilige und eher nüchterne Raum der Waren mit Leben erfüllt, und zwar durch den ›Geist‹ der Liebe.« (Ebd.) Es kommt dabei laut Illouz nicht so sehr zu der oft gescholtenen Materialisierung von Kultur, weil die Dinge selbst ›vergeistigt‹ und ästhetisiert werden: Werbung wird damit zu einer zentralen Quelle der »romantische[n] Imagination der heutigen Kultur« (ebd.), die ganz maßgeblich von dem amerikanischen Traum geprägt ist, »nach dem der Konsum sowohl den demokratischen Zugang zum Wohlstand wie auch die Originalität des individuellen Ichs bestärkt.« (KdR 104) Werden die Produkte durch die Werbung selbst zu Begehrensobjekten, so wird umgekehrt das Konsumvokabular dafür genutzt, um Liebe auszudrücken: »Die postmoderne Liebesbeziehung zeichnet sich durch die Verschmelzung von Kultur und Warenwelt aus, durch die Konstruktion des Begehrens mittels der Sprache des Konsums.« (Ebd.) Signifikant für die Werbung um die Jahrtausendwende ist das daraus folgende Verschwinden der »Distanz zwischen Subjekt und Objekt des Konsums, zwischen dem Produkt und der Beziehung, die es zu verwirklichen half« (KdR 106). Das führt dazu, dass die beworbenen Waren nicht mehr nur auf Intimität und Vergnügen verweisen, sondern dass sie diese intimen Augenblicke selbst sind (vgl. ebd.). Die »Untrennbarkeit von Liebe und Konsum« (ebd.) manifestiert sich in der Auflösung der materiellen Güter in Emotion: »Die auf diesen Bildern dargestellte Intimität findet stets während eines Konsumaktes statt, aber der Konsum wird dem Bereich der Emotion und der Empfindung untergeordnet, oder er verschmilzt mit ihm. Die konkrete, spezifische Materialität der Produkte hat sich im kaum fassbaren Bereich des Gefühls aufgelöst.« (KdR 107) Ein weiterer signifikanter Unterschied zur Werbung am Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Abgeschiedenheit des gezeigten Liebespaares in heutigen Kampagnen. Dies betrifft nicht nur den öffentlichen Raum an sich, sondern meint »den vollständigen Rückzug aus den Vorgängen, Regeln und Beschränkungen der urbanen industriellen Welt und den Eintritt in die euphorische Sphäre der Freizeit.« (KdR 110) Liebe wird in diesem Zusammenhang idealisiert als ein »dionysische Energien« freisetzender Bereich »des reinen Gefühls, der reinen Sinnlichkeit und des unmittelbaren Vergnügens, frei von

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den Reibungen und den Machtkämpfen wahrer Beziehungen« (KdR 111) dargestellt. Daraus lässt sich das zeitgenössische Ideal von Liebesbeziehungen ableiten: »Liebe bietet die Erfahrung intensiven Gefühls, uneingeschränkter Sinnlichkeit, sofortiger Belohnung, spontanen Vergnügens und Spaßes, und das alles in hochgradig ästhetischen Umgebungen fern des Alltagslebens. Für Werte wie Selbstbeherrschung, Anstrengung und Kompromiss, die laut Ratgeberliteratur und gemeinem Alltagsverstand für eine erfolgreiche Beziehung ebenso notwendig sind, bleibt hier wenig Raum.« (KdR 111) Liebe wird damit dem hedonistischen Teil des Kapitalismus zugeschlagen und von jenem der Arbeit klar getrennt. Illouz exemplifiziert dies am Beispiel der Werbung für Reisen: Naturbelassene und/oder exotische Landschaften, abseits von Industrialisierung und Urbanität, stehen für die Suche nach intensiven, transgressiven Erfahrungen des Liebespaares. Die Verknüpfung von Reisen und Liebesromantik »ist so ubiquitär, dass es abstrahiert und auf einige wenige Schlüsselsymbole reduziert werden kann und gleichwohl noch verstanden wird.« (KdR 113) Die Bilder entsprechender Landschaften und Schauplätze sind dermaßen etabliert, dass sie mehr noch als die tatsächlichen Orte als Begehrensobjekte fungieren können (vgl. KdR 114): »Im Tourismus wie in der Liebe wird die Grenze zwischen dem Zeichen, der Ware und dem Referenten immer dünner oder verschwindet sogar vollständig. Diese Bilder sind Simulakra, stereotype Kopien, von denen es keine Originale gibt. Das Zeichen – das Bild – wird zur Ware, die verkauft werden soll.« (KdR 123) Die in der Werbung abstrahierten Bilder agieren dabei laut Michael Schudson auf ihrer »eigenen Wirklichkeitsebene« des »kapitalistischen Realismus«,99 die dann als »komplexe Symbole in kollektiv geteilte Utopien verwandelt« (KdR  114) werden. Die Utopie des Urlaubsbildes verspricht die Überwindung von alltäglichen utilitaristischen Zwängen ebenso wie von Klassengrenzen, da Urlaub für alle mehr oder weniger gleich möglich sein soll. Urlaub gerät damit zur »Transzendenz des modernden industriellen Menschen, für den ein Leben nach dem Tode weniger greif bar geworden ist.«100 Die utopische Dimension der Werbebilder wird verstärkt durch ihre Anleihen bei der von bürgerlichen Idealen geprägten Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, was sich in einer Ästhetik der Nostalgie niederschlägt (vgl. KdR 116f.), sowie der Rekurrenz auf das Erhabene, womit die Natur zum »Mahlstrom mächtiger Gefühle« (KdR  119) wird. Die Fokussierung auf Natur und Reisen hat dabei jene um 1900 dominante Instrumentalisierung von Luxus abgelöst, was laut Illouz Popularitätsgründe hat: »Ich behaupte, dass die Themen Natur, Abgeschiedenheit, Einfachheit, Exotik und romantische Intimität anders als das 99 | Michael Schudson: Advertising. The Uneasy Persuasion. New York 1986, S. 214. 100 | Gary Cross: Time and Money. The Making of Consumer Culture. London 1992, S. 176.

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Thema des Luxus klassen- und geschlechterlos sind.« (KdR 121) Dies ist jedoch nicht widerspruchsfrei: Wird Konsum dadurch einerseits zum Unterschiede auflösendes und damit alle einschließendes Idiom, so ist er doch gleichzeitig »Antriebsmotor des Wirtschafts- und Klassensystems, aus dem diese Unterschiede entstehen.« (KdR 122) Um sich Urlaub überhaupt leisten zu können, muss man schließlich vor allem über zwei Dinge verfügen: Geld und Freizeit. Dieses Paradox ist laut Illouz charakteristisch für die Liebe in der Postmoderne: »Diese gleichzeitige Negierung und Bestätigung des Konsums bildet den Kern der utopischen Dimension von Liebe in der Postmoderne« (ebd.). Besonders deutlich wird dies am Beispiel des verlassenen Strandes: Als »vollkommene rhetorische Umkehrung der Welt der Dienstleistungsgesellschaft« (KdR 125) ist er ein Gut, das sich zur ›conspicuous consumption‹ (Veblen) eignet – wahrlich verlassene Strände gibt es nur (noch) sehr selten, die kapitalistische Industrie des Tourismus hat für diese Verknappung selbst gesorgt, während sie gleichzeitig den Zugang aller zu diesem Gut verspricht. Dies ist laut Illouz typisch für die Verbindung von romantischer Liebe und Kapitalismus: »Die Macht der romantischen Utopie besteht in ihrer janusköpfigen Fähigkeit, die Werte des Spätkapitalismus zu bestätigen und sie gleichzeitig in Symbole ursprünglicher Einfachheit und reiner Emotionalität umzuwandeln. Die postmoderne romantische Utopie enthält den klassenlosen Traum von Freizeit und Authentizität und bestätigt gleichzeitig die neuen Klassenteilungen und Klassenidentitäten.« (KdR 126) Die Romantisierung der Waren, die diese romantische Utopie artikuliert, hat das postmoderne Individuum damit in eine Aporie geführt: Die scheinbare Überwindung des Kapitalismus, Utilitarismus und Konsums bleibt immer schon in diesen selbst verhaftet.

2.2.2 Die Verdinglichung der romantischen Liebe Der Komplementärvorgang zur Romantisierung der Waren ist die Verdinglichung der romantischen Liebe, ein »Prozess, in dessen Verlauf die entstehenden Vorstellungen von Intimität und Sexualität durch die neue Freizeitindustrie und neue Freizeittechnologien (beispielsweise das Auto, das Kino) bestimmt« (KdR  79) und »die neuen hedonistischen und konsumistischen Standards zur bestimmenden Norm wurden.« (KdR 78) Dieser Prozess lässt sich vor allem anhand der Praxis des Rendezvous verdeutlichen, die »das symbolische und praktische Eindringen des Marktes in die Liebesbeziehung markiert.« (KdR 40) Bis zum Beginn des 20.  Jahrhunderts hatte »in der Mittel- (und Ober-) schicht die Brautwerbung innerhalb der geschützten Grenzen von Haus und Familie stattzufinden« (KdR 80). Die Ablösung dieser Praxis des Vorsprechens durch das Rendezvous wird oftmals mit Veränderungen der Sexualmoral begründet, dabei dürften ökonomische Faktoren laut Eva Illouz eine genauso große Rolle gespielt haben. Zu dieser Zeit stiegen beispielsweise die Realeinkom-

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men und es entstand ein Gütermassenmarkt, der das Rendezvous zuallererst ermöglichte (vgl. KdR 78f.): »Diese Entwicklungen verlagerten das romantische Zusammentreffen aus den familiären Beschränkungen des eigenen Zuhauses in neue Lokalitäten, die sowohl öffentlich wie auch anonym waren. Gleichzeitig machten diese Umstände den Konsum zu einem integralen Bestandteil jeder romantischen Verabredung.« (KdR 79) Diese Verschiebung bedeutet damit keineswegs den totalen Rückzug in Privatheit, da diese Art der romantischen Interaktion zu einer Erfahrung in der öffentlichen Sphäre des Konsums wurde und vor allem einen Rückzug von der Familie beziehungsweise der sozialen Gruppe markierte. Das Rendezvous nimmt hinsichtlich Privatheit und Öffentlichkeit eine ambivalente Position ein: »Die modernen Definitionen von Liebe machten sie zu einer öffentlichen Interaktion und zugleich zu einer inneren Erfahrung der Privatheit. Die neue Form des Rendezvous, die das Paar in den öffentlichen Raum des Konsums stellte, zog die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum neu, in dem sie ›Inseln der Privatheit‹ inmitten des öffentlichen Raums schuf. Und diese Inseln wurden durch die neuen Freizeittechnologien gefestigt.« (KdR 82) Als diese Grenzen definierende Freizeittechnologien hebt Illouz vier heraus: Erstens das Auto, das die motorisierte Version der Kutschfahrt des 19. Jahrhunderts verkörpert und dessen Implikationen übernahm (vgl. KdR 83) – man denke nur an die berühmte Kutschfahrt in Flauberts Madame Bovary; zweitens das Reisen und der Tourismus als »Grundelement der sozialen Konstruktion der Liebesbeziehung« (KdR 84); drittens das Kino als Ort von »Romantik und Permissivität« (KdR  85), und viertens das Tanzen als einer der populärsten Freizeitaktivitäten um die Jahrhundertwende (vgl. KdR 86). Vor allem das Tanzen sowie der Gang ins Kino waren typische Freizeitaktivitäten der Arbeiterklasse, die von der Mittel- und Oberschicht aufgrund der fragwürdigen Moral dieser Aktivitäten zunächst abgelehnt wurden. Wie Illouz verdeutlicht, wurden diese Aktivitäten durch das unternehmerische Geschick der Betreiber von Kinos und Tanzpalästen schließlich auch in der Mittelschicht akzeptiert und adaptiert (vgl. KdR  86f.). Die Oberschicht wiederum befreite sich durch das »Klima sexueller Freiheit und allgemeiner Permissivität, wie sie in bohemehaften Künstlerkreisen von Greenwich Village in den zwanziger Jahren verkörpert wurden« (KdR 87), von der viktorianischen Moral und wurde dadurch den Freizeitpraktiken der Arbeiterklasse gegenüber offener. Durch alle Schichten hindurch wurde das Rendezvous damit zu einer akzeptierten Praxis des romantischen Zusammentreffens. Mit der Akzeptanz der Praxis des Rendezvous wurde die Partizipation am Konsum zunehmend mit Romantik assoziiert, so dass es umgekehrt auch zur Verknüpfung von Romantik mit Konsum kam. Dieser Prozess der Verdinglichung hat paradoxe Folgen, denn während der Aspekt der Romantik die Abgeschiedenheit von Familie und Gesellschaft suggeriert, impliziert der Konsum

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gleichzeitig die Reintegration in selbige: »Die neuen Freizeittechnologien und die damit verbundenen kulturellen Bedeutungen konstruierten Romantik isoliert nicht nur von der Familie, sondern auch von der Gesellschaft insgesamt. Gleichzeitig wurde diese Erfahrung des Rückzugs aus der gesellschaftlichen Welt paradoxerweise nicht durch eine Trennung der Liebenden von ihrer Umwelt erreicht, sondern durch deren vollständige Partizipation am kommerzialisierten und öffentlichen Raum der Freizeit.« (KdR 88) Galt die vormoderne Ehe als »wichtigste Finanzoperation des gesamten Lebens« (KdR 36), weil sie vor allem dem Güteraustausch zwischen zwei Familien diente, so bedeutet die moderne Praxis des Rendezvous »die gemeinsame Partizipation zweier Menschen am Konsum (d.h. dem Kauf) von Gütern, die vom Markt zur Verfügung gestellt werden.« (KdR 100) Diese Güter besitzen »den Charakter ›hedonistischer‹ Waren« (ebd.) und dienen vor allem der gemeinsamen Erfahrung: Beim modernen Rendezvous jedoch wird der Warenkonsum zum Selbstzweck, nämlich um eine Intimität zu erreichen, die lediglich temporärer Natur ist. Denn da die kulturelle Neuerung des Rendezvous gerade darin liegt, dass es die Ehe nicht impliziert, besteht die Zeit des Zusammenseins oftmals in intensivem Konsum, bei dem zwei Menschen mit der sie umgebenden öffentlichen Kultur interagieren und sich innerhalb dieses Rahmens näher kennen lernen. Im modernen romantischen Ideal ist es der bloße Akt des Konsums, der den romantischen Augenblick darstellt und erzeugt. (KdR 100f., Herv. i.O.)

Wie bereits die vormoderne Brautwerbung trägt auch diese Herstellung des romantischen Augenblicks via Konsum die Merkmale von Ritualen. Ursprünglich aus dem religiösen Bereich stammend, wurde der Begriff zunehmend auch für säkulare, alltägliche Verhaltensweisen verwendet (vgl. KdR  141f.):101 »Obwohl die Liebe ein säkulares Verhalten darstellt, wird sie am vollkommensten erfahren, wenn sie mit ritueller Bedeutung aufgeladen wird.« (KdR  142) Illouz definiert Romantik daher als »Liminalität« (KdR 175ff.), ein Begriff, den sie von Victor Turner102 übernimmt: Es geht dabei um die Trennung des Individuums von seiner Umwelt anhand von symbolischem Verhalten: »Schwellen101 | Vgl. zum Konsum als Ritual: Burckhard Dücker: Das Warenhaus als Ritualraum der Moderne. Warenhausgestaltungen in der deutschen Literatur zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination. Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 165-184, insbes. S. 170-176. 102 | Vgl. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Übers. v. Sylvia M. Schomburg-Scherf [Original: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, 1969]. Frankfurt, New York 2005.

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rituale zielen auf eine ›Umkehrung‹ oder ›Umstoßung‹ sozialer Strukturen.« (KdR 175) Diese Umkehrung bezieht sich vor allem auf die Produktionssphäre im Kapitalismus, da die konsum-romantischen Rituale all das auszulöschen scheinen, was diese ausmacht: »Arbeit, Mühe, Gewinn, Eigeninteresse und Geld.« (KdR  177) Dieser Zustand der Liminalität ist jedoch temporär, nach Durkheim geht es im Ritual schließlich darum, »die Bindung des Einzelnen an das gesellschaftliche Ganze zu erneuern.« (KdR 179) Somit erklärt sich die Reintegration des Liebespaares in die utilitaristischen Gesellschaftsbedingungen: »[K]onsumbasierte Rituale romantischer Liebe [erneuern] die Beziehung des Paares zur Gesellschaft, indem sie Grenzen ziehen, die das Paar von der profanen Welt abschneiden und in die pseudosymbolische und öffentliche Gemeinschaft der Medienbilder eintauchen lassen.« (KdR 179) Eva Illouz beschreibt vier Arten dieser Grenzziehungen. Erstens temporale: Der romantische Augenblick wird im Rahmen einer Zeit erfahren, die wie die »heilige Zeit« einen definierten Ausgangs- und Endpunkt hat und sich von »der regulären, profanen Zeit unterscheidet.« (KdR 142) So wird beispielsweise die Nacht als ›romantischer‹ als der Tag wahrgenommen, romantische Augenblicke kehren anhand von ›Feiertagen‹ wie Jahres- und Hochzeitstagen zyklisch wieder (vgl. KdR  143f.). Zweitens die räumlichen Grenzziehungen, »das Neuarrangement des alltäglichen Raumes« (KdR 144): Dabei geht es häufig gar nicht um den häuslichen Raum, sondern um die Konstruktion eines privaten Raums inmitten von Öffentlichkeit, der dann als wesentlich besonderer – also vom alltäglichen Raum deutlich unterschieden – wahrgenommen wird als das romantische Arrangement des eigenen Zuhauses (vgl. KdR 144f.). Drittens werden künstliche Grenzen vor allem anhand des Einsatzes von Objekten gezogen: Diese Objekte haben sich von alltäglichen zu unterscheiden, indem sie wertvoller, teurer und schöner sind und damit eine »Quasi-Heiligkeit« (KdR  146) erlangen. Dazu gehören beispielsweise besondere Kleidung, besondere Getränke und teure Speisen (vgl. KdR 145f.). Schließlich kommt es zu emotionalen Grenzziehungen: Die Exklusivität des romantischen Gefühls besteht vor allem in seiner Einzigartigkeit, das sich auf exakt eine, ebenso einzigartige Person bezieht. Wie bereits Colin Campbell veranschlagt auch Illouz eine Ähnlichkeit zwischen der Intensität religiöser und romantischer Gefühle: »Beide überwältigen den Gläubigen oder Liebenden, und in beiden Fällen wird das Objekt der Anbetung oder der Liebe als einzigartig oder überwältigend empfunden.« (KdR 147) Dieses Gefühl ist, wie Illouz betont, so wichtig, »dass Menschen ihre Liebesbeziehungen in Frage stellen, wenn es nicht empfunden wird.« (KdR 148) Die vier Grenzziehungen lassen sich anhand eines Restaurantbesuchs exemplifizieren (vgl. KdR  158-163): Räumlich abgegrenzt als besonderer Ort, der sich in seinem Arrangement vom eigenen Heim und Arbeitsplatz deutlich unterscheidet, wird im Restaurant auch die Zeit anders definiert: Gerahmt

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durch einen Beginn und ein Ende, duldet diese Zeit keine Unterbrechungen von außen, also beispielweise berufliche Telefonate. Die künstlichen Grenzen werden im Restaurant anhand der Speisen – die oft anders, besser, exotischer sind als daheim – und ihrer Präsentation, der besonderen Objekte wie des Tischtuchs, der Servietten und des Bestecks, der Kleidung sowie der Bedienung durch einen Kellner gezogen. Eine besondere Rolle spielt auch die Speisekarte: Die Speisekarte ist eine formelle kulturelle Einrichtung, welche die Gedankenlosigkeit des täglichen Essens auflöst und den Akt des Speisens ritualisiert und damit in ein symbolisches Ereignis verwandelt. In einem Restaurant ist Essen nicht einfach Essen. Es ist Teil einer Anordnung von Symbolen und Signalen, welche das Essen im Restaurant als »romantisch« »markieren«, indem sie seine Bedeutung kodifizieren und es kognitiv stärker in den Vordergrund rücken als das Essen zu Hause. Indem die Restaurantmahlzeit die Interaktion zwischen den Teilnehmern auf diese Weise strukturiert, intensiviert sie deren Interaktion. (KdR 160)

Diese Intensivierung der Interaktion bedeutet die »emotionale Bestärkung der Liebesbeziehung, die üblicherweise mit dem Essen in einem Restaurant einhergeht« (KdR 160), womit die emotionale Grenzziehung erfolgt. Aufgrund dieser Grenzziehungen ist es nicht egal, in welchem Restaurant das Rendezvous stattfindet: Luxus103 spielt bei konsum-romantischen Ritualen eine große Rolle, er »ist Teil des größeren kulturellen Szenarios der Liebesromantik.« (KdR 164) Laut Illouz erfüllen Luxusprodukte zwei Funktionen: Sie sind »Verführungsinstrumente« und sie machen »den romantischen Augenblick zu einer intensiven rituellen Erfahrung, bei der die Gefühle des Paares mit dem ostentativen Akt des Geldausgebens vermengt sind.« (KdR 166) Luxuswaren helfen bei der Verführung, da sie der ›conspicuous consumption‹ dienen, also Macht und Prestige des Mannes signalisieren, während Frauen, so die Unterstellung, durch die Heirat mit einem ebensolchen Mann ihren sozialen Status zu verbessern suchen. Darüber hinaus verstärken sie »zwei Kerndimensionen von Ritualen, nämlich Förmlichkeit und Ausschmückung« (KdR 167), was zu einer Intensivierung der Emotionen anhand der Dramatisierung der Interaktion führt, da durch die Luxuswaren »die kommunikativen Funktionen des romantischen Rituals« (ebd.) verstärkt werden. Sie wirken damit geradezu wie Katalysatoren für die Liebe – und machen das laut Luhmann Unwahrscheinliche wahrscheinlich: »Der Luxus kann dazu beitragen, eine bereits bestehende, aber noch diffuse romantische Anziehung zu kristallisieren und zu verstärken oder, wenn die Beziehung bereits besteht, den romantischen

103 | Vgl. allg. dazu: Lambert Wiesing: Luxus. Berlin 2015.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

Augenblick aus der Routine des gemeinsamen Alltagslebens herauszuheben.« (KdR 167) Ein weiterer Aspekt von Luxuswaren unterstützt diese Funktion: jener der Verschwendung im Sinne George Batailles. Das schließt all das ein, was im Überfluss, also über die utilitaristische Ordnung hinausgehend produziert und konsumiert wird. Der Konsum von Luxus, um romantische Liebe zu erfahren, zu katalysieren und intensivieren, entspricht dieser Verschwendung. Illouz widerspricht damit – ebenso wie Colin Campbell – der primären Funktion von Luxuswaren als ›conspicuous consumption‹: Luxusgüter [werden] nicht deshalb geschätzt, weil sich mit ihnen der eigene Status demonstrieren lässt, sondern vielmehr als Signifikanten, die es den Menschen ermöglichen, in einen Erfahrungsbereich einzutreten, der eine Alternative zur utilitaristischen, akkumulativen und gewinnorientierten Ordnung ihres Alltagslebens darstellt. Damit war und bleibt romantische Liebe ein Eckpfeiler des Utopischen, weil sie symbolisch Rituale nachspielt, die den Supremat des Individuellen und die Demonstration geopferten »Überflusses« bestätigen. (KdR 168)

Der Konsum von Luxusgütern ist daher ambivalent: Einerseits treten die Konsumenten für eine bestimmte Zeit aus ihrer sozialen Position heraus, sie transzendieren ihre Klassenzugehörigkeit, die Verschwendung wird belohnt durch ein intensives Vergnügen, das Liebe zu produzieren, katalysieren und stabilisieren vermag. Andererseits wird dieser Konsum vor allem von denjenigen betrieben, die ihn sich regelmäßig, wenn nicht alltäglich leisten können – Reiche und Berühmte –, so dass der Luxuskonsum dennoch immer auch ein statusdemonstrierender Konsum ist (vgl. KdR  168f.). Daraus ergibt sich neuerlich ein Paradox: »Während Luxusgüter die Menschen an den Bereich des Statuswettbewerbs binden, befördern ihre symbolischen Bedeutungen den rituellen, nicht-utilitaristischen und emotional tief greifenden Charakter der Liebesbeziehung und verwischen dabei die Wahrnehmung, dass man in einen Konsumakt involviert ist.« (KdR 169) Illouz argumentiert, dass sich damit der Aspekt des Rituals auch auf den Mechanismus selbst bezieht, der Liebe und Konsum verbindet: »Das Ritual ist die kulturelle Form, mittels deren die öffentlichen Sinnmuster der Konsumsphäre in eine subjektiv gelebte Liebespraxis übersetzt werden.« (KdR 169) Um dieses Zusammenwirken von Liebe und Konsum anhand der Verdinglichung der romantischen Liebe genauer beschreiben zu können, identifiziert Illouz drei Hauptkategorien romantischer Aktivitäten – gastronomisch, kulturell und touristisch (vgl. KdR 152) – und stellt eine Einteilung romantischer Begegnungen in Bezug auf ihr Verhältnis zum Konsum auf: Erstens ›direkt‹, das heißt das romantische Erleben basiert unmittelbar auf dem Erwerb eines Produkts wie beispielweise der Speisen in einem Restaurant, einer Urlaubs-

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reise, eines Kinobesuchs etc.; zweitens ›indirekt‹, da der romantische Augenblick in diesen Fällen zwar von Konsum abhängig, jedoch kein direktes Resultat dessen ist, wie z.B. beim Fernsehen daheim; schließlich gibt es noch die Möglichkeit der romantischen Interaktion ohne Vermittlung von Konsum, wie beispielsweise »Spaziergänge (in der Natur oder in der Stadt), häusliche Interaktionen (z.B. miteinander reden) und zu Hause miteinander schlafen« (KdR 154). Diese Praktiken existieren nebeneinander, ohne dass die einen die anderen verdrängen. Illouz kommt jedoch anhand ihrer Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass »konsumorientierte romantische Augenblicke kulturell häufiger und dominanter sind als nicht konsumorientierte« (KdR 155), dabei gelten »konsumorientierte romantische Augenblicke als Standard, gegen den nicht konsumorientierte Augenblicke ausgerichtet sind.«104 (KdR 155) So kann das Essen im Restaurant auch als Klischee schlechthin betrachtet werden, dem das Essen daheim als deviante Praxis entgegengesetzt wird (vgl. KdR 157). In diesem Zusammenhang schließlich stellt sich Illouz die vor allem aus kulturkritischer Sicht entscheidende Frage: »Hat die Konsumsphäre die Liebesbeziehung eines Sinns beraubt, der bislang durch die vorkapitalistische Kultur bewahrt worden war?« (KdR 140) Ihre These lautet: »[D]ie Warenwelt und die Teilhabe am Freizeitmarkt [haben] die Liebesbeziehung mit Bedeutungen und Vergnügungen versehen, die der Phänomenologie der romantischen Beziehung eher entsprechen als ihr feindlich gegenüberstehen.« (KdR  141) Ein beliebter Einwand gegen diese Positionierung ist beispielsweise die Annahme, dass durch die Verschiebung vom Vorsprechen im Haus der Eltern hin zum Rendezvous in der Öffentlichkeit eine Schwächung der weiblichen Position einhergegangen ist: Da erwartet wurde, dass der Mann für das Rendezvous zahlte, hatte nun er die Macht, das Treffen zu initiieren oder zu beenden. Das System regele damit nicht mehr Klassen-, sondern Geschlechterverhältnisse (vgl. KdR  98). Illouz entgegnet diesem Einwand, dass Männer und Frauen mit der Verdinglichung der romantischen Liebe gleichermaßen von Konsumpraktiken abhängig gemacht wurden: Während die Männer für das Essen oder Kinokarten zahlen mussten, oblag es den Frauen, Geld für ihr Aussehen – Kleidung, Schönheitsprodukte etc. – auszugeben.105 Die Praxis des Rendezvous begünstigte also vor allem Männer, die es sich leisten konnten,

104 | Herv. i. O. 105 | Eva Illouz hat in einer neuen Untersuchung den immensen zeitlichen wie finanziellen Aufwand, den ein potentielles Paar für ein Rendezvous betreibt, aufgelistet (beruhend auf einer Kolumne in der britischen Zeitung Independent): vgl. Eva Illouz: Einleitung – Gefühle als Waren. In: Dies. (Hg.): Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus. Übers. v. Michael Adrian [Original: Emotions as Commodities. Capitalism, Consumption and Authenticity, 2018]. Berlin 2018, S. 13-50, S. 13-19.

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und benachteiligte jene, die nicht über die entsprechenden Mittel verfügten.106 Den Frauen wiederum »verschaffte die Kombination aus hedonistischem Konsumethos und dem Ideal romantischer Liebe […] paradoxerweise ein wirkungsvolles Narrativ persönlicher Befreiung, das weiter gehende Ideale weiblicher Selbstverwirklichung, Autonomie und Gleichstellung unterstützte.« (KdR 99) Dieses Narrativ der Emanzipation gründet sich vor allem auf der Vorstellung der freien Partnerwahl in der romantischen Liebe: »Diese Vision eines autonomen Liebessubjekts wurde durch die Werte der Befreiung und des Selbstausdrucks unterstrichen, wie sie in der Kultur des Konsums ganz allgemein und in der Werbung im Besonderen zum Ausdruck kamen.« (Ebd.) So erhöhte die Praxis des Rendezvous die Wahrscheinlichkeit, einen passenden Partner zu finden, ganz erheblich, indem der öffentliche Raum der Vergnügungen viel mehr Möglichkeiten und viel mehr potentielle Partner bot als der reglementierte Raum des elterlichen Hauses. Das Rendezvous wurde damit als Praxis romantischer Interaktion besonders von Frauen begrüßt und nicht als Benachteiligung empfunden (vgl. KdR 99, 181). Illouz setzt sich zudem ein Teilkapitel lang mit der Marx’schen Kritik an den Auswirkungen der Warenwelt auf die menschlichen Beziehungen auseinander (vgl. KdR 180-187): Sie bekräftigt dabei den Aspekt der Emanzipation und Freiheit – auch wenn diese in den Augen der Kritiker eine ›falsche Freiheit‹ sei –, der einer der Gründe ist, warum die romantische Liebe überhaupt vom Markt vereinnahmt wurde (vgl. KdR 181). Sie räumt zudem ein, dass der 106 | Illouz diskutiert im Rahmen ihrer Ausführungen immer wieder die Auswirkungen von Liebe und Konsum auf die Klassenverhältnisse. Während es durch bestimmte Aspekte der Praxis des Rendezvous zur Diskriminierung unterer Schichten kam, so gab es auch dem zuwiderlaufende Tendenzen: Beispielsweise die Demokratisierung und Universalisierung des Luxus, die Aufnahme weniger kostenintensiver Aktivitäten der Arbeiterklasse in die romantische Utopie, so dass auch jene an der Praxis des Rendezvous teilhaben konnten, die zuvor vom System des Vorsprechens im elterlichen Haus ausgeschlossen waren (vgl. KdR 96f.). Damit ist in der Verbindung von Liebe und Konsum eine potentielle Transgression von Klassenunterschieden angelegt. Dennoch kommt es laut Illouz’ Analysen nicht besonders häufig dazu, ein entscheidender Grund dafür ist der Mangel an ›kulturellem Kapital‹ (Bourdieu) der Arbeiterschichten, so dass im »Supermarkt der Beziehungen« (KdR 237) letztendlich zumeist Angehörige derselben Schicht zueinanderfinden. Die Verdinglichung der romantischen Liebe suggeriert damit die prinzipielle Offenheit für alle Schichten, ohne Klassenverhältnisse tatsächlich aufzulösen: »Die Kommerzialisierung der Liebe hat eine Formel geliefert, die, wenn sie schon nicht die romantischen Praktiken unterschiedlicher Klassen vereinheitlicht, zumindest den meisten zugänglich ist. […] Die Homogenität der in der Freizeitsphäre konsumierten Produkte hebt zwar die Klassenverhältnisse nicht auf, übersetzt und verbirgt sie jedoch in einer gemeinsamen Sprache konsumorientierter Solidarität« (KdR 276).

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Konsumaspekt der romantischen Interaktion von den Beteiligten oft verkannt würde und sich daraus in Anlehnung an Marx’ Warenfetischismus ein ›Personenfetischismus‹ festmachen lasse: Nicht mehr die Waren sind von den sie produzierenden Personen getrennt, sondern »es hat vielmehr den Anschein, dass die Menschen von den Waren getrennt sind, die ihre Erfahrungen produziert haben. Die Beziehungen zwischen Menschen und Objekten erscheinen damit als Beziehungen zwischen Menschen.« (KdR  183) Illouz begründet dies mit den subjektiven Berichten ihrer Probanden, in denen sich »keine Spuren der Diagnose der Kritischen Theorie« finden lassen (KdR 185). Waren sind daher »nicht einfach mit bedingungsloser Unterwerfung unter den Markt« (KdR 182) gleichzusetzen, sondern »dienen als ausdrucksstarke symbolische Werkzeuge, welche die dramaturgischen und kommunikativen Eigenschaften des romantischen Austauschs steigern.« (KdR 186) Der Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen lässt sich somit von der Konsumsphäre nicht durch eine simple Dichotomie unterscheiden, »denn die Bedeutungen, welche die ›Lebenswelt‹ romantischer Liebe aufrechterhalten, werden innerhalb und nicht außerhalb des kapitalistischen Systems konstruiert.« (KdR 186) Illouz verwehrt sich damit einer Entwertung der romantischen Liebe durch deren Verbindung mit Konsum:107 »Die konsumorientierte Liebe beruft sich auf Werte und Prinzipien, die in der gesamten abendländischen Geschichte ein emanzipatorisches Potential darstellten: Individualismus, Selbstverwirklichung, Bestärkung der persönlichen Qualitäten des Individuums und Gleichheit zwischen den Geschlechtern in der wechselseitigen Erfahrung von Vergnügen.« (KdR 187)

2.2.3 Liebes-Konsum-Geschichten: Zur Fiktionalität von Liebe Eva Illouz beschreibt die romantische Liebe anhand des Ritualcharakters, der ihr durch die vier Grenzziehungen verliehen wird, als ›Bühnenwirklichkeit‹: Romantische Liebe wird in der symbolischen Art eines Rituals gelebt, zeigt aber auch die Eigenschaften des Bühnendramas des Alltagslebens. Die Verwendung von Gegenständen (Kleidung, Musik, Licht und Essen), die Verwendung von selbstbestimmten Einheiten von Raum und Zeit, der Austausch ritueller Liebesworte machen die romantische Liebe zu einer »Bühnenwirklichkeit«, zu einem Akt, innerhalb dessen öffentliche Bedeutungen ausgetauscht und dramatisiert werden, um die Beziehung zu intensivieren. (KdR 149) 107 | An dieser Auffassung hält Illouz auch in einer ihrer neuesten Publikationen, gut zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Der Konsum der Romantik fest: »Die kapitalistische Kultur hat durchaus keinen Verlust an Emotionalität eingeläutet; sie ist vielmehr mit einer beispiellosen Intensivierung des Gefühlslebens einhergegangen, in dessen Rahmen Akteure ihre emotionalen Erfahrungen bewusst um ihrer selbst willen gestalten.« (Illouz: Einleitung – Gefühle als Waren, S. 20).

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Der ›Austausch ritueller Liebesworte‹ lässt eine weitere Anschlussmöglichkeit zu Luhmanns Theorie zu: Insbesondere die räumlichen und zeitlichen Grenzziehungen können als Kommunikationen angesehen werden, die anhand des Codes WIR ZWEI/Rest der Welt nicht nur die Zweiheit des Liebespaares definieren, sondern auch den Bestand dieses Liebessystems festigen. Illouz’ Beschreibung der Liebe als ›Bühnenwirklichkeit‹ verweist zudem auf die Fiktionalität von romantischer Liebe und ihre Herkunft aus der Literatur: Was anhand der vier Grenzziehungen als Ritual stattfindet, ist oftmals die Nachahmung der Bilder, Codes, Narrative von Liebe, die sich durch die Massenmedien verbreitet haben.108 Der Verdacht, dass diese Liebesnarrative das reale Liebeserleben beeinflusst oder gar transformiert haben, schließt an einen alten Moraldiskurs an, dem La Rochefoucauld bereits im 17. Jahrhundert den bekannten Ausdruck verliehen hat: »Il y a des gens qui n’auraient jamais été amoureux s’ils n’avaient jamais entendu parler de l’amour.«109 Illouz identifiziert darin die Gegenüberstellung einer idealistischen und realistischen Betrachtungsweise der Liebe: Während der idealistische Ansatz Liebe und Leidenschaft absolut setzt und bevorzugt mit Fantasien operiert, geht der realistische Ansatz dagegen von einer durch »die praktischen Bedürfnisse und Bedingungen der Menschen« (KdR  190) motivierte Liebe aus, die durch Fantasien eher gefährdet als gefördert wird. Illouz geht dem Verhältnis von »Autobiografie, Mediengeschichten und Konsumkultur […] [als] Kern der condition postmoderne« (KdR 192) nach, indem sie Probanden drei Liebesgeschichten anhand ihres Grades von ›Romantizität‹ einschätzen und dieselben Probanden anschließend ihre eigenen Liebesgeschichten erzählen lässt (vgl. KdR 192-213). Während die Erzählung der Liebe auf den ersten Blick, die zur Heirat innerhalb weniger Tage führt, als hochgradig romantisch aber unrealistisch eingeschätzt und zugunsten der beiden anderen, eher ›rationalen‹ Liebesnarrative abgelehnt wird, so ist es gerade dieses unrealistische Narrativ der Intensität, das sich in den autobiografischen Liebeserzählungen niederschlägt: »Das auf der Fantasie gründende Modell von Liebe sticht somit kognitiv und emotional stärker hervor als das realistische.« (KdR 26) Man könnte daran die Dominanz der Fiktion über das Leben sehen: »[D]as romantische Ich [›autorisiert‹] seine einprägsamsten romantischen Erfahrungen dadurch, dass es die hochgradig ritualisierten Zeitstrukturen der in den Massenmedien präsentierten Liebesgeschichten nachahmt.« (KdR 209) 108 | Vgl. Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 21-33; Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft, S. 14, sowie Werber: Liebe als Roman. 109 | François de la Rochefoucauld: Réflexions ou Sentences et Maximes morales [1678]. In: Ders.: Œuvres complètes. Hg. v. L. Martin-Cháuffier, Jean Marchand. Paris 1964, S. 385-471, S. 421 (Maxime 136) [Übersetzung: »Es gibt Leute, die sich niemals verliebt hätten, wenn sie nie von Liebe hätten sprechen hören.«].

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Dass Liebe hier als Code erscheint, der über seinen ›realen Referenten‹ dominiert, ist jedoch keine spezifisch postmoderne Entwicklung: Schon lange vor der Moderne wurde dieses Verhältnis konstatiert – nicht zuletzt von Niklas Luhmann (vgl. KdR 201). Illouz argumentiert weiter, dass diese Theorien jedoch nicht erklären, inwiefern romantische Fiktionen »unsere tatsächliche ›Erfahrung‹ ersetzt hat oder nicht« (KdR 211). Sie weicht damit an dieser Stelle ganz bewusst von Luhmanns Theorie ab, um den Bogen zu einer Ontologie der Liebe – genau das, was Luhmann gar nicht interessiert – zu schlagen. Illouz behauptet daher, dass sich die fiktionalen wie realen Liebesgeschichten gegenseitig beeinflussen, und widmet sich der »aufgelösten und verschwommenen Grenze zwischen Leben und Texten.« (Ebd.) Die spezifische condition postmoderne der Liebe besteht laut Illouz darin, dass die Liebesnarrative das romantische Ich nicht mehr mit einem grand récit ausstatten, sondern »in miteinander unvereinbare Narrative aufspalten und damit zum Schauplatz der eigentlichen Widersprüche des Spätkapitalismus machen« (KdR  213). Die typische Erfahrungsform dieser postmodernen Widersprüche ist die Affäre: Sie institutionalisiert Liminalität, ist aufgrund der sexuellen Befreiung deutlich unterschieden von der Libertinage des Adels in vorangegangenen Jahrhunderten, sie ist nicht transgressiv und widersetzt sich keinem moralischen Imperativ, schließlich beruht sie auf dem Paradigma der freien Wahl (vgl. KdR 218). Gleichzeitig widerspricht sie einer längerfristigen, wenn nicht lebenslangen Bindung des Individuums und auch dem Luhmann’schen Code der Liebe: Das heutige romantische Ich zeichnet sich durch seinen fortwährenden, sisyphusgleichen Versuch aus, die lokal begrenzte und flüchtige Intensität der Liebesaffäre innerhalb langfristiger, globaler Liebeserzählungen (wie etwa der Ehe) heraufzubeschwören, ein übergreifendes Narrativ dauerhafter Liebe mit der fragmentarischen Intensität der Affären zu versöhnen. Diese Aufspaltung des romantischen Ichs in unvereinbare Erzählstrukturen, das Einfügen eigenständiger, diskontinuierlicher Affären in Narrative lebenslanger Liebe löst das kohärente, »heroische« Ich der Moderne in eine »Collage« konfligierender narrativer Ichs auf. (KdR 219)

Illouz bezeichnet dies mit dem Foucault’schen Begriff der »Krise der Repräsentation« (KdR 221):110 Während der realistische Erzählrahmen in der realen Erfahrung sein Signifikat zu verlieren scheint, wird der idealistische Erzählrahmen – in der Fiktion als unrealistisch eingeschätzt – als real erfahrenes Narrativ »als der ›wirkliche Referent‹, der in seiner vollsten Bedeutung gelebt wird« (KdR  220), wahrgenommen: »Während der erste Erzählrahmen, also 110 | Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Übers. v. Ulrich Köppen [Original: Les mots et les choses, 1966]. Frankfurt a.M. 1974, S. 98-113.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

derjenige der Intensität, ›Romantik‹ bezeichnet, ohne das Signifikat der Liebe zu beinhalten, bietet der zweite Erzählrahmen im Gegensatz dazu dieses Signifikat ohne den romantischen Signifikanten. Diese Disjunktion zwischen dem Signifikanten für Romantik und dem Signifikat der Liebe ist eines der charakteristischen Merkmale der condition postmoderne. Sie weist auf eine gespaltene autobiografische Erzählstruktur hin.« (KdR  221) Illouz identifiziert bei ihren Probanden eine ironische Haltung gegenüber der Tatsache, dass ihre Vorstellungen und Erfahrungen lediglich Nachahmungen der medialen Codes sind: »Die postmoderne Lage der Liebe ist charakterisiert durch die ironische Wahrnehmung, dass man nur das wiederholen kann, was bereits gesagt wurde, und dass man nur als Schauspieler in einem anonymen und stereotypen Stück agieren kann.« (KdR  223f.) Allen voran ist das Liebesbekenntnis ›Ich liebe dich‹ immer schon Zitat, wie Illouz anhand der Bestimmung der Postmoderne von Umberto Eco verdeutlicht (vgl. KdR 223). Damit wird das Diktum La Rochefoucaulds um eine entscheidende Komponente erweitert: »In der Postmoderne bezweifeln viele Menschen, dass sie verliebt sind, und zwar gerade deswegen, weil sie zu viel darüber gehört haben.« (KdR 224) Illouz hält also am Ende – entgegen ihrer eigenen These zu Beginn des Kapitels – fest, dass die fiktionalen Liebesnarrative wirkmächtiger sind als die Realität, »weil die Inszenierung hochgradig energiegeladener, monosemischer, ritualisierter und kollektiver symbolischer Szenarien semiotisch und erfahrungsmäßig stärker bindet als die verschwommenen, abgeschwächten Bedeutungen des Alltagslebens.« (KdR 224) Illouz zufolge bedarf es aufgrund der problematischen Beziehung zwischen »den ›Zeichen‹ romantischer Liebe und ihren Referenten in der postmodernen Kultur« (ebd.) »ausgefeilter Arbeit am Begriff, um ›Liebe‹ wieder ins Spiel zu bringen.« (Ebd.) Der Rekurs auf eine ontologische Bestimmung der Liebe ist für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung des Zusammenhangs von Liebe und Konsum jedoch wenig hilfreich, da die Frage, ob literarische Figuren innerhalb der Fiktion ›wirklich‹ lieben, müßig ist. Zum Schluss soll zum beobachtbaren Phänomen von Liebe zurückgekehrt werden: der Kommunikation.

2.3 Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Liebe und Konsum als gegenseitige Katalysatoren fungieren: Die Konsumsphäre ist eine der Quellen, die Bilder, Leitvorschriften und Regeln für den Kommunikationscode Liebe bereitstellen, nach denen man entsprechende Gefühle ausdrücken, bilden oder gar vortäuschen kann. Konsum macht Liebe also wahrscheinlich. Umgekehrt sorgt aber auch Liebe als Motivation dafür, das alle Möglichkeiten offen haltende Medium Geld gegen ein Konsumprodukt einzutauschen, das eventuell

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enttäuschend ist: Liebe sorgt also für eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass Konsum zustande kommt. In der Ökonomie würde man hier von einer WinWin-Situation sprechen. Um Liebe im Luhmann’schen Sinn wahrscheinlich zu machen, bedarf es jedoch des Wissens um den Kommunikationscode romantischer Liebe: Nur dann kann sich Liebe überhaupt einstellen. Illouz beschreibt die in den Massenmedien präsentierte Liebe als eine »eminent redselige Liebe« (KdR  255), womit »Kommunikation nicht nur ein wichtiges, sondern das bestimmende Merkmal einer guten und liebevollen Beziehung« (ebd.) wird. Galt ausgiebige Kommunikation im 12.  Jahrhundert noch als Hindernis der Liebe, so dient sie in der Moderne und Postmoderne dem genuinen Selbstausdruck (vgl. KdR  255f.), sie wird damit zum »kulturellen Kapital[s]« (KdR  256) im Bourdieu’schen Sinn und ein geeignetes Instrument zur »wechselseitige[n] Beurteilung der bildungsmäßigen und kulturellen Kompatibilität« (KdR  258): »Die Intimität der verwandten Seelen ist das Ergebnis sozialer Kompatibilität, das Produkt ähnlicher Freizeitvorlieben, die stillschweigende Erkenntnis der eigenen Art zu reden, zu denken und sich zu entspannen.« (KdR 258) Damit sind es vor allem die Ausdrucksformen der Mittelklasse, die als »Logozentrismus« (KdR 258) das romantische Ideal prägen. Zusammen mit der hedonistischen Praxis des Rendezvous und der Romantisierung der Waren bedarf es spezifischer Kompetenzen des Individuums für die Teilhabe am romantischen Ideal: »Somit erfordert die Fähigkeit, das romantische Ideal in den Zwillingsbereichen der Kommunikation und des Konsums auszuleben, eine romantische Kompetenz, die sich durch den Zugang zu sprachlichen, kulturellen, ökonomischen und zeitlichen Ressourcen auszeichnet. Dies impliziert im Gegenzug, dass Menschen mit geringerem Zugang zu diesen Ressourcen im Nachteil und romantisch ›weniger kompetent‹ sind.«111 (KdR 273) Die Mittel- und Oberschicht ist jedoch nicht nur bei der Initiierung von Liebe begünstigt, sondern auch bei deren Erhalt: Angehörige dieser Schichten können dem Verlust der anfänglichen Erregung durch neuerlichen Konsum, beispielsweise von Freizeitgütern, oder anhand ihrer kommunikativen Kompetenz, »die das Modell der Intensität ersetzen und ergänzen kann« (KdR 313f.), beikommen. Sie sind damit besser ausgestattet, mit den kulturellen Widersprüchen von Liebe und Kapitalismus umzugehen. Die Bewertung des Zusammenhangs von Liebe und Konsum, Liebe und Kapitalismus bleibt daher bei Illouz am Ende ihrer umfangreichen Untersuchungen ambivalent: »Die Güter und Werte des Warenaustauschs können die Liebesbeziehung je nach Kontext stärken oder untergraben. […] Wir können nicht a priori sagen, wie die Sphäre des Warenaustauschs und die Privatsphäre

111 | Herv. i. O.

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zusammenwirken oder was am Ende dabei herauskommt.«112 (KdR 320) So hat der Kapitalismus die Verwirklichung romantischer Liebe, wie sie vor allem in der Literatur dargestellt und als besonders authentisch wahrgenommen wird, nicht zerstört, sondern gerade befördert: Wenn jedoch die moderne (und postmoderne) Liebe im Vergleich dazu als domestiziert erscheint, weil ihre Bestrebungen von der sie umgebenden Kultur eher befördert als abgelehnt werden, so liegt das daran, dass sich die Gesellschaftsordnung geändert hat und die Forderungen nach Freiheit, Selbstverwirklichung und Gleichheit, wie sie in der utopischen Vision von Liebe enthalten sind, inzwischen anerkennt. Es waren genau diese Werte, für welche die Liebenden der Romantik leiden mussten, und die heutige romantische Kultur stellt, wie hedonistisch oder »gewichtslos« sie mitunter erscheinen mag, gleichwohl den Sieg dieser Liebenden dar. Es lässt sich nicht leugnen, dass die moderne Liebe die Liebenden stärkt, indem sie ihnen eine stärkere Kontrolle über ihre eigenen Liebesbestrebungen ermöglicht. (KdR 319)

Auf der Kehrseite dieser Freiheit stehen die verschiedenen, teils sich widersprechenden Narrationen von Liebe, die zur ›Krise der Repräsentation‹ geführt haben: Der »Pluralismus von Emotionen und Werten hat die romantischen Empfindungen weniger verständlich gemacht und der ängstlichen Frage die Tür geöffnet, was es denn überhaupt bedeutet, ›verliebt zu sein‹.« (KdR  321) Diese Ambivalenz gilt es angesichts der engen, komplizierten und vielschichtigen Verschränkung von Liebe und Konsum laut Axel Honneth auszuhalten: »[D]em Weber’schen Impuls, die soziale Verwirklichung ethischer Ideen als einen Vorgang ihrer schrittweisen Entleerung zu betrachten, steht bei [Illouz] die von Durkheim getragene Zuversicht gegenüber, dass die romantische Utopie auch in Zukunft eine lebendige Quelle egalitärer Beziehungen und Solidaritäten bilden wird.«113

3. R omantische D inge : K onsum und F e tischisierung Nach den historisch-philosophisch perspektivierten Betrachtungen Campbells und der soziologischen Analyse romantischer Praktiken bei Illouz und Luhmann soll nun die dritte Komponente der Verbindung von Liebe und Konsum fokussiert werden: jene der affektiven Bindung an Dinge. Zwei Aspekte spielen dabei die Hauptrolle: Erstens jener des kulturellen Fetischismus, den Hartmut Böhme dargelegt hat, und zweitens die Theorie der Fiktionswerte, die Wolf-

112 | Herv. i. O. 113 | Axel Honneth: Vorwort. In: Eva Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 7-22, S. 22.

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gang Ullrich in Anlehnung an Colin Campbell als einen zentralen Bestandteil seiner Konsumtheorie postuliert.

3.1 Die Liebe der Dinge Hartmut Böhme kommt das Verdienst zu, den Fetischismus sowohl aus der religiös-ethnologischen als auch der psychoanalytisch-pathologischen Ecke herausgeholt und ihn in der Mitte moderner, westlicher Gesellschaften verortet zu haben. Die Ursprünge des von ihm postulierten kulturellen Fetischismus europäischer Gesellschaften liegen im 19.  Jahrhundert: Im »Saeculum der Dinge«114 besaßen die Menschen im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrhunderten wesentlich mehr Artefakte, wodurch sich ihre Lebenswelt signifikant veränderte; gleichzeitig verbreitete sich in dieser Zeit die aus der Perspektive der Aufklärung negative Vorstellung des Fetischismus als eines Begriffs, unter dem jegliche Objektbeziehung versammelt werden konnte, die als irrational, abergläubisch oder gar pervers wahrgenommen wurde.115 Nach dieser Vorstellung ist der Fetisch ein Ding, an das Individuen oder Kollektive Bedeutungen und Kräfte knüpfen, die diesem Ding nicht als primäre Eigenschaft (im Locke’schen Sinn) zukommen. Sondern sie werden ihm in einem projektiven Akt beigelegt – und zwar so, dass das Ding für den Fetischisten diese Bedeutungen und Kräfte inkorporiert wie ausstrahlt. Das aber sei Selbsttäuschung. Als ein bedeutendes und kraftgeladenes Objekt wird das Fetisch-Ding für den Fetischisten zu einem Agens, an das dieser fortan durch Verehrungs-, Furcht- oder Wunschmotive gebunden ist. Das Ding erhält damit Wirk- und Bindungsenergien. Diese Obligation durch eine pseudo-objektive Macht verhindert die Einsicht, dass es der Fetischist selbst ist, der den Fetisch und die Beziehung zu ihm kreiert. Das Verhältnis zum Fetisch ist mithin zwanghaft (anankastisch, sagen die Psychologen); es funktioniert und ist doch verblendet; es ist ein bewusst gehandhabter Mechanismus, der in seiner inneren Struktur unbewusst bleibt. (FK 17)

Mit der Ausweitung des Begriffs am Ende des 19. Jahrhunderts – »Alles konnte als Fetisch und alle als Fetischisten verdächtigt werden«116 (FK 19) – wanderte 114 | Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 17. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle FK mit nachgestellter Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen. 115 | Laut Böhme philosophisch und mit negativer Konnotation eingeführt von Charles de Brosses 1760. Vgl. Böhme: Fetischismus, S. 17 sowie 26f. Vgl. zur Entwicklung des Fetischismus: Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München 2003, S. 69-115. 116 | Herv. i. O.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

er in die Mitte westlicher Gesellschaften ein. Er diente nicht länger nur zur Beschreibung obskurer religiöser Praktiken in Zentralafrika, sondern wurde »von einem Term zur Beschreibung des Anderen der Anderen zu einem Phantasma, das das beängstigende Andere des Eigenen aufstöbern, erfassen, benennen, einkreisen, klassifizieren, aufklären, analysieren, bewerten und vor allem: wegschaffen soll.«117 (FK 20) Böhme knüpft dies an die spezifische Beschaffenheit der Moderne, die säkulare und postreligiöse Gesellschaften geschaffen hat, deren Prozesse zwar integrativ, nicht aber identitätsstiftend wirken. Daraus resultieren beispielsweise die auch von Illouz beschriebenen Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften, die das Individuum wochentags den utilitaristischen Zwängen der Erwerbsarbeit unterwerfen und am Wochenende von demselben Individuum erwarten, zum Hedonisten zu werden (vgl. FK 22). Das Handeln in der Moderne ist also rational und irrational zugleich, woraus Böhme seine grundlegende These ableitet, »dass in der Moderne vormoderne Formen und Institutionen der Magie, des Mythos und Kultus, der Religion und der Festlichkeit aufgelöst werden, ohne dass die darin gebundenen Energien und Bedürfnisse zugleich aufgehoben wären – sie werden vielmehr freigesetzt und flottieren durch alle Systemebenen der modernen Gesellschaften.« (FK  22) Böhme erteilt damit der These von der ›Entzauberung der Welt‹ (Max Weber) eine deutliche Absage. Vielmehr sind moderne Individuen »auf dauernde Verzauberung angewiesen, um sich vor Dissoziation, Anomie und Zugehörigkeitsverlust zu schützen.« (FK 25) Mehr noch, es sind »gerade die universell wuchernden fetischistischen Mechanismen […], die auf unklare, bisher kaum analysierte Weise die modernen Gesellschaften integrieren.« (Ebd.)118

3.1.1 Transzendental-ökonomischer Fetischismus Hartmut Böhme untersucht in seiner Studie nicht nur verschiedene Spielarten des Fetischismus, sondern perspektiviert diese auch historisch. Für den Zusammenhang von Liebe und Konsum sind Dinge vor allem als Waren oder

117 | Herv. i. O. 118 | Vgl. in diesem Zusammenhang auch Andreas Reckwitz’ These der Moderne als »Ästhetisierungsmaschinerie« (in: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. 3. Aufl. Berlin 2013, S. 34): Die Rationalisierungsprozesse der Moderne erfassten zwar nahezu jeden Lebensbereich, diese konnten jedoch die »Entästhetisierung« (ebd., S. 33) niemals vollständig abschließen. Die ästhetischen Formate, die sich laut Reckwitz in der Moderne finden, reichen teilweise bis in vormoderne Epochen zurück. Zudem definiert er fünf »Ästhetisierungsagenten« (ebd., S. 34), die für die Moderne charakteristisch sind: der Expansionismus der Kunst, die Medienrevolutionen, die Kapitalisierung, die Objektexpansion und die Subjektzentrierung (vgl. ebd., S. 34-38).

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Gaben interessant, womit seine Ausführungen zum Warenfetischismus für die vorliegende Arbeit am wichtigsten sind. Gaben und Waren zeichnen sich durch ihre Mobilisierungsfunktion aus, »sie sind die sozialen und/oder ökonomischen Mechanismen, durch die Objekte mobilisiert, ›in Verkehr gebracht‹ werden.« (FK  285) Dinge werden in diesem Verkehr vor allem getauscht und zirkulieren beständig – diese Vertragsform besteht bereits in frühesten Gesellschaftsformen. Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft scheint es so, als ob das ökonomische System völlig autonom ausschließlich nach dessen eigenen Regeln operiert. Tatsächlich aber wurde der Fetischismus als »ein religiöser Mechanismus […] in die Ökonomie translationiert« (FK  286). Laut Böhme findet jedoch diese Übersetzung des Codes der Religion (Immanenz/Transzendenz) in den Code der Wirtschaft (Zahlen/Nicht-Zahlen) sowohl statt wie auch nicht statt:119 »Das Religiöse wird nicht vollständig in die ökonomische Logik übersetzt […] und soll auch nicht übersetzt werden.« (FK 286) Es ist gerade dieser Widerspruch, der dem Wirtschaftssystem zum Erfolg verhilft: »Die Ökonomie operiert deshalb so erfolgreich, weil sie nicht nur nach Zahlen/Nicht-Zahlen, sondern auch nach Immanenz/Transzendenz funktioniert. Der Warenfetischismus wird sich als Antriebskraft erweisen, bei der die Bereitschaft zu zahlen nicht von der Rationalität begrenzt wird, nicht zahlen zu können, sondern vom Wunsch und Begehren, mit der Versprechenssemantik der Ware zu verschmelzen – und dafür zahlen zu wollen.«120 (FK 287) Was den Erwerb einer Ware vorantreibt, entstammt damit nicht dem ökonomischen Bereich: »Lust/Unlust, Partizipation/ Nicht-Partizipation, Glück/Nicht-Glück, Schönheit/Nicht-Schönheit, Sinn/ Nicht-Sinn […] Sein/Nicht-Sein. […] Dies sind indes jene Qualitäten, welche die Ware, insofern sie Fetisch ist, als Suggestionen inkorporiert, obwohl sie das Jenseits der Ware sind. Dies macht den seltsamen Doppelstatus der Ware als Fetisch aus, Ding und Symbol, Immanenz und Transzendenz uno loco zu vereinen.«121 (ebd.) Böhme widmet sich dem Phänomen der Gabe und des Tauschs vor allem anhand von Marcel Mauss’ einschlägiger Studie Essai sur le don (1925). Die sich aus dem Gabentausch ergebenden Pflichten produzieren soziale Beziehungen bereits in frühesten Stammeskulturen. Der Gabentausch selbst wur119 | Böhme argumentiert, dass man hinsichtlich des Warenfetischismus mit einer reinen Lehre der Systemtheorie nur bedingt weiterkommt, weshalb »bei der Analyse der Warenökonomie nicht von einem Stand vollständiger funktionaler Ausdifferenzierung« (FK 288) ausgegangen werden kann. Das Phänomen des Warentauschs ist so alt, dass sich dessen Strukturen auch beim Wandel der Gesellschaften erhalten können (vgl. ebd.). 120 | Herv. i. O. 121 | Herv. i. O.

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de zunächst durch soziale Beziehungen und den damit verbundenen Status motiviert: »Wer sich einen ›Namen‹ machen oder ihn erhalten und damit sein Ansehen und seine Position wahren oder stärken will, ist zu Gaben verpflichtet.« (FK  289) Der Empfänger ist in der Pflicht, die Gabe anzunehmen und angemessen zu erwidern. Dadurch wird aus der Praxis der Gabe »ein System der endlosen Zirkulation« (FK 290). Im Fall romantischer Liebe dienen Gaben vor allem als Liebesbeweise, deren Kosten die Wahrhaftigkeit der Liebe signifizieren und eine entsprechende Reziprozität der Liebe bewirken sollen.122 Der Gabentausch regelt jedoch nicht nur die sozialen Beziehungen der Menschen unter einander, sondern auch jene zur Transzendenz: Auch den Göttern, Geistern und Toten sind Geschenke zu machen. Dies ist ein Akt der Entschuldung – man gibt etwas zurück zum Ursprung –, gleichzeitig verpflichtet man die Götter und Ahnen dazu, dass sie den Menschen künftig ihrerseits mit Gaben bedenken: »Den Göttern zu geben, was der Götter ist, perpetuiert den Verschuldungs-/Entschuldungskreislauf ebenso, wie er den Reichtum an Gütern, die ›eigentlich‹ ihnen gehören, sicherzustellen und zu vergrößern hilft. Es ist eine paradoxe Balance, sie bildet das Imaginäre der Kultur.« (FK 290) Gründet der Gabentausch demzufolge den gesellschaftlichen Zusammenhang auf Reziprozität, so geschieht dies jedoch nicht, ohne dass Machtinteressen oder Rivalität im Spiel sind: Insbesondere die Form des Potlatchs123 funktioniert nach Wettbewerbslogiken: »Die Symmetrie der Verpflichtungen wird durch die Asymmetrie des Potlatchs durchbrochen.« (FK  291) Der soziale Zusammenhang basiert also auch auf Schuld sowie dem Prinzip der ›schöpferischen Zerstörung‹ (Schumpeter): »Verausgabung und Zerstörung sind die machtvollen Gesten, durch welche die alle und alles in die Zirkulation ziehende Ordnung der Gesellschaften archaischer Ökonomie konstituiert wird.« (FK  292) Dass Gesellschaften dadurch nicht instabil werden, verhindert zum einen die Verpflichtung zur Gegengabe, zum anderen die ›Magie der Dinge‹: Mauss geht laut Böhme von einem eigenen Agens der Dinge aus, die von sich aus »am Vertrag aktiv teil[nehmen]« (ebd.) und damit Fetischcharakter erlangen: Es ist dieses Agens, das die Dinge wieder zurück zum Geber führt – die Zirkulation wird somit verstetigt. Böhme spricht anstatt von der Mauss’schen ›Magie‹ lieber vom »wirksam Imaginäre[n]« (FK 293), das zum Ausdruck bringt, dass aus dem Tausch von Personen und Dingen »eine das Reale beherrschende Schicht der Imagination« resultiert: »Im zirkulierenden Ding agiert etwas Unfassbares, und das ist das, was man den ›Geist‹ des Entzogenen, des Stillgestellten, die Quelle von Reichtum und Fülle nennen kann, die sakralen Dinge, die gerade nicht zirkulieren. Die kostbaren Dinge, die im Tausch in Bewegung gesetzt 122 | Vgl. Haubl: Wahre Liebe kostet nichts?, S. 122. 123 | Vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Übers. v. Eva Moldenhauer [Original: Essai sur le don, 1925]. Frankfurt a.M. 1990, S. 23-49.

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werden, substituieren die Dinge, die nicht zirkulieren, weil sie unmittelbar zu den Göttern, Toten und Geistern gehören und also heilig sind.« (FK 293) Es ist dieser Aspekt – den Mauss nicht weiter verfolgt –, der für Böhmes Auseinandersetzung mit dem Warenfetischismus zentral ist: die Existenz heiliger, da unveräußerlicher Dinge. Sie bilden das Zentrum des Gabentauschs, obgleich sie daran selbst nicht teilnehmen: In diesem Sinn ist das Imaginäre die Bedingung der Möglichkeit für die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit und der Protoökonomie des Stammes. Letztere stellt die immanente Sphäre des objektvermittelten Austauschs dar, durch die alle miteinander kommunizieren; doch möglich und dauerhaft, in verlässliche, nämlich vertragliche Form gefasst werden kann dies nur unter der Voraussetzung der transzendenten Sphäre, deren Verkörperung jene Dinge sind, die niemals in die Zirkulation eintreten dürfen. (FK 295)

Da die Dinge auf diese Weise zur »Projektionsfläche und Inkorporierung der sozialen, religiösen und ökonomischen Beziehungen« (ebd.) werden, spricht Böhme hier von Fetischismus. Mit dem Postulat der unveräußerlichen Dinge führt Böhme seine Theorie des Fetischismus erster und zweiter Ordnung ein. Dem zugrunde liegen zwei gleichzeitig existierende, komplementäre Universalismen: Erstens kann »alles und jedes […] zu Objekten der Warenzirkulation oder zu Gaben werden« (FK 299); dies jedoch nur deshalb, weil zweitens »einiges nicht verkauft oder verschenkt werden kann oder darf.« (Ebd.) Unveräußerliche Dinge, die Fetischcharakter tragen, können daher nur durch Prozesse oder Ereignisse in die Tauschzirkulation zurückgelangen, die die geltende symbolische Ordnung aushebeln oder negieren, wie beispielweise Kriege, Katastrophen oder Kriminalität. Die unveräußerlichen Dinge tragen spezifische Charakteristika: Sie sind nicht nur dem Warenkreislauf entzogen und damit stillgestellt, sondern vermitteln auch Konstanz sowie einen nicht verrechenbaren Wert. Sie funktionieren symbolisch und nicht ökonomisch: Sie entziehen sich der Zweckrationalität und verfügen über keinen Tauschwert (vgl. FK 299). Darüber hinaus ist entscheidend, dass diese Dinge »in besondere Lokale (Museen, Kirchen, Privatsammlungen etc.) eingebettet sind, die ihnen zeremoniellen Ausstellungswert verleihen« (FK 299f.). Sie erhalten dadurch »auratische Strahlkraft« und werden zu »Objekten einer überalltäglichen Hochschätzung, Verehrung oder Devotion« (FK 300). Derartige Dinge gab es jedoch nicht nur in archaischen Stammeskulturen, sondern es gibt sie ebenso in kapitalistischen Gesellschaften: »Im kapitalistischen Warenverkehr hat nichts mehr ›Substanz‹, weil

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einiges nichts als Substanz ist.«124 (Ebd.) Somit kommt es zur Unterscheidung zweier Arten von Fetischismus: Wir haben nämlich zu unterscheiden zwischen einem Fetischismus, der als Antreiber der Warenzirkulation wirkt, indem er den Waren-Dingen den Glanz eines Mehrwerts verleiht, der den Konsum beflügelt und mit Lüsten versieht. […] Der andere Typ des Fetischismus, um den es hier geht, liegt der Warenzirkulation indes voraus. Er ist derjenige Mechanismus, der die Dinge aus der Zirkulation abstrahiert oder ihren Eintritt in diese unterbindet. Er schafft insofern ein ›Draußen‹ gegenüber dem ›Drinnen‹ der Zirkulation. Es ist ein Fetischismus, der bestimmte Dinge zu inkompossiblen Unikaten macht, die zurückgehalten werden müssen, damit ›wir‹ überhaupt eine Persona auf der Bühne des Warenverkehrs darstellen können. Der Fetischismus, der dieses ›Draußen‹ kreiert, verhält sich zur Warenzirkulation und damit auch zum Warenfetischismus transzendental. Er ist die Bedingung von deren Möglichkeit. (FK 301)

Der Fetischismus erster Ordnung – der unveräußerlichen Dinge – stellt also die Existenz des Fetischismus zweiter Ordnung – der Warenzirkulation – sicher: Gibt es ersteren nicht mehr, bricht auch letzterer zusammen, weshalb Böhme vom »transzendental-ökonomischen Fetischismus« (FK 302) spricht. Böhme knüpft an diesen Fetischismus auch die Subjektkonstitution: Die Fetische erster Ordnung als dauerhafte und stillgestellte Dinge weisen den Menschen auf seine Zugehörigkeit zum Sein hin – laut Böhme ist dies die vielleicht »tiefste anthropologische Beschämung, dass wir unseres Seins nur sicher werden können im Medium der Dinge« (ebd.). Die Fetische erster Ordnung sind daher ›Ich- bzw. Personen-Dinge‹, intime Dinge, Unikate, die stark individualisiert sind und sich der Zirkulation entziehen, um das Selbst des Besitzers zu wahren. Die Fetische zweiter Ordnung dagegen sind dem Wertzerfall unterworfen, obgleich auch sie als »Ich-Prothese« oder »Ich-Substitut« (FK 305) fungieren können. Um diese Funktion zu erfüllen, müssen sie einen Abglanz der Fetische erster Ordnung besitzen. Mit dem Verbrauch oder Verfall dieser Dinge geht jedoch ihre Instabilität einher: Der Wertverlust der Dinge bedeutet auch den Verlust des Fetischwerts – nur dadurch erhält sich letztendlich die Warenzirkulation (vgl. ebd.). Böhme schlägt, diese Thematik abschließend, einen kulturkritischen Ton an: Durch die ›Entäußerung des Individuums‹ in die Fetische zweiter Ordnung ist der Mensch nicht nur Konsument, sondern wird mitunter selbst zur Ware. Obgleich nur die unveräußerlichen Dinge Identitätsstabilität zusichern können, wird diese Funktion auch bei den Dingen der Warenzirkulation gesucht:

124 | Herv. getilgt.

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Liebe und Konsum Wird auf der einen Linie der Geist fetischisiert, so auf der anderen die Dinge des ›Draußen‹. Beides gehört zum Imaginären der Moderne. Die Dinge, die wir heilig halten, sollen uns davor schützen, selbst zu Dingen zweiter Ordnung zu werden, deren Schicksal nichts als ihre Brauchbarkeit und Äußerlichkeit ist, während die heiligen Dinge jene wesentliche Struktur und unteilbare Würde zeigen, nach der wir uns sehnen. Nichts anderes soll, auf der Gegenseite, der Geist geben. (FK 307)

Folgerichtig widmet er sich im Anschluss den Mechanismen und Funktionen des Fetischismus zweiter Ordnung: der Konsumkultur.

3.1.2 Warenfetischismus und Konsumkultur Böhme setzt sich zwei Kapitel lang intensiv mit dem Warenfetischismus der marxistischen Tradition und der Kulturkritik Adornos und Horkheimers auseinander (vgl. FK 307-340). In der Marx’schen Theorie stand das Interesse an Produktionsverhältnissen stets im Vordergrund, so dass der Konsum »ein blinder Fleck des marxistischen Denkens« (FK 331) sei. Böhme betrachtet den Warenfetischismus vor allem im Kontext der Theorie Georg Lukács’, wonach es zu signifikanten Trennungen zwischen den Menschen und Waren durch die Produktionsverhältnisse in modernen kapitalistischen Gesellschaften kommt: Wer etwas braucht, muss als Privatperson auf den Markt gehen und es als Ware kaufen. Das kreiert ihn als Kunden. Beziehungen zu Dingen können aufgenommen werden nur durch ihre Vermittlung als Waren. Desgleichen müssen alle Dinge (Produkte), die als Tauschwerte realisiert werden sollen, ›zum Markt gehen‹ und dort ›auftreten‹. Das kreiert die Performanz oder Theatralität der Waren. Waren müssen ›ausgestellt‹ werden. Die Entfremdungen in der Produktion und die Mechanismen des Warentauschs erzeugen zusammen den Warenfetischismus. (FK 333, Herv. i.O.)

Der Warenfetischismus besteht demzufolge laut Marx wie Lukács in ›Verkennungen‹ und ›Entstellungen‹: Die Wahrnehmung der Waren funktioniert nur über deren Performanz, ein Verhältnis zu ihnen kann ausschließlich durch den Kaufakt hergestellt werden, während gleichzeitig verkannt wird, dass dies ein Verhältnis zu anderen Menschen, nämlich den Produzenten der Waren ist. Gleichzeitig wird ein nicht näher definiertes Bewusstsein für dieses Verhältnis veranschlagt, das aber den Kauf nicht verhindert – das Paradox von ›Je sais bien, mais quand-même‹ wird laut Marx ebenfalls verdrängt (vgl. FK 333). Der Warenfetisch schließlich wird als »Schein eines Gebrauchswert-Versprechens« definiert, auf den sich die »Faszinationsmacht« (FK 333) der Ware gründet, die es wiederum verunmöglicht, den Schein zu durchbrechen. Der Fetisch substituiert und verleugnet:

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven Er vertritt (zumeist) das Bild einer Welt, die unsere Bedürfnisse erfüllt, einer Welt die immer ›voll‹, ›reich‹, ›großartig‹ und ›schön‹ ist (und wir sind ein Teil von ihr). Das macht die Aura des Warenfetischs aus: Der Warenfetisch winkt mit der Partizipation am Schlaraffenland (in allen Varianten). Die Ware ist also der Code einer Utopie. Das ist ihre systematisch erzeugte Illusion. Verleugnet wird die Fragmentierung, die vielfachen Teilungen, Trennungen, Verluste, Anstrengungen, Demütigungen, Schmerzen, Lasten, Enttäuschungen, die man in der kapitalistischen Warentauschgesellschaft erlebt (die desillusionierte Welt). Die Ware verleugnet die Nicht-Utopie, die Prosa der Wirklichkeit. Der aufgeklärte Kunde heute steht auf beiden Seiten: Er ist desillusioniert und illusioniert zugleich von den Waren, er hat die Illusion schon enthüllt, und dennoch verleugnet er die Desillusion: Das ist die typische Kompromiss-Struktur des Warenfetischs. (FK 333f., Herv. i.O.)

Mit diesem Befund verschwindet der Unterschied zwischen Schein und tatsächlichem Sein des Warendings, womit der Weg frei ist für die Performanz der Ware, die vor allem darin besteht, mittels Anthropomorphisierung eine Beziehung zum Menschen herzustellen: Es geht darum, »quasi-personale Beziehungen zur Ware aufzubauen wie Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Sicherheit, heute aber auch: Identifikation, affektiv-erotische Bindungen, Optimismus etc. Das genau aber erfüllt die Bestimmungsmerkmale von Fetischisierung. In diesem Sinn ist ein Gutteil des Marketings heute mit nichts anderem beschäftigt, als Waren zu Fetischen zu machen und sie als solche agieren zu lassen.« (FK 335) Aus diesem Prozess der Verdinglichung zieht Marx laut Böhme den Umkehrschluss: »Je effektvoller die Ware zur Quasi-Person mystifiziert wird, desto mehr verwandelt sich umgekehrt die Person zum Ding.« (Ebd.) Es gibt keine andere Möglichkeit, sich zur Warenwelt zu verhalten, als zu kaufen, verkaufen oder genau dies abzulehnen. Dieses derart verdinglichte Bewusstsein ist für Böhme ein fetischisiertes: »Zu den ›Warenpersönlichkeiten‹ steht man in scheinbarer Unmittelbarkeit (obwohl es tote Dinge sind); und die im Warentausch verdeckten Beziehungen zu Menschen erlebt man überhaupt nicht, so, als seien sie tot (obwohl es lebendige Menschen sind). Diese Verkehrung, durch die Dinge wie lebendige Kräfte und Menschen wie bloße Gegenstände erlebt werden, wurde stets am afrikanischen Fetischismus als Form primitiven Animismus kritisiert.« (FK 336) Indem sich nun Kritiker wie Marx und Lukács anschickten, diesen Warenfetischismus zu demaskieren und damit unwirksam machen zu wollen, erreichten sie laut Böhme exakt das Gegenteil: »Es gibt kein stärkeres Lehrstück über den Fetischismus als dieses: Indem man ihn revolutionär zu zerschlagen glaubt, verdrängt man ihn ins kollektive Unbewusste und erzeugt furchtbarere Götter als die, die man vertrieben zu haben glaubte.« (FK 337) Die Moderne wird den Fetischismus nicht los. Das Problem von Adornos und Horkheimers Kritik der Kulturindustrie liegt für Böhme indes woanders. Die Manipulationen, die dem Fetischismus

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unterstellt werden, werden von der Produktions- und Konsumtionssphäre auf Politik, Kultur, den Geist ausgeweitet – der Fetischismus erzeugt nicht den »Widerstand gegen die kulturindustrielle Beherrschung, sondern die Freiwilligkeit, mit der man sich jener überlässt.« (FK  338) Diese »Totalisierung der kulturindustriellen Manipulationsmacht« (FK 339) ist laut Böhme gnadenlos: Nicht nur gegenüber den Menschen, die unterworfen werden, sondern auch gegenüber den Verteidigern der ›authentischen Kunst‹ als »radikalem Außen der Gesellschaft«, als »Negation der Negation« (ebd.) – mithin also Adorno und Horkheimer selbst. Mit der pauschalen Verurteilung all dessen, was nicht zu diesem Außen gehört, sprich: der Kulturindustrie und des ›universellen Verblendungszusammenhangs‹, gerät die Theorie laut Böhme vor allem anhand ihrer Sprache in fetischistisches Terrain: »Wer derart seine Sprache als Bollwerk gegen die ubiquitären Fetische einsetzt, erliegt diesen auf vertrackte Weise selbst. Das beginnt damit, dass der fetischistische Bann, der von Kulturindustrie-Monopolen ausgehen soll, überhaupt erst durch die Sprache hervorgebracht wird, die ihn analysiert; und das endet damit, dass die Theorie und die authentische Kunst in dem Maß, wie sie auf Figuren der Negation festgelegt sind, zum Fetisch des Anti-Fetischismus werden.« (FK 340) Das Konzept der Kulturindustrie, so hält Böhme fest, bedarf damit der Differenzierung. Böhme schließt sich zwar der Analyse von Wolfgang Fritz Haugs Kritik der Warenästhetik (1971) an, »dass in den modernen Gesellschaften eine brisante Dynamik einer Lustökonomie arbeitet, die sich des Fetischismus als Bindekraft des Subjekts an die Waren bedient.« (FK 341) Doch anhand der Appropriation von Sub- und Gegenkulturen durch den Mainstream125 macht Böhme die Zersetzung der monolithischen Geschlossenheit der westlichen Kultur zugunsten ihrer Pluralisierung fest, die von der Theorie der Kulturindustrie nicht adäquat erfasst werden kann. Die Randbedingungen dieser pluralisierten Kultur sind zwar durch die Ökonomie gesetzt, jedoch folgen ihre »Verteilungen, Zirkulationen und Hybriditäten« (FK 343) einer Eigenlogik, die nicht berechenbar, gar chaotisch ist. Er erhebt in Anschluss daran den Fetischismus zum »allgemeinen Kreativitätsmuster kultureller Produktion« und zu einer der »zentralen Mechanismen kultureller Synthesis« (ebd.): 125 | Vgl. zur Integration von Kritik in den Kapitalismus: Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Übers. v. Michael Tillmann [Original: Le nouvel Ésprit du Capitalisme, 1999]. Konstanz 2003, S. 476: »Die Ökonomisierung ist der einfachste Prozess, wie der Kapitalismus eine Kritik als gültig anerkennen, in seine Strukturen aufnehmen und sich so zu eigen machen kann«. Vgl. auch: Dies.: Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel. In: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2010, S. 18-37, insbes. S. 28-32. Vgl. dazu außerdem: Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest. München 2002, S. 112.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven Er ist das Manöver, durch das ein Objekt des Begehrens nicht mehr wie früher in den Sperrbezirk privater Sammlungen oder Clubs eingeschlossen wird, sondern genau umgekehrt: Er ist eine Parade der Sichtbarmachung geworden, der Erzeugung von kollektiven Anschlüssen und Kommunikationen, der weithin gestreuten Verteilungen erregender Energien. Diese vernetzen sich über Stars, Stile, Accessoires, Dinge, Gesten. In ihnen verkörpert sich das gesellschaftliche Unbewusste und Imaginäre. Sie sind die Relais, die Knoten, über die sich der symbolische Austausch von Kulturen verzweigt und verflüssigt. Fetische sind (wieder) transitorisch geworden, polymorph und dynamisch, nicht mehr die Fesselung eines Begehrenstyps an ein Objekt, sondern im Gegenteil die kreative Entfesselung aller möglichen kathektischen Besetzungen und affektiven Erregungen, die in den Fetischen verdichtete und symbolische Formen gewinnen. (FK 343, Herv. i.O.)

Böhme nennt dies den »kulturellen Fetischismus des Konsums« (FK 343), der vom Warenfetischismus abzugrenzen sei und vor allem nicht auf diesen reduziert werden dürfe, da es nicht mehr um die Beseitigung des Fetischismus, sondern um ein differenzierteres Verhältnis zu ihm geht. Im kulturellen Fetischismus sind zwar immer noch Merkmale jenes Fetischismus enthalten, wie er eingangs definiert wurde; aber es gibt auch signifikante Unterschiede, die Böhme vor allem in der Entzauberung der Fetische in der Zerstreuung, deren Spielcharakter und nicht-konformem Gebrauch, ihrer Kommunizierbarkeit und Öffnung zur Reflexion sieht (vgl. FK  344): »Der Fetischismus ist wählbar geworden, multioptional, karnevalesk, insofern aber auch demokratisch.« (Ebd.) Damit verändert sich auch das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem in der Gesellschaft: Laut Böhme ist dieses »entspannter und ludischer, als es dies jemals zu Zeiten einer zwischen Aufklärung und Repression neurotisch verspannten Gesellschaft war.« (Ebd.) Böhme verwehrt sich damit schließlich der Entgegensetzung von Konsum und Kultur: Konsum ist immer schon Kultur, da Konsum nie vollständig in der rein ökonomischen Kategorie des Warentauschs aufgeht: »In der Ware zirkulieren nicht nur Geldwerte, sondern immer auch Bedeutungen, Symbole, Attitüden, Identifikationsmuster und vor allem Lüste, Gefühle und Phantasien.« (FK  345) Es geht Böhme also um ein Sowohl-als-auch: Zwar sind diese Fetische zum einen Produkte der Kulturindustrie, sie sind aber auch »symbolische Schaltstellen von kulturellen Praktiken, Bedeutungen, Imaginationen, die nicht ökonomisch verrechenbar sind, sondern kulturanalytisch ermittelt und interpretiert werden müssen.« (Ebd.) Bedürfnisse, Fantasien und Lüste auf der einen, die Waren auf der anderen Seite bedingen sich damit gegenseitig: Erstere werden nicht allein durch letztere bestimmt, vielmehr muss sich die Warenwelt immer wieder auf die sich ändernde »Kultur der Lüste« (ebd.) einstellen. Waren werden durch die zahlreichen Spielarten der Konsumkultur mit ihnen zu »[d]ingliche[n] Metaphern« (FK 348), der Fetischcharakter der Ware

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zeigt sich in dem »multiple[n] Gewebe aus visuellen, aber auch auditiven, taktilen, olfaktorischen, geschmacklichen wie semantischen Repräsentationen«126 (ebd.). Aufgrund dieser Repräsentationen vergleicht Böhme Waren mit Texten: »Sie [die Repräsentationen, AO] sind indes keine Determinationen, sondern Erlebnis- und Bedeutungsschemata, die vom Konsumenten eigenwillig modifiziert werden können – so wie Texte formale und semantische Angebotsschemata sind, die den Lesern unterschiedliche Weisen der Lektüre einräumen. Was Lektüre im Verhältnis zum Text, ist die Performativität der Kauflust im Verhältnis zur Ware.« (FK 348) Doch nicht nur auf der Seite der Rezeption von Sprache, sondern auch hinsichtlich ihrer Produktion stellt Böhme eine Analogie zum Konsum auf: Dem Sprechakt vergleichbar wird der »consuming act, der das Universum der Waren, das zugleich das Archiv aller möglichen Handlungen einer Kultur codiert, mit der jeweiligen Aneignungsintention verkoppelt zu einer singulären Kaufhandlung.«127 (ebd.) Zusammen mit dem »Theater« und der »Aufführungspraxis der Waren« (FK 349) seit der Erfindung der großen Kaufhäuser wie sie Émile Zola in Au Bonheur des Dames beschreibt, partizipiert Konsum auf signifikante Weise an Bereichen der Hochkultur.128 Ein weiterer wichtiger Aspekt des kulturellen Fetischismus ist dessen Funktion für die Identitätskonstruktion von Individuen. Als »zentrale[s] Expressionsfeld der affektiven Energien der Gesellschaft« (FK 350) wird der fetischistische Konsum zur »Vergesellschaftungsform« (FK 351) in dem Sinne, dass er eine zu starke Bildung von Klüften in der Gesellschaft verhindert, beispielsweise jene zwischen wachsendem Warenangebot inklusive dessen Verteuerung und den ebenso wachsenden Begehren, Fantasien und Wünschen, die nicht in jedem Fall finanzierbar sind. Es sind laut Böhme fetischistische Mechanismen, die verhindern, dass ein zu großer Teil der Gesellschaft von der Konsumkultur ausgeschlossen wird, was zu Krisen und Rezessionen führen würde. Fetische, so Böhme, zügeln die Unersättlichkeit der Begehren, da sie »einen hohen Sättigungsgrad aufweisen, Befriedigung relativ stabil halten, ein Stück weit autonom machen, ja, für das Ich stützende und schützende Funktionen übernehmen, die das narzisstische Selbstwertgefühl balancieren.«129 (ebd.) Dennoch stehen diese Funktionen der Warenzirkulation nicht entgegen, 126 | Herv. i. O. 127 | Herv. i. O. 128 | Ein illustratives Beispiel hierfür ist der Fall von Édouard Manets Nana: Vom Salon de Paris abgelehnt, wurde das Gemälde 1877 im Schaufenster von Giroux, einem Geschäft auf dem Boulevard des Capucines, ausgestellt – was beinahe einen Aufruhr verursachte und seine bis heute andauernde Berühmtheit begründete. Vgl. Gilles Néret: Édouard Manet 1832-1883. The First of the Moderns. Köln 2008, S. 76; Nathalia Bordskaya: Impressionism. New York 2010, S. 52. 129 | Herv. hinzugefügt.

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denn auch die Konsumfetische sind »transitorisch, mobil, launisch« (ebd.), auch sie müssen ersetzt werden, da sie sich verbrauchen – auf diese Weise wird die Warenzirkulation befeuert, während dem Individuum der pluralistischen, postmodernen Gesellschaft die Möglichkeit gegeben wird, immer wieder neue Identitäten auszuprobieren. Hartmut Böhme spricht in diesem Zusammenhang, wenn auch in Anführungszeichen, von einer Art Magie: »So vermittelt der Fetischismus ›zauberhaft‹ zwischen dem Erwartungshorizont des Markts und dem Erwartungshorizont eines erlebnishungrigen Massenpublikums. Er schafft das Tableau, auf dem bewusste wie unbewusste Identifikationssehnsüchte und Marktinteressen sich gewissermaßen die Hand reichen.« (FK 351f.) Die derart dynamische, zuweilen ruhelose Kultur des Konsumfetischismus bedarf, nach Böhmes These des transzendental-ökonomischen Fetischismus, der unveräußerlichen Dinge: Diese finden sich in der westlichen Kultur vor allem in Museen, die »dem Fetischismus einen öffentlichen Raum der Entfaltung« (FK 365) gewähren und zu »Bild- und Denkräume[n]« (FK 366) werden: »Die unveräußerlichen Dinge unterbrechen die Zirkulation des Warentauschs, um der Zirkulation der Kommunikation und der Reflexion Raum zu geben. Darum werden sie für eine Moderne, die wie keine Epoche zuvor die Warenzirkulation unter dem Gesetz kapitalistischer Verwertung angefacht hat, zu notwendigen Kontrapunkten einer Reflexivität, die nicht weniger unhintergehbar ist als die Warenzirkulation selbst.«130 (FK 366) Im Museum lebt die von Walter Benjamin im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit als verloren postulierte Aura der Dinge umso stärker weiter, da es gerade die Funktion von Sammlungen und der damit verbundenen Fetischisierung der Dinge ist,131 ihre Aura, im säkularen Zeitalter der religiösen Basis beraubt, wiederherzustellen: »Die Aura ist selbst ein Artefakt, aber darum nicht etwa nicht auratisch.« (FK 370) Die qua Sammlung unveräußerlichen Dinge werden somit zur Transzendenz der Moderne: »Das Transzendente ist nie das, was von sich aus immer schon transzendent ist, sondern es muss der Glaube erzeugt werden, dass es so ist. Museen und Sammlungen der Moderne sind nun Einrichtungen der Transzendenz-Versicherung.«132 (FK 370) Sie übernehmen Funktionen, die 130 | Herv. i. O. 131 | Diese Position ist zu kontrastieren mit der Beobachtung Wolfgang Ullrichs, dass es sich bei der in Museen ausgestellten Gegenwartskunst oft um, wie er es nennt, »Siegerkunst«, handelt, die der Dynamik am Markt folgt, um eine möglichst große Nachfrage zu bedienen. Bei dieser Kunst geht es um Besitz, um Kunst als Kapitalanlage, und nicht um die Rezeption einer wie auch immer gearteten Aura. Diese Kunst zeichnet sich also dadurch aus, dass ihre Objekte gerade nicht unveräußerlich sind. Vgl. Wolfgang Ullrich: Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust. Berlin 2016; ders.: Von der Ware zur Währung. In: POP. Kultur & Kritik 10 (2017), S. 28-33. 132 | Herv. i. O.

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einst die Religion innehatte: Die Verbürgung der Existenz »überalltägliche[r], unvergängliche[r] und verehrungswürdige[r] Werte« (ebd.), die Versicherung einer Existenz nach dem Tod, die Stiftung von Sinn, Identität und Bedeutung – kurzum: die Funktion, die Fetische von jeher innehatten. Die Moderne entkommt damit laut Hartmut Böhme trotz aller gegenteiligen Versicherungen weder der Transzendenz noch dem Fetischismus: »Die Moderne sucht nicht weniger nach Erlösung als jede Epoche vor ihr. Die Transzendenz, die sie kreiert, ist nicht eine Sphäre, die oberhalb der Dinge schwebt, sondern an diesen und durch sie physiognomisch und wirksam sind: Das macht ihren transzendental-fetischistischen Charakter aus, der durch Sammlungen erzeugt wird oder durch den umgekehrt der Kultcharakter von Sammlungen entsteht.« (FK 371)

3.2 Von Menschen und Dingen: Habenwollen Während Hartmut Böhme das affektive Verhältnis zu den Dingen maßgeblich über Fetischismus definiert, fokussieren Konsumkulturwissenschaftler wie Wolfgang Ullrich, Grant McCracken und Colin Campbell, wie sich die von Böhme postulierten kulturellen Bedeutungen in das Verhältnis von Menschen und Dingen eintragen und damit vor allem zur Identitätskonstitution von Individuen beitragen.

3.2.1 Bedeutungstransfers zwischen Individuum, Welt und Konsumgütern Grant McCrackens in Culture and Consumption (1988) dargelegte Konsumtheorie basiert auf der Annahme, dass sich die Bedeutung von käuflichen Waren nicht in deren Gebrauchswert erschöpft: »Consumer goods have a significance that goes beyond their utilitarian character and commercial value. This significance consists largely in their ability to carry and communicate cultural meaning«.133 Er geht dabei von der Bedeutungsübertragung von der »cultur­ ally constituted world«134 über das Konsumgut hin zum individuellen Konsumenten aus. Diese drei bilden demnach auch die Orte, an denen Bedeutung zu finden ist, und der Transfer dieser Bedeutung erfolgt anhand von zwei Prozessen: erstens »world-to-good«, zweitens »good-to-consumer«.135 Im Umkehr133 | Grant McCracken: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities [1988]. Bloomington, Indianapolis 1990, S. 71. Auch Eva Illouz vermerkt die Überschreitung der rein ökonomischen Bedeutung von Konsumprodukten, indem die »moderne romantische Formel« den Waren »ein symbolisches und emotionales Leben eingehaucht« (KdR 101) hat. 134 | McCracken: Culture and Consumption, S. 71. 135 | Ebd., S. 72.

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schluss werden damit unter anderem Praktiken der Werbung, der Mode sowie des Konsums selbst zu »instruments of meaning movement«.136 McCracken geht dabei von der Strukturierung der Wirklichkeit durch ›cultural categories‹ und ›cultural principles‹ aus: Erstere repräsentieren »the basic distinctions with which a culture divides up the phenomenal world.«137 Als Beispiele nennt McCracken die Kategorien von Zeit und Raum, Natur und Mensch (und damit verbunden: Klasse, Status, Geschlecht, Alter, Beruf etc.). Die Kategorien selbst haben jedoch keine substantielle Existenz, diese erhalten sie erst durch menschliche Praktiken und vor allem durch materielle Objekte: »Objects contribute thus to the construction of the culturally constituted world precisely because they are a vital, visible record of cultural meaning that is otherwise intangible.«138 ›Cultural principles‹ sind hingegen die Werte und Ideen, nach denen die Wirklichkeit in ›cultural categories‹ segmentiert wird: »They are the charter assumptions or organizing ideas which allow all cultural phenomena to be distinguished, ranked, and interrelated.«139 Auch sie werden vor allem anhand von materiellen Gütern und Konsumprodukten substantiiert: »Both categories and principles organize the phenomenal world and the efforts of a community to manipulate this world. Goods substantiate them and therefore enter into the culturally constituted world as both the object and objectification of this world. In short, goods are both the creations and the creators of the culturally constituted world.«140 McCracken verortet Bedeutung also zunächst einmal in der kulturell erschaffenen Wirklichkeit. Damit Konsumgüter selbst Bedeutung erlangen, muss die in dieser Welt verankerte Bedeutung gelöst und auf sie übertragen werden. Dies geschieht laut McCracken vor allem anhand von Werbung und von Mode. Das Ziel von Werbung ist demnach die symbolische Äquivalenz von Konsumgütern und einer Repräsentation der kulturell konstituierten Wirklichkeit: »When this symbolic equivalence is successfully established, the viewer/reader attributes certain properties he or she knows to exist in the culturally constituted world to the consumer good. The known properties of the world thus come to be resident in the unknown properties of the consumer good. The transfer of meaning from world to consumer good is accomplished.«141 Die Mode verfährt ähnlich, wenn neue Stile von Kleidung und Design mit etablierten kulturellen Kategorien und Prinzipien verknüpft werden. Zuweilen erzeugt die Mode aber auch selbst neue kulturelle Bedeutungen, vor 136 | Ebd. 137 | Ebd., S. 73. 138 | Ebd., S. 74. 139 | Ebd., S. 76. 140 | Ebd., S. 77. 141 | Ebd.

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allem durch ›opinion leaders‹ wie beispielsweise Stars. Außenseitergruppen – »hippies, punks, or gays«142 – sind dagegen verantwortlich für die Reform oder Revolution von kultureller Bedeutung.143 Der Bedeutungstransfer vom Konsumgut zum individuellen Konsumenten erfolgt schließlich vor allem anhand von vier Arten von Ritualen: »exchange, possession, grooming and divestment«.144 Das Austauschritual betrifft vor allem die Praktiken der Gabe, also den Austausch von Geschenken: »The gift-giver chooses a gift because it possesses the meaningful properties he or she wishes to see transferred to the gift-taker.«145 Aneignungsrituale bestehen vor allem im Säubern, Vergleichen, Reflektieren, Angeben, Fotografieren oder auch Personalisieren von Konsumobjekten. Das Ziel ist dabei nicht nur die reine Inbesitznahme, sondern auch der Versuch, sich die Bedeutungen, die dem Konsumobjekt durch den Bedeutungstransfer ›world-to-good‹ verliehen wurden, anzueignen. Der Akt der Personalisierung stellt dabei insofern einen Sonderfall dar, als Bedeutungen der jeweils individuellen Welt des Besitzers auf das Objekt übertragen werden, dieser also dem Verfahren der Werbung ähnlich ist: »It is, perhaps, in this manner that individuals create a personal ›world of goods‹ which reflects their own experience and concepts of self and world.«146 Rituale des ›grooming‹ – grob mit ›Pflege‹ zu übersetzen – sind der Tatsache geschuldet, dass manche Bedeutungen immer wieder aus Konsumgütern gewonnen werden müssen. Dabei geht es nicht nur um die Pflege des Konsumenten selbst – beispielsweise um sich für eine Partynacht, ein schickes Essen im Restaurant oder ähnliches herzurichten –, sondern auch um die des Konsumguts an sich, wenn dieses der Wartung und Instandhaltung (z.B. Autos) oder auch des Saubermachens und der Bewahrung (z.B. wertvoller Objekte) bedarf. Die Rituale des ›divestment‹, also der Loslösung beziehungsweise Entledigung, haben schließlich zwei andere Funktionen: Zum einen gelten diese Rituale Konsumobjekten, die einen Vorbesitzer hatten, so dass es um Bedeutungsauslöschung geht: »[T]he ritual is used to erase the meaning associated with the previous owner.«147 Zum anderen geht es darum, die dem Konsumgut selbst verliehene, personalisierte Bedeutung zu nehmen, wenn es verkauft, weggegeben oder entsorgt werden soll. Beide Rituale basieren auf der Annahme, dass Bedeutungen von Konsumgütern verschoben, aber auch vermengt oder gar verloren gehen können, wenn sie an andere Individuen weitergegeben werden: »What looks simple superstition is, in fact, an implicit 142 | Ebd., S. 81. 143 | Vgl. ebd., S. 80f. 144 | Ebd., S. 84. 145 | Ebd. 146 | Ebd., S. 86. 147 | Ebd., S. 87.

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acknowledgement of the movable quality of the meaning with which goods are invested.«148 Durch diese Rituale also gelangt die der Welt entnommene und auf Konsumprodukte übertragene kulturelle Bedeutung schließlich beim Individuum an und wird dort prozessiert. McCracken bezeichnet Konsum daher als ein kulturelles Projekt, »the purpose of which is to complete the self«149 – ein Projekt also, das den Konsumenten in das permanente Unternehmen der Selbst-Kreation einbindet. Dieses Unterfangen, das räumt er ein, ist nicht immer erfolgreich: Es schlägt sich mitunter in »consumer pathologies«150 nieder, deren nähere Definition und Systematisierung McCracken allerdings einer künftigen Konsumforschung überlässt.

3.2.2 Gebrauchs- und Fiktionswerte Wolfgang Ullrich fügt der Theorie der Subjektstabilisierung und -konstitution durch Konsum, wie sie Böhme und McCracken formuliert haben, eine weitere entscheidende Komponente hinzu: jene der Fiktionswerte. Diese unterscheiden sich vom Gebrauchswert einer Ware insofern, als die Gebrauchswerte von Waren bestimmter Produktklassen im Zuge der Qualitätssteigerung und -standardisierung vergleichbar, sprich: ununterscheidbar geworden sind. Um sich also von der Marktkonkurrenz abzuheben, bedarf es neuer Eigenschaften von Waren, die nicht primär an ihre materiellen Eigenschaften gekoppelt sind, sondern auf die Fantasie und Imaginationskraft der Konsumenten abzielen. Damit schließt sich der Kreis zu Colin Campbells Konzept des ›day-dreaming‹: »Das Individuum fühlt sich stärker, wenn es von Dingen umgeben ist, die ihm zusätzliche Möglichkeiten – schmeichelhafte Rollen in alternativen Biographien – verheißen. Wer einen Geländewagen kauft, macht es oft nicht wegen dessen Gebrauchswert, sondern um den eigenen ›Möglichkeitssinn‹ zu beleben.«151 Es geht also nicht mehr um den Gebrauchswert von Waren, son148 | Ebd. Vgl. zum Thema der ›Objektbiografie‹ auch: Hans Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005, S. 40-45, sowie Igor Kopytoff: The cultural biography of things: commoditization as process. In: Ders., Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in cultural perspective. Cambridge, London u.a. 1986, S. 6491. 149 | McCracken: Culture and Consumption, S. 88. 150 | Ebd. 151 | Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2009, S. 45. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle HW mit nachgestellter Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen. Vgl. zur Funktion von Waren als »Biographiegenerator« Burckhard Dücker: Das Warenhaus als Ritualraum der Moderne. Warenhausgestaltungen in der deutschen Literatur zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination.

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dern um ihren »emotionale[n] Mehrwert« (HW 46): Im »kulturellen Kapitalismus«152 werden vielmehr »immaterielle Güter wie Erlebnisse und Atmosphären zu marktfähigen Gütern.« (Ebd.) Die »Verschiebung vom Gebrauchs- und Statuswert hin zum Emotions- und Fiktionswert der Produkte« (ebd.) hat zur Konsequenz, dass die kulturkritische These, wonach Produzenten von Waren beständig neue Bedürfnisse erzeugen oder diese mit Sollbruchstellen versehen, um den Absatz zu steigern, nicht mehr greifen kann: »Die Welt der Fiktionen ist nämlich unbegrenzt« und der »Wunsch nach Überhöhung und Fiktionalisierung ist auch nie endgültig erfüllbar.« (HW 47) Damit kommt es, anders als beim Gebrauchswert der Waren, selten zur Mängelrüge: Was ohnehin erst im Kopf der Konsumenten entstanden und somit hochgradig subjektiv ist, kann bei Nicht-Erfüllung objektiv nicht beanstandet werden. Kommt es jedoch subjektiv zur Enttäuschung, greift der Mechanismus der »displaced meaning«,153 den Grant McCracken beschreibt: In der Realität unerreichbare Ideale werden an käufliche Waren geknüpft, um diesen Idealen dennoch den Anschein von Erfüllbarkeit zu geben. Wird das derartig codierte Konsumprodukt jedoch erworben, müssen die Ideale umgehend auf ein anderes, noch nicht erworbenes und am besten nicht einfach erhältliches Konsumobjekt verschoben werden. So wird nicht nur die Kluft zwischen Realität und Idealvorstellung und die damit verbundene Enttäuschung kleingehalten, sondern auch der Konsum von Waren aufrechterhalten. In die Konsumwelt hat damit eine ›Kultur der Fiktionalisierung‹ Einzug gehalten: Ullrich vermerkt, wie potentielle Kunden beispielsweise in Warenhäusern Dinge in die Hand nehmen und versonnen betrachten, obgleich sie gar nicht vorhaben, diese zu erwerben: »Sie träumen gerade, in Empathie verfallen wie Leser eines Romans.« (HW 48) Shopping als Hobby gleicht somit der Lektüre von Romanen oder Theaterbesuchen: »Es ist Unterhaltung im Dialog mit sich selbst, die man so genießen kann, und damit eine angenehme Form, die eigene Individualität zu gestalten und über Schwächen und Ängste hinwegzufiktionalisieren.«154 (Ebd.) Dabei muss man nicht einmal das Haus verlassen, Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 165-184, S. 170. 152 | Jeremy Rifkin: Access. Das Verschwinden des Eigentums. Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden. Frankfurt a.M., New York 2000, S. 183. 153 | McCracken: Culture and Consumption, S. 104ff. Vgl. auch: Wolfgang Ullrich: Konsum der Kreativität. In: POP. Kultur & Kritik 8 (2016), S. 60-64, S. 63. 154 | Den »natürlichen Hang« des Menschen, »sich in einen geträumten Zustand zu denken und in Beziehung auf denselben das Bewußtseyn seiner wahren Verhältnisse zu verläugnen«, beschreibt bereits Johann Christian Reil in seinen Rhapsodieen Anfang des 19. Jahrhunderts: »Das Kind spielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König; wir

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denn im Grunde reicht schon »das Blättern durch ein Lifestyle-Magazin, um von der ein oder anderen Werbeanzeige dazu animiert zu werden, sich ähnlich aus dem eigenen Leben zu schleichen wie bei der Lektüre eines Liebesromans oder als Kinobesucher.« (Ebd.) Warum kommt es dann aber überhaupt zum Kauf? Im Unterschied zu Romanen, Filmen oder Theaterstücken vermitteln Konsumprodukte Möglichkeitssinn: Sie geben den Konsumenten das Gefühl, »sie könnten alternative Szenarien nicht nur erleben, sondern auch kaufen und nach Hause nehmen, ihr Leben also wirklich erneuern und verändern.« (HW 51) Damit können mitunter Begehrlichkeiten geweckt werden, »die einem Sich-Verlieben ähneln.« (HW 36f.)155 Gegen die kulturkritische Annahme, dass alles über den Gebrauchswert hinausgehende eine Täuschung und Manipulation sei – vor allem durch Wolfgang Fritz Haugs Kritik der Warenästhetik (1971) verbreitet –, plädiert Ullrich ähnlich wie Hartmut Böhme dafür, Konsum und Kunst nicht als Gegensät-

ergötzen uns an den Fiktionen der Maler, Dichter und Schauspieler, ja es macht uns selbst in den spätern Jahren des Lebens noch glücklich, uns eine Welt in der Phantasie zu schaffen, in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der wirklichen spielen.« (Johann Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen [1803]. 2. Aufl. Halle 1818, S. 322). 155 | Von Liebe in Zusammenhang mit Konsumobjekten spricht auch Martin Lindstrom, seines Zeichens Experte für Neuromarketing. In einer – in den Neurowissenschaften umstrittenen – Studie hat er versucht nachzuweisen, dass jener Hirnbereich, der bei Menschen aktiv ist, die verliebt sind, auch bei Konsumenten des iPhones von Apple aktiviert ist (vgl. Martin Lindstrom: Buyology. Truth and lies about why we buy. New York 2008, sowie die Arte-Dokumentation: Apple – Das Coolness Diktat, 2011). Die Anwendung der Neurowissenschaften in den Bereichen Liebe wie Konsum mit der Einteilung der Menschen in bestimmte, scheinbar auf biochemischer Materie basierende Konsumtypen birgt jedoch die Gefahr, die Möglichkeit der Manipulation zu suggerieren, also: Wie gelingt es mir, dass sich jemand in mich verliebt bzw. jemand mein Produkt kauft? Neuromarketing wird in dieser Hinsicht im positiven wie negativen Sinne überschätzt und scheint mitunter nicht mehr zu sein als eine Neuauflage antiker Medizin (vgl. Ullrich: Habenwollen, S. 150; vgl. zur generellen Fragwürdigkeit der Ergebnisse der Neurowissenschaften: Felix Hasler: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld 2012). Was jedoch unter kommunikativen Gesichtspunkten interessant ist, ist der ›Impact‹, den Martin Lindstrom mit seiner Studie offensichtlich hatte: 2015 lancierte Apple die Kampagne ›Loved‹, die als Unique Selling Proposition die Liebe herausstellt: »This is an iPhone. And it comes with something different. 99 % of people who have an iPhone, love their iPhone. If it’s not an iPhone, it’s not an iPhone.« (https://www.youtube.com/watch?v=-vUngWSxjZE, abgerufen am 13.05.2016).

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ze zu sehen:156 Produkte bieten schließlich »Inszenierungen von Emotionen, Handlungen, Situationen und gehören in die Welt des Fiktionalen, die aus weit mehr besteht als nur aus kindlichen Phantasien: Sie sind – auf welchem Niveau auch immer – genauso eine Leistung der Einbildungskraft wie der Plot eines Films oder eine Romanfigur.«157 Warum also, so Ullrich, sollte etwas in der Konsumwelt abgelehnt werden, was in der Hochkultur anerkannt ist?158 Er sieht darin die Fortschreibung einer Tradition, die bis Platon zurückreicht: »Wie Platon weigern sich heutige Konsumkritiker, zwischen Schein als ästhetischer Fiktion mit eigenem Wert und Schein als Vortäuschung, Manipulation und Verhängnis zu unterscheiden. Für sie gibt es nur letzteren und auch für sie ist der Schein […] gefährlich für die menschliche Psyche.«159 Diese Sichtweise verengt nicht nur den Blick auf Ästhetik, sondern auch auf Konsum: »[S]pielerische, distanzierende, reflektierende, emanzipatorische, stimulierende, kompensatorische oder heilsame Wirkungen«160 des ästhetischen Scheins bleiben völlig außen vor. Die Verweigerung einer differenzierten Sicht auf das Verhältnis von Konsum und Kunst kann damit als »Folge einer Überforderung« und als »Ausdruck ungenügender Ausbildung im Umgang mit einem Zeichensystem«161 gesehen werden. Denn Konsumieren kann »eine Kulturtechnik sein wie Lesen; die Wahl der jeweils richtigen Pfeffermühle ist genauso ein Ausweis von Geschmack und Urteilskraft wie die Entscheidung für die Lektüre eines bestimmten Buchs.«162 Wie aber kann ein- und dasselbe Konsumprodukt bei unterschiedlichen Konsumenten unterschiedliche Fiktionswertversprechen erfüllen? Ullrich argumentiert, dass die Waren auch hier Eigenschaften mit der Kunst teilen, konkret: Ebenso wie dem Schönen in der Kunst lässt sich den Dingen der Konsumkultur die Kantische ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ attestieren, 156 | Vgl. dazu auch Heinz Drügh, Björn Weyand, Christian Metz (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Berlin 2010; sowie: Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. 3. Aufl. Berlin 2013, S. 133-197. 157 | Wolfgang Ullrich: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung. 2. Aufl. Berlin 2013, S. 10. 158 | Vgl. dazu auch Gray: Money Matters, S. 164: Gray vergleicht »the Romantic theory of subjective creativity« mit Marx’ Konzept des Warenfetisch und hält fest: »the same process viewed in an overwhelmingly positive manner in the realm of aesthetics receives a negative assessment in the sphere of economics.« 159 | Ullrich: Alles nur Konsum, S. 19. 160 | Ebd., S. 19f. 161 | Ebd., S. 24. 162 | Ebd. Vgl. zur spezifisch ästhetisch-ethischen Qualität von Geschmack auch Kap. II./1.3.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

also die Erfahrung, dass etwas »zwar eine Richtung vorgibt, aber noch kein bestimmtes Ziel definiert« – es wird »Bedeutsamkeit, aber keine bestimmte Bedeutung« (HW  42f.) vermittelt. Insbesondere Markenprodukte verfügen über die Eigenschaft, »sinnvoll zu erscheinen, ohne daß man jedoch angeben könnte, worin genau [ihr] Sinn bestehen – und sich erschöpfen – sollte.« (HW 42) Wie in der Kunst wirkt diese Eigenschaft auf den Rezipienten und Konsumenten anregend: »Die Formel ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ benennt also die ideale Konstitution eines Konsumprodukts im Zeitalter der Individualisierung: Der Konsument wird davon motiviert, aber nicht eingeschränkt.« (Ebd.) Die Kehrseite dieser derart erzeugten »Multioptionalität« (HW  43) ist die relative Austauschbarkeit von Markenprodukten, wenn Produkte und sie präsentierende Models zu »perfekten Projektionsflächen« werden, in denen sich »jeder Wunsch spiegeln« (HW  48) kann. Das Ideal der ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ erfüllt daher auch kein Konsumobjekt, sondern Geld: »Es ist gerade dadurch definiert, für beliebig vieles verwendbar, aber auf keine bestimmte Verwendung festgelegt zu sein.« (HW 59) Geld besitzt damit den höchsten Fiktionswert überhaupt – oder, um es mit Georg Simmel zu sagen: »reine Potentialität«163 – und tritt in dieser Hinsicht gar in Konkurrenz zu den Konsumprodukten.164 Das Individuum erschafft und stabilisiert also mittels käuflicher Waren seine Identität. Schon Colin Campbell vertritt diese These: »[T]he activity of consuming can be considered as the vital and necessary path to self-discovery, while the marketplace itself becomes indispensable to the process of discovering who we really are.«165 Er vermerkt zudem, und dies schließt an sein Konzept des ›day-dreaming‹ und an die Fiktionswerte Ullrichs an, dass »the real location of our identity is to be found in our reaction to products, and not in the products themselves.«166 Allerdings geht Campbell hier von einem ontologischen Identitätsbegriff aus, also der Annahme, es gebe tatsächlich die eine wahre Identität eines jeden Individuums, die es zu entdecken gilt, und verwehrt sich einer postmodernen (und damit fruchtbareren) Sichtweise auf Konsum.167 Dabei entspricht die multioptionale Konsumkultur gerade der

163 | Georg Simmel: Philosophie des Geldes [1900]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 6. Hg. v. David P. Frisby, Klaus Christian Köhnke. Frankfurt a.M. 1989, S. 276f. 164 | Vgl. Ullrich: Habenwollen, S. 59-64, sowie Kap. IV/1. 165 | Colin Campbell: I Shop therefore I Know that I Am: The Metaphysical Basis of Modern Consumerism. In: Karin M. Ekström, Helene Brembeck (Hg.): Elusive Consumption. Oxford, New York 2004, S. 27-44, S. 31f. 166 | Ebd., S. 32. 167 | Vgl. ebd., S. 29f.

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ebenso multioptionalen Persönlichkeit in der Postmoderne:168 Mit der Singularisierung des Individuums, so Ullrich, geht eine interne Pluralisierung einher, die den »flexible[n] Wechsel zwischen Lebensformen« (HW  53) erfordert. Es geht damit weniger um die Campbell’sche Selbstfindung, sondern vielmehr um eine permanente Entfaltung des Selbst – und »mit nichts gelingt es leichter als mit Akten des Konsums, verschiedene Identitäten sowohl auszuleben als auch zu demonstrieren.« (Ebd.) Dies spielt auch bei der Partnersuche und -wahl eine wichtige Rolle: Seitdem familiäre Herkunft kein entscheidender Faktor mehr ist, werden die Dinge, mit denen sich jemand umgibt, zu einem wichtigen Auswahlkriterium. Ullrich empfiehlt daher auch das Warenhaus als idealen Ort für ein erstes Rendezvous: »Hier ist am schnellsten festzustellen, mit wem man es zu tun hat und ob man ein Paar werden könnte.« (HW 29) Mit Partnerschaftsanzeigen – denen sich im Übrigen auch Colin Campbell ausgiebig widmet169 – ist man daher vor allem dann erfolgreich, wenn man sich auf keine Identität festlegt: Man postuliert »den Möglichkeitsraum, den sonst ein Markenprodukt verheißt, damit bei denen, die die Anzeige lesen, Phantasien von einer langen, lebendigen Zukunft wach werden. So übernehmen Menschen Strategien der Markenhersteller für sich und bieten sich wechselseitig als Projektionsflächen dar, die jedem die Erfüllung eben der Wünsche in Aussicht stellen, die gerade am lebhaftesten sind. Sie selbst werden dadurch Konsumprodukte und Konsumenten zugleich« (HW 55). Dinge werden damit zu »Biographie-Requisiten« (HW 53), die erst in der Gesamtheit einer möglichst originellen »Konsumbiographie« (HW  56) ihre Bedeutung erhalten, sprich: ihr Fiktionswertversprechen (hoffentlich) einlösen. Dinge funktionieren damit wie Zeichen,170 deren Bedeutung sich erst im Kontext, also innerhalb einer Zeichenkette, erschließt, und die somit auch »ironisch, als Anspielung oder Zitat verwendet werden können.« (HW 58) Mit diesem Aufwand, den Konsumenten betreiben, werten sie den Konsum an sich auf: »Da viele nirgendwo sonst ähnlich kreativ sind wie beim Shopping, wird der Konsum selbst eine Art – sekundärer – Produktion und ist nicht länger ein passiver, allein bedürfnis-orientierter Vorgang: Die Konsumgüter sind die Rohstoffe einer Wertschöpfungskette, ihr gezielter Erwerb stellt einen Raffinierungsprozeß dar.« (HW  59) Das Ergebnis dieses Raffinierungsprozesses ist unter anderem das 168 | Das hat mittlerweile auch das Marketing erfasst: Dort wendet man sich immer mehr vom Zielgruppenmarketing ab, das mit einer Typeinteilung operiert, die nicht mehr zeitgemäß ist. An dessen Stelle tritt das sogenannte ›Verfassungsmarketing‹, das der Multioptionalität der modernen Konsumwelt Rechnung trägt. Vgl. HW 166f. 169 | Vgl. Campbell: I Shop therefore I Know that I Am, S. 30f. Campbell untermauert damit ebenfalls seine These von der Identitätsbestimmung durch Dinge und vor allem Konsumobjekte. 170 | Vgl. auch: Jean Baudrillard: Le Système des objets. Paris 1968.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

Selbst, die Identität des Konsumenten:171 Das von Ullrich so umfassend sezierte Habenwollen ist immer auch damit verbunden, etwas bestimmtes sein zu wollen, ohne dass dies die Identität ein für alle Mal festlegen würde: Haben ist somit nicht mit Sein gleichzusetzen, sondern, wie Ullrich pointiert vermerkt: »Haben bedeutet Werden« (HW 52).

3.3 Fazit Das affektive Verhältnis zwischen Menschen und Dingen resultiert zunächst aus biologischen und ethisch-philosophischen Grundbedingungen der menschlichen Existenz: Das Leben ist vergänglich und gerade weil es vergänglich ist, bedarf es eines Sinns. Als nicht-organische Entitäten eröffnen Dinge die Möglichkeit, über den Tod des Besitzers fortzudauern und damit der Vergänglichkeit zu entgehen. In Hartmut Böhmes Theorie des transzendentalökonomischen Fetischismus sind es daher die unveräußerlichen Dinge, die überzeitliche Werte einer Gesellschaft stiften. Doch auch die Konsumkultur hält Sinnstiftung bereit: Ob als kultureller Fetischismus oder in der Form von Fiktionswerten vermögen es käufliche Dinge, das Individuum bei der Identitätskonstitution zu unterstützen.172 Konsum vermag es damit Funktionen zu übernehmen, die vormals die Religion innehatte.173 Gleichzeitig fördern die Dinge aber auch die Form der Vergesellschaftung durch die Praktiken der Gabe und des Tauschs: Als Liebesgaben dienen sie dem Ausdruck und der Beglaubigung des wahrhaftigen Liebesgefühls, während sie sogleich Reziprozität einfordern, mithin also der Initiierung wie Stabilisierung von Liebesbeziehungen dienen – der Konsum bestimmter Produkte kann Liebe somit wahrscheinlicher machen. Konsumobjekte, die dem Fetischismus zweiter Ordnung angehören, können zudem für die Dauer der

171 | Vgl. dazu auch das Konzept des postmodernen Subjekts als »ästhetisch-ökonomische Doublette« bei Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. 2. Aufl. Weilerswist 2012, S. 500. Vgl. außerdem: Ders.: Unscharfe Grenzen, S. 235-257. 172 | Vgl. dazu auch: Daniel Miller: The Comfort of Things. Cambridge 2008, Hahn: Materielle Kultur; sowie: Rolf Haubl: Be-dingte Emotionen. Über identitätsstiftende Objekt-Beziehungen. In: Ders., Hans Albrecht Hartmann (Hg.): Von Dingen und Menschen. Funktion und Bedeutung materieller Kultur. Wiesbaden 2000, S. 13-36. 173 | Vgl. Bolz: Das konsumistische Manifest, S. 89-122. Wolfgang Ullrich lehnt diese Sichtweise in ihrer Radikalität ab (vgl. HW 39f.) und ihm ist insofern zuzustimmen, als dass ein Religionsersatz nur für bestimmte Marken, wie beispielsweise Apple, veranschlagt werden könnte. Vgl. dazu auch Martin Lindstrom: Buyology. Truth and lies about why we buy. New York 2008.

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jeweiligen Liebesbeziehung zu unveräußerlichen Dingen werden und in den Fetischismus erster Ordnung aufsteigen.174 Auffällig ist schließlich die Nähe von Konsum, Kunst und Kultur: Sowohl Hartmut Böhme als auch Wolfgang Ullrich vergleichen die Funktionen von Waren mit denen von Literatur, Theater, Kunst. Für die Untersuchung des Zusammenhangs von Liebe und Konsum in Romanen seit dem 19. Jahrhundert ist diese Verknüpfung signifikant: Nicht nur in Bezug auf die Verhandlung von Liebesgeschichten, die sich über das Verhältnis von und zu Dingen bestimmen, in den Romanen selbst, sondern auch hinsichtlich der Legitimation, diesen Zusammenhang überhaupt zu untersuchen. Ist es doch die Trias von Liebe, Konsum und literarischen Texten, die die grundsätzlichen Parameter der vorliegenden Arbeit darstellen.

4. S chlussfolgerungen : Thematisch - formale C luster des Z usammenhangs von L iebe und K onsum Die theoretischen Überlegungen zum Zusammenhang von Liebe und Konsum lassen sich in fünf thematisch-formale Cluster zusammenfassen, die die folgende konkrete Textarbeit leiten werden. Dabei geht es weder um eine Vollständigkeit anstrebende Typologie noch darum, die jeweiligen Texte konkret einem Typus zuzuordnen, da dies der komplexen Verhandlung des Zusammenhangs von Liebe und Konsum in den entsprechenden Romanen nicht gerecht würde. Vielmehr soll die ästhetisch-poetische Verhandlung von Liebe und Konsum von den Texten ausgehend erhellt werden. Da diese immer auf mehreren Ebenen gelesen werden können, wird eine Rasterung der Romane anhand der Analysekategorien von Ort, Objekt und Medium vorgenommen,175 auf die sich wiederum prinzipiell alle thematisch-formalen Cluster beziehen lassen: Alle Aspekte der Cluster spielen in den ausgewählten Romanen eine Rolle, mit jeweils mehr oder weniger starker Akzentuierung.

174 | Dass sie diesen Rang wieder verlieren können, wenn die Liebe vorbei ist, zeigt Leanne Shaptons Roman Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion, and Jewelry (New York u.a. 2009). Vgl. dazu Christian Metz: Warenästhetik, Liebe und literarische Selbstreflexion in Leanne Shaptons Romanexperiment: Bedeutende Objekte. In: Heinz Drügh, Björn Weyand, Christian Metz (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Berlin 2010, S. 269-295. 175 | Vgl. Kap. I./3.

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

Das erste Cluster bezeichnet die sogenannte »Enzymatik«:176 Ausgehend von den Analysen Eva Illouz’ und Niklas Luhmanns kann man davon sprechen, dass Liebe und Konsum als gegenseitige Katalysatoren operieren. Liebe als grundsätzlich unwahrscheinliches Szenario kann durch den Konsum entsprechender Produkte und Freizeittechnologien wahrscheinlich gemacht werden. Gerade die Konsumsphäre ist daher eine der Quellen, die Bilder, Leitvorschriften und Regeln für den Kommunikationscode Liebe bereitstellen, nach denen man entsprechende Gefühle ausdrücken, bilden oder gar vortäuschen kann. Es geht hier also um die Ermöglichung einer (Liebes-)Kommunikation an den Orten, anhand der Objekte und Medien der Konsumkultur. Wenn Illouz von der romantischen Liebe als Bühnenwirklichkeit spricht, die durch räumliche und zeitliche Grenzziehungen der Konsumsphäre definiert wird, dann hat der Konsum einen wesentlichen Anteil am Luhmannschen Liebescode, der das Paar als Zweiheit vom Rest der Welt unterscheidet. Umgekehrt sorgt aber auch Liebe als Motivation dafür, das alle Möglichkeiten offen haltende Medium Geld gegen ein Konsumprodukt einzutauschen, das eventuell enttäuschend ist: Liebe sorgt also für eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass Konsum zustande kommt. Liebe und Konsum sind in dieser ›Enzymatik‹ fast schon – um im naturwissenschaftlichen Bild zu bleiben – symbiotisch aneinander gebunden: Das eine vermag ohne das andere kaum in Erscheinung zu treten. Alle angeführten Theorien sind sich zweitens darin einig, dass Liebe wie Konsum maßgeblich mit der Subjekt- und Identitätskonstitution bzw. -stabilisierung von Individuen moderner und postmoderner Gesellschaften befasst sind. Bringt die Individualisierung zum einen die Steigerung persönlicher Autonomie sowie die geldwirtschaftliche Ermöglichung pluraler Lebensstile mit sich, so steht auf der anderen Seite die Vereinzelung des Subjekts im wachsenden Geflecht anonymisierter Sozialkontakte.177 Ob durch Dinge, Konsumprodukte und -praktiken oder durch das Finden des richtigen Liebespartners – sie alle kompensieren einen Bedeutungs- wie Sinnstiftungsmangel der Moderne und Postmoderne. Denn in dem Moment, in dem die Säkularisierung die Individuen einer zentralen Quelle ihrer Identitätssicherung beraubt  – der Religion –, übernehmen Liebe und Konsum zu einem gewissen Maß deren Funktionen. Allen dreien ist gemein, dass sie auf Glauben und Vertrauen beruhen: An die Existenz von Liebe muss subjektiv wie objektiv geglaubt werden – die Massenmedien liefern in dieser Hinsicht genügend Mate176 | Diese Begrifflichkeit sowie maßgebliche Anregungen zur Strukturierung des Zusammenhangs von Liebe und Konsum verdanke ich PD Dr. Christian Metz (LMU München). 177 | Vgl. Axel Honneth: Organisierte Selbstverwirklichung. In: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2010, S. 63-80.

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rial, um den Glauben daran aufrechtzuerhalten. Konsum wiederum funktioniert nur, indem das Individuum zum einen daran glaubt, dass das Geld dem Wert entspricht, den es verspricht, und dass der Warentausch funktioniert.178 Zum anderen beruht auch die Kundenbindung vor allem auf Glauben und Vertrauen: in Gebrauchs- wie Fiktionswerte. Die Ruhe- und Rastlosigkeit der Konsumkultur sowie die Multioptionalität und Variabilität in Konsum wie Liebe führt jedoch zur Dialektik dieser Funktion der Subjektstabilisierung: Dass diese vor allem aus Möglichkeiten besteht, die die Festlegung auf eine Identität oder einen Partner erschwert, Identitäten damit ebenso mobil und variabel werden – darin besteht die Kehrseite der Identitätskonstitution mittels Liebe und Konsum. Entscheidend jedoch ist, wie Eva Illouz betont, dass dieser Zusammenhang weder ›nur affirmativ‹ noch ›nur destruktiv‹ operiert: Gerade das Potential zu beidem verleiht dem Zusammenhang von Liebe und Konsum seine Faszination und Wirkmacht. Drittens funktionieren Liebe und Konsum ganz grundsätzlich über die Wahrnehmung von Oberflächen: Dies betrifft nicht nur die Ästhetik der Produktoberfläche, sondern auch jene ihrer Präsentation an den Orten des Konsums (z.B. Schaufenster und Arrangements) und in den Medien anhand von Werbeanzeigen oder -spots. Die Suche nach Liebe funktioniert insofern ganz ähnlich, als die optische Wahrnehmung der Oberfläche des potentiellen Partners in der Regel unmittelbar, primär und unhintergehbar ist. Man kann nicht nicht wahrnehmen. Das schlägt sich beispielsweise im Mythos der Liebe auf den ersten Blick nieder. Eva Illouz, aber auch Hartmut Böhme und Wolfgang Ullrich argumentieren, dass es bei der Partnersuche unter anderem auf Oberflächenverschönerung ankommt: In kulturkritischer Perspektivierung wird der Mensch selbst zu einer Art Konsumobjekt, dessen ›Image‹ nicht nur in tatsächlichen ›Produkteigenschaften‹, sondern auch in der erfolgreichen Suggestion entsprechender Fiktionswerte besteht. Die Konsumoberflächen des Inter178 | John Searle schreibt in seiner Studie Making the Social World (2010) Geld den »status functions« zu, die sich durch zwei signifikante Merkmale auszeichnen: »First, […], they require collective intentionality, both for their initial creation and for their continued existence. And second, they are functions that a person or other entity has, not in virtue of physical structure, […] but in virtue of collective imposition and recognition of a status. The entity has a certain status, and collective recognition of that status enables the entity to perform the status function.« (John Searle: Making the Social World. Oxford, New York u.a. 2010, S. 59). Der Wert des Geldes wird diesem also in Form sozialer Funktionen zugeschrieben und existiert nur so lang, wie die Gesellschaft diese Zuschreibung aktiv vornimmt, d.h. daran glaubt, dass dieser Wert in Form eines Stück Papiers Gültigkeit hat. Vgl. dazu auch: Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität [1968]. 5. Aufl. Konstanz, München 2014, S. 63; und: Jochen Hörisch: Man muss dran glauben. Die Theologie der Märkte. Paderborn 2013.

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nets verstärken diesen Aspekt der Partnersuche maßgeblich. Die Verbindung der Liebe mit Konsum kann an dieser Stelle destabilisierend wirken: Gibt es, wie im Warenhaus oder Supermarkt, ein beständig neues Angebot möglicher Partner, wird die Entscheidung für und die Festlegung auf nur einen Partner immer unwahrscheinlicher.179 Darüber hinaus wird hierdurch das Verhältnis von Oberfläche und (vermeintlich) wahrem Kern problematisiert, das der Warenästhetik ebenso inhärent ist wie der Liebeskommunikation. Daraus ergibt sich das vierte Cluster, das die Aspekte des Verzehrs, Verbrauchs und des Abfalls versammelt:180 Liebe kann sich, ebenso wie Konsumprodukte, nach ihrer Aneignung und Inbesitznahme verbrauchen, auflösen und dem Ver- und Abfall anheimfallen. Dies verweist auf die zeitliche Begrenztheit, Momenthaftigkeit und eventuelle Flüchtigkeit beider Phänomene, die auf Dauer zu stellen nur punktuell, gemäß der ›Enzymatik‹ im Zusammenspiel miteinander, gelingen kann: durch den Verzehr von Speisen an bestimmten Orten, z.B. einem romantischen Restaurant; durch den Konsum bestimmter Medien, z.B. eines romantischen Films im Kino; oder durch die Aneignung und den Ver- und Gebrauch bestimmter Konsumobjekte, z.B. eines neuen, schicken Autos, an das weitere konsum-romantische Aktivitäten geknüpft sind.181 Es ist vor allem die Sprache, die die Analogie in beiden Bereichen verdeutlicht: Die ursprünglich dem Konsumbereich entstammenden Aspekte des Verzehrs, Verbrauchs und Abfalls182 haben Eingang in die Liebessprache gefunden, wenn beispielsweise davon die Rede ist, dass man ›sich nach jemandem (in Sehnsucht) verzehrt‹, im Englischen von einer ›allconsuming love‹ spricht beziehungsweise ›consumed by love‹ ist, oder, wenn eine Beziehung beendet wird, ›jemanden wegschmeißt‹ – ›to dump someone‹. Darüber hinaus bietet dieser Bildbereich Anschluss an eines der populärsten 179 | Vgl. zu dieser Problematik auch Andreas Reckwitz: Postmoderne persönliche Beziehungen: Intimität als Medium expressiver Subjektivität. In: Ders.: Das hybride Subjekt, S. 527-554. 180 | Interessanterweise widmet sich Eva Illouz diesem Thema im abschließenden Band ihrer Forschung zu Liebe und Kapitalismus: Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Übers. v. Michael Adrian. Berlin 2018. Diese Publikation lag erst kurz vor Drucklegung dieser Arbeit vor und konnte deshalb nicht mehr systematisch einbezogen werden. 181 | Vgl. dazu Eva Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 83. 182 | Vgl. die Bestimmung des Konsums als ›Verzehr‹ und ›Vernichtung‹ bei Hannah Arendt, in: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1958, S. 120f., sowie Wolfgang Schivelbusch: Die Verbrauchskraft. In: Ders.: Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion. München 2015, S. 9-27. Vgl. zu einer Theorie des Abfalls: Michael Thompson: Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Stuttgart 1981.

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Motive von Liebesgeschichten: dem Tod, der Vernichtung wie Aneignung über das sterbliche Leben hinaus bedeuten kann. Das fünfte und letzte Cluster ist schließlich jenes des Fetischismus wie Hartmut Böhme ihn beschreibt: Die affektive Bindung an Dinge stellt sowohl im Fetischismus der unveräußerlichen Dinge als auch im kulturellen Fetischismus der Konsumkultur einen Grundpfeiler moderner wie postmoderner Gesellschaften dar. Für die Liebe selbst bedeutet das weniger, dass das geliebte Gegenüber fetischisiert wird, als vielmehr, dass Liebesbeziehungen maßgeblich über Objektbeziehungen ausgedrückt werden oder Objekte als Metonymien des geliebten Partners fungieren können.183 Manche Dinge, wie jene in Museen, sind vom Austausch ausgeschlossen, genauso wie das Exklusivitätsgebot der romantischen Liebe den Austausch von Liebespartnern disqualifiziert. Objekte der Konsumkultur wiederum sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zirkulieren und dem Individuum Identifikations- wie Zugehörigkeitsangebote bereitstellen. Es sind damit nicht nur traditionelle Liebesgaben, die Paarbeziehungen affirmieren und stabilisieren können, sondern auch Konsumprodukte jeglicher Couleur, die die symbolische Zurschaustellung der Zugehörigkeit zueinander ermöglichen. Das Konzept eines transzendental-ökonomischen Fetischismus der unveräußerlichen Dinge und der Warenzirkulation spielt somit für die Liebe, die zum einen von Einzigartigkeit und Nicht-Austauschbarkeit ausgeht und zum anderen aber von der Freiheit der Wahl und einer damit einhergehenden Multioptionalität lebt, eine zentrale Rolle. Was haben diese thematisch-formalen Cluster nun mit Literatur zu tun? Zum einen wird eine Verbindung in den soziologischen Studien selbst immer wieder gezielt hergestellt: Beständig wird dort auf literarische Beispiele verwiesen, zugleich fehlt diesen Untersuchungen jedoch der literaturwissenschaftliche Zugriff, so dass Literatur zum ›Belegspender‹ verkommt. Dabei gerät oft nur eine eher oberflächliche Verhandlung der Themen auf Ebene der histoire in den Blick, die die spezifisch ästhetisch-poetische Qualität der Texte nicht erfasst. Die Aspekte der Cluster spielen jedoch auch für den discours der ausgewählten Romane eine Rolle: Wenn Liebe und Konsum maßgeblich über Oberflächen funktionieren, so haben literarische Texte die Möglichkeit, ihre Oberfläche geradezu auszustellen und dabei gleichzeitig eine dahinterliegende Tiefe zu suggerieren und inszenieren.184 Der Aspekt des Verbrauchs und Ver183 | Vgl. Roland Barthes: Das Schleifchen [Le Ruban]. In: Ders.: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. v. Hans-Horst Henschen [Original: Fragments d’un discours amoureux, 1977]. Frankfurt a.M. 1988, S. 178f. 184 | Wie bereits Hofmannsthal im Buch der Freunde vermerkte, kann die Oberfläche selbst der Ort der Tiefe sein: »Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche.« (Hugo von Hofmannsthal: Buch der Freunde [1919-21]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze III, Frankfurt a.M. 1980, S. 233-299, S. 268.)

II. Liebe und Konsum: Positionen und Perspektiven

zehrs verweist nicht nur auf die Rezeption und den Konsum der Texte selbst, sondern auch auf deren Ge- und Verbrauch anderer Texte und Medien. Fetischismus und ›Enzymatik‹ schlagen sich in der Sprache der Romane ebenso nieder wie die Ambivalenz der Subjektstabilisierung durch Liebe und Konsum gerade nicht nur durch die bloße Thematisierung in den Texten reflektiert, sondern auch anhand der Textverfahren inszeniert wird. Wenn die soziologischen Studien also kaum über Liebe reden können, ohne auch über Literatur zu sprechen, dann bedeutet das zum anderen, dass die Literatur an einem signifikanten Knotenpunkt der Geschichte romantischer Liebe operiert. Oliver Jahraus hat deshalb die enge Verbindung von Liebe und Literatur als »Medienrealität« bezeichnet: Literatur »ist nicht nur das Medium, in dem Liebesgeschichten erzählt werden, sondern es ist auch das Medium, das diese Liebeskonzeption überhaupt erst erfindet.«185 Das heißt, Literatur bringt den Code romantischer Liebe zuallererst mit hervor, sie schreibt von Anfang an daran mit.186 Wenn romantische Liebe nun, so zeigen die vorgestellten Studien und Theorien, derart eng mit dem Phänomen des Konsums verknüpft ist, dann könnte man frei nach La Rochefoucauld argumentieren, dass die Menschen romantische Liebe gar nicht so sehr mit Konsum in Verbindung brächten, hätten sie nicht so oft davon gelesen, würde ihnen dies nicht immer wieder – in den unterschiedlichsten Formen und Medien – erzählt. Literatur schreibt daher nicht nur am Code romantischer Liebe mit, sondern auch an dessen intrikater Verbindung mit dem Konsum. Dieses Verhältnis ist – wohl auch aus einem kulturkritischen Abwehrmechanismus heraus – bisher kaum untersucht worden. Stellt man sich diesem Unterfangen jedoch, so zeigt sich, dass Literatur keineswegs unkritisch, jedoch wesentlich ludischer damit umgeht, als es der zuweilen einseitige Blick der Kulturkritik zu erfassen vermag. Deshalb: Wie Literatur dieses Verhältnis von Liebe und Konsum ästhetisch und poetisch vielfältig reflektiert, verhandelt, konstituiert – das soll in den folgenden Analysen der ausgewählten Romane der Moderne und Postmoderne gezeigt werden.

185 | Oliver Jahraus: Liebe als Medienrealität. In: Stefan Neuhaus (Hg.): Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft. Würzburg 2012, S. 2133, S. 21. Vgl. dazu auch Kap. V/I. 186 | Vgl. Albrecht Koschorke: Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung. In: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart, Weimar 2004, S. 174-185, S. 181f.

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III. Orte: Warenhaus und Supermarkt

Mit dem spatial turn in den Literatur- und Kulturwissenschaften wird der Raum als Kristallisationspunkt kultureller Praktiken, als Produzent, aber auch als Ergebnis sozialer Beziehungen betrachtet.1 Damit geht seine Signifikanz für den Zusammenhang von Liebe und Konsum einher: Beide sind von jeher an spezifische Orte gebunden, da sie der Interaktion von Menschen bedürfen: »So wie es in Kaufhäusern einfacher ist als anderswo, Geld gegen Waren zu tauschen, gibt es auch institutionalisierte Lokale, welche quasi zur Aufnahme und Führung von Intimkommunikation einladen.«2 Um sich zu verlieben, müssen sich die potentiell Liebenden zuallererst begegnen: Dies geschieht an Orten, die dem Freizeitkonsum angehören – wie Bars, Restaurants, Kinos, Einkaufszentren usw.3 –, genauso wie an jenen, die der Erwerbsarbeit oder dem Alltag zuzuordnen sind, wie beispielsweise der Supermarkt.4 Analog dazu müssen sich die Akteure des Marktes, Konsumenten wie Produzenten, um ökonomische Beziehungen eingehen zu können, um zu kaufen und verkaufen, auf einem Markt begegnen: Lange Zeit war dies der Marktplatz des Dorfes oder der Stadt. Mit der Entstehung der Großstädte, der bedeutendsten räumlichen Veränderung der Moderne, verlagerte sich dieser Ort. Eng verbunden mit der modernen Waren- und Markenkultur wie auch der literarischen Mo1 | Vgl. Doris Bachmann-Medick: Spatial Turn. In: Dies.: Cultural Turns. New Orientations in the Study of Culture. Berlin u.a. 2016, S. 211-243, S. 214: »[E]mphasis is placed on the social production of space as a complex and often contradictory social process, a specific localization of cultural practices, a dynamic of social relations that points to the mutability of space.« 2 | Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003, S. 20. 3 | Vgl. Kap. II/2.2.2. 4 | Vgl. Daniel Miller: Making Love in Supermarkets. In: Ders.: A Theory of Shopping [1998], Cambridge 2005, S. 15-72; sowie: Frank Trentmann: The Empire of Things. How We Became a World of Consumers, from the Fifteenth Century to the Twenty-first. London u.a. 2017, S. 14.

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derne – beide entstehen zur gleichen in denselben urbanen Zentren westlicher Gesellschaften5 – stellen Großstädte ein »besonders dichtes Anreizzentrum […] ästhetischer Relationen«6 dar. So übernahm das Warenhaus in der Mitte des 19.  Jahrhunderts die Funktion des Marktplatzes und wurde in Folge dessen zu einem konstitutiven Ort der Moderne.7 Es diente nicht nur der Sichtbarmachung einer Fülle von Waren-Dingen,8 sondern lud – anders als das Museum – dazu ein, diese anzufassen und mit nach Hause zu nehmen.9 Der Besuch im Warenhaus ermöglichte somit die »Begegnung mit Neuem, bot Gelegenheit zu Kommunikation, Anerkennung und Geselligkeit«10 – wodurch es letztendlich selbst zum Narrativ wurde.11 Als Ort von »Simulations- und Verwandlungsritualen«12 stellte das Warenhaus zudem transgressive Erfahrungen bereit, die dem Alltag entzogen waren, dafür aber umso mehr dem Erfahrungsrahmen romantischer Liebe entsprachen.13 Während die Bedeutung des Warenhauses mit Ablauf des 20. Jahrhunderts und dem Aufkommen virtueller Marktplätze im Internet abnahm, verstetigte sich indes die Bedeutung des Supermarkts als eines Ortes der Postmoderne, der den ursprünglichen Marktplatz für die alltäglichen Konsumwaren abgelöst hat.14 Wenn Liebe laut Luhmann durch den ›Startmechanismus Zufall‹ in Gang gebracht wird, dann sind Orte der »Kontingenz moderner Lebenswirklich5 | Vgl. Moritz Baßler: Moderne und Postmoderne. Über die Verdrängung der Kulturindustrie und die Rückkehr des Realismus als Phantastik. In: Sabina Becker, Helmuth Kiesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin 2007, S. 435-450, S. 437. 6 | Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. 3. Aufl. Berlin 2013, S. 38. 7 | Vgl. Uwe Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne. Köln, Weimar u.a. 2015. 8 | Vgl. Gudrun König: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900. Wien, Köln u.a. 2009, S. 125-189. 9 | Vgl. Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Weimar 2002, S. 74f. 10 | Burckhard Dücker: Das Warenhaus als Ritualraum der Moderne. Warenhausgestaltungen in der deutschen Literatur zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination. Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 165184, S. 168. 11 | Vgl. ebd. 12 | Ebd., S. 173. 13 | Vgl. Kap. II/2.2.2. 14 | Vgl. Heinz Drügh: Ästhetik des Supermarkts. Konstanz 2015.

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keit«,15 wie eben das Warenhaus oder der Supermarkt, von besonderer Bedeutung – denn sie sind nicht nur Orte des Konsums, sondern erweisen sich auch als potentielle Orte der Liebe. Warenhaus und Supermarkt als »semiotische wie affektive Energiezentren«16 bilden daher eine signifikante Schnittstelle für den Zusammenhang von Liebe und Konsum, die im Folgenden anhand von Émile Zolas Warenhausroman Au Bonheur des Dames (1883) und David Wagners Supermarktroman Vier Äpfel (2009) genauer analysiert werden soll.

1. É mile Z ol a : A u B onheur des D ames Ist das Warenhaus der Ort für »the dialectical relationship between consumption and social change«,17 dann fungiert es im »›Ur-Text‹ der Warenhausliteratur«,18 Émile Zolas Au Bonheur des Dames, nicht nur als Kristallisationspunkt sich verändernder sozialer Verhältnisse der gesellschaftlichen Klassen wie der Geschlechter zueinander, sondern wird auch zu einem Zentrum der Aushandlung moderner Subjektivität. Das Warenhaus erweist sich daher als ein Ort, an dem sich die romantische Liebe mit den Praktiken des Konsums auseinandersetzt: Es ist signifikant, dass Zolas Roman, der alle anderen ihm nachfolgenden Warenhausromane prägte,19 die Erzählung vom Warenhaus 15 | Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne, S. 28. 16 | Heinz Drügh: Sing while you sell – Überlegungen zu einer filmischen Warenhaus-Ästhetik. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination. Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 221-249, S. 248. 17 | Grant McCracken: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities [1988]. Bloomington, Indianapolis 1990, S. 28. 18 | Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger: Einführung. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination. Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 9-19, S. 14. 19 | Vgl. ebd., S. 10. Uwe Lindemann weist allerdings darauf hin, dass Zolas Roman nicht der erste Warenhausroman der Literaturgeschichte ist, dieses Verdienst kommt Marguerite Eymery (Pseudonym ›Rachilde‹) und ihrem Roman Monsieur de la nouveauté (1879) zu. Lindemann kommentiert: »Insgesamt ist Rachildes Roman bei weitem nicht so avanciert wie Zolas Text. Das liegt daran, dass im Mittelpunkt das Schicksal eines Liebespaares steht, deren melodramatische Vorgeschichte weitläufig ausgebreitet wird. Das Warenhaus dient ab dem zweiten Teil des Romans als Kulisse, um die zunehmende moralische Verworfenheit der männlichen Hauptfigur zu illustrieren. Der Roman

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mit einer Liebesgeschichte verbindet. Die Literatur setzt damit an den Beginn der modernen Konsumgesellschaft die intrikate Verbindung des Konsums mit der Liebe. Au Bonheur des Dames gehört also nicht nur zur Warenhausliteratur, sondern ist auch ›Ehekontaktanbahnungsroman‹:20 Mit der Umstellung der Liebessemantik um 1800, die das zusammenführt, was vormals getrennt war – Liebe und Ehe sowie Sexualität –, so dass beide potentiellen Partner nicht mehr familiären oder ökonomischen Maßgaben Folge leisten müssen und stattdessen wählen können, entsteht die Frage, wie etwas derart Unwahrscheinliches und kontingent Bedingtes wie die Liebesehe wahrscheinlich gemacht werden kann. Eine Funktion der literarischen Erzählung von Liebe ist es, diese Kontingenz anhand einer teleologisch-stringenten Narration zu verdecken: Liebe ist immer schon Schicksal und Bestimmung. Der entscheidende Faktor dabei, so zeigt die folgende Analyse, ist in Zolas Roman der Konsum: Als Ort und Struktur fungiert das Warenhaus gemäß der ›Enzymatik‹ als Katalysator der Liebe zwischen Denise Baudu und Octave Mouret.

1.1 Identitäten und Ambivalenzen: Liebe und Konsum um 1900 Geht man seit der Romantik davon aus, dass Liebe eine stabilisierende Funktion in sozialer wie psychologischer Hinsicht übernimmt, »um die Kosten moderner Gesellschaft dort abzuschreiben, wo sie anfallen: im Individuum«,21 so gilt dies umso mehr für die Zeit, in der Au Bonheur des Dames angesiedelt ist: die Entstehung der modernen Großstadt und mit ihr die moderne Konsumgesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts.22 In diesem Milieu werden feste lässt sich eher als Sozialdrama charakterisieren, wobei die modernen Konsumwelten lediglich am Rande reflektiert werden, auch wenn der Titel Anderes suggeriert.« (Das Warenhaus als Metapher für Gesellschaft. Émile Zola und das kollektive Imaginäre der frühen Konsumgesellschaft. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination. Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 35-53, S. 46, Fußnote 36). 20 | Vgl. Werber: Liebe als Roman, S. 15f. 21 | Ebd., S. 11. 22 | Vgl. zum Zusammenhang von Warenhaus und Modernisierungsprozessen grundsätzlich: Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne; vgl. außerdem McCracken: Culture and Consumption, S. 22f.: Laut McCracken gab es keinen »consumer boom« im 19. Jahrhundert, da zu diesem Zeitpunkt die Entwicklung der Konsumgesellschaft, die im 16. Jahrhundert begonnen hatte, zu großen Teilen abgeschlossen war: »By the nineteenth century, consumption and society were inextricably linked in a continual process of change.« (Ebd.) Dennoch kam es zu Veränderungen im 19. Jahrhun-

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Identitäten aufgebrochen, noch bevor die Unsicherheiten eines Fin de siècle wirksam werden: Dies betrifft nicht nur die Umwälzung gesellschaftlicher Schichten, sondern auch und insbesondere die Geschlechterbeziehungen.23 Die Forschungsliteratur zu Au Bonheur des Dames ergeht sich in großen Teilen darin, die Ausbeutung und Unterwerfung der Frau durch Octave Mouret darzulegen, indem das traditionelle und damals noch gesellschaftlich gültige Geschlechtermodell bemüht wird – die Frau ist passiv, hat kaum Rechte und dem Mann zu gehorchen; der Mann dagegen ist aktiv, mächtig und kann über die Frau ganz nach Gusto verfügen.24 Unterzieht man Zolas Roman jedoch einer genaueren Lektüre, so stellt sich heraus, dass diese binären Geschlechtsidentitäten immer wieder unterlaufen werden. In Anlehnung an Michail Bachtin verweist Jurate D. Kaminskas beispielsweise auf die Vielzahl der Frauenstimmen im Text, die sich nicht zu einer einzigen subsumieren lassen.25 Eleanor Salotto wiederum beschreibt die Identität der Frauen im Roman dert, die die Konsumgesellschaft erst zu jener modernen werden ließen, wie wir sie bis heute kennen – die Entstehung des Warenhauses ist eine davon, neben der Entwicklung von »consumer lifestyles«, neuen Marketingtechniken, der zunehmenden Aufladung von Waren mit kultureller Bedeutung und grundsätzlichen Veränderungen in der Gesellschafts- und Klassenstruktur, auf die mit neuen Kommunikationstechniken Antworten gefunden werden mussten. 23 | Vgl. dazu grundsätzlich: Hannah Thompson: Naturalism redressed. Identity and Clothing in the Novels of Émile Zola. Oxford 2004, insbesondere das Kapitel: The Erotics of the Department Store, S. 70-96. 24 | Dies auch noch in der jüngeren Forschungsliteratur, vgl. z.B. Barbara Vinken: Temples of Delight. Consuming Consumption in Émile Zola’s Au Bonheur des Dames. In: Margaret Cohen, Christopher Prendergast (Hg.): Spectacles of Realism. Gender, Body, Culture. Minneapolis 1995, S. 247-267; Chantal-Sophie Castro: Le Vêtement dans Pot-Bouille et Au Bonheur des Dames: De l’art de la séduction à la manipulation. In: Anna Gural-Migdal (Hg.): L’écriture du féminin chez Zola et dans la fiction naturaliste. Writing the Feminine in Zola and Naturalist Fiction. Berlin u.a. 2003, S. 145-167. Dem gegenläufige, interessante Ansätze bietet Dirk Hohnsträter in: Konsum und Kreativität im Paradies der Damen. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination. Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 55-63. 25 | Vgl. Jurate D. Kaminskas: Itinéraires de la femme seule à Paris: Pour une lecture renouvelée de Au Bonheur des Dames. In: Anna Gural-Migdal (Hg.): L’écriture du féminin chez Zola et dans la fiction naturaliste. Writing the Feminine in Zola and Naturalist Fiction. Berlin u.a. 2003, S. 409-421, S. 414: »La voix de la femme n’est pas une seule voix unique mais multiple et même hybride en dépit des circonstances et des situations qui rapprochent les femmes.«

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als Irrgarten, so wie sich auch das Warenhaus selbst als ein Labyrinth beschreiben lässt:26 »The department store serves as the signifier for the breaking up the discrete identity of the individual[, because] woman in the department store cannot be reduced to one definable meaning.«27 Die Verwirrung weiblicher Identität hat im Warenhaus selbst statt, das in zweifacher Hinsicht fungiert: Einerseits befreit es die Frau aus der zeitgenössischen Rollenverteilung, da sie als Kundin »beim Einkaufen im Warenhaus eine Freiheit autonomer Selbstbestimmung«28 erlangt, ihre Schaulust ohne Reue ausleben kann29 und als Verkäuferin ihren Lebensunterhalt selbst verdient, sich also potentiell von einem Ehemann unabhängig macht. Dies ist vor allem für jene Frauen eine Möglichkeit, denen sonst nur die Option der Religion und die daraus folgende Entsagung im Kloster oder die Prostitution auf der Straße geblieben wären. Diese emanzipatorische Funktion des Warenhauses ist jedoch ambivalent, da die Bezahlung der Verkäuferinnen meist zu gering ist, um tatsächlich davon leben zu können. Sie sind dennoch auf den Unterhalt eines Liebhabers und potentiellen Ehemannes angewiesen, weshalb sie im Warenhaus nicht nur Waren, sondern auch sich selbst ›verkaufen‹ – die Verkäuferin steht damit immer auch in der Nähe der Prostitution.30 Das Warenhaus sorgt also nicht nur für eine gewisse Emanzipation der Frau, sondern verdinglicht, kommodifiziert und pathologisiert sie andererseits. Steht im Warenhaus prinzipiell alles zum Verkauf – »un magasin de nouveautés où l’on vendait de tout!«31 I – so schließt dies auch das Personal ein: Die Verkäuferin, 26 | Vgl. Eleanor Salotto: Shopping for an I: Zola’s The Ladies’ Paradise and the Spectacle of Identity. In: Anna Gural-Migdal (Hg.): L’écriture du féminin chez Zola et dans la fiction naturaliste. Writing the Feminine in Zola and Naturalist Fiction. Berlin u.a. 2003, S. 449-470, S. 449. 27 | Salotto: Shopping for an I, S. 450. 28 | Uwe Lindemann: Im Bann der Auslagen. Literatur und Warenhauskultur um 1900. In: Monika Schmitz-Emans, Gertrud Lehnert (Hg.): Visual Culture. Beiträge zur XIII. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Potsdam, 18.-21. Mai 2005. Heidelberg 2008, S. 197-212, S. 200. 29 | Die Frau ist traditionell Objekt des männlichen Blicks, nicht Subjekt des Blicks. Auch wenn es sich bei den Objekten dieser Schaulust nur um leblose Gegenstände handelt, beginnt die traditionelle Rollenverteilung damit aufzubrechen. Vgl. Gertrud Lehnert: Nachwort. In: Émile Zola: Das Paradies der Damen. Übers. v. Hilda Westphal. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2010, S. 558-576, S. 566. 30 | Vgl. Franziska Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld 2009, S. 279f. 31 | Émile Zola: Au Bonheur des Dames [1883]. In: Ders.: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second Empire. Bd. III. Hg. v. Armand

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die die Waren anpreist, um zu verkaufen, denn nur dadurch steigt die Bezahlung und damit die Unabhängigkeit,32 steht immer im Verdacht, auch selbst Ware zu sein, über welche die Männer, allen voran Octave Mouret, jederzeit verfügen zu können glauben. Die Verkäuferinnen der Konfektionsabteilung, die im Unterschied zu denen in anderen Abteilungen Seidenkleider tragen, werden beispielsweise gerade deshalb verdächtigt, ›leichte Mädchen‹ zu sein (vgl. ABD 519): »[T]outes des malheureuses à vendre, comme leurs marchandises!« (ABD  686)II bringt Madame Desforges den Zusammenhang auf den Punkt. Als Kundin wiederum verfällt die Frau einem damals neuen Persönlichkeitskonzept, das Identität maßgeblich über die äußere Erscheinung definiert33 und sie auf diese Weise den hübsch verpackten Waren annähert. Damit eng verbunden ist der zeitgenössische, männlich dominierte, medizinisch-juristische Diskurs der Kleptomanie, angeführt von Cesare Lombroso und Guglielmo Ferrero,34 der die Frau als Opfer ihrer Biologie, ihrer schwachen Nerven und der Anlage zur Hysterie sowie des auf Oberflächenverschönerung basierenden neuen Persönlichkeitskonzeptes sieht:35 »Die Verführung [durch die Waren, AO] ist umso größer, als für das Weib Putzgegenstände nicht überflüssig, sondern durchaus nöthig sind, als unentbehrliche Werkzeuge für die

Lanoux, Henri Mitterand. Paris 1964, S. 389-803, S. 409. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle ABD mit nachgestellter Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen. Die Übersetzungen entstammen der Ausgabe: Émile Zola: Das Paradies der Damen. Übers. v. Hilda Westphal. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2010. Sie werden im Anhang dieses Kapitels als Anmerkungen mit römischen Ziffern und der Sigle PdD angeführt. 32 | Bemerkenswerterweise ist es im Fall von Denise genau dieser Erfolg, der das restliche Personal umso mehr vermuten lässt, dass sie die Geliebte Mourets ist. Vgl. ABD 649. 33 | Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Übers. v. Reinhard Kaiser [Original: The Fall of Public Man, 1977]. Frankfurt a.M. 1986, S. 274. Vgl. auch Rachel Bowlby: Just looking. Consumer Culture in Dreiser, Gissing and Zola. New York, London 1985, S. 68. 34 | Vgl. Cesare Lombroso, Guglielmo Ferrero: La donna delinquente, la prostituta e la donna normale. Turin 1893. Vgl. zum Kleptomanie-Diskurs auch das Kapitel Kaufrausch und Kleptomanie in: Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 274-299; sowie: Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne, S. 101-143. 35 | Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde verzeichnet dagegen um 1800 noch vorwiegend männliche Delinquenten, die ein »[u]nwillkürlicher Drang zum Stehlen und Geldleihen« (Bd. 5, S. 21) treibt, vgl.: Karl Philipp Moritz (Hg.): Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. 10 Bde. [1783-93]. Nördlingen 1986, Bd. 2: S. 19f., Bd. 5: S. 21-29, 129134, Bd. 7: S. 125-139.

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Anziehung des anderen Geschlechts.«36 Den Putzgegenständen wird damit die Qualität eines Luxusgutes abgesprochen, indem sie zur (Über-)Lebensnotwendigkeit erklärt werden – nicht ganz unähnlich Eva Illouz’ Konzept von ›Sexyness‹.37 Erfolg in der Liebe und auf dem Heiratsmarkt, das heißt auch: Identitätsstiftung über eine gelungene Verheiratung, erfordert den Kauf der richtigen Dinge, wie Rachel Bowlby anhand von Jean Baudrillards Le Système des objets ausführt: »The commodity makes the person and the person is, if not for sale, then an object whose value or status can be read off with accuracy in terms of the things he has and the behavioral codes he adopts.«38 Das versetzt die Frau abermals in Abhängigkeit von einer patriarchalen Instanz, der weder Kundinnen – so viel Freiheit sie beim Einkaufen und Fantasieren anhand des Fiktionswertes der Waren auch erfahren mögen39 – noch Verkäuferinnen entgehen können: Über allem thront, so inszeniert es der Roman, Octave Mouret. Die übliche Lesart der Figur Mourets identifiziert ihn als Repräsentanten einer allmächtigen patriarchalen Ordnung, der sich alle Frauen, inklusive Denise Baudu, zu Willen machen kann. Was diese Lektüre jedoch übersieht, ist die ambivalente Zeichnung sowohl von Mouret als auch seiner männlichen Angestellten:40 Die Tätigkeit des Verkaufens rückt nicht nur die Verkäuferinnen in die Nähe der Ware, sondern auch die Verkäufer: »Il y avait, entre lui [Hutin, AO] et le gantier, une rivalité de jolis hommes, qui tous deux affectaient de coqueter aves les clients.« (ABD 483)III Um zu verkaufen, müssen auch die ›jolis hommes‹ vollen Körpereinsatz leisten: »›Oh! à la perfection, madame!‹ répétait Mignot. ›Le six trois quarts serait trop grand pour une main comme la vôtre.‹ A demi couché sur le comptoir, il lui tenait la main, prenait les doigts 36 | Cesare Lombroso, Guglielmo Ferrero: Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte. Anthropologische Studien, gegründet auf eine Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes. Übers. v. Hans Kurella. Hamburg 1894, S. 459. 37 | Vgl. Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Übers. v. Michael Adrian [Original: Why Love Hurts. A Sociological Explanation, 2012]. Berlin 2011, S. 83: »In der ›Sexyness‹ kommt die Tatsache zum Ausdruck, daß die Geschlechtsidentität von Männern und vor allem von Frauen in der Moderne in eine sexuelle Identität verwandelt worden ist, sprich in eine Reihe bewußt gehandhabter körperlicher, sprachlicher und kleidungsbezogener Kodes, die darauf ausgerichtet sind, sexuelles Begehren auszulösen.« 38 | Bowlby: Just looking, S. 26. 39 | Vgl. Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2009, S. 50: Wie Literatur bot der Konsum Freiräume für Frauen: »Zumindest in der Phantasie ließen sich andere Lebensmuster ausprobieren.« 40 | Wie Thompson zeigt, werden aber auch Männer, die nicht im Warenhaus arbeiten, zuweilen mit weiblichen Attributen belegt, so zum Beispiel Jean Baudu. Vgl. Thompson: Naturalism redressed, S. 73.

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un à un, faisant glisser le gant d’une caresse longue, reprise et appuyé; et il la regardait, comme s’il eût attendu, sur son visage, la défaillance d’une joie voluptueuse.« (ABD  484)IV Zudem neigen sie nicht nur wie ihre weiblichen Kolleginnen zur Verschwendungssucht,41 sondern leben zum Teil ebenso in Abhängigkeit von reichen Frauen, deren Geliebte sie sind, wie das weibliche Personal des Warenhauses sich von wohlhabenden Männern aushalten lässt.42 Die Verdinglichung der Verkäufer wird zuweilen ebenso drastisch beschrieben wie jene der Verkäuferinnen:43 »Et, à cette heure dernière, au milieu de cet air surchauffé, les femmes régnaient. […] Les vendeurs, assourdis, brisés, n’étaient plus que leurs choses, dont elles disposaient avec une tyrannie de souveraines.« (ABD 642)V Die Angestellten werden zu Objekten degradiert, gar zum Eigentum der Kundinnen: ›leurs choses‹. Damit kehrt sich das traditionelle Geschlechterverhältnis nicht nur um, sondern wird zur Geschlechtslosigkeit gesteigert: Cependant, il y avait peu de place pour les songeries dangereuses, au milieu de son existence de travail. Dans le magasin, sous l’écrasement des treize heures de besogne, on ne pensait guère à des tendresses, entre vendeurs et vendeuses. Si la bataille continuelle de l’argent n’avait effacé les sexes, il aurait suffi, pour tuer le désir, de la bousculade de chaque minute […]. Au-dehors seulement, reprenait la vie individuelle, avec la brusque flambée des passions qui se réveillaient. (ABD 516, Herv. hinzugefügt) VI

41 | Vgl. ABD 518: »Comme tous les jeunes messieurs des nouveautés, il avait un rage de dépense, se battant la semaine entière à son rayon, avec une âpreté d’avare, dans le seul désir de jeter le dimanche son argent à la volée, sur les champs de course, au travers des restaurants et des bals«; und ABD 523: »D’ailleurs, ces demoiselles des nouveautés ne se montraient guère plus raisonnables que ce messieurs: elles mangeaient tout, jamais un sou d’économie.« Und auch Mouret selbst verfällt der Verschwendungssucht, als Denise seinen Avancen widersteht, vgl. ABD 679: »D’ailleurs, depuis près de trois mois, il menait une vie terrible de plaisirs, semant l’argent avec une prodigalité dont on causait«. 42 | Vgl. z.B. den Verkäufer Mignot: »Mignot vivait sur la légende d’une femme de commissaire de police tombée amoureuse de lui.« (ABD 483) 43 | Vgl. Salotto: Shopping for an I, S. 458. Uwe Lindemann weist an einem anderen Text (Jape im Warenhaus von Vicki Baum, 1931) nach, dass auch Männer dem Warenhaus verfallen, vgl. Lindemann: Im Bann der Auslagen, S. 204. Vgl. hierzu auch Ina Linge: ›Mal etwas Anderes‹: Narrative Representations of Queer Performance and Commodified Bodies on the Early Twentieth-Century Shop Floor. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination. Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 107-124.

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Erst mit dem Verlassen des Warenhauses erlangen die Beschäftigten ihre Individualität zurück. Nichtsdestotrotz sind Verkäuferinnen wie Verkäufer von einem Identitätsverlust durch Klassenlosigkeit betroffen: Sie bilden eine neue, noch nicht formierte beziehungsweise etablierte Klasse, die zwischen dem Klein- und dem Besitzbürgertum, den Unternehmern und Kaufleuten sowie der Oberschicht stehen – sie gehören zu keiner wirklich dazu. Sie stehen damit für den Individualisierungsprozess der Moderne: »One effect of an image of classlessness is to leave the individual as the only significant social category.«44 Auch Octave Mouret ist davon nicht ganz ausgenommen: Zum einen verkehrt er – geschäftlich und privat – in allen Klassen,45 zum anderen ist er durch geschickte Heirat und harte Arbeit seiner Klasse, in die er geboren wurde, entkommen, ohne jedoch zur Oberschicht, zum Beispiel eines Baron Hartmann, jemals hinzuzugehören. In Pot-Bouille, dem Vorgängerroman von Au Bonheur des Dames in Zolas Romanzyklus Les Rougon-Macquart (1871-1893), wird sein Werdegang beschrieben, der einem typisch weiblichen Modell folgt: Er wird vom Geliebten zum Ehemann einer reichen Frau, wodurch ihm der soziale Aufstieg gelingt.46 Dementsprechend verwundert es nicht allzu sehr, dass Mouret in Au Bonheur des Dames mit weiblichen Attributen beschrieben wird, wenn er im Salon von Madame Desforges seine Verführungskünste zur Geltung bringt: »Il était femme, elles se sentaient pénétrées et possédées par ce sens délicat qu’il avait de leur secret, et elles s’abandonnaient, séduites; tandis que lui, certain dès lors de les avoir à sa merci, apparaissait, trônant brutalement au-dessus d’elles, comme le roi despotique du chiffon.« (ABD 468)VII Diese Passage führt die Ambivalenz des Charakters von Octave Mouret vor: ›Er ist Frau‹ und nimmt gleichzeitig die Rolle des Verführers, die Position männlicher Potenz ein. Es ist zudem augenfällig, dass sich die Passage einer ähnlichen Herrschaftsbeschreibung bedient wie jene, die die Macht der Frauen im Warenhaus beschreibt: ›le roi despotique‹ und ›une tyrannie de souveraines‹. Das Geheimnis der Macht Octave Mourets sind laut Hannah Thompson also gerade seine weiblichen Qualitäten: »[H]is feminine characteristics beco44 | Bowlby: Just looking, S. 68. 45 | Um die Finanzierung des stetigen Ausbaus des Warenhauses sicherzustellen, muss Mouret in jenen oberen Klassen verkehren, die über entsprechendes Kapital und Investitionswillen verfügen, wie zum Beispiel Baron Hartmann. Gleichzeitig muss er sich mit Produzenten und Lieferanten der Waren auseinandersetzen, zudem verkehrt er mit Prostituierten. Vgl. dazu auch Castro: Le Vêtement dans Pot-Bouille et Au Bonheur des Dames, S. 156. 46 | Vgl. Castro: Le Vêtement dans Pot-Bouille et Au Bonheur des Dames, S. 145-167. Castro beschreibt die Suggestionskraft von Kleidung und gutem Aussehen, mit dem Frauen Männer in die Ehe locken. Dass dieses Modell auch auf Mouret zutrifft, entgeht ihr jedoch.

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me the means behind his seductive power […]. Mouret’s ›masculine‹ effect on women is described in ›feminine‹ terms as his desire for women is confused with his identification with them.«47 Zu dieser Ambivalenz gehört auch das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität: Als der Erbauer und Besitzer des Warenhauses verkörpert er kühle Rationalität, er ist der Visionär, der gern alles unter Kontrolle hat: Das Kalkül, ›un jeu calculé‹, ist sein oberster Maßstab. Diese Visionen jedoch entspringen einem Charakterzug, der ihn zum Romantiker werden lässt: »Mais vous êtes un poète dans votre genre,«48 (ABD 688) VIII sagt Baron Hartmann zu ihm, nachdem Mouret diesem seine Pläne zum Ausbau des Warenhauses vorgestellt hat. Als Poet ist er gekennzeichnet als Außenseiter, als Träumer, als Phantast mit einer außergewöhnlichen Imaginationskraft – und gehört damit potentiell dem Bereich der Irrationalität an.49 Die Ambivalenz von Rationalität und Irrationalität zeichnet für den Erfolg Mourets verantwortlich: Der Roman endet schließlich mit der höchsten Tageseinnahme, die je im Warenhaus erzielt wurde: einer Million Francs; dazu passend dehnt sich das Warenhaus schließlich so weit aus, dass es das ganze Viertel beherrscht. Der geschlechtlichen Ambiguität von Frauen und Männern entspricht es, dass auch das Warenhaus selbst sowohl mit männlichen als auch weiblichen Attributen versehen wird: als rationale Maschine, die alles sich ihr in den Weg Stellende verschlingt; als naturalisierter Raum, in dem die Spitzen rieseln und wie Schnee fallen (ABD 392); als Liebesgemach (vgl. ABD 748) sowie als 47 | Thompson: Naturalism redressed, S. 72f. 48 | Vgl. auch ABD 420: »Mouret se jetait en poète dans la spéculation, avec un tel faste, un besoin tel du colossal, que tout semblait devoir craquer sous lui.« 49 | Diese Darstellung des Unternehmers als Künstler bei Zola widerspricht der These von Andreas Reckwitz, wonach die Unternehmerfigur erst nach 1900 als »das kulturell Andere gegen den [amerikanischen] Manager in Stellung gebracht« wird und in diesem Zuge die Wandlung vom Kapitalgeber mit »Leitungs- und Überwachungsfunktion« zur »Instanz der unberechenbaren Kreation des Neuen« erfährt (Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 150f.). Vgl. dazu auch Irmtraud Hnilica: Im Zauberkreis der großen Waage. Die Romantisierung des bürgerlichen Kaufmanns in Gustav Freytags Soll und Haben. Heidelberg 2012: Hnilica widmet ein Kapitel dem »Kaufmann als Künstler« (S. 152165). Sie nimmt in ihrer Studie auch den Zusammenhang von Liebe und Ökonomie in den Blick, verbleibt jedoch bei der Feststellung, dass die Ehe als finanzielle Operation verwerflich sei, dabei nicht berücksichtigend, dass es sich um einen über Jahrhunderte hinweg üblichen Vorgang handelt. Eine Figur des 1855 erschienenen Romans, Sabine Schröter, ist zudem in Hinblick auf Au Bonheur des Dames interessant: Sie gleicht Denise, da sie ebenfalls in männlicher Position agiert und am Ende Chefin des Kontors wird. Die Verlobung mit dem Protagonisten Anton Wohlfart beschreibt Hnilica als »gelungene Verbindung von Ökonomie und Liebe« (S. 183).

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Frau, die sich für ihren Geliebten zur Hochzeit schmückt (vgl. ABD 769, 797). Diese Ambivalenzen unterterminieren nicht nur die Geschlechterbinarität von »male consumer and female commodity«,50 sondern auch die Lesart der Liebesgeschichte als bloßem ›conte bleu‹,51 also einer Art Märchen. Zunächst soll jedoch das Warenhaus als Ort der Verführung und Stätte erotischen Begehrens näher erkundet werden, vor dessen Hintergrund sich die Liebesgeschichte entfaltet.

1.2 Identitätsangebote: Das Warenhaus als Verführungsanstalt »The department store in Zola’s The Ladies’ Paradise creates an identity for woman in late nineteenth-century Paris.«52 Dieses Identitätsangebot, das das Warenhaus an die Frauen macht, gründet sich auf eine spezifische Szenerie, die wiederum eine Neu- wie Eigenheit des Warenhauses bedingt – das Schaufenster: »woman’s identity shifts and is based on the cult of the spectacle: the image of woman gazing at a fantasy image.«53 Dem Schaufenster, als Teil des ›exhibitionary complex‹, wie Uwe Lindemann im Anschluss an Tony Bennett ausführt,54 kommt zunächst eine transgressive Qualität zu: »Browsing in the department store, woman receives glimpses of meaning, fragments of a possible self. Desire for goods and their consumption suggests the possibility of moving outside one’s proper identity.«55 Der Fiktionswert der Waren56 ermöglicht es, aus der bisherigen Rolle zumindest in der Fantasie auszubrechen, unter anderem deshalb, weil sich Identität in der Konsumgesellschaft maßgeblich über den Kauf der richtigen Produkte konstituiert: »The consumer is not (just) an active appropriator of objects for sale. His or her identity, the constitution of the self as a social subject, a ›citizen of consumer society‹, depends on the acquisition of appropriate objects«.57 Beim Blick ins Schaufenster sieht die 50 | Thompson: Naturalism redressed, S. 86. 51 | Vgl. Colette Becker, Agnes Landes: Au Bonheur des Dames. Profil d’une œuvre. Paris 1999, S. 52f.; vgl. außerdem dazu Kaminskas: Itinéraires de la femme seule à Paris, S. 409-421. 52 | Salotto: Shopping for an I, S. 449. 53 | Ebd. 54 | Vgl. Uwe Lindemann: Schaufenster, Warenhäuser und die Ordnung der Dinge um 1900: Überlegungen zum Zusammenhang von Ausstellungsprinzip, Konsumkritik und Geschlechterpolitik in der Moderne. In: Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld 2011, S. 189-215, S. 191f. Vgl. auch Tony Bennett: The Exhibitionary Complex. In: New Formations 4 (1988), S. 73-102. 55 | Salotto: Shopping for an I, S. 450. 56 | Vgl. Kap. II/3.2.2. 57 | Bowlby: Just looking, S. 28.

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Kundin jedoch nicht nur die Ware und die damit verbundenen Möglichkeiten, sondern immer auch eine Spiegelung ihrer selbst. Die Identitätsfindung über Konsum erinnert an Lacans Spiegelstadium:58 Ist die Identität beim Blick in den Spiegel bereits bloße Konstruktion und damit fragil, so wird dies anhand des Schaufensters potenziert, indem es mehrfache Illusionen von Identität erzeugt: »The act of looking through the window of a department store prepares the viewer to see identity as a succession of images.«59 Hannah Thompson und Rachel Bowlby stellen dies in einen Zusammenhang mit Narzissmus: »Consumer Culture transforms the narcisstic mirror into a shop window […]. Through the glass, the woman sees what she wants [to have, AO] and what she wants to be.«60 Doch es sind nicht nur die Schaufenster, in denen sich Identität wie Begehren spiegeln. Auch die Seidenstoffe, die im Bonheur des Dames angeboten werden, erinnern an fließendes Wasser und in ihrer schimmernden, spiegelnden Qualität an Narziss’ klare Quelle – woraus Hannah Thompson pointiert schließt: »›soie‹ replaces ›soi‹«61 (vgl. ABD 487). In diesen Zusammenhang gehört auch eine der meist zitierten und interpretierten Passagen aus Zolas Roman: »La gorge ronde des mannequins gonflait l’étoffe, les hanches fortes exagéraient la finesse de la taille, la tête absente était remplacée par une grande étiquette, piquée avec une épingle dans le molleton rouge du col; tandis que les glaces, aux deux côtés de la vitrine, par un jeu calculé, les reflétaient et les multipliaient sans fin, peuplaient la rue de ces belles femmes à vendre, et qui portaient des prix en gros chiffres, à la place des têtes.« (ABD  392)IX Die seitliche Spiegelung der Schaufensterpuppen dehnt das Spiel mit Identitäten ins Endlose aus und entspricht gleichzeitig einer maßgeblichen Idee des Kapitalismus, wie William Gallois ausführt: »[I]ts capacity for endless reproduction and endless perfection in a way that no previous or alternate system of life could claim.«62 Versinnbildlichen die Modepuppen einerseits die sprichwörtliche Kopflosigkeit der Kundinnen und damit die potentielle Verstümmelung des menschlichen Körpers in der ›Schlacht‹ (vgl. ABD 500) im Kaufhaus wie im Kapitalismus selbst, so stehen sie andererseits aber auch für die Fiktionswerte der Waren, wenn der Kopf der Betrachterin an die Leerstelle der Modepuppe rückt: »Ausgerechnet der Mangel, der verstümmelte weibliche Körper, setzt die Phantasie frei und ermöglicht die imaginative Verlebendigung der deformierten Figur bzw. die Evokation eines erotisierten

58 | Vgl. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion. In: Ders.: Schriften I. Hg. v. Norbert Haas. Frankfurt a.M. 1975, S. 61-70. 59 | Salotto: Shopping for an I, S. 453. 60 | Bowlby: Just looking, S. 32. 61 | Thompson: Naturalism redressed, S. 77. 62 | William Gallois: Zola: The History of Capitalism. Oxford u.a. 2000, S. 106.

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urbanen Lebensstils.«63 Eleanor Salotto folgert daraus, dass diese Darstellung ein neues Verständnis von Identität er- und bezeugt: »It makes identity into replications, into desire for an image, which always already begins as an image, as we have seen in Lacan’s mirror stage. Furthermore, identity is something to be viewed and corroborated by the masses.«64 Das Identitätsangebot des Warenhauses erzeugt im Roman eine solche Wirkmacht, dass Mouret nicht nur eine endlose Reihe künstlicher Frauen im Schaufenster erschafft, sondern genauso viele aus Fleisch und Blut in sein Warenhaus locken kann:65 Wie Franziska Schößler vermerkt, besteht diese Masse in der Beobachtung von Madame Desforges nur aus Köpfen und ist damit komplementär zu den Modepuppen:66 »C’était un nouveau spectacle, un océan de têtes vues en raccourci, cachant les corsages, grouillant dans une agitation de fourmilière.« (ABD 631)X Das Warenhaus wird aufgrund der Menschenmassen, die es anlockt, zur »site of illicit eroticism«,67 zum Schauplatz unzähliger Orgien dionysischer Qualität. Während einer der großen Verkaufstage heißt es: Ce n’était plus chose facile que de gagner l’escalier. Une houle compacte de têtes roulait sous les galeries, s’élargissant en fleuve débordé au milieu du hall. Toute une bataille du négoce montait, les vendeurs tenaient à merci ce peuple de femmes, qu’ils se passaient des uns aux autres, en luttant de hâte. L’heure était venue du branle formidable de l’après-midi, quand la machine surchauffée menait la danse des clientes et leur tirait l’argent de la chair. A la soie surtout, une folie soufflait […]. [I]l ne restait, au-delà du grand murmure de la vente, que le sentiment de Paris immense, d’une immensité qui toujours fournirait des acheteuses. […]. Et, sous la fine poussière, tout arrivait à se confondre, on ne reconnaissait pas la division des rayons […]. On ne voyait même plus les toilettes, les coiffures seules surnageaient, bariolées de plumes et de rubans; quelques chapeaux d’homme mettaient des taches noires, tandis que le teint pâle des femmes, dans la fatigue et la chaleur, prenait des transparences de camélia. (ABD 491f.) XI

Diese Passage bedient sich, wie viele andere,68 unverhohlen dionysisch-exzessiver Beschreibungen: das Verschmelzen von Menschen und Maschine, also des Warenhauses, die Wucht der Bewegungen einer rasenden Masse, der ›Tanz der 63 | Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 283. 64 | Eleanor Salotto: Shopping for an I, S. 453. 65 | Vgl. William Gallois: Zola, S. 106. 66 | Vgl. Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 282f. 67 | Hannah Thompson: Naturalism redressed, S. 71. 68 | Vgl. z.B. ABD 617f., 630f., 640, 643f., 780, 797f. Vgl. dazu auch Janet Beizer: Au (delà du) Bonheur des dames: Notes on the Underground. In: Australian Journal of French Studies 38 (2001), S. 393-407. Sie bezeichnet Zolas Roman als »story of rampant sexuality« (S. 393).

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Kundinnen‹, denen das Geld aus dem Leib gesogen wird und die anschließend vor Erschöpfung niedersinken. Es dürfte kein Zufall sein, dass ihr Teint die Farbe von Kamelien annimmt, ist damit doch unmittelbar die Verbindung zu einer der größten Kurtisanen der französischen Literatur, Alexandre Dumas’ Kameliendame hergestellt. Dies rückt die Beschreibung zudem in die Nähe der Prostitution. Daher nimmt es wenig Wunder, dass dem Verkaufsakt der sexuelle Akt analogisiert wird: Sous la grâce même de sa galanterie, Mouret laissait ainsi passer la brutalité d’un juif vendant de la femme à la livre: il lui élevait un temple, la faisait encenser par une légion de commis, créait le rite d’un culte nouveau; il ne pensait qu’à elle, cherchait sans relâche à imaginer des séductions plus grandes; et, derrière elle, quand il lui avait vidé la poche et détraqué des nerfs, il était plein du secret mépris de l’homme auquel une maîtresse vient de faire la bêtise de se donner. (ABD 461) XII

Auch die für dionysische Szenarien typische Verbindung von Sex und Tod, Eros und Thanatos, fehlt hier nicht. Die Metapher des Aussaugens beschwört das Vampirmotiv (vgl. ebd.),69 das durch das Bild eines Blutbads affirmiert wird: »Leurs yeux [die der Verkäufer, AO] s’allumaient de la passion du gain, tout le magasin autour d’eux alignait également des chiffres et flambait d’une même fièvre, dans la gaieté brutale des soirs de carnage.« (ABD 500)XIII Die Lust des Kaufrausches, an dessen anderen Ende der existentielle Ruin lauert, wird damit ambivalent. Mouret ist dabei jedoch nicht nur ein kühler, rationaler Beobachter, vielmehr nimmt er selbst physisch teil am Rausch der Menge, was ebenfalls sexuell konnotiert ist: »[…] Mouret, qui venait de plonger Vallagnosc en peine foule, pour achever de l’étourdir, et pris lui-même du besoin physique de ce bain du succès. Il perdait délicieusement haleine, c’était là contre ses membres comme un long embrassement de toute sa clientèle.« (ABD 492)XIV Und auch Mouret ist, wie seine Verkäuferinnen, auf Geldgeber angewiesen: Im Salon seiner Geliebten, Madame Desforges, trifft er auf Baron Hartmann, der ihm den Ausbau des Warenhauses finanzieren soll und den es daher zu überzeugen gilt. Dies gelingt Mouret allerdings nicht mit rationalen Argumenten, sondern erst als der Baron sieht, wie er die Frauen des Salons allein durch sein Auftreten und seine Rede verführt, beginnt dieser, an die Sache Mourets zu glauben – so dass es nicht primär die Frauen sind, die Mouret hier verführt, sondern der Baron selbst (vgl. ABD 464). Das Setting der Szene ist bezeichnend: »C’était l’heure attendrie du crépuscule, cette minute de discrète volupté, dans les appartements parisiens, entre la clarté de la rue qui se meurt et les lampes qu’on allume encore à l’office.« (ABD  462)XV In dieser Zwischenzeit 69 | Vgl. Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 287, sowie Beizer: Au (delà du) Bonheur des dames, S. 398.

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der Dämmerung inszeniert sich Mouret als heimlicher Liebhaber der Frauen,70 während er, umringt von ihnen, mit »une voix d’acteur« (ebd.) von den Seiden seines Warenhauses erzählt: Elles ne l’interrompaient plus, elles resserraient encore leur cercle, la bouche entr’ouverte par un vague sourire, le visage rapproché et tendu, comme dans un élancement de tout leur être vers le tentateur. […] ›Ainsi, je suis bien certain que des gens à elle vont nous enlever notre Paris-Bonheur. Pourquoi voulez-vous qu’elle aille payer cette soie en fabrique plus cher qu’elle ne la paiera chez nous?… Ma parole d’honneur! nous la donnons à perte.‹ Ce fut le dernier coup porté à ces dames. Cette idée d’avoir de la marchandise à perte fouettait en elles l’âpreté de la femme, dont la jouissance d’acheteuse est doublée, quand elle croit voler le marchand. Il les savait incapables de résister au bon marché. (ABD 464f.) XVI

Gehört der letzte Schlag (›coup‹), den er gegen die Damen führt, in den Bildbereich sexueller Metaphern, der die Unterwerfung der Frauen anzeigen soll, so ist auffällig, dass das Vergnügen der Damen einer ähnlichen Quelle entspringt wie jenes Mourets: Es geht darum, den jeweils anderen ›auszurauben‹ und somit um nichts weniger als einen Machtkampf, der sich anhand des Konsums entspinnt und nicht zuletzt auch ein Kampf um Identitäten ist. Von den Erzählungen Mourets und ihrem kurz vor dem Besuch im Salon Desforges getätigten Einkauf im Bonheur des Dames erregt, kann Madame Marty nicht umhin, die von ihr erworbenen Waren in diesem Kreis vorzuführen. Aus einem roten Lederbeutel holt sie, nach anfänglichem Zögern, immer mehr ihrer Einkäufe hervor. Der Beutel scheint wie ein magisches Geldsäcklein unerschöpflich zu sein: »Et, dès lors, le sac devint inépuisable. Elle rougissait de plaisir, une pudeur de femme qui se déshabille la rendait charmante et embarrassée, à chaque article nouveau qu’elle sortait.« (ABD  466)XVII Der Scham und Erregung Madame Martys entsprechen die Schreie des Entzückens, die den übrigen Damen bei Anblick und Liebkosung der Waren entfahren. Der Akt des Kaufens und die Vorführung der gekauften Waren werden hier also nicht nur mit dem Auskleiden und damit der Vorbereitung für die sexuelle Interaktion an sich,71 sondern neuerlich mit dem Liebesakt selbst analogisiert, an dessen Ende die Damen in ein seliges Seufzen versinken, bevor das vom Diener hereingebrachte künstliche Licht die wollüstige Dämmerungsstimmung bricht: ›Oh! monsieur Mouret! monsieur Mouret!‹ balbutiaient des voix chuchotantes et pâmées, au fond des ténèbres du salon. Les blancheurs mourantes du ciel s’éteignaient 70 | Vgl. Lehnert: Nachwort, S. 568. 71 | Vgl. Thompson: Naturalism redressed, S. 83.

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt dans les cuivres des meubles. Seules, les dentelles gardaient un reflet de neige sur les genoux sombres de ces dames, dont le groupe confus semblait mettre autour du jeune homme de vagues agenouillements de dévotes. Une dernière clarté luisait au flanc de la théière, une lueur courte et vive de veilleuse, qui aurait brûlé dans une alcôve attiédie par le parfum du thé. Mais, tout d’un coup, le domestique entra avec deux lampes, et le charme fut rompu. Le salon s’éveilla, clair et gai. (ABD 468) XVIII

Die Inszenierung erinnert an ein religiöses Ritual, dessen Zeremonienmeister Mouret ist. Doch auch wenn Mouret »leur maître« (ebd.) bleibt, so scheint sich das Begehren unterschwellig anhand der Waren zu verselbständigen: »D’ailleurs, ces dames n’avaient pas lâché les dentelles. Elles s’en grisaient. Les pièces se déroulaient, allaient et revenaient de l’une à l’autre, les rapprochant encore, les liant de fils légers. C’était, sur leurs genoux, la caresse d’un tissu miraculeux de finesse, où leurs mains coupables s’attardaient.« (ABD 467f.)XIX Mouret ist zwar insofern der heimliche Liebhaber der Frauen, als dass er ihnen durch seine Erzählungen und sein Warenhaus Aufmerksamkeit, Verständnis und Aufregung verschafft, doch die innige Liebkosung und das Verweilen im Kontakt mit dem Stoff weisen darauf hin, dass das primäre Liebesobjekt die Waren sind: »Keine sexuelle Beziehung wird gelebt, keine ist nötig, denn er [Mouret, AO] ist ein Ersatz, der wiederum auf einen Ersatz verweist: auf die Ersatzbefriedigung durch die Waren.« 72 Diese Ersatzbefriedigung wird dabei mit einem, wie Hannah Thompson argumentiert, transgressiven Potential versehen. Wenn Madame de Boves – die von ihrem Mann wegen dessen Liebschaften finanziell kurz gehalten wird (vgl. ABD 452f.) – ihre Finger in die verschiedenen Spitzenstoffe eintaucht und dabei vor Erregung und Vergnügen erzittert (vgl. ABD 493), dann weist dieser Akt der Intimität mit der Ware, der immer wieder beschrieben wird, das Potential einer Homo- und Autoerotik auf,73 die sich unabhängig vom männlichen Gegenpart und Patron macht: »[F]emale desiring economy […] constantly threatens to function independently of the patriarchal economy of Mouret’s grand magasin.« 74 Der Diebstahl von Madame de Boves, die es nicht nötig hat, zu stehlen, ist dem Ziel Mourets, durch und mit den Frauen Geld zu verdienen, entgegengesetzt. Dem Diebstahl kommt somit ein subversives Potential zu, wie es einst die romantische Liebe innehatte: »elle volait pour voler, comme on aime pour

72 | Lehnert: Nachwort, S. 568. Dies wird durch die Bemerkung unterstrichen, dass Madame Marty niemals einem Liebhaber erliegen würde, jedoch bei den Waren im Bonheur des Dames, insbesondere den Stoffen (»le moindre bout de chiffon«), sofort schwach wird (vgl. ABD 447). 73 | Vgl. Thompson: Naturalism redressed, S. 84, 90f. 74 | Ebd., S. 85, Herv. i. O.

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aimer« 75 (ABD 793).XX Diese potentielle Bedrohung eines unabhängigen, weiblichen Begehrens suchen die Männer durch die Pathologisierung anhand der Kleptomanie-Debatte 76 zu sanktionieren und einzuhegen. Die potentielle Autonomie weiblichen Begehrens richtet sich daher nicht nur gegen den kapitalistischen Mechanismus des Warenhauses, sondern ebenso gegen die männlichen Kontroll- und Beschränkungsversuche.77 Der weibliche Widerstand hiergegen artikuliert sich schließlich im ›Spritzen‹ der Feder, mit der Madame de Boves ihre Schulderklärung unterschreibt: Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine eher plumpe Ejakulationsmetapher, wie die deutsche Übersetzung nahelegen könnte;78 vielmehr bedeutet ›cracher‹ ›ausspucken‹ beziehungsweise ›ausspeien‹ und verweist damit auf eine umgekehrte, rekursive Form des Konsums – eine, wenn auch trotzige, Widerstandserklärung. Die Identitätsangebote des Warenhauses an die Frauen sind also durchweg ambivalent: Bietet die Ware auf der Habenseite optisch wie haptisch ein transgressives Potential, das es den Frauen erlaubt, aus bisherigen Rollen auszubrechen, so steht die Kommodifizierung und die Abhängigkeit von einer patriarchalen Bezugsinstanz auf der Sollseite der Rechnung: »Women’s seduction comes to signal both an affirmation and a rejection of the patriarchal power of the Grand Seducteur«.79 Das Warenhaus in seiner Pluralität suggeriert damit, dass auch die Identitäten von Verkäufern wie Kunden nicht arretiert werden können. Sieht man das Warenhaus als Figur des Romans, so Eleanor Salotto, folgt daraus, dass Identitäten »continually move[s] on a chain of meaning. To give the store the characteristics of character is to suggest that character in consumer culture becomes a text that can be changed. […] In other words, identity is a series of signs that can never be reduced to one meaning.« 80 Denise Baudu stellt in gewisser Weise die Ausnahme der bisherigen Befunde dar: »[C]ontrairement aux mannequins, Denise, tout simplement, ne perd pas la tête.«81 Vor dem Hintergrund des Changierens von Identitäten im Warenhaus entfalten 75 | Vgl. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn [Original: Consuming the Romantic Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, 1997]. Frankfurt a.M. 2007, S. 35. 76 | Vgl. Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 274-299. 77 | Vgl. Thompson: Naturalism redressed, S. 93. 78 | Vgl. PdD 545. Im Original: »La plume crachait;« (ABD 794). 79 | Thompson: Naturalism redressed, S. 74. 80 | Salotto: Shopping for an I, S. 453f. 81 | Laura C. Hartog: La Machine, l’argent et l’eau de rose: le vrai ›bonheur des dames‹ zolien. In: Anna Gural-Migdal (Hg.): L’écriture du féminin chez Zola et dans la fiction naturaliste. Writing the Feminine in Zola and Naturalist Fiction. Berlin u.a. 2003, S. 423436, S. 433.

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sich mehrere Liebesgeschichten im Roman, mit jener von Denise und Mouret als Zentrum. Diese Geschichten verhandeln das Verhältnis von Liebe und Konsum auf unterschiedliche Weise, suggerierend, dass Liebe, den Konsum ergänzend oder ihm widerstehend, Identitäten sicherstellen kann.

1.3 Bedingungen und Möglichkeiten: Liebe als Ménage à trois Der Kontrast und Machtkampf zwischen den alteingesessenen Geschäften und dem neuen Warenhaus sind in der Forschungsliteratur bereits ausgiebig behandelt worden.82 Bisher ist jedoch noch nicht ins Blickfeld geraten, dass diese Geschäftsmodelle auch mit Liebesmodellen analogisiert und kurzgeschlossen werden. Innerhalb und außerhalb des Warenhauses werden Liebesbeziehungen und Eheverbindungen jeglicher Couleur präsentiert. Auslöser der gesamten Narration ist eine der zahlreichen Liebschaften von Denise’ Bruder Jean: Dies ist der Grund, warum sie überhaupt nach Paris kommt. Die Liebschaften ihres Bruders sorgen im Leben Denise’ immer wieder für finanzielle und moralische Unruhe, die erst ganz am Ende beinahe beiläufig still gestellt wird, wenn kurz davon berichtet wird, dass er nun verheiratet sei (vgl. ABD 775). Die Familienführung der Lhommes, ein telling name, orientiert sich an einem männlichen, adligen Liebesmodell, wonach sich jeder auf seine Weise, unabhängig vom Ehepartner, zu vergnügen weiß. Und auch Octave Mouret frönt zuweilen der Libertinage und dem Exzess – seine Affären sind schließlich Reklame für sein Warenhaus (vgl. ABD 419). Zu der Beziehung zwischen Denise und Octave gibt es vor allem zwei Kontrastbeziehungen: Jene zwischen Robineau und seiner Frau sowie die zwischen Geneviève und Colomban. Nachdem Robineau aufgrund der Intrige von Hutin und Favier im Bonheur des Dames gekündigt wurde, eröffnet er mit dem Geld seiner Frau ein eigenes Seidenwarengeschäft. Er ähnelt in dieser Hinsicht Octave Mouret, der es ebenfalls dem Vermögen seiner ersten Frau, Madame Hédouin, verdankt, im Besitz des Warenhauses zu sein. Anders als Mouret allerdings geht Robineaus Geschäft innerhalb kurzer Zeit zugrunde, woraufhin dieser einen Selbstmordversuch unternimmt. Seine Frau berichtet: »C’est pour moi qu’il a voulu mourir. Il me disait sans cesse: ›Je t’ai volée, l’argent venait de toi. […]‹ Il finissait par voir des choses qui me faisaient peur […], moi qu’il aimait si fort, qu’il désirait riche, heureuse…« (ABD 753)XXI Auffällig ist die Verwendung des Verbs ›voler‹, das einen Akt illegitimer Aneignung beschreibt: Damit werden auch die Beziehung zwischen Mouret und seinen Kundinnen sowie jene 82 | Vgl. z.B. William Gallois: Zola, S. 98f., sowie Uwe Lindemann: Das Warenhaus als Metapher für Gesellschaft, S. 35-53. Lindemann legt dar, dass die Zerstörung des Einzelhandels durch Warenhäuser ein Mythos ist, der durch Zolas Roman zuallererst geboren und verbreitet wurde.

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zwischen den Kundinnen und den Verkäufern beschrieben. Robineau begehrt nicht nur seine Frau, er möchte sie reich – sprich: des Konsums mächtig – und in dieser Konsequenz glücklich sehen, denn nur darin kann, so die Suggestion des Romantitels, das ›Bonheur‹ der Frau liegen. Geschäftlich ruiniert, sieht er sich seiner Potenz beraubt. Seine Frau dagegen, die wohlgemerkt wohlhabend aufgewachsen ist, daher keine Armut kennt und einer gewissen Naivität nicht entbehrt (vgl. ABD 573), beruft sich auf das Ideal romantischer Liebe: »Va, ça m’est égal, que nous soyons ruinés. Pourvu qu’on soit ensemble, on n’est pas malheureux…« (ABD 753)XXII Sie ist froh, das Geschäft, das sie nur als Belastung sieht, los zu sein (vgl. ABD 754), und verlässt mit ihrem Mann Paris. Sie verschwinden damit auch aus der Narration, die nahelegt, dass die beiden ohne Geschäft, nur sich selbst genügend, glücklich würden. Sie sind das einzige Paar, dessen Bruch mit dem Konsum und seiner Gesellschaft suggeriert wird. Einen völlig anderen Ausgang nimmt die Liebesgeschichte von Colomban, dem ersten Kommis im Geschäft von Denise’ Onkel Baudu, und dessen Tochter Geneviève. Wie es seit Generationen Brauch ist, erbt derjenige, der die Tochter des Besitzers heiratet, auch das Geschäft Vieil Elbeuf. Liebe und Geschäft gehen hier Hand in Hand: »Depuis le jour de son entrée, le jeune homme comptait sur ce mariage. Il avait passé par les différentes étapes, petit commis, vendeur appointé, admis enfin aux confidences et aux plaisirs de la famille, le tout patiemment, menant une vie d’horloge, regardant Geneviève comme une affaire excellente et honnête.« (ABD  400)XXIII Die Ehe erscheint hier vor allem als finanzielle Transaktion,83 die kein Begehren braucht: »La certitude de l’avoir l’empêchait de la désirer.« (Ebd.)XXIV Von Liebe ist nur seitens Geneviève die Rede, die auf gegenseitiges Verständnis setzt: »Il faut s’entendre, ensuite, ça va tout seul.« (ABD  401)XXV Mit dem langsamen Niedergang des Geschäfts von Baudu, der die Hochzeit immer weiter hinauszögert, nimmt auch das Interesse Colombans an seiner künftigen Ehefrau ab. Er ist, wie Denise, fasziniert vom Bonheur des Dames und verliebt sich, aus der Ferne des kleinen Geschäfts gegenüber des Warenhauses, in die Verkäuferin Clara, die wiederum eine Zeit lang eine der Geliebten Mourets ist. Während sich Colomban nach Clara verzehrt, verzehrt Geneviève sich regelrecht selbst: »C’était la fin de la chair, un corps de fiancée usé dans l’attente, retourné à l’enfance grêle 83 | Laut Eva Illouz entspricht dies der vormodernen Konzeption der Ehe, vgl.: Konsum der Romantik, S. 36. Eine anschauliche Verdeutlichung dieses Verhältnisses von Ehe und Kapital liefert Antoine Furetières Le Roman bourgeois von 1666: Dort wird im »Tariffe ou évaluation des partis sortables pour faire facilement les mariages« tabellarisch die Äquivalenz von der Höhe der Mitgift seitens der Frau und dem zu erwartenden sozialen Status des potentiellen Ehemannes aufgelistet. (Vgl. Antoine Furetière: Le Roman Bourgeois, Ouvrage comique [1666]. Hg. v. Georges Mongrédien. Paris 1955, S. 20f.). Vgl. dazu: Werber: Liebe als Roman, S. 267-277.

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des premiers ans. Lentement, Geneviève se recouvrit, et elle répétait: ›Vous voyez bien, je ne suis plus une femme… Ce serait mal, de le vouloir encore.‹« (ABD  739)XXVI Von der femme fragile,84 deren schweres Haar das Gesicht zu verzehren scheint (vgl. ABD 737), regrediert Geneviève zur femme enfant und schließlich zur Leiche. Als sie beerdigt wird, ist nicht nur Colomban aus der Verlobung und damit dem alten Ehemodell erlöst, es wird auch das alte Handels- und Geschäftssystem zu Grabe getragen: Beide sind, so präsentiert es der Text, als Opfer von Mourets Schöpfung nicht mehr zeitgemäß, beiden wird daher eine Absage erteilt.

1.3.1 Liebe auf den ersten Blick: Denise, Mouret und das Warenhaus Im Unterschied zu den anderen Liebesgeschichten im Roman verbindet jene von Denise und Octave romantische Liebe und erfolgreichen Konsum. In der Forschungsliteratur existieren zwei Lesarten dieser Liebesgeschichte: entweder als ›amour moderne‹ oder als ›conte bleu‹.85 Erstere zeichnet sich durch die Gleichberechtigung von beiden in ihrer Beziehung, vor allem durch Denise’ Verweigerung der Verdinglichung aus, wodurch sie eine Position der Stärke gegenüber Octave einnimmt. Die zweite Lesart hebt die Unwahrscheinlichkeit einer Heirat über derartige Standesunterschiede hinweg sowie der Wandlung des Konsumsystems auf das gütige Wirken eines einzelnen Individuums hin hervor. Dazu gehören zudem das Ausspielen der Gegensätze ›gut‹ – Madame Hédouin als gute Fee – gegen ›böse‹ – die intriganten Verkäufer Hutin, Favier und Bourdoncle sowie Madame Desforges – und die Wandlungen der Protagonisten: Von der dörflichen Unschuld entwickelt sich Denise zu einer ehrenvollen Frau, die sich im männlich dominierten Konsumgeschäft durchgesetzt hat; Octave dagegen wird ›gezähmt‹, vom Frauenverführer und Herrscher über alle Frauen zum treu ergebenen Geliebten und Ehemann.86 Was bei diesen Betrachtungen völlig außer Acht bleibt, ist die Existenz eines dritten Protagonisten nicht nur im Roman, sondern auch in der Liebesgeschichte: des Warenhauses.87 Es ist der erste Ort in Paris, an dem Denise stehen bleibt und der sie derartig fasziniert, dass sie beinahe vergisst, weshalb sie überhaupt dort ist: »[E]t ce magasin, rencontré brusquement, cette maison 84 | Vgl. Ariane Thomalla: Die ›femme fragile‹. Ein literarischer Frauentypus der Jahrhundertwende. Düsseldorf 1972. 85 | Vgl. Becker, Landes: Au Bonheur des Dames. Profil d’un œuvre, S. 51-53. Vgl. auch Hartog: La Machine, S. 423-436. 86 | Vgl. Becker, Landes: Au Bonheur des Dames. Profil d’un œuvre, S. 52f. 87 | Vgl. zur Annahme von Objekten als Aktanten mit ›Agency‹, die daher auch Protagonisten in literarischen Texten werden können: Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford, New York 2005.

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énorme pour elle, lui gonflait le cœur, la retenait, émue, intéressée, oublieuse du reste.« (ABD 390)XXVII Ausgehend von dieser Beschreibung könnte man meinen, sie habe sich verliebt. Es ist daher bezeichnend, dass diese erste Begegnung mit dem Warenhaus jener mit Octave Mouret ähnelt.88 Denise hält sich am nächsten Tag wieder vor dem Warenhaus auf, da sie sich für eine Anstellung bewerben möchte; als sie sich den Blicken der ankommenden Verkäufer ausgesetzt sieht, beschließt sie, noch einen Spaziergang durch das Stadtviertel zu machen. In diesem Moment jedoch wird sie vom Objekt zum Subjekt eines (männlichen) Blicks, der etwas einfängt, das sie abermals stehen bleiben lässt: [E]lle se décidait à faire dans le quartier une promenade d’une demi-heure, lorsque la vue d’un jeune homme, qui arrivait rapidement par la rue Port-Mahon, l’arrêta une minute encore. Évidemment, ce devait être un chef de rayon, car tous les commis le saluaient. Il était grand, la peau blanche, la barbe soignée; et il avait des yeux couleur de vieil or, d’une douceur de velours, qu’il fixa un instant sur elle, au moment où il traversa la place. Déjà il entrait dans le magasin, indifférent, qu’elle restait immobile, toute retournée par ce regard, emplie d’une émotion singulière, où il y avait plus de malaise que de charme. Décidément, la peur la prenait, elle se mit à descendre lentement la rue Gaillon, puis la rue Saint-Roch, en attendant que le courage lui revînt. (ABD 417) X XVIII

Die besondere Mischung von Furcht und Erregung, die Denise nun nicht nur angesichts des Warenhauses, sondern auch in Anwesenheit Octave Mourets empfindet, bringt sie dermaßen durcheinander, dass sie erst einmal für eine Weile aus der Erzählung verschwindet. Octave Mouret wird jedoch nicht nur über diese Gefühlsempfindung Denise’ von Anfang an aufs Engste mit dem Warenhaus verknüpft, sondern auch anhand seiner Beschreibung als groß, weiß, gepflegt – was an das Warenhaus selbst erinnert – und des Vergleichs seiner Augen mit der Farbe alten Goldes und weichen Samts, mit denen die Kostbarkeiten zu assoziieren sind, die im Warenhaus verkauft werden. Aus der Liebesbeziehung von Denise und Mouret wird durch die enge Verbindung mit dem Warenhaus eine Art Ménage à trois.89 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Szene im Geschäft Vinçards, in der Robineau ihr vorschlägt, sich im Bonheur des Dames zu bewerben, zweideutig lesen: »Denise était devenue toute rouge: entrer dans ce grand magasin, jamais 88 | Vgl. Lehnert: Nachwort, S. 569: »Auf diese Weise wird das Warenhaus personifiziert, wird es zum eigentlichen Liebespartner Denises. Dass sie sich in Mouret verliebt, ist da nur konsequent, denn er ist von seiner Schöpfung kaum zu trennen – und so klingt auch die Beschreibung ihrer ersten Begegnung mit Mouret einige Zeit später ganz ähnlich wie die ihrer ersten Begegnung mit dem ›Paradies‹.« 89 | Vgl. ebd. Lehnert vermerkt, dass das Warenhaus der ›wahre Liebespartner‹ Denise’ sei, führt dies dann jedoch nicht weiter aus.

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elle n’oserait! et l’idée d’y être la comblait d’orgueil.« (ABD 405)XXIX Denise errötet nicht nur aufgrund ihrer Schüchternheit – sich Zugang zum Warenhaus und damit zum Geliebten zu verschaffen, kommt einer Eroberung gleich, die sich jedoch von jener quantitativen Eroberung der anderen Frauen im Warenhaus signifikant unterscheidet. Sprechend ist die Formulierung wenige Absätze zuvor: »Denise, depuis le matin, subissait la tentation. Ce magasin, si vaste pour elle, où elle voyait entrer en une heure plus de monde qu’il n’en venait chez Cornaille en six mois, l’étourdissait et l’attirait; et il y avait, dans son désir d’y pénétrer, une peur vague qui achevait de la séduire.«90 (ABD 402f.)XXX In diesem Kontext wird auch die merkwürdig anmutende Formulierung verständlich, dass es sie mit »orgueil«, also ›Stolz‹, erfüllen würde, im Bonheur des Dames angestellt zu sein: Mit ihrem Begehren, dort eindringen zu wollen, nimmt Denise abermals eine männliche Position ein,91 denn damit dringt sie nicht nur in das Warenhaus, sondern zugleich in Octave Mourets Macht- und Hoheitsgebiet, in sein Werk und letztendlich in ihn ein, definiert das Warenhaus doch Octave Mourets Identität. Diese Verklammerung von Warenhaus und Mouret ist so stark, dass sie bereits funktioniert, als Denise noch gar nicht weiß, dass er nicht nur ein Rayonchef, sondern der Erschaffer und Besitzer des Warenhauses ist. Die Melange aus Furcht und Erregung – eine Art Angstlust – und dem Wunsch nach Eroberung wird immer wieder seitens Denise im Hinblick auf das Warenhaus als auch auf Octave Mouret beschrieben: Es ist diese Gefühlsmischung, die Denise’ Liebe für beide kennzeichnet. Am Ende des 13. Kapitels, das dem Untergang der alteingesessenen Geschäfte gewidmet ist, wird der Zusammenhang schließlich explizit gemacht: »Mouret avait inventé cette mécanique à écraser le monde, dont le fonctionnement brutal l’indignait; il avait semé le quartier de ruines, dépouillé les uns, tué les autres; et elle l’aimait quand même pour la grandeur de son œuvre, elle l’aimait davantage à chacun des excès de son pouvoir, malgré le flot de larmes qui la soulevait, devant la misère sacrée des vaincus.«92 (ABD 761)XXXI Denise’ Liebe zum Warenhaus und zu Mouret ist deshalb eine romantische Liebe, weil sie nach dem Prinzip der Komplettberücksichtigung funktioniert: Nach Luhmann verlangt romantische Liebe den anderen in seiner Ganzheit, unter beständigem Einbezug seines Weltbezugs zu lieben – man hat den anderen nicht nur obwohl, sondern gerade aufgrund seiner Idiosynkrasien, die dessen Einzigartigkeit mitbestimmen, zu 90 | Herv. hinzugefügt. 91 | Die britische Serie The Paradise (BBC 2012-13), die sehr lose auf Zolas Roman beruht, bringt am Ende der ersten Episode der ersten Staffel das Begehren Denise’ auf den Punkt: Als Pauline ihr unterstellt: »You are … in love with him [Moray, AO]«, antwortet Denise selbstbewusst: »Pauline, I don’t want to marry Moray. I want to be him.« (57:15, Herv. hinzugefügt) 92 | Herv. hinzugefügt.

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lieben. Und Denise liebt das Warenhaus und Mouret, obwohl (›quand même‹) und gerade weil (›davantage‹) sie Gewalt ausüben und ihr damit das Gefühl der Angstlust, mithin die Erfahrung des Erhabenen93 ermöglichen. Ähnlich einer verbotenen Liebesbeziehung wächst Denise’ Liebe zum Warenhaus langsam, gegen Widerstände, stetig. Das zeigt sich insbesondere in der Auseinandersetzung mit Robineau in der Zeit, in der sie bei ihm und nicht mehr im Warenhaus angestellt ist. Als Robineau über das Warenhaus schimpft, schweigt Denise zunächst: »Elle était secrètement pour des grands magasins, dans son amour instinctif de la logique et de la vie.« (ABD 574)XXXII Ihre instinktive Zuneigung gilt der Rationalität, dem ›Folgerichtigen und Lebensvollen‹ (PdD 251), sie wird damit in direkte Opposition zu Frau Robineau gestellt, die sich für die alte Geschäftsform entscheidet, weil ihr Mann diese vertritt. Denise hingegen fällt ihr Urteil unabhängig von einer männlichen Meinung. Daher kann sie schließlich auch nicht umhin, das Warenhaus zu verteidigen, womit sie ihre Leidenschaft preisgibt: »Elle restait surprise elle-même de la vivacité de sa défense. Qu’avait-elle au cœur, pour qu’une flamme pareille lui fût montée dans la poitrine?« (ABD 574)XXXIII Bezeichnenderweise ist es der Anblick des trotz drohendem finanziellen Ruins glücklich verliebten Paares Robineau, der Denise diese Leidenschaft bewusst werden lässt: »Ce fut là qu’elle acheva de comprendre la puissance du nouveau commerce et de se passionner pour cette force qui transformait Paris.« (ABD 579)XXXIV Es ist schließlich nicht die Leidenschaft für einen Mann, sondern jene für das Warenhaus, verbunden mit einer rationalen Reife, die sie vom Mädchen zur Frau werden lässt: »Ses idées mûrissaient, une grâce de femme se dégageait, en elle de l’enfant sauvage débarquée de Valognes.« (Ebd.)XXXV So wenig Denise zu Anfang weiß, dass Mouret der Besitzer des Warenhauses ist, so wenig weiß Mouret von der Qualität der Ideen, die in Denise reifen und die sein Warenhaus verändern, wenn nicht gar revolutionieren werden. Als er das erste Mal auf Denise trifft, steht er noch unter dem Eindruck ihrer Überwältigung angesichts seiner Dekoration im Warenhaus: »[Il] était flatté au fond de saisissement de cette fille pauvre, de même qu’une marquise est remuée par le désir brutal d’un charretier qui passe.« (ABD 435)XXXVI Wie Denise ihresgleichen gegenüber nicht offen zugeben kann, dass sie eine Passion für das Warenhaus hegt, so darf sich auch Mouret bei ihrer Vorstellung im Seidenrayon eine gewisse Faszination für Denise nicht anmerken lassen. Nach seiner Aussage »Le fait est qu’elle n’a rien de beau« (ABD 439)XXXVII entfährt es ihm jedoch kurz darauf, »Mais elle est jolie!« (ABD 441)XXXVIII, als Denise aufgrund einer seiner Fragen lachen muss. Seine Aussage, er kenne den Laden, in dem sie zuvor gearbeitet hat, und wisse um dessen Qualität (vgl. ABD 440), führt 93 | Vgl. Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful [1757]. Reprint, Oxford 1998.

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dazu, dass Denise eingestellt wird. Nichtsdestotrotz betrachtet er sie als Teil seines Eigentums, des Warenhauses, so dass sie wie eine Ware optisch ansprechend präsentiert werden muss. Nachdem Denise vor Mouret und Madame Desforges von den anderen Verkäuferinnen der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, zitiert er sie in sein Büro. Es ist das erste Mal, dass die beiden allein in einem Raum sind, und als er ihr die Haare zurecht streicht, kommt es unmittelbar zu körperlichem Kontakt – ganz so wie die Frauen, die das Bonheur des Dames stürmen, alle Waren anfassen wollen und können: »Quand il la vit si tremblante sous ses mains qui lui effleuraient la nuque, il eut regret de ce mouvement d’obligeance, car il craignait surtout de perdre son autorité.« (ABD 503) XXXIX Denise empfindet die bereits beschriebene Mischung aus Anziehung und Angst, während Mouret sicherheitshalber wieder den Schreibtisch zwischen sich und sie bringt. Offensichtlich traut er sich selbst nicht, dem unter der Oberfläche schlummerndem Potential, einmal eine ›femme troublante‹ (vgl. ebd.) zu werden, widerstehen zu können. Denise geht aus der Situation merkwürdig gestärkt hervor – merkwürdig deshalb, weil ihr ab diesem Tag »grand courage« (ABD 504) attestiert wird, ohne dass der Text dies weiter begründet. Der Grund liegt also implizit in dem unmittelbaren vorherigen Geschehen: der Anerkennung durch Mouret, der Vertrauen in sie und ihr Können hat. Am Ende desselben Kapitels kommt es zu einer Begegnung zwischen Denise und Octave im nächtlichen Treppenhaus, der Denise zunächst um jeden Preis entgehen möchte, indem sie die Flucht ins Warenhaus ergreift. Am Ende des überstürzten und einer gewissen Komik nicht entbehrenden Umwegs trifft sie jedoch direkt auf Octave Mouret (vgl. ABD 531-534). Der Text veranschaulicht damit die zwingende Verbindung zwischen Mouret und dem Warenhaus: Der Umweg über das Warenhaus nützt nichts, denn alle seine Wege führen für Denise nur zu seinem Besitzer. Die Suggestion des Sonntagsausflugs, dass Denise einen Liebhaber habe, ist ihr ebenso peinlich wie Mouret unangenehm: »[I]l lui sembla qu’un oiseau favori, dont il jouait, venait de le piquer au sang.« (ABD 534)XXXX Das Bild des aufs Blut pickenden Vogels unterstreicht Mourets Auffassung von Denise als Teil seines Eigentums, das nach seinen Wünschen zu funktionieren hat, und könnte zudem eine gewisse Eifersucht implizieren.94  

94 | Diese Passage lässt sich als Referenz auf die berühmte Balkonszene im zweiten Akt von Shakespeares Romeo and Juliet lesen: Juliet vergleicht Romeo mit einem zahmen Vogel eines verzogenen Kindes, den sie durch ein seidenes Band an sich bindet, jedoch durch zu viel Liebe und Streicheln umbringen würde. Das Bild des Vogels, dem durch Liebe die Freiheit genommen wird, impliziert die Inbesitznahme des oder der Geliebten sowie die gar möglichen letalen Folgen (vgl. William Shakespeare: Romeo and Juliet [1597]. In: Ders.: The Complete Works. Hg. v. Stanley Wells, Gary Taylor. 2. Aufl. Oxford 2005, S. 369-400, S. 380). Bei Zola verkehrt sich das Geschlechterverhältnis:

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Zufälligkeit wird schließlich zum bestimmenden Muster der Begegnungen der beiden. Auch beim nächsten Mal versucht Denise zu fliehen und wieder führt dies erst recht dazu, dass Mouret sie bemerkt und mit denselben Worten anspricht: »C’est vous, mademoiselle« (ABD  582)XXXXI. Das Treffen steht dennoch unter veränderten Vorzeichen: Denise ist inzwischen im Warenhaus zu Unrecht durch die Intrige Bourdoncles ohne vorherige Rücksprache mit Mouret gekündigt worden. Er möchte dies nun wieder gutmachen, unter anderem deshalb, weil Denise im Moment nicht mehr ihm ›gehört‹. Das Setting ähnelt jener Verführungsszene im Salon von Madame Desforges: Es ist Dämmerungszeit im Jardin des Tuileries, als sich ihre Wege kreuzen; zudem beschwört der Garten als literarischer Topos unmittelbar den Kontext von Paradies und Verführung herauf. Auch wenn Mouret derjenige ist, der die Begegnung forciert, indem er Denise nicht entkommen lässt, sie gegen ihre Intention beim Spaziergang im Dunkel der Kastanien begleitet und zudem Madame Desforges warten lässt, so gibt der Text gleich zu Beginn preis, was sich hinter Mourets Geste patriarchalen Beschützertums verbirgt: »sa gêne« (ABD  582) – Verlegenheit. Er bietet ihr an, ins Bonheur des Dames zurückzukehren, was Denise ablehnt, bevor er ausreden kann. Nichtsdestotrotz lässt sie ihn wissen, dass sie im Kampf der alten gegen die neuen Geschäfte auf der Seite der Warenhäuser steht – also auf seiner Seite. Mouret ist davon entzückt: »Lui, ravi, l’écoutait avec surprise. Il se tournait, tâchait de distinguer ses traits, dans la nuit grandissante. Elle semblait toujours la même, vêtue d’une robe simple, le visage doux; mais, de cet effacement modeste, montait un parfum pénétrant dont il subissait la puissance.« (ABD 583)XXXXII Mit dem Bekenntnis der Liebe zum Warenhaus verführt Denise Octave, ohne dies zu wissen oder zu beabsichtigen. Und tatsächlich ist dies der Moment, den Mouret später als Begründungsszene seiner Liebe für sie anführt – gemäß des Latenzschutzes romantischer Liebe schließt er jedoch nicht aus, sie seit der ersten Begegnung geliebt zu haben (vgl. ABD 705). Es zeichnet sich hier eine Ambivalenz Denise’ ab, die in der Folge entscheidend für ihre Charakterzeichnung wird: Unter der unschuldigen, vernünftigen Oberfläche verbirgt sich die Macht der Verführung und Leidenschaft. Bezeichnend ist, dass das Verb ›pénétrer‹ wiederkehrt. Hier vollzieht sich, was vorher nur angedeutet wurde: Denise hat sich nicht nur Zugang zum Warenhaus verschafft, sondern ist nun auch dabei, Mouret zu durchdringen. Das Warenhaus steht ihr folgerichtig fortan immer offen (vgl. ABD  585). Im Anschluss wird der Zusammenhang zwischen Denise’ Liebe Nicht Mouret, sondern Denise ist der Vogel, der sich durch das Picken gegen die Gefangennahme wehrt, während Mouret die Position des Kindes einnimmt – eine Charakterisierung, die bei Zola gegen Ende des Romans wiederkehrt (vgl. ABD 674, ABD 774). Will der Lieblingsvogel, also Denise, nicht mehr mit ihm, sondern mit anderen spielen, verletzt ihn das im physischen wie übertragenen Sinn: Mouret ist eifersüchtig.

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt

zum Warenhaus und ihrer Frauwerdung durch Mouret affirmiert: »Sans doute, cette petite s’était faite à l’air de Paris, la voilà qui devenait femme, et elle était troublante, si raisonnable, avec ses beaux cheveux, lourds de tendresse.« (ABD 584)XXXXIII Dies führt dazu, dass Mouret sie nun erstmals als Frau, zudem als aufregend und zärtlich wahrnimmt. Als sie aus dem Dunkel der Bäume heraustreten, ist es »comme un brusque réveil« (ABD 584)XXXXIV. Auch dies lässt die Begegnung im Jardin des Tuileries als Spiegelszene zu jener im Salon Desforges erscheinen: Mit dem Unterschied, dass Octave Mouret hier zum ersten Mal der Verführte, nicht der Verführer ist. So scheint es denn auch konsequent, dass Octave Mourets Leidenschaft für Denise beim nächsten Saisonverkauf mit jener Passion seiner Kundinnen verglichen wird: Justement, ce jour-là, Octave semblait perdre de son bel équilibre; lui qui, d’habitude, soufflait la fièvre à ses clientes, avec la grâce tranquille d’un opérateur, il était comme pris dans la crise de passion dont peu à peu les magasins brûlaient. Depuis qu’il avait vu Denise et Mme Desforges monter le grand escalier, il parlait plus haute, gesticulait sans le vouloir; et, tout en affectant de ne pas tourner la tête vers elles, il s’animait ainsi davantage, à mesure qu’il les sentait approcher. Son visage se colorait, ses yeux avaient un peu du ravissement éperdu dont vacillaient à la longue les yeux des acheteuses. (ABD 632) XXXXV

Octave Mouret wird hier zum ersten Mal nur beim Vornamen genannt, was eine gewisse Intimität zwischen Leser und Figur herstellt und zudem den Status des Warenhauschefs vergessen macht. Dies lässt denn auch Raum für Denise, deren Aufstieg mit ihrer Wiedereinstellung im Bonheur des Dames unaufhaltsam seinen Lauf nimmt und hier über das Bild des Treppensteigens bereits angedeutet wird: Kurz darauf wird sie von Mouret zur »seconde« befördert, also zur zweiten Abteilungsvorsteherin, weil sie »la plus capable, la plus serieuse« (ABD 644)XXXXVI ist. Denise’ Reaktion ist sprechend: »Alors, elle rougit. C’était, en elle, un bonheur et un embarras délicieux, où son premier effroi se fondait.« (Ebd.)XXXXVII Es dürfte kein Zufall sein, dass hier von ›bonheur‹ die Rede ist – geht es im Roman doch um das ›bonheur‹ der Damen. Der Begriff des ›bonheur‹, der in der deutschen und englischen Romanübersetzung mit ›Paradies‹ übertragen wird, meint im Französischen jedoch etwas anderes als einen jenseitigen paradiesischen Zustand: ›bonheur‹ verspricht ein Dasein in diesseitiger, völliger Zufriedenheit.95 Es wird deutlich, dass dieses Glück für Denise nicht, wie der Name des Warenhauses suggeriert, im Konsum unzäh95 | »État de la conscience pleinement satisfaite« lautet die Definition im Petit Robert. Der Begriff ist deutlich vom französischen ›paradis‹ unterschieden: Meint letzteres den jenseitigen Zustand nach dem Tod, so bedeutet ›bonheur‹ einen gegenwärtigen, real zu

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liger Dinge liegt, sondern im Warenhaus selbst und, damit verbunden, bei Octave Mouret. Hiermit erklären sich auch ihr Erröten und die schon bekannte Gefühlsmischung aus Erschrecken und Angst sowie Glück und Faszination. Zudem wird noch einmal seitens Mouret auf die Ambivalenz Denise’ verwiesen, mit Wiederkehr der Penetrationsmetapher: »Son insignifiance chétive d’autrefois devenait un charme d’une discrétion pénetrante.« (ABD 645)XXXXVIII Als sie dazu ansetzt, ihm ihre Freude über die Beförderung mitzuteilen, auch wenn sie nicht weiß, wie sie es sagen soll – weil Liebe inkommunikabel ist96 –, wird sie unterbrochen durch die Ankunft zweier riesiger Geldsäcke: die bis dato höchsten Tageseinnahmen des Bonheur des Dames. Mouret besteht darauf, dass die Säcke auf seinem Schreibtisch abgelegt werden: Sie sind jedoch derart prall gefüllt, dass sie dabei aufplatzen.97 Das Geld, das sich auf den Schreibtisch Mourets ergießt, bedient neuerlich die sexuelle Metaphorik, mit der der Konsum beschrieben wird, und stellt damit den Höhepunkt des dionysischen Treibens im Warenhaus dar (vgl. ABD 645). Mouret steht angesichts des Geldergusses in Faszination und Erleichterung regungslos da, bis er sich Denise’ Anwesenheit erinnert und sie nötigt, daran teilzuhaben: »Alors, il se remit à sourire, il la força de s’avancer, finit par dire qu’il lui donnerait ce qu’elle pourrait prendre dans une poignée; et il y avait un marché d’amour, au fond de sa plaisanterie. ›Tenez! dans la sacoche, je parie pour moins de mille francs, votre main est si petite!‹« (ABD  645f.)IL Diese Geste des Geldschenkens, fast schon Aufdrängens, interpretiert Denise als Zuneigung: »Il l’aimait donc? Brusquement, elle comprenait, elle sentait la flamme croissante du coup de désir dont il l’enveloppait, depuis qu’elle était de retour aux confections.« (ABD  646)L Geld, Gabe und Liebe sowie Begehren werden hier unmittelbar miteinander verschränkt, wenn Denise Mourets ›plaisanterie‹, die im Grunde ein ›marché d’amour‹, ein ›Liebeshandel‹ (PdD  347), ist, so deutet, dass sie sich die Frage nach seiner Liebe stellt. Wieder ist Denise angezogen, erregt, und gleichzeitig abgeschreckt: »Pourquoi la blessait-il avec tout cet argent, lorsqu’elle débordait de gratitude et qu’il l’eût fait défaillir d’une seule parole amie?« (ABD 646)LI Was hier und im Folgenden aufeinander trifft, sind zwei verschiedene Liebesprogramme: Octave Mouret frönt einer Art bourgeoiser Libertinage, er weiß eine Frau, zumal eine seiner Verkäuferinnen, nur dadurch erreichenden Zustand der Glückseligkeit, dem antiken Konzept der Eudaimonie nicht unähnlich. 96 | Vgl. Kap. II/2.1. 97 | Dieses Bild der Copia verweist zugleich auch auf das Textverfahren, denn auch Zolas Roman quillt über in seiner Beschreibung des Treibens im Warenhaus. Vgl. dazu auch Ingo Stöckmann: Textverfahren der Copia um 1890. In: Moritz Baßler (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin, Boston 2013, S. 319-334, S. 332.

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt

zu verführen, indem er sie sich mit Geschenken und Geld zu Willen macht. Seine Affären erachtet er als Reklame für sein Warenhaus, Geschäfts- und Liebesspiele gehen Hand in Hand. Denise dagegen gehört zur Vertreterin eines romantischen Liebesprogrammes, das mit bloßem Geld nichts zu tun haben möchte – sie weicht von Mourets Geld-Schreibtisch zurück – und stattdessen die Vereinigung zweier Seelen anstrebt: Das eine, richtige Wort (›une seule parole‹) vermag nicht nur die Welt zu romantisieren, sondern auch Liebende zueinander finden zu lassen.98 Der weitere Verlauf der Liebesgeschichte besteht in der Verhandlung dieser beiden Liebesprogramme. Der Konflikt führt zur Progression, weil er topologisch dem Ort und strukturell dem Prinzip des Warenhauses verpflichtet ist: Mouret macht Denise Angebot um Angebot, die sie alle ablehnt – bis es zum Schluss doch noch zur Übereinkunft kommt.

1.3.2 Die Ménage à trois als Triumph von Liebe und Konsum Als Octave Denise per Brief zum Abendessen einlädt, weiß nicht nur das ganze Warenhaus, sondern auch Denise, was dies bedeutet: Sie soll seine Geliebte werden. Der Genuss des Abendessens wird mit dem sexuellen Akt in der Redensart der Verkäufer kurzgeschlossen: »Après le dîner, comme disaient les commis farceurs, il y avait le dessert.« (ABD 647)LII Die zweihundert Verkäuferinnen des Warenhauses stehen Mouret, so die Praxis, jederzeit zur Verfügung99 – entlohnt werden sie für ihre Dienste mit Geschenken und Beförderungen, ist Mouret doch »habitué à chiffrer ses tendresses« (ABD 453).  LIII Denise ist bereits befördert worden, weshalb jeder im Warenhaus davon ausgeht, dass sie längst die Geliebte des Chefs ist (vgl. ABD 649). Mourets Brief, schriftliches Zeugnis seines Interesses an ihr, lässt sie indes ihre eigene Neigung erkennen: [S]i elle tremblait encore quand il passait, elle savait maintenant que ce n’était pas de crainte; et son malaise d’autrefois, son ancienne peur ne pouvait être que l’ignorance 98 | Die Problematik des einen richtigen Wortes zieht sich durch die Liebesliteraturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert, so beispielsweise Goethes Werther, der mit ›Klopstock‹ das richtige Wort wählt, um sich bei Lotte ins Spiel zu bringen, oder auch Fridolin in Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1926), der das eine richtige Wort gerade nicht findet. Eichendorffs Wünschelrute (1835) könnte in diesem Zusammenhang anhand des ›Zauberwortes‹ nicht nur die Welt romantisieren, sondern auch Liebe wahrscheinlich machen. Vgl. dazu auch Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 28f. 99 | Vgl. ABD 650: Auf Denise’ Frage, ob Pauline Mourets Einladung annehmen würde, antwortet diese unverzüglich: »Sans doute, est-ce qu’on peut faire autrement!« Im Übrigen ist ihrer Meinung nach das Geld, das Mouret besitzt, der Grund, warum man nicht eifersüchtig sein dürfe: »Il avait trop d’argent, il était le maître après tout.« (ABD 650)

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Liebe und Konsum effarée de l’amour, le trouble de ses tendresses naissantes, dans sa sauvagerie d’enfant. Elle ne raisonnait pas, elle sentait seulement qu’elle l’avait toujours aimé, depuis l’heure où elle avait frémi et balbutié devant lui. Elle l’aimait lorsqu’elle le redoutait comme un maître sans pitié, elle l’aimait lorsque son cœur éperdu rêvait de Hutin, inconscient, cédant à un besoin d’affection. Peut-être se serait-elle donnée à un autre, mais jamais elle n’avait aimé que cet homme dont un regard la terrifiait. (ABD 647f.) LIV

Denise re-konstruiert hier die Begründungsgeschichte ihrer Liebe, die kein Zufall sein kann, sondern Schicksal sein muss.100 So wird denn auch ihre anfängliche Neigung zu Hutin in dieser Begründung als bloße Substitutionshandlung disqualifiziert. Mit der Erkenntnis ihrer Liebe aber kann Denise die Einladung zum Abendessen keinesfalls annehmen, beides stürzt sie in tiefes Unglück: »Depuis que j’ai reçu cette lettre, je ne vis plus…« (ABD 649)LV. Für sie kommt aufgrund ihrer Liebe nur eine Heirat in Frage, darum wissend, dass es unmöglich ist: »Est-ce que M. Mouret peut épouser ses vendeuses?« (ABD 650)LVI fragt ihre Freundin und Kollegin Pauline eher rhetorisch. Da dies höchst unwahrscheinlich ist, hätte er ihr nicht schreiben dürfen, schlussfolgert Denise. Mit der Ablehnung der Einladung gefährdet sie jedoch ihre Position im Warenhaus, die sie eben erst errungen hat. Bei der folgenden Konfrontation mit Mouret gibt Denise daher vor, die unterliegende Bedeutung der Essenseinladung nicht zu verstehen. Mit dieser Verweigerung des Anschlusses an Mourets Kommunikation – die im Zeichen der Galanterie verläuft101 – und damit einer überhaupt erfolgreichen Kommunikation rechtfertigt sie ihre Ablehnung. Mouret ist angesichts dieser Absage so konsterniert, dass er zu einem unvorhergesehenen Mittel, würdig eines Valmont aus den Liaisons dangereuses, greift: »Écoutez, je vous aime… Vous le savez depuis longtemps, ne jouez pas le jeu cruel de faire l’ignorante avec moi… Et ne craignez rien. Vingt fois, j’ai eu l’envie de vous appeler dans mon cabinet. Nous aurions été seuls, je n’aurais eu qu’à pousser un verrou. Mais je n’ai pas voulu, vous voyez bien que je vous parle ici, où chacun peut entrer… Je vous aime, Denise…« (ABD  674).LVII Der Einsatz der Worte ›je vous aime‹ ist riskant: Nichts birgt eine größere Gefahr des Scheiterns als das einfache Liebesbekenntnis, das doch immer schon Zitat ist.102 Dieses plötzliche Bekenntnis und die Tatsache, dass er sie in einem mehr oder weniger öffentlichen Raum des Warenhauses aufsucht, sollen Denise suggerieren, dass sie etwas Besonderes und eben nicht austauschbar ist wie die anderen Verkäuferinnen. Indem er jedoch versucht, sich ihre Einwilligung zu erkaufen – durch das Angebot von Freiheit, Luxus, Vergnügungen, eine eigene Wohnung und ein Vermögen, von 100 | Vgl. Werber: Liebe als Roman, S. 44f. 101 | Vgl. ebd., S. 35. 102 | Vgl. Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 28.

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt

dem sie leben könne – stellt er sie auf eine Stufe mit all den anderen Frauen. Denise lehnt das ab und Mouret gerät außer sich: »Alors, il laissa échapper ce cri de son cœur: ›Vous ne voyez donc pas que je souffre!… Oui, c’est imbécile, je souffre comme un enfant!‹« (ABD 674)LVIII Da er versucht, seinen Aussagen durch den Einsatz von Tränen als untrügerischem, körperlichem Nachweis der Leidenschaft Nachdruck und Authentizität zu verleihen,103 bedient sich Mouret des Arguments der Liebe als Passion – also Liebe als etwas, das man erleidet, wogegen man nichts tun kann.104 Nichtsdestotrotz zweifelt Denise an der Aufrichtigkeit seines Liebesbekenntnisses. Ihr Vorwurf, dass er neben ihr noch Clara und Madame Desforges als Geliebte habe, erwischt ihn kalt: »La surprise le tenait immobile. Que disait-elle donc et que voulait-elle? Jamais les filles ramassés par lui dans les rayons ne s’étaient inquiétées d’être aimées.« (ABD 675)LIX Diese Überlegung ist paradox: Warum führt Mouret das Argument der Liebe an, wenn es seiner Ansicht nach gar keine Bedeutung für die Verkäuferinnen und damit auch für Denise hat? Dass ausgerechnet Mouret, der Erschaffer des Bonheur des Dames, vor der Frage steht, was eine Frau – Denise – will, lässt ihn geradezu ohnmächtig werden: »›Si je voulais pourtant!‹ […] ›Je veux, je veux‹ répétait-il affolé.« (ABD  674f.)LX Der Stolz, den Denise seinen libertinen Avancen entgegensetzt – »je ne partage pas« (ABD 675)LXI –, lässt ihn in der Tat wie ein Kind erscheinen, das seinen Willen nicht bekommt. Der Tragweite seiner tatsächlichen Zuneigung zu Denise wird sich Mouret erst dann bewusst, als sie das Warenhaus am Abend verlässt, um nicht mit ihm, sondern bei ihrem Onkel zu speisen: »Il était toujours en haut de l’escalier, sur le grand palier central, dominant la galerie. Mais il avait oublié l’inventaire, il ne voyait pas son empire, ces magasins crevant de richesses. Tout avait disparu, les victoires bruyantes d’hier, la fortune colossale demain. D’un regard désespéré, il suivait Denise, et quand elle eut passé la porte, il n’y eut plus rien, la maison devint noire.« (ABD 677f.)LXII Es ist dieser Moment, als Denise seinen Machtbereich verlässt und sich gegen die permanente Verfügbarkeit als (Liebes-)Objekt auflehnt, in dem Mouret erkennt, dass sein ›Je vous aime‹ nicht nur eine Strategie, eine leere Worthülse, sondern authentisch war – wie der Vicomte de Valmont wird er Opfer seines eigenen Spiels.105 Gehört die Verweigerung der Frau durchaus zur klassischen Liebesinszenierung, so wird sie hier mit den 103 | Der Tränenfluss des Mannes steht in empfindsamer Tradition, vgl. Manfred Schneider: Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens. München 1992, S. 143151, sowie Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. 2. Aufl. München 2003, S. 87-94. 104 | Vgl. Kap. II/2.2. 105 | Lässt man sich auf die Analogie zu den Liaisons dangereuses ein, könnte man nicht nur Denise als Madame de Tourvel lesen, die sich Valmont jedoch gerade nicht hingibt, sondern auch Madame Desforges als Marquise de Merteuil, die eine Intrige spinnt,

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Allverfügbarkeitsfantasien des Warenhauses besonders deutlich kontrastiert: Gerade weil sie sich entzieht, begehrt Mouret Denise nur umso mehr. Der Augenblick, in dem sich das Warenhaus verfinstert und all das an Bedeutung verliert, was bis dahin Mourets Identität konstituiert hat, markiert daher einen entscheidenden Umbruch für ihn: Er beginnt, von seinem libertinen Liebesprogramm auf jenes romantisch geprägte von Denise umzustellen,106 wenn er sich fortan gemäß dem romantischen Liebesideal nach ihr verzehrt:107 Désormais, ses journées s’écoulaient dans la même obsession douloureuse. L’image de Denise se levait avec lui. Il avait rêvé d’elle la nuit, elle le suivait devant le grand bureau de son cabinet, où il signait les traites et les mandats, de neuf à dix heures: besogne qu’il accomplissait machinalement, sans cesser de la sentir présente, disant toujours non de son air tranquille. […] S’il l’oubliait une minute en décidant de la ruine ou de la prospérité d’une industrie, il la retrouvait debout, à un élancement de son cœur; sa voix expirait, il se demandait à quoi bon cette fortune remuée, puisqu’elle ne voulait pas. Enfin, lorsque sonnaient cinq heures, il devait signer le courrier, le travail machinal de sa main recommençait, pendant qu’elle se dressait plus dominatrice, le reprenant tout entier, pour le posséder à elle seule, durant les heures solitaires et ardentes de la nuit. Et, le lendemain, la même journée recommençait, ces journées si actives, si pleines d’un colossal labeur, que l’ombre fluette d’une enfant suffisait à ravager d’angoisse. (ABD 707) LXIII

Die beiden Liebesmodelle werden miteinander kontrastiert, wenn Mouret darüber reflektiert, wie die unerwartete Liebe zu Denise sein Leben verändert hat: »Jamais il n’avait aimé ainsi, avec ce charme puissant dans la souffrance. […] Il sortait tranquille de chez ses maîtresses, rentrait se coucher, heureux de sa liberté de garçon, sans un regret ni un souci au cœur. Tandis que, maintenant, son cœur battait d’angoisse, sa vie était prise, il n’avait plus l’oubli du sommeil, dans son grand lit solitaire. Toujours Denise le possédait.« (ABD 691)LXIV Es ist um Denise und Mouret voneinander zu trennen, dabei jedoch scheitert. Vgl. ABD, Kapitel 11. 106 | Vgl. Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 33: Jahraus zufolge markieren Les Liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos exakt diesen »Epochenumbruch von der galanten zur emotionalen Liebe«. 107 | Im Zuge dessen kommt es zu einer Verselbständigung des zunächst taktisch eingesetzten Tränenstroms bei Mouret. Er weint nicht mehr nur in Anwesenheit von Denise, die diese Tränen als eine Entäußerung des Inneren Mourets zu konsumieren scheint, sondern auch in ihrer Abwesenheit, vgl. z.B. ABD 733 und 774. Vgl. zur Funktion der Tränen als Ausdruck wahrer Liebe: Roland Barthes: Lob der Tränen [Éloge des Larmes]. In: Ders.: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. v. Hans-Horst Henschen [Original: Fragments d’un discours amoureux, 1977]. Frankfurt a.M. 1988, S. 251-253.

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bezeichnend, dass das Verhältnis zwischen Denise und ihm anhand eines besitzanzeigenden Verbs (›posséder‹) beschrieben wird, womit eine weitere entscheidende Umkehrung markiert wird: Es ist nicht mehr Mouret, dem Denise als seine Verkäuferin gehört, sondern genau umgekehrt: Sie besitzt ihn. Mouret hat nun allerdings das Problem, dass er sein Liebesbekenntnis unbedacht und strategisch, gemäß seinem ›jeu calculé‹, eingesetzt und damit dessen Wirkmacht verspielt hat (vgl. ABD  705): Wie soll er Denise von der Aufrichtigkeit seiner Liebe überzeugen? Dieses Problem wird anhand einer Situation der Eifersucht illustriert: Mouret erwischt Denise und Henri Deloche, der ebenfalls in Denise verliebt ist, als er ihr gerade einen Heiratsantrag macht (den Denise natürlich ablehnt). Als Mouret ihr in seinem Büro Vorwürfe macht, reagiert Denise zunächst überhaupt nicht darauf, woraufhin er aus Verzweiflung sein Bekenntnis wiederholt und zudem die Aufgabe sämtlicher sonstiger Liebschaften verkündet: Mon Dieu! je vous aime, je vous aime… Pourquoi prenez-vous plaisir à martyriser ainsi? Vous voyez bien que plus rien n’existe, que les gens dont je vous parle ne me touchent que par vous, que c’est vous seule maintenant qui importez dans le monde… Je vous ai crue jalouse et j’ai sacrifié mes plaisirs. On vous a dit que j’avais des maîtresses; eh bien! je n’en ai plus, c’est à peine si je sors. Ne vous ai-je pas préférée, chez cette dame? n’ai-je pas rompu pour être à vous seule? (ABD 722f.) LXV

Mouret bedient sich hier einer ähnlichen Argumentation wie in der Begegnung zuvor – nur meint er es dieses Mal ernst: »Et il disait vrai« (ABD 723)LXVI kommentiert der Erzähler – was Denise freilich nicht ahnt. Sie lässt ihn immerhin wissen, dass sie jemanden liebt – dass er dieser Jemand ist, allerdings nicht. Da sie sich weiterhin verweigert, bindet Mouret sie zunächst auf andere Art und Weise an sich und an das Warenhaus, indem er sie abermals befördert: Am Tag nach der Eifersuchtsszene wird sie zur Direktrice des neu geschaffenen Rayons für Kinderbekleidung ernannt. Dass es sich dabei um einen Kinder-Rayon handelt, dürfte kein Zufall sein, ist dies doch doppelt mit Bedeutung aufgeladen: Zum einen fungiert er symbolisch als Kind von Denise und Mouret, so dass sie in diesem Sinne als Paar markiert werden; zum anderen wird Denise’ Position dadurch ambivalent: Sie ist nun zwar in einer Machtposition, die sie sich erarbeitet hat, gleichzeitig verweist die Arbeit mit Kindern aber auch auf den eigentlichen Platz der Frau: bei den Kindern daheim. Damit ist der Kinder-Rayon bereits eine Anspielung auf ihre letztendliche Einwilligung in die Hochzeit mit Mouret. Nicht zuletzt verweist der Kinder-Rayon auch darauf, dass schon die Kleinen in die Welt des Konsums eingeführt werden sollen  

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und somit die nächste Generation von Konsumenten initiiert wird, was den Fortbestand des Dritten im Bunde, des Warenhauses, sichert.108 Das Bonheur des Dames wird für Denise in der Folge in mehrfachem Sinn ein Zuhause:109 »[Elle] vivait là parmi les petits, comme dans sa famille naturelle« (ABD 727).LXVII Das Warenhaus ist für sie nicht nur Arbeits-, sondern auch Wohnort, ihre Abteilung fungiert als Familienersatz, zudem ist das Warenhaus der Ort des geliebten Mannes. In ihrem Rayon, umgeben von Kindern, wird sie als die perfekte Mutter, wenn auch selbst kinderlos, gezeichnet und erinnert dabei an die Darstellung von Lotte in Goethes Die Leiden des jungen Werthers oder auch Ottilie in den Wahlverwandtschaften.110 Die Entsagung der letzteren scheint auch das Programm für Denise zu sein, wenn auch mit weniger letalen Konsequenzen. Die Beziehung zu Mouret intensiviert sich zunehmend auf freundschaftlicher Ebene, den sie zu einem »brave homme« (ABD 725) machen will: »Maintenant, il lui arrivait d’avoir de longues conversations amicales avec Mouret. Quand elle devait se rendre à la direction pour prendre des ordres ou pour donner un renseignement, il la retenait à causer, il aimait l’entendre. C’était ce qu’elle appelait en riant ›faire de lui un brave homme‹.« (ABD 727)LXVIII Die Kommunikation zwischen Denise und Mouret dreht sich dabei, wie bisher, immer um das Warenhaus: Es entpuppt sich geradezu als ihr Liebesdiskurs – mit Luhmann: als der ›Sonderhorizont‹ der beiden Liebenden.111 In diesen Gesprächen inspiriert sie ihn zu sozialen Verbesserungen im Warenhaus, weil sie, so wird behauptet, gar nicht anders kann: »Elle ne pouvait s’occuper d’une chose, voir fonctionner une besogne, sans être travaillé du besoin de mettre l’ordre, d’améliorer le mécanisme.« (Ebd.) LXIX Da Octave Mouret und das Warenhaus untrennbar miteinander verbunden sind, er 

 

108 | Vgl. Dücker: Das Warenhaus als Ritualraum der Moderne, S. 179f. 109 | Denise ähnelt damit zunächst den Kundinnen Mourets, von denen er sagt: »[C]es dames ne sont point ici chez moi, elles sont chez elles.« (ABD 625) – wohl verschweigend, dass ›chez elles‹ immer noch auch ›chez lui‹ bedeutet (vgl. Bowlby: Just looking, S. 71f.). Gleichzeitig aber unterscheidet sich Denise von Ihnen, denn zum einen ist sie nicht im Warenhaus, um zu konsumieren, sondern um zu verkaufen; zum anderen ist das Warenhaus für die Kundinnen lediglich ein substitutives Zuhause, während es für Denise ein tatsächliches Heim darstellt. 110 | Die Passage erinnert an die Beschreibung Denise’ als Marienbild unmittelbar nach dem Spaziergang mit Mouret in den Tuilerien. Denise, noch ganz versunken in Gedanken an Mouret, läuft schnellen Schrittes voran, ganz vergessend, dass sie ihren kleinen Bruder Pépé an der Hand hat. Der protestiert schließlich: »›Tu vas trop fort, petite mère.‹ Alors, elle s’assit sur un banc: et, comme il était las, l’enfant s’endormit en travers de ses genoux. Elle le tenait, le serrait contre sa poitrine de vierge, les yeux perdus au fond des ténèbres.« (ABD 585) 111 | Vgl. Kap. II/2.1.

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scheint es konsequent, dass sie nicht nur aus ihm einen rechtschaffenen Mann machen, sondern auch das System des Warenhauses verbessern möchte. Mit ihren Ideen hält der sogenannte ›welfare capitalism‹112 Einzug im Bonheur des Dames: »Parfois, elle s’animait, elle voyait l’immense bazar idéal, le phalanstère du négoce, où chacun aurait sa part exacte des bénéfices, selon ses mérites, avec la certitude du lendemain, assurée à l’aide d’un contrat.«113 (ABD 728)LXX Was Denise hier erregt fantasiert, ist nicht nur die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Warenhaus. Der Wortlaut erinnert stark an jenen, den sie verwendet, um ihre Ablehnung gegenüber Mouret zu rechtfertigen: »Elle serait tombée aux bras de cet homme, la chair prise, le cœur séduit, si elle n’avait éprouvé une révolte, presque une répulsion devant le don définitif de son être, jeté à l’inconnu du lendemain.«114 (ABD 724)LXXI Abermals werden hier Ökonomie und Liebe miteinander verschränkt: Der Vertrag, von dem zuvor die Rede ist, der die Arbeiter vor der Ungewissheit des Morgen absichert, lässt darauf schließen, dass auch Denise einen Vertrag anstrebt, der sie vor jener Ungewissheit schützen soll, der sie ausgeliefert wäre, gäbe sie sich Mouret als dessen Geliebte hin:115 den Bund der Ehe. Ihr Widerstand gegenüber Mouret resultiert daher auch nicht aus Tugend oder Keuschheit, sondern vor allem aus einem »instinct du bonheur« (ABD 724). Solange sie sich ihm nicht hingibt, kann sie sich sowohl ihrer Position als Direktrice als auch seines Begehrens sicher sein – Aufschub schürt bekanntlich das Begehren nur umso mehr. Ihr ›instinct du bonheur‹ wird jedoch von ihrem eigenen Begehren bedroht: Gibt es einerseits für sie keine andere Möglichkeit der Verbindung mit Mouret als eine Liebesheirat, ist sie andererseits durch die Nähe zu ihm der permanenten Gefahr ausgesetzt, doch nachzugeben. Sie beschließt daher, das Warenhaus zu verlassen und wählt damit den Weg des Verzichts: »[E]lle préférait s’éloigner, prise de la peur de céder un jour et de le regretter ensuite toute son existence.« (ABD 772)LXXII Dieser Verzicht wird schließlich zu ihrer fixen Idee: Sie ist derart darauf fokussiert, nicht nachzugeben, und damit in den Augen des restlichen Warenhauses nicht als ›Verlorene‹ zu gelten, dass sie willens ist, auch dann abzulehnen, sollte er so weit gehen, sie heiraten zu wollen und somit ihre Vertragsbedingungen zu erfüllen. Ihre Entscheidung lautet Entsagung116 (vgl. ebd.). 112 | Vgl. Gallois: Zola, S. 108-112. 113 | Herv. hinzugefügt. 114 | Herv. hinzugefügt. 115 | Die Verachtung, die Mouret für sie in diesem Fall empfinden würde, ist auch jene, die er insgeheim gegenüber seinen Kundinnen hegt, die sich durch ihren Konsum ›ihm hingegeben‹ haben (vgl. ABD 461). 116 | Vgl. zum Motiv der Entsagung in realistischer Prosa: Moritz Baßler: Zeichen auf der Kippe. Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne. In: Ders.

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Die Unwahrscheinlichkeit einer Liebesehe wird durch Mourets Weigerung, wieder zu heiraten, auf die Spitze getrieben. Er fürchtet um seinen Ruf als Warenhauschef, der seiner Meinung nach unverheiratet sein muss, um allen Frauen, und vor allem seinen Kundinnen, gehören zu können (vgl. ABD 773). Eine Hochzeit bedeutet für ihn, genau wie für Denise, eine Niederlage: »Et il résistait à l’invincible logique des faits, il préférait en mourir que de céder, pris de soudaines colères contre Denise, sentent bien qu’elle était la revanche, craignant de tomber vaincu sur ses millions, brisé comme une paille par l’éternel féminin, le jour où il l’épouserait.« (ABD 773)LXXIII Es entspinnt sich damit ein Machtspiel, das weniger mit den Standesunterschieden von Mouret und Denise zu tun hat – wie oft argumentiert wird –, sondern vor allem ein Ringen um Liebesmodelle ist. Auch wenn Mouret sich der romantischen Liebe gemäß nach Denise verzehrt, so kann er doch sein Modell der Libertinage aus ökonomischen Gründen nicht ganz verabschieden: Eine Heirat könnte den Einbruch der Umsätze bedeuten, weil sie aufgrund des Exklusivitätsgebots romantischer Liebe die Machtverhältnisse im Warenhaus ändern würde: »une femme introduite changeait l’air, chassait les autres, en apportant son odeur.«117 (Ebd.)LXXIV Suggeriert Mouret als Junggeselle den weiblichen Kundinnen, dass er ihnen allen gehöre beziehungsweise gehören könnte, während er sich selbst als Herrscher über ihre Begierden sieht, dann bräche mit seiner Heirat eines der entscheidensten Verkaufsargumente weg: die Suggestion von Liebe.118 Wenn seine Liebe nur einer einzigen Frau gälte, dann könnte sie nicht zugleich allen anderen gelten. Das letzte Kapitel des Romans handelt vom Fall dieser letzten Bastion von Mourets ursprünglichem Liebesmodell. Die Liebesgeschichte von Denise und Mouret steht jedoch zunächst nicht im Mittelpunkt des letzten Kapitels, sondern der große Weißwarenverkauf des Bonheur des Dames. Daraus ergibt sich ein ambivalenter Effekt: Zum einen wird der Leser abgelenkt, gar geblendet – wie die Kundinnen des Warenhauses – angesichts der endlosen Beschreibungen von Weiß. Hier, wie an vielen anderen Stellen – beispielsweise im Salon Madame Desforges’, in dem Mouret  

(Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin, Boston 2013, S. 3-21; Stefan Tetzlaff: Entsagung im Poetischen Realismus. Motiv, Verfahren, Variation. In: Moritz Baßler (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin, Boston 2013, S. 70-114. 117 | Es dürfte kein Zufall sein, dass es ausgerechnet der Geruch ist, der als Waffe der Frau identifiziert wird, ist es doch gerade der Duft von Denise, den Mouret als ›pénétrant‹, ihn durchdringend und damit erobernd, empfindet (vgl. ABD 583). 118 | Vgl. dazu Mourets Erklärung gegenüber dem Baron Haussmann, welchen Vorteil das Bonheur des Dames gegenüber der Konkurrenz hat: »Chez nous, on aime les clientes.« (ABD 699) Liebe wird hier zur ›unique selling proposition‹ (USP).

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nicht nur die Frauen, sondern auch Baron Hartmann allein durch seine Rede verführt – stellt sich die Prosa Zolas gewissermaßen selbst ins Schaufenster: Der Text verkauft sich selbst.119 Zum anderen aber verweist der Text mit den endlosen Beschreibungen von Weiß auch auf das Ende: Alles steht im Zeichen einer Hochzeit (vgl. ABD  769,  797). Dabei changieren zunächst die Rollen: Zum einen sind es die Kundinnen, die zu ihrem Einkauf einen Strauß Blumen geschenkt bekommen und damit wie eine Braut beziehungsweise Brautjungfern geschmückt sind; zum anderen ist es das Warenhaus selbst, das derartig Weiß in Weiß und mit Blumen geschmückt in einer Doppelrolle zugleich als Kirche120 wie Braut fungiert. Es ist dies die Apotheose des Warenhauses und des Konsums, die mit ihren Kundinnen an diesem Tag Hochzeit feiern (vgl. ABD 786, 798).121 Die finale Begegnung von Denise und Mouret ist schließlich eine Spiegelszene zu jener am Ende des neunten Kapitels: Vormals ging es um Denise’ Beförderung zur ›seconde‹, quasi ein Geschenk zu ihrer Wiedereinstellung im Bonheur; nun will sie sich von Mouret verabschieden. Wieder werden die Tageseinnahmen – es sind neuerlich die bis dato höchsten des Hauses und summieren sich auf die magische und von Mouret lange erwünschte Zahl von einer Million – in das Büro des Chefs gebracht und auf dessen Schreibtisch ausgebreitet. Wurde Denise vormals vom Hereinbringen des Geldes unterbrochen, das Mouret wichtiger war, als sie ausreden zu lassen, so ist es nun umgekehrt: Sie wird sehnsüchtig von Mouret erwartet, das Geld, so heißt es, bedeutet ihm nichts (vgl. ABD 802). Kurz vor dieser Begegnung hat er zudem beschlossen, Denise zu heiraten. Berauscht vom Erfolg des Weißwarenverkaufs und der Eroberung all der Frauen, die sein Warenhaus bevölkern, einer Eroberung von Paris gleichkommend, gibt er einer ›Dummheit‹ nach:

119 | Dies scheint im Kontext der Produktionsbedingungen nur konsequent, war Zola doch auf das Schreiben als ›Geschäft‹ angewiesen. Vgl. dazu auch Dirk Hohnsträter: »Was Mouret bei seinen Kundinnen erreicht, erreicht Zola bei seinen Leserinnen und Lesern: die Imagination auf eine Weise anzuregen, der man am Ende allerlei abkauft.« (in: Konsum und Kreativität im Paradies der Damen, S. 63). 120 | Die Charakterisierung des Warenhauses als Kirche lässt sich an die Argumentation Colin Campbells rückbinden, der die für den Konsum wichtige Aktivität des ›day-dreaming‹ von der Kultivierung von Emotionen in der christlichen Religion herleitet: Frauen (und auch Männer) verbringen nun im Warenhaus »les heures vides, les heures frissonnantes et inquiètes qu’elle vivait jadis au fond des chapelles: dépense nécessaire de passion nerveuse, lutte renaissante d’un dieu contre le mari, culte sans cesse renouvelé du corps, avec l’au-delà divin de la beauté.« (ABD 797f.). Vgl. dazu Kap. II/1.2. 121 | Vgl. Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne, S. 94f., Fußnote 46.

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Liebe und Konsum Mouret, les regards perdus, venait de sentir passer en lui quelque chose de grand; et, dans ce frisson du triomphe dont tremblait sa chair, en face de Paris dévoré et de la femme conquise, il éprouva une faiblesse soudaine, une défaillance de sa volonté, qui le renversait à son tour, sous une force supérieure. C’était un besoin irraisonnable d’être vaincu, dans sa victoire, le non-sens d’un homme de guerre pliant sous le caprice d’un enfant, au lendemain de ses conquêtes. Lui qui se débattait depuis des mois, qui le matin encore jurait d’étouffer sa passion, cédait tout d’un coup, saisi du vertige des hauteurs, heureux de faire ce qu’il croyait être une sottise. Sa décision, si rapide, avait pris d’une minute à l’autre une telle énergie, qu’il ne voyait plus qu’elle d’utile et de nécessaire dans le monde. (ABD 799) L X XV

Die Beschreibung Mourets als ›homme de guerre‹ affirmiert die Interpretation der Beziehung zu Denise als Kampf um das ›richtige‹ Liebesmodell. Dementsprechend werden auch die Machtverhältnisse ins Feld geführt: Wenn er sich den Launen eines Kindes fügt, dann meint er damit Denise, die als ebensolches in den Roman eingeführt wurde (vgl. ABD 579). Mouret verkennt hierbei jedoch, dass sich dieses Machtverhältnis längst verkehrt hat: Nicht nur er selbst beschreibt sich schließlich als Kind (vgl. ABD 674), sondern auch seine Mitarbeiter nehmen ihn als solches wahr (vgl. ABD 774). Auch wenn Mouret hier als Sieger inszeniert wird, der großzügig einer Laune nachgibt, so ist es doch das Eingeständnis einer Niederlage gegenüber der Macht von Denise und der romantischen Liebe. Mag der Beschluss, Denise zu heiraten aus Mourets ökonomischer Sicht ›irraisonable‹ sein, aus Denise’ Sicht der romantischen Liebe ist er nur folgerichtig: ›utile‹ und ›nécessaire‹. Seinen Antrag formuliert Mouret als Frage, hinter der sich ein Tausch verbirgt: »Et si je vous épousais, Denise, partiriez-vous?« (ABD 802)LXXVI Dies ist Mourets finales Angebot, womit er ihr nicht nur sich selbst, sondern auch das Warenhaus zu Füßen legt: die Absicherung gegen ›l’inconnu du lendemain‹ in Form des Ehebundes gegen ihren Verbleib im Warenhaus und bei Mouret. Denise jedoch lehnt auch dieses Angebot entsprechend ihres Schwurs der Entsagung ab. Ökonomisch gesehen, um im Bild des Tauschs zu bleiben, ist dies irrational: Mehr kann Mouret ihr nicht anbieten, selbst wenn er wollte – Denise hat das mögliche Maximum bereits erreicht. Entsprechend hilflos ist Mouret angesichts ihrer widersinnigen Weigerung: »Lui, torturé, l’écoutait, répétait avec passion: ›Je veux… je veux…‹« (ebd.)LXXVII. Er sieht schließlich ein, dass er Denise weder durch Tauschangebote, Willen noch Geld – das er am liebsten auf die Straße schütten möchte – überzeugen kann, und gibt sie frei: »›Partez donc!‹ cria-t-il dans un flot de larmes. ›Allez retrouver celui que vous aimez‹…« (ebd.)LXXVIII. Es ist dies zwar nicht das eine Wort, ›une seule parole‹, das Denise sich in der vormaligen Situation erwünschte, aber die Aufforderung, zu dem zurückzukehren, den sie liebt, bewegt Denise dazu, in die Heirat einzuwilligen: »Alors, avec une impétuosité d’enfant, elle se jeta a son cou,

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sanglota elle aussi, en bégayant: ›Oh! monsieur Mouret, c’est vous que j’aime!‹« (ABD 802f.)LXXIX Erscheint ihre Wandlung, mit der sie wieder kindliche Züge annimmt, zunächst ebenso willkürlich zu sein wie jene Mourets, so verkennt diese Lesart, dass jener Satz von Mouret ihr signalisiert, dass er nun vollends auf das romantische Liebesmodell umgestellt hat: Es geht ihm nun nicht mehr um das Ich (Ego), und darum, was er will, sondern um das Du (Alter), und darum, was sie will. Das heißt, er stellt ihre Bedürfnisse über die seinigen, womit er ihren Weltbezug bestätigt. Indem er sie dorthin schickt, wo sie sein möchte, an den Ort und zu dem Menschen, den sie liebt, schickt er sie zu ihrem – und damit auch zu seinem – ›bonheur‹. Denn im Fall von Denise ist der Romantitel wörtlich zu nehmen: Ihr ›bonheur‹ ist das Bonheur des Dames und damit untrennbar verbunden: Octave Mouret.122 Die Verbindung von Liebe und Konsum erweist sich im Roman nichtsdestotrotz als ambivalent: Immer wieder wird betont, wie nichtig das Geld, das Warenhaus und der damit verbundene Reichtum und Konsum angesichts der Liebe sind. Auch hier übernimmt der Text ökonomische Strategien, denn es scheint gar so, als wolle er dieses Ideal aktiv ›verkaufen‹.123 Dies ist jedoch aus zweierlei Gründen paradox. Ginge es erstens tatsächlich nur um die Liebe, könnten Denise und Mouret bereits am Ende des zehnten Kapitels heiraten: Zu diesem Zeitpunkt sind sich beide über ihre Gefühle im Klaren, Mouret würde nicht am Junggesellentum festhalten, um die Umsätze nicht zu gefährden, und Denise würde ihre Liebe gegenüber Mouret kommunizieren und sich nicht um den Verlust ihrer Anstellung und ihres Ansehens im Warenhaus sorgen. Das Ideal der vom Kapital unabhängigen Liebe blendet zweitens die Wirkmacht des Vermittlers dieser Liebe aus: des Warenhauses selbst – und damit eines Ortes und einer Struktur, die dem Konsum und Kapital verpflichtet sind. Sprechend ist daher das Schlussbild:  

122 | Vgl. Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 51: Laut Illouz teilen Liebe wie Kapitalismus das »promesse de bonheur«. 123 | Diese Suggestion beginnt damit, dass Denise Mourets erste Einladung zum Abendessen ablehnt und am Abend das Warenhaus verlässt, woraufhin dieses sich in Mourets Perspektive verfinstert (vgl. ABD 678); Mourets alter Freund Vallagnosc weist ihn kurz darauf auf die Sinnlosigkeit des Geldes hin, wenn man sich damit nicht alles, und vor allem nicht die Frau, die man begehrt, kaufen kann (vgl. ABD 697); Mouret erkennt schließlich angesichts der Bauarbeiten am Erweiterungsbau des Bonheur des Dames »la vanité de sa fortune«, es ekelt ihn gar an, da es die Leere in seinem Herzen nicht zu füllen vermag: Das könnte nur das ›Ja‹ von Denise (vgl. ABD 733). Im letzten Kapitel schließlich ist ihm die Million Francs vor der Einwilligung Denise‹ gleichgültig: »Et ce million imbécile qui était là! il en souffrait comme d’une ironie, il l’aurait poussé à la rue.« (ABD 802).

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Liebe und Konsum Une dernière rumeur monta du Bonheur des Dames, l’acclamation lointaine d’une foule. Le portrait de Mme Hédouin sourirait toujours, de ses lèvres peintes. Mouret était tombé assis sur le bureau, dans le million, qu’il ne voyait plus. Il ne lâchait pas Denise, il la serrait éperdument sur sa poitrine, en lui disant qu’elle pouvait partir maintenant, qu’elle passerait un mois à Valognes, ce qui fermerait la bouche du monde, et qu’il irait ensuite l’y chercher lui-même, pour l’en ramener à son bras, toute-puissante. (ABD 802f.) L X X X

Das Warenhaus spendet dem Liebespaar Beifall, das auf einer Million Francs sitzt. Dass sie es nicht ansehen, sondern darauf sitzen, verdeutlicht den Status des Geldes und des Warenhauses: Es ist nicht der Grund, warum sich die beiden ineinander verlieben, es ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit dessen. Denise ist die einzige Frau im Roman,124 die nicht den Verlockungen und Verheißungen der im Warenhaus angebotenen Produkte verfällt.125 Sie verfällt vielmehr – unmittelbar, auf den ersten Blick – der größeren Struktur: dem Warenhaus und dem Konsumsystem selbst. Sie versteht dieses System, sie möchte es weiterentwickeln und verbessern. Dies ist schließlich ihr Alleinstellungsmerkmal, ihre Höchstindividualität für Mouret: Mit ihr allein kann er seine Visionen vom und seine Liebe zum Warenhaus teilen:126 »Ce qui assure surtout leur alliance, c’est la même conception du commerce.«127 Das Unwahrscheinliche – Liebe – wahrscheinlich zu machen, diese Funktion übernimmt hier das Warenhaus als Ort und Kommunikationsstruktur, in das sich Denise ebenso verliebt wie in Mouret. Die enge Verknüpfung des Warenhauses mit dem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium Liebe zeigt sich unter anderem auch daran, dass das einzige Gesprächsthema zwischen Denise und Octave (abgesehen von seinen erfolglosen Liebesbekenntnissen) das 124 | Von einer Nebenfigur, Madame de Guibal, abgesehen, von der es heißt, sie streife stundenlang durchs Warenhaus ohne etwas zu kaufen, und wenn doch, dann nur rabattierte Waren (vgl. ABD 463). Auch Madame Desforges, die sich zu Beginn des Romans von den anderen dadurch abzuheben sucht, indem sie gerade nicht im Bonheur des Dames kauft, erliegt im letzten Kapitel dem Konsum – was als Substitutionshandlung dafür präsentiert wird, dass sie nicht mehr Mourets Geliebte ist (vgl. ABD 798). 125 | Vgl. Lehnert: Nachwort, S. 569. 126 | Es ist damit nicht »L’éternel féminin« (ABD 773), das Ewigweibliche, dem Mouret unterliegt, sondern die Logik einer Struktur, die er selbst geschaffen hat. Obgleich die Beschreibung »Mouret était tombe assis sur le bureau, dans le million« (ABD 802) der von ihm vorhergesehenen Niederlage gleicht (»il préférait en mourir que de céder […] de tomber vaincu sur ses millions«, ABD 773), so ist es letztendlich das Argument von Denise’ Vernünftigkeit, also ihre Rationalität und damit eine männliche und nicht weibliche Eigenschaft, die den Wandel seiner Position einleitet: »pourquoi trembler? elle était si douce, si raisonnable, qu’il pouvait s’abandonner à elle sans crainte« (ABD 773f.). 127 | Kaminskas: Itinéraires, S. 417.

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Warenhaus und der damit verbundene Handel und Konsum ist. Erfolgreiche Liebeskommunikation funktioniert also gerade nicht darüber, ›Ich liebe dich‹ zu sagen, sondern über die Kommunikation über und das Liebesbekenntnis zum Warenhaus. Und erst als beide bereit sind, das, was sie lieben, aufzugeben – nicht nur den jeweils anderen, sondern auch das Warenhaus – so ist dies die authentischste Art und Weise, ›Ich liebe dich‹ zu sagen, ohne diese Worte zu benutzen. Diese Ménage à trois von Denise, Mouret und dem Warenhaus enthält damit unüblicherweise keinen störenden Dritten, der die Zweiheit des Paares gefährdet, im Gegenteil: Der Dritte im Bunde konstituiert und stabilisiert diese Zweiheit zuallererst. Mit Denise hat Mouret sein weibliches Pendant, die perfekte Ergänzung gefunden,128 die ebenso zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit changiert wie er. Die Verbindung der beiden ist nicht nur »the symbolic union of the capitalist and the worker as man and wife«,129 sondern bedeutet auch die erfolgreiche Verbindung von Liebe und Konsum:130 Ist die Befriedigung durch Konsum selbst von nur kurzer Dauer, so ist das Warenhaus als Konsummaschine, als ein System von Konsum und Kapitalismus, auf beständiges Fortdauern, unendliche Progression und Pro-Kreation angelegt – wie sich beispielsweise im beständigen Wachsen des Warenhauses mit immer höheren Umsätzen zeigt. Ewigkeit ist indes auch die fixe Idee der romantischen Liebe wie der Religion. Die religiösen Dimensionen des Warenhauses klingen in der Beschreibung als Kathedrale, insbesondere im letzten Kapitel, immer wieder an: »Shopping is cast as being as illusory a quest after meaning and satisfaction as religion was for these women. Both are a quest for an ending, but both are constantly thwarted by the arrival of novelty, in the form of new good in the store, and by the continuance of life in the case of religion.«131 Bezieht man in diese Gleichung die Liebe mit ein, so ergibt die Trias aus Liebe, Religion und Konsum das Dilemma moderner Liebesbeziehungen. Es geht hier wie da um ein Paradox: die Auf-Dauer-Stellung des Flüchtigen in Form ewiger Liebe, ewigen 128 | Vgl. Lehnert: Nachwort, S. 571; Hartog: La Machine, S. 433. 129 | Bowlby: Just looking, S. 67. 130 | Mit Illouz ließe sich argumentieren, dass sie in der Suggestion des Happy Ends in gewisser Weise den berühmten Leinwandstar-Paaren des 20. Jahrhunderts gleichen: »Was sie zu einem solch idealen Paar machte, war gerade die Tatsache, dass sie die erstrebenswerten und doch widersprüchlichen Erfordernisse der Konsumkultur miteinander verschmolzen: lebenslanges Eheglück und Konsum.« (Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 63.) Vgl. dazu z.B. auch Ernst Lubitschs Film The Shop around the Corner (1940) mit Margaret Sullavan und James Stewart in den Hauptrollen, denen aufgrund ihrer Zusammenarbeit im Film eine romantische Verbindung nachgesagt wurde. 131 | Gallois: Zola, S. 103. Vgl. dazu auch Colin Campbells Ausführungen zur Kultivierung von Emotionen in der Religion, vgl. Kap. II/1.2.

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Lebens, ewigen Wachstums und ewiger Befriedigung im Konsumakt. Doch gibt es keine Garantie, auch nicht für die Konsummaschine: Die Suggestion deren ewiger Prolongierung ist ebenso illusorisch wie jene der Liebe und der Religion. Alle drei bedürfen des Bekenntnisses und des Glaubens, um zu existieren. Die suggerierte Subjektstabilisierung durch Liebe und Konsum wird damit ambivalent. Es gibt keine Garantie für das unendliche Fortbestehen des Warenhauses wie der Liebe zwischen Denise und Octave. Der Text endet mit dem Hochzeitsversprechen, sprich: dem Glauben an Ewigkeit. Handelt es sich bei der Liebesgeschichte von Denise und Octave nun um ein ›conte des fées‹ oder um eine ›amour moderne‹? Obgleich der Roman Elemente von beidem enthält, favorisiert die Lektüre aus der Perspektive des Zusammenhangs von Liebe und Konsum die Akzentuierung der ›amour moderne‹.132 Zweifellos kann man im Hinblick auf Denise von einem weiblichen Entwicklungsroman sprechen,133 sie reift zu einer starken Frauenfigur – immerhin endet der Roman mit ihrer Charakterisierung als ›toute-puissante‹, eine Position, die zuvor nur Mouret zugeschrieben wurde.134 Durch ihre Fähigkeiten als Geschäftsfrau und ihre Liebe zum Warenhaus begegnet sie Octave Mouret auf Augenhöhe: »Pour la première fois dans la série des Rougon-Macquart, nous voyons un parler de femme qui menace les frontières du masculin.«135 Die Verbindung der beiden glückt am Ende nicht obwohl, sondern gerade aufgrund dieser Eigenschaften von Denise. Das Ende des Romans ist jedoch in mehrerer Hinsicht offen: Die Zukunft des Paares ist im Conditionnel gefasst, das heißt, es handelt sich dabei um eine Absichtserklärung Mourets, also um eine mögliche Zukunft von vielen. Ob es tatsächlich zur Hochzeit kommt, bleibt damit offen. Und da man über das Hochzeitsversprechen hinaus nichts mehr über das Paar erfährt, ist beispielsweise auch die Ausgestaltung der Ehe, vor allem seitens Denise, unklar: Es ist wahrscheinlich, dass sie ihre Stelle im Warenhaus aufgibt und die im 19. Jahrhundert gesellschaftlich erwartete Funktion der Ehefrau erfüllt, was den Verlust ihrer Identität bis dato bedeuten würde. Genauso gut aber könnte sie auch als mehr oder weniger Gleichberechtigte an Mourets Seite das Warenhaus leiten und damit eine hochgradig moderne Ehe führen. Für letzteres spricht, dass sich die Liebesbeziehung auf die Ménage à trois mit dem Warenhaus gründet – ohne dessen Einbezug steht die Stabilität der Beziehung in Frage. 132 | Vgl. auch Kaminskas: Itinéraires, S. 420. 133 | Vgl. Lehnert: Nachwort, S. 570. 134 | Dem Begriff hängt zudem eine religiöse Konnotation an: ›Le Tout-Puissant‹ meint u.a. auch den ›Allmächtigen‹, also den christlichen Gott. Wird das Warenhaus als Kathedrale qualifiziert, so ist Denise anhand dieser Charakterisierung durch Mouret die dem Gotteshaus zugehörige Göttin. 135 | Kaminskas: Itinéraires, S. 420, Herv. i. O.

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt

Was mit dem Romanende ebenso wenig stillgestellt sein dürfte, ist das Bedürfnis sowohl der Figuren im Roman als auch der Leser des Romans nach Liebesgeschichten. Eleanor Salotto stellt eine Verbindung zwischen dem Konsum und dem Verlangen nach Liebesgeschichten im Text selbst her: »This is no ordinary love story, for it functions (in the text) as a spectacle for the workers to exchange gossip, opinions, and innuendo. The love plot for the store’s workers becomes a fantasy escape where they can project their fears and desires. The department store, emblem of desire, is the setting for the workers to watch scenes of love.«136 Gegen diese Kommodifizierung – sie gilt als »heroïne de l’aventure« (ABD 630) – wehrt sich Denise wie sie sich gegen jene durch Mouret und das Warenhaus wehrt. Dies ist auch ein Grund, warum sie bis kurz vor Ende des Romans Mouret immer wieder ablehnt. Ihre Entsagung ist nicht zuletzt auch der unendlichen Zirkulation von Geschichten über sie und Mouret entgegengesetzt (vgl. ABD  772). Mouret erkennt auch dies, verspricht er ihr doch, dass ihr Weggang für einen Monat den Leuten ›das Maul stopfen‹ würde (vgl. ABD 803). Auch daran können Denise und der Leser bestenfalls glauben: Der Roman endet an dieser Stelle, das Gerede verstummt. Der Aufschub von Mourets Begehren ist auch ein Spannungsaufschub für den Leser – je länger der Aufschub, umso süßer die Befriedigung am Ende:137 »The love plot functions as a kind of commodity in the text; it reflects the readers’ and the employees’ desire to see love conquering it all.«138 Dieses Begehren gerät leseökonomisch unter Druck, wenn der Leser auf die letzten beiden Seiten gelangt, das Ende des Textkonsums also kommen sieht, während Denise und Mouret noch immer nicht zueinander gefunden haben. Das glückliche Ende und damit die Erfüllung des Leserbegehrens beschränken sich auf die letzten elf Zeilen des Romans, bei einer Gesamtlänge von über vierhundert Seiten.139 Dem Leser wird das Auskosten dieses Sieges der romantischen Liebe durch das abrupte Ende nicht gegönnt, womit dieses ambivalent wird: Es erscheint notwendig und artifiziell zugleich. Notwendig ist es nicht nur aufgrund der inneren Logik des Ringens um Liebesmodelle, sondern auch weil Konsum allein, so zeigt der Befund, Identitäten, zumal weibliche, nicht eindeutig zu konstituieren vermag: Er sorgt vielmehr für ein permanentes Chan-

136 | Salotto: Shopping for an I, S. 465. 137 | Die Gegenfigur hierzu ist Geneviève: Der Aufschub der Hochzeit mit Colomban und das damit verbundene Warten ihrerseits führen nicht zur Erfüllung. Unendlicher Aufschub hat damit letale Konsequenzen. 138 | Salotto: Shopping for an I, S. 468. 139 | Grundlage ist die Ausgabe der Pléiade, vgl. Fußnote 31.

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gieren.140 Es bedarf daher der Liebe, um Identitäten zu sichern.141 Im Fall von Denise und Mouret ergänzen sich Liebe und Konsum durch die Verbindung mit dem Warenhaus auf ideale Weise, obgleich vor allem Denise’ Status am Ende offen bleibt. Die Artifizialität, die dem Roman in der Interpretation als ›conte des fées‹ vorgeworfen wurde, unterminiert somit die Idee und das Begehren des Lesers nach einem ›Happy End‹: »At the same time that Zola’s text contains a happy ending, he demolishes it with a critique of the monological desire for happy endings which bind loose ends and loose identities.«142 Die angedeutete Hochzeit zwischen Denise und Mouret sorgt also für eine befriedigende clotûre des Textes: Dabei partizipiert der Roman an einem Textverfahren, das Moritz Baßler für das realistische Erzählen postuliert hat: Diese metonymisch verfahrenden Texte, die »ihre Darstellungsebene mit Hilfe von Frames und Skripten konstruieren, die im kulturellen Archiv bereits fest verankert sind«,143 drängen in der deutschsprachigen Ausprägung des poetischen Realismus auf Sinnstiftung anhand von metaphorischer Verklärung mit dem Ziel, einen Metacode, wie beispielsweise Liebe, für die erzählte Welt zu finden. Im Zuge dessen kommt es zum ›Verbrauchen‹ der Codes, denn die Verklärung gefährdet den realistischen Charakter des Textes, wodurch dieser zurückkippt in das metonymische, das heißt unverklärt-naturalistische Erzählverfahren.144 Obgleich Zolas Roman dem französischen Naturalismus angehört, der sich wesentlich vom deutschen Realismus unterscheidet, scheint die von Baßler beschriebene Kippfigur auch hier am Werk zu sein: Dies lässt sich an dem Motiv der Entsagung festmachen. Denn ein Text, der sich dieser Kippfigur bedient, kann im Grunde, so Baßler, nicht enden, es sei denn es kommt zur Entsagung: »Die Entsagung ermöglicht, das Modell auf der metonymischen Achse zu belassen und also am Ende einen ›realistischen‹, lebbaren Zustand herzustellen, der gleichwohl auf der metaphorischen Achse als defizitärer markiert bleibt und also weiterhin auf den abwesenden Metacode verweist.«145 Stefan Tetzlaff hat darauf hingewiesen, dass es jedoch nicht stets die Entsagung ist, die das potentiell unendliche Erzählverfahren arretiert, sondern dass es

140 | Vgl. Kap. III/1.1 und 1.2. 141 | Vgl. Peter Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. Konstanz 2003, S. 24. 142 | Salotto: Shopping for an I, S. 468. 143 | Moritz Baßler: Die Unendlichkeit realistischen Erzählens. Eine kurze Geschichte moderner Textverfahren und die narrativen Optionen der Gegenwart. In: Carsten Rohde, Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld 2013, S. 27-45, S. 27. 144 | Vgl. Baßler: Zeichen auf der Kippe, S. 7-10. 145 | Ebd., S. 9.

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in realistischen Texten durchaus auch zum Happy End kommen kann.146 Zolas Roman, so wäre die abschließend vorgeschlagene These, betreibt inmitten seines naturalistisch-realistischen Verfahrens die Verklärung zweier potentieller Metacodes: Liebe und Konsum. Liebe wird insofern symbolisch mit Bedeutung aufgeladen, als dass sie am Ende alle Hindernisse zu überwinden scheint: »love conquer[s] it all«,147 wie Salotto sagt. Damit eng verbunden ist die Verklärung des Konsums in Form des Warenhauses als endlos pulsierender Maschinerie, als Kathedrale, als eine Struktur, die größer und mächtiger zu sein scheint als die Menschen, die sie erschaffen haben und am Leben erhalten. Der Verklärung sind auf der metonymischen Achse der Niedergang der kleinen Geschäfte und die mitunter letalen Konsequenzen, die dieser mit sich bringt, entgegengesetzt. Die potentielle Entsagung Denise’ und Mourets von beidem, Liebe wie Konsum, und die damit verbundene Arretierung des Erzählverfahrens stellt Zolas Roman in die Tradition realistischer Prosa. Dass der Roman am Ende doch auf die »typische[n] Entparadoxierungsstrategie«148 der Hochzeit einschwenkt, die jedoch nur angedeutet und nicht vollzogen, das heißt: selbst in der Schwebe gelassen wird, vollzieht die Ambivalenz der Subjektstabilisierung, die Liebe wie Konsum in Szene setzen, auf der Ebene des Textverfahrens nach. Diese Ambivalenz wird mit Ende des Romans nicht aufgelöst, sondern in ihrem Changieren unendlich stillgestellt.

2. D avid W agner : Vier Ä pfel Mit David Wagners Vier Äpfel (2009) ist man am Ende dessen angekommen, was bei Zola im letzten Absatz von Au Bonheur des Dames als Ziel der Liebesbeziehung angedeutet wird: der Ehe. Die Literatur interessiert sich eher weniger für das ›Währenddessen‹149 und operiert vorzugsweise an den Wendepunkten des Anfangs und Endes der Liebe. Der Supermarkt als Erbe der großen Warenhäuser um 1900 fungiert bei Wagner nicht nur als Ort des Konsums, sondern auch als Ort der Liebe. Der 146 | Vgl. Stefan Tetzlaff: Entsagung im Poetischen Realismus. Motiv, Verfahren, Variation. In: Moritz Baßler (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin, Boston 2013, S. 70-114, S. 86. 147 | Salotto: Shopping for an I, S. 468. 148 | Tetzlaff: Entsagung im Poetischen Realismus, S. 86. 149 | Dies soll den Eheroman nicht in Abrede stellen, eines der berühmtesten Beispiele dafür ist schließlich Flauberts Madame Bovary (1857). Der Roman führt vor, welche Rolle Konsum auch in der Ehe spielt und welch fatale Konsequenzen es haben kann, wenn sich dieser in Folge fehlender Liebe im Exzess verselbständigt. Vgl. dazu Uwe Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne. Köln, Weimar u.a. 2015, S. 69-86.

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männliche Protagonist, der keinen Namen erhält, erzählt einen Gang durch den Supermarkt lang von dem, was er dort sieht, von seiner gescheiterten Ehe mit L., die ihn verlassen hat, sowie dem daraus resultierenden Liebeskummer. Dabei geht es ihm aber immer wieder auch um die Suche nach einer neuen Liebe, die zu finden er im Supermarkt, unter den Bedingungen des Konsums, imaginiert.

2.1 ›Markentreue‹ und ›Produktaffären‹: Der Supermarkt als Liebestopos 150 2.1.1 Liebe im Supermarkt Der Roman Vier Äpfel beginnt mit einem Gegensatz: »Lange bin ich gar nicht gern in Supermärkte gegangen. Heute aber trete ich durch die leise zur Seite gleitende Schiebetür […].«151 Der Proust’sche Einstieg152 lässt den folgenden, 144 Abschnitte umfassenden inneren Monolog von Reflexionen, Imaginationen und memoires involontaires bereits ahnen; der Gegensatz des »[h]eute aber« inszeniert den Supermarktbesuch dieses Tages als Wendepunkt. Die Scheidung der Zeit in ein ›Früher‹ und ein ›Jetzt‹ bezieht sich dabei auf Zweierlei: auf Konsum und auf Liebe. Der Protagonist befindet sich in der ›Zeit nach L.‹, seiner Ehefrau, die ihn verlassen hat, und verbindet in seinem Gedankenfluss diese verflossene Liebe mit einer Phänomenologie des Supermarktes, die immer wieder mit früherem, eigenem Konsumverhalten (wie dem westlicher Gesellschaften überhaupt) kontrastiert wird, so dass eine Art ›kleine Konsumgeschichte‹ entsteht. Obgleich der frühere Liebeszustand bevorzugt und das Jetzt als Mangel erfahren wird – er befindet sich also in gewisser Weise auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit L. –, trifft dies nicht unbedingt für die Ausspielung von früherem gegenüber jetzigem Konsumverhalten zu. So wird beispielsweise die Möglichkeit, Milch im Supermarkt kaufen zu können und nicht mehr beim Bauern in einer Kanne holen zu müssen, eindeutig befürwortet (vgl. VÄ 22f.). Dass die Äpfel vom regionalen Markt besser, weil: gesünder sind, wird durch die Pointe 150 | Überlegungen und Auszüge aus diesem Kapitel wurden bereits veröffentlicht in dem Aufsatz: Von Äpfeln und Strumpfhosen: Liebe im Supermarkt. In: Birgit Richard, Jana Müller, Eleni Blechinger (Hg.): Konsumfashionista. Mediale Ästhetiken des Modischen. Fink: Paderborn 2017, S. 79-87. 151 | David Wagner: Vier Äpfel. Hamburg 2009, S. 7. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle VÄ mit nachstehender Seitenzahl angegeben. 152 | Marcel Prousts Roman À la recherche du temps perdu (1913-1927) hebt an mit: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1: In Swanns Welt. Im Schatten junger Mädchenblüte. Übers. v. Eva Rechel-Mertens. Frankfurt a.M. 2000, S. 9).

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt

verkehrt, dass sie in der Kindheit des Protagonisten in Reichweite des lokalen Atomkraftwerkes wuchsen, die Nahrhaftigkeit also in Frage zu stellen ist (vgl. VÄ 9f.).153 Der Supermarkt hat zudem den Vorteil, paradiesisch anzumuten: Ich bin im Paradies. Ich sehe rote, gelbe und grüne Äpfel, blaue, grüne und weiße Trauben, Mangos, Feigen, Melonen und Orangen. Ich sehe Bananen und Biobananen, Zitronen und unbehandelte Zitronen, Biogurken und ganz gewöhnliche, wahrscheinlich pestizidbelastete Gurken, ich sehe kandierte und getrocknete Früchte, aufgeschnittene, auf Styroporträgern arrangierte und mit Klarsichtfolie überzogene Ananas, ich sehe Obstsalate in transparenten Plastikbechern und kühlgestellte, frischgepreßte Säfte, ich sehe Salate mit Käse oder Putenfleisch, denen kleine, manchmal leicht, manchmal weniger leicht aufzureißende Vinaigrette-Päckchen beigegeben sind, ich sehe Blätterteigpasteten, Fleischterrinen, Forellen, Hummer, Hammelkeulen, Wachteln, Wildschweine und Käseräder, ich bin im Schlaraffenland, alles ist da.« (VÄ 11f.)

Die Wahrnehmungsphänomenologie »Ich sehe« führt zu der ontologischen Feststellung »alles ist da« – der genaue Gegensatz also zum Befund in Liebesdingen, denn L. ist nicht mehr da. Zu diesem Paradies passt es, dass die Besonderheit des geschilderten Tages im Supermarkt durch den Kauf der titelgebenden vier Äpfel ausgewiesen wird. Im zweiten Abschnitt des Romans sucht der Protagonist »vier schöne, aber nicht zu schöne Exemplare aus«, die ihm »weniger künstlich« (VÄ 8) erscheinen als die anderen angebotenen Sorten. Im dritten Abschnitt bringt er die Äpfel zur Waage, die ihm ein kleines Wunder beschert: Mit der Tüte in der Hand gehe ich zur Waage, lege sie auf die Wiegefläche und drücke die Apfeltaste. […]. Kurz warte ich, daß sich das mit dem Strichcode bedruckte Klebeetikett aus dem Schlitz des Thermodruckers schiebt, dann muß ich staunen. Erst halte ich es für einen Fehler, aber nein, die grüne Leuchtanzeige zeigt 1 0 0 0 an, die vier Äpfel wiegen zusammen genau tausend Gramm. Ganz vorsichtig entnehme ich das Etikett, auf dem ich die Zahl noch einmal lese, klebe es auf die Apfeltüte, knote sie zu und lege sie in den noch leeren Einkaufswagen. Vielleicht ist heute ein besonderer Tag. (VÄ 9f.)

Das Paradies- und Apfelmotiv ruft unmittelbar den biblischen Mythos des Sündenfalls auf. Die Verführung Adams durch Eva ist signifikanterweise die Verführung zu einem Konsumakt – das Essen des Apfels – und zugleich der 153 | Die meisten Konsumanekdoten des Protagonisten funktionieren auf diese Weise: Es geht nie darum, etwas als grundsätzlich gut oder schlecht auszuweisen, da die Betrachtung meist unterschiedliche Gesichtspunkte beleuchtet und mitunter ›Haken schlägt‹. Es bleibt, wie beim Bericht über die Apfelverarbeitung der Großmutter, ein schaler Geschmack bzw. Geruch zurück (vgl. VÄ 21).

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erste Akt zur Freiheit des Menschen laut Immanuel Kant.154 Diese Konnotation der Freiheit steht der im Text angebotenen Konnotation des Schneewittchen-Märchens entgegen, dass die Waren, also die Äpfel, nur einen schönen Schein haben, in Wahrheit jedoch vergiftet sind – so dass Verführung und Konsum nicht zu Gesundheit, sondern zum Tod führen: »Vielleicht sind sie [die Äpfel, AO] ja auch, wie die im Märchen von Schneewittchen, das Erzeugnis einer bösen Stiefmutter und feil, feil, schöne Ware, dem Supermarkt geliefert worden.« (VÄ 9) Die Verführung durch käufliche Waren, Kalkül kreativen Marketings, wird beim Gang durch den Supermarkt immer wieder thematisiert: Der Protagonist betrachtet beispielsweise »ein schmales Marmeladenglas, an dessen Außenseite ein Konfitürenlöffel klebt. Ich überlege einen Augenblick, ob ich die Marmelade kaufen soll, immerhin bekäme ich ja einen Löffel dazu, lasse mich dann aber doch nicht verführen« (VÄ  14). Der paradoxen Verlockung des Sparens durch Kaufen155 wird hier widerstanden, doch sieht sich der Protagonist einem Angebot ausgesetzt, das ihn auf prä-rationaler Ebene ansprechen soll: Er sieht sich als Biene, »die durch den Supermarkt fliegt, die Verpackungen sind meine Blüten, Form und Farben, Schrift und Geruch verführen mich.« (VÄ 69) Dazu passen die »Salamiblumen« (VÄ 15) auf Pizzen, die in ihrer Verpackung wiederum »Teil eines großen Mosaiks« (VÄ 14)156 sind, innerhalb dessen Orientierung nur mittels Verführung möglich ist, so die Suggestion: »Wahrscheinlich reagiere ich auf Bewegungen vor mir tanzender Frauen, die dazu da sind, mich, den orientierungslosen Mann und Kunden, erst in die eine, dann in eine andere Ecke zu locken, in der ich mir schließlich den Einkaufswagen mit Dingen fülle, die ich gar nicht brauche.« (VÄ 28) Auch an der Wursttheke lauert Verführungsgefahr, denn dort 154 | Vgl. Immanuel Kant: Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte [1786]. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. 11: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977, S. 83-102. Die Freiheit müsse einem ›Fall‹, einer Verfehlung, entspringen, denn das Gute komme von Gott, die Freiheit aber sei ›Menschenwerk‹ und muss deshalb seinen Ursprung im ›Bösen‹ haben. 155 | Vgl. Daniel Miller: A Theory of Shopping [1998], Cambridge 2005, S. 49-62: Miller legt dar, dass ›thrift‹, also das Sparen, keinem Zweck dient, sondern »as an end in itself« (S. 49) verfolgt wird. Dazu gehört oftmals das Aufspüren von Schnäppchen, was dazu führt, »that thrift is expressed through the act of spending.« (S. 54) Konsumenten erleben somit das Einkaufserlebnis »not as an act of spending at all, but as an act of saving.« (S. 56) Laut Miller ist dies »the central ritual of contemporary shopping.« (S. 62) 156 | Die Beschreibung als Mosaik erinnert an Andreas Gurskys Fotografie 99 Cent (1999), die die Verwirrung, aber auch die Überfülle an Waren verdeutlicht. Das Mosaik-Motiv kehrt später wieder, wenn es um Haarpflegeprodukte geht (vgl. VÄ 114). Vgl. auch: Heinz Drügh: Ästhetik des Supermarkts. Konstanz 2015, S. 75-135.

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werden Käse- und Wurststückchen zum Probieren angeboten. Abermals erfolgt die Verdeutlichung dieser im animalischen Register und abermals wird ihr widerstanden: »Ich könnte mir ein oder zwei dieser Spießchen in den Mund schieben und probieren, ich soll auf den Geschmack kommen, angefüttert werden, die Wurst- und Käsewürfelchen sind Köder und Haken zugleich, aber ich beherrsche mich, greife nicht zu« (VÄ  46). Der Eingang in dieses Paradies der permanenten Verführung wird durch »drei signalorangefarbene[n] Plastikelemente[n]« (VÄ 7) markiert, die zu einer ersten Assoziation des Protagonisten führen: Diese Elemente erinnern ihn an »ihre entfernten Verwandten, die Fliegenvorhänge aus bunten Plastikstreifen«. (VÄ 7) Die Fliegenvorhänge wiederum rufen die Verbindung zu Meer und Strand auf, doch hinter den Plastikelementen beginnt lediglich der Verkaufsraum. Dieser Verkaufsraum, derartig eingeführt, erweist sich nun als potentieller Möglichkeitsund Fiktionsraum. In der Warenwelt westlicher Gesellschaften unterscheiden sich die einzelnen Produkte in ihrer Qualität kaum mehr voneinander, so dass es zu einer Verschiebung vom Gebrauchs- zum Fiktionswert gekommen ist.157 Produkte konkurrieren nunmehr darum, welche die besten Möglichkeiten im Leben des Konsumenten zu verheißen und damit die Fantasie desselben am stärksten anzuregen vermögen: »Das Individuum fühlt sich stärker, wenn es von Dingen umgeben ist, die ihm zusätzliche Möglichkeiten – schmeichelhafte Rollen in alternativen Biographien – verheißen.«158 Diese Möglichkeiten werden vor allem bei der Aktivität des ›day-dreaming‹, wie es Colin Campbell bezeichnet, exploriert, was in sich bereits ›pleasure‹ birgt,159 so dass er diese Aktivität gar zum eigentlichen Kern von Konsum erhebt: »The essential activity of consumption is thus not the actual selection, purchase or use of products, but the imaginative pleasure-seeking to which the product image lends itself, ›real‹ consumption being largely a resultant of this ›mentalistic‹ hedonism.«160 Der Fiktionswert von Waren, laut Campbell wichtiger als der Gebrauchswert, hat einen maßgeblichen Anteil daran, dass sich Identität über Konsum bestimmt bzw. bestimmen lässt. So begreift der Protagonist von Vier Äpfel seinen Einkaufswagen als »Körperverlängerung« und »Prothese« (VÄ  27), mit Hartmut Böhme könnte man auch von einer ›Ich-Prothese‹ sprechen.161 Dass diese Assoziation nicht zu weit gegriffen ist, belegt eine spätere Passage, in 157 | Vgl. Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Frankfurt a.M. 2006, S. 46. 158 | Ullrich: Habenwollen, S. 45. 159 | Vgl. Kap. II/1.2. 160 | Colin Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism [1987]. York 2005, S. 89. 161 | Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 305.

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welcher der Protagonist eine Identitätskrise erleidet, die er mit einem sprechenden Bild verdeutlicht: »Ich weiß nicht mehr, wie ich heiße und wie alt ich bin, ich weiß nicht mehr, wie spät es ist und was ich einkaufen wollte. Alles ist mir durch das Gitter meines Einkaufswagen gefallen.« (VÄ 62) Dem entspricht eine weitere Überlegung gegen Ende seines Supermarktbesuchs: »Bleiben von einem Leben am Ende bloß ein paar Einkäufe übrig?« (VÄ 107) Dass eine Frau an der Wursttheke allein durch ihre Produkteinkäufe und wenige Bemerkungen über ihr Konsumverhalten »zuviel verraten« (VÄ 48) habe, unterstreicht die intimitäts- wie identitätsstiftende Funktion von Konsum: »Sie könnte sich ausziehen und stünde nicht nackter da, und das nur, weil sie eine Vertraulichkeit an den Tag gelegt hat, die in Supermärkten unüblich und fehl am Platz ist. […] Eigentlich hat sie ja bloß ein paar Bemerkungen über ihr Abendessen gemacht.« (VÄ 48) Konsum gerät damit zur condition humaine: Ich träume zwar von dem Tag, an dem ich alles besitze und nichts mehr brauche, andererseits fürchte ich mich auch vor diesem Tag, weil es dann entweder nichts mehr zu kaufen gibt oder das Geld nichts mehr wert ist oder ich keins mehr habe und weder Bank- noch Kreditkarten mehr funktionieren. Einmal habe ich geträumt, ich fände auf meinem Anrufbeantworter diese Nachricht vor: Tut uns leid, Sie haben zu wenig eingekauft, Sie dürfen nicht mehr mitmachen, Sie sind raus. Den Rest habe ich nicht verstanden. (VÄ 90, Fußnote 28)

Diese alptraumhafte Sequenz verdeutlicht: Man kann nicht nicht konsumieren, das Ende des Konsums, so ließe sich anhand des letzten Satzes kurzschließen, käme dem Ende des Lebens gleich. Wie die Konsumenten in Zolas Au Bonheur des Dames verfällt somit auch der Protagonist von Vier Äpfel dem Fiktionswert der Waren. Am deutlichsten wird dies im 39. Abschnitt, in dem er sich anhand eines Kassenzettels daran erinnert, wie er in einem Drogeriemarkt einem digitalen Springseil begegnete: Noch bevor ich es durch die transparente Blisterverpackung näher gemustert hatte, sah ich mich schon in professioneller Sportbekleidung, die ich gar nicht besitze, verschwitzt im Keller eines Hauses, das ich gar nicht kenne, im Übungsraum trainieren, sah mich in einem engen T-Shirt, unter dem sich meine Bauchmuskeln wie Heizrippen abzeichneten, mit muskulösen Oberschenkeln und Waden, wie ich sie gar nicht habe, hinauf in einen hellen Wohnbereich kommen, sah mich, mir selbst nur ganz entfernt ähnlich, in einem völlig anderen Leben und hörte mich zu einer mir unbekannten blonden Frau, die in einer offenen amerikanischen Küche stand, Hallo Liebling sagen. (VÄ 54)

Die Passage ist durchsetzt mit Parenthesen, die den Unterschied zur Wirklichkeit markieren. Dabei liegt der Fokus zunächst auf der Imagination der eige-

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nen Oberflächenverschönerung und Selbstoptimierung:162 Bauchmuskeln, Oberschenkel, Waden, Gesicht. Die ›schmeichelhafte Rolle einer alternativen Biographie‹ wird anschließend bis zum Koitus durchgespielt: Diese meine Gattin, die nichts, aber auch gar nichts mit L. gemeinsam hatte und mich auch Liebling nannte, fragte dann, ob ich nicht einen Teller Gazpacho essen wolle. Ja, sagte ich in dieser Phantasie, und schon im nächsten Augenblick sah ich uns beide halbnackt auf der Küchenarbeitsfläche liegen, erstaunt, daß ich weder wußte, wann wir geheiratet hatten, noch woher wir uns kannten und in welchem Jahr wir in dieses Haus gezogen waren. […] Überhaupt keine Erinnerung mehr zu haben gehörte zu dieser Phantasie, in der ich meiner viel zu laut stöhnenden Frau, deren Namen ich ebenfalls nicht wußte, die Jogginghose nicht einmal ganz herunterzog, auch sie war ja gerade erst vom Sport zurück, sie sagte noch: Paß auf, es ist die Kaschmirtrainingshose, ich aber achtete nur darauf, ob sie, diese gutaussehende, nach frischgepreßtem Apfelsaft riechende Frau, kurz vor ihrem Orgasmus nicht vielleicht meinen Namen wisperte oder schrie, ich hätte doch gern gewußt, wie ich heiße und wer ich eigentlich bin. (VÄ 54f.)

Es ist signifikant, dass das zunächst harmlos erscheinende Konsumprodukt des Springseils eine Fantasie auslöst, die nicht nur von der Steigerung der eigenen Sexyness163 handelt, sondern auch von Liebe beziehungsweise Ehe und Sex. Obgleich der Fokus aufgrund der ausführlicheren Beschreibung zunächst auf der sexuellen Lust zu liegen scheint, ist die Fantasie einer erfolgreichen Ehe nicht minder wichtig, denn darauf zielt das Begehren des Protagonisten: die feste Bindung, die er mit L. verloren hat. Dass die Fantasie-Ehefrau nach »frischgepreßtem Apfelsaft« riecht, verknüpft diese Passage mit dem Romantitel und der Markierung dieses Tages, an dem er sich im Supermarkt an diese Fantasie erinnert, als ›besonders‹. Die erhoffte Besonderheit des Tages bezieht sich auf jenes Thema, um welches die Gedanken des Protagonisten unablässig schweifen: Liebe. Daher korrespondiert diese Passage mit einer weiteren Fantasie, die sich am Fiktionswert eines Eis-Crushers labt: Vor einiger Zeit habe ich hier einen elektronischen Eis-Crusher gesehen und mich sofort, reflexhaft, gefragt, ob sich mein Leben durch den Kauf eines solchen Gerätes nicht völlig ändern müßte. Bis kurz davor hatte ich zwar nicht gewußt, daß mir ein Eis-Crusher fehlte, schon aber sah ich L. und mich mit Mojitos in der Hand auf dem Deck einer Yacht, sah uns unter Palmen, sah uns auf einer riesigen Dachterrasse und auch an einem

162 | Vgl. Kap. II/2.2.1. 163 | Vgl. Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Übers. v. Michael Adrian [Original: Why Love Hurts. A Sociological Explanation, 2012]. Berlin 2011, S. 83.

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Liebe und Konsum Strand, der neue Eis-Crusher wie ein Talisman des schönen Lebens immer mit auf dem Bild. (VÄ 88)

Dieses Mal fokussiert die Fantasie L. und ruft dabei Bilder auf, die aus einer Werbung für Rum, Cocktails oder Longdrinks stammen könnten. Sie folgt dem Paradigma der Verknüpfung von Liebe und Konsum und erscheint zugleich derart überzeichnet, dass sie ebenfalls ironisch gelesen werden könnte.164 Die Suche nach einer zweiten großen Liebe könnte man als »fixe Idee«165 des Protagonisten bezeichnen, denn neben dem Liebeskummer und den damit verbundenen Erinnerungen an L. beherrscht sie seine Fantasien und Reflexionen. Diese sind stets mit der Praxis des Konsums und/oder dem Ort des Supermarkts verbunden. So entspricht zum Beispiel die Erinnerung an Barbara und das Übereinanderherfallen am Strand wie die Eis-Crusher-Fantasie mit L. zuvor der Ikonografie von Werbung mit romantischer Aufladung (vgl. VÄ 40),166 was durch die anschließende Beschreibung eines Werbespots für die Deodorantmarke Axe, der genau von diesem Übereinanderherfallen handelt, unterstrichen wird. Zwei Fantasien des Protagonisten sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben: Erstens, das Zusammenstoßen mit dem Einkaufs-

164 | Ebenfalls ironisch könnte die Wiederaufnahme der Eis-Crusher-Fantasie drei Abschnitte weiter gelesen werden, die unterschiedlichste Produkte aneinanderreiht und im Glaubenssatz des Kapitalismus, dass immer alles besser werde, mündet: »Soll ich mich verführen lassen? Brauche ich nicht vielleicht doch einen Eis-Crusher? Säße ich dann nicht viel öfter auf dem Deck meiner imaginären Yacht, einen Drink in der Hand? Brauche ich Mangogabeln? Ein Buttermesser? Seltsam, daß ich mich immer wieder, jede Woche aufs neue, für die Angebote und Sonderposten interessiere. Die Illusion, vielleicht doch noch ein anderes Leben führen zu können, hege ich also immer noch, die Hoffnung, mein Dasein könnte praktischer, gemütlicher und schöner werden, ist noch in mir lebendig, womöglich helfen da vier verchromte Kochplattenhauben oder ein Haushaltsscherenset oder ein Weinkühlstab? Wie ein Kind freue ich mich über diese Angebote zur Lebensverbesserung, ich freue mich über die Energie und Zuversicht, die so unverhohlen aus diesen Produkten sprechen. Sie machen mich glauben, für kurze Zeit jedenfalls, alles würde immer besser.« (VÄ 91f.) 165 | Vgl. zu dem literaturgeschichtlich bedeutsamen Konzept: Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 · 1900. 4. überarb. Aufl. München 2003, S. 136; sowie: Harald Neumeyer: »Wir nennen aber jetzt Melancholie […]« (Adolph Henke). Chateaubriand, Goethe, Tieck und die Medizin um 1800. In: Thomas Lange, Harald Neumeyer (Hg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg 2000, S. 63-88. 166 | Vgl. Kap. II/2.2.1. Der Roman selbst bestätigt die Assoziation durch das Wort »Reklame«, welches direkt im Satz darauf fällt (vgl. VÄ 40).

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wagen einer schönen Frau, und zweitens die Idee, sich im Supermarkt den passenden Partner kaufen zu können. Bei der ersten Fantasie handelt es sich um einen wiederkehrenden Traum: Einmal habe ich geträumt, mit meinem Einkaufswagen gegen einen anderen Einkaufswagen zu stoßen, in dem genau die gleichen Lebensmittel liegen wie in meinem. […] In diesem Traum, ich habe ihn schon ein paarmal geträumt, wird dieser andere Einkaufswagen von einer selbstverständlich aufregend schönen Frau geschoben, in die ich mich, ich kann gar nichts dagegen tun, sofort verliebe, und ihr geht es genauso, wir beide wissen sofort, wir sind füreinander bestimmt, aber als ob wir unser gemeinsames Schicksal noch abwenden könnten, weichen wir beide zur selben Seite aus, blockieren uns erst links, dann rechts, und denken beide für kurze Zeit, daß wir vielleicht vor einem Spiegel stehen − aber nein, wir sind zwei Individuen und bräuchten von nun an eigentlich nur noch einen Einkaufswagen. So ging der Traum, tatsächlich aber habe ich noch nie jemanden im Supermarkt kennengelernt. (VÄ 13)

Der romantische Topos der Liebe auf den ersten Blick wird hier, fast schon plakativ, mit der Auswahl und dem Kauf von Waren, also Konsum, kurzgeschlossen: An die Stelle der Körperoberfläche der Frau wird die Oberfläche der Waren gesetzt. Das Bild der zusammenstoßenden Einkaufswagen verdeutlicht die Unterbrechung, den Knall, die Plötzlichkeit der Anwesenheit einer Emotion, die Sekunden vorher noch nicht da war. Liebe folgt laut Luhmann dem Startmechanismus Zufall, der hier eindrücklich inszeniert wird: Beide haben die gleichen Produkte im Einkaufswagen, was für ein Zufall! Wenn Identität und Individualität sich maßgeblich über Konsum bestimmen,167 dann bedeutet die gleiche Produktauswahl zwangsläufig – ›ich kann gar nichts dagegen tun‹ – Liebe. Nicht umsonst ist laut Wolfgang Ullrich der beste Ort für ein Rendezvous das Warenhaus:168 Nirgendwo sonst lässt sich die Passung des potentiellen Partners besser erproben als bei der (potentiellen) Auswahl von käuflichen Dingen. En passant wird zudem der Kugelmenschenmythos Platons169 gestreift, wenn beide die gleichen Bewegungen ausführen, um einander auszuweichen und so dem Schicksal, mithin der Wirkmacht des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Liebe, zu entkommen. Folglich wird anhand der Vorstellung, in Zukunft nur noch einen Einkaufswagen zu benötigen, die Verschmelzung der beiden Individuen angedeutet. Es handelt sich bei dieser Fantasie zudem um eine doppelte Übersetzung des romantischen 167 | Vgl. Kap. II/4.1. 168 | Vgl. Ullrich: Habenwollen, S. 29. 169 | Vgl. Platon: Symposion. In: Ders.: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Hg. v. Karlheinz Hülser. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Bd. VI. Frankfurt a.M., Leipzig 1991, S. 99109.

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Liebestopos, der einstmals quasi-religiösen Charakter in der Literatur hatte und dann von der Werbung instrumentalisiert wurde.170 Von dort holt Wagners Roman den romantischen Liebestopos ab und setzt ihn in dieser Form wieder in die Literatur ein. Auffällig ist außerdem die stark narzisstische Färbung dieser Fantasie, die das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe inszeniert: Die Frau mit dem Einkaufswagen fungiert als Spiegel, es geht also um ihre Körperoberfläche und die Oberfläche der Konsumprodukte, die in ihrem Einkaufswagen liegen, gleichermaßen. Dass dieses Bild eine Kehrseite hat, verweist auf die fehlende Tiefe, denn es ist die Verdeutlichung der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Liebe zugleich: Angesichts des für das Individuum kaum überschaubaren Warenangebots im Supermarkt und der daraus folgenden, schier unendlich anmutenden Zahl an Produkt-Kombinations-Variationen, erscheint die Auswahl der exakt gleichen Produkte hochgradig unwahrscheinlich. Es erweist sich damit als Bild für die Luhmann’sche Höchst-Individualität und Unwahrscheinlichkeit von Liebe zugleich. Konsequenterweise hat der Protagonist noch nie jemanden im Supermarkt kennengelernt. Das mag unter anderem auch daran liegen, dass die Möglichkeit des Kontakts und der Kommunikation im Supermarkt durch das vom Protagonisten beobachtete Anonymitätsgebot hochgradig erschwert wird: Alle [Kunden, AO] wirken sehr konzentriert und bewegen sich wie Schlafwandler, manchmal sieht das aus, als steckten sie selbst schon in den Kühlschränken, in die sie die Dinge, die sie kaufen, später stopfen werden. Gehört es zur Konvention des Supermarktverhaltens, so zu tun, als wäre kein anderer da, alle anderen zu übersehen, durch sie hindurchzublicken, gar nicht zu bemerken? Die Strumpfhosenfrau und alle anderen, die gerade hier sind, sind zwar zur selben Zeit im selben Supermarkt, verhalten sich aber so, als hätte jeder von ihnen seine eigene Zeit dabei, die sie wie eine halbtransparente Schutzfolie umhüllt. (VÄ 31)

Der Verweis auf den Kühlschrank lässt jegliches Begehren im Keim ersticken, die Schutzfolie sorgt dafür, dass es zu keinerlei Berührung kommt – obgleich diese als Möglichkeit aufgrund der Semitransparenz suggeriert wird, sie mithin also, dem Bekleidungstopos nicht unähnlich, trotz ihrer Schutzfunktion auch als Lockmittel fungiert. Der Fantasie von den kollidierenden Einkaufswägen wird denn auch eine Absage erteilt: »Deshalb bewege ich mich durch eine schlichte, gekühlte, vollgestopfte Schachtel, in der selten jemand einem anderen zu nahe kommt. Selbst wenn zwei Einkaufswagen aneinanderstoßen, sieht es aus, als rollten sie ungehindert durch den anderen hindurch.« (VÄ 62) Daher entwickelt der Protagonist eine zweite Fantasie, die sich an der Idee 170 | Vgl. Kap. II/2.2.1.

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des ›Single-Shoppings‹ entzündet: »[M]ir fällt ein, daß ein Freund mir von einem Supermarkt erzählt hat, in dem jeder Kunde, der das möchte, sich an bestimmten Abenden der Woche bereitliegende rote Schleifen an seinen Einkaufswagen bindet, um zu signalisieren, daß er oder sie jemanden kennenlernen möchte. Single-Shopping soll es heißen, und ich weiß nicht, ob er mir das erzählt hat, damit ich ihn frage, wo ich diesen Single-Supermarkt finden kann.« (VÄ 35) An diese Erinnerung knüpft sich abermals die Erinnerung an den Traum von der Frau mit dem Einkaufswagen und den gleichen Produkten. Allerdings geht der Protagonist direkt dazu über, aufzuzählen, was ihm wahrscheinlich alles nicht an ihr gefallen könnte – wohlgemerkt beziehen sich all diese Einwände auf Konsumgewohnheiten: dass sie eventuell raucht, wie sie ihre Tiefkühlpizza essen möchte, das von ihr bevorzugte Fernsehprogramm und so weiter (vgl. ebd.). Er resümiert: »Es gibt ungefähr eine Million Dinge, die uns aneinander nicht gefallen könnten. Nur L. war perfekt, an ihr hat mich gar nichts gestört, aber das ist eine Lüge der Erinnerung.« (Ebd.) Diese Perfektion wiederzufinden, verspricht eine ganz andere Version des ›Single-Shoppings‹ und ›Single-Supermarkts‹: Vor mir sehe ich ein Schild an zwei farblosen Nylonfäden von der Decke hängen, es bewegt sich ganz leicht hin und her, woran ich merke, daß ein Lüftungshauch durch den Supermarkt zieht. Auf dem Schild steht MÄNNER/FRAUEN IM ANGEBOT und, kleiner geschrieben, DER IDEALE PARTNER. Darunter, in einer Ecke des Supermarktes, in der ich, so kommt es mir vor, noch nie gewesen bin, ja die mir bisher noch nicht einmal aufgefallen ist, sehe ich ein hohes Glasregal. Als ich näher komme, erkenne ich, daß es sich um ein in einzelne Fächer unterteiltes Aquarium handelt, in dem menschliche Körper schwimmen. Kleine, transparente Schläuche führen in ihre Nasenlöcher, offenbar liegen die Leiber in einer Art Gelee. Hier, so deute ich die Erläuterungen, kann ich mir einen neuen Partner aussuchen, hier schweben Zukünftige im Nährbecken und warten auf ihren Einsatz als Freund, Ehemann oder Liebhaber. Sie stecken in enganliegender, weißer Polyamidunterwäsche, die Augen sind geschlossen, hin und wieder steigen Bläschen aus den Mundwinkeln, Männer liegen neben Frauen, jeder hat sein eigenes Fach – ich muß an die Aquarien in den Restaurants denken, in denen der Gast sich den Fisch, den er bestellt, selbst aussuchen und ihm beinen letzten Schwimmzügen zusehen kann. (VÄ 35f.)

Der Protagonist nimmt hier also den Begriff des ›Single-Shopping‹ wörtlich: Der ideale Partner kann entweder völlig ohne Erinnerungen oder mit ganz nach Gusto aufgespieltem, gemeinsamem Vorleben erworben werden.171 Der 171 | Die Passage nimmt nicht nur den zeitgenössischen Science Fiction-Diskurs der Androiden auf, sondern erinnert in seiner Unheimlichkeit auch an den älteren Automatendiskurs der Romantik, insbesondere an E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann, worin sich

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oder die Zukünftige kommt damit ganz ohne unerwünschte Eigenschaften oder emotionalem Ballast daher, der die neue Verbindung eventuell gefährden könnte. Wie bei den üblichen Supermarktwaren befinden sich zudem Etiketten an den einzelnen Fächern, die eine falsche Wahl, zum Beispiel mit den falschen Charaktereigenschaften oder Angewohnheiten, verhindern sollen (vgl. VÄ  36f.). Die Fantasie erträumt sich folglich den mühe- und aufwandslosen Erwerb eines hundertprozentig passenden Partners – vom Geld einmal abgesehen, ein Preis wird nicht genannt. Dass die wörtliche Auslegung des ›Single-Shoppings‹ diesen vermeintlich ad absurdum führt, erweist sich als Trugschluss, wirft man einen Blick auf zeitgenössische Partnerbörsen im Internet, die zuweilen mit sehr sprechenden Namen wie »Shop a Man« aufwarten.172 Auf diesen Börsen ist es ein Algorithmus, der den Startmechanismus Zufall ausschaltet und verspricht, den passenden Partner nach wenigen Mausklicks anbieten zu können.173 Der von l’ennui und dem ewig gleichen (Konsum-)Kreislauf des Lebens – Einkaufen, Kochen, Essen, Schlafen, Müll wegbringen – geplagte Protagonist gibt die Hoffnung daher nicht auf: So betrachtet ist das Leben langweilig, so langweilig, daß ich mich sofort umbringen müsste, wäre da nicht die Hoffnung, zwischen zwei Gängen zur Mülltonne könnte vielleicht doch noch etwas passieren. Und auch bin ich so programmiert, daß ich glaube, Nathanael gerade deshalb in die Puppe Olimpia verliebt, weil sie sich in ihrer Anpassungsfähigkeit und Fügsamkeit als ideale Partnerin erweist. Ian McEwan nimmt diesen Aspekt in einer Binnenerzählung in seinem Roman Sweet Tooth (2012) auf, in welcher Neil Carder eine Modepuppe in einem Londoner Kaufhaus inklusive kompletter Kleidungsausstattung kauft, mit nach Hause nimmt und dort als seine Partnerin behandelt, nur um sie letztendlich ›umzubringen‹. Vgl. zu diesem Themenkomplex: Rudolf Drux: Marionette Mensch. Ein Metaphernkomplex und sein Kontext von E.T.A. Hoffmann bis Georg Büchner. München 1986; Klaus Völker (Hg.): Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, Androiden und lebende Statuen. München 1971; Eva Kormann, Anke Gilleir, Angelika Schlimmer (Hg.): Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüren des Androiden. Amsterdam, New York 2006. 172 | Bei dem Portal www.shopaman.de war der Name Programm: Bis Ende 2015 wurden dort Männer im »Tagesangebot« angepriesen, während Frauen als »Shopaholics« geführt wurden. Der Ableger der Datingseite eDarling wurde jedoch aufgrund mangelnden Profits vom Netz genommen. Ein weiteres Beispiel wäre die Dating-App Tinder, mit welcher sich die Benutzer einen Partner rein nach optischen Kriterien, wie in einem digitalen Kaufhaus, aussuchen können. Vgl. dazu Nancy Jo Sales: Tinder and the Dawn of the »Dating Apocalypse«. In: Vanity Fair, September 2015, www.vanityfair.com/cul​ ture/2015/08/tinder-hook-up-culture-end-of-dating, abgerufen am 07.06.2017. 173 | Vgl. zum Thema Algorithmus Kap. III/2.3.

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt dieses Etwas-Passieren müßte mit einer Frau zusammenhängen. Etwas in mir glaubt noch immer, daß sich mit einer zweiten großen Liebe alles lösen und dann fügen könnte. Leider kann ich diese große Liebe hier im Supermarkt nicht kaufen, Mülltüten aber könnte ich mitnehmen, ich glaube, die stehen sogar auf dem Zettel, den ich nicht dabei habe. (VA 129)

In dieser Passage ist die wiederkehrende Referenz auf Müll signifikant: Der Ernüchterung, dass sich die zweite große Liebe nicht im Supermarkt kaufen lässt, folgt die Schlussfolgerung, Mülltüten mitnehmen zu können. Dass diese Bemerkung nicht zufällig erfolgt, erklärt der anschließende Satz: »An Mülltüten denke ich sonst immer erst, wenn keine mehr da sind und ich mit Einkaufstüten improvisieren muß, die eigentlich nicht in den Tretmülleimer passen, den L. in der Küche stehengelassen hat.« (VÄ 129f.) Wie man in der romantischen Liebe nicht an das Ende einer Beziehung zu denken hat – denn dies implizierte die Antizipation desselben und bedeutete folglich die Störung der Verbindung –, so fällt auch das Fehlen von Mülltüten erst dann auf, wenn der Fall eingetreten ist, dass sie nicht mehr vorhanden sind. Dass also ausgerechnet der Mülleimer von L. in der Küche zurückgelassen wurde, verstärkt die hier vorgeschlagene Assoziation, dass das Ende einer Beziehung auch immer so etwas wie Müll übrig bleiben lässt: allen voran der verlassene Partner, der sich vom anderen weggeworfen fühlt.174

2.1.2 ›Queen of the Supermarket‹: L. In Bruce Springsteens Song Queen of the Supermarket (2009) geht es um die als ungewöhnlich markierte Liebe zu einer Supermarktkassiererin. Der Supermarkt wird, ähnlich wie in Vier Äpfel, als Ort der Träume und des Überflusses, »a wonderful world where all you desire and everything you’ve longed for is at your fingertips«175 markiert. Wie in Zolas Roman wird hier eine theatrale Inszenierung beschworen, indem die Waren ausgestellt und zum Greifen nah sind. Auch der Protagonist von Vier Äpfel hat eine Lieblingskassiererin, die er gleich beim Betreten des Supermarktes bemerkt: »Heute aber trete ich durch die leise zur Seite gleitende Schiebetür und sehe gleich den Rücken meiner Lieblingskassiererin an der Kasse links, ich erkenne sie an ihrem langen, blonden, gewellten Haar. Ich bleibe stehen, suche in meiner Hosentasche nach einer Münze für das Einkaufswagenschloß und schaue zu, wie sie das Strichcode-Etikett einer Käse- oder Fleischwarentüte mit unnachahmlicher Handbewegung über das Scannerfeld ihrer Computerkasse schwenkt.« (VÄ 7) Die 174 | Vgl. dazu bspw. den englischen Ausdruck für die Beendigung einer Beziehung: ›to dump someone‹, also wörtlich: ›jemanden auf den Müll werfen‹. 175 | Bruce Springsteen: Queen of the Supermarket, von dem Album Working on a Dream, Columbia Records 2009.

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›unnachahmliche Handbewegung‹176 erinnert an Springsteens »The way she moves behind the counter beneath her white apron her secrets remain hers«177 – es erscheint als Alleinstellungsmerkmal der Kassiererin. Dementsprechend entzündet sich auch an ihr die Fantasie des Protagonisten: Er sieht sie am Ende seines Supermarktbesuches als »Kassenloreley, die im Wind über Wellen und Strom auf ihrem Terminalfelsen sitzt.« (VÄ 147) Sie sei seiner Meinung nach zudem »viel zu hübsch, um hier zu sitzen« (VÄ 150f.), aber vielleicht warte sie ja auch nur darauf »von hier weggeheiratet zu werden«178 (VÄ 151). Darauf folgt die für ihn unausweichliche Fantasie, er könnte genau ihr Traummann sein: »Will es vielleicht mein Schicksal, daß ich heute hier um ihre Hand anhalte? Könnte ich dann endlich L. vergessen? Leider, ich ahne es, bin ich nicht dieser Prinz, die Prinzenrolle liegt mir nicht.« (Ebd.) Die Verhandlung der Faszination für die Kassiererin im romantischen sowie im Märchenregister – Loreley, der Traummann als Prinz – wird durch den ironischen Verweis auf das Produkt der ›Prinzenrolle‹ jedoch gebrochen. Diesmal ist es allerdings nicht die Imagination zahlreicher unangenehmer Eigenschaften der Frau, die eine potentielle Beziehung für ihn verunmöglichen, sondern die Tatsache, dass jeden Tag unzählige Männer – wie die Waren, die diese aufs Band legen – an ihr vorüberziehen.179 Das sorgt zum einen dafür, dass sie sich mit einem Überangebot konfrontiert sieht, und zum anderen, dass sie leichter zwischen den ›Angeboten‹ vergleichen und schließlich, in der Fantasie des Protagonisten, zu dem Schluss kommen könnte: »etwas stört ja immer« (VÄ 151). Um in der Masse dieses Angebots aufzufallen, muss sich Mann schon etwas Besonderes einfallen lassen: 176 | Vgl. dazu auch die Passage am Ende, in welcher nochmals auf diese »unnachahmliche Handbewegung« verwiesen wird: VÄ 152. 177 | Bruce Springsteen: Queen of the Supermarket. 178 | Mit dieser Annahme greift der Protagonist auf ein Erklärungsmodell zurück, das bereits bei Zola wirksam ist: Nicht nur die Waren stehen zum Verkauf, auch die Verkäuferinnen (und Verkäufer) sind ›im Angebot‹, vgl. Kap. III/1.1. 179 | Allerdings ist auch die Supermarktkassiererin in dieser Logik nur eine von vielen in der Kette der Ersetzungen: Der Protagonist hat auch im Drogeriemarkt eine Lieblingskassiererin und den Buchladen nebenan betritt er nur, wenn er durch das Fenster sehen kann, dass seine Lieblingsbuchhändlerin da ist, mit der er eine ›geheime Beziehung‹ führe, aufgrund derer sich daheim Stapel von ungelesenen Büchern neben seinem Bett ansammeln (vgl. VÄ 55f.). Dies ist ambivalent: Produziert die Nähe zum Bett einerseits Intimität, wird diese durch die Tatsache gebrochen, dass er die Bücher nie liest und einmal im Jahr in ein Regal zu weiteren ungelesenen Büchern räumt. Liebe und Konsum verschränken sich auch in diesem Fall: Der Kaufakt ist allein durch die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit der Buchhändlerin motiviert, gleichzeitig definieren diese Kaufakte die ›geheime Beziehung‹ zu ebenjener Frau.

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt Ich habe mich schon einmal gefragt, ob ich sie nicht mit einer Auswahl besonders ausgefallener Produkte beeindrucken könnte. Womöglich habe ich schon angefangen, manche Dinge bloß zu kaufen, weil ich in ihrem Ansehen steigen möchte? Kaufe ich deshalb keine Tiefkühlpizza mehr und manchmal sogar frisches Gemüse? Könnte ich sie mit einer außergewöhnlichen, magischen Zusammenstellung von Lebensmitteln dazu bringen, aufzustehen, alles liegen zu lassen und mit mir durch die Schiebetür zu verschwinden? Was müßten das für Produkte sein? (VÄ 151f.)

Das Problem ähnelt jenem der zusammenstoßenden Einkaufwagen mit den gleichen Produkten – in der schier unendlich anmutenden Auswahl des Supermarkts scheint eine bestimmte, ›magische‹, die Welt verändernde Produktauswahl zum einen potentiell möglich, zum anderen jedoch unwahrscheinlich. Die Suche nach einem passenden Partner gerät damit zur Herkulesaufgabe, die Belastung des Individuums steigt ungemein. Und so führt die Fantasie des Protagonisten zurück zu ihm selbst, zu Eigenschaften und Abläufen, die nicht in seiner Macht stehen und damit eine Entlastung des Individuums suggerieren: »Eines Tages, da bin ich mir ganz sicher, wird das Kassendisplay blinken, weil der Barcodeleser ganz unbemerkt die Konstellation der Leberflecke auf meinem linken Handrücken gelesen hat und dank einer bis dahin in den Tiefen des Systems verborgenen Sonderfunktion herausfindet, daß sie und ich, wir beide, zusammengehören. Für immer.« (VÄ 152)180 Diese romantisch-verklärende Fantasie – mit kritischen Untertönen hinsichtlich der Überwachung des gläsernen Kunden – wird mit der eher der dunklen Seite der Romantik zugehörigen Überlegung kontrastiert, die Kassiererin könnte ein Roboter sein,181 da sie »fast immer« (ebd.) an der Kasse sitze. Damit ist die Angst der »kassiererinnenlose[n] Kasse[n]« (VÄ 158) verbunden, die romantische Fantasien bezüglich des Supermarktpersonals verunmöglichen würde. An diesem Tag jedoch kassiert ihn die Kassiererin wie sonst auch ohne besondere Vorkommnisse ab. Sie markiert damit nicht nur den Eingang des Supermarkts – sie ist das erste, das dem Protagonisten nach dem Betreten auffällt –, sondern auch den Ausgang aus diesem: Mit ihrer Platzierung am Anfang und Ende des Textes rahmt sie diesen ein, wodurch der Text, ein Möglichkeits- und Fiktionsraum wie der Supermarkt, potentiell zyklisch wird: Er könnte genau dort wieder von vorn beginnen. L. dagegen, deren voller Name nie genannt wird, bleibt im Roman eine Leerstelle, die mannigfaltig gefüllt werden könnte und somit beim Leser ganz

180 | Man könnte hinter der »in den Tiefen des Systems verborgenen Sonderfunktion« einen Algorithmus vermuten. Vgl. Kap. III/2.3. 181 | Auch hier wird der Androiden-/Automatendiskurs wieder aufgenommen, vgl. Fußnote 171.

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eigene Fiktionswerte generiert.182 Beispielsweise könnte man phonetisch darin das französische Personalpronomen ›elle‹ und damit das Weibliche schlechthin lesen, oder aber auch die etwas abstraktere Assoziation zu Liebe, Love, L’Amour ziehen und das Namenskürzel als einen Stellvertreter für die Liebe selbst einstehen lassen. Noch etwas weiter assoziiert, könnte L. zudem auch ›Leidenschaft‹ sowie das darin bereits enthaltene ›Leid‹, zwei unabdingbare Komponenten der Liebe, signifizieren … und so weiter. Obwohl L. nicht anwesend ist und der Supermarkt für den Protagonisten ein Ort ist, an dem er »in einem großen Bogen um L. herumfahren kann« (VÄ 32), wird sie beständig durch ihn vergegenwärtigt, sie erscheint ihm als »Wiedergängerin« und »Supermarktgespenst« (VÄ 15), das er auf dem Cover von Zeitschriften zu erblicken meint (vgl. VÄ 125) oder jeden Moment um die nächste Ecke biegen könnte – sie ist also gerade durch ihre Abwesenheit die wahre ›Queen of the Supermarket‹. Diese Vergegenwärtigungen entzünden sich nicht nur und nicht primär an den Frauen, die er im Supermarkt sieht, sondern vor allem an den Produkten, die er dort vorfindet. Dabei werden diese Passagen meist mit einer Variante von ›L. hat mir einmal erzählt/gesagt‹ (vgl. VÄ 20, 32, 42 uvm.) eingeleitet, was L. eine Allmachtsposition bezüglich des (Waren-)Wissens zuweist – es scheint, als ob er den Großteil seines Produktwissens von ihr hat – und gleichzeitig auf den kommunikativen Aspekt von Liebe verweist: »Als L. noch mit mir redete« (VÄ 16) leitet daher auch die erste dieser Passagen ein. Es handelt sich um die kommunikative und affektiv besetzte Situation des Lehrens bzw. Lernens, die der Text selbst anhand seines Fußnotenapparates nachvollzieht.183 So erinnert sich der Protagonist beim Anblick von Tiefkühlbeeren daran, dass L. ihm einmal gesagt hat, »wenn Küsse eine Farbe hätten, müßten sie die Farbe von Himbeeren haben.« (VÄ  20) Küsse jedoch, so räsoniert er weiter, »lassen sich nicht einfrieren, das unterscheidet sie von Himbeeren.« (Ebd.). Küsse können damit nicht, wie eine andere Episode der warenkundlichen L.Erinnerungen darlegt, in verschiedenen Aggregatszuständen existieren (vgl. VÄ 16). Eine weitere memoire involontaire überkommt ihn beim Anblick einer Frau, die in seiner Wahrnehmung zunächst L. ähnlich sieht (vgl. VÄ 15), was sich jedoch als falsch erweist: Die Erinnerung kommt anhand eines Produkts 182 | Literaturgeschichtlich erinnert dies an die Namensabkürzungen in den Erzählungen der Romantik, aber auch in den Texten Heinrich von Kleists, die als Authentifizierungsmarker fungieren. Zudem ist an die berühmte Abkürzung ›K.‹ in Franz Kafkas Texten zu denken. 183 | Vgl. Kap. III/2.3: Die meisten Fußnoten verhandeln Wissen um Konsum, oftmals in einer Kontrastierung der Vergangenheit, die vor allem in der Kindheit des Protagonisten besteht, gegenüber der Gegenwart. Der Roman nimmt daher anhand der Fußnoten immer wieder Warenkunde-Charakter an.

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zustande, für das L. eine Leidenschaft hegte: Strumpfhosen. »Wahrscheinlich haben die Strumpfhosen mich an L. erinnert, L. hat ja immer und überall nach Strumpfhosen Ausschau gehalten.« (VÄ 30) Dass es dieses von L. stets gesuchte Produkt ist, das ihn unmittelbar an sie denken lässt, offenbart, dass es immer noch der Weltbezug von L., ihre »weltkonstituierende Individualität«184 ist, die den seinen steuert: »[N]ur weil ich von ihr so viel über Strumpfhosen weiß, habe ich die Strumpfhose der Frau überhaupt bemerkt; früher, bevor ich L. und ihre Leidenschaft für Strumpfhosen kannte, hätte ich gar keine Strumpfhose, sondern nur Frauenbeine gesehen, schöne, schmale, nicht zu dünne Beine« (VÄ 30). Diese Wahrnehmung, die maßgeblich von L. bestimmt wird, verwehrt ihm den Genuss der (Oberflächen-)Ästhetik anderer Frauen, da er lediglich das von ihr getragene Konsumprodukt, nicht aber die Frau selbst wahrnimmt. Ihr Weltbezug bestimmt den seinen und verhindert, dass er sich auf jenen einer anderen Frau einlassen kann. Ähnlich verhält es sich mit einer Episode am Ende des Romans, als der Protagonist an der Kasse ansteht. Dort mustert er, über die Schiebestange seines Einkaufswagens gelehnt, die Frau vor ihm und merkt en passant an: »Ihr Haar hat sie mit einer Spange am Hinterkopf zu einer Art Vogelnest hochgesteckt« (VÄ 138), nur um wenig später zu bemerken, dass die Anziehung dieser Frau durch ein Produkt ausgelöst wurde, das eindeutig durch L. besetzt ist: »Erst jetzt sehe ich, daß die Spange, mit der sie ihr Haar so kunstvoll absichtslos zusammenhält, die gleiche Haarspange ist, die L. immer trug, ein französisches Fabrikat aus Horn oder Hornimitat.« (VÄ  138f.) Damit jedoch nicht genug, die Haarspange ist zudem klar sexuell besetzt: Die Spange reimt sich nicht nur mit der Stange des Einkaufswagens, über die er sich lehnt, sondern verweist aufgrund ihres Materials, Horn, auch auf das englische ›horny‹. Vor allem aber betrieb L. damit ein »Haarspangenspiel« (VÄ  139) – das stetige Verschließen und Wiederöffnen, das ein KlickKlack-Geräusch erzeugt –, das wiederum »fast immer ein Vorspiel gewesen« (VÄ 140) ist. Wenn der Protagonist das Klick-Klack-Geräusch als »Glöckchen« (VÄ 140) bezeichnet, dem der Sex folgte, dann führt diese Pawlow’sche Konditionierung dazu, dass er nun an der Kasse angesichts der Haarspange im Haar der fremden Frau fast unweigerlich an Sex denken muss. Wiederum hat dies wenig mit der Attraktivität der Frau vor ihm zu tun, sie ist wie die Strumpfhosen-Frau eine austauschbare Projektionsfläche für seine Erinnerungen an L., die durch bestimmte Konsumobjekte, die diese Frauen-Projektionsflächen185 tragen, ausgelöst werden. 184 | Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität [1982]. Frankfurt a.M. 1994, S. 25. 185 | Indem diese Frauen für ihn nur insofern Bedeutung haben, als dass sie Konsumprodukte tragen oder kaufen, die er mit L. assoziiert, erinnern sie an die Modepuppen, die sich bei Zola noch vor allem an weibliche Kundinnen wandten, um ihnen die Fantasie

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Insofern verwundert es wenig, dass der Protagonist das Bedürfnis verspürt, sich von L. zu ›emanzipieren‹, das heißt: von ihrer Produktauswahl loszulösen. So bedrängt ihn vor dem Nudelregal die Qual der Wahl: »Ich weiß nicht einmal, welche Pasta zu mir paßt, es gibt ungefähr vierzig verschiedene Sorten.« (VÄ 68) Signifikant an dieser Überlegung ist, dass es nicht um Geschmack, Verarbeitung oder ähnliche Produkteigenschaften geht, sondern darum, welche Pasta die für ihn passende ist. Nicht der Gebrauchs-, sondern der Fiktionswert ist entscheidend: »Ich könnte die wählen, die ich immer nehme und schon zusammen mit L. gegessen habe, ganz dünne Spaghetti, Spaghettini […]. Irgendwann aber muß ich mich doch emanzipieren, denke ich, ich sollte endlich eine andere Nudelsorte kaufen, also greife ich nach einer blaugelben Packung, die mir gefällt und, ich weiß nicht, ob ich träume, von innen zu leuchten scheint.« (VÄ 68) Die Entscheidung fällt letztendlich auf irgendeine Sorte, die nicht einmal näher benannt wird,186 stattdessen unterstreicht das vermeintliche Leuchten der Packung die Fokussierung des Fiktionswertes. Das Vorhaben, diese Nudeln so spartanisch wie möglich – nur mit Butter, Salz und Parmesan – zu konsumieren, soll zu L.’s Bolognese, die mehrere Stunden kochen muss, in größtmöglichem Kontrast stehen (vgl. VÄ 68). Doch so wie das Leuchten der Nudelpackung eventuell nur seiner Fantasie entspringt, so steht auch die angestrebte Emanzipation in Frage. Vor dem Haarshampoo-Regal ist der Protagonist abermals mit einer Überfülle an Wahlmöglichkeiten konfrontiert: »Shampooflaschen, Haarkuren und Haarfestiger stehen so dicht im Regal, daß sie vor meinen Augen zu einem einzigen, großflächig gescheckten Mosaik aus Haarpflegeprodukten verschwimmen, nirgends eine Lücke« (VÄ 114). In diesem an die Fotografie 99 Cent von Andreas Gursky erinnernden Mosaik sucht er sein Shampoo – für normales Haar – vergeblich, allerdings findet er ein anderes stets mit schlafwandlerischer Sicherheit: Anstelle von meinem fällt mir immerzu das Shampoo ins Auge, das L. benutzt hat, eine Flasche davon steht noch im Bad auf dem Badewannenrand. Wenn ich in der Wanne liege, sehe ich es, ihr Shampon, und rieche sie, ich sehe ihr Gesicht vor mir und ihr nasses, eben gewaschenes Haar und wie sie es mit einem Kamm durchkämmt und später fönt, ich sehe sie nun auch hier, vor dem Regal, ich erinnere mich in Clips, die gar nicht selbst-

alternativer Identitäten als Fiktionswerte zu verkaufen. Durch die Entindividualisierung der Frauen kommt es bei Wagner zur Objektifizierung, die schließlich in der Fantasie gipfelt, wie im Film Cashback (2006) alle Frauen im Supermarkt nackt sehen zu können (vgl. VÄ 140). 186 | Aufgrund der blau-gelben Farbe der Verpackung, die bei Nudelmarken sehr beliebt ist, bieten sich mehrere Möglichkeiten an: Birkel, De Cecco oder auch Barilla wären nur drei von vielen Möglichkeiten.

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt gedreht, sondern professionell produziert sind, ich rieche ihr Haar, das immer nach diesem Shampoo gerochen hat, rieche ihr Haar, obwohl sie gar nicht da ist. (VÄ 116)

Auch hier bestimmt sich seine Wahrnehmung maßgeblich durch L.: Dass von ihrem Shampoo noch eine Flasche in seinem Badezimmer steht, führt nicht nur dazu, dass er sie anhand des Produkts und vor allem dessen Geruch unmittelbar vergegenwärtigt,187 seine Erinnerung ist zudem konsum-medial überformt: Er erinnert sich »in Clips«, also Werbeclips, die nicht nur das Waschen, Föhnen und Stylen idealen Haars, sondern qua Schönheitsideal auch die Darstellung der ebenso idealen Frau vermitteln. Die ideale Frau – so unterstreicht die Verbindung von Werbespot und Liebeskummer –, das ist für den Protagonisten immer noch L. Der Geruch von L. manifestiert sich noch durch ein anderes Konsumprodukt bei ihm daheim. Als er am Waschmittelregal vorbeikommt, befindet sich dort die Strumpfhosen-Frau. Um sich abzulenken, zählt er die Produkte im Regal: »[D]a erst fällt mir auf, daß ich noch immer das Waschpulver kaufe, das L. gekauft hat. Sollte ich mir nicht endlich mal ein anderes kaufen, ja denke ich womöglich deshalb so oft an sie, weil meine Bettwäsche und die Handtücher, meine Unterhemden, Socken und Unterhosen, meine gesamten Kleidungsstücke, nach ihr riechen?« (VÄ 81) Mit anderen Worten: Die Erinnerung an L. ist bei ihm daheim überall präsent, denn er trägt den Geruch, der sie signifiziert, direkt auf seiner Haut, er schläft sogar darin. Dass die Strumpfhosen-Frau ein Waschmittel kauft, dass ihm nicht passt – sprich: nicht das von L. ist –, macht sie als potentielle Partnerin unmöglich: »Wäre ich mit der anderen Frau zusammen, mit der, die hier eben noch gestanden hat, röche unser Bett nach dem Tantenwaschmittel, das sie sich gerade – selbst in seiner modernen Darreichungsform bleibt es ein Tantenwaschmittel, das ich niemals, nicht im Traum, in die Waschpulverschublade meiner Waschmaschine füllen könnte – in ihren Einkaufswagen gelegt hat.« (Ebd.) Es sei hier nochmals an die Fantasie der zusammenstoßenden und identische Produkte enthaltenden Einkaufswägen erinnert – ein falsches Produkt kann direkt zur Disqualifikation führen: »Hat sich halt für das falsche Waschmittel entschieden, weshalb das mit uns nichts werden könnte – höre ich mich denken und denke, was für ein Quatsch. Ich habe noch immer Liebeskummer, wie ich ihn nicht mehr für möglich gehalten habe, nicht bei mir, Liebeskummer, der mich müde macht und heimtückisch immer dann überkommt, wenn ich L. fast vergessen habe.« (VÄ 82) Solange sich der Protagonist nicht für ein anderes Waschmittel und nur schwerlich für eine andere Nudelsorte entscheiden kann, so scheint auch die Liebe zu einer 187 | Der Geruchssinn als unmittelbarster Sinn des Menschen beschert dem Protagonisten hier ein ganz eigenes Proust’sches ›Madeleine-Erlebnis‹: Allein der Geruch des Shampoos lässt sie vor dem Supermarktregal erscheinen.

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anderen Frau unmöglich.188 Denn welche Produktauswahl müsste in dem anderen Einkaufswagen liegen, damit sich der Protagonist verlieben würde? Man ahnt es schon, es wären die Produkte von L. und die Frau konsequenterweise L. selbst. Sein Supermarkt-Weltbezug ist daher grundsätzlich jener von L.: »Ich bin dressiert darauf, auf Formen, Farben und Schriften zu reagieren, bin vielleicht kein perfekter, alles in allem jedoch ein zuverlässiger Konsument, denn ich kaufe die Marken, die ich kenne und schätze und schon immer kaufe, und bin mit ihnen glücklicher als mit den Produkten ohne Namen, meine Marken sind noch bei mir, L. ist es nicht.« (VÄ 69) Seine Produktauswahl bestimmt sich nicht über das Motiv der Verführung und den üblichen Zyklus von Erregung – Kauf/Konsum – Sättigung/Enttäuschung, sondern über Treue: Diese Markentreue – ›meine Marken sind noch bei mir, L. ist es nicht‹ – hat daher weniger mit den Eigenschaften der jeweiligen Produkte oder deren Gebrauchswertversprechen zu tun, sondern orientiert sich an den ihnen eigenen Fiktionswerten. Für den Protagonisten ist der maßgebliche Fiktionswert die Beziehung zu L. sowie deren erträumte Restitution. Er ist also primär nicht bestimmten Marken, sondern vor allem der ›Marke L.‹ treu. Die Versuche, sich davon zu emanzipieren und damit L.’s Wunsch nachzukommen, sie nicht mehr zu lieben – »Hör bitte auf, mich zu lieben, ich liebe jetzt einen anderen« (VÄ 15) –, könnten demzufolge als ›Produktaffären‹189 klassifiziert werden, die immer auch mit dem Versuch, eine andere Frau zu finden, zusammenhängen. So bezeichnet er sich selbst beispielsweise als nicht »[z]ahnpastatreu« (VÄ 99, Fußnote 31) und gibt zu: »[E]ine Zeitlang habe ich Zahnpasta nur in der Biodrogerie gekauft, um bei Besucherinnen in meinem Badezimmer Eindruck zu schinden.« (Ebd.) Dass es sich hierbei tatsächlich um Produktaffären handelt, zeigt die Tatsache, dass diese Produkte seine Erwartungen an das Gebrauchswertversprechen enttäuschten: »die Zähne [fühlten] sich nach dem Biogeput188 | Dass es sich dabei eindeutig um eine Prägung durch L. und nicht die grundsätzliche Abneigung gegen das ›Tantenwaschmittel‹ handelt, verdeutlicht der darauffolgende Abschnitt: »Vielleicht hätte ich mich an den Geruch des Tantenwaschmittels gewöhnen können, wenn ich dieser Frau […] schon vor ein paar Jahren begegnet wäre. Vielleicht hätten wir uns ineinander verliebt und ich wüßte gar nichts von L. und ihrem Waschmittelgeruch« (VÄ 82, Herv. i. O.). 189 | Markentreue lässt sich natürlich auch im reinen Konsumsinn mit Produktaffären kontrastieren, was allein dadurch bedingt ist, dass sich der Kapitalismus über ein Regime der Innovation definiert: Immer neue Produkte auf den Markt zu bringen, ist dem System inhärent. Die Affäre, also das Ausprobieren von Konsumgütern anderer Hersteller, orientiert sich dabei primär am Produkt – vielleicht ist jenes einer anderen Marke besser, effizienter im Sinne des Gebrauchswertversprechens oder hat einen höheren bzw. anderen Fiktionswert. Werden die Versprechungen gehalten, kann sich aus der ›Affäre‹ eine neue ›Beziehung‹ und damit erneute Markentreue entwickeln.

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ze nie sonderlich sauber an.« (Ebd.) Die Analogie einer romantischen Liebesbeziehung mit dem Erwerb und Gebrauch käuflicher Dinge wird außerdem durch eine Bemerkung des Protagonisten affirmiert, die er in Bezug auf die letzte Hochzeit macht, die L. und er gemeinsam besucht haben. Die beiden machten sich über den Gabentisch des Hochzeitspaares lustig, weil sich darauf »ungefähr dreißig verschiedene Elektrohaushaltsgeräte stapelten« (VÄ 89), und stellten sich vor, wie die beiden »nun den Rest ihres Lebens damit zubrachten, all ihre neuen Haushaltsgeräte zu gebrauchen, ja eigentlich sah es so aus, als ob die Ehe nur darin bestehen sollte, die Geräte gemeinsam zu nutzen und abzunutzen«190 (ebd.). Dieser dichte Zusammenhang von Liebe und Konsum entsteht jedoch nicht erst in der Erinnerung des Protagonisten an L., sondern prägte diese Beziehung von Anfang an. Zwar hat er sie nicht im Supermarkt, aber dennoch an einem anderen Ort des Konsums kennengelernt: L. und ich, wir haben uns in einem Schreibwarenladen getroffen, so haben wir uns das immer wieder erzählt. Wir haben uns wiedergetroffen, nachdem wir uns neun oder zehn Jahre nicht gesehen hatten. In einem anderen Schreibwarenladen hätte ich an diesem Tag vielleicht eine andere flüchtige Bekannte früherer Jahre wiedergesehen, vielleicht hätte ich dann die geheiratet und mich nicht drei Jahre später wieder scheiden lassen, vielleicht hätte eine Frau, die ich an diesem Tag in einem anderen Schreibwarenladen, in einer Konditorei, einem Schuhgeschäft oder im Supermarkt getroffen hätte, mich nicht verlassen, um von einem Tag auf den nächsten mit einem anderen zusammen zu sein, vielleicht wären wir, diese andere Frau, der ich noch nie begegnet bin, und ich heute noch ein Paar. (VÄ 29)

Es ist aus textökonomischer Sicht bezeichnend, dass in dieser Passage nahezu alle Fakten stehen, die der Protagonist über seine Beziehung mit L. preiszugeben bereit ist: Wann sie sich getroffen haben, dass und wie lange sie verhei190 | Vgl. dazu auch Richard Hamiltons Collage Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing (1956), die als eines der ersten Werke der Pop-Art gilt und sich dem Haushalt der Nachkriegskonsumgesellschaft widmet. Vgl. außerdem Georges Perecs Roman Les choses. Une histoire des années soixante (1965), in dem die Aneignung und der Verbrauch käuflicher Dinge sowie die Fantasien davon das Erzählen der Liebesgeschichte eines Paares durchzieht. Vgl. zur Vorliebe David Wagners für Perec und im Speziellen diesen Roman: David Wagner: Das Glück zu kaufen. In: www.zeit.de/ kultur/2017-06/konsum-paris-shopping-einkaufen-besitz-kapitalismus, 11.06.2017, abgerufen am 12.06.2017. Vgl. in diesem Kontext zum Konsum der Mittelschichten: Dominik Schrage: Vom Luxuskonsum zum Standardpaket. In: Christine Weder, Maximilian Bergengruen (Hg.): Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne. Göttingen 2011, S. 58-72.

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ratet waren, dass sie sich haben scheiden lassen.191 Die restlichen Passagen des Romans, die sich mit L. befassen, sind jene oft warenkundlichen Konsumerinnerungen des Protagonisten – die Beziehung wird damit maßgeblich über ihren Konsumaspekt erzählt. Das Treffen im Schreibwarenladen wird hier zudem als potentielle Konstruktion markiert, indem darauf hingewiesen wird, dass sich die beiden diese Ursprungsgeschichte ›immer wieder erzählt‹ haben. Die Kontingenz des Treffens wird durch die Fantasie, dass er in einem anderen Laden oder gar einem Supermarkt eine andere – rein fiktive – Frau hätte kennenlernen können, mit der er noch immer verheiratet sein könnte, unterstrichen. Der Latenzschutz, mit dem Liebe stets ausgestattet sein muss, um immer schon als Schicksal zu erscheinen,192 wird hier konterkariert, indem detailliert ausgeführt wird, wie alles auch ganz anders hätte kommen können. Dies ist möglich, da die Liebesbeziehung bereits vorbei ist – Kontingenz steht hier also auch für die potentiellen Bedingungen der Möglichkeit einer neuen Liebe. Die Begegnung des Protagonisten mit L. fand jedoch nicht nur an einem Konsumort statt, sondern war zudem auch mit einem Konsumakt verbunden: »Sie sprach mich an und sagte, wir hätten doch zusammen studiert, ob ich mich nicht erinnern würde. Ich erinnerte mich nicht, tat aber, als erinnerte ich mich, weil sie mir gefiel. Sie gefiel mir sogar sehr, und da ich gerade einen neuen Kalender gekauft hatte, fragte ich sie nach ihrem Geburtstag und trug ihn in diesen neuen, noch ganz leeren Kalender ein.« (VÄ 82) Mit dem Kauf des Kalenders verbindet sich eine Ursprungserzählung im dreifachen Sinn: Erstens steht der neue, eben gekaufte und in diesem Sinn jungfräuliche Kalender für eine neue Zeitrechnung – jene Zeit mit L. Der Beginn dieser neuen Zeitrechnung wird zweitens durch den Eintrag ihres Ursprungs, also ihres Geburtstags, in diesen neuen Kalender markiert. Drittens wird damit eine Kongruenz zwischen dem leeren, jungfräulichen Kalender und der neuen, noch nicht durch Erfahrungen und Erinnerungen geprägten und somit ebenfalls leeren Beziehung zu L. suggeriert: Die leeren (Kalender-)Seiten sind erst noch zu füllen. Dass sich die beiden also ausgerechnet in einem Schreibwarenladen treffen, einem Ort, an dem man alles für das Schreiben an sich erwerben kann – das man beispielsweise auch für das Schreiben von literarischen Romanen braucht – lässt den fiktiven, konstruierten, kommunikativen und narrativen Charakter von Liebe in den Vordergrund treten. Die Liebe zwischen L. und dem Protagonisten war von Anfang an aufs Engste mit Orten und Objekten des Konsums verbunden. Konsum wird damit, ähnlich wie in Zolas Au Bonheur des Dames, zur Bedingung der Möglichkeit 191 | Man erfährt z.B. nichts über die Trennung, über die Gründe etc., sondern wird nur darüber informiert, L. »liebe jetzt einen anderen.« (vgl. VÄ 15) 192 | Vgl. Luhmann: Liebe als Passion, S. 73.

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von Liebe: Wäre der Protagonist nicht in den Schreibwarenladen gegangen, hätte er L. nicht getroffen, und hätte er keinen neuen Kalender gekauft, in den er ihren Geburtstag eintragen konnte, hätte sie ihm vielleicht nicht so gut gefallen oder wäre ihm nicht in Erinnerung geblieben. Die Verarbeitung der verflossenen Liebe im Gang durch den Supermarkt erscheint damit nur konsequent, denn obgleich er meint, L. dort entfliehen zu können, wird er dennoch unablässig mit ihr konfrontiert. Es handelt sich schließlich nicht um irgendeinen Supermarkt, sondern um »unseren Supermarkt« (VÄ  76), den er bei einem der letzten gemeinsamen Kinobesuche mit L.193 im Film 50 First Dates (2004)194 wiederzuerkennen glaubte. Der 144 Abschnitte dauernde innere Monolog des Protagonisten bekommt somit den Charakter einer Therapie. Um sich »von den anderen Dingen« abzulenken, schaltet der Protagonist im Supermarkt »Nahaufnahme hinter Nahaufnahme, um nur ja nie ein Panorama zu sehen.« (VÄ 95) Die Konzentration auf einzelne Produkte, deren Eigenschaften, mithin ihren Gebrauchswert, mag als Ablenkung funktionieren, da er auf diese Weise zunächst nicht über seine gescheiterte Ehe nachdenken muss – dies gelingt jedoch nur für eine bestimmte Zeit. Denn mit diesen Assoziationen kommt er mittels einer Art Freud’schen Schleife von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten, so zeigen die Beispiele, doch wieder nur bei der Person an, von der er weggelaufen ist: bei L. In diesem Sinn ist jenes Produkt aufschlussreich, von dem er behauptet, es sei das einzige, das er je gestohlen habe: die Single Tainted Love (1981) von Soft Cell (vgl. VÄ 70). Der Titel bezeichnet wörtlich genommen die Liebe in einem Konsumzusammenhang: Ist diese verdorben, ›tainted‹, so ist sie nicht genieß- und damit nicht mehr konsumierbar. Folglich gilt es, sich davon zu distanzieren:

193 | Der Protagonist bemerkt, dass sich L. bei diesem Kinobesuch »schon nicht mehr in [s]eine Richtung lehnte« (VÄ 76). Die bevorstehende Trennung war bei dieser konsum-romantischen Aktivität also bereits abzusehen (vgl. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn [Original: Consuming the Romantic Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, 1997]. Frankfurt a.M. 2007, S. 11f., 71). 194 | Wie bei vielen der Konsumprodukte, die im Text verhandelt werden, wird auch hier der Name bzw. die Marke nicht genannt, sie sind jedoch meist qua Beschreibung identifizierbar, vgl. Moritz Baßler: Warenwort und Markenname. In: Ders.: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. 2. Aufl. München 2005, S. 155-183, v.a. S. 159. Das Verfahren der Nennung von Marken wird in der Literatur des Post-Pop ohnehin nicht mehr ausgestellt, vgl. ders.: Junge Türken – alte Tiegel. Über zwei Arten gegenwartsliterarischer Selbstverständlichkeit. In: Neue Rundschau 126 (2015) H. 1: Gegenwartsliteratur!, S. 7-14.

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Liebe und Konsum Sometimes I feel I’ve got to Run away, I’ve got to Get away from the pain you drive into the heart of me The love we share Seems to go nowhere […] Once I ran to you Now I’ll run from you This tainted love you’ve given […]«.195

Die Versuche des Protagonisten, sich von L.’s Weltbezug zu emanzipieren, spiegeln sich darin ebenso wie deren Scheitern: »Don’t touch me, please/I cannot stand the way you tease/I love you though you hurt me so […] Touch me, baby, tainted love«.196 Die Zerrissenheit von »Don’t touch me, please« und dem wenige Zeilen später folgenden »Touch me, baby« ist eben jene, die den Bewusstseinsstrom des Protagonisten und sein Erzählen steuert. Das Anliegen der Supermarkt-Therapie, nicht an L. denken zu müssen und damit nicht mehr von ihr berührt zu werden, führt letztendlich immer wieder genau dazu: Weil sein Weltbezug noch immer der ihre ist, kommt es anhand der Produktnahaufnahmen, die hintereinander geschaltet werden, eben immer wieder zu genau dieser Berührung, die doch endlich vermieden werden sollte und gleichzeitig, man könnte spekulieren: unbewusst, gewollt ist. Es sind also die käuflichen Dinge, nicht die anderen Menschen im Supermarkt, mit denen der Protagonist wortwörtlich in Kontakt tritt – denn die anderen sind von einer »halbtransparente[n] Schutzfolie umhüllt« (VÄ 31), die jegliche Berührung von vornherein ausschließt. Der Supermarkt als Liebestopos erweist sich damit als ambivalent: Die enge Verflechtung von Liebe und Konsum, die den Roman prägt, sorgt dafür, dass dem Protagonisten potentiell alle Optionen offen stehen – in Bezug auf Waren wie Frauen –, und führt gleichzeitig vor, wie eben diese Verbindung derart wirksam sein kann, dass eine einmal getroffene Entscheidung – jene für L. – alle anderen Optionen unmöglich macht.

2.2 Konsum-Texturen: Waren- und Deutungsangebote Der Roman Vier Äpfel erzählt nicht nur eine verflossene Liebesgeschichte anhand verschiedener Konsumphänomene, sondern zeigt auch selbst eine ins Auge stechende Affinität zum Konsum anderer Texte und Medien. Dabei

195 | Soft Cell: Tainted Love, von dem Album Non-Stop Erotic Cabaret, Some Bizarre Records 1981. 196 | Ebd.

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stammen die Referenzen aus der Hoch- wie Populärkultur gleichermaßen:197 der Proust’sche Einstieg zusammen mit der Referenz auf die berühmte Madeleine-Passage,198 die Anspielungen auf die 99 Cent-Fotografie Andreas Gurskys (vgl. VÄ  14, 95, 105, 144), die Verweise auf Märchen und Sagen199 sowie die Bibel (vgl. VÄ 11), auf Philosophen wie Spinoza (vgl. VÄ 17) und Wittgenstein (dazu später mehr), Andeutungen von Filmen wie Cashback (2006), 50 First Dates (2004), Soylent Green (1973), Blade Runner (1982) oder Star Trek (seit 1966; vgl. VÄ  17, 73, 76, 140, 144), Verweise auf naturwissenschaftliche Zeitschriften (Der Bienenvater, vgl. VÄ  26), kanonische Literatur von Xavier de Maistre200 (vgl. VÄ  59) und Goethe201 sowie zeitgenössische Romane wie Olga Flors Kollateralschaden (vgl. VÄ 148f.), als auch die direkte oder indirekte 197 | Vgl. dazu Baßler: Junge Türken – alte Tiegel, S. 7-14; sowie ausführlicher: Stephan Dietrich, Heinz Drügh: Um 2000. Pop-Literatur, an ihren Rändern betrachtet. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 47 (2002), H. 1, S. 95-120. 198 | Vgl. Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Hg. v. Jean-Yves Tadié. 4 Bde. Paris 1987ff. Es ist bezeichnend, dass die Erinnerung durch einen Konsumakt ausgelöst wird. Martina Kopf attestiert Prousts Roman eine besondere Affinität zum Gebrauch kulinarischer Köstlichkeiten: »Wahrnehmung begrenzt sich bei Proust nicht auf das Optische, sondern bezieht sämtliche Sinneseindrücke mit ein, um schließlich in der geschilderten Einverleibung zu gipfeln. Dabei sind diese Sinneseindrücke gekoppelt an Erinnerung, die erst durch das sinnliche Erlebnis präsent wird.« (Martina Kopf: Meilenstein der Weltliteratur. In: literaturkritik.de, Nr. 12, Dezember 2013: www.literaturkritik. de/public/druckfassung_rez.php?rez_id=18653, abgerufen am 11.02.2014). 199 | Dies deckt die Spannbreite von Schneewittchen (VÄ 9, 14), Dornröschen (VÄ 18) und Rotkäppchen (VÄ 80, 149) über Hänsel und Gretel (VÄ 156) bis hin zur »Kassenloreley« (VÄ 147) und der nicht näher bestimmten »Supermarktfee« (VÄ 24) ab. 200 | Dessen wohl berühmtester Roman Voyage autour de ma chambre (1794) stellt einen Gedankenspaziergang bzw. eine Reise in einem Zimmer dar, wobei Objekte zu Fantasieauslösern werden. Konzeptionell entspricht das dem Roman Vier Äpfel, der ebenfalls eine Gedankenreise in einem Raum, dem Supermarkt, nachvollzieht, bei welcher Objekte, also Konsumprodukte, die Fantasien des Protagonisten anregen und die Narration vorantreiben. 201 | Hier wäre vor allem die Speisekammerszene aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zu nennen, die nicht nur mit dem Konservendosenkeller konterkariert wird (vgl. VÄ 32), sondern auch ganz konkret in der Selbstermächtigung des Kindes aufgerufen ist, als welches der Protagonist sich selbst zum Eis im Keller verhalf (vgl. VÄ 132) – ähnlich dem jungen Meister, der Äpfel, Pflaumen und das Puppentheater aus der Speisekammer stibitzt. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre [1795/96]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden. I. Abt. Bd. 9. Hg. v. Wilhelm Voßkamp, Herbert Jaumann. Frankfurt a.M. 1992, S. 355-992, S. 370f.

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Nennung von Popsongs wie Bruce Springsteens Queen of the Supermarket, Soft Cells Tainted Love und Laurie Andersons Talk Normal (vgl. VÄ 7, 70, 147) – um nur einige zu nennen. Das Verfahren einer konsumierenden Intertextualität reproduziert anhand der Einverleibung anderer Texte und Medien das Prinzip des Fiktionswertes von Konsumgütern: Durch die häufig nur indirekte Nennung oder Anspielung werden mögliche weitere Signifikationen, vielleicht auch nur Konnotationen, bestimmter Passagen ermöglicht. Dies bleibt jedoch auf der Ebene der Potentialität: Der Leser kann diese Referenzen erkennen, ernstnehmen, deuten; aber er muss dies nicht tun, um seinerseits den Text zu konsumieren. Ähnlich wie das Warenangebot im Supermarkt hält der Text somit ein breites Deutungsangebot für den Leser bereit, an welchem dieser sich bedienen kann  – oder eben auch nicht. Dieses Deutungsangebot soll im Folgenden an drei Beispielen verdeutlicht werden, die für den Zusammenhang von Liebe und Konsum wichtig sind: anhand des paratextuellen Ausschnitts aus dem Song Der schönste Tag in meinem Leben (1997) von Tocotronic, der dem Roman vorangestellt ist; anhand der romantischen Aufladung des Textes durch Referenzen auf Themen, Texte und Motive der (deutschen) Romantik; sowie anhand des intertextuell vielfach besetzten Motivs der titelgebenden Äpfel. Der schönste Tag in meinem Leben – im Titel des Tocotronic-Songs verbirgt sich die Hoffnung des Protagonisten auf einen besonderen Tag. Die Handlung des Songs wie des Romans hat zudem am gleichen Ort statt, wobei der Tocotronic-Song diesen gleich dreifach als Nicht-Ort 202 markiert: »Auf der Straße auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt/An allen mir verhaßten Orten, an denen nie etwas passiert«.203 Der Supermarkt und seine Umgebung sind somit aufgrund der Zuschreibung, dort passiere nie etwas, prädestiniert dazu, die Hoffnung auf einen ›besonderen Tag‹ zu enttäuschen. Mehr noch: Der Tocotronic-Song beschwört eine solipsistische Fantasie, in der keine andere Person existiert und dieses Alleinsein als ›Glück‹ empfunden wird: Überall wo ich nie bin in dieser doch recht schönen Stadt Überall wo ich nie bin und niemand mich gesehen hat Schaute ich mich um und ich war allein Und völlig ohne Grund war ich glücklich es zu sein. 204

202 | Vgl. Marc Augé: Nicht-Orte. Übers. v. Michael Bischoff [Original: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, 1992]. 3. erw. Aufl. München 2012. 203 | Tocotronic: Der schönste Tag in meinem Leben, von dem Album Es ist egal, aber, L’age d’or 1997. 204 | Ebd.

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Dieses Glück des Alleinseins ist dem Protagonisten von Vier Äpfel fremd. Seine Gedanken, Reflexionen und Fantasien drehen sich um das Leiden am Alleinsein und die Sehnsucht nach Zweisamkeit. Wörtlich nimmt der Roman an einer Stelle Bezug auf das Tocotronic-Zitat: »Schon als wir uns zum ersten Mal nach der Schule wiederbegegnet sind, auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, hatten wir uns nicht viel zu sagen« (VÄ 39). Diese Erinnerung gilt bezeichnenderweise nicht L., sondern Barbara, einer Schulfreundin, die er im Supermarkt erblickt zu haben meint (vgl. ebd.). Gleichwohl ist die Erinnerung dem Solipsismus des Tocotronic-Textes entgegengesetzt: »[U]nd erst später, als ich über dieses erste Wiedersehen nachdachte, fiel mir ein, daß wir auf einer Klassenreise nach Südfrankreich, kurz vor unserem Abitur, miteinander geschlafen hatten.« (Ebd.) Wagners Protagonist vermeidet es jedoch, (die vermeintliche) Barbara anzusprechen und verbleibt dadurch so allein wie zuvor. Der Tocotronic-Song endet damit, dass ein Zettel mit der Aufschrift »Dies ist der schönste Tag in meinem Leben« das solipsistische Glück ironisch affirmiert. Auf diesen Zettel, obgleich er im vorangestellten Ausschnitt nicht enthalten ist, wird im Roman an vier Stellen Bezug genommen. Erstens fungiert das Etikett, auf dem das Gewicht der vier Äpfel mit 1000g verewigt ist (vgl. VÄ 10), als jener Hinweis, dass dies der ›schönste Tag‹ im Leben des Protagonisten werden könnte. Zweitens findet der Protagonist in den Seitentaschen seines Mantels – analog zum Tocotronic-Song205 – auf der Suche nach seiner Einkaufsliste zunächst einen Drogeriemarkt-Kassenzettel (vgl. VÄ  52f.), der als Faksimile im Roman abgedruckt ist und über die Erinnerung an den Drogeriemarktbesuch schließlich zur Springseilfantasie führt.206 Darüber hinaus fantasiert der Protagonist, dass es sich bei diesem Kassenzettel auch um einen geheimen Liebesbrief der Lieblingskassiererin aus dem Drogeriemarkt handeln könnte, schließlich könnte er bei der Telefonnummer, die auf dem Zettel abgedruckt ist, anrufen und nach ihr verlangen (vgl. VÄ 55). Einem ähnlichen Prinzip folgt drittens das Auffinden eines fremden Einkaufszettels mit Kinderschrift auf dem Boden des Supermarktes. Auch dieser ist im Roman abgedruckt und wieder folgt daraus eine geheimnisumwobene Liebesfantasie: Ich hätte mir vorgestellt, L. habe diesen Zettel hier eigens fallen lassen, um mir etwas mitzuteilen, ja, denke ich jetzt, vielleicht ist es tatsächlich so, vielleicht will sie mir etwas sagen, vielleicht muß ich bloß jeden dritten Buchstaben von vorne oder hinten abzählen und zu einem Wort zusammensetzen, vielleicht auch jeden siebten von vorne, sieben war ja ihre Lieblingszahl, und kann dann lesen, daß sie es sich überlegt hat und

205 | »Und ich wühlte mit der Hand/In meinen Taschen und ich fand/einen Zettel auf dem stand/Das ist der schönste Tag in meinem Leben.« (Ebd.) 206 | Vgl. Kap. III/2.1.1.

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Liebe und Konsum mich wiedersehen möchte, daß sie mich doch noch liebt und wo sie auf mich wartet. (VÄ 120)

Der Protagonist belächelt zunächst die Möglichkeit dieser Fantasie, indem er sie in seiner Vergangenheit verortet: Früher hätte er sich so etwas vorgestellt. Doch die Fantasie hat sich an diesem Punkt bereits verselbständigt und er exerziert sie gegen seinen Willen einmal durch.207 Der Kindereinkaufszettel erweist sich schließlich jedoch als nutzlos im doppelten Sinn: »Wie ich es auf die Schnelle im Kopf auch probiere, es ergeben sich keine Wörter, die etwas bedeuten, rcöesncmrhbb…, ehchrempä… oder hsrcbeewre… – diese Buchstabenfolgen ergeben, so sehr ich mich auch bemühe, leider keinen Sinn, L. wartet wahrscheinlich doch nicht auf mich, und als Ersatz für meine unauffindbare Einkaufsliste kann ich diesen Zettel, den ein Kind geschrieben haben muß, auch nicht gebrauchen« (VÄ  120). Immer noch auf der Suche nach der Einkaufsliste findet er viertens, ebenfalls in seiner Manteltasche, einen Zettel, den er jedoch nicht lesen kann: »Während ich weiter gebannt in ihre Richtung starre, finde ich, meine Hände wühlen sich durch die Taschen meines Mantels, einen Zettel, halte ihn mir vor die Augen und versuche zu lesen, was da steht – kann aber meine eigene Schrift nicht entziffern. Immerhin erkenne ich, daß es sich nicht um meinen Einkaufszettel handelt, es ist irgendeine andere Liste auf einem weißen Stück Papier.« (VÄ 74) Ebenso wie der Drogeriekassen- und Kindereinkaufszettel ist auch dieser nur »irgendeine andere Liste auf einem weißen Stück Papier.« Da sich auch das Apfeletikett am Ende als bedeutungslos erweist – denn nichts Besonderes passiert –, wird die Referenz auf den Tocotronic-Song zementiert. Nicht vier Äpfel weisen den Tag als besonderen aus, vielmehr signifizieren vier nutzlose Zettel die Belanglosigkeit desselben. Dass es sich bei drei dieser Zettel um Listen handelt, während die eigentlich begehrte Liste des passionierten Listenschreibers (vgl. VÄ 124f.), sein Einkaufszettel, unauffindbar ist, lässt Schlüsse auf das Erzählverfahren sowie eine weitere intertextuelle Referenz zu. Das Listenschreibverfahren ist auch ein Verfahren des Romans: Zum einen anhand der Durchnummerierung der Abschnitte, zum anderen durch das Auflisten von Supermarktprodukten, die fast alle im Zusammenhang mit seiner verflossenen Liebe zu L. stehen. Aufgeschlüsselt über den Popsong von Tocotronic erweist sich dies als eine Referenz auf das Listenverfahren der Popliteratur, konkreter, Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998), von dem Moritz Baßler sagt: »Der Liebeskummer ist, mit anderen Worten, nichts als die Lizenz für das enzyklopädi207 | Über das fiktionale und poetische Potential von Einkaufszetteln berichtet Florian Zinnecker in der Süddeutschen Zeitung: Blätter, die die Welt bedeuten. In: http:// sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/44482/Blaetter-die-die-Welt-bedeu​ ten, 21.04.2016, abgerufen am 05.05.2016.

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sche Verfahren.«208 David Wagners Vier Äpfel inszeniert jedoch nicht nur ein kulturwissenschaftliches Archiv,209 vielmehr bedingen sich die Erzählungen von der vergangenen Liebe und die detaillierte Auflistung und Historisierung der käuflichen Waren gegenseitig: Der Verlust der Liebe führt zu einer literarisch verarbeiteten Ansammlung von Konsumprodukten – in diesem Sinne ein möglicher Ersatz für den nicht vorhandenen Einkaufszettel – und die Auflistung dieser Konsumprodukte dient gleichzeitig der Verarbeitung der nun vergangenen Liebe. Der Protagonist von Vier Äpfel attestiert sich selbst eine frühere »romantische[n] Phase« (vgl. VÄ 120) gehabt zu haben, die jedoch, so belegt das Beispiel des Kindereinkaufszettels, noch nicht endgültig der Vergangenheit angehört. Dies zeigt sich auch daran, dass der Text zahlreiche Bezüge zu romantischen Texten und Motiven aufweist. Dazu gehören beispielsweise die Märchenanspielungen auf Schneewittchen (VÄ 9, 14f., 96), Dornröschen (VÄ 18, Fußnote 5), Rotkäppchen (VÄ 80, 149), Hänsel und Gretel (VÄ 156) sowie die »Supermarktfee« (VÄ 24) oder auch die »Kassenloreley« (VÄ 147). Diese Referenzen werden stets im Konsumzusammenhang angeführt: So könnten die Äpfel im Supermarkt vergiftet sein wie jene im Schneewittchen-Märchen, die Tiefkühltruhen sehen aus wie »Schneewittchensärge«210 (VÄ 14), das dreizehnte Fischstäbchen in der Packung könnte für die böse Fee aus dem Dornröschen-Märchen gedacht sein und das eigenartige Verlorensein im Supermarkt wird anhand des Hänsel und Gretel-Märchens illustriert, mit der Abwandlung, dass er Milch holen geschickt wurde – so wie es seine Mutter tatsächlich oft mit ihm gemacht hatte (vgl. VÄ 22). Diese Erinnerungen an die Kindheit des Protagonisten sind zum Teil nicht nur romantisch verklärt, sondern werden auch sprachlich als solche markiert. In diesem Früher hatte die Großmutter beispielweise noch ein oder zwei »Zentner« – eine veraltet anmutende Maßeinheit wie »Fuder oder Ballen« – Kartoffeln im Keller gelagert, von denen der Protagonist regelmäßig welche »aus der Schütte der Hurde klaubte« (VÄ 11, Fußnote 3). In diese Konsumgeschichte flechten sich zudem immer wieder ökologische Überlegungen ein, die jedoch nicht vorbehaltslos romantisch verklärt, sondern nach ihrem Nutzen abgewogen werden, wie das Beispiel der Milch zeigt, die nun in prak208 | Moritz Baßler: Der deutsche POP-Roman. Die neuen Archivisten. 2. Aufl. München 2005, S. 102; Vgl. auch ders.: Junge Türken – alte Tiegel, S. 7-14; sowie ders.: Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. In: POP. Kultur & Kritik 6 (2015), S. 104-127. 209 | Dass dieses Verfahren bei Wagner nur bedingt verfängt, legen Heinz Drügh und Stephan Dietrich dar in: Um 2000. POP-Literatur, an ihren Rändern betrachtet, S. 109f. 210 | Die ›Schneewittchensärge‹ referieren zugleich auf einen »modernen Klassiker der Unterhaltungselektronik«, eine Kompakt-Musikanlage der Firma Braun, die Dieter Rams entworfen hat. Vgl. Drügh: Ästhetik des Supermarkts, S. 53f.

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tischer Verpackung im Supermarkt gekauft werden kann und nicht mehr in Kannen beim Bauern geholt werden muss (vgl. VÄ 22f.). Dennoch tragen die Verweise auf Märchen und magische Wesen zu einer romantisch-magischen Aufladung des Textes bei. Die stets wiederkehrende Rekurrenz auf die Kindheit sowie der Versuch, aus dem Kindereinkaufszettel einen Code abzulesen, der die Rückkehr der Liebe von L. bedeuten könnte, verweisen zudem auf zwei zentrale Motive der Romantik: das Ideal der Kindheit, vor allem bei Novalis,211 und die Romantisierung der Welt durch Eichendorffs ›Zauberwort‹: Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort. 212

Die Fantasie, dass sich durch ein bestimmtes Wort – einen Code, wie ihn der Protagonist zu deduzieren versucht, indem er die für das romantische Märchen bedeutsamen Ziffern Drei und Sieben instrumentalisiert (vgl. VÄ  120)  – die Welt grundsätzlich verändern lasse, sprich: L. zu ihm zurückkehre, beherrscht die Gedanken des Protagonisten: »[A]ber vielleicht kommt sie [L.] zurück und spricht ein Codewort, vielleicht erinnere ich mich dann und funktioniere wieder als netter Begleiter.« (VÄ  102) Da er den Code jedoch nicht lesen kann, kommt es nicht zur erhofften Romantisierung, die sich hier vor allem als ein Wunsch nach Sinnstiftung, die wiederum bevorzugt in der Liebe gesehen wird, offenbart. So wie die Märchen zu einer magischen Aufladung des Textes führen, so verbirgt sich hinter der Suche nach dem richtigen Wort, dem Zauberwort, das die Welt singen lässt, nichts anderes als das Verlangen nach einer Meta-Physik: Nämlich, dass die Dinge mehr sind, als sie scheinen – sei es der Kassenzettel aus dem Drogeriemarkt, der Kindereinkaufszettel als Liebesbrief (vgl. VÄ 53, 119) oder auch die Spuren, die das imaginierte Herumfahren mit einem undichten Farbeimer auf dem Boden des Supermarktes hinterlassen

211 | Vgl. Yvonne-Patricia Alefeld: Göttliche Kinder. Die Kindheitsideologie in der Romantik. Paderborn, München u.a. 1996, S. 18f.; Hans-Heino Ewers: Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck. München 1989; Stephan K. Schindler: Das Subjekt als Kind. Die Erfindung der Kindheit im Roman des 18. Jahrhunderts. Berlin 1994; Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld. Berlin 1996. 212 | Joseph von Eichendorff: Wünschelrute [1835]. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wolfgang Frühwald u.a. Bd. 1: Gedichte, Versepen. Frankfurt a.M. 1987, S. 328.

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würden, als eine Botschaft, »die L. nie lesen wird« (VÄ 71).213 Es scheint, als ob der Protagonist eine Befreiung aus der »transzendentalen Obdachlosigkeit«214 herbeiwünscht, deren Ausdruck der Roman nach Georg Lukács ist.215 Hinter diesem Wunsch stehen auch die immer wiederkehrenden Anthropomorphisierungen von Dingen,216 eine Vorliebe für Zufälle,217 eine bestimmte Wort-Ästhetik 218 sowie die Markentreue des Protagonisten: Durch den Kauf der immer gleichen Produkte, die er bereits mit L. gekauft hat, lässt sich die Hoffnung erahnen, L. auf diese Weise heraufzubeschwören, damit sie an den seiner Meinung nach richtigen Platz zurückkehre: an seine Seite. Zu dieser fixen Idee gehören auch die titelgebenden vier Äpfel, die aufgrund der außergewöhnlichen Summe ihres Gewichts ein ebensolch magisches Potential entfalten und dem Protagonisten einen besonderen Tag, also die Rückkehr von L. oder eine neue Liebe, die sich jedoch in jeder Hinsicht mit L. messen lassen muss, bescheren sollen. Die intertextuellen Verknüpfungen der Äpfel zur Bibel sowie zu Kant wurden bereits ausgeführt.219 Der Titel des Romans gründet damit in nichts anderem als dem Ursprung der Menschheit sowie ihrer Verdammung aufgrund des Sündenfalls, wobei er gleichzeitig das Verhältnis von Mann und Frau reflektiert. Die übliche Lesart des Sündenfalls sieht die Frau als die Verführerin und Adam als ihr Opfer, obgleich Adam ebenso wie Eva den freien Willen gehabt hätte, die verbotene Frucht nicht zu konsumieren. Die Assoziation, dass sich auch der Protagonist von Vier Äpfel 213 | Vgl. außerdem VÄ 29: Ein Kunde hat einen Sahnebecher fallen lassen, woraufhin der Protagonist absichtlich mit seinem Einkaufswagen durch den entstandenen Sahnefleck fährt: »Auch die Sahnespritzer auf dem Supermarktboden wollen mir bestimmt etwas sagen, ich weiß nur noch nicht, was.« 214 | Georg Lukács: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik [1920]. Frankfurt a.M. 1988, S. 32. 215 | Vgl. Joachim Pfeiffer: Tod und Erzählen. Wege der literarischen Moderne um 1900. Tübingen 1997, S. 9f. 216 | Vgl. die Fantasie des Protagonisten von den Pizzen, die in der Tiefkühltruhe frieren und nachts abgedeckt werden müssen (vgl. VÄ 15) oder von den ebenfalls frierenden Waschmaschinen, die deshalb Waschmaschinenhauben brauchen (vgl. VÄ 88f.) 217 | So beispielsweise das Entdecken des eigenen Supermarktes in einem Film, den er noch mit L. zusammen angesehen hat: Angesichts der Unwahrscheinlichkeit dieses Zufalls fragt sich der Protagonist: »Hatte das nicht etwas zu bedeuten?« (VÄ 76, Fußnote 24). 218 | Dazu gehört nicht nur der für die Kindheit eingesetzte anachronistische Sprachgebrauch, sondern auch die Hervorhebung und der Ausdruck der Faszination für bestimmte, eher ungewöhnliche Worte bzw. Komposita wie »Raviolikompetenzskala« (VÄ 32), »Überbackkäse« (VÄ 120) oder »Unbarzahlung« (VÄ 158). 219 | Vgl. Kap. III/2.1.1.

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in genau dieser Opferrolle sieht, liegt nahe: Von L. verführt und anschließend verlassen, vertrieben aus dem Paradies der Liebe, findet er sich lediglich im Paradies des Konsums wieder (vgl. VÄ 11), das ihn beständig an das verlorene Paradies erinnert und eine mögliche Rückkehr verspricht. Die Äpfel verweisen jedoch nicht nur auf die Bibel und Märchen, sondern haben auch noch eine weitere intertextuelle Referenz: das Apfel-Sprachspiel aus den Philosophischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins: Denke nun an diese Verwendung der Sprache: Ich schicke jemand einkaufen. Ich gebe ihm einen Zettel, auf diesem stehen die Zeichen: »fünf rote Äpfel«. Er trägt den Zettel zum Kaufmann; der öffnet die Lade, auf welcher das Zeichen »Äpfel« steht; dann sucht er in einer Tabelle das Wort »rot« auf und findet ihm gegenüber ein Farbmuster; nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter – ich nehme an, er weiß sie auswendig – bis zum Worte »fünf« und bei jedem Zahlwort nimmt er einen Apfel aus der Lade, der die Farbe des Musters hat. – So, und ähnlich, operiert man mit Worten. – »Wie weiß er aber, wo und wie er das Wort ›rot‹ nachschlagen soll und was er mit dem Wort ›fünf‹ anzufangen hat?« – Nun, ich nehme an, er handelt, wie ich es beschrieben habe. Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende. – Was ist aber die Bedeutung des Wortes »fünf«? – Von einer solchen war hier garnicht die Rede; nur davon, wie das Wort »fünf« gebraucht wird. 220

Es fallen hier zunächst signifikante Parallelen zum Beginn des Supermarktbesuchs in Vier Äpfel auf. Mit einem (Einkaufs-)Zettel – den er jedoch nicht findet, so dass Art und Anzahl der Äpfel nicht klar definiert sind – betritt der Protagonist den Supermarkt, am Apfelregal wählt er »vier schöne, aber nicht zu schöne Exemplare« (VÄ 8) aus. An der Waage angekommen, drückt er die »Apfeltaste«, die ihn an »Kinderbuchillustrationen und Memory-Kärtchen« (VÄ 9) erinnern – es bedarf keiner großen interpretatorischen Anstrengung, hierin eine Verbindung zum Wittgenstein’schen Farbmuster, das in der Frühfassung zudem noch ein »färbiges Täfelchen«221 war, zu erkennen. Es folgt daraufhin die Ausgabe des Etiketts mit dem magischen Gewicht von 1000g. Dieses müsse, so der Protagonist, eine spezifische Bedeutung haben, nämlich die Indikation eines besonderen Tages. Wittgenstein geht es in den Sprachspielen jedoch nicht um die Bedeutung von Worten oder Sätzen, sondern um ihren Gebrauch: »Die Bedeutung eines

220 | Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen [1953]. Kritisch-genetische Edition. Hg. v. Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 2001, S. 745f. (Spätfassung), Herv. i. O. Das Apfel-Sprachspiel ändert sich über die verschiedenen Fassungen der Philosophischen Untersuchungen hinweg kaum, lediglich die Farbmuster werden in den Frühfassungen als »färbige[s] Täfelchen« bezeichnet. Vgl. die Angabe in Fußnote 221. 221 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 211 (Frühfassung).

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Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.«222 Anhand seiner Erläuterungen der Sprachspiele lassen sich Verbindungen zur Konzeption von Liebe bei Niklas Luhmann herstellen. Begreift Luhmann die Liebe als Code und nicht als Gefühl, so weist auch Wittgenstein im Zuge des Privatsprachenargumentes jegliche Zuständigkeiten der Sprachspiele für Innerpsychisches, mithin Gefühle, zurück.223 Liegt die Bedeutung von Sprache in ihrem Gebrauch, so kann auch die Sprache von Empfindungen nicht privat sein, da sie sonst eine Privatsprache wäre, die jeweils nur von einem Individuum verstanden würde, womit die basale, kommunikative Funktion von Sprache verloren ginge. Das Verstehen der Sprache im Gebrauch hängt also »vom Bestehen von Gepflogenheiten oder Bräuchen ab, die wiederum eng mit Lebensformen verbunden sind und sich nicht davon trennen lassen.«224 Mit Luhmann könnte man auch sagen, dass das Gelingen des Sprachspiels von Codes abhängig ist, die erlernt werden müssen. Die Sprachspiele regulieren damit »die Beziehungen zwischen den Menschen […] und das Funktionieren der Sprache kann zur Frage von Leben und Tod werden.«225 Es soll hier nicht darum gehen, die Luhmann’schen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien mit den Wittgenstein’schen Sprachspielen kurzzuschließen. Vielmehr soll vorgeschlagen werden, dass die Sprachspiel-Beispiele, die Wittgenstein in §23 der Philosophischen Untersuchungen auflistet, um jenes der Liebe zu ergänzen wäre. Mit der Luhmann’schen Brille ist auch die Liebe ›nur‹ ein Sprachspiel, ein Bündel von im besten Fall glückenden Kommunikationen, mithin Worten und Sätzen, das wie jedes andere Sprachspiel bestimmten Regeln, also Codes, folgt. Der Wunsch nach dem Glücken dieses Sprachspiels manifestiert sich für den Protagonisten von Vier Äpfel in der Gewichtssumme der Äpfel: 1000.

2.3 Die Verzauberung der Welt durch Zahlenpoetik: Liebe ist (k)ein Algorithmus Der Roman Vier Äpfel weist eine außerordentliche Affinität zu Zahlen und Quantifizierungen auf, die als Rationalisierungsstrategie dem Wunsch nach Romantisierung entgegengesetzt zu sein scheint – man denke nur an Novalis’

222 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 771 (Spätfassung). 223 | Vgl. Georg Römpp: Ludwig Wittgenstein. Eine philosophische Einführung. Köln, Weimar u.a. 2010, S. 98f. 224 | Ebd., S. 137, vgl. auch: John V. Canfield: Wittgenstein. Language and World. Amherst 1981. 225 | Römpp: Ludwig Wittgenstein, S. 137.

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Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren … .226 Zunächst fällt die Durchnummerierung des Textes auf, der in 144 Abschnitte gegliedert ist. Damit lassen sich zahlreiche Verbindungen zu Texten ziehen, die ebenfalls durchnummeriert sind, beispielsweise die Bibel, politische oder auch philosophische Programme wie Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, Gesetzestexte, Listentexte wie zum Beispiel in der Popliteratur, Archivverzeichnisse, literarische Texte wie Jean Philippe-Toussaints La Salle de Bain (1985) usw.227 Man könnte die Nummerierung der Passion des Protagonisten für das Schreiben von Listen in Rechnung stellen oder ebenso das Abschreiten der verschiedenen Stationen des Supermarktbesuchs damit assoziieren228 – obwohl dies nicht restlos aufgeht, denn manche Abschnitte sind reine Erinnerungen oder Fantasien. Damit nicht genug, werden den durchnummerierten Abschnitten zudem nummerierte Fußnoten zugesellt, 52 an der Zahl. Nun sind Fußnotenromane nichts besonders Außergewöhnliches, seit den 1990er Jahren gibt es laut Sabine Zubarik einen »regelrechte[n] Boom von Romanen, die Fußnoten und andere Formen der Anmerkung als konstitutive Elemente verwenden.«229 Obgleich David Wagners Roman von Zubarik in einer Auflistung genannt wird,230 lässt er sich nur schwer in die von ihr aufgestellten Kategorien einordnen. Es findet hier weder eine Re-Hierarchisierung von Haupt- und Nebentext statt, noch handelt es sich um eine rhizomatische, den Haupttext transzendierende Ausgestaltung der Fußnoten.231 Am ehesten ließe sich eine Funktionalisierung der Anmerkungen ähnlich wissenschaftlicher Fußnoten konstatieren: Das Gros

226 | Vgl. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe. München, Wien 1978, S. 395. 227 | Vgl. zur Aufzählung in der Literatur: Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente einer Poetik des Enumerativen. Berlin, New York 2003. In diese Reihe gehört auch David Wagners Roman Leben (2013), der aus 277 durchnummerierten Abschnitten besteht. 228 | Da Supermärkte als abgeschlossene Räume kein Zeitgefühl vermitteln und man als Kunde von den Lichtverhältnissen der Außenwelt abgeschirmt ist, übernimmt die Aufzählung hier auch die Gestaltung von Zeit (vgl. Mainberger: Kunst des Aufzählens, S. 9). Die einzelnen Stationen sind also die Zeit, die der Protagonist selbst dabei hat (vgl. VÄ 31). In dieser Hinsicht gewinnt der Romaneinstieg in seiner Referenz auf Prousts À la recherche du temps perdu nochmals besonders an Signifikanz. 229 | Sabine Zubarik: Die Strategie(n) der Fußnote im gegenwärtigen Roman. Bielefeld 2014, S. 25. 230 | Vgl. ebd. 231 | Vgl. ebd., S. 27f.

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der Fußnoten232 beschäftigt sich mit dem Wissen um Konsum heute und gestern, damit wird en passant eine assoziative Konsumgeschichte entworfen. Diese Konsumgeschichte, gespickt mit persönlichen Erinnerungen, fügt sich mit der Phänomenologie des Supermarktes, die im Haupttext entworfen wird, zu einer Art Konsumarchiv zusammen, so dass die Nummerierung der Ermangelung einer anderen Ordnungsvorschrift zuzuschreiben wäre. Dahinter könnte sich somit ein Projekt der ›Lesbarkeit der Konsumwelt‹ verbergen. Dieses Projekt wird in der vierzigsten Fußnote des Romans immerhin angedeutet: »Ich habe schon ein paarmal davon geträumt, ein Kind bei mir zu haben, mit dem ich, wie mit mir selber, über alles sprechen, dem ich alles erklären könnte.« (VÄ 132, Fußnote 40) Der Leser würde damit den Platz des Kindes einnehmen, dem der Protagonist alles (über L. und die Liebe) erzählen sowie (den Konsum) erklären kann. Diesen Lesarten soll noch eine weitere beigestellt werden, denn es bleiben offene Fragen: Bei einem Text, dessen Zahlenaffinität sich nicht nur in nummerierten Abschnitten und Fußnoten niederschlägt, sondern der eine Zahl – die Vier – im Titel trägt und eine weitere Zahl – die 1000 – zum Auslöser der Narration erklärt, liegt es nahe, genauer hinzusehen: Warum die Zahl 1000? Warum vier Äpfel? Warum 144 Abschnitte? Warum 52 Fußnoten? Der Lösungsvorschlag lautet: Der Text folgt einer Art Algorithmus, der Beginn, Struktur sowie Ende des Textes festlegt. Der Schlüssel dazu befindet sich in der Summe der vier Äpfel.233 232 | 29 Fußnoten beschäftigen sich ausschließlich mit Konsumgeschichtswissen, acht weitere Fußnoten vermengen Konsumwissen mit persönlichen Erinnerungen. Acht Fußnoten widmen sich persönlichen Erinnerungen und Fantasien, zwei einer Kritik an Konsumprodukten. Die verbleibenden fünf Fußnoten stellen eine Mischung aus diesen Kategorien dar. 233 | Dass sich hinter den Äpfeln ein Algorithmus, also ein Code verbirgt, der Computerprogramme steuert, wird durch eine Episode des Romans gestützt, in der es zunächst um den Apfel »Granny Smith« geht, der die »Idee eines Apfels« (VÄ 78) sei und auch als das »Markenzeichen eines Computers« (VÄ 79, Fußnote 25) bekannt ist. Dem Logo der Marke Apple wiederum wird in einer Urban Legend zugeschrieben, auf den Erfinder des Computers, Alan Turing, zurückzugehen: Obgleich ein Kriegsheld, der den Zweiten Weltkrieg durch das Entschlüsseln des deutschen Enigma-Codes um mindestens zwei Jahre verkürzt hatte, wählte er 1954, konfrontiert mit der Strafe der chemischen Kastration aufgrund seiner Homosexualität, durch den Biss in einen mit Cyanid vergifteten Apfel den Freitod. Dass der Apfel der Marke Apple angebissen ist, gründete jedoch in dem Ansinnen, die Verwechslung mit einer Kirsche o.ä. auszuschließen. Vgl. Jahanzeb Tahir Aziz: The evolution of the Apple logo. In: http://blogs.tribune.com.pk/ story/19792/the-evolution-of-the-apple-logo, 28.11.2013, abgerufen am 17.09.2015; sowie Holden Frith: Unraveling the tale behind the Apple logo. In: http://edition.cnn.

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So wie der Protagonist angesichts der Zahl staunt, die auf dem Display der Digitalwaage ebenso wie auf dem ausgedruckten Apfeletikett erscheint, so wundert sich der Leser eventuell ob der typografischen Abbildung dieser Zahl: »Mit der Tüte in der Hand gehe ich zur Waage, lege sie auf die Wiegefläche und drücke die Apfeltaste. […] Erst halte ich es für einen Fehler, aber nein, die grüne Leuchtanzeige zeigt 1 0 0 0 an, die vier Äpfel wiegen zusammen genau tausend Gramm.« (VÄ 9f.) Es handelt sich dabei offensichtlich um den Versuch, die digitale Anzeige der Zahl abzubilden. Diese ästhetische Ausstellung der Zahl durch die gesperrt gesetzte Typografie sowie die fehlende Grammangabe öffnet jedoch den Raum für Assoziationen: Was bedeutet die 1000, genauer die Zahlenfolge 1-0-0-0 ? Könnte es sich dabei auch um einen Binärcode handeln, eine Zahl bestehend aus einer Kombination der Ziffern 1 und 0? Versuchsweise erfolgt die Probe aufs Exempel: Die der Binärzahl 1000 zugeordnete Dezimalzahl ist die Acht 234 – Zahl der Unendlichkeit und das Doppelte der titelgebenden vier Äpfel, die wiederum zuallererst die sonderbare Grammzahl erzeugt haben. Acht ist zudem auch die Nummer des Abschnitts, in dem wir zum ersten Mal von L. erfahren (vgl. VÄ 15), die für sich genommen als Abkürzung auch die römische Zahl 50 darstellen könnte. Addiert 235 man die der Binärzahl 1000 entsprechende Dezimalzahl Acht zur Anzahl der Äpfel, erhält man Zwölf. Zwölf ist nicht nur die Nummer jenes Abschnitts, der sich nochmals eingehend mit den vier Äpfeln sowie den Möglichkeiten der Apfelverarbeitung beschäftigt, sondern auch die Quadratwurzel der Zahl 144 – jener Anzahl der Abschnitte des Romans und damit dessen Ende. Könnte man hier also von einem den Text steuernden Algorithmus sprechen? Eine Rechenoperation, die die Narration initiiert, ihr einen Titel gibt und ihr Ende bestimmt? Die titelgebenden Äpfel sind immerhin der Grund, weshalb ausgerechnet von diesem Supermarktbesuch erzählt wird, denn auf sie gründet sich die Hoffnung auf einen besonderen Tag. Daher ist es signifikant, dass der Protagonist diese vier Äpfel in den noch leeren Einkaufswagen legt: Dieser leere Einkaufswagen kann metaphorisch, wie der leere Kalender, in welchen er L.’s Geburtstag einträgt, als ein weißes Stück Papier gesehen werden: Alle Möglichkeiten stehen offen – im Konsum, in der Liebe, in der Narration – und com/2011/10/06/opinion/apple-logo/, 07.10.2011, abgerufen am 21.05.2017; vgl. zu Alan Turing: Andrew Hodges: Alan Turing. The Enigma. London 1983. 234 | Das sogenannte Dualsystem geht in Europa vor allem auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurück, der dieses in Explication de l’Arithmétique Binaire (1703) veröffentlicht hat. Vgl. Hans J. Zacher: Die Hauptschriften zur Dyadik von G. W. Leibniz. Ein Beitrag zur Geschichte des binären Zahlensystems. Frankfurt a.M. 1973, S. 9-33, zur Entsprechung von 8 = 1000 vgl. ebd., S. 297. 235 | Die Addition ist hier die naheliegendste Rechenoperation, da sich das Gewicht von 1000 aus der Summe der Einzelgewichte der Äpfel ergibt.

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die vier Äpfel, ihr besonderes Gewicht und der sich in ihnen verbergende Code setzen die Ereignisse in Gang. Die These lässt sich durch die Herausstellung weiterer Zahlen im Text untermauern:236 Das Mindesthaltbarkeitsdatum der Milch, die der Protagonist kauft, ist der 22. April (vgl. VÄ 110). Dieses Datum ist mehr als nur ein konsumrelevanter Termin: Es handelt sich um L.’s Geburtstag (vgl. VÄ 110). Liest man das Datum als Zahlenfolge 2-2-4, dann ergibt nicht nur die Tagesangabe in der Quersumme die berüchtigte Vier; die Quersumme der gesamten Zahlenreihe führt wiederum zur Acht, die sich hinter dem Code der 1000 verbirgt. Für das Verständnis dieses Codes als Algorithmus ist es bezeichnend, dass es dieser Geburtstag ist, den der Protagonist in den eben neu erworbenen, noch jungfräulichen Kalender einträgt, womit der Beginn der ›Zeit mit L.‹ markiert wird.237 Das Mindesthaltbarkeitsdatum dieser Liebe ist indes zum Zeitpunkt des Supermarktbesuchs längst überschritten. Der Kalender könnte darüber hinaus Aufschluss über die Anzahl der Fußnoten geben: 52 Wochen zählt schließlich ein Kalenderjahr, sie ergeben zusammen zwölf Monate.238

236 | Die folgenden Ausführungen nennen nur die signifikantesten. Hinzuzufügen wären Überlegungen zu L.’s Lieblingszahl Sieben (vgl. VÄ 120), womit L. im Verhältnis zur Acht dieser vorangeht, damit aber auch die Vergangenheit markiert. Die Bedeutung der Acht als besonderer Zahl, die eventuell eine neue Liebe signifiziert – nämlich genau jene nach L. – wird damit bestätigt. Darüber hinaus könnte man weitere Zahlenspielereien anstellen, wenn man beispielsweise beachtet, dass der Tocotronic-Song, aus dem das dem Roman vorangestellte Zitat stammt, der dreizehnte des Albums Es ist egal, aber (1997) ist. Die Dreizehn wird im Roman eingehend anhand einer Fischstäbchen-Packung thematisiert, die eben genau dreizehn Fischstäbchen enthält und damit eine gerechte Aufteilung, ähnlich wie im Märchen Dornröschen mit 13 Feen und zwölf Tellern, unmöglich macht. Die Dreizehn könnte nicht nur aufgrund dieser Ungerechtigkeit beim Protagonisten unbeliebt sein, sie passt zudem nicht in das 2-4-8-Schema gerader Zahlen. Bildet man allerdings die Quersumme, erhält man die titelgebende Vier. Die Signifikanz der Zahl wird dennoch relativiert: »dreizehn ist ja bloß eine Zahl, die zwischen zehn und fünfzehn liegt.« (VÄ 18, Fußnote 5) Ein weiterer Indikator für ein Interesse des Textes an Zahlen wäre das Teenager-Gespräch, das der Protagonist belauscht, in dem es auch um einen Zahlenzufall geht: Zweimal hat ein Telefongespräch mit derselben Person genau 26 Minuten und 30 Sekunden gedauert (vgl. VÄ 126f.). Direkt im Anschluss daran findet der Protagonist im Supermarkt ein Angebot von Tresoren, die über einen »3-8stelligen Code« (VÄ 128) geöffnet werden. 237 | Vgl. Kap. III/2.1.1. 238 | Die Zahl taucht zudem im Zusammenhang eines Aztekenbrauches auf: Alle 52 Jahre werden »Töpfe, Teller und Einrichtungsgegenstände, de[r] gesamte[n] Hausrat also kaputt[ge]schlagen« (VÄ 137). Die Idee einer Erneuerung nach einer bestimmten

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Eine weitere Episode stützt die Bedeutung der Zahlen Vier, Acht und Zwölf: Der Protagonist erinnert sich an ein Angebot in einem Drogeriemarktflyer, dort gab es »einen Brillantring mit einem selbstverständlich lupenreinen Diamanten, der statt 7990 Euro nur noch 4444 Euro kosten sollte« (VÄ 57).239 Der Preis wird mit einer Fußnote versehen, in welcher der Protagonist sinniert: »Ist das Angebot vielleicht sehr günstig? Müßte der Ring bei einem Juwelier vielleicht 9000 statt 4444 Euro kosten? Oder noch viel mehr? Aber machen diese vielen Vieren den Preis nicht verdächtig? Ist es am Ende ein völlig willkürlicher und nicht genau kalkulierter Preis? Und steht die Zahl Vier im Chinesischen Denken nicht für den Tod?« (VÄ  57) Realität und Kalkulation des Preises ungeachtet, wirkt die Zahl 4444 in der Tat verdächtig, fällt sie doch anhand der Wiederholung der bereits als exponiert eingeführten Zahl Vier ins Auge: Nimmt man die Zahlenanordnung wörtlich, also viermal Vier, ergibt sich die Zahl 16. Im 16. Abschnitt des Romans findet sich folgende signifikante Passage: Mir fällt ein, daß ich als Kind und noch später die Vorstellung hatte, von der Entscheidung, in welche Richtung ich an der nächsten Straßenecke abbiege, könnte, ja müßte der zukünftige Verlauf meines Lebens abhängen, was mich manchmal so sehr lähmte, daß ich an einer Ecke stehenblieb und mir versuchte auszumalen, was aus mir werden würde, wenn ich nach links ginge, und was wohl alles auf mich zukäme, wenn ich mich nur aufraffen könnte, nach rechts zu gehen. Die Illusion oder, wenn man so will, den Glauben, die Zukunft hänge von einer so kleinen, eigentlich unbemerkt getroffenen Entscheidung ab, habe ich irgendwann verloren, obwohl ich die ganze Geschichte mit L., in der ich, auch wenn ich es nicht wahrhaben möchte, noch immer stecke, auf den Umstand zurückführen könnte, daß ich damals, statt in eine Straßenbahn zu steigen, zurück zu dem Schreibwarenladen gegangen bin, in dem wir uns dann getroffen haben. (VÄ 27)

Der Zahlencode weist den Leser damit auf ein, wenn nicht das zentrale Problem des Protagonisten hin: Er leidet an einem Übermaß von Reflexion, die ein Handeln seinerseits erschwert. Die Idee, dass der Verlauf des gesamten restlichen Lebens wie bei Herakles am Scheideweg 240 von einer einzigen EntZeitspanne korrespondiert mit dem Konzept des Kalenders und der Einteilung des Jahres in 52 Wochen. 239 | L.’s Ringgröße, dies sei nur am Rande bemerkt, ist 47 und damit eine Primzahl, also eine Zahl, die durch keine andere teilbar ist und daher bevorzugt für Verschlüsselungssysteme verwendet wird (vgl. VÄ 58). Sie enthält zudem ihre Lieblingszahl Sieben und die berüchtigte Vier. 240 | Vgl. Erwin Panofsky: Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neuen Kunst. Leipzig u.a. 1930.

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scheidung abhänge, funktioniert nämlich genau nach dem Prinzip des Algorithmus: Die Ziffern Null und Eins bewerkstelligen binäre Entscheidungsprozesse, indem sie ›Ja‹ und ›Nein‹, ›Aus‹ und ›An‹ oder auch ›Stop‹ und ›Go‹ signifizieren. Ein Algorithmus legt damit nichts anderes als den Ablauf eines Programms, in diesem Fall: des Lebens, fest, wenn anhand der Kombination von Null und Eins permanent Entscheidungen getroffen werden. Das Problem, sich nicht entscheiden zu können, wirkt sich für den Protagonisten insbesondere in zwei Bereichen des Lebens aus: Liebe und Konsum. Schon als Kind waren für ihn die vielen Möglichkeiten, die eine bestimmte Summe an Geld verhieß, wertvoller als sich für den Kauf eines Objekts zu entscheiden: Als Kind marschierte ich aus Spielwarenläden oft wieder hinaus, ohne etwas gekauft zu haben, weil ich mich nicht durchringen konnte, mein Taschengeld gegen das eine Spielzeugauto oder die eine Spielzeugpistole zu tauschen. Offenbar habe ich viele Möglichkeiten schon immer für kostbarer gehalten als ein bestimmtes Objekt. […] wenn ich mich endlich für ein bestimmtes Spielzeug entschieden hatte, regte sich in mir schon bald die Frage, ob ich mit dem anderen Spielzeug, auf das ich zugunsten des favorisierten verzichtet hatte, nicht viel besser spielen würde. Nach dem Kauf kam der Zweifel, auf die kurze Freude folgte anhaltende Reue, denn mit meiner Entscheidung hatte ich mich um alle möglichen Alternativen gebracht. (VÄ 117)

Kaufen heißt für ihn Verzichten. Eine Entscheidung zu treffen und damit »eine Absage an hundert oder tausend andere Möglichkeiten« (VÄ 116) zu erteilen, ist jedoch Basis jeglicher Form der Wirtschaft. Das Geld selbst hat zwar den höchsten Fiktionswert,241 ist aber gleichzeitig auch von »sensationeller semantischer Armut«242 gekennzeichnet. Folgerichtig hat der Protagonist die Befürchtung, eines Tages auf dem Anruf beantworter eine Nachricht vorzufinden, die ihn des zu geringen Konsums bezichtigt und deshalb vom künftigen Konsum ausschließt (vgl. VÄ 90, Fußnote 28). Analog führt die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, auch in der Liebe zu deren Instabilität: L. war sich darum [ob seiner Entscheidungsunfähigkeit, AO], obwohl ich es oft genug beteuerte, nie ganz sicher, ob ich mich überhaupt ganz und gar für sie entschieden hatte. Auf mich wirkte das, als suchte sie Zweifel, die sie selber hatte, bei mir. In allem sah sie Zögern und Zaudern, du weißt ja gar nicht, ob du wirklich willst, du hättest auch eine andere treffen können, mit der du nun zusammen wärst, du liebst mich eigentlich gar nicht. Ich habe dann gesagt, tja, aber jetzt sind wir zusammen, und vielleicht soll gerade das so sein, doch mein Vielleicht, das große Vielleicht, das sich in fast jeden Satz, den 241 | Vgl. Ullrich: Habenwollen, S. 46. 242 | Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a.M. 1998, S. 303f.

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Liebe und Konsum ich zu ihr sagte, schlich und das in diesem, der doch eine Beteuerung meiner Liebe sein sollte, nicht einmal versteckt war, ließ gerade diese Beteuerung fadenscheinig, ja wertlos werden. (VÄ 116f., Herv. i.O.)

Ein weiteres Konsumbeispiel, das auf diesen Abschnitt folgt, gibt darüber deutlichen Aufschluss: Die Unfähigkeit, sich zwischen zwei Pullovern zu entscheiden, kann nicht damit gelöst werden, einfach beide zu kaufen, denn es verlagert und perpetuiert das Problem lediglich: »Ich kann ja schlecht beide übereinandertragen.« (VÄ 118) Die Signifikanz und Funktion von Entscheidungen in Konsum wie Liebe werden in diesem Beispiel pointiert: So wie man nicht zwei Pullover auf einmal tragen kann, kann man auch nicht zwei Partner auf einmal haben – das verbietet schließlich das Exklusivitätsgebot der romantischen Liebe. Es ist daher wenig verwunderlich, dass sich der Protagonist in besonderem Maß für Algorithmen, Codes und Ähnliches zu interessieren scheint: Da wäre erstens der »Bildauswertungs-Algorithmus« (VÄ 9, Fußnote 2) von Obst- und Gemüsewaagen, der dem Kunden die Auswahl der korrekten Produkttaste abnimmt. Kehrt man an dieser Stelle zum Apfel-Sprachspiel Wittgensteins zurück, so ließe sich hier auch eine Faszination für die Erzeugung automatisch angemessener Kommunikation vermuten: Liebe als Kommunikationscode wäre damit viel einfacher.243 Die Fantasie einer »in den Tiefen des Systems verborgenen Sonderfunktion« (VÄ 152), die ihn zum auserwählten Märchenprinzen der Supermarktkassiererin macht, gehört zweitens ebenso dazu wie jene, mit einem Farbeimer den eigenen Weg im Supermarkt zu markieren, womit auf dem Supermarktboden eine Spur erzeugt wird, »die von oben betrachtet […] große Buchstaben […], eine Botschaft ergäbe[n].« (VÄ  71) Drittens bringt der Protagonist immer wieder Fantasien der Fremdsteuerung zum Ausdruck, die bemerkenswerterweise kaum als bedrohlich markiert werden. So hat er im – wie bereits dargelegt wichtigen – 16. Abschnitt das Gefühl, er sei mit dem Einkaufswagen verwachsen und werde gezogen, es scheint ihm, »als ob ich von einem Programm gesteuert würde, von dessen Existenz ich nichts weiß, vielleicht bin ich bloß ein Automat, vielleicht ist das Bewußtsein, das ich habe, vielleicht ist dieser Schatten eines Bewußtseins mit seinen Einfällen zu Fischstäbchen und Honig nichts als das erste Zucken einer künstlichen Intelligenz, die noch Steuerungsprobleme hat.« (VÄ  27) Die Vorstellung, vom Einkaufswagen gelenkt zu werden, kehrt mehrfach wieder (vgl. VÄ 65, 74, 104, 107) und wird im Zuge dessen ähnlich der eben zitierten Passage zur Androidenfantasie ausgebaut: »Und wenn ich nun selbst ein Android oder ein Replikant bin, wie die Automaten im Bladerunner [sic!] heißen? Einer, der nicht weiß, dass er einer ist? […] Könnte dieser Nachmittag also der Nachmittag eines Einkaufsro243 | Vgl. Kap. III/2.2.

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boters sein, ist auch meine Sentimentalität bloß programmiert?« (VÄ 73) Dass diese Fantasien nicht eindeutig negativ oder dystopisch markiert sind,244 liegt daran, dass Algorithmen, Programme, automatische Steuerung eines der zentralen Probleme des Protagonisten lösen: Sie treffen die Entscheidungen für ihn.245 Damit verbinden sich die Hoffnung und der Glaube daran, dass eine bestimmte Zahlenfolge das ganze Leben positiv verändern könnte. Es ist daher wenig verwunderlich, dass in der zuletzt zitierten Passage der Versuch unternommen wird, auch seine Gefühle einer Programmierung zuzuschreiben, womit das zentrale Problem des Films Blade Runner aufgenommen wird. Damit wird die Lösung der Entscheidungsunfreudigkeit bezüglich des Konsums auf die Liebe übertragen: Algorithmen bieten die Möglichkeit, Unsicherheiten wie Unwahrscheinlichkeiten ohne Belastung des Individuums zu überwinden. Dies ist keine Science Fiction-Fantasie, sondern bereits Realität: Online-Dating und Internetpartnerbörsen funktionieren genau so: Algorithmen finden, so das Versprechen und Wunschdenken, auf der Basis von Daten, die das Individuum in das Programm einspeist, den perfekten Partner.246 Ein Erfolgserlebnis in dieser Hinsicht kennt der Protagonist aus seinem Bekanntenkreis: Das Paar, dessen Hochzeit L. und er zuletzt besucht hatten, trennte sich nach zweieinhalb Jahren und »der Mann fand eine neue Freundin über eine Kontaktbörse im Internet« (VÄ 90). Der Startmechanismus Zufall fällt bei diesem Vorgehen weg, zudem ist die Wahl durch das Matchmaking des Computerprogramms abgesichert, es bedarf also keines Kontingenzschutzes der 244 | Dies gilt im Übrigen auch für seine Wahrnehmung von Supermarktmitarbeiterinnen als Androiden, vgl. VÄ 44, 152. 245 | Der Automatenfantasie wird nur eine noch radikalere Lösung des Problems vorgezogen: der Tod. Der Protagonist argumentiert, dass er sich lieber vorstelle, »hier schwebten Engel durch die Gänge, Seelenkörbe vor sich her schiebend« und dass er »einer von ihnen« sei, nicht wissend, wann er denn gestorben sei (VÄ 73). 246 | Der Wunsch, Liebe mittels wissenschaftlicher Methoden zu generieren, beschränkt sich nicht auf das digitale Zeitalter. Arthur Aron hat in den 1990er Jahren ein Experiment erfunden, mit dem sich anhand der gegenseitigen Beantwortung von 36 Fragen gefolgt von einem vierminütigen In-die-Augen-Schauen zwischen Menschen, die sich bis dato noch nicht einmal besonders gut kennen, ›Nähe‹ und ›Intimität‹, in einigen Fällen gar Liebe erzeugen lassen. Vgl. Arthur Aron u.a.: The Experimental Generation of Interpersonal Closeness: A Procedure and Some Preliminary Findings. In: Personality and Social Psychology Bulletin 23 (1997), H. 4, S. 363-377. Vgl. auch: Mandy Len Catron: To Fall in Love With Anyone, Do This. In: www.nytimes.com/2015/01/11/fashio​ n/modern-love-to-fall-in-love-with-anyone-do-this.html, 09.01.2015, abgerufen am 22.05.2016. Das Experiment hat mittlerweile Einzug in die Populärkultur gefunden: In der achten Staffel der US-Serie The Big Bang Theory machen die Protagonisten Sheldon und Penny die Probe aufs Exempel (Episode 16: The Intimacy Acceleration, 2015).

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Liebe mehr. Liebe wird zum Schicksal, zur Bestimmung qua Computercode. Dies ist jedoch noch nicht das Ende der Möglichkeiten: Blickt man nach Hollywood, wird es in Zukunft möglich sein, sich den passenden Partner als maßgeschneidertes Betriebssystem käuflich zu erwerben – der Film Her (2013) von Spike Jonze führt genau das vor, mit allen Konsequenzen und Problemen, die daraus entstehen.247 Eva Illouz weist auf die Potenzierung der Marktförmigkeit der Partnersuche im Internet hin, die »das Selbst in ein verpacktes Produkt«248 verwandelt, das mit anderen Produkten auf dem Markt konkurriert. Das führt außerdem zu einer Belastung durch das Problem der Effizienz: Die Individuen entwickeln »ein ausgeprägtes Bewußtsein für die Kosten-Nutzen-Seite ihrer Suche, sowohl im Sinne von Zeit als auch in dem Sinne, daß sie die Attribute der gefundenen Person maximieren wollen.«249 Die Imagination des Protagonisten von Vier Äpfel, dass man sich den Partner im Supermarkt-Aquarium aussuchen kann (vgl. VÄ 36), wirkt vor diesem Hintergrund nur einleuchtend, verdeutlicht es doch genau diese Kaufsituation. Der Algorithmus, der sich hinter der Zahlenfolge 1-0-0-0 verbirgt, wirkt also nicht nur auf Ebene des discours des Textes, sondern auch seiner histoire. Er bestimmt nicht nur Anfang, Struktur und Ende der Erzählung, er dient auch als Lieblingsfantasie des Protagonisten dazu, jenen Fehler seinerseits zu beheben, der maßgeblich zum Scheitern der Beziehung mit L. und dem daraus resultierenden Liebeskummer beitrug. Die strenge Rationalität der Zahlen scheint der romantischen Fantasie des Protagonisten entgegengesetzt zu sein – werden hier also alte Gegensätze gegeneinander ausgespielt: Rationalität vs. Emotion, Fakten vs. Fiktion, »zählen statt erzählen«?250 Die Poetik des Romans ist in dieser Spannung begründet, indem sie beides miteinander verbindet: Die Zahlen steuern das Erzählen, aber das Erzählen bringt die Zahlen 247 | Der Film Her spitzt das Versprechen der Partnerbörsen, der Algorithmus finde den passenden Partner ohne Aufwand, auf die Idee zu, dass der passende Partner selbst ein individuell zu konfigurierendes Betriebssystem sei, das man sich kaufen kann. Damit wird die Liebesbeziehung auf das im Luhmann’schen Sinn Wesentliche reduziert: Kommunikation. Allerdings fällt der ›Basismechanismus‹ Sexualität damit weg (vgl. Niklas Luhmann: Liebe. Eine Übung. Frankfurt a.M. 2008, S. 42-54.): Der Versuch, die fehlende Körperlichkeit des Betriebssystems durch ein menschliches Surrogat zu simulieren, schlägt fehl. Der Plot spielt damit letztendlich die Konkurrenz von Mensch und Maschine aus, die mit einer fraglichen metaphysischen Wende aufgelöst wird. Vgl.: Her. Spike Jonze (R.). Warner Bros. 2013. 248 | Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Übers. v. Martin Hartmann [Original: Cold Intimacies. The Making of Emotional Capitalism, 2007]. Frankfurt a.M. 2007, S. 132. Vgl. auch Kap. V/1. 249 | Ebd. 250 | Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 303.

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zuallererst hervor. Letztendlich gehört diese Zahlenpoetik in das Programm der Romantisierung: Der Algorithmus soll die Welt verzaubern, indem er Konsum wie Liebe für den Protagonisten auf Erfolgskurs stellt. »Wahrscheinlich ist heute doch kein besonderer Tag« (VÄ  77), räsoniert der Protagonist inmitten einer anderen Fantasie. Es ist die Ahnung, dass die Zahlenfolge 1-0-0-0 eben doch nur genau das ist: die Kombination von vier Ziffern – den kontingenten, einst von Registrierkassen produzierten Zahlenkolonnen nicht unähnlich (vgl. VÄ 150). Mit der Lesart des Algorithmus folgt der Leser dem hermeneutischen Begehren des Protagonisten, er versucht, Codes zu erkennen, zu lesen, zu dechiffrieren in der Hoffnung, dass die Dinge mehr sind als sie scheinen – und er scheitert dabei ebenso wie der Protagonist. Aus den signifikanten Zahlen Zwei, Vier, Acht und Zwölf lässt sich kein durchgehendes Muster der Abschnitte anhand von Verbindungen, Verweisen etc. ablesen, nach Abschnitt 16 endet diese Logik. Das Textverfahren folgt dem Gedankenexperiment, das der Protagonist auf Ebene der histoire in vielen Ansätzen immer wieder fantasiert. Der Roman gehört somit dem ›dekonstruktiv-postmodernen Realismus‹ an, den Moritz Baßler als eine der wesentlichen Spielarten des Realismus in der Gegenwartsliteratur ausmacht.251 Texte dieser Spielart lassen die Zeichenebene gerade nicht vergessen, wie noch die Texte des poetischen Realismus, sondern stellen diese gezielt aus. Indem der Prozess der Symbolisierung anhand der ausgefeilten Zitatstruktur offen gelegt wird, woraus wiederum scheinbar unendlich viele Deutungsangebote generiert werden, führt Vier Äpfel vor, dass es in der Postmoderne »kein authentisches Sinnzentrum«252 mehr geben kann. Das heißt auch: Die Zahlenlogik darf gar nicht aufgehen, da dies für Inhalt wie Verfahren des Romans widersprüchliche Konsequenzen hätte: Wenn alles bereits entschieden ist, gäbe es weder Raum noch Grund zur Reflexion und für den inneren Monolog des Protagonisten. Der Text selbst trifft damit keine Entscheidung, er bleibt insbesondere der Verbindung von Liebe und Konsum gegenüber, wie sein Protagonist, tendenziell indifferent.253 Der Roman offeriert in dieser Unentschiedenheit Deutungsangebote und zeigt die Möglichkeit einer Meta-Physik auf, wie sie sich der Protagonist erträumt – womit die Dynamik von Oberfläche und Tiefe inszeniert wird: Was wäre, wenn hinter den Zahlen und Worten eine weitere Bedeutung und hin251 | Vgl. Moritz Baßler: Die Unendlichkeit realistischen Erzählens. Eine kurze Geschichte moderner Textverfahren und die narrativen Optionen der Gegenwart. In: Carsten Rohde, Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld 2013, S. 2745, S. 43-45. 252 | Baßler: Die Unendlichkeit realistischen Erzählens, S. 40. 253 | Vgl. Ina Hartwig: Bilder für jetzt. In: www.zeit.de/2010/42/Gegenwartslitera​t ur3, 14.10.2010, abgerufen am 22.05.2016.

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ter dieser noch weitere liegen? Im gleichen Zuge werden diese Be-Deutungen jedoch gleich wieder entzogen, das metonymische Verfahren und die Referentialität der Zeichen werden entkoppelt,254 womit der Lesbarkeit der Welt, des Konsums und der Liebe eine Absage erteilt wird.255 Wie der Protagonist von Vier Äpfel muss sich der Leser mit der potentiellen Bedeutungslosigkeit abfinden, von Codes, Konsum und Liebe gleichermaßen. Die Verzauberung der Welt wird unendlich aufgeschoben. Was bleibt, sind Fiktionen – der Roman ist eine davon.

3. Z usammenfassung Die Analysen der Romane von Émile Zola und David Wagner haben die Signifikanz der Orte des Warenhauses und des Supermarkts für den Zusammenhang von Liebe und Konsum aufgezeigt. Beide Male erweisen sich die Orte des Konsums als Bedingung der Möglichkeit von Liebe. In Zolas Roman, ›Ur-Text der Warenhausliteratur‹, fungiert das Bonheur des Dames als Protagonist, der die Liebenden topologisch, strukturell und kommunikativ zusammenführt. Mit männlichen wie weiblichen Attributen beschrieben, erhält das Warenhaus ein eigenes Agens und wird so eng mit seinem Erschaffer Octave Mouret verknüpft, dass die beiden kaum voneinander zu trennen sind. Der Text präsentiert daher die erste Begegnung von Denise Baudu mit dem Warenhaus und Mouret als Moment des Verliebens direkt am Anfang des Romans – so dass man fortan von einer Ménage à trois sprechen kann, die unter anderem Ausdruck darin findet, dass die (Liebes-) Kommunikation zwischen Denise und Mouret ausschließlich über das Warenhaus funktioniert: Das ist der Sonderhorizont der beiden Liebenden, ihr eigener Liebesdiskurs. Entgegen den gängigen Lektüren von Au Bonheur des Dames, die die patriarchale Macht Mourets herausstellen, der sich alle Frauen zu willen machen kann, zeigt die Analyse unter dem Gesichtspunkt von Liebe und Konsum, dass der Text ganz gezielt Gender-Stereotype durchbricht, wenn beispielsweise Denise’ herausragendste Eigenschaft ihre Vernunft und nicht ihre Schönheit ist und Mouret als Frau oder Dichter charakterisiert wird, der ebenso Verführer wie Verführter ist. Der Roman korreliert außerdem anhand seines großen Figurenpersonals Liebes- und Geschäftsmodelle aufs engste miteinander, so dass es wenig verwundert, dass auch die entstehende Liebesbeziehung von Mouret und Denise wie eine Geschäftsverhandlung präsentiert 254 | Vgl. Baßler: Die Unendlichkeit realistischen Erzählens, S. 42. 255 | Von der Gefahr der Überinterpretation handelt beispielsweise auch Umberto Ecos Il pendolo di Foucault (1988), worin sich ein vermeintlich mittelalterliches Geheimdokument als bedeutungslose (Einkaufs-)Liste erweist.

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wird: Mouret macht Denise Angebot um Angebot, die sie allesamt ablehnt. Was diesen Verhandlungen unterliegt, ist indes nichts anderes als der Kampf um Liebesmodelle: Denise ist Vertreterin eines romantischen Liebesideals, wonach der Mann die Frau, die er liebt, zu heiraten hat und nicht nur als Geliebte behandelt. Mouret dagegen fröhnt einem libertinen Liebesmodell, wonach er sich die Frauen, ganz unabhängig von Gefühlen, anhand von Geschenken, Geld und Luxus gefügig machen kann – und nach deren Ge- und Verbrauch sozusagen entsorgen und sich auf die Suche nach der nächsten machen kann. Was Denise letztendlich dazu bewegt, in die Heirat einzuwilligen, ist Mourets völlige Umstellung auf das romantische Liebesideal, indem er ihr das Warenhaus und sich selbst zu Füßen legt – und damit ihr Wohl über das seinige stellt. Die Bedeutung des Warenhauses setzt das Schlussbild überdeutlich in Szene: Die beiden sitzen auf mehr als einer Million Franc, die höchste Tageseinnahme des Bonheur des Dames. Das Warenhaus, der Konsum, das Geld sind nicht der Grund für die Liebe, sondern die Bedingung von deren Möglichkeit: Der Roman inszeniert somit die Verbindung von Denise und Mouret als triumphale Verbindung von Liebe und Konsum. David Wagners Vier Äpfel präsentiert den Supermarkt als Ort des Konsums wie Ort der Liebe. Der namenlose Protagonist reflektiert einen Gang durch den Supermarkt lang seine verflossene Liebe zu L. und verbindet dies mit einer Phänomenologie des Supermarktes. Die zahlreichen Konsumprodukte, an denen er vorbeikommt, werden mit Erinnerungen an L. oder seine Kindheit sowie mit alternativen Biografie-Entwürfen verquickt, so dass das Konzept der Fiktionswerte hier signifikant zum Tragen kommt. Die Oberflächen der Konsumobjekte interagieren dabei immer wieder mit den Oberflächen von Frauen, denen er im Supermarkt begegnet: Da seine Wahrnehmung jedoch immer noch durch den Weltbezug von L. bestimmt ist, nimmt er vorrangig jene Produkte wahr, die sie bevorzugt hat oder die sie gemeinsam konsumiert haben. Konsum wird somit als Sonderhorizont der beiden Liebenden installiert und zugleich wird demonstriert, wie die Wirksamkeit desselben eine neue Liebe verhindern kann: Der Protagonist ist vor allem der Marke L. treu, alles andere sind nur ›Produktaffären‹. Anhand verschiedener Fantasien versucht der Protagonist, dies zu durchbrechen: Am signifikantesten ist jene, in der er sich vorstellt, dass sein Einkaufswagen mit dem einer schönen Frau zusammenstößt, in dem exakt die gleichen Produkte wie in seinem liegen – woraufhin er sich zwangsläufig in sie verliebt. Dieses Bild der Liebe auf den ersten Blick setzt anstelle der Körperoberfläche der Frau die Oberfläche der Waren. Mehr noch, angesichts des schier endlosen Warenangebots im Supermarkt verdeutlicht diese Fantasie die Höchstrelevanz wie die Unwahrscheinlichkeit von Liebe gleichermaßen – die, so zeigt die Kennenlerngeschichte mit L., vor allem, wenn nicht ausschließlich durch Konsum und an Orten des Konsums wahrscheinlich gemacht werden kann. Diese Liebes-Konsum-Reflexionen des

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Protagonisten werden zudem anhand des Verfahrens einer konsumierenden Intertextualität unterfüttert, wodurch der Roman mittels der Einverleibung anderer Medien und Texte das Prinzip des Fiktionswertes von Konsumgütern reproduziert: Es handelt sich dabei um Deutungsangebote an den Leser, die dieser annehmen kann, aber nicht muss. Eines dieser Angebote ist das Wirken eines Algorithmus im Text, der sich auf die Zahlenaffinität des Romans gründet und zugleich eine Verbindung zu den Algorithmen von Dating-Websites und -Apps herstellt. Beide Romane verdeutlichen also den Mechanismus der ›Enzymatik‹: Konsum und die damit verbundenen Orte machen Liebe, das grundsätzlich Unwahrscheinliche, wahrscheinlich. Zugleich präsentieren beide aber auch die Orte des Konsums als Orte moderner bzw. postmoderner Subjektkonstitution, die als ambivalent markiert wird: Hinter dem Happy End von Denise und Mouret steht ein Fragezeichen, insbesondere die Identität Denise’ ist am Ende ungeklärt. David Wagners Roman zeigt auf, wie Identitäten durch die Angebote von Konsum wie Liebe in der Postmoderne variabel und mobil werden, indem sich der Protagonist andere, von seinem Leben völlig abweichende Alternativbiografien und -liebesgeschichten imaginiert. Auch die Hoffnung auf Sinnstiftung anhand der Zahlenpoetik des Romans wird letztendlich enttäuscht, ohne diese Hoffnung jedoch endgültig zu verabschieden: Liebe wie Konsum changieren in einem Zustand endloser Möglichkeiten.

A nmerkungen I | [Habe es jemals so etwas gegeben,] ein Modewarenhaus, in dem nahezu alles verkauft wurde! (PdD 31) II  | [S]ie alle sind elende Geschöpfe, genauso käuflich wie ihre Waren! (PdD 401) III  | Zwischen ihm und dem Handschuhverkäufer bestand die Rivalität hübscher Männer, die beide eine Vorliebe dafür hatten, mit den Kundinnen zu kokettieren. (PdD 130) IV | ›Oh, sie passen vorzüglich, gnädige Frau!‹ wiederholte Mignot.  ›Sechsdreiviertel wäre zu groß für eine Hand wie die Ihre.‹ Halb auf dem Ladentisch liegend, hielt er ihre Hand, fasste einen Finger nach dem anderen, streifte ihr mit langem, wiederholtem und nachdrücklichem Streicheln den Handschuh an; und er blickte sie an, als erwarte er, ihrem Gesicht anzusehen, dass sie vor wollüstiger Freude vergehe. (PdD 131) V | Und in dieser letzten Stunde, in dieser überheizten Luft beherrschten die Frauen das Feld. […]. Die benommenen, völlig erschöpften Verkäufer waren für die Frauen nur noch Gegenstände, über die sie mit despotischer Willkür verfügten. (PdD 342)

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt VI | Es gab jedoch in ihrem arbeitsreichen Dasein wenig Raum für gefährliche Träumereien. Im Geschäft dachte man unter dem schweren Druck von dreizehn Arbeitsstunden kaum an zärtliche Beziehungen zwischen Verkäufern und Verkäuferinnen. Hätte der fortwährende Kampf um das Geld nicht die Geschlechtsunterschiede verwischt, so würde die unausgesetzte Hetzjagd […] jedes Begehren töten. […] Nur draußen begann wieder das individuelle Leben mit dem jähen Aufflammen der wiedererwachenden Leidenschaften. (PdD 174f.) VII  | Er wurde Frau, sie fühlten sich durchdrungen und beherrscht durch sein feines Gefühl für ihr verborgenes Wesen, und verführt ließen sie sich gehen; er indes, von nun an überzeugt, dass sie ihm gänzlich verfallen seien, schien, wie er sie so brutal beherrschte, der despotische König des weiblichen Putzes zu sein. (PdD 109) VIII  | Aber Sie sind ein Dichter […]. (PdD 403) IX | Über dem runden Busen der Schaufensterpuppen bauschte sich der Stoff, die kräftigen Hüften hoben die Zartheit der Taille stärker hervor, der fehlende Kopf war durch ein großes Preisschild ersetzt, das mit einer Nadel an dem roten Molton festgesteckt war, der den Hals umgab; und die Spiegel zu beiden Seiten des Schaufensters reflektierten und vervielfachten sie ins Endlose in einem wohlberechneten Spiel, bevölkerten die Straße mit diesen schönen verkäuflichen Frauen, die an Stelle eines Kopfes in fetten Zahlen ihren Preis trugen. (PdD 9) X | Das war ein neues Schauspiel, ein Ozean in verkleinertem Maßstab gesehener Köpfe, die wie ein aufgestörter Ameisenhaufen wimmelten und unter denen die Körper verschwanden. (PdD 327) XI  | Es war keine einfache Sache mehr, zur Treppe zu gelangen. Eine schwere Dünung von Köpfen wogte unter den Galerien, breitete sich wie ein über seine Ufer tretender Strom in der Halle aus. Eine wahre Handelsschlacht entbrannte, die Verkäufer hatten dieses Volk von Frauen, die sie einander weiterreichten, in der Gewalt und wetteiferten an Eile. Die Stunde des furchtbaren Nachmittagsgeschiebes war gekommen, da die überheizte Maschine den Tanz der Kundinnen aufführte und ihnen das Geld aus dem Leibe sog. Vor allem die Seidenabteilung durchwehte Tollheit […]; außer dem starken Rauschen des Verkaufs war nichts weiter mehr vorhanden als das Gefühl von der unermesslichen Größe von Paris, einer unermesslichen Größe, die jederzeit Käuferinnen liefern würde. […] Und unter dem feinen Staub verschmolz schließlich alles miteinander, man unterschied nicht mehr, wo die einen Rayons anfingen und die anderen aufhörten. […] Man sah nicht einmal mehr die Toiletten, nur die Kopf bedeckungen, bunt von Federn und Bändern, schwammen noch obenauf, einige Herrenhüte bildeten schwarze Flecke, während der bleiche Teint der Frauen vor Erschöpfung und Wärme den glasigen Ton von Kamelien annahm. (PdD 141f.)

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Liebe und Konsum XII  | So ließ Mouret sogar unter seiner liebenswürdigen Galanterie die Brutalität eines Krämers zum Vorschein kommen, der die Frau pfundweise verkauft. Er errichtete ihr einen Tempel, ließ ihr von einer Legion Kommis Weihrauch streuen, schuf den Ritus eines neuen Kults. Er dachte nur an sie, war unablässig bemüht, stärkere Verführungskünste zu ersinnen; und hinter ihrem Rücken war er, wenn er ihr die Taschen geleert und die Nerven zerrüttet hatte, von der heimlichen Verachtung erfüllt, die ein Mann empfindet, dessen Geliebte soeben die Dummheit begangen hat, sich ihm hinzugeben. (PdD 100) XIII  | Ihre Augen brannten von der Leidenschaft des Geldverdienens, der ganze Laden um sie her zählte ebenfalls Beträge zusammen und glühte in dem gleichen Fieber, in der rohen Heiterkeit von Abenden nach einem Blutbad. (PdD 153) XIV  | Mouret […], der sich, um Vallagnosc vollends zu betäuben, gerade mit diesem in das dichteste Getümmel gestürzt hatte, auch weil er selber von einem physischen Bedürfnis erfasst war, sich in seinem Erfolg zu baden. Er kam auf eine köstliche Weise außer Atem, empfand den Druck gegen seine Glieder wie eine lang währende Umarmung seiner gesamten Kundschaft. (PdD 143) XV | Es war die empfindsame Stunde der Abenddämmerung, jener Augenblick verschwiegener Wollust in den Pariser Wohnungen, wenn die Helligkeit, die von der Straße hereindringt, abnimmt und die Lampen erst in der Bedienten­ stube angezündet werden. (PdD 102) XVI | Sie unterbrachen ihn nicht mehr, sie schlossen ihren Kreis noch enger; den Mund in einem vagen Lächeln ein wenig geöffnet, saßen sie mit vorgestrecktem, angespanntem Gesicht da, als stürzten sie mit ihrem ganzen Sein auf den Versucher zu. […]  ›Daher bin ich ganz davon überzeugt, dass welche von ihren Leuten unser Paris-Paradies bei uns holen werden. Weshalb sollte sie auch für diese Seide an die Fabrik mehr bezahlen als bei uns? – Mein Ehrenwort, wir geben sie mit Verlust her!‹ Das war der letzte Schlag, den er gegen die Damen führte. Der Gedanke, mit Verlust verkaufte Waren zu bekommen, stachelte in ihnen die Gier der Frau auf, deren Genuss am Einkaufen sich verdoppelt, wenn sie den Kaufmann zu berauben glaubt. Er wusste, dass sie nicht imstande waren, einer billigen Kaufmöglichkeit zu widerstehen. (PdD 104f.) XVII  | Und von nun an wurde der Beutel unerschöpflich. Bei jedem Gegenstand, den sie herausholte, errötete sie vor Vergnügen, die Schamhaftigkeit einer Frau, die sich entkleidet, machte sie reizvoll und verlegen. (PdD 107) XVIII  | ›Oh, Herr Mouret, Herr Mouret!‹ stammelten flüsternde und vor Wonne vergehende Stimmen im Dunkel des Salons. – Der sterbende weiße Schein des Himmels, der noch die Messingbeschläge der Möbel hatte aufleuchten lassen, verlosch. Nur die Spitzen lagen noch wie ein schneeiger Schimmer auf den dunklen Knien der Damen, deren nur noch undeutlich wahrnehmbare Schar den jungen Mann mit den angedeuteten Kniefällen frommer Frauen zu umgeben schien. Ein letzter Lichtschein leuchtete auf dem unteren Rand der Tee-

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maschine auf, mit dem kurzen und lebhaften Aufflackern eines Nachtlichts in einem vom Duft des Tees warm durchzogenen Alkoven. Aber plötzlich kam der Diener mit zwei Lampen herein, und der Zauber war gebrochen. Der Salon erwachte, hell und heiter. (PdD 109f.) XIX  | Übrigens hatten die Damen noch immer nicht die Spitzen hergegeben. Sie berauschten sich daran. Die Stücke wurden abgewickelt, wanderten immer wieder von der einen zur anderen, brachten sie einander noch näher, verknüpften sie mit leichten Fäden. Sie spürten auf ihren Knien die Liebkosung eines Gewebes von wunderbarer Zartheit, bei dem ihre schuldigen Hände sich versäumten. (PdD 109) XX | [Sie] stahl, um zu stehlen, wie man liebt, um zu lieben[.] (PdD 544) XXI  | Um meinetwillen hat er sterben wollen. Immer wieder hat er zu mir gesagt: Ich habe dich bestohlen, es war dein Geld. […] Schließlich sah er Dinge, die mir Angst machten, […] mich, die er so sehr liebte, die er gern reich und glücklich machen wollte… (PdD 490) XXII  | Geh, es ist mir gleichgültig, dass wir ruiniert sind. Wenn man nur zusammen ist, ist man nicht unglücklich… (PdD 490) XXIII  | Seit dem Tage, da der junge Mann seine Stellung angetreten, hatte er mit dieser Heirat gerechnet. Er hatte die verschiedenen Stadien durchlaufen, war kleiner Kommis gewesen, der gerade seine Lehrzeit hinter sich hatte, dann Verkäufer mit festem Gehalt, wurde schließlich in das Vertrauen der Familie gezogen und nahm an ihren Vergnügungen teil, das alles tat er ganz geduldig, führte ein äußerst geregeltes Leben und sah in Geneviève ein ausgezeichnetes und ehrbares Geschäft. (PdD 19f.) XXIV  | Die Gewissheit, sie eines Tages zu besitzen, ließ kein Verlangen nach ihr in ihm aufkommen. (PdD 20) XXV | Man muss einander nur verstehen, dann ist alles ganz einfach. (PdD 20) XXVI | Das war das Ende des Fleisches, der Körper einer vom Warten verbrauchten Braut, die wieder zu dem schmalen Kind der ersten Jahre geworden war. Langsam zog Geneviève die Decke wieder über sich, und sie wiederholte:  ›Sie sehen ja, ich bin keine Frau mehr. Es wäre schlecht von mir, wenn ich ihn noch begehrte.‹ (PdD 471) XXVII  | [U]nd dieses Geschäft hier, das so plötzlich vor ihr aufgetaucht war, dieses für ihre Begriffe ungeheuer große Haus, verursachte ihr Beklemmungen, hielt sie im Bann, aufgeregt, voller Interesse, alles übrige vergessend. (PdD 6) XXVIII  | [S]ie beschloss gerade, einen halbstündigen Spaziergang durch das Stadtviertel zu machen, als der Anblick eines jungen Herrn, der schnell von der Rue Port-Mahon kam, sie veranlasste, noch ein wenig stehen zu bleiben. Das musste offenbar ein Rayonchef sein, denn alle Kommis grüßten ihn. Er war groß, hellhäutig, hatte einen gepflegten Bart; und seine Augen, die er in dem Moment, da er den Platz überquerte, auf ihr ruhen ließ, waren von der Farbe alten Goldes und weich wie Samt. Schon trat er in das Modewarenhaus

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ein, gleichgültig dagegen, dass sie regungslos dastand, ganz aufgewühlt von diesem Blick, erfüllt von einer seltsamen Erregung, in der mehr Unbehagen als Entzücken war. Sie bekam es wahrhaftig mit der Angst, langsam begann sie die Rue Gaillon, dann die Rue Saint-Roch entlangzugehen, wartend, dass ihr der Mut wiederkehre. (PdD 41f.) XXVIX | Denise war ganz rot geworden: nie würde sie sich getraut haben, eine Stellung in diesem großen Modewarenhaus anzutreten! Und die Vorstellung, dorthin zu gelangen, erfüllte sie mit Stolz. (PdD 26) XXX | Denise fühlte sich schon seit dem Vormittag der Versuchung ausgesetzt. Dieses für ihre Begriffe so riesige Geschäftshaus, in das sie binnen einer Stunde mehr Leute eintreten sah, als in sechs Monaten zu Cornaille zu kommen pflegten, machte sie schwindlig und zog sie zugleich an, und ihrem Verlangen, sich dort Eingang zu verschaffen, war eine unbestimmte Furcht beigemischt, die sie vollends verführte. (PdD 22) XXXI | Mouret hatte diesen Mechanismus zum Zermalmen der Welt erfunden, dessen rücksichtsloses Funktionieren ihre Entrüstung hervorrief; er hatte im Stadtviertel den Ruin ausgesät, hatte die einen ausgeplündert, die andern ums Leben gebracht; und sie liebte ihn dennoch um der Großartigkeit seines Werks willen, sie liebte ihn mehr bei jedem Gewaltakt seiner Macht, ungeachtet der Flut von Tränen, die angesichts des heiligen Elends der Besiegten in ihr aufstieg. (PdD 500f.) XXXII | In ihrer instinktiven Liebe zum Folgerichtigen und Lebensvollen stand sie insgeheim auf Seiten der Kaufhäuser. (PdD 251) XXXIII  | Sie war selber überrascht von der Heftigkeit ihrer Verteidigung. Was war nur mit ihrem Herzen, dass eine solche Glut in ihrer Brust entbrannte? (PdD 252) XXXIV  | Bei dieser Gelegenheit begriff sie vollends die Macht des neuen Handels und begeisterte sich endgültig für diese Kraft, die Paris umgestaltete. (PdD 258) XXXV | Ihre Ansichten wurden reifer, frauenhafte Anmut kam in ihr zum Durchbruch, in dem scheuen Kind, das aus Valognes gekommen war. (PdD 258) XXXVI | [Er] fühlte sich innerlich geschmeichelt von der Überraschtheit dieses armen Mädchens, genauso wie eine Marquise nicht ungerührt bleibt von der rohen Begierde eines vorüberfahrenden Fuhrmannes. (PdD 66) XXXVII | Es ist tatsächlich nichts Schönes an ihr[.] (PdD 72) XXXVIII  | Aber sie ist ja hübsch! (PdD 74) XXXIX  | Als er sah, wie sie erbebte, wenn seine Hände ihren Nacken streiften, bedauerte er seine freundliche Regung, denn er befürchtete vor allem, seine Autorität einzubüßen. (PdD 157) XXXX | [Es] war ihm, als hätte ein Lieblingsvogel, mit dem er zu spielen pflegte, ihn bis aufs Blut gepickt. (PdD 198)

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt XXXXI | ›Sie sind es, Fräulein!‹ (PdD 263) XXXXII | Er war entzückt, hörte sie mit Staunen an. Er wandte sich ihr zu, versuchte, in der zunehmenden Dunkelheit ihre Gesichtszüge zu erkennen. Sie schien noch immer dieselbe zu sein, mit ihrem einfachen Kleid, dem sanften Gesicht, aber dieser schlichten Unentscheidbarkeit entströmte ein durchdringender Duft, dessen Macht er sich nicht zu entziehen vermochte. (PdD 264) XXXXIII | Diese Kleine hatte sich zweifellos an die Pariser Luft gewöhnt, jetzt wurde sie zum Weib, und sie war erregend, war so vernünftig und hatte so schönes Haar. (PdD 264f.) XXXXIV | […] wie ein jähes Erwachen. (PdD 266) XXXXV | Gerade an diesem Tage schien Octave seine schöne Ausgelassenheit zu verlieren; er der sonst mit der gemessenen Grazie eines Taschenspielers das Fieber seiner Kundinnen schürte, war nun selber gleichsam der jähen Leidenschaft verfallen, von der allmählich die Verkaufsräume glühten. Seit er Denise und Frau Desforges die große Treppe hatte heraufkommen sehen, sprach er unwillkürlich lauter und gestikulierte; und während er so tat, als wende er nicht den Kopf nach ihnen, wurde er immer lebhafter, je näher er sie kommen fühlte. Sein Gesicht rötete sich, in seine Augen trat etwas von dem grenzenlosen Entzücken, von dem mit der Zeit die Augen der Käuferinnen flackerten. (PdD 328) XXXXVI | [Sie sind] die Fähigste, die Ernsthafteste. (PdD 345) XXXXVII | Da errötete sie. Glück und eine köstliche Verwirrung, darin ihr erster Schreck verging, erfüllten sie. (PdD 345) XXXXVIII | Ihre frühere armselige Unbedeutendheit hatte sich zu einem Liebreiz von ergreifender Bescheidenheit entwickelt. (PdD 345) IL | Da begann er wieder zu lächeln, er nötigte sie, näher zu kommen, sagte schließlich, er wolle ihr so viel schenken, wie sie mit einer Hand fassen könne; und im Grunde war sein Scherz ein Liebeshandel.  ›Los, aus dem Geldsack, ich wette, es werden nicht einmal tausend Franc, Ihre Hand ist ja so klein!‹ (PdD 347) L  | Er liebte sie also? Plötzlich begriff sie, sie spürte die wachsende Glut des heftigen Begehrens, womit er sie einhüllte, seit sie wieder in der Konfektionsabteilung war. (PdD 347) LI  | Weshalb kränkte er sie mit all dem Geld, wo sie doch von Dankbarkeit überströmte und er sie mit einem einzigen freundlichen Wort hätte schwach machen können? (PdD 347) LII  | Auf das Essen folgte, wie die Spaßmacher unter den Kommis zu sagen pflegten, der Nachtisch. (PdD 349) LIII  | Und Mouret, […] der gewohnt ist, seine Zärtlichkeiten in Zahlen umzusetzen […]. (PdD 90) LIV  | [W]enn sie noch immer zitterte, sobald er vorüberging, wusste sie jetzt, dass es nicht aus Furcht geschah, ihr einstiges Unbehagen, ihre frühere Angst

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konnten bei ihrer kindlichen Scheu die verstörte Unkenntnis, die Verwirrung ihrer emporkeimenden Neigung sein. Sie stellte keine Überlegungen an, sie fühlte nur, dass sie ihn von der Stunde an, da sie bebend und stammelnd vor ihm gestanden, immer geliebt hatte. Sie hatte ihn geliebt, als sie ihn als einen mitleidlosen Herrn fürchtete, hatte ihn geliebt, als ihr bestürztes, seiner selbst noch nicht bewusstes Herz, einem Bedürfnis nach Zuneigung nachgebend, von Hutin träumte. Vielleicht hätte sie sich an einen anderen verschenkt, aber geliebt hatte sie immer nur diesen Mann, von dem ein einziger Blick genügte, sie in Schrecken zu setzen. (PdD 349f.) LV | Seit ich diesen Brief erhalten habe, werde ich meines Lebens nicht mehr froh… (PdD 352) LVI | Kann denn Herr Mouret seine Verkäuferinnen heiraten? (PdD 353) LVII | Hören Sie mich an, ich liebe Sie… Sie wissen es schon lange, treiben Sie nicht das grausame Spiel mit mir, sich unwissend zu stellen… Und fürchten Sie nichts. Schon zwanzigmal hätte ich Sie gern in mein Arbeitszimmer gerufen. Wir wären dort allein gewesen, ich hätte nur den Riegel vorschieben brauchen. Aber das wollte ich nicht, Sie sehen ja, dass ich hier mit Ihnen spreche, wo jeder Zutritt hat… Ich liebe Sie, Denise… .(PdD 383) LVIII  | Da ließ er sich aus tiefster Brust den Schrei entfahren: ›Sehen Sie denn nicht, dass ich leide? – Ja, es ist einfältig, aber ich leide wie ein Kind!‹ (PdD 384) LIX  | Die Überraschung machte ihn starr. Was sagte sie bloß, und was wollte sie? Noch nie hatten die Mädchen, die er in den Rayons auflas, sich Gedanken darüber gemacht, ob sie geliebt würden. (PdD 385) LX |  ›Wenn ich aber dennoch wollte!‹ […] ›Ich will es, ich will!‹ wiederholte er außer sich. (PdD 384f.) LXI  | Ich teile nicht. (PdD 385) LXII  | Er stand noch immer oben auf der Treppe, auf dem großen Mittelabsatz, von dem aus man die Galerien übersah. Aber er hatte die Inventur vergessen, er sah sein Reich, diese von Schätzen berstenden Ladenräume, nicht. Alles war versunken, die lärmenden Siege von gestern ebenso wie das ungeheure Vermögen von morgen. Mit einem verzweifelten Blick folgte er Denise, und als sie die Tür durchschritten hatte, gab es hier nichts mehr für ihn, das Haus wurde finster. (PdD 388f.) LXIII  | Hinfort verliefen seine Tage in der gleichen schmerzlichen Besessenheit. Das Bild Denises stand morgens mit ihm auf. Er hatte in der Nacht von ihr geträumt, sie begleitete ihn an den großen Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, wo er von neun bis zehn Uhr die Tratten und die Zahlungsanweisungen unterschrieb: eine Arbeit, die er mechanisch vollführte und bei der er ständig spürte, dass sie anwesend war und in ihrer ruhigen Art noch immer nein sagte. […] Wenn er sie, während er über den Ruin oder das Gedeihen eines Industriezweiges entschied, einen Augenblick lang vergessen hatte, sah er sie wieder neben sich stehen, und ein stechender Schmerz durchfuhr sein

III. Or te: Warenhaus und Supermarkt

Herz; die Stimme versagte ihm, er fragte sich, was sein ganzer Reichtum für einen Sinn habe, da sie nicht wollte. Als es schließlich fünf Uhr schlug, musste er die Post unterschreiben, abermals begann die mechanische Beschäftigung seiner Hand, indes sie sich gebieterischer aufrichtete und völlig von ihm Besitz ergriff, damit er in den einsamen und glühenden Stunden der Nacht einzig ihr gehöre. Und am nächsten Morgen begann der gleiche Tag, einer dieser Tage, die so voll Tätigkeit waren, so ausgefüllt mit einer schweren Arbeit, die durch Herzeleid zu verheeren der hauchhafte Schatten eines Kindes genügte. (PdD 428f.) LXIV  | Noch nie hatte er so geliebt, war bei allem Leid so bezaubert gewesen. […] Völlig ruhig verließ er die Wohnung seiner Geliebten, kam nach Hause, um sich schlafen zu legen, war seiner Junggesellenfreiheit froh, und weder Bedauern noch Sorge bedrückten sein Herz. Jetzt hingegen hatte er Herzklopfen vor Bangigkeit, sein Leben gehörte nicht mehr ihm, und der Schlaf in seinem eigenen Bett schenkte ihm kein Vergessen mehr. Fortwährend war er von Denise besessen. (PdD 407) LXV | Mein Gott, ich liebe Sie, ich liebe Sie… Weshalb macht es Ihnen Vergnügen, mich so zu quälen? Sie sehen doch, dass die Leute, von denen ich zu Ihnen rede, mich nur im Zusammenhang mit Ihnen interessieren, da Sie allein mir jetzt in der Welt von Bedeutung sind… Ich habe Sie für eifersüchtig gehalten, und ich habe Ihnen meine Vergnügungen geopfert. Man hat Ihnen erzählt, dass ich Geliebte hatte; nun gut, ich habe keine mehr, ich gehe kaum noch aus. Habe ich Ihnen nicht im Hause jener Dame den Vorzug gegeben? Habe ich nicht mit ihr gebrochen, um allein Ihnen zu gehören? (PdD 449f.) LXVI | Und er sprach die Wahrheit. (PdD 450) LXVII  | [Sie] lebte dort zwischen den Kleinen, als sei es ihre eigene Familie[.] (PdD 455) LXVIII  | Jetzt kam es vor, dass sie lange freundschaftliche Gespräche mit Mouret führte. Wenn sie sich in die Direktion begeben musste, um Anordnungen entgegenzunehmen oder eine Auskunft zu erteilen, behielt er sie zum Plaudern da, er liebte es, ihr zuzuhören. Das war das, was sie lachend „einen rechtschaffenen Menschen aus ihm machen“ nannte. (PdD 455) LXIX  | Sie konnte sich nicht mit einer Sache beschäftigen, konnte keine Arbeit vor sich gehen sehen, ohne dass sie der Wunsch plagte, Ordnung zu schaffen, das Verfahren zu verbessern. (PdD 456) LXX | Manchmal geriet sie geradezu in Hitze, sie sah das ungeheuer große ideale Kaufhaus vor sich, die Phalanstère des Handels, wo jeder, entsprechend seinen Verdiensten, seinen gerechten Anteil am Gewinn haben würde, dazu die vertraglich gewährleistete Sicherheit für das Morgen. (PdD 456f.) LXXI  | Mit verführtem Herzen und ergriffenen Sinnen wäre sie in die Arme dieses Mannes gesunken, hätte sie nicht Empörung, fast Abscheu davor ver-

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spürt, ihr ganzes Wesen endgültig hinzugeben, es dem unbekannten Morgen auszuliefern. (PdD 451) LXXII  | [V]on der Furcht ergriffen, eines Tages nachzugeben und es dann ihr ganzes Leben lang zu bereuen, wollte sie lieber fortgehen. (PdD 516) LXXIII  | Und er sträubte sich gegen die unüberwindliche Folgerichtigkeit des Geschehens, er wollte, von plötzlichem Zorn auf Denise gepackt, lieber daran sterben als nachgeben, da er genau fühlte, dass sie die Vergeltung war, und befürchtete, an dem Tag, an dem er sie heiraten würde, besiegt auf seine Millionen zu sinken, zerbrochen wie ein Strohhalm durch das Ewigweibliche. (PdD 518) LXIV  | [E]ine Frau in der Firma verändere die Atmosphäre, verscheuche die anderen, indem sie ihren eigenen Geruch mitbringe. (PdD 518) LXXV | Mouret stand mit verlorenem Blick da und fühlte, wie etwas Großes in ihm vorging; und in dem Siegesschauer, von dem sein ganzer Leib erbebte angesichts des eroberten Paris und der unterworfenen Frau, empfand er eine plötzliche Schwäche, ein Versagen der Willenskraft, die nun ihn selber einer überlegenen Macht erliegen ließ. Es war ein vernunftwidriges Bedürfnis, mitten in seinem Sieg besiegt zu werden, das unsinnige Verhalten eines Kriegers, der sich am Tage nach seinen Eroberungen den Launen eines Kindes fügt. Er, der sich seit Monaten sträubte, der noch diesen Morgen geschworen hatte, seine Leidenschaft zu unterdrücken, gab ganz plötzlich nach, vom Höhenschwindel ergriffen, glücklich darüber, etwas zu tun, was er für eine Dummheit hielt. Sein so rascher Entschluss hatte von einer Minute zur anderen eine solche Gewalt erlangt, dass ihm nichts anderes in der Welt mehr nützlich und notwendig erschien. (PdD 552) LXXVI | ›Und wenn ich Sie heiratete, Denise, gingen Sie dann auch fort?‹ (PdD 556) LXXVII  | Von Qual zerrissen, hörte er ihr zu, wiederholte leidenschaftlich: Ich will es… ich will… . (PdD 556) LXXVIII  |  ›Gehen Sie also!‹ rief er unter einer Flut von Tränen.  ›Kehren Sie zu dem zurück, den Sie lieben… .‹ (PdD 556) LXXIX  | Dann fiel sie ihm mit kindlichem Ungestüm um den Hals, schluchzte ebenfalls und stammelte:  ›Oh, Herr Mouret, Sie sind es doch, den ich liebe!‹ (PdD 557) LXXX | Ein letztes verworrenes Getöse stieg aus dem  ›Paradies der Damen‹ auf, das ferne Beifallsrufen einer Menge. Das Porträt der Frau Hédouin lächelte noch immer mit seinen gemalten Lippen. Mouret war auf seinen Schreibtisch gesunken und saß mitten in der Million, die er nicht mehr sah. Er ließ Denise nicht los, er drückte sie fest an seine Brust und sagte zu ihr, nun dürfe sie abreisen, sie solle einen Monat in Valognes verbringen, was allen Leuten den Mund stopfen werde, und dann wolle er selber kommen und sie abholen, um sie an seinem Arm heimzuführen, sie, die Allmächtige. (PdD 557)

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswerte

»The lust for things and the lust for flesh sprang from the same source«:1 Die Verbindung von Objekten mit Liebe und Konsum ist in beiden Fällen augenfällig. Als Gegenstände, die zum Verkauf stehen, benutzt, verbraucht und letztendlich weggeworfen werden, bestimmen Objekte ganz maßgeblich die Praktiken des Konsums. Als ›materielle Kultur‹ prägen Objekte jedoch nicht nur den Alltag, sondern regeln auch die Beziehungen der Menschen untereinander wie zu sich selbst: Dinge erzeugen und sichern »auf vielfältige Weise soziale Identität«,2 so dass sie gar zu einem »extended self«3 führen können. Das betrifft vor allem Tauschbeziehungen, die wiederum ökonomische und gesellschaftliche Macht organisieren, wie Marcel Mauss in seiner Studie Essai sur le don (1925) dargelegt hat. Objekte spielen jedoch auch in den persönlichen, intimen Beziehungen der Menschen, also in der Liebe, eine große Rolle: »Objektbedeutung ist immer ein Teil der Beziehung zu einem anderen Menschen.«4 Dinge dienen spätestens seit der Empfindsamkeit dem Ausdruck und dem Transport von Emotionen – nicht zuletzt in der Liebesgabe –, sie markieren Zugehörigkeit und affirmieren wie intensivieren Intimbeziehungen,5 sie sind »Treff- und 1 | Frank Trentmann: The Empire of Things. How We Became a World of Consumers, from the Fifteenth Century to the Twenty-first. London u.a. 2017, S. 8. 2 | Aida Bosch: Identität und Dinge. In: Stefanie Samida, Manfred Eggert, Hans Peter Hahn (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen – Konzepte – Disziplinen. Stuttgart 2014, S. 70-77. 3 | Russell Belk: Possessions and the Extended Self. In: Journal of Consumer Research 15 (1988), Nr. 2, S. 139-168. 4 | Hans Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005, S. 33. 5 | Vgl. Rolf Haubl: Be-dingte Emotionen. Über identitätsstiftende Objekt-Beziehungen. In: Ders., Hans Albrecht Hartmann (Hg.): Von Dingen und Menschen. Funktion und Bedeutung materieller Kultur. Wiesbaden 2000, S. 13-36; sowie: Anna Ananieva, Christiane Holm: Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit. In: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken. Katalog zur gleichnamigen

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Transaktionspunkte in emotionalen Interaktionen.«6 Wenn romantische Liebe maßgeblich über die Bestätigung des Weltbezuges des jeweils anderen funktioniert, dann wird die Welt der Objekte, so Luhmann, zum »Resonanzboden der Liebe.« 7 Wie stark (Konsum-)Objekte romantische Beziehungen prägen, zeigt beispielsweise der experimentelle Roman Important Artifacts and Personal Property … (2009)8 von Leanne Shapton, der jene Gegenstände, die am Ende einer Beziehung übrig bleiben, in Form eines Auktionskataloges auflistet und allein anhand dieser Objekte und ihrer Beschreibung eine Liebesgeschichte erzählt.9 Derart mit Bedeutung aufgeladen und mit der Funktion der Identitätsstiftung versehen, werden geliebte Objekte bzw. die Objekte der/des Geliebten nicht selten fetischisiert oder erhalten ein eigenes Agens10 – man denke nur an die blassrosa Schleifen von Lotte, die Werther mit ins Grab nimmt. An käufliche Dinge wiederum knüpfen sich Fiktionswerte, die den Konsumenten von Liebe und dem/der perfekten Partner/in träumen lassen.11 Objekte sind damit für den Zusammenhang von Liebe und Konsum höchst relevant, weshalb sie anhand der Aspekte von Fetischismus und Fiktionswerten im Zentrum der Analyse dieses Kapitels stehen werden. Das »Saeculum der Dinge«12 und das Aufkommen der Konsumgesellschaft, wie wir sie heute kennen, zusammen mit der Durchsetzung von massenproduzierten Gütern in den Zwischenkriegsjahren13 bilden die »eleAusstellung im Museum für Angewandte Kunst Frankfurt vom 29.06.-29.10.2006. Köln 2006, S. 156-187. 6 | Eva Illouz: Einleitung – Gefühle als Waren. In: Dies. (Hg.): Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus. Übers. v. Michael Adrian [Original: Emotions as Commodities. Capitalism, Consumption and Authenticity, 2018]. Berlin 2018, S. 13-50, S. 21. Eva Illouz spricht in diesem Zusammenhang auch von »emodities« (ebd., S. 23). 7 | Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität [1982]. Frankfurt a.M. 1994, S. 168. 8 | Vgl. Leanne Shapton: Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion, and Jewelry. New York u.a. 2009. 9 | Vgl. Christian Metz: Warenästhetik, Liebe und literarische Selbstreflexion in Leanne Shaptons Romanexperiment Bedeutende Objekte. In: Heinz Drügh, Björn Weyand, Christian Metz (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Berlin 2010, S. 269-295. 10 | Vgl. Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford, New York 2005. 11 | Vgl. Kap II/3.2. 12 | Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 17. 13 | Vgl. Trentmann: The Empire of Things, S. 3.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

mentare Bedingung für Ästhetisierungen diverser Ausprägungen.«14 Daher spielen Konsumobjekte auch in der Literatur seit Ende des 19.  Jahrhunderts eine immer größere Rolle.15 Eines der signifikantesten Beispiele für die Zwischenkriegszeit ist F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby (1925), der anhand von Konsumobjekten eine tragische Liebesgeschichte erzählt. Christoph Peters’ Roman Mitsukos Restaurant (2009) wiederum sucht die Konfrontation der übersättigten, westlichen Konsumgesellschaft mit der japanischen Kultur, die mit einer vermeintlichen Reduktion auf das ›Wesentliche‹ dieser diametral gegenüber steht. Dabei gerät in den Blick, dass beide Gesellschaften objektgeprägt sind und ein an diesen Objekten angelagerter Fetischismus Liebe sowohl möglich als auch unmöglich machen kann.

1. F. S cot t F it zger ald : The G reat G atsby16 Als James Gatz, oder, wie er sich selbst nennt, Jay Gatsby, das erste Mal das Haus von Daisy Fay betritt, wird die Beziehung der beiden über eine NäheDistanz-Dichotomie definiert, die im grünen Licht ihren symbolischen Niederschlag finden und bis zum Ende des Romans Gültigkeit behaupten wird: She was the first ›nice‹ girl he had ever known. In various unrevealed capacities he had come in contact with such people but always with indiscernible barbed wire between. He found her excitingly desirable. He went to her house, at first with other officers from Camp Taylor, then alone. It amazed him – he had never been in such a beautiful house before. But what gave it an air of breathless intensity was that Daisy lived there – it was as casual a thing to her as his tent out at camp was to him.17

Die Zugänglichkeit – man könnte auch sagen: Verfügbarkeit – Daisys, die eben kein Stacheldraht von Gatsby trennt, wird kontrastiert durch den Vergleich des luxuriösen Hauses, in dem sie auf selbstverständlichste Weise wohnt, mit dem bescheidenen Zelt des Soldaten Gatsby. Trennt ihn der aus dem militärischen 14 | Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. 3. Aufl. Berlin 2013, S. 37. 15 | Vgl. dazu bspw. Dorothee Kimmich: Lebendige Dinge der Moderne. Konstanz 2011. 16 | Einige Überlegungen und Auszüge aus diesem Kapitel werden veröffentlicht in dem Aufsatz: »An illusion to live by«: Liebe, Geld und Konsum in The Great Gatsby. In: Moritz Baßler, Heinz Drügh (Hg.): Konsumästhetik. Erscheint 2019 bei transcript, Bielefeld. 17 | F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby [1925]. In: Ders.: The Cambridge Edition of the Works of F. Scott Fitzgerald. Hg. v. Matthew J. Bruccoli. Cambridge, New York u.a. 1991, S. 116. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle GG mit nachgestellter Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.

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Liebe und Konsum

Bildbereich stammende Stacheldraht normalerweise von »such people«, so ist es gerade seine Soldatenuniform, die den »colossal accident« (GG 116) zuallererst ermöglicht, durch den Gatsby sich in Daisys Haus wiederfindet: »[H]e was at present a penniless young man without a past, and at any moment the invisible cloak of his uniform might slip from his shoulders.« (Ebd.) Die Uniform nimmt eine Doppelfunktion ein: Indem sie Gatsby als Soldaten ausweist, ist sie identitätsstiftend, verbirgt aber zugleich sein wahres Ich und bietet damit die Möglichkeit der Suggestion einer Fiktion: »[H]e let her believe that he was a person from much the same strata as herself – that he was fully able to take care of her.« (Ebd.) Die Uniform also stellt Nähe, Intimität her – Gatsby »felt married to her« (GG 117) –, während die Differenz der Behausung beider die unüberwindliche Distanz unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen verdeutlicht: »Rich girls don’t marry poor boys«18 lautet das Urteil im Film The Great Gatsby von Baz Luhrmann angesichts derartiger romantischer Ambitionen. Die erste Begegnung von Daisy Fay und Jay Gatsby setzt daher die Parameter ihrer Beziehung, die in der intrikaten Verbindung von Liebe, Geld und Konsum bestehen: »There was a ripe mystery about it [das Haus Daisys, AO], a hint of bedrooms upstairs more beautiful and cool than other bedrooms, of gay and radiant activities taking place through its corridors and of romances that were not musty and laid away already in lavender but fresh and breathing and redolent of this year’s shining motor cars and of dances whose flowers were scarcely withered.« (GG 116) Gatsbys Interpretation des luxuriösen Hauses verknüpft dessen Räume, vor allem die Schlafzimmer, mit ›romances‹, also Liebesgeschichten, und zwei zentralen Konsumobjekten beziehungsweise -aktivitäten des Romans: ›shining motor cars‹ und ›dances‹.19 Alle drei legen den Grundstein für seine Vorstellung von seinem künftigen Leben: Er wird sich ein Haus zulegen, das jenes von Daisy an Luxus übertrumpft, ausgelassen dekadente Partys geben, die ihresgleichen in New York suchen – wobei die einzige Person, mit der er tanzt, Daisy ist –, und unter anderem ein gelbes Luxusauto fahren, das ihm schließlich zum Verhängnis werden wird. In diesem Leben fehlt lediglich eines: die Bewohnerin des Hauses, Daisy. Sie wird zum Zentrum von Gatsbys Fantasien, die er zur Religion erhebt: »[H]e found that he had committed himself to the following of a grail.« (GG 116f.) Das Ausleben dieser ›Religion‹, die Verehrung dieses Grals, den später das grüne Licht symbolisieren wird, gestaltet sich nicht nur über Liebe, sondern gemäß der 18 | The Great Gatsby. Baz Luhrmann (R.), Warner Bros. Pictures 2013; 00:29:10. Das Zitat bezieht sich an dieser Stelle zwar auf Nick Carraway und Jordan Baker, kann aber natürlich auch als Kommentar bezüglich Gatsby und Daisy gelesen werden. 19 | Beide gehören zu den entscheidenden konsumorientierten Freizeittechnologien, die laut Eva Illouz romantische Liebe mit Konsum insbesondere in Form des Rendezvous verknüpfen, vgl. Kap. II/2.2.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

Semantik dieser Religion über Konsum: »Gatsby was overwhelmingly aware of the youth and mystery that wealth imprisons and preserves, of the freshness of many clothes and of Daisy, gleaming like silver, safe and proud above the hot struggles of the poor.« (GG 117) Daisy, silbern glänzend, wird hier als Göttin in Szene gesetzt und paradoxerweise zugleich in eine Reihe mit dem Reichtum und den Konsumobjekten gestellt, die ebenso ›Jugend‹ wie ›Geheimnisse‹ verheißen. Der Weg zur Göttin ist damit ganz klar ausgewiesen: Er kann nur über Reichtum und den Konsum entsprechender (Luxus-)Produkte führen – denn nur, wenn man darüber verfügt, hat man auch Zugang zu Frauen wie Daisy. Da käuflichen Waren nicht nur Gebrauchs-, sondern auch Fiktionswerte beigemessen werden,20 eignen sie sich in besonderem Maß dazu, Liebe wahrscheinlich zu machen: Der Konsument kann mit ihnen ganz eigene Fantasien und Träume assoziieren – für Gatsby ist das die Göttin seiner Religion: Daisy. Es bleibt jedoch nicht beim Träumen, das zunächst einmal die Unzufriedenheit mit der erlebten Realität bedeutet: ›Day-dreaming‹, so Colin Campbell, »turns the future into a perfectly illusioned present.«21 Konsumprodukte suggerieren also anhand ihrer Dinglichkeit und Materialität, dass sie den Konsumenten ebenjenen Träumen ein Stück näher bringen können, indem sie ihn mit einer realen Entität seiner Fantasien versorgen. Anders gesagt: Konsumprodukte machen sich die Diskrepanz zwischen der vom Konsumenten erfahrenen Realität und den Imaginationen seiner Fantasie zunutze, die eine zentrale Quelle für deren Unruhe und Unzufriedenheit ist. Sie schließen diese signifikante Lücke, indem sie »bridges to these hopes and ideals«22 sind und somit suggerieren, dass Träume wahr werden können. The Great Gatsby erweist sich vor diesem Hintergrund als ein Roman, dessen Liebesgeschichte maßgeblich anhand von (Konsum-)Objekten erzählt wird.23 20 | Vgl. Kap. II/3.2.2. 21 | Colin Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism [1987]. York 2005, S. 90. 22 | Grant McCracken: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities [1988]. Bloomington, Indianapolis 1990, S. 104. 23 | Die Forschungsliteratur zu The Great Gatsby beschäftigt sich in großen Teilen mit drei Themen: dem ›American Dream‹, der Poetizität des Romans in weitestem Sinn sowie der Symbolik des Romans (vgl. auch Richard Anderson: Gatsby’s Long Shadow: Influence and Endurance. In: Matthew J. Bruccoli (Hg.): New Essays on The Great Gatsby. Cambridge u.a. 1985, S. 15-40, S. 28). Die Objekte des Romans in ihrer Materialität und die Objekthaftigkeit der Konsumprodukte sowie deren tiefere Bedeutung für die Liebesgeschichte wurden bisher jedoch kaum bis gar nicht beachtet. In den Analysen verschwimmen zudem immer wieder die Grenzen zwischen der Erzählerfigur Nick Carraway und F. Scott Fitzgerald, was einem postmodernem Theorieverständnis nicht ge-

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Liebe und Konsum

1.1 »[H]is Platonic conception of himself«: die Identitätskonstruktion Jay Gatsbys Jay Gatsby besitzt in der Beschreibung Nick Carraways die ihn faszinierende, außerordentliche Gabe der Hoffnung: »[T]here was something gorgeous about him […] – it was an extraordinary gift for hope, a romantic readiness such as I have never found in any other person and which it is not likely I shall ever find again.« (GG 6) Mit dem romantischen Charakter Gatsbys, den Nick in Kategorien der Ästhetik (›gorgeous‹) fasst, ist seine Neigung zum ›day-dreaming‹ verbunden, die ihm dabei hilft, nicht nur seinen Ursprung zu verleugnen – »his imagination had never really accepted them as his parents at all« (GG 76) –, sondern auch ein alternatives Ich zu erschaffen: »The truth was that Jay Gatsby of West Egg, Long Island, sprang from his Platonic conception of himself. […] So he invented just the sort of Jay Gatsby that a seventeen year old boy would be likely to invent, and to his conception he was faithful to the end.« (GG 76f.) Noch bevor er seinen späteren Mentor Dan Cody aus den tosenden Fluten errettet und mit ihm den amerikanischen Kontinent umsegelt, nimmt seine Fantasie volle Fahrt auf: But his heart was in a constant, turbulent riot. The most grotesque and fantastic conceits haunted him in his bed at night. A universe of ineffable gaudiness spun itself out in his brain while the clock ticked on the wash-stand and the moon soaked with wet light his tangled clothes upon the floor. Each night he added to the pattern of his fancies until drowsiness closed down upon some vivid scene with an oblivious embrace. For a while these reveries provided an outlet for his imagination; they were a satisfactory hint of the unreality of reality, a promise that the rock of the world was founded securely on a fairy’s wing. (GG 77) 24

Diese Fantasien erfüllen also genau jene eskapistische Funktion, die Colin Campbell beschreibt: Um der harten Realität seines Daseins zu entkommen, erträumt sich James Gatz eine andere Identität, Jay Gatsby, und mit ihr ein völ-

recht wird. In dieses Kapitel haben daher nur jene Beiträge Eingang gefunden, die sich immerhin ansatzweise und insbesondere nicht ausschließlich kulturkritisch mit dem Zusammenhang von Liebe und Konsum in Fitzgeralds Roman auseinandersetzen. Der 2013 erschienene Film The Great Gatsby von Baz Luhrmann erweist sich für diesen Zusammenhang ebenfalls aufschlussreich, weshalb an gegebener Stelle darauf Bezug genommen wird. 24 | Daisys Mädchenname ›Fay‹ bedeutet im Altenglischen ›Fee‹, also Neuenglisch: ›Fairy‹, so dass das ›day-dreaming‹ Gatsbys an dieser Stelle indirekt mit Daisy verknüpft wird.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

lig anderes Leben. Der Versuch der Überführung dieser »illusion to live by«25 in die Realität erfolgt anhand von fünf Aneignungsakten.26 Erster Akt: die Akquirierung von kulturellem Kapital. Aus der Unterschicht stammend, besitzt James Gatz weder Geld noch Bildung, er hat damit wenig Perspektiven, dieser Schicht zu entkommen. Der Millionär Dan Cody, dem Gatsby das Leben rettet und mit dem er fünf Jahre auf See unterwegs ist, vermacht ihm zwar einen Teil seines Vermögens in Höhe von 25.000 Dollar, doch das Testament wird angefochten, so dass Gatsby nichts davon bleibt – bis auf die Bildung, die er in Gegenwart Codys genossen hat: »He was left with his singularly appropriate education; the vague contour of Jay Gatsby had filled out to the substantiality of a man.« (GG 78f.) Diese Bildung, so verdeutlicht Luhrmanns Film, besteht vor allem in kulturellem Kapital,27 das es Gatsby überhaupt erst ermöglicht, Daisy für sich zu gewinnen, indem er ihr, geschützt durch die Soldatenuniform, eine Fiktion seiner selbst verkauft:28 nämlich jene, dass er derselben Schicht wie sie angehöre. Mit der Begegnung mit Daisy erreicht die Ausgestaltung seiner Illusion einen vorläufigen Höhepunkt, die konsequenterweise ebenso von Mondlicht begleitet wird wie das Erträumen dieser Illusion in seiner Jugend (vgl. GG 77): »One autumn night […] they had been walking down the street when the leaves were falling, and they came to a place where there were no trees and the sidewalk was white with moonlight.« (GG  86) In dieser Szenerie, aufgeladen mit dem »mysterious excitement […] which comes at the two changes of the year« (ebd.), ›verheiratet‹ Gatsby Daisys reale Existenz mit seinen Fantasien: »He knew that when he kissed this girl, and forever wed his unutterable visions to her perishable breath, his mind would never romp again like the mind of God. So he waited, listening for a mo25 | Die Penguin-Ausgabe von The Great Gatsby trägt den Untertitel: »The tale of a man who built himself an illusion to live by«. Vgl. F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby [1925]. London 2012. 26 | Ronald Berman exerziert den Aufbau einer Identität durch den Erwerb von Konsumprodukten anhand von Myrtle Wilson durch, allerdings in deutlich kulturkritischer Perspektive, wenn er davon ausgeht, dass es noch so etwas wie ein ›wahres Selbst‹ neben jenem gibt, das durch ›commodities‹ erschaffen wird. Vgl. Ronald Berman: The Great Gatsby and Modern Times. Urbana, Chicago 1996, insbes. S. 59-81. 27 | Vgl. The Great Gatsby: 01:08:13: Gatsby erzählt Nick: Cody »taught me everything: how to dress, act and speak like a gentleman.« Vgl. dazu auch: Richard Lehan: Inventing Gatsby. In: Harold Bloom (Hg.): Jay Gatsby. Broomall, PA 2004, S. 83-90, S. 83f. 28 | Vgl. zur Signifikanz von kulturellem Kapital für die erfolgreiche Initiierung von Liebesbeziehungen: Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn [Original: Consuming the Romantic Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, 1997]. Frankfurt a.M. 2007, S. 247f.

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ment longer to the tuning fork that had been struck upon a star. Then he kissed her. At his lips’ touch she blossomed for him like a flower and the incarnation was complete.« (GG 86f.) Dieser Moment der Vereinigung ist eine Ursprungsszene biblischer Prägung: Gatsby, »son of God«29 (GG 77), belebt seine sprachlich nicht artikulierbare Vision durch den Kuss mit Daisys Atem. Dies bedeutet zugleich die Festlegung auf diese Version der Fantasie und eine Absage an alle anderen möglichen Versionen, die er wie ›the mind of God‹ ersinnen könnte: »Out of the corner of his eye Gatsby saw that the blocks of the sidewalk really formed a ladder and mounted to a secret place above the trees – he could climb to it, if he climbed alone, and once there he could suck on the pap of life, gulp down the incomparable milk of wonder.«30 (GG 86) Indem er sich jedoch in Daisy verliebt, ist er nicht mehr allein: Durch Daisy wird seine Vision geerdet, konkret und sterblich. Im Moment des Kusses kommt es zur ›incarnation‹, zur irreversiblen Deckung von realer Entität und fiktiver Illusion. Es ist dieser für Gatsby magische Moment, an den er am Ende zurückkehren will. Zweiter Akt: die Akquirierung von finanziellem Kapital. Geld ist für den Versuch, die Idee ›Jay Gatsby‹ zu realisieren, unabdingbar – nicht nur, weil es den Konsum all jener Dinge ermöglicht, die zu dieser Idee von »ineffable gaudiness« (GG 77) gehören,31 sondern vor allem, weil Geld »reine Potentialität«32 besitzt und im Vergleich zu käuflichen Waren den höchsten Fiktionswert hat: »Es ist gerade dadurch definiert, für beliebig vieles verwendbar, aber auf keine bestimmte Verwendung festgelegt zu sein. Damit ist es der Joker par excellence.«33 Während also Konsumprodukte in der Regel eine bestimmte Fantasie zu realisieren versprechen, bietet Geld die Möglichkeit, unendlich viele Fantasien zu bedienen, da es alle Möglichkeiten offen hält: »Geld ist Fiktionalisierungsmasse«.34 Als Gatsby nach dem Ersten Weltkrieg auf Mr. Wolfshiem trifft, verhilft dieser ihm dazu, sehr schnell sehr viel Geld zu verdienen. In Wolfshiems Aussage über Gatsby: »I made him« (GG 133) ist jedoch eine Störung des Ideals des ›self-made man‹ angelegt, die ebenso wenig unerheblich ist wie die Tatsache, dass das Geld auf illegalem Weg verdient wird. 29 | Vgl. zu dieser Charakterisierung Gatsbys: Richard Lehan: The Great Gatsby. The Limits of Wonder. Boston 1990, S. 35-41. 30 | Herv. hinzugefügt. 31 | Vgl. auch Ronald Berman: The Great Gatsby and the twenties. In: Ruth Prigozy (Hg.): The Cambridge Companion to F. Scott Fitzgerald. Cambridge 2002, S. 79-94, S. 86f.: »Money, after all, has been only a means to express otherwise inchoate ideas.« 32 | Georg Simmel: Philosophie des Geldes [1900]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 6. Hg. v. David P. Frisby, Klaus Christian Köhnke. Frankfurt a.M. 1989, S. 276f. 33 | Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2009, S. 59. 34 | Ebd.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

Die Opposition von ›old‹ versus ›new money‹, die den Roman durchzieht, wird dadurch verschärft: Nicht nur stammt Gatsbys Geld nicht aus Familienbesitz, woran sich die Nobilitierung durch Herkunft knüpfen würde, sondern es ist auch durch Schwarzhandel, also: unredlich, erworben. Gatsbys »incorruptible dream« (GG 120) wird durch korruptes Geld ermöglicht, was die Verwirklichung seines Traums auf ein Paradox gründet: »You cannot win the ideal with the corrupt.«35 Die Gegensätzlichkeit von altem und neuem Geld schlägt sich unter anderem auch in der Farbsymbolik 36 des Romans nieder. Daisys Charakterisierung als »the golden girl« (GG 94) verweist auf ›old money‹: Gold als realer Gegenwert unterscheidet sich von ›new money‹ in Form von Papiergeld insofern,37 als letzteres nur die Fiktion eines Gegenwertes darstellt, es bedarf des Glaubens daran, dass es sich nicht nur um – objektiv betrachtet – ein Stück Papier handelt, auf dem Zahlen aufgedruckt sind.38 Papiergeld als ›new money‹ scheint daher einen höheren Fiktionswert zu haben als ›old money‹, knüpfen sich daran doch viel eher die Träume und Fantasien jener Neureichen, die durch die Akquisition von Geld danach streben, gesellschaftlich aufzusteigen. Daisys Ehemann Tom Buchanan als Vertreter von ›old money‹ ist die Verknüpfung von Geld und Träumen daher fremd: »Tom may buy anything he wishes – from polo ponies to cufflinks – but he understands that polo ponies and cufflinks are all he is buying. His money was divested of dreams before he was even born.«39 In dieser Hinsicht ist es signifikant, dass Gatsbys ›illusion to live by‹ letztendlich durch ein grünes Licht symbolisiert wird: Grün ist auch die Farbe des Papiergeldes in den Vereinigten Staaten, es verkörpert wie kaum etwas anderes den American Dream, den auch Gatsby lebt: Alles ist möglich – und New York ist der perfekte Ort dafür: »›Anything can happen now that we’ve slid over this bridge,‹ I thought; ›anything at all…‹ Even Gatsby could happen, without any particular wonder.« (GG 55) Im grünen Licht wird Gatsbys Illusion damit zur Fiktion von Fiktionswerten potenziert.

35 | Roger Lewis: Money, Love and Aspiration in The Great Gatsby. In: Matthew J. Bruccoli (Hg.): New Essays on The Great Gatsby. Cambridge, London u.a. 1985, S. 41-57, S. 52. 36 | Vgl. dazu allgemein: Robert Emmet Long: The Achieving of The Great Gatsby. F. Scott Fitzgerald 1920-1925. London 1979, S. 134-138. 37 | Vgl. Maia Samkanashvili: Uses of symbols and colors in The Great Gatsby by F. Scott Fitzgerald. In: Journal of Education (International Black Sea University) 2 (2013), H. 1, S. 31-39, S. 31. 38 | Vgl. Christine Künzel: Imaginierte Zukunft. Zur Bedeutung von Fiktion(en) in ökonomischen Diskursen. In: Iuditha Balint, Sebastian Zilles (Hg.): Literarische Ökonomik. Paderborn 2014, S. 143-157, S. 147. 39 | Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 51.

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Dritter Akt: der Kauf des Hauses. Direkt gegenüber Daisys und Toms neuer, luxuriöser Villa gelegen, ermöglicht die Inbesitznahme des Hauses – »a colossal affair by any standard« (GG 8) – überhaupt erst die Symbolwerdung des grünen Lichts: Kauf und Lage des Hauses sind eben gerade kein Zufall, wie Nick vermutet, sondern Kalkül: »Gatsby bought that house so that Daisy would be just across the bay.« (GG 62) Gatsby geht es bei diesem Konsumakt um mehr als den bloßen Erwerb eines Hauses, das sich an Daisys ursprünglichem Heim orientiert und einen größtmöglichen Kontrast zu seinem Soldatenzelt von einst markiert: »When he buys his fantastic house, he thinks he is buying a dream, not simply purchasing property.«40 Die Verknüpfung von Geld und Träumen ist bei diesem Konsumakt am offensichtlichsten: Gatsby »is completely innocent of the limits of what money can do, a man who, we feel, would believe every word of an advertisement.«41 Er kauft das Haus daher nicht aufgrund seines Gebrauchs-, sondern seines Fiktionswertes: Also des Glaubens daran, Daisy wiedergewinnen zu können,42 indem er anhand des Hausbesitzes beweist, dass er nun in der Lage ist, »to take care of her« (GG 116) – ihr also ein ihrer Schicht angemessenes Heim zu bieten. Doch wie das durch Schwarzhandel erworbene Geld ist auch das Haus mit einem Makel behaftet: Der vorherige Besitzer und Erbauer war selbst an einer nicht zu realisierenden Vision gescheitert und kurz darauf verstorben (vgl. GG 69). Das Haus wird damit am Ende zu einem Haus des Scheiterns, einem »huge incoherent failure« (GG 140). Vierter Akt: die Akquirierung von Luxusgütern. Zur Vision ›Jay Gatsby‹ gehört der Luxus der »freshness of many clothes« (GG 117), also die Ausstattung mit einer angemessenen Menge an Kleidung, die nichts mehr mit der alten Soldatenuniform gemein hat: »[H]e opened for us two hulking patent cabinets which held his massed suits and dressing gowns and ties, and his shirts piled like bricks in stacks a dozen high.« (GG  72) Gatsby wählt diese Kleidung allerdings nicht selbst: Das übernimmt ein ›personal shopper‹, wie man heute sagen würde, der ihm zu Beginn von Frühling und Herbst jeweils eine Auswahl aus England zusendet (vgl. ebd.). Es ist bezeichnend, dass Gats40 | Ebd. 41 | Ebd. 42 | Diese Absicht Gatsbys wird bereits dadurch angedeutet, dass die Unterhaltung Nicks und Jordans mit dem zeitgenössisch populären Song »The Sheik of Araby« (GG 62) unterlegt ist. Darin geht es um die Inbesitznahme einer Frau durch einen mächtigen Mann: »I’m the Sheik of Araby./Your love belongs to me./At night when you’re asleep/ Into your tent I’ll creep –« (ebd.). Dass hier ausgerechnet das Zelt als Motiv auftaucht, verweist auf Gatsbys Behausung beim ersten Treffen mit Daisy, seinem Soldatenzelt, mit dem sein jetziges Haus und die erworbene Macht durch Geld größtmöglich kontrastiert wird.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

bys Kleidung seit seiner Begegnung mit Dan Cody nicht mehr von ihm selbst gewählt zu werden scheint: Cody stattet ihn mit »a blue coat, six pairs of white duck trousers and a yachting cap« (GG 78) aus; im Weltkrieg kleidet ihn die Soldatenuniform; danach und mit der Akquisition finanziellen Kapitals lässt er sich einkleiden. Ist Kleidung Ausdruck von Identität und Status, dann materialisiert sich die Vision ›Jay Gatsby‹ anhand der Yacht-Outfits Codys über die Soldatenuniform bis hin zum »pink suit« (GG 95). Zu den von Gatsby konsumierten Luxusgütern gehören neben Haus und Kleidung weitere Statussymbole, unter anderem ein »hydroplane« (GG 39) – ein in den 1920er Jahren unvorstellbarer Luxus – sowie mehrere Autos, darunter ein Rolls-Royce und das berühmte »yellow car« (GG 109),43 das am Ende zum »death car« (GG 107) wird. Die Farbe dieses Autos dient nicht nur dem Zweck, sich von der schwarz-grauen Masse der übrigen Fahrzeuge abzuheben und somit Aufmerksamkeit zu erregen, sondern es steht auch in Verbindung mit der Farbe von ›old money‹: Gelb ist schließlich immer auch der Versuch, Gold zu imitieren. Entsprechend luxuriös ist seine Aufmachung: »It was a rich cream colour, bright with nickel, swollen here and there in its monstrous length with triumphant hatboxes and supper-boxes and tool-boxes, and terraced with a labyrinth of wind-shields that mirrored a dozen suns.« (GG 51) Mehr noch, das Auto als Konsumprodukt steht in direkter Verbindung zu der ersten Begegnung mit Daisy, spielt es doch eine zentrale Rolle in der Erinnerung Jordan Bakers daran: When I came opposite her house that morning her white roadster was beside the curb, and she was sitting in it with a lieutenant I had never seen before. They were so engrossed in each other that she didn’t see me until I was five feet away. […] The officer looked at Daisy while she was speaking, in a way that every young girl wants to be looked at sometime, and because it seemed romantic to me I have remembered the incident ever since. His name was Jay Gatsby and I didn’t lay eyes on him again for over four years[.] (GG 59f.)

Diese Passage markiert, dass die Begegnung zwischen Daisy und Gatsby zum Zeitpunkt einer Umbruchssituation der Anbahnung romantischer Beziehungen stattfindet: Um die Jahrhundertwende hat das Vorsprechen im Haus der Eltern ausgedient, an dessen Stelle tritt die Praxis des Rendezvous, was die 43 | Im Film von Baz Luhrmann ist Gatsbys gelbes Auto ein Rolls-Royce, diese Identifikation ist im Text jedoch nicht gegeben, die Marke des gelben Autos wird, wie Matthew J. Bruccoli anmerkt, nicht genannt: »The most famous car in American fiction is never identified.« (Matthew J. Bruccoli: Introduction: In: Ders. (Hg.): New Essays on The Great Gatsby. Cambridge, London u.a. 1985, S. 1-14, S. 6). Das Auto bietet dem Rezipienten damit einen ganz eigenen Fiktionswert, indem es jegliche (Luxus-)Marke sein könnte.

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Form der Interaktion der potentiellen Liebespartner grundlegend veränderte: »Romantische Interaktionen wurden zu einer öffentlichen Form der Erfahrung, die in einer anonymen und öffentlichen Sphäre des Konsums stattfand, während diese Interaktionen gleichzeitig einen zeitweiligen Rückzug aus der Zugehörigkeit zur Gruppe und Familie voraussetzten.«44 Diese neue Praxis wurde laut Eva Illouz maßgeblich durch neue Freizeittechnologien geprägt, von denen das Auto eine der populärsten war, versprach es doch in besonderem Maß Unabhängigkeit.45 Dass sich anhand dieses Konsumprodukts Intimität herstellen lässt, wird nicht nur durch die Art und Weise, wie Gatsby Daisy anblickt, offenbar, sondern auch durch Jordans Einschätzung der Interaktion als ›romantic‹ bestätigt. Von hier lässt sich also eine Linie zu Gatsbys »gorgeous car« (GG 51) ziehen, das auf diese Weise untrennbar mit Daisy und dem Traum, sie für sich zu gewinnen, verbunden ist.46 Fünfter und letzter Akt: die Veranstaltung von luxuriösen, ausgelassenen Partys: »There was music from my neighbor’s house through the summer nights. In his blue gardens men and girls came and went like moths among the whisperings and the champagne and the stars.« (GG 33) Nick verzeichnet präzise den Aufwand, den Gatsby für diese Veranstaltungen betreibt: Vom üppigen Catering über nicht versiegende Alkoholströme, Live-Musik und ausgefeilte Beleuchtungstechnik bis hin zu illustren Gästen ist für alles gesorgt (vgl. GG 33f.). In dieser fast Potlatch-artigen47 Veranstaltung geht es um zweierlei: Zum einen gilt es, Ansehen zu gewinnen und Macht anhand der Verausgabung von Geld zu demonstrieren, mithin Gatsby in der New Yorker Gesellschaft zu etablieren und die einmal erreichte Position in der Folge immer wieder zu affirmieren. Zum anderen dienen diese Feste der Huldigung der Göttin Daisy, die durch sie herbeigerufen werden soll: Schließlich zelebriert Gatsby bei diesen Partys eine Politik der offenen Grenzen, indem der Zugang nicht über Einladungen reguliert wird – kein ›barbed wire‹ soll andere davon abhalten, bei ihm zu Gast zu sein: »People were not invited – they went there.« (GG 34) Auch dies steht im Dienst der Verwirklichung seiner Illusion: So wie er sich selbst durch einen Zufall einst in Daisys Haus wiederfand, hofft er, dass auch Daisy eines Tages mit den Massen, die seine Partys besuchen, zufällig in sein Haus kommen würde: »›I think he half expected her to wander into one of his parties, some night,‹ went on Jordan, ›but she never did. Then he began asking people casually if they knew her, and I was the first one he found.‹« 44 | Illouz: Konsum der Romantik, S. 80. 45 | Vgl. ebd., S. 82f. 46 | Vgl. zur Identitätskonstruktion anhand des Konsumobjekts Auto Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest. München 2002, S. 91f. 47 | Vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Übers. v. Eva Moldenhauer [Original: Essai sur le don, 1925]. Frankfurt a.M. 1990, S. 23-49.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

(GG 63) Konsequenterweise enden die Partys genau dann, als sie diese Funktion erfüllt haben: Die fleischgewordene Göttin Daisy besucht sie nur ein einziges Mal, missbilligt diese, worauf es die letzte Party ist, die jemals in Gatsbys Haus stattfindet (vgl. GG 85, 88). In dem Maße, in dem Gatsby die Vision seiner selbst über diese Aneignungsakte zu verwirklichen sucht, wird er zur Projektionsfläche von Fantasien, Fiktionen und Geschichten der anderen Figuren im Roman, das heißt, er wird selbst zu einer Art Konsumobjekt, mit dem sich die anderen die Zeit vertreiben.48 Die »romantic speculation« (GG  37), die sich an seiner Person entzündet, mündet in zahllose Geschichten seiner Partygäste: Er sei Neffe oder Cousin von Kaiser Wilhelm II. (vgl. GG  28), ein deutscher Spion oder gar ein Mörder (vgl. GG 37). »Gatsby has shifting identities according to which party guest one listens to, but most of the identities, even the one that turns out to be ›true‹, have something of the unreal or fantastic about them.«49 Es sind jedoch nicht nur die Partygäste, die Gatsby-Geschichten erzählen: Gatsby selbst erzählt Nick mindestens zwei Versionen seiner Geschichte – die erste stammt vom Tagesausflug in die Stadt, die zweite aus der Nacht des tödlichen Autounfalls; Jordan erzählt Nick die Version der Geschichte, die Gatsby ihr auf einer seiner Partys präsentiert; Tom erzählt Daisy seine Version, basierend auf seinen Nachforschungen; Wolfshiem erläutert seine Sicht auf Gatsby ganz am Ende gegenüber Nick; und schließlich werden all diese Geschichten in der Perspektive der Erzählerfigur Nick Carraway vereinigt. Die einzige Sichtweise, die nicht vermittelt wird, ist jene von Daisy: Ihr Bild von Gatsby bleibt bis zum Schluss eine Leerstelle – und damit die wohl authentischste Version.50 Gatsbys Identität als Ansammlung variabler Narrationen unterstreicht indes nicht nur »the rootlessness of postwar American society«,51 sondern auch eine Problemlage der condition humaine in der Moderne und Postmoderne allgemein, in der Identitäten nicht mehr festgelegt, sondern mobil, in ständiger Veränderung und vom Individuum immer wieder neu zu gestalten sind. Dass Identität potentiell eine Leerstelle sein kann, ist Gatsbys zentrale Angst, die er beinahe 48 | Vgl. Nicks Faszination, als ihm Gatsby seine Geschichte auf dem Weg in die Stadt erzählt und diesen als Protagonist einer Bilder-Geschichte erscheinen lässt: »My incredulity was submerged in fascination now; it was like skimming hastily through a dozen magazines.« (GG 53) 49 | Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 46. Vgl. auch Berman: The Great Gatsby and Modern Times, S. 5. 50 | Luhrmanns Verfilmung führt dies explizit aus, wenn Gatsby am Ende über sich selbst sagt: »You know I’ve thought for a while I had a lot of things. But the truth is I’m empty. I suppose that’s why I make things up about myself.« (The Great Gatsby: 01:52:51) 51 | Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 46.

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nebenbei gegenüber Nick erwähnt: »I didn’t want you to think I was just some nobody.« (GG 54) Die Identität ›Jay Gatsby‹ basiert ganz maßgeblich auf der durch die Verbindung von Liebe, Konsum und Geld ausgestalteten Illusion seines künftigen Lebens, die ihren materiellen Niederschlag im ›green light‹ findet. Diese Bedeutungsaufladung ist unter anderem damit zu begründen, dass die erste Begegnung der Erzählerfigur Nick mit Gatsby mit dem grünen Licht verknüpft ist, die zudem ebenso wie das Erträumen der Illusion und ihrer Inkarnation durch Daisy von Mondlicht begleitet wird: The silhouette of a moving cat wavered across the moonlight and turning my head to watch it I saw that I was not alone – fifty feet away a figure had emerged from the shadow of my neighbor’s mansion […]. Something in his leisurely movements and the secure position of his feet upon the lawn suggested that it was Mr. Gatsby himself, come out to determine what share was his of our local heavens. […] But I didn’t call to him for he gave a sudden intimation that he was content to be alone – he stretched out his arms toward the dark water in a curious way, and far as I was from him I could have sworn he was trembling. Involuntarily I glanced seaward – and distinguished nothing except a single green light, minute and far away, that might have been the end of a dock. When I looked once more for Gatsby he had vanished, and I was alone again in the unquiet darkness. (GG 20)

Die Geste des Handausstreckens bei gleichzeitigem Erzittern erinnert an Formen religiöser Verehrung und verdeutlicht die enorme Bedeutung, die das grüne Licht für Gatsby hat: Es handelt sich hier um die Verkörperung genau jenes Grals, zu dessen Verehrung er sich durch die Liebe zu Daisy verpflichtet hat (vgl. GG 116f.). Anhand der Theorie Hartmut Böhmes könnte man hier von einem Fetisch erster Ordnung sprechen: Das grüne Licht gehört insofern zu den ›unveräußerlichen Dingen‹, als dass es sich dabei nicht um ein Konsumprodukt handelt, es also an sich der Warenzirkulation entzogen ist, sein Wert bestimmt sich somit nicht über seinen Gebrauchs- oder Tauschwert.52 Mehr noch, es gehört Gatsby nicht einmal, er besitzt lediglich die Aussicht darauf. Es funktioniert damit wie die Fetische erster Ordnung: symbolisch und nicht ökonomisch.53 Seine besondere, symbolische Bedeutung erhält das grüne Licht nicht durch seine Zugehörigkeit zu einer Kirche oder einem Museum, sondern durch die Tatsache, dass es zu dem Grundstück gehört, auf dem das Haus steht, in dem Daisy lebt. Damit markiert das grüne Licht eine entscheidende Grenze: Als Warnlicht am Ende des Steges beginnt genau dort der Machtbereich von Daisys Ehemann, Tom Buchanan. Auf der einen Seite dieser Grenze 52 | Vgl. Kap. II/3.1. 53 | Vgl. Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 299f.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

befindet sich die Inkarnation von Gatsbys Traum: ein luxuriöses Haus, das von Daisy bewohnt wird und das Leben mit ihr verkörpert. Auf der anderen Seite jedoch lauert der Abgrund, der die Distanz zwischen Gatsby und seinem Traum bemisst, denn keine Brücke führt über das Wasser zu Gatsby hinüber. Lediglich der grüne Lichtschein vermag diese Entfernung zu überwinden, er erfüllt damit eine der grundlegenden Funktionen von Fetischen als ›Übergangsobjekte‹: nämlich die Überwindung von Trennungen.54 Der Fetisch des grünen Lichts verdeutlicht somit Gatsbys Dilemma von Nähe und Distanz gleichermaßen: »I thought of Gatsby’s wonder when he first picked out the green light at the end of Daisy’s dock. He had come a long way to this blue lawn and his dream must have seemed so close that he could hardly fail to grasp it. He did not know that it was already behind him« (GG 141). Das grüne Licht, also das Leben mit Daisy, ist zum Greifen nah und doch unerreichbar, da das Licht zugleich die Grenze zwischen Daisy und Gatsby wie die Überwindung derselben verkörpert. Diese Funktion wird auch textökonomisch in Szene gesetzt, denn das grüne Licht ist im Roman selbst eine Rarität:55 Es kommt an lediglich drei Stellen vor und wird insgesamt nur fünf Mal erwähnt: am Anfang bei Nicks erster Begegnung mit Gatsby, in der Mitte bei der Wiedervereinigung mit Daisy, und am Ende, als Gatsby tot ist und sich alle zwischenmenschlichen Beziehungen des Romans aufgelöst haben. Die textuelle Inszenierung des grünen Lichts unterstreicht somit dessen Bedeutung für Gatsby, indem es anfänglich als Symbol der Hoffnung auf eine Überwindung der Grenze, die es selbst markiert, eingeführt wird. In der Mitte des Romans ist die Erfüllung dieser Hoffnung zum Greifen nah, nur um sich am Ende aufzulösen, weil sich die Grenze eben doch als unüberwindlich erweist. Wenn Hartmut Böhme behauptet, dass es sich im modernen Fetischismus um einen transzendental-ökonomischen handelt, weil der Konsum und die Warenzirkulation darauf beruhen, dass es unveräußerliche Dinge gibt, die auszeichnet, dass sie eben nicht zirkulieren,56 so liegt diese Art von Fetischismus auch in The Great Gatsby vor: All jene Dinge, die Gatsby konsumiert, um Daisy wieder näher zu kommen – das Haus, das Auto, die Kleidung, die Partys etc. – kreisen als Fetische zweiter Ordnung um jenen Fetisch erster Ordnung, 54 | Vgl. ebd., S. 360. 55 | Das filmische Medium funktioniert indes ganz anders: Baz Luhrmann setzt das grüne Licht in seinem Film gerade entgegengesetzt zur Rarität im Text als Leitmotiv ein, das den Film eröffnet, durchzieht und auch beendet. Eine Etablierung des grünen Lichts als Fetisch qua Abwesenheit hätte in einem optischen Medium wohl kaum funktioniert, vielmehr unterstreicht die Leitmotivik die Funktion als Fetisch. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil das grüne Licht im Film in seiner Leuchtkraft pulsiert: Durch die Assoziation mit dem Herzschlag wirkt es lebendig, ja anthropomorphisiert. 56 | Vgl. Kap. II/3.1.1.

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der das perfekt erträumte Leben mit Daisy symbolisiert: das grüne Licht. Daisys Position in dieser Konstellation ist jedoch alles andere als fest definiert: Sie changiert vielmehr zwischen dem Fetischismus erster und zweiter Ordnung.57

1.2 Die Inkarnation der Illusion Gatsbys: »The Golden Girl« Die Art, wie die Figur Daisy eingeführt wird, offenbart, wie sie zum Zentrum von Gatsbys Illusion werden konnte: »The only completely stationary object in the room was an enormous couch on which two young women were buoyed up as though upon an anchored balloon. They were both in white and their dresses were rippling and fluttering as if they had just been blown back in after a short flight around the house.« (GG 10) Nicht nur ist Daisys Erscheinung ephemerer, fast schon fantastischer Art, die ihrem Mädchennamen gerecht wird,58 ihre bevorzugte Farbe ist zudem Weiß: Einerseits Reinheit und Unschuld suggerierend, gleicht Daisy damit andererseits einer Projektionsfläche, die beliebig beschrieben werden kann.59 Diese Hypothese wird gestützt durch Nicks Beschreibung ihrer Wahrnehmung, genauer: ihres Blicks und ihrer Stimme. Die Wiederbegegnung mit Daisy, wie Nick sie darstellt, ist eine der wenigen Stellen im Roman, die Auskunft über ihre Wirkung auf Männer geben: »›I’m p-paralyzed with happiness.‹ She laughed again, as if she said something very witty, and held my hand for a moment, looking up into my face, promising that there was no one in the world she so much wanted to see. That was a way she had.« (GG 11) Daisys Blick rückt ihr Gegenüber ins Zentrum und affirmiert dessen Einzigartigkeit, ganz ähnlich Gatsbys Lächeln, das auf Nick bei deren erster Begegnung einen ähnlichen Effekt hat (vgl. GG 40). Vergleicht man nun die Beschreibung von Daisys Blick mit jener ihrer Stimme, die kurz darauf erfolgt, fällt die wiederholte Zuschreibung einer bestimmten Eigenschaft auf: I looked back at my cousin who began to ask me questions in her low, thrilling voice. It was the kind of voice that the ear follows up and down as if each speech is an arrangement of notes that will never be played again. Her face was sad and lovely with bright things in it, bright eyes and a bright passionate mouth – but there was an excitement in her voice that men who had cared for her found difficult to forget: a singing compulsion,

57 | Da es hier, wie auch in Kap. IV/2, um eine subjektivierte Form der Fetischismustheorie Böhmes geht, bedarf es nicht des Krieges oder der Kriminalität, damit ein Fetisch von der ersten zur zweiten Ordnung übergeht. Vielmehr liegt der Bruch, der dafür nötig ist, im Individuum selbst. Vgl. Kap. II/3.1.1. 58 | Vgl. Fußnote 24. 59 | Vgl. zu Daisys fehlender Identität: Berman: The Great Gatsby and Modern Times, S. 126f.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te a whispered ›Listen,‹ a promise that she had done gay, exciting things just a while since and that there were gay, exciting things hovering in the next hour. (GG 11) 60

Nicht nur ihr Blick, sondern auch ihre Stimme ist ›promising‹: ein Versprechen von künftigen Möglichkeiten, beflügelt sie Fantasien, Träume, Wünsche, kurz: Fiktionen. Nick identifiziert Daisys Stimme daher als zentrale Attraktion für Gatsby: »I think that voice held him most, with its fluctuating, feverish warmth because it couldn’t be overdreamed – that voice was a deathless song.« (GG 75) Dass Daisys Stimme von Nick nicht nur als erregend (›thrilling‹), sondern auch als unsterblich und durch keinen Traum zu übertreffen wahrgenommen wird, ist im Zusammenhang mit Gatsbys berühmter Charakterisierung dieser Stimme zu verstehen – die, wie Roger Lewis anmerkt, nur Gatsby vornehmen kann:61 »›Her voice is full of money,‹ he said suddenly. That was it. I’d never understood before. It was full of money – that was the inexhaustible charm that rose and fell in it, the jingle of it, the cymbal’s song of it … High in a white palace the king’s daughter, the golden girl …« (GG 94). Angesichts der Tatsache, dass Geld den höchsten Fiktionswert überhaupt hat, weil es ein Versprechen unendlicher, künftiger Möglichkeiten, eben ›inexhaustible‹ ist, pointiert Gatsbys Aussage Daisys essentielle Funktion für seine Illusion: Als Verheißung aller Möglichkeiten in der Zukunft ist sie in ihrer gesamten Erscheinung die perfekte Leinwand, auf die er seine Visionen malen kann: »Daisy’s charm is allied to the attraction of wealth, money and love hold similar attractions.«62 Ihre Funktion besteht jedoch nicht in einer reinen Äquivalenzbeziehung zu jener von Geld, viel eher ist sie für ihn die Inkarnation eines perfekten Konsumprodukts: Als ephemere und schwer zu fassende Figur bietet sie genügend Raum für ›day-dreaming‹, gleichzeitig ist sie gerade noch real genug, um Gatsbys Illusion in der Realität zu verankern. Dafür spricht unter anderem auch, dass er Daisy anhand ihres ›Wertes‹ beurteilt, der sich am Begehren anderer bemisst: »It excited him too that many men had already loved Daisy – it increased her value in his eyes.« (GG 116) Daisy wird damit zu einem viel begehrten Konsumobjekt, einem ›Topseller‹ sozusagen.63 In ihrer Funktion als Konsumprodukt reiht sich Daisy jedoch auch in eine Reihe mit diesen ein, sie ist damit zu-

60 | Die Passage erinnert in Teilen an Gatsbys Beschreibung von Daisys Haus, in der u.a. von »gay and radiant activities taking place through its corridors« (GG 116) die Rede ist. 61 | Vgl. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 51. 62 | Ebd., S. 50. 63 | Vgl. zur Funktion von Daisy als bloßem Objekt in Gatsbys Fantasie: Berman: The Great Gatsby and the twenties, S. 86.

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nächst ein Fetisch zweiter Ordnung, also: austauschbar.64 Da die romantische Liebe eine derartige Ersetzbarkeit jedoch nicht duldet, erhebt Gatsby sie in seiner Zukunftsvision, durch die ›Verheiratung‹ seiner Illusion mit ihrem sterblichen Atem (vgl. GG 86), zu einem Fetisch erster Ordnung, der fortan weder austausch- noch ersetzbar ist. Daisy ist damit nicht nur die ideale Ergänzung für Gatsbys Illusion; die Eigenschaft, eine Projektionsfläche für Fantasien und Träume der anderen Figuren zu sein, ist auch eine der wenigen Gemeinsamkeiten der beiden. Das wird beispielsweise am Einsatz des Wortes ›whisper‹ deutlich, das akustisch ein Grenzphänomen zwischen Artikulation und Verstummen darstellt: Es ist Daisy, deren Verlautbarungen am häufigsten als Flüstern charakterisiert werden, während die Projektionen der anderen Figuren auf Gatsby ebenfalls »whispers« (GG 37) sind. Am Ende des Textes verknüpft der Text das Flüstern mit der Überhöhung von Gatsbys Illusion, wenn Nick über West Egg sinniert: »Its vanished trees, the trees that had made way for Gatsby’s house, had once pandered in whispers to the last and greatest of all human dreams« (GG 140). Dass Daisy jedoch nicht vorbehaltlos ihre Funktion als Fetisch erster Ordnung in der Illusion Gatsbys erfüllen mag, wird deutlich, wenn man ihren Namen auf der Folie der Farbsymbolik des Romans betrachtet: ›Daisy‹ bezeichnet im Englischen das Gänseblümchen beziehungsweise die Margerite, eine Blume, die außen weiße Blütenblätter und innen einen gelben Kern hat. Kann Gelb aufgrund der Ähnlichkeit mit Gold, also ›old money‹ assoziiert werden, so steht es gleichzeitig für den bloßen Versuch, dieses zu imitieren: Gelb ist damit nicht eindeutig ›new‹ oder ›old money‹ zuzuordnen.65 Die Konnotation des nur Scheinhaften wird anhand der anderen Gelb-Zuschreibungen im Roman deutlich: Gelb ist nicht nur Gatsbys Auto, die Musik seiner Partys (»yellow cocktail music«, GG  34) oder die Kleidung seiner Gäste (»two girls in twin yellow dresses«, GG  35), sondern auch die Fenster bei Toms Party in Myrtles Apartement (»yellow windows«, GG 30), die »enormous yellow spectacles« (GG 21) von Doctor T. J. Eckleburg, und das Haar von Daisys Tochter Pammy (»old yellowy hair«, GG 91). Für Daisys Charakterisierung bedeutet dies, dass sie erstens vom Verlangen nach Geld und materieller Sicherheit getrieben ist, was angesichts der wohlhabenden Schicht, der sie entstammt, wenig verwun64 | Dass Daisy auch nur als weiteres Accessoire in Gatsbys Sammlung von ›enchanted objects‹ gelesen werden kann, das den Rest perfekt ergänzt, verdeutlicht der Film Luhrmanns, wenn er Gatsby angesichts der Anwesenheit von Daisy in Gatsbys Haus sagen lässt: »She makes it look so splendid, don’t you think, old sport?« (The Great Gatsby: 01:01:15) 65 | Dem Aufsatz von Maia Samkanashvili mangelt es in dieser Hinsicht leider an notwendiger Differenzierung, indem Gelb grundsätzlich ›old money‹ zugeordnet wird (vgl. Samkanashvili: Uses of symbols and colors, S. 34).

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

dert – nicht zuletzt ist sie genau deshalb in Nicks Wahrnehmung »the golden girl« (GG  94). Zweitens unterliegt sie damit aber auch der Scheinhaftigkeit, das heißt, dass sie bereit ist, sich selbst, also ihre Identität, dem Streben nach Geld unterzuordnen und entsprechend den Projektionen der Männer, die dieses Geld besitzen, durch ihre äußerlich weiße Erscheinung anzupassen.66 Dies zeigt sich anhand der Geschehnisse nach dem Ersten Weltkrieg. Nach Ende des Krieges kann Gatsby nicht sofort zurück nach Amerika kommen, Daisy wird ungeduldig: »She was feeling the pressure of the world outside and she wanted to see him and feel his presence beside her and be reassured that she was doing the right thing after all.« (GG 118) Im Gegensatz zu Gatsby nimmt ihre Liebe und Treue in der Zeit seiner Abwesenheit ab, ihr fehlt die physische Präsenz, deren Absenz Gatsbys Liebe zu Daisy gerade umso besser gedeihen lässt: »The period when his love becomes most intense, however, is precisely that in which he does not see Daisy.«67 Daisy dagegen drängt es aus ihrem Innersten – dem gelben Kern – zu einer Entscheidung: »And all the time something within her was crying for a decision. She wanted her life shaped now, immediately – and the decision must be made by some force  – of love, money, of unquestionable practicality – that was close at hand. That force took shape in the middle of spring with the arrival of Tom Buchanan.« (GG  118) Die Macht, die die Entscheidung herbeiführt, ist nicht in erster Linie Liebe, sondern Geld, das anhand von materieller Erleichterung den Kampf der Gefühle für sich entscheidet: »There was a wholesome bulkiness about his person [Tom, AO] and his position and Daisy was flattered. Doubtless there was a certain struggle and a certain relief.« (GG 118) Die klassische Opposition von Liebe versus Geld wird anhand zweier Gaben, die Daisy am Tag vor ihrer Hochzeit von Gatsby und Tom empfängt, überdeutlich in Szene gesetzt: Tom schenkt ihr »a string of pearls valued at three hundred and fifty thousand dollars« (GG  60), während Gatsby ihr einen Brief schreibt,68 dessen Inhalt der Leser nicht erfährt. Ist ersteres eine Demonstration der Macht des Geldes – in Baz Luhrmanns Film sieht man Tom die Perlenkette um Daisys Hals wie eine Leine halten69 –, so steht letzteres in der Tradition der Empfindsamkeit und des 66 | Vgl. zum Problem des Verhältnisses von Oberfläche und wahrem charakterlichem Kern: Metz: Warenästhetik, Liebe und literarische Selbstreflexion in Leanne Shaptons Romanexperiment Bedeutende Objekte, S. 278f. 67 | Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 49. 68 | Der Text selbst sagt an dieser Stelle nicht, dass der Brief von Gatsby ist, jedoch lässt die emotionale Reaktion Daisys innerhalb der Logik der Narration kaum einen anderen Schluss zu: Welch anderer Brief könnte eine derartige Reaktion hervorrufen? 69 | Vgl. The Great Gatsby: 00:46:36. Dass es sich bei der Hochzeit der beiden um eine Inbesitznahme Daisys durch Tom handelt, verdeutlicht der Film anhand der Beschreibung seines Handelns: »A year later, Tom Buchanan of Chicago swept in and stole

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authentischen Gefühlsausdrucks, der sich über das Verhältnis von Nähe und Distanz bestimmt.70 Der Brief bleibt jedoch eine Leerstelle,71 suggerierend, dass es Liebe ohne Geld nicht geben kann, da Liebe, die sich nicht auch in monetären Einheiten ausdrücken und damit beweisen lässt, keine Stimme erhält. Daisys Zerreißen der Perlenkette deutet zwar kurz die Möglichkeit an – sie sagt Jordan, sie habe es sich anders überlegt –, doch der Brief löst sich auf, bevor seine materielle Existenz hätte Wirkmacht entfalten können: »She wouldn’t let go of the letter. She took it into the tub with her and squeezed it up in a wet ball and only let me leave it in the soap dish when she saw it was coming to pieces like snow.« (GG 61) Daisy verstummt daraufhin: »[S]he didn’t say another word. We gave her spirits of ammonia and put ice on her forehead and hooked her back into her dress and half an hour later when we walked out of the room the pearls were around her neck and the incident was over. Next day at five o’clock she married Tom Buchanan without so much as a shiver« (GG 61). Der gelbe Kern von Daisys Wesen wird hieran deutlich: Nicht nur entscheidet sie sich für das Geld in Form von ›old money‹, das die gelbe Farbe zu imitieren sucht; sie lebt zudem fortan eine Scheinexistenz, indem sie etwas wird, das sie ihrer emotionalen Reaktion auf Gatsbys Brief nach zu urteilen gar nicht sein möchte:72 Tom Buchanans Frau – und dies mit allen Konsequenzen, wie Jordan weiter berichtet: »I saw them in Santa Barbara when they came back, and I thought I’d never seen a girl so mad about her husband.« (Ebd.) Durch Daisys Hochzeit mit Tom wird sie für Gatsby unverfügbar in dem Sinne, dass die von ihm erträumte Position ihrerseits in seiner Zukunftsvision, nämlich als Frau an seiner Seite, unmöglich geworden ist. her away.« (vgl. ebd., 46:28) Die Assoziation der Perlenkette mit einer Tierleine verbindet Daisy zudem mit Toms Geliebter Myrtle, die von ihm eine Hundeleine geschenkt bekommt, vgl. dazu: Maggie Gordon Froehlich: Jordan Baker, Gender Dissent, and Homosexual Passing in The Great Gatsby. In: The Space Between 7 (2010), H. 1, S. 81-103, S. 96. 70 | Vgl. dazu allgemein: Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin u.a. 2013; Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003. Vgl. auch Kap. V/2.1. 71 | Der Film Luhrmanns füllt diese Leerstelle und schafft damit Eindeutigkeiten. Der Inhalt des Briefes lautet im Film u.a.: »Dear Daisy, the truth is … I’m penniless« (The Great Gatsby: 01:53:55). 72 | Vgl. dazu Berman: The Great Gatsby and Modern Times, S. 129: Daisy »[is] losing incrementally the demands of her own will and adopting protective coloration.« Sprechend ist daher auch der Bildbereich der Kälte in dieser Passage: Von der Metapher des Briefes, der zerfällt wie »snow«, über die Tatsache, dass ihr Kopf mit »ice« gekühlt wird, bis hin zu ihrer Hochzeit mit Tom am nächsten Tag »without so much as a shiver«. (GG 61)

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

Die Lehre, die Gatsby aus dieser Hochzeit zieht, ist nicht, dass Liebe und Geld austauschbar sind, wohl aber, dass eine große Menge Geld und entsprechender Konsum ein Katalysator für Liebe sein können. Sein Streben nach Geld ist daher nicht der Ersatz für Liebe, wie Roger Lewis behauptet,73 sondern Mittel zum Zweck: Auch Gatsby wird fortan seine Liebe anhand von Geld und Konsum zum Ausdruck bringen. Der Fiktionswert von Geld schließt die Fiktion von Liebe gerade nicht aus, sondern ein. Auf diesem Zusammenhang schließlich gründet Gatsbys ›illusion to live by‹.

1.3 Die Tücke des Objekts: ›Green Lights‹ und ›Yellow Cars‹ Das Wiedersehen von Daisy und Gatsby in der Mitte des Romans stellt den Höhepunkt der bisher ausgeführten Zusammenhänge von Liebe, Geld und Konsum dar. Zunächst ist Nick von Gatsbys Bescheidenheit angesichts der Bitte, Daisy zum Tee einzuladen, beeindruckt: »The modesty of the demand shook me. He had waited five years and bought a mansion where he dispensed starlight to casual moths – so that he could ›come over‹ some afternoon to a stranger’s garden.« (GG 62) Dahinter steckt Gatsbys Wunsch, die Parameter des Wiedersehens genau bestimmen und sich als ›Jay Gatsby‹ inszenieren zu können. Dazu gehört vor allem sein Haus: »He wants her to see his house« (GG 63) erklärt Jordan gegenüber Nick, um, so die Implikation, Daisy auf diese Weise zu beeindrucken: Der Besitz des Hauses beweist nicht nur, dass Gatsby ihr nun eine angemessene Behausung – größer und luxuriöser als jene, in der sie aufgewachsen ist – bieten kann, sondern auch seine Liebe: Indem er diese wie Tom anhand des Luxuskonsums zum Ausdruck bringt, bietet er sich gegenüber Daisy als angemessene Alternative zu Tom an. Gatsbys Kleidung an diesem Tag spiegelt Daisys Farben wieder, wie er sie sieht: »Gatsby in a white flannel suit, silver shirt and gold colored tie« (GG 66) erinnert an ihre Beschreibung als »the golden girl« (GG 94) und die Inszenierung als silberne Göttin (vgl. GG  117). Er lässt Nicks Behausung zudem mit einem »greenhouse« (GG 66) ausstatten, um Daisy einen angemessenen Empfang zu bereiten. Der Beginn des Treffens ist jedoch von Verlegenheit auf allen Seiten geprägt, die einer gewissen Komik nicht entbehrt: Herzstück dessen ist eine »defunct mantelpiece clock« (GG 68), die durch Gatsbys Anspannung in Mitleidenschaft gezogen wird: »Luckily the clock took this moment to tilt dangerously at the pressure of his head, whereupon he turned and caught it with trembling fingers and set it back in place.« (Ebd.) Die Inszenierung der kaputten Uhr als Objekt des Widerstandes steht in engem Zusammenhang mit Gatsbys Zukunftstraum: Während er in seiner Jugend Nacht für Nacht diese Fantasie weiter ausgestaltet, tickt eine Uhr auf dem Waschtisch vor sich hin 73 | Vgl. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 51.

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und markiert damit die Bedeutung von Zeit für Gatsbys Traum (vgl. GG 77). Mit dem Wiedersehen von Daisy und Gatsby scheint diese Zeit nun stillzustehen: Gatsby nimmt die Perspektive der kaputten Uhr ein, wenn er von ihrer Position aus Daisy anstarrt: »His head leaned back so far that it rested against the face of a defunct mantelpiece clock and from this position his distraught eyes stared down at Daisy« (GG 68). Dass die Uhr dieser Bedrängung nachgibt und fast auf dem Boden zerschellt, lässt eine Identifikation Gatsbys mit der Uhr zu, die im Anschluss affirmiert wird: Zum einen übernimmt Gatsby die Rolle der Uhr, wenn er die exakte Zeitspanne zu benennen weiß, während der er Daisy nicht gesehen hat: »›We haven’t met for many years,‹ said Daisy […]. ›Five years next November.‹ The automatic quality of Gatsby’s answer set us all back at least another minute.« (GG 68) Seine Antwort ist damit nicht nur Zeitanzeige, sondern dehnt auch die von Nick empfundene Zeit: Mindestens eine weitere Minute geschieht nichts anderes, als dass genau diese Zeit vergeht und die Kommunikation währenddessen stockt. Zum anderen wird Gatsby wenige Seiten später, um seine Reaktion auf Daisys Anwesenheit in seinem Haus zu beschreiben, als eine Uhr bezeichnet, die das exakte Gegenteil sowohl der regulär tickenden Uhr auf dem Waschstand als auch der kaputten Kaminuhr ist: »He had been full of the idea so long, dreamed it right through to the end, waited with his teeth set, so to speak, at an inconceivable pitch of intensity. Now, in the reaction, he was running down like an overwound clock.« (GG 72) Die überdrehte Uhr legt die Assoziation nahe, nun etwas auf- oder einholen zu wollen, mithin also schneller als die tatsächliche Zeit abzulaufen. Die Uhr verdeutlicht damit, dass es für Daisy und Gatsby im Grunde bereits zu spät ist – »It’s too late« (GG 67) sagt Gatsby selbst kurz vor Daisys Ankunft –, woraus die unabweisliche Erkenntnis folgt, auf die Nick Gatsby kurz darauf aufmerksam macht: »You can’t repeat the past.« (GG 86) Einmal abgelaufene Zeit kann nicht wiederholt werden – doch genau das ist es, was Gatsby, die zunächst exakt laufende, doch dann überdrehte Uhr, schließlich begehren wird. Eine Entspannung der Wiederbegegnungssituation tritt erst ein, als Nick Daisy und Gatsby für eine Weile allein lässt. Der Inhalt des Gesprächs zwischen den beiden bleibt, wie der Brief Gatsbys an Daisy vor ihrer Hochzeit, eine Leerstelle. Was auch immer Gatsby ihr erzählt, es führt zur Erfüllung eines zentralen Elements seines Traums: Daisy kommt in sein Haus, womit seine Illusion nicht mehr länger nur Fiktion ist, wird sie doch durch die Anwesenheit Daisys, durch ihre reale Existenz und Präsenz belebt, ja greif bar. Die Rechnung, Daisy durch »showing off his possessions« 74 zu gewinnen, geht zunächst auf. Angesichts seines Hauses bringt sie – bezeichnenderweise zum ersten Mal im Roman – Liebe wörtlich zum Ausdruck: »›That huge place the-

74 | Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 45.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

re?‹ she cried pointing. – ›Do you like it?‹ – ›I love it‹« 75 (GG 71). Roger Lewis bezeichnet den Zusammenhang zwischen Liebe und Konsum an dieser Stelle als ›comically‹, »even though those feelings are sincere«.76 Dies ist er jedoch keineswegs, denn anhand von Daisys und Toms Hochzeit hat Gatsby gelernt, dass diese Art der Liebeskommunikation, der Beweis von Liebe durch teure Objekte, der authentischste Ausdruck von Gefühlen gegenüber Daisy ist. Nicht obwohl, sondern gerade weil die Gefühle echt sind, werden sie daher anhand von Konsum ausgedrückt. Um den Moment, in dem die Transformation von Gatsbys Traum in Realität beginnt, also den Moment, in dem Daisy sein Anwesen betritt, angemessen zu begehen, nehmen sie nicht die Abkürzung durch Nicks Garten, sondern den Umweg über die Straße. Das Anwesen durch das große Eingangstor betretend, zeigt das Haus bei Daisy die begehrte Wirkung: »With enchanting murmurs Daisy admired this aspect or that feudal silhouette against the sky, admired the gardens, the sparkling odor of jonquils and the frothy odor of hawthorn and plum blossoms and the pale gold odor of kiss-me-at-the-gate.« (GG  71) Durch die zahlreichen Räumlichkeiten des märchenhaft anmutenden Hauses schlendernd – »Marie Antoinette music rooms and Restoration Salons«, »period bedrooms swathed in rose and lavender silk«, »dressing rooms and poolrooms, and bathrooms with sunken baths« (ebd.) –, gelangen sie schließlich zu Gatsbys Zimmer, in dem ein Set von Objekten sofort Daisys Aufmerksamkeit auf sich zieht: »His bedroom was the simplest room of all – except where the dresser was garnished with a toilet set of pure dull gold. Daisy took the brush with delight and smoothed her hair« (GG  72). Nicht nur handelt es sich bei der Frau, die bei der Toilette sitzt, um Venus-Ikonografie, was ihre Funktion als Projektionsfläche unterstreicht, sie suggeriert auch Intimität mit Gatsby. Dass dies anhand von Objekten geschieht, die aus purem Mattgold gemacht sind, bestätigt Gatsby in seiner Strategie der Verknüpfung von Liebe, Geld und Konsum. Glaubt man dem Motto, das dem Roman vorangestellt ist, ist Gatsby fast an seinem Ziel angekommen: Then wear the gold hat, if that will move her; If you can bounce high, bounce for her too, Till she cry ›Lover, gold-hatted, high-bouncing lover, I must have you!‹

Gatsby, derart als ›Habenwollen-Objekt‹ inszeniert und zugleich »consumed with wonder at her presence« (GG  72), unterzieht daher seine Besitztümer einer Neubewertung: »[H]e revalued everything in his house according to the 75 | Herv. i. O. 76 | Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 45.

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measure of response it drew from her well-loved eyes.« (Ebd.) Was hier geschieht, ist nichts anderes, als dass der Wert der Fetische zweiter Ordnung (die Luxus- und Konsumprodukte, die Gatsby besitzt) durch den Fetisch erster Ordnung (eine Position, die Daisy in Gatsbys Fantasie nach wie vor inne hat) neu bemessen wird: Ihr Status als ›Abglanz‹ des primären Fetischs wird bestätigt oder negiert.77 Gatsbys Verhalten als fetischistisch zu bezeichnen, wird im Übrigen durch einen Satz bestätigt, der beinahe beiläufig fällt: »›Look at this‹, said Gatsby quickly. ›Here’s a lot of clippings – about you.‹ They stood side by side examining it.« (GG 73) Diese Zeitungsausschnitte, die Gatsby akribisch gesammelt hat, stammen vermutlich vor allem aus einer Chicagoer Zeitung, die er jahrelang liest: »[H]e’s read a Chicago paper for years just on the chance of catching a glimpse of Daisy’s name.« (GG 63) Diese Zeitung war für Gatsby während der Trennung von Daisy die einzige Möglichkeit, um Informationen über sie zu erhalten, ihr auf diese Weise nah zu sein und seine Zukunftsvision weiter zu nähren. Im Film Luhrmanns wird dieser beiläufige Satz derart ausgeschmückt, dass damit die Episode der goldenen Toilette-Objekte ersetzt wird: An Gatsbys Toilettetisch sitzend, sieht man Daisy nicht nur Zeitungsausschnitte, sondern auch Briefe, Fotografien, Haarschleifen, getrocknete Blumen 78 und andere persönliche Devotionalien bestaunen, die gesammelt mehrere Bände – mindestens zwanzig sind zu erkennen – ergeben.79 Dass die Sammelobjekte die goldenen Toilette-Utensilien ersetzen (sie kommen im 77 | Vgl. Kap. II/3.1.1. 78 | Die Semantik dieser Objekte entspricht jener der Briefbeigaben im 18. und 19. Jahrhundert, vgl. Renate Moering: Briefbeigaben. In: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. 11. September bis 16. November 2008. Frankfurt a.M. 2008, S. 191-214. Dass die im Film abgebildete Stoffschleife blassrosa ist wie jene Haarschleifen, die Lotte bei der ersten Begegnung mit Werther trägt, die sie ihm dann anlässlich seines Geburtstages schenkt (Brief vom 28. August) und die zu einem geliebten und fetischisierten Objekt für ihn werden, so dass er sie am Ende mit ins Grab nimmt, mag ein Zufall sein oder auch nicht. Da Goethes Die Leiden des jungen Werthers auch international eine breite Rezeption erfahren hat, ist diese Verbindung nicht völlig unmöglich. Auch wenn Gatsby keinen Selbstmord begeht, so opfert auch er sich in gewisser Weise wie Werther seiner Liebe, wenn er Stillschweigen darüber bewahrt, wer das ›death car‹ tatsächlich gefahren und Myrtle umgebracht hat. Weil er diesen Irrtum nicht aus der Welt räumt, wird er zum Opfer der Rache Wilsons. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers [1774]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden. I. Abt. Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers, Die Wahlverwandtschaften, Kleine Prosa, Epen. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a.M. 1994, S. 10-266, S. 262. 79 | Vgl. The Great Gatsby: 01:03:55ff.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

Film gar nicht vor), verbindet sie mit dem Brief Gatsbys an Daisy, der zuvor als Kontrast zu Toms Gabe der Perlenkette eingesetzt wurde. Auch die Sammelobjekte sind im monetären Sinn wertlos, in ihnen aber offenbart sich Gatsbys Liebe für Daisy, weil sie in ihrer Zusammenstellung und Präsentation wie jede Sammlung viel Zeit, Aufmerksamkeit und Aufwand gekostet haben. Dass dieser Sammlung im Roman kein derartiger Raum der Präsentation eingeräumt wird, mag damit zusammenhängen, dass Gatsby längst auf jenes Liebesmodell umgestellt hat, nach dem Gefühle anhand von Geld und Konsum – und nicht materiell wertlosen Objekten – ausgedrückt werden. Dementsprechend durch die Reaktion auf das goldene Toilette-Set bestätigt, geht Gatsby dazu über, seinen Reichtum an Kleidung vorzuzeigen: »He took a pile of shirts and began throwing them one by one before us, shirts of sheer linen and thick silk and fine flannel which lost their folds as they fell and covered the table in many-colored disarray. While we admired he brought more and the soft rich heap mounted higher – shirts with stripes and scrolls and plaids in coral and apple green and lavender and faint orange with monograms of Indian blue.« (GG 72) Gatsbys Liebeskommunikation, die sich hier überdeutlich der Sprache des Konsums bedient, wird von Daisy erwidert: »Suddenly with a strained sound Daisy bent her head into the shirts and began to cry stormily. ›They’re such beautiful shirts,‹ she sobbed, her voice muffled in the thick folds. ›It makes me sad because I’ve never seen such – such beautiful shirts before.‹« (GG 72f.) Dass ihre Stimme – ›full of money‹ und daher das Medium der unendlichen Möglichkeiten – in den vielen bunten Hemden, also in käuflichen Waren, erstickt, verdeutlicht die Reue über nicht wahrgenommene und damit vergangene Möglichkeiten. Gleichzeitig werden diese Möglichkeiten als solche überhaupt erst anerkannt: Die Hemden sind die schönsten, die sie je gesehen habe und es macht sie traurig, dass sie diese erst jetzt sieht, sprich: dass Gatsby erst jetzt in ihr Leben zurückkehrt. Es ist also nicht nur Gatsbys Liebe zu Daisy, die in der Sprache des Konsums Ausdruck findet,80 sondern auch Daisys Liebe zu Gatsby: Dieser Konsumobjektfetischismus wird hier zur Metonymie der Liebe. Dementsprechend ist nicht nur sie für ihn, sondern auch er für sie eine Projektionsfläche: Anhand der erfolgreichen Verbindung von Liebe, Geld und Konsum vermittelt er ihr, dass alles ganz anders sein könnte – schließlich fühlt sie sich gefangen in der »purposelessness characterizing her whole life«:81 Ihr Leben ist bestimmt durch die nicht sonderlich glückliche Ehe mit Tom, der sie bereits kurz nach den Flitterwochen betrogen hat: »Well, I’ve had a very bad time, Nick, and I’m pretty cynical about everything« (GG 17), gesteht sie gegenüber Nick zu Beginn des Romans. All ihre Hoffnungen auf ein Leben ohne Tom kann sie auf Gatsby projizieren, damit hat er für sie ebenso einen 80 | Vgl. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 45f. 81 | Ebd., S. 50.

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Fiktionswert wie sie für ihn: Es kann daher spekuliert werden, dass auch er zu einer Art Konsumobjekt für sie wird, das ihr suggeriert, ihre Träume könnten wahr werden.82 Diese Annahme wird untermauert, wenn sie Gatsby mit einer Werbeanzeige assoziiert, die Nick signifikanterweise mit ihrem Liebesgeständnis in Verbindung bringt: »›You always look so cool,‹ she repeated. She had told him that she loved him, and Tom Buchanan saw. […] ›You resemble the advertisement of the man,‹ she went on innocently. ›You know the advertisement of the man –‹« (GG 92f.). Tom unterbricht sie, bevor sie ihr Liebesgeständnis, das sich des Konsums bedient, vollenden kann.83 Mit Daisys Anwesenheit in seinem Haus verschwimmen für Gatsby die Grenzen zwischen Realität und Fiktion: »Sometimes, too, he stared around at his possessions in a dazed way as though in her actual and astounding presence none of it was any longer real. Once he nearly toppled down a flight of stairs.« (GG 72) Das Verwischen dieser Grenze, das ihn ins Stolpern bringt, markiert die Verschiebung seiner Illusion ins Reale: Das Haus, sein Besitz, all die Luxuskonsumgüter und schließlich Daisy sind reale Entitäten und nicht länger Teil seiner Fiktion. Das grüne Licht am anderen Ende der Bucht scheint damit an Bedeutung zu verlieren: »Possibly it had occurred to him that the colossal significance of that light had now vanished forever. Compared to the great distance that had separated him from Daisy it had seemed very near to her, almost touching her. It had seemed as close as a star to the moon. Now it was again a green light on a dock. His count of enchanted objects had diminished by one.« (GG 73) Die Macht des fetischisierten Objekts jedoch verblasst ebenso wenig wie das grüne Licht selbst. Die Umsetzung dieser Passage in Baz Luhrmanns Verfilmung verdeutlicht die eingangs dargelegte Spannung 82 | Luhrmanns Film verleiht dem Ausdruck, wenn Daisy, mit Gatsby in seinem Haus tanzend, zu ihm sagt: »I wish I’d done everything on earth with you. All my life. I wish it could always be like this.« (vgl. The Great Gatsby: 01:06:10) Später, als Daisy bei seiner Party zu Gast ist, bringt sie ihre Faszination für Gatsbys Fantasien zum Ausdruck, wobei er gleichzeitig ihre Funktion als Projektionsfläche spiegelt: »DAISY: ›Is all this made entirely from your own imagination?‹ – GATSBY: ›No. You see, you were there all along … in every idea … in every decision. Of course, if anything is not to your liking, I’ll change it.‹  – DAISY: ›It’s perfect. From your perfect irresistible imagination.‹« (ebd., 01:12:51) Bei Gatsbys Angebot, alles zu ändern, was Daisy nicht gefällt, erfolgt ein Schnitt auf Tom, der sich gerade zu einem Stelldichein mit einer anderen Frau aufmacht – suggerierend, dass Tom es ist, der Daisy nicht (mehr) gefällt. 83 | Der Film von Baz Luhrmann unterstreicht den Zusammenhang zwischen Liebe und Konsum an dieser Stelle, indem er Daisy ausreden lässt und die Werbeanzeige unmittelbar mit den bunten Hemden Gatsbys verknüpft: »You always look so cool like the advertisement of the man in Times Square. The man in the cool, beautiful shirts.« (ebd., 01:28:45)

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

zwischen Nähe und Distanz, die die Beziehung der beiden bestimmt: Gatsby und Daisy liegen gemeinsam in seinem Bett, von dem aus er das grüne Licht sehen kann. Er hält Daisy in seinem Armen, doch er sieht sie nicht. Gatsby hält noch immer Ausschau nach dem grünen Licht – obwohl das, was es bis dahin signifizierte, nun real und nicht mehr Illusion ist.84 Diese Illusion ist indes machtvoller geworden als ihr ursprüngliches Lieblingsobjekt Daisy: »There must have been moments even that afternoon when Daisy tumbled short of his dreams – not through her own fault but because of the colossal vitality of his illusion. It had gone beyond her, beyond everything. He had thrown himself into it with a creative passion, adding to it all the time, decking it out with every bright feather that drifted his way. No amount of fire or freshness can challenge what a man will store up in his ghostly heart.« (GG 75) Die Illusion verselbständigt sich und löst sich schließlich um ihrer selbst willen von der Realität, womit sie potentiell pathologisch wird.85 Das letzte Detail, um das Gatsby seine Illusion erweitert, ist in dieser Hinsicht entscheidend, denn es handelt sich um den unrealistischen Wunsch, die Vergangenheit der letzten fünf Jahre ungeschehen zu machen: »He wanted nothing less of Daisy than that she should go to Tom and say: ›I never loved you.‹ After she had obliterated three years with that sentence they could decide upon the more practical measures to be taken. One of them was that, after she was free, they were to go back to Louisville and be married from her house – just as if it were five years ago.« (GG 85f.) Gatsby möchte damit zurück zu jener Ursprungsszene, in welcher er seine Illusion mit Daisys Atem ›belebt‹, also zum Zeitpunkt seiner ›Hochzeit‹ mit ihr. Nicks Einwand, »You can’t repeat the past« (GG 86), weist Gatsby ohne weitere Argumentation von der Hand: »›Can’t repeat the past?‹ he cried incredulously. ›Why of course you can!‹« (GG 86) Seine Antwort bleibt bloße Behauptung, deren fantastische Qualität tragischen Charakter annimmt, insofern er seine Identität an die Realisierung dieser Wiederholung der Vergangenheit knüpft: »He talked a lot about the past and I gathered that he wanted to recover something, some idea of himself perhaps, that had gone into loving Daisy. His life had been confused and disordered since then, but if he could once return to a certain starting place and go over it all slowly, he could find out what that thing was …« (GG 86). Diese Verknüpfung wird zum entscheidenden Faktor seines Scheiterns, denn genau genommen lässt sich die Ereigniskette von seinem Tod bis zu diesem Punkt

84 | Vgl. The Great Gatsby: 01:03:05. Dieser Inszenierung wird umso mehr Gewicht verliehen, als sie kurz darauf wiederholt wird: 01:25:35. 85 | Giles Mitchell identifiziert Gatsby als Narzissten, der u.a. die Zeit kontrollieren zu können glaubt, vgl. Giles Mitchell: The Great Narcissist: A Study of Fitzgerald’s Jay Gatsby. In: Harold Bloom (Hg.): Jay Gatsby. Broomall, PA 2004, S. 91-100.

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zurückverfolgen: Wäre es für Gatsby genug gewesen, »just to hold Daisy«,86 hätte es das Mittagessen in Toms Haus mit dem sich anschließenden Ausflug in die Stadt, den vertauschten Autos und der daraus resultierenden Fehlinterpretation des ›yellow car‹ durch Myrtle nicht gegeben. Myrtle wäre nicht ums Leben gekommen und Wilson hätte keinen Grund gehabt, zum Mörder Gatsbys (im Auftrag Toms) zu werden. Gatsby legt sich und seine Existenz so sehr auf diese Illusion fest, dass er die Realität letztendlich nicht mehr anerkennen kann. Gatsby und sein Traum scheitern daher »not because of a failure of will or effort, but rather because the dream is in reality a vision of the receding and irrecoverable past.«87 Was Gatsby mit der Wiederholung der Vergangenheit und der Rückkehr zum Zeitpunkt ihrer ›Hochzeit‹ letztendlich bezweckt, ist die Reinstitution Daisys als Fetisch erster Ordnung nicht nur in seiner Illusion, sondern auch in der Realität. Es geht damit um Re-Possession, weshalb ein Akt des ›divestment‹88 notwendig ist: Vor dem Hintergrund, dass Gatsby sich seit seiner ersten Begegnung mit Daisy mit ihr verheiratet fühlt, ist ihre Ehe mit Tom eine Anomalie in Gatsbys Realität. In Übereinstimmung mit dem Exklusivitätsgebot romantischer Liebe darf also ab dieser Begegnung kein anderer Mann Daisy ›besessen‹ haben, das heißt mit ihr verheiratet und/oder von ihr geliebt worden sein. Mit Gatsbys Wunsch, die Vergangenheit zu wiederholen, ist seine Forderung an Daisy, nur ihn geliebt zu haben, untrennbar verbunden. Seine Annahme, Daisy zu besitzen, geht soweit, dass er glaubt, für sie sprechen zu dürfen: »Your wife doesn’t love you« (GG 102) eröffnet er, gegen Daisys Willen, gegenüber Tom. Der sich anschließende Dialog zwischen Tom und Gatsby dreht sich vor allem darum, wen Daisy liebt und wen nicht, beide Männer behaupten in dieser Angelegenheit jeweils Absolutheit für sich, während Daisy dabei zu einem »kind of chess piece« 89 verkommt. Sie bricht unter dem Drängen Gatsbys, Tom zu sagen, dass sie ihn nie geliebt habe, zusammen, und erteilt den Absolutheitsansprüchen beider Männer eine Absage: »›Oh, you want too much!‹ she cried to Gatsby. ›I love you now – isn’t that enough? I can’t help what’s past.‹ She began to sob helplessly. ›I did love him once – but I loved you too.‹« (GG  103) Gatsby ist nicht nur angesichts ihrer Ablehnung seines Ansinnens, ›to repeat the past‹ entsetzt – denn das kommt der Ablehnung seiner selbst gleich –, sondern auch angesichts der Verletzung des Exklusivitätsgebots der romantischen Liebe: »›You loved me too?‹ he repeated.«90 (ebd.) Der Streit 86 | The Great Gatsby: 01:06:40. 87 | James E. Miller, Jr: The Meaning of the Novel. In: Harold Bloom (Hg.): F. Scott Fitzgerald’s The Great Gatsby. New York 2006, S. 111-114, S. 113. 88 | Vgl. McCracken: Culture and Consumption, S. 87. 89 | Lehan: The Great Gatsby. The Limit of Wonders, S. 76. 90 | Herv. i. O.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

beider Männer erinnert an das Spiel ›Sie liebt mich, sie liebt mich nicht‹, das man mit Margeriten, also englisch: ›Daisies‹, zu spielen pflegt. Dies ist der Punkt, an dem der gelbe Kern Daisys für Gatsby problematisch wird: Während die Farbe Weiß ihre Unschuld sowie ihre Eigenschaft als Projektionsfläche vorgibt, steht die gelbe Mitte für ihr Streben nach Geld und materieller Sicherheit, was ihre Hochzeit mit Tom begründet. Dass sie neben Gatsby auch ihn liebte, ist dem Schein, für den die Farbe Gelb im Roman auch steht, zu verdanken: Daisy hat sich angepasst, ihre Gefühle sozusagen auf Tom transferiert. Konsequenterweise zieht Daisy sich in sich selbst – sprich: ihren gelben Kern – zurück, so als ob die Margerite ihren Blütenkopf schließen würde:91 »But with every word she was drawing further and further into herself, so he gave that up and only the dead dream fought on as the afternoon slipped away, trying to touch what was no longer tangible, struggling unhappily, undespairingly, toward that lost voice across the room.« (GG 105) Einen Exklusivitätsanspruch hat damit weder Tom noch Gatsby: Daisy changiert zwischen einem Fetisch erster und zweiter Ordnung in Gatsbys Illusion. Ihre weiße Oberfläche ließ sie Gatsby nicht nur als Konsumobjekt, sondern auch als unersetzbare Liebe seines Lebens stilisieren – ihr gelber Kern verwehrt dies jedoch, weshalb ihre Stimme, ›full of money‹, nun ›verloren‹ ist:92 Daisy verstummt erneut, für (männliche) Fantasien und Fiktionswerte bietet sie keinen Raum mehr, sie entzieht sich jeglicher Verfügbarkeit – und verliert damit an diesem Punkt auch ihre Eigenschaft als Konsumobjekt. Für Gatsby ist Daisy jedoch als Fetisch erster Ordnung nicht austauschbar, das heißt das, was in der Regel mit Konsumprodukten ohne weiteres funktioniert, nämlich die Verschiebung auf ein neues Produkt – in diesem Fall: eine andere Frau –, greift hier nicht. Die Fetische zweiter Ordnung – sein Haus, sein Auto, all die Luxuskonsumprodukte – sind jedoch von jenem erster Ordnung abhängig, somit gibt es für Gatsby kein Zurück mehr hinter den Zeitpunkt der Begegnung mit Daisy. Die Folge ist die Leugnung der Realität, die sich im Wunsch ›to repeat the past‹ ausdrückt. Folgerichtig bestreitet Gatsby gegenüber Nick auch den Wahrheitsgehalt von Daisys Aussagen: »I don’t think 91 | Was Daisy hier außerdem von Gatsby Abstand nehmen lässt, ist der punktuelle Mangel an kulturellem Kapital, denn Gatsby verliert die Contenance: »I glanced at Daisy […] [t]hen I turned back to Gatsby – and was startled at his expression. He looked – and this is said in all contempt for the babbled slander of his garden – as if he had ›killed a man.‹ (GG 105) Zusammen mit Toms Erklärung von Gatsbys Reichtum, er sei ein »bootlegger« (GG 104) zerbricht die Identität ›Jay Gatsby‹: »›Jay Gatsby‹ had broken up like glass against Tom’s hard malice« (GG 115). Vgl. auch Lehan: Inventing Gatsby, S. 90. 92 | Wie Giles Mitchell vermerkt, ist es wichtig, dass sie mit der Aussage »you want too much« (GG 103) Gatsby bereits ablehnt, noch bevor Tom sie über dessen kriminelle Machenschaften aufklärt (vgl. Fußnote 91). Vgl. Mitchell: The Great Narcissist, S. 93.

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she ever loved him […] Of course she might have loved him, just for a minute, when they were first married – and loved me more even then, do you see?« (GG 119) Da sein Ziel die Rückkehr zum Zeitpunkt der Ursprungsszene ist, als er seine Vision mit Daisys sterblichem Atem verheiratet hat, kann er ihren Worten keinen Glauben schenken.93 Dass schließlich ausgerechnet das gelbe Auto, Symbol der ersten romantischen Begegnungen von Daisy und Gatsby, zu dem von Daisy gelenkten ›death car‹ wird, besiegelt nicht nur das Ende von Gatsbys Traum in seiner von ihm bis dahin ersonnenen Form, sondern auch das Schicksal aller anderen Figuren im Roman: Während Tom Wilson die Frau als Geliebte weggenommen hat, nimmt Daisy ihr, immerhin unwissend, das Leben – diese Akte der An- und Enteignung ergeben eine Rechnung, die letzten Endes Gatsby bezahlt. Dies nicht nur, weil sein gelbes Auto unverkennbar ihm zugeordnet werden kann, sondern auch, weil ihm, der als Projektionsfläche der anderen Figuren im Roman fungiert, eine solche Tat ohne weiteres zugetraut wird (vgl. GG 37, 105). Diese Vorlage nutzt Tom schamlos aus, um den Konkurrenten aus dem Weg zu räumen: »What if I did tell him? That fellow had it coming to him. He threw dust into your eyes just like he did in Daisy’s but he was a tough one. He ran over Myrtle like you’d run over a dog and never even stopped his car.« (GG 139) Gegen dieses Narrativ Toms, in dem jeder Einwand Nicks bereits diskreditiert ist, kommt der Erzähler nicht an: »There was nothing I could say, except the one unutterable fact that it wasn’t true.« (Ebd.) Daisy derweilen stellt entsprechend ihrem gelben Kern ein zweites Mal ihre eigenen Interessen über die Möglichkeit einer Beziehung mit Gatsby: Da er als einziger Zeuge davon ist, dass sie diejenige war, die Myrtle getötet hat, kann sie durch die Aufkündigung der Verbindung zu ihm weiterhin mit sprichwörtlich weißer Weste dastehen. Die Alternative, die sie nicht wählt, wäre ein Leben als Mörderin und Ehebrecherin mit Gatsby – beides zusammen wäre eine hohe Hypothek für diese Beziehung. Daisy wählt daher zum zweiten Mal Tom, also gesellschaftliches Ansehen und materielle Sicherheit. In dieser Perspektive ist es nicht die Trias von Liebe, Geld und Konsum, die Gatsby und Daisy scheitern lassen, wie kulturkritische Interpretationen behaupten mögen – diese drei sind keine Opponenten, sondern gegenseitige Stabilisatoren: »The acquisition of love and money are both part of the same dream«.94 Dies zeigt sich an den Beziehungen, die jene von Daisy und Gatsby kontrastieren: Die Ehe von Tom und Daisy beruht gerade auf der erfolgrei93 | Für eine derartige Leugnung der Realität spricht auch Gatsbys Reaktion auf Daisys und Toms Tochter Pammy, untrüglicher Beweis ehelicher Liebe: »Afterward he [Gatsby, AO] kept looking at the child with surprise. I don’t think he had ever really believed in its existence before.« (GG 91). 94 | Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 56.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

chen Verbindung von Liebe, Konsum und Geld und überlebt deshalb auch das Eindringen eines Dritten, nämlich Gatsby.95 Das Leben in Armut im grauen ›valley of ashes‹ dagegen lässt keinerlei Raum für die Fantasien der bunten Konsumwelt96 und unterbindet jegliche Liebesromantik, wie die gescheiterte Ehe von Wilson und Myrtle zeigt.97 Gatsby, aus der gleichen sozialen Schicht wie Wilson stammend, gründet seine Illusion daher auf diesem Ideal der Verbindung von Liebe, Geld und Konsum, sie ist damit tief in der ihn umgebenden Wirklichkeit verankert. Diese Identitätskonstruktion ist von Erfolg gekrönt, solange seine ›illusion to live by‹ realisierbar bleibt. Mit der Leugnung der Vergangenheit und dem Wunsch, diese in sich selbst zu verändern, verlässt Gatsbys Illusion jedoch den Bereich des materiell Machbaren. Und so ist mit dem Verlust der Realität auch Gatsby selbst der materiellen Welt abhandengekommen, deren Objekte sich für ihn als tückisch erwiesen haben: Dazu gehört nicht nur die Uhr, die keine Zeit anzeigt, oder das gelbe Auto, das sich in seiner ursprünglichen Funktion als Individualitätssymbol gegen ihn gewandt hat; auch das grüne Licht erweist sich als tückisch, indem es vorgibt, Distanzen zu überwinden, obwohl es gleichzeitig ein Marker der Trennung ist, die sich am Ende als unüberwindlich erweist. Schließlich ist auch Daisy in ihrer Eigenschaft als Konsumobjekt in die Reihe ›tückischer Objekte‹98 aufzuneh95 | Vgl. Nicks Urteil am Ende über Daisy und Tom: »They were careless people, Tom and Daisy – they smashed up things and creatures and then retreated back into their money or their vast carelessness or whatever it was that kept them together, and let other people clean up the mess they made…« (GG 139). 96 | Myrtles Appartement, das Tom ihr finanziert, hebt sich daher auch in signifikanterweise vom ›valley of ashes‹ ab, es befinden sich darin unzählige Dinge, anhand derer Myrtle sich selbst repräsentiert sehen möchte (vgl. GG 25): »Myrtle has tried to accumulate her social character. […] Her catalogue of all the things she’s ›got to get‹ […] is a blueprint for becoming what she knows she is not.« (Berman: The Great Gatsby and the twenties, S. 89, Herv. i. O.; vgl. dazu ausführlicher: Ders.: The Great Gatsby and Modern Times. Urbana, Chicago 1996, S. 59-81). 97 | Die zeitgenössisch populären Songs »Ain’t we got fun« und »The Love Nest«, die Klipspringer für Daisy und Gatsby bei deren Zusammensein in seinem Haus spielt, erweisen sich in dieser Hinsicht als aufschlussreich. Während auf »The Love Nest« nur verwiesen wird, das eine Liebe, die auf Geld und materiellen Reichtum nicht angewiesen zu sein behauptet, romantisch verklärt, wird aus »Ain’t we got fun« wörtlich zitiert: Oberflächlich mag man auch hier zunächst die von allen materiellen Belangen unabhängige Liebe verklärt sehen, bei genauerem Hinsehen jedoch werden die ironisch-kritischen Untertöne deutlich, darauf hinweisend, dass man von Liebe allein weder Miete noch Lebensmittel bezahlen kann. Vgl. GG 96f. 98 | Vgl. zur ›Tücke des Objekts‹ den Roman Auch einer. Eine Reisebekanntschaft (1879) von Friedrich Theodor Vischer.

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men – nicht nur, weil sie gemäß ihres Namens ein doppeltes Spiel in Weiß und Gelb spielt, sondern auch, weil sie Gatsbys Erwartungen an sie weder erfüllen kann noch möchte: »She rejects Gatsby because she has suddenly become acutely aware of his uncompromising demand that she obliterate an irremedial imperfection: the last four years of her life. When her ›frightened eyes‹ […] tell Gatsby that she will not marry him, that is, that she is imperfect, he is left with nothing but a ›dead dream‹.«99 Sie enttäuscht damit seine Fantasie von ihr, oder anders gesagt: den von ihr versprochenen Fiktionswert. Dieser Moment markiert die Kippfigur, die Moritz Baßler für das realistische Erzählverfahren postuliert hat:100 Während der Text die ganze Zeit auf eine Verklärung des Metacodes ›Liebe‹ in Form der Überhöhung Daisys zur Göttin hinstrebt, kippt diese auf die metonymische Achse an dem Punkt zurück, in dem Daisy für Gatsby entzaubert wird und hinter seinen Erwartungen zurückbleibt. Da Gatsby jedoch – anders als der Protagonist in Christoph Peters’ Roman – sein Begehren nicht auf eine andere Frau verschieben kann, er Daisy also nicht entsagt, wird das Ende des Textes mit Gewalt herbeigeführt: mit Gatsbys Tod.101 Dafür wird am Ende ein tückisches Objekt in Szene gesetzt, das den ganzen Roman über nichts anderes tut als zu klingeln und damit für Verbindungen oder, mehr oder weniger störend, für Disruptionen zu sorgen: das Telefon. Es dient vor allem romantischen wie geschäftlichen Verabredungen: Tom und Myrtle verabreden sich über das Telefon (vgl. GG 14f., 89f.), im Haus der jungen Daisy steht das Telefon nicht still, weil permanent Soldaten anrufen (vgl. GG 59), Nick beendet die Beziehung mit Jordan über das Telefon (vgl. GG 138), während Gatsby mit dem Telefon vor allem seine Geschäfte koordiniert, die immer wieder die romantischen Treffen mit Daisy stören (vgl. GG 73f., 83). Am Ende jedoch ist dieses Objekt stillgestellt, Gatsby ist abgeschnitten von seinen geschäftlichen wie romantischen Verbindungen: »No telephone message arrived but the butler went without his sleep and waited for it until four o’clock – until long after there was anyone to give it to if it came. I have an idea that Gatsby himself didn’t believe it would come and perhaps he no longer cared. If that 99 | Mitchell: The Great Narcissist, S. 93. 100 | Vgl. Moritz Baßler: Zeichen auf der Kippe. Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne. In: Ders. (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin, Boston 2013, S. 3-21, S. 7-10. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. III/1.3. 101 | Stefan Tetzlaff resümiert eine derartige Auflösung des potentiell unendlichen realistischen Erzählverfahrens mit einem den Konsum begleitenden Begriff – Abfall: »Wer nicht entsagt, wird entsorgt.« (Stefan Tetzlaff: Entsagung im Poetischen Realismus. Motiv, Verfahren, Variation. In: Moritz Baßler (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin, Boston 2013, S. 70114, S. 97).

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

was true he must have felt that he had lost the old warm world, paid a high price for living too long with a single dream.« (GG 126) Mit dem Verlust seiner ›illusion to live by‹, an der die Identität Gatsbys hängt, ist die Auslöschung seiner physischen Existenz nur folgerichtig. Der Text markiert die zutiefst materielle Determinierung der Welt, in welcher der Träumer Gatsby keinen Platz mehr hat, indem auch sein Tod in der Metaphorik der Kosten-Nutzen-Rechnung gefasst wird: Gatsby bezahlt den Glauben an seine Illusion mit dem höchsten Preis: seinem Leben. Was am Ende bleibt, ist das grüne Licht, das unablässig weiter leuchtet. Dass Gatsby auf einer Luftmatratze auf dem Wasser seines Pools treibend stirbt, steht in Kontrast zu dem jungen Jay Gatsby, der mit Dan Cody den amerikanischen Kontinent umsegelt und gerade seine Illusion auszuschmücken beginnt. Während das Meer Unendlichkeit und Sehnsucht signifiziert, depotenziert der Pool das Wassermotiv und übersetzt es in ein Szenario der affluent society.102 Obgleich das Symbol seines Traums »just across the bay« (GG 62) liegt, scheint die Distanz zu Daisy für Gatsby nun endgültig unüberwindbar. Mit seinem Scheitern, Daisy endgültig für sich zu gewinnen und ihr damit jene Position zu geben, die sie als Fetisch erster Ordnung in seiner Illusion hat, verliert auch das grüne Licht als Fetisch erster Ordnung seine Bedeutung, ist dieser doch in seiner Existenz an Daisy und ihr Haus gebunden. Gatsbys Glaube an das grüne Licht, seine ›illusion to live by‹, und das Scheitern ihrer Verwirklichung wird daher am Ende anhand der Wassermetaphorik als räumliche wie zeitliche Nähe-Distanz-Dichotomie in Szene gesetzt: »Gatsby believed in the green light, the orgastic future that year by year recedes before us. It eluded us then, but that’s no matter – tomorrow we will run faster, stretch out our arms farther … And one fine morning – So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past.« (GG 141) In dem steten Entschwinden der Zukunft ist das Streben, diese zur Gegenwart zu machen, ein vergebliches: Illusion und Leben zur Deckung zu bringen, erweist sich für Gatsby als unmögliches Unterfangen, da es für ihn – ›borne back ceaselessly into the past‹ – immer schon zu spät ist.

1.4 Text-Konsum-Objekte Es lässt sich resümieren, dass der aufgezeigte Zusammenhang von Liebe, Geld und Konsum nicht nur die Beziehungen zwischen Gatsby und Daisy beziehungsweise Daisy und Tom prägt, sondern auch die Art und Weise, wie davon erzählt wird. Nicht nur wird Liebe primär durch Konsumvokabular und anhand von Objekten zum Ausdruck gebracht oder beschrieben, auch die Erzählperspektive des Romans ist davon geprägt. 102 | Vgl. John Kenneth Galbraith: The Affluent Society. Boston 1958.

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Die intern fokalisierte Erzählperspektive Nick Carraways filtert sämtliche Ereignisse in und um Gatsby: Obgleich er sich der Objektivität verschreibt (vgl. GG 5) und von sich behauptet, eine der wenigen ehrlichen Personen zu sein, die er kennt (vgl. GG 48), ist er ein höchst unzuverlässiger Erzähler, was sich nicht nur in der gezielten Selektion zu erzählender Begebenheiten und damit einhergehender Leerstellen, sondern auch in den zahlreichen fragmentierten und sich zum Teil wiederholenden Analepsen niederschlägt.103 Die Ausgestaltung nebensächlicher wie zentraler Ereignisse – wie beispielsweise Nicks und Gatsbys Ausflug in seinem ›hydroplane‹ oder der Brief Gatsbys an Daisy – wird an die Imagination des Lesers delegiert.104 Seine Motivation, die Geschichte Gatsbys zu erzählen, gibt Nick nicht preis, auch dies bleibt eine Leerstelle – die Verfilmung von Baz Luhrmann sucht diese durch die Pathologisierung der Erzählerfigur und ihrer Gleichsetzung mit dem Autor Fitzgerald zu füllen. Die damit implizierte Traumatisierung Nicks durch die Erlebnisse mit Gatsby unterstellen der Beziehung der beiden eine affektive Grundlage. Wie Edward Wasiolek herausgearbeitet hat, gibt es gute Gründe, Nick Carraway als homosexuelle Figur zu lesen: Dazu gehört nicht nur, dass er ursprünglich mit einem Mann in das Haus in East Egg ziehen wollte (vgl. GG 7) oder dass Jordan Baker in ihrer Beschreibung vor allem männliche Attribute zugeschrieben werden,105 sondern vor allem auch die oft überlesene Passage am Ende des zweiten Kapitels, in der Nick mit Mr. McKee im Bett landet.106 Nicks Faszination für Gatsby ist damit mehr als nur Bewunderung, Gatsby ist »Nick’s economic and social phantasy«,107 die in der heldenhaften Überhöhung des ›Great Gatsby‹ mündet: »Nick romanticizes Gatsby in the exact same way that Gatsby romanticizes Daisy«108 – man könnte auch sagen: fetischisiert. Die Illusion Gatsbys, die anhand der Liebe zum Konsumobjekt Daisy figuriert wird, spiegelt sich im affektiven Verhältnis des 103 | Vgl. James E. Miller, Jr.: Stylistic Approach to First Person. In: Harold Bloom (Hg.): F. Scott Fitzgerald’s The Great Gatsby. New York 2006, S. 108-111, S. 110f., sowie: Lehan: The Great Gatsby. The Limits of Wonder, S. 111-124. 104 | Das Füllen dieser Leerstellen führt mitunter zur Produktion neuer literarischer Texte, wie beispielweise Chris Bachelders Kurzgeschichte Gatsby’s Hydroplane, in der es darum geht, wie das Wasserflugzeug wohl ausgesehen haben mag (in: Subtropics 5 (Winter/Spring 2008)). 105 | Vgl. Froehlich: Jordan Baker, S. 83f. 106 | Vgl. Edward Wasiolek: »The Sexual Drama of Nick and Gatsby«. In: The International Fiction Review 19 (1992), S. 14-22, insbes. S. 18-21. Vgl. auch Froehlich: Jordan Baker, S. 85. 107 | Wasiolek: The Sexual Drama of Nick and Gatsby, S. 21. 108 | Greg Olear: Ga(tsb)y. In: www.theweeklings.com/golear/2013/01/08/gatsby, 08.01.2013, abgerufen am 10.03.2016.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

Erzählers, Nick, zu seinem Erzählgegenstand, Gatsby. Dessen Lächeln hat für Nick von Beginn an identitätsstiftende Funktion – analog zu käuflichen Dingen und ihren Fiktionswerten: He smiled understandingly – much more than understandingly. It was one of those rare smiles with a quality of eternal reassurance in it, that you may come across four or five times in life. It faced – or seemed to face – the whole eternal world for an instant, and then concentrated on you with an irresistible prejudice in your favour. It understood you just so far as you wanted to be understood, believed in you as you would like to believe in yourself and assured you that it had precisely the impression of you that, at your best, you hoped to convey. (GG 40, Herv. i.O.)109

Was Gatsby zum ›Great Gatsby‹ werden lässt, ist seine Kraft der Imagination110 – diese Eigenschaft teilt der Protagonist mit dem Text selbst. Nicht nur aufgrund der fragmentierten Erzählweise und der zuweilen bewusst unscharfen Präsentation von Ereignissen und Figuren,111 sondern auch aufgrund der filmischen Inszenierung mehrerer Passagen112 eröffnet der Text eine Bühne für die Imaginationen des Lesers. Unter den Vorzeichen affektiver Zuneigung erzählt Nick letztendlich wie Gatsbys Partygäste eine Geschichte davon, wer Gatsby ist – womit dieser für ihn wie für den Leser zum Text-Konsum-Objekt gerät, an dem sich wiederum Fantasien entzünden. Dabei spielt es nicht zuletzt eine Rolle, womit Nick sein Geld verdient: Die Erzählerfigur ist Teil des »bond business« (GG 6), das heißt: Er handelt beruflich mit Projektionen, Hoffnungen und Fiktionen. Dementsprechend ›verkauft‹ Nick dem Leser die Liebe zum Text-Konsum-Objekt Gatsby wie auch zum Text selbst, der wiederum der Nährboden für die ganz eigenen Fantasien des Lesers ist: Das Begehren von Liebe, Konsum und Geld ist dem Erzählverfahren von The Great Gatsby damit von Anfang an eingeschrieben. Dieses Begehren prägt die Rezeption wie den Konsum des Romans bis heute: »It is one of those novels that so richly evoke the texture of their time that they become, in the fullness of time, more than literary classics; they become

109 | Baz Luhrmann inszeniert die erste Begegnung von Nick und Gatsby als Höhepunkt der Gatsby-Party. Gatsbys Lächeln und erster Auftritt im Film wirkt, begleitet von Feuerwerk und dementsprechend dramatischer Musik, wie eine Offenbarung: Für Nick ist es Liebe auf den ersten Blick. Vgl. The Great Gatsby: 00:29:47. 110 | Vgl. Scott Donaldson: Gatsby and the Historical Antecedents for Gatsby. In: Harold Bloom (Hg.): F. Scott Fitzgerald’s The Great Gatsby. New York 2006, S. 114-119, S. 117. 111 | Vgl. Bruccoli: Introduction, S. 8f. 112 | Vgl. Berman: The Great Gatsby and Modern Times, S. 9f.

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a supplementary or even substitute form of history.«113 Wie stark das Imaginationspotential und der kulturelle Einfluss von The Great Gatsby war und ist, zeigt sich daran, dass sich die Werbeindustrie bereits in den 1960er und 70er Jahren des Romans bediente, um beispielsweise das Plaza Hotel in New York, Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Gatsby und Tom, zu bewerben, oder Hemden in ›West Egg Blue‹ zu verkaufen.114 Die Veröffentlichung des Films von Baz Luhrmann wurde 2013 nicht nur in vielen Großstädten von ›Gatsby Partys‹ begleitet, so dass sich die Besucher in die Welt des Romans versetzt fühlen konnten,115 sondern auch von der Werbeindustrie genutzt, um den ›Mythos Gatsby‹ neu zu beleben: Somit schließt sich in gewisser Hinsicht der Kreis, wenn Gatsbys Traum – beziehungsweise die Imaginationen der Leser davon – anhand von Konsumprodukten wie »Tiffany’s ›Gatsby‹-inspired jewelry collection, Prada’s exhibit of movie costumes and Brooks Brother’s new menswear line«116 am Leben gehalten wird.

2. C hristoph P e ters : M itsukos R estaurant Achim Wiese, der Protagonist in Christoph Peters’ Roman Mitsukos Restaurant, hegt, Fitzgeralds Gatsby nicht unähnlich, einen großen Traum. Es geht ihm zwar nicht um die Akquisition von Reichtum und Besitz, jedoch ebenso wie Gatsby um eine uneinholbare Vergangenheit: Achim träumt vom ›alten Japan‹, mithin einer Kultur, die nicht nur vergangen, sondern der mitteleuropäischen so fern ist, dass sie eskapistische wie exotistische Fantasien fördert. Ebenso wie 113 | Bruccoli: Introduction, S. 6. Diese Verwechslung von realer Historie mit der Fiktion prägt auch die Rezeption von Zolas Au Bonheur des Dames, vgl. dazu Uwe Lindemann: Das Warenhaus als Metapher für Gesellschaft. Émile Zola und das kollektive Imaginäre der frühen Konsumgesellschaft. In: Godela Weiss-Sussex, Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Konsum und Imagination. Tales of Commerce and Imagination. Das Warenhaus und die Moderne in Film und Literatur. Department Stores and Modernity in Film and Literature. Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2015, S. 35-53. 114 | Vgl. Anderson: Gatsby’s Long Shadow, S. 23. 115 | Vgl. www.imdb.com/title/tt1343092/trivia, abgerufen am 04.06.2016; sowie, deutlich kulturkritischer: Zachary M. Seward: The Sublime Cluelessness of Throwing Lavish Great Gatsby Parties. In: www.theatlantic.com/entertainment/archive/2013/05/ the-sublime-cluelessness-of-throwing-lavish-em-great-gatsby-em-parties/275592, 06.05.2013, abgerufen am 04.06.2016. 116 | Nancy Lazarus: ›Great Gatsby‹ Movie Promotions and Parties Capture Glamorous 1920s New York Lifestyle. In: www.adweek.com/prnewser/great-gatsby-movie-promotions-and-parties-capture-glamorous-1920s-new-york-lifestyle/64551, 01.05.2013, abgerufen am 04.06.2016.

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in Fitzgeralds Roman wird auch hier eine Struktur von Fetischen erster und zweiter Ordnung117 etabliert: Die fixe Idee118 des alten Japan fungiert als Fetisch erster Ordnung, dem Achim anhand von Fetischen zweiter Ordnung näher kommen möchte: japanische Speisen und Objekte, vor allem Teeschalen, sowie konsum-mediale Annäherungen wie Filme und Bücher. Die schöne Köchin Mitsuko, Chefin des titelgebenden Restaurants, in das Achim durch Zufall gerät, reiht sich in diesen Kreis der Fetische ein: Achim verliebt sich in Mitsuko, wodurch das Verhältnis der Fetischordnungen zueinander dynamisiert wird.

2.1 Dilettantismus, Romantik und Fetischismus Die Hauptfigur in Mitsukos Restaurant ist ein Mann verschiedenster Tätigkeiten: Zu Beginn des Romans ist Achim Schauspieler, er versucht sich nebenbei immer wieder als Dichter, gibt das Schauspielern schließlich auf und arbeitet als Koch, nur um am Ende sein Hobby, das Wandern, zu seiner Bestimmung zu erheben. Bei diesen Beschäftigungen leitet ihn zunehmend eine Sehnsucht, die etwas im Grunde Unerreichbarem gewidmet ist: die Kultur des alten, also längst vergangenen Japan erfahren zu können. Achim gebärdet sich dabei als Romantiker, bleibt jedoch bis zum Schluss Dilettant.119 Mitsukos Restaurant erzählt die Geschichte seines vielfachen Scheiterns. Das betrifft nicht nur sein Wilhelm Meisterliches Scheitern als Schauspieler120 oder sein Wertherisches Versagen als Dichter (vgl. MR 263), sondern auch die Hingabe an den selbst erwählten Fetisch Japan. Der Ursprung der Obsession japanischer Kultur liegt in Achims Kindheit begründet: »Mit sechs oder sieben hatte ihn der Anblick einer japanischen Cellistin im Fernsehen 117 | Vgl. Kap. II/3.1. 118 | Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 · 1900. 4. überarb. Aufl. München 2003, S. 136. Diese Kategorisierung ist nicht pathologisierend gemeint, sondern stellt den Protagonisten in die Tradition der Romantiker. Vgl. Kap. IV/2.1. 119 | Dilettantismus wird hier verstanden als ein Konzept, das um 1800 virulent wird und zwischen ›wahrem Künstler‹ und bloßem Liebhaber bzw. Kenner zu differenzieren sucht (vgl.: Uwe Wirth: Der Dilettantismus-Begriff um 1800 im Spannungsfeld psychologischer und prozeduraler Argumentationen. In: Stefan Blechschmidt, Andrea Heinz (Hg.): Dilettantismus um 1800. Heidelberg 2007, S. 41-50, S. 41). War der Begriff vormals positiv besetzt, wird er im Zuge der kunsttheoretischen Auseinandersetzungen um 1800 zu einer »Wertungskategorie problematischer oder gescheiterter Künstlerschaft.« (Simone Leistner: Art. Dilettantismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2001, S. 63-87, S. 64). 120 | Vgl. Christoph Peters: Mitsukos Restaurant. München 2009, S. 126. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle MR mit nachgestellter Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.

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derart hingerissen, daß er für den Rest seiner Kindheit entschlossen gewesen war, eine Asiatin zu heiraten« (MR 87). Am Beginn der Fetischisierung von Japan steht also ein erotisches Begehren japanischer Frauen sowie die Idee romantischer Liebe. Doch bis zum Kennenlernen der titelgebenden Figur Mitsuko ist Achim keiner asiatischen Frau je näher gekommen als dem Foto einer Brieffreundin aus Seoul (vgl. ebd.). Sein Interesse an Japan lebt er als Teenager daher vor allem durch den Konsum von Kunst aus: Im Unterschied zu seinem ebenfalls japanbegeisterten Freund Wolf, der sich für »traditionelles Kriegshandwerk und Kurosawas Historienfilme« (MR 13) interessiert, widmet Achim seine Aufmerksamkeit, »ausgehend von eigenen Holzschnittversuchen« (ebd.), der japanischen Kunst – zunächst vermittelt durch Bücher über Hokusei und Utamaro, beschäftigt er sich schließlich, auf der Suche nach »den Schlüsseln der Weltweisheit«, mit »den Schriften Suzukis und Okakuras« (ebd.). Kulturelle Objekte stehen damit schon von jungen Jahren an im Fokus seines Interesses, sie werden durch die Rückbindung an das Begehren asiatischer Frauen zunehmend als Fetische zweiter Ordnung etabliert. Über die Beschäftigung mit japanischer Kunst stoßen die beiden Abiturienten Achim und Wolf auf den für den Roman entscheidenden Aspekt japanischer Kultur: Essen. In einem Katalog des Düsseldorfer Hetjens-Museums über japanische Keramik finden sie die Anzeige eines japanischen Restaurants namens Kabuki, das sie im Anschluss an einen Museumsbesuch aufsuchen wollen. Zu dem Museumsbesuch kommt es indes nicht, weil sie aufgrund eines Eifersuchtsanfalls von Wolfs Freundin Maria zu spät in Düsseldorf ankommen (vgl. MR 12-14). Und auch der Restaurantbesuch scheitert, was jedoch nicht an ungenügender Planung liegt: »Sie hatten sich auf dieses Essen gründlicher vorbereitet als auf irgendeine der zurückliegenden Prüfungen und wußten doch nur schemenhaft, was sie erwartete.« (MR 9) Hier greift bereits das Konzept des Dilettantismus, weil Informationen über die japanische Kultur in einer noch nicht globalisierten und digital vernetzten Welt – die Ereignisse setzen im Jahr 1984 ein – nur schwer verfügbar sind und Restaurants fremder und ferner Länder in den Großstädten Deutschlands eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Das Restaurant Kabuki wirbt daher auch damit, einmalig in Deutschland zu sein (vgl. MR 10). Achim und Wolf haben, ohne jemals selbst in Japan gewesen zu sein, also gar nicht die Chance, über halbwegs authentische Informationen zu verfügen. Diesem Halb- bzw. Nichtwissen ungeachtet sieht sich Achim dennoch als »Authentizitätsfanatiker« (MR  15) in Sachen Japan und hat starke Zweifel daran, ob das Kabuki-Restaurant tatsächlich »authentische japanische Küche« (MR 17) anbietet. Der Zweifel wird durch den Namen des Restaurant unterstrichen: ›Kabuki‹ bezeichnet eine japanische Theaterform und suggeriert, dass alles nur Schein sein könnte. Der Blick auf die Speisekarte lässt Achim und Wolf ratlos zurück, vor allem weil drei Begriffe, die japanisches Essen für die beiden bis dahin signifiziert, auf dieser

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fehlen: ›Sushi‹, ›Sashimi‹ und ›Tempura‹ (vgl. MR 16). Das letztendliche Scheitern des Restaurantbesuchs liegt jedoch vor allem im monetären Defizit der Abiturienten begründet: Ihr Geld reicht nur für das Essen, nicht aber für Sake, so dass eine ganzheitliche Konsumerfahrung unmöglich ist – konsequenterweise schlussfolgert Wolf: »Dann ist es sinnlos.« (MR 18) Acht Jahre später ist Wolf ein erfolgreicher Schönheitschirurg, während sich Achim als Schauspieler am örtlichen Theater »Herz-und-Hirn« (MR 22) durchschlägt und in der Spielzeitpause »einer seiner nutzlosen Lieblingsbeschäftigungen nachg[eht]: Er macht[e] Waldspaziergänge.« (MR 23) Diese Spaziergänge sind jedoch vielmehr »ausgedehnte Wanderungen« (ebd.), denen Achim nur deshalb nicht ausgiebiger frönt, weil ihm die finanziellen Mittel für ein Leben auf Wanderschaft fehlen. Wie die Vorliebe für japanische Kultur beruht auch die Leidenschaft für das Wandern auf einer kindlichen Prägung: »Achim war immer gewandert. Schon als Kind hatte er seine Nachmittage mit stundenlangen Streifzügen durch die Auwälder und Streuwiesen rund um Huiswyck verbracht« (ebd.). Daraus resultiert der kindliche Berufswunsch, einmal »ein großer Naturforscher«121 (ebd.) zu werden, der mit der Erkenntnis, »daß es keine großen Naturforscher mehr gab, sondern nur Wissenschaftler auf immer kleiner werdenden Spezialgebieten« (ebd.), ein jähes Ende findet. Fortan wandert er »mit der Erbitterung eines Betrogenen […], der jenseits des Horizonts ein neues Ziel finden« (ebd.) will: Doch auch von diesem Gedanken eines noch zu definierenden Ziels verabschiedet er sich alsbald und wendet sich der Kunst und Kultur Japans zu. Das Wandern wird fortan zunehmend mit japanischer Kultur verknüpft. Mit der Einführung des Wandermotivs als ›nutzloser Lieblingsbeschäftigung‹ wird der Text romantisch aufgeladen: Nicht umsonst glaubt sich Achim auf seiner Wanderung im Sommer 1992 in einer mediterranen Landschaft wiederzufinden: In der flirrenden Hitze nahmen die Bauern- und Schrebergärten geradezu provençalischen Charakter an, so daß Achim sich zeitweilig nicht mehr gefühlt hatte, als wanderte er an den Rändern einer rheinischen Provinzhauptstadt, sondern durch eine mediterrane Landschaft. […] Der Boden war sandig, und die hohen, weit auseinander stehenden Kiefern hätten auch Pinien sein können, so daß Achim sich im gleißenden Mittagslicht abermals in den Süden versetzt gefühlt und Ausläufer des Apennin durchschritten hatte. (MR 24f.)

121 | Ebenso wie die Fixierung auf japanische Frauen könnte auch dieser Wunsch auf einem medialen Vorbild beruhen: Der Film Indiana Jones and the Temple of Doom (1984) wird gleich zu Beginn des Romans referenziert (vgl. MR 9).

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Die Anklänge an die Bildungsreisen und Wanderschaften in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sind mit dem Aufrufen südlicher Landschaften überdeutlich. Achim entspricht von Anfang an dem Paradigma des Romantikers, wie ihn Colin Campbell beschreibt:122 Er besitzt eine außergewöhnliche Gabe der Imaginationskraft und frönt daher exzessiv dem ›day-dreaming‹, um mittels der Einbildungskraft Zugang zu finden zur Welt des Wahren, Schönen und Guten.123 Auf Achims weiteren Wanderungen wird auf diese Weise die Sehnsucht nach einem »Früher« beschworen: Früher – nicht vor einigen Jahren, sondern in einem anderen Zeitalter, als die Welt noch Geheimnisse gehabt hatte und man sich auf Wanderschaft begab, um ihnen näher zu kommen, hätten ihn solche Sätze in einer Lebensphase wie dieser zweifellos dazu gebracht fortzugehen, in die Berge oder ins Weite – am Ende wäre die Unendlichkeit der Ebene nichts anderes gewesen als Gipfel, die auf Gipfel folgten – und eines Tages hätte er vielleicht das Ziel ohne Ort erreicht, ganz gleich, wo er gewesen wäre. Möglich aber auch, daß er sich gerade dadurch zum Idioten gestempelt hätte. (MR 154)

Es ist das Kōan Niederschrift von der Smaragdenen Felswand124 aus dem Bi-YänLu, einer alten chinesischen Schriftensammlung aus dem 12. Jahrhundert, das Achim zu dieser Fantasie anregt. Damit wird der Fetisch erster Ordnung dem asiatischen Raum zugeordnet und näher umrissen: Es geht um ein ›Früher‹, das zeitlich deutlich, nämlich um ein ganzes Zeitalter, von Achims Gegenwart getrennt und darüber qualifiziert ist, dass es in diesem früheren Zeitalter noch ›Geheimisse‹, sprich: Sinn gab, den es zu finden galt. Der Fetisch erster Ordnung wird hierdurch, untermalt durch das Setting (Achim befindet sich auf Wanderung in der Natur und zitiert laut Literatur), mit romantischer Geschichtsphilosophie verknüpft, bestehend aus dem »triadischen Schema aus idealisierter Frühzeit, einer negativ qualifizierten Gegenwart und einer projektierten idealen Zukunft.«125 Die idealisierte Frühzeit zeichnet insbesondere das Vorhandensein eines Sinns aus, der verloren gegangen ist und den es durch den Prozess der Romantisierung, wie Novalis ihn im Fragment Nr. 105126 122 | Vgl. Kap. II/1.2. 123 | Vgl. Kap. II/1.3. 124 | Der Roman zitiert die bis heute gültige Übersetzung von Wilhelm Gundert: Bi-YänLu: Meister Yüan-wu’s Niederschrift von der Smaragdenen Felswand, verfasst auf dem Djia-schan bei Li in Hunan zwischen 1111 und 1115, in Druck erschienen in Sïtschuan um 1300. Verdeutscht und erläutert von Wilhelm Gundert. 3 Bde. München 1960. 125 | Detlef Kremer: Romantik. 2. überarb., akt. Auflage. Stuttgart, Weimar 2003, S. 75. 126 | »Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder.« (Friedrich von Hardenberg: Fragment Nr. 105, in: Vorarbeiten zu verschiede-

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

beschreibt, wiederzufinden gilt. Bereits in den »Fetischismus-Geschichten der Romantik«, so Doerte Bischoff, »geht es [stets] um die Aneignung eines Letzten, Verborgenen, dem Zugriff menschlicher (Selbst-)Schöpfung und Bearbeitung vermeintlich Entzogenen.«127 Somit handelt es sich bei Achims fixer Idee des alten Japan um eine Sehnsucht nach einer Zeit, die es so nie wirklich gegeben hat, die man also nur aus Texten, mithin Literatur kennt. Achims Fantasie von einem früheren Zeitalter, in dem es noch ›Geheimnisse‹ gab, meint damit nicht nur jenes alte Zeitalter, von dem schon die Romantik träumte, sondern auch die Romantik selbst (sowie ihre Literatur), in der derartiges Träumen noch möglich war. In der postmodernden Realität Achims können solche Fantasien jedoch nur noch ironisiert werden, handelt es sich dabei doch um die Suche nach einem Sinn, der immer schon entzogen ist: Achim zerrt sich die Schulter beim Versuch, einen Ast wegzuschleudern, »um mit etwas, das wenigstens ansatzweise einer Tat ähnelte, auf das Kōan zu reagieren.« (MR 155) In Achims Fetisch erster Ordnung manifestieren sich damit genau jene ›Energien und Bedürfnisse‹, die laut Hartmut Böhme einst in vormodernen »Formen und Institutionen der Magie, des Mythos und Kultus, der Religion und der Festlichkeit«128 gebunden waren und in der Moderne freigesetzt »durch alle Systemebenen der modernen Gesellschaften«129 flottieren. Aus Sicht der Postmoderne könnte man sagen: Die Unmöglichkeit von Sinn tilgt nicht das Begehren danach – vielmehr wird es dadurch erst recht entfacht. Mitsukos Restaurant zeichnet den Fetischismus, der daraus folgt, ästhetisch nach. Das Wandermotiv kehrt am Ende des Romans noch einmal zurück und bekräftigt die romantische Aufladung des Textes: Es ist Achims 30. Geburtstag, den er am 28. Juli, dem Todestag Clemens Brentanos, mit einer Wanderung begeht.130 Dafür schlägt er sich in einem Waldgebiet nördlich des Rheins nen Fragmentensammlungen 1798. In: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Hans-Joachim Mähl, Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. München 1978, S. 311-424, S. 334, Ergänzung im Original). 127 | Doerte Bischoff: Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert. München 2013, S. 52. 128 | Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 22. 129 | Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 22. 130 | Wichtiger als die Referenz auf den Todestag Brentanos ist das Motiv des Geburtstages. Dieses hat in Goethes Werther eine ganz spezifische Funktion, die Gerhard Neumann dargelegt hat und die auch für Peters’ Roman relevant ist. Es geht dabei um die »Geburt des Subjekts nicht nur aus der die Sinne affizierenden Natur, sondern, in einem zweiten, die natürliche Dynamik steigernden und verwandelnden Akt, aus der ganz und gar eigenen, dem menschlichen Körper innewohnenden Kraft; einer Kraft, die nicht aus der Disziplin der Vernunft, sondern aus dem Begehren erwächst.« (Gerhard

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durch, das menschenleer ist und ihn an seine jugendlichen Ambitionen als Forscher und Entdecker erinnert: Nichtsdestoweniger kam er sich ein wenig wie ein Abenteurer vor, der allein ins Unbekannte zog, auf der Suche nach El Dorado oder einer neuen Passage für den Gewürzhandel. Längst hatte er die Hauptwege verlassen und betrat Pfade, von denen er nicht einmal sicher war, ob sie von Menschen oder von Tieren ausgetreten worden waren. Er gelangte in ein Gebiet, in dem große Mengen wilder Kirschen wuchsen, deren Früchte gerade reif waren. Anders als bei den kleinwüchsigen Plantagenbäumen vor der Autobahn, mußte er sich strecken, um an sie heranzureichen. (MR 359)

Das Essen der Kirschen vom Baum stellt eine Verbindung zu Achims Wanderung zu Beginn des Romans her, auf der er sich »den Bauch mit Schattenmorellen vollgeschlagen« hat (MR 24). Damit schließt sich narrativ der Kreis des Wandermotivs: Dies ist Achims letzte Wanderung, von der berichtet wird. Die Kirschen erinnern ihn an »Haiku von Kiefern und Kirschblüten« (MR  359), womit die japanische Kultur aufgerufen wird. Hinzu gesellt sich die Fantasie und Sehnsucht nach nicht domestizierter, unberührter Natur: Markierungen eines Fuchses oder Marders zogen ihm in die Nase, verwesendes Fleisch und wilder Urin. Achim dachte an Bären, Wölfe, die es hier schon länger nicht mehr gab, als irgendein Gedächtnis zurückreichte, allen Märchen zum Trotz, die nach wie vor von Großeltern erzählt wurden. In einem Anflug von Schmerz und Sentimentalität vermißte er die großen Wildtiere, deren Reich einst unmittelbar hinter den Zäunen menschlicher Behausungen begonnen hatte. Mit ihnen war die Welt ehrfurchtgebietender und tiefer gewesen. (MR 360)

Das Bild wird schließlich komplettiert durch ein weiteres Motiv der Romantik – Ruinen:

Neumann: »Heut ist mein Geburtstag«. Liebe und Identität in Goethes Werther. In: Waltraud Wiethölter (Hg.): Der junge Goethe. Genese und Konstruktion einer Autorschaft. Tübingen 2001, S. 117-143, S. 127). Achim verbindet mit seiner Geburtstagswanderung die Hoffnung, »auf diese Weise eine Richtung für das neue Lebensjahrzehnt zu finden« (MR 357): Auf dieser Wanderung beschließt er, selbst nach Japan zu gehen und dort zu wandern, mithin also genau jene Subjektkonstitution, die sich aus der die ›Sinne affizierenden Natur‹ und dem Begehren speist, zu verfolgen, die auch schon Werther be- und umtrieb. Der Satz »Heut ist mein Geburtstag« stammt zudem aus dem Brief vom 28. August, der eine Verbindung zum Fetischismus herstellt: In diesem Brief beschreibt Werther den Empfang der blassrosa Schleifen von Lotte, die für ihn zu einem Fetisch werden, mit dem er am Ende begraben werden möchte.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te Zwischen lichten Buchen entdeckte er Reste einer Anschüttung, die vor Jahrhunderten einer Burg oder einem Kloster als Schutz vor Feinden und Hochwasser gedient hatte, Überbleibsel dunkler Mauern, verwittert, größtenteils abgetragen. Weiter vorn ragten Ruinen auf, freistehende gotische Fensterbögen, eine Steintreppe. Festgestampfte Wege, auf denen zuzeiten Mönche oder Ritter gegangen waren, führten zwischen Fragmenten gestürzter Pfeiler und Säulen hindurch. Ein Kapitell, das ein einfaches Ornament aus Eichblättern geschmückt hatte, ragte zur Hälfte aus dem Boden. (MR 361)

Ruinen als ikonischer Inbegriff deutscher Romantik – man wähnt sich geradezu in einem Gemälde Caspar David Friedrichs – symbolisieren die Unwiederbringlichkeit vergangener Zeitalter. Achim sucht die Kommunikation mit den Erinnerungen, »die hier überall achtlos verstreut lagen, nicht seine waren und doch mit ihm sprachen.« (Ebd.) Die überzeitliche Verbindung zu diesen an Objekten haftenden Erinnerungen bleibt ihm jedoch versagt: Der Test, ob sich »ein kleiner Vogel« (ebd.) auf Achims ausgestrecktem Arm niederlasse und somit in der Wahrnehmung des Romantiker-Dilettanten einen Zugang zu den Erinnerungen herstellen würde, schlägt fehl. Achim bewegt sich daher durch das Ruinenfeld wie »durch sein eigenes Vergessen« und zum wiederholten Mal steigt in ihm der Drang auf, wie ein Dichter »den Moment mit einem Satz einzufangen« (MR  362): »Sein Mund machte Anstalten, Wörter zu formen, aber was auch immer die Sirenen in seinem Innern ihm vorgaukelten, er war so wenig Dichter wie Fährtensucher, Zen- oder Teemeister, und statt ein Haiku aufzusagen, schrieb er mit einer sonderbaren Armbewegung ein Loch in die Luft, das keine Bedeutung hatte.« (MR 362) Das Luftloch, ein Nichts im Nichts, zementiert seinen Status als Dilettanten, den Achim nun selbst erkennt. Er erliegt wie bereits Goethes Werther dem »metonymische[n] Mißverständnis, […] daß er seine rezeptive Empfindungsfähigkeit als Indiz für eine produktive Bildungskraft deutet.«131 Dies zeigt sich explizit in seiner Begegnung mit der Chinesin Yun Tsi, die besessen davon scheint, von einem deutschen Dichter ein Liebesgedicht geschrieben zu bekommen, und bereit ist, dafür mit sexuellen Gefälligkeiten zu ›bezahlen‹. Achim ist hin- und hergerissen zwischen Verweigerung und Versuchung: »Sie war schön, wie sie da saß und ihn ansah von jenseits der Zeit und des Raums, eine chinesische Prinzessin aus einer vorgeschichtlichen Epoche, als Verse noch ausgereicht hatten, das Herz einer Frau zu gewinnen, ein Schicksal zu wenden. […] Dermaßen aufgeweicht, hatte er weniger denn je Ähnlichkeit mit einem Dichter.« (MR 260) Achim wünscht sich in die Zeit, ›in der das Dichten noch geholfen hat‹ – frei nach dem Motto vieler romantischer Märchen – zurück, nur um nach mehreren Versuchen, Verse zu Papier zu bringen, erkennen zu müssen, »daß er allenfalls ein Hobbydichter« (MR 263) ist. Dabei hatte er Yun Tsi bereits bei 131 | Wirth: Der Dilettantismus-Begriff um 1800, S. 45.

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ihrer ersten Begegnung darüber aufgeklärt. Auf die Frage, was er denn schreibe, antwortete er: »Gedichte. Hauptsächlich. Aber sie taugen nichts.« (MR 121) Mit dem ›Taugenichts‹ ist denn auch jene literarische Figur aufgerufen, in deren Fußstapfen sich Achim zu Beginn des Romans zu befinden scheint, wenn er auf seiner Wanderung wie Eichendorffs Protagonist durch Zufall auf Ort und Objekt des Begehrens stößt: Während Achim sich kurz ausruht, wird sein Blick von einem japanisch anmutenden Werbeblock auf der Tür eines weißen Nissan-Kombis festgehalten, der im Schritttempo an ihm vorbeirollte. Der Wagen wendete unmittelbar vor der Schranke zum Waldweg, fuhr ebenso langsam wieder zurück und bog nach knapp hundert Metern in eine Einfahrt. Das Manöver war sinnlos und schien keinen anderen Zweck zu verfolgen, als Achim Wiese die Aufschrift Mitsukos Restaurant, Japanische Spezialitäten im Wanderheim […], Inh. Mitsuko Walther-Nishida zur Kenntnis zu bringen. (MR 26)

Die Werbeaufschrift weckt seine Entdecker-Neugier und lässt seine seit dem Abitur – und dem gescheiterten Ausflug mit Wolf – ein wenig erloschene Faszination für Japan (vgl. MR 29) erneut aufleben. In der Folge wird der Fetisch erster Ordnung mithilfe Achims romantischer Disposition und der daraus resultierenden Neigung zu eskapistischen Fantasien etabliert und exotistisch ausgeformt.132 Die Idee des alten Japan wird fortan quasi zu seiner blauen Blume, markiert sie doch Zeit und Ort dreier zentraler Begehren, die ihn seit seiner Kindheit begleiten: Erstens sehnt er sich aufgrund seiner Leidenschaft des Wanderns nach einer Zeit, in der es vermeintlich noch Sinnsuche und Sinnfindung gab. Zweitens resultiert aus dem Erlebnis der japanischen Cellistin im Fernsehen und der daraus folgenden Prägung auf den asiatischen Raum das Begehren japanischer Frauen – worauf wiederum drittens die Beschäftigung mit japanischer Kunst folgt, da japanische Frauen in seinem Leben abwesend bzw. nicht verfügbar sind. Dass Achim das alte Japan und nicht das moderne favorisiert, wird jedoch nicht nur anhand der Kunst deutlich, die er rezipiert. Bereits zu Beginn bringt er seine Abneigung gegenüber dem modernen Japan mittels einer Erinnerung an einen Ausspruch einer anderen Figur zum Ausdruck: »Das alte Japan ist wunderbar, aber kaum noch zu finden, und das

132 | Exotismus und Romantik ergänzen sich im Roman: Friedrich Brie vermerkte bereits 1920, dass der Exotismus aufgrund seines eskapistischen Charakters ein romantisches Phänomen sei. Vgl. Friedrich Brie: Exotimus der Sinne. Eine Studie zur Psychologie der Romantik. Heidelberg 1920, S. 17; vgl. außerdem dazu: Michael Mayer: Tropen gibt es nicht. Dekonstruktionen des Exotismus. Bielefeld 2010, inbes. S. 9-25.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

moderne ist wie Amerika, nur schlimmer.« (MR 56)133 Am Ende des Romans beschließt Achim daher, beides, das Wandern und die japanische Kunst, zusammenzubringen: Er möchte nach Japan gehen und die Wanderung Bashōs, die dieser im 17. Jahrhundert in seinem Reisetagebuch Auf schmalen Pfaden ins Hinterland festgehalten hatte, wiederholen, um entlegene, dünn besiedelte und nahezu unberührte Landschaften ausfindig zu machen (vgl. MR 362) – und, so die Suggestion, jenen Sinn als auch die Liebe zu finden, die ihm seine postmoderne Realität verweigert. Mit dem japanischen Restaurant entflammt daher nicht nur Achims Liebe zu japanischem Essen und japanischer Kultur, sondern auch jene zur Köchin Mitsuko. In Folge dessen wird auch sie zu einem Fetisch Achims,134 was er mit seinem Kindheitserlebnis begründet: »Weil Mitsuko eine unglaubliche Frau ist, vielleicht die Frau, von der ich schon als Kind geträumt habe. Weil ich spüre, daß mich mit ihr etwas Außergewöhnliches verbindet, etwas Kulturübergreifendes, Eurasisches, dem ich nachgehen muß, auch wenn es schwierig wird. […] Es ist etwas Uraltes an ihr.« (MR 113) Sie wird als japanische Frau, die in Deutschland lebt und in einem urdeutschen Wanderheim japanische Küche anbietet, die ideale Projektionsfläche für Achims Japan-Fetisch. Er sieht sie als »Sphinx« (MR 111), die, genau wie das von ihm erträumte frühere Zeitalter, ein dunkles Geheimnis birgt, das er ihr entlocken möchte. Dies begründet ihre Einzigartigkeit und Höchstrelevanz für ihn: »Ich habe noch nie jemanden getroffen, den man mit ihr vergleichen könnte.« (MR 112) Er stilisiert sie daher zu nichts weniger als seiner Seelenverwandten: »Wir tragen beide diese vorzeitliche Vergangenheit in uns, die weit über unsere jetzige Existenz hinausreicht. Ich sehe es in ihren Augen.« (MR  113) Damit ist die Verbindung zu Achims Fetisch erster Ordnung, dem alten Japan, explizit angesprochen: Die ›vorzeitliche Vergangenheit‹ verbindet beide Seelen miteinander; die körperliche Existenz transzendierend, verspricht sich Achim durch Mitsuko, geleitet von seiner Lektüre ihrer Augensprache, den Zugang zum alten Japan. Mitsuko changiert damit, ähnlich Daisy in The Great Gatsby, zwischen dem Status eines Fetisch erster und zweiter Ordnung, indem sie abwechselnd nur den Zugang zum pri133 | Christoph Peters behauptet, der Roman handele vom »abwesenden Japan« (vgl.: Von Japan lernen. In: www.zeit.de/kultur/literatur/2009-09/interview-christoph-pete​ rs, 18.09.2009, abgerufen am 27.12.2016). 134 | Laut Roland Barthes fungieren Objekte als Metonymien für das geliebte Subjekt. Hier scheint eine Umkehrung vorzuliegen: Achim kommt vom Objekt, dem geliebten Essen, überhaupt erst zum Subjekt, das in der Folge auch Ziel seiner Liebe wird. Die fetischistische Fixierung wird also metonymisch vom Objekt auf das Subjekt, und nicht vice versa, verschoben. Vgl. Roland Barthes: Das Schleifchen [Le Ruban]. In: Ders.: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. v. Hans-Horst Henschen [Original: Fragments d’un discours amoureux, 1977]. Frankfurt a.M. 1988, S. 178f.

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mären Fetisch verspricht und gleichzeitig von Achim gemäß dem Programm romantischer Liebe zur Seelenverwandten und damit einzig möglichen Partnerin – sprich: unersetzbar und unveräußerlich – stilisiert wird. Dafür muss Achim jedoch zunächst Zugang zu Mitsuko und ihre Zuneigung finden: Passend zu ihrem Restaurant erweist sich der Konsum japanischer Speisen als am erfolgversprechendsten.

2.2 Essen als Liebesdiskurs Hat der ›Startmechanismus Zufall‹135 Achim zu Mitsukos Restaurant geführt, so schlägt ihn die Widersprüchlichkeit der Lokalität – ein deutsches Wanderheim, das allen »gängigen Vorstellungen einer rustikalen Waldschenke« (MR  28) entspricht und dennoch mit Hinweisen auf japanische Küche versehen ist, wie einer »orangefarbene[n] Papierlaterne« (ebd.) und einer handgeschriebenen, japanische Speisen enthaltenden Karte – jedoch gleich wieder in die Flucht. Achim plagen, wie damals nach dem Abitur, Authentizitätssorgen; noch immer kann er mit den angebotenen Speisen nichts anfangen: »Achim schwankte zwischen der Erregung des Entdeckers, Zweifeln an der Echtheit des Entdeckten und ungläubigem Staunen über seine Naivität, die Möglichkeit eines ernstzunehmenden japanischen Restaurants in diesem Umfeld auch nur in Erwägung zu ziehen.« (MR 30) Den Namen ›Mitsuko‹ verdächtigt er der Erfindung geschickten Marketings, nachdem er eine japanisch aussehende Frau in der Küche erspäht hat – »professionelles Kochen [sei] in Japan Männersache« (MR  32), konstatiert Achim sein angelesenes Wissen. Er mustert die Bedienung und gleicht das, was er sieht, mit dem ab, was er in Filmen gesehen hat, »denen sein Japanbild entstammt[e]« (MR  31). Achims Vorstellung von Japan ist bis dahin ein rein medial vermitteltes und die Wirklichkeit des Wanderheims durchkreuzt diese grundlegend. Gleichzeitig verstellt dieses Bild aber auch den Blick auf die Realität, wenn er Eugen, der aus Birgelheim stammende Partner Mitsukos, für einen Japaner gleich einem »Wächter eines Shintō-Schreins« (MR 34) hält (vgl. auch MR 42f.). Achim ist konfrontiert mit einer Fremdheit, die jedoch nichts mit der exotistischen Fremde des alten Japan zu tun hat. Die bloße Möglichkeit der Erfahrung authentischer japanischer Küche, die eine Annäherung an den Fetisch des alten Japan verspricht, lässt Achim nicht los, so dass er seine Freundschaft mit Wolf reaktiviert und mit ihm kurz darauf Mitsukos Restaurant besucht. Dort setzt sich die Authentizitätsdiskussion, die in ähnlicher Weise bereits vor acht Jahren stattgefunden hatte, anhand der Einrichtung, der Gäste und der Bedienung wie der Speisekarte fort. Der erste Auftritt Mitsukos beendet diese Diskussion, indem Wolf anmerkt: »Und SIE 135 | Vgl. Kap. II./2.1.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

macht doch nun wirklich einen überzeugenden Eindruck.«136 (MR  43) Wolf, der es als Schönheitschirurg beruflich mit der Oberflächenverschönerung von Menschen zu tun hat und Frauen wie eine Ware nach ihrem Erscheinungsbild bewertet, schließt aufgrund von Mitsukos Aussehen auf ihre Herkunft und ihr Können als Köchin gleichermaßen. Auch Achim mustert Mitsuko, doch liegt ihm, dem Romantiker-Dilettanten, die Einschätzung Wolfs fern: »[J]edenfalls war ihre gesamte Erscheinung eindeutig japanisch: klein, schlank, großflächige Züge, heller Teint… – Und schön, außerordentlich schön war sie. […] ›Wie elfenbeinerne Netsuke.‹« (MR 44) Achims Wahrnehmung befindet sich direkt im Modus des »Ästhetizismus« (MR  46) – für den er die japanische Kultur verehrt – und verwandelt Mitsuko damit in ein wertvolles Kunstobjekt. Ihm geht es also zunächst nur darum, inwiefern sie in seine Vorstellung vom ›alten Japan‹ passt und für seinen primären Fetisch funktionalisiert werden kann. Die kulinarische Erfahrung, die ihm ihr Essen bereitet, besiegelt Mitsukos Schicksal in Achims Japan-Fantasie. Da Achim als Dilettant das Essen mit Stäbchen neu ist, wird der Konsum der Speisen verlangsamt, was er jedoch zunehmend auskostet: Andererseits schmeckte alles, was er versuchte, so ausgesucht fein, daß die erzwungene Langsamkeit auch ihr Gutes hatte: Mit der ihm eigenen Gier und europäischem Besteck wären die Häppchen […] binnen zwei Minuten verschlungen gewesen. So blieb ihm Zeit, die verschiedenen Geschmacksrichtungen abwechselnd zu versuchen, in Kombination mit einem Schluck Sake, über dem ein Hauch von Zedern schwebte, und immer neue Nuancen zu entdecken: Allein die Aromaexplosion, wenn er ein einzelnes, geröstetes Sesamkorn zerbiß, war so unerwartet, daß er sich fragte, ob die Körner auf den Brötchen seines Bäckers tatsächlich von der gleichen Pflanze stammten. (MR 50f.)

Ausgehend von der Aromaexplosion funkt es hier auch sonst gewaltig. Nicht nur bekommen Achims Stäbchen »allmählich einen festeren Griff« (MR 55), was in einer phallischen Symbolik seine Erregung zu bemessen vermag; ohne jemals japanisch gegessen und damit über auch nur eine Vergleichsreferenz zu verfügen, vermeldet er zudem: »SIE ist wahnsinnig gut«137 (MR 53). Dass diese Aussage nicht nur Mitsukos Kochkünste anerkennt, sondern auch einen Zustand emotionaler Aufruhr andeutet, lässt sich daran ablesen, dass Achim direkt im Anschluss »in einer Art Übersprungshandlung« (ebd.) aufsteht, um sich die Fische im Aquarium anzusehen. Der Tisch am Aquarium wird denn auch zum Lieblingsplatz des neuen Stammgastes: Innerhalb von vier Wochen besucht Achim Mitsukos Restaurant vier weitere Male (vgl. MR 84). Japanisches Essen wird damit zu einem Fetisch 136 | Herv. i. O. 137 | Herv. i. O.

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zweiter Ordnung, nicht nur weil es ein Abglanz von Achims primärem Fetisch zu sein verspricht, sondern auch, weil Achim gutes Essen zu einem ebenso wichtigen Aspekt seines Lebens wie das Wandern erklärt: »Es gab wenige Momente im Leben, die Achim so liebte [sic], wie die vor der aufgeschlagenen Karte eines Restaurants, dessen Küche er vertraute. Er sammelte alle Aufmerksamkeit und horchte in sich hinein. Ebenso wie selbst der großartigste Vers des passenden Augenblicks bedurfte, um ins Innerste eines Menschen vorzudringen, brauchte jede Delikatesse die richtige Stunde, um mehr zu sein als ein qualitativ hochwertiges Handwerkserzeugnis.« (MR 86) Dabei geht es Achim um mehr als wohlschmeckende Nahrungsaufnahme, gutes Essen vermag, wie es sich für Konsumobjekte im kulturellen Fetischismus gehört,138 in seinem Leben Sinn zu stiften:139 »An manchen Tagen wollte er sich ins Unbekannte stürzen, an anderen brauchte er einen gewohnten Geschmack oder eine vertraute Konsistenz, um in einer vom Uferlosen umspülten Welt eine Mahlzeit lang Halt zu finden. Wenn er in dieser Verfassung nicht bekam, was er wollte, fiel er in Verzweiflung« (ebd.). Mit einer derartigen Aufladung des Essens wird die Begegnung mit Mitsuko an diesem Abend, signifikanterweise begleitet von einem Gewittersturm, umso bedeutungsvoller. Es ist dieses Mal sie selbst, die das Essen an seinen Tisch bringt und dabei die Gelegenheit nutzt, sich beim Weggehen umzudrehen, um zu sehen, »ob Achims Aufmerksamkeit noch ihr oder bereits ihrem Essen g[i]lt« (MR 89). Die Blicke beider treffen sich »frontal« (ebd.). Aus diesem Blick, der Erzählung zufolge der erste direkte, beabsichtigte Blickkontakt zwischen den beiden, folgert Achim sofort: »Ich gefalle ihr […] aber was bedeutet das?« (ebd.). Was sich hier entspinnt, ist eine Wertherische ›Hermeneutik des Herzens‹, die nicht nur diese erste Begegnung zwischen Mitsuko und Achim prägt, sondern auch bis zum Ende des Romans bestimmend bleiben wird: Achim versucht in Mitsukos Verhalten – wie Werther in Lottes Augen140 – Liebe abzulesen. So meint er beispielweise, dass sie sich nur ihm »in ihrer ganzen Weiblichkeit« (MR 157) vorführe und sich überhaupt erst schminke, seit er im Restaurant verkehrt (vgl. MR 158) – alles natürlich zu dem alleinigen Zweck, ihm gefallen zu wollen. 138 | Vgl. Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 305. 139 | Vgl. dazu auch die Ausführungen Eva Illouz’ zum grundsätzlich romantischen Setting von Restaurants in: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn [Original: Consuming the Romantic Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, 1997]. Frankfurt a.M. 2007, S. 160. 140 | Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers [1774]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden. I. Abt. Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers, Die Wahlverwandtschaften, Kleine Prosa, Epen. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a.M. 1994, S. 10-266, S. 250.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

Die Sardinen, die sie ihm serviert, regen seine Fantasie an und transportieren ihn in eine andere Welt – ihm ist, »als stünde [er] an einem umtosten Kai. Er schloß die Augen, ob er nicht Wellen anbranden oder Möwen schreien hörte, und tatsächlich wurde aus dem Knirschen der Fischknöchelchen zwischen seinen Zähnen das Bersten von Muschelschalen im Sand.« (MR 90) Den Fiktionswert der Speise – der tiefe Eindruck durch den Geschmack, »den er mit niemandem teilt[e]« (MR  91) – möchte er Mitsuko kommunizieren: Als sie ihm den nächsten Gang serviert, versucht er, »ihren Blick festzuhalten, in der Hoffnung, daß sein eigener ihr erzählen würde, wie sehr ihm der Ausdruck zu Herzen gegangen war, den sie den Sardinen abgerungen hatte.« (Ebd.) An dieser Stelle jedoch öffnet sich für Achim ein Graben interkultureller Kommunikationsschwierigkeiten, der die ›Hermeneutik des Herzens‹ deutlich erschwert, wenn nicht verunmöglicht: »[D]och da er nie zuvor in japanische Augen eingetaucht war, kamen ihm Zweifel, ob sie ihrerseits seinen Blick richtig deutete« (ebd.). Indem sie am Tisch stehen bleibt, gibt sie ihm die Chance, noch etwas zu sagen, »nicht als Gast, sondern als Mensch – als Mann« (ebd.), doch Achim scheitert an dieser Herausforderung. Für die nächste Gelegenheit überlegt er, »was er Mitsuko sagen würde: zwei, drei Sätze, weder banal noch verquast, eine Spur poetisch, keinesfalls geschwollen.« (MR 93) Dazu jedoch kommt es nicht, da Eugen die Teller abräumt. Die Kommunikation zwischen Achim und Mitsuko stockt. Dies ändert sich, als Achim Zugang zu ihrer Küche bekommt: Eugen bietet Achim an, Mitsuko seine Komplimente selbst zu überbringen. Sie ist angesichts dieser Grenzüberschreitung zunächst wenig erfreut, lässt es jedoch zu. In der Küche miteinander allein, gerät die Konversation nur langsam in Gang – bis ein Begriff fällt, der die Spannung löst: »Tampopo!« (MR 97) Es ist Mitsuko, die dies auf Achims Suche nach dem Titel eines japanischen Films hin ausruft und dabei einen »Begeisterungsschrei« (ebd.) ausstößt. Ruft man sich in Erinnerung, dass zu diesem Zeitpunkt gerade ein Gewitter abzieht (vgl. MR 96), ist eine Referenz auf die berühmte Klopstock-Szene in Goethes Die Leiden des jungen Werthers141 kaum von der Hand zu weisen. Peters’ Roman beruft sich an dieser Stelle nicht nur auf eine der Begründungsszenen roman141 | Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 52f. Dass es ausgerechnet Goethes Werther ist, der hier als Referenztext fungiert, verwundert wenig vor dem Hintergrund, dass auch dieser Text von fixen Ideen und Fetischen handelt: Werther hält an Lotte, seinem primären Fetisch bis zum Schluss fest, indem er u.a. die blassrosa Schleifen, die sie ihm einst zum Geburtstag schenkte, mit ins Grab nimmt. Vgl. Neumann: »Heut ist mein Geburtstag«, S. 133; vgl. auch Roland Barthes: Das Schleifchen [Le Ruban]. In: Ders.: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. v. HansHorst Henschen [Original: Fragments d’un discours amoureux, 1977]. Frankfurt a.M. 1988, S. 178f.

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tischer Liebe als Seelenliebe in der deutschen Literatur,142 sondern persifliert diese zugleich: Tampopo (1985), wörtlich Pusteblume, handelt hauptsächlich von der Zubereitung japanischer Nudelsuppe und steht damit in starkem Kontrast zur deutschen Höhenkammliteratur. Hinzu kommt, dass der Film selbst eine Persiflage auf Klischees der Samurai-, aber auch Western- und Liebesfilme ist – ihn an dieser Stelle anzuführen, kommt einer Potenzierung dieser Persiflage gleich. Gleichzeitig verweist die Referenz auf eine wesentliche Verschiebung, die für Peters’ Roman entscheidend ist: War es für Lotte und Werther noch die Poesie, die die Verbindung stiftete, so ist es für Mitsuko und Achim japanisches Essen. In dieser Hinsicht ist ihr Ausruf von ›Tampopo‹ nur konsequent. Hinzu kommt, dass der Film in Nebenhandlungen immer wieder die Verbindung von Essen und Sex thematisiert: Tampopo sei vielleicht »the funniest movie about the connection between food and sex ever made«,143 resümiert ein Rezensent der Washington Post. Der Film thematisiert damit etwas, das auch den Roman Mitsukos Restaurant prägt: Die Möglichkeit, über den Konsum von Speisen einem anderen Menschen emotional wie sexuell näher zu kommen. Darüber wird noch zu sprechen sein. Achim bringt mit der Film-Referenz sein Dilettanten-Halbwissen ins Spiel: »›Ich liebe japanisches Kino. Kurosawa vor allem.‹ Genau genommen war das der einzige japanische Regisseur, den er namentlich kannte.« (MR 97) Das Gespräch nimmt nun Fahrt auf, da er merkt, dass Mitsuko »offenkundig einen Menschen [sucht], mit dem sie über Japan reden [kann]« (ebd.). Achim möchte diese Rolle unbedingt ausfüllen, um damit seine Einzigartigkeit ihr gegenüber zu markieren. Er umschifft die Klippen seines Unwissens geschickt, so dass er Mitsuko gar beeindrucken kann und sie ihm ihre Wertschätzung ausspricht (vgl. MR 98f., 103). Im Zuge dessen werden die Kommunikationsthemen, die die weitere Verbindung der beiden bestimmen werden, abgesteckt: japanische Kultur in Form von Büchern und Filmen, die Kunst des Kochens und die Teeschalen der japanischen Teezeremonie (vgl. MR 101-104). Da Achim vermutet, dass er damit Mitsuko – und auch seinem primären Fetisch – näherkommen könnte, werden die Objekte, die mit diesen Themen verbunden sind, zu Fetischen zweiter Ordnung. Folgerichtig führt Achim die Begegnung mit Mitsuko in eine »neue JapanPhase« (MR 110), die mit dem Begehren verzahnt ist, Mitsuko näher zu kommen: »Angespornt durch die Idee, Mitsuko mit Hilfe seiner Japankenntnisse 142 | Vgl. Friedrich A. Kittler: Autorschaft und Liebe. In: Ders. (Hg.): Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. München u.a. 1980, S. 142-173. 143 | Hal Hinson: Tampopo. In: The Washington Post, 17.06.1987, (www.washington-post.com/wp-sr v/style/longterm/movies/videos/tampoponrhinson_a0c94d. htm, abgerufen am 17.11.2016).

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

so zu beeindrucken, daß er über den geistigen Austausch zur Freundschaft und die Freundschaft wohin auch immer gelangen würde, hatte Achim seine alten Bücher zu japanischen Themen wieder ausgegraben« (MR  114). Bei den Büchern handelt es sich nicht nur um Fachbücher über Teekeramik und die Teezeremonie, Romane oder Bashōs Reisetagebuch (vgl. MR 114f.); das für Achim »mit Abstand Interessanteste« (MR  115) ist ein Nachdruck von Holzschnitten Utamaros, in denen »so wild und mit gynäkologischer Detailgenauigkeit kopuliert wurde« (ebd.), dass Achim sich Aufschluss über »erotische Verhältnisse[n] und Vorlieben in Japan« (ebd.) erhofft. Diese Holzschnitte sind für Achim deshalb so interessant, weil sie seine kindliche Prägung auf das Begehren asiatischer Frauen mit seiner Leidenschaft für japanische Kunst verknüpfen. Achim widmet sich im Zuge dieser neuen Japan-Phase erstmals auch der japanischen Teekeramik: Im Museum für angewandte Kunst bewundert er eine »hochwandige[n] Chawan mit grünblauer Tenmoku-Glasur« (MR 116), die ihn ebenso wie eine mitternächtliche TV-Doku über Teeschalen ratlos zurücklässt (vgl. MR 117). Achim versucht also, über den Konsum von Kultur und Medien Mitsuko näher zu kommen – der Erfolg bleibt, für ihn überraschend, jedoch zunächst aus: Sie reagiert auf die Thematisierung dessen, was er gesehen und gelesen hat, zunehmend zurückweisend. Nach drei Monaten stockt die Kommunikation der beiden noch immer (vgl. MR 118). Achim hält dies jedoch nicht davon ab, diese Stockung als Beweis der Zuneigung Mitsukos zu lesen: »Er führte diese Scheu darauf zurück, daß auch Mitsuko heimliche Gedanken hin- und herwälzte, von denen sie nicht wußte, was ihnen folgen würde.« (MR 118f.) Achim macht sich ernsthafte Hoffnungen auf eine Liebesbeziehung mit ihr, was nicht zuletzt daran erkennbar ist, dass er seine Anstellung als Schauspieler am Theater Herz-und-Hirn ohne Weiteres aufgibt, als er damit konfrontiert wird, seine nächste Rolle nackt spielen und dafür abnehmen zu müssen, das heißt: nicht mehr Mitsukos Speisen konsumieren zu dürfen (vgl. MR 125f.). Letztendlich steht dadurch der Künstler – immerhin wird Achim fürs Schauspielen bezahlt, eine gewisse Professionalität darf also zugrunde gelegt werden – vor der Wahl zwischen seiner Kunst und der Liebe zu einer Frau. Achim entscheidet sich für die Liebe und entpuppt sich damit neuerlich als Dilettant. Abermals ist die Restaurantküche der Ort, an dem sich die kommunikativen Stockungen zwischen Mitsuko und Achim zu lösen beginnen. Als Sue Anh, die Aushilfe, unerwartet kündigt, muss Achim aushelfen – dass die Wahl auf ihn fällt, liegt unter anderem daran, dass er Mitsuko erzählt hat, er könne kochen. In der Küche herrscht zwischen den beiden »beredte[s] Schweigen« (MR 139), von dem Achim nicht möchte, dass es endet. Inmitten der Beschreibung der Küchenarbeit fällt jedoch ein ganz beiläufiger Hinweis auf Achims Gefühlslage auf: »Anfangs schaute Achim regelmäßig zu Mitsuko hinüber – nicht aufgrund brennender Liebe, die ihn dazu zwang, sondern weil er Sorge

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hatte, durch ihre Prüfung zu fallen.« (MR 134) Besteht er diese Prüfung, wäre das »ein entscheidender Schritt in die Zukunft« (MR 137), denn Mitsuko gäbe ihm einen Grund, in der Stadt zu bleiben, in der ihn sonst nichts mehr hält: »[I]hre Küche [wäre] der beste Platz« (ebd.) für ihn. Achims Hilfe in der Küche ist somit gleichsam seine Bewerbung für einen doppelten Platz in Mitsukos Leben: als Mitarbeiter bzw. Geschäftspartner und als Liebhaber bzw. Lebensgefährte – beides geht Hand in Hand. Achim besteht trotz Komplikationen die erste Hürde der Prüfung und Mitsuko attestiert ihm, er sei die beste Hilfe, die sie je hatte (vgl. MR 139). Da gerade Personalmangel herrscht, wird er vorerst weiter engagiert, sein Platz in ihrer Küche also verstetigt, die Nähe zu seinen Fetischen, japanisches Essen und Mitsuko, auf Dauer gestellt. Essen und Konsum wirken hier als ›Enzym‹ der Liebe, denn dieser Küchen-Erfolg führt bei Achim zum »manisch-depressiven Zustand schwerer Verliebtheit« (MR  142), der zweierlei Effekt zeitigt: Zum einen erhält Mitsuko den Status eines primären Fetischs, da sie gemäß dem Code romantischer Liebe von nun an weder ersetz- noch austauschbar ist. Als Nachfahrin der Burgherren von Tokoname, als die sie sich am Ende entpuppt (vgl. MR 392), stellt sie nicht nur genealogisch, sondern auch physisch eine Verbindung zum alten Japan her: Mit der emotionalen wie sexuellen Vereinigung mit Mitsuko wäre Achim seinem primären Fetisch des alten Japan nie näher gewesen. Zum anderen reflektiert Achim über die romantische Liebe selbst, nachdem er die Eventualitäten einer Übernahme des Restaurants durch ihn und Mitsuko abgewogen hat (vgl. MR 142f.) Da derart rational-philisterhafte Überlegungen jedoch des Tätigwerdens bedürften, zu der der Romantiker Achim nicht bereit ist, »leitet[e] er keine Schritte ein, um irgend etwas zu erreichen, sondern überl[ässt] sich wie eh und je dem, was sich ergab. –« (MR 143). Gegenüber Wolf verbrämt er die Arbeit in Mitsukos Küche zur perfekten Partnerschaft: »Wenn Du den Gleichklang spüren würdest, der den Raum füllt, wenn Mitsuko und ich zusammenarbeiten […]. Sobald wir richtig eingespielt sind, […] werden wir uns perfekt ergänzen.« (MR 145) Gemäß des Codes romantischer Liebe sieht Achim sich als einzigen Mann, der Mitsuko versteht (vgl. MR 145), was Wolf als »Romantikerquatsch« (ebd.) abtut, mit dem man eine japanische Frau nicht beeindrucken könne. Daraufhin rechtfertigt Achim die Liebe zu Mitsuko gegenüber sich selbst: Er war verliebt, allerdings nicht zum ersten und vermutlich auch nicht zum letzten Mal. Daraus konnte eine Affäre werden oder das, was man Beziehung nannte, oder gar nichts. Das Gefühl würde sich in jedem Fall verändern, ins Unerträgliche wachsen, auf Normalmaß zusammenschrumpfen, sich in Freundschaft, Abscheu oder Haß verwandeln. Am wahrscheinlichsten war, daß es irgendwann verschwunden wäre und im Rückblick wie ein kindischer Irrtum dastünde, den man achselzuckend der Vergangenheit zuschlug. Bis dahin fand all das statt, wovon Bücher und Filme handelten, und das für einen infor-

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te mierten, nachmodernen Menschen eigentlich auf den Müll der Kulturgeschichte hätte gehören sollen. Aber auf dem Thron aus Wissenschaft und Vernunft saß ein ICH, das ohne Überhöhung und Verklärung seine Bedeutung verlor. Ohne den Mehrwert des großen Gefühls war die Mühsal, die jede Anwerbung einer Geschlechtspartnerin bedeutete, reine Energieverschwendung, und man konnte ebensogut ins Bordell gehen oder in ein Land ziehen, in dem die Ehen von den beteiligten Familien arrangiert wurden, oder gleich in den Rhein springen. Nichts von alledem hatte Achim vor, und deshalb blieb er bei seinem Entschluß, das Pflänzchen Liebe eine Weile zu gießen, selbst wenn er wußte, daß es aus Kunststoff war. (MR 146f.)

Als Individuum einer postmodernen Gesellschaft weiß Achim um die Unmöglichkeit romantischer Liebe und glaubt dennoch daran: ›Je sais bien … mais quand-même‹ – es ist nicht nur der Fetischismus,144 der von diesem Satz lebt, sondern auch die postmoderne Liebe. Sie erweist sich in Achims Reflexion als letzte Bastion, die dem ›ICH‹ Sinn und Bedeutung geben kann. Dieser Befund geht mit den Theorien Luhmanns und Illouz’ konform, wonach die Liebe die Religion in der Funktion der Subjektkonstitution abgelöst hat:145 »Die große Liebe ist eine Erfindung der Literatur, so wie das Paradies eine Erfindung der Religion ist« (MR 158), resümiert Achim wenig später. Ohne die Bedeutungsstiftung durch die Liebe bleibt dem Individuum nur die Flucht in vergangene Zeiten (arrangierte Ehen), in den Geschlechtsakt als Geschäftsakt (die Prostitution) oder die Vernichtung (der Sprung in den Rhein). Keine dieser Alternativen scheint ihm erstrebenswert und so beschließt Achim, dass es die Liebe sein soll, die seinem Leben Sinn gibt, so hoffnungslos es auch sein mag – versinnbildlicht im Paradox der Plastikpflanze, die er trotz des Wissens um ihre Leblosigkeit zu gießen gedenkt und damit entgegen aller Vernunft auf Wachstum hofft. Diese Liebe wird konsequenterweise in der Küche Mitsukos schließlich ausdrücklich kommuniziert. Aufgrund des Kommunikationscodes des ›beredten Schweigens‹ zwischen Achim und Mitsuko übernimmt dies jedoch eine dritte Person: Sue Anh erwischt die beiden, als Eugen gerade nicht da ist – ein sehr seltener Moment – und Achim es gewagt hat, Mitsuko darauf anzusprechen, dass sie unglücklich wirke. Sie weicht ihm jedoch aus, indem sie diese Wirkung auf ihr Außenseiterdasein gründet, dass sie »hier gar nicht dazugehören« (MR 169) könne. Achim ergreift die Chance und stilisiert sich anhand seines Dilettantendaseins zum Gleichgesinnten: »Ich auch nicht, wenn dich das tröstet: Ich bin kein richtiger Schauspieler, kein Künstler, kein Dichter, kein Koch.« (Ebd.) Mitsuko stimmt ihm zu: »Vielleicht verstehen wir uns deshalb.« (Ebd.) Derart ermutigt, wagt Achim sie nicht nur zufällig, sondern ge144 | Vgl. Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 14. 145 | Vgl. Kap. II/2.

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zielt zu berühren: Auf dem Weg zum Kühlschrank bleibt er unmittelbar hinter ihr stehen und fährt »ihr leicht über die Schulter bis zum Halsansatz« (ebd.). In diesem Moment platzt Sue Anh herein: Sie wirft Mitsuko vor, dass sie sich ihren »Liebhaber in die Küche geholt« (MR  170) habe, der »blind vor Liebe ist, hörig wie ein Hündchen« (MR 171). Dass Achim bei der Berührung seines Fetischs erwischt wird, lässt ihn unweigerlich dissoziieren: Unfähig zu reagieren, wirkt Sue Anhs Auftritt für ihn wie eine Szene im Theater, die er sich ansieht, »als hätte sie nicht das geringste mit ihm zu tun.« (MR 170) Mitsuko fällt damit die Aufgabe zu, Sue Anh zum Gehen zu bewegen. Doch »[w]as Sue Anh gesagt hatte, war nicht mit ihr hinausgerannt. Es füllte den Raum. In welche Richtung auch immer sie sich bewegten, sie stießen daran. […] Und seine Liebe lag jetzt offen auf dem Tisch. Er hätte sie mit einem Satz zurücknehmen können, doch er schwieg auch dazu. Mitsuko sollte sie sich in Ruhe anschauen und entscheiden, was sie damit anfing.« (MR 172) Indem die Liebe nun ›auf dem Tisch‹ in Mitsukos Küche liegt, wird diese mit den japanischen Speisen analogisiert. Folgerichtig soll Mitsuko sie sich ansehen und entscheiden: Genießbar oder nicht? Wenn ja, konsumieren oder nicht? An diesem Abend fällt in dieser Hinsicht keine Entscheidung, die Passage bricht an dieser Stelle ab. Je länger die Liebe jedoch unangetastet auf dem Tisch liegt – um im Bild des Konsums zu bleiben –, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie verdirbt. Die Sprache des Konsums, genauer: des Essens, erweist sich damit als der sich ausdifferenzierende Sonderhorizont146 von Achim und Mitsuko, man könnte auch sagen: als ihr Liebesdiskurs. Eine der ersten Bekundungen seines Begehrens lautet dementsprechend: »Fürs erste wäre ich schon froh, wenn ich für sie kochen könnte. Oder den Tee von ihr zubereitet bekäme, in einer alten Schale unter einer Kalligraphie oder einem getuschten Bambus im Wind.« (MR 113) Als er die Faschingstage mit einer Freundin in München verbringt – inklusive schlechtem Gewissen gegenüber Mitsuko – reinstituiert er seine Liebe für sie anhand der Vorstellung, wie es wohl wäre, »mit Mitsuko fünf Tage zwischen Bett, Markt und Küche zu verbringen« (MR  180). Und während er diese Fantasie hat, erzählt er Mitsuko von seinen Koch-, nicht aber Bettabenteuern in München, woraufhin auch sie ein Begehren zum Ausdruck bringt: Sie »seufzte und sagte versonnen, als dächte sie an etwas ganz und gar Unmögliches: ›Dein Lamm würde ich auch gern mal essen.‹« (ebd.) Dass es sich dabei um mehr als eine bloße Anzeige von Appetit handelt, sondern um die Anzeige eines Begehrens, das weit über die vermeintliche Unschuld des Essens – Lamm – hinausgeht, zeigt sich bei der Essenseinladung, die daraus folgt. Der Dilettant und Romantiker Achim lädt Mitsuko – und notgedrungenerweise auch Eugen und Yun Tsi – zum Essen zu sich ein und muss nun seinen 146 | Vgl. Kap. II./2.1.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

›schönen‹ Worten erstmals Taten folgen lassen: »Achim blieben anderthalb Wochen, um sich auf ein Menü vorzubereiten, das mindestens die Standards für eine Meisterprüfung erfüllen mußte. Einmal mehr haßte er sich für sein eigenes Gequassel, das ihn immer wieder fortriß und in Phantasien hineinzog, die sich eigentlich der Schönheit der Worte verdankten. Die Reaktionen der Zuhörer zeigten jedoch, daß sie sich keineswegs mit Sprachspielen zufriedengaben« (MR 181). War die Anstellung in Mitsukos Küche eine erste Bewerbung und Prüfung gewesen, so folgt nun die Meisterschaft: Der Abend soll entscheiden, ob Achim als Koch taugt – und ob er für Mitsuko mehr sein kann als ein Arbeitskollege:147 Mitsuko, auf die es ankam, stieß nach dem ersten Bissen eine Art Juchzer aus, der wohl dem japanischen Repertoire vorsprachlicher Laute entstammte, und schob beinahe tonlos »Perfekt« hinterher. Unter dem Tisch drängte sich ihr Knie gegen seins, nur kurz, aber so nachdrücklich, daß es kein Versehen sein konnte. In ihren Augen blitzte etwas auf, das bislang nicht darin gewesen war. Es hing zweifellos mit dem Essen zusammen. Achim ahnte auf einmal, warum sie diesen Schweizer Säufer geheiratet hatte. Wer etwas von den Geheimnissen der Kochkunst begriffen hatte, konnte zum Beispiel mit Hilfe einer Sauce Botschaften in ihren Organismus einschleusen, gegen die sie machtlos war. Wahrscheinlich drangen sie gar nicht bis in ihr Bewußtsein vor, sondern übernahmen die Herrschaft über ihr Gefühlsleben ähnlich einem Liebeszaubertrank früherer Epochen. (MR 185)

Die Passage legt dar, dass Achim mit seinem Essen zweierlei gelungen ist: Erstens verfügt er nun über die Erkenntnis, dass der Konsum gelungener Speisen der Königsweg zu Mitsukos Unbewußtem ist; und zweitens, in Folge 147 | Dass beides Hand in Hand geht, zeigt das vierte Kapitel, das sich als einziges Mitsukos Geschichte und ihrer Perspektive widmet. Darin erfährt man, dass Mitsuko ihren ersten Mann Harald Walther vor allem, wenn nicht allein deshalb heiratete, weil er ihr verspricht, mit ihr ein eigenes Restaurant zu eröffnen (vgl. MR 71). Auch die Affäre mit Ferdi Kapellen, die sie nach Birgelheim bringt, gründete auf dessen Besitz einer Hotelanlage mit Restaurant, in dem Mitsuko kochen soll. Eugen Schober schließlich ist derjenige, der die japanische Einrichtung dieses Restaurants zimmern soll und daher viel Zeit mit ihr verbringt: »Obwohl oder weil sie außer der Liebe zu gutem Essen nichts gemeinsam hatten, verstanden sie sich mühelos.« (MR 77) Als sich Ferdi Kapellen, ein windiger Betrüger, aus dem Staub macht, ist es Eugen, der Mitsuko rettet: Sie erkennen in ihren Fähigkeiten – sie als Köchin, er als nebenberuflicher Sommelier – eine perfekte Ergänzung und beschließen, gemeinsam ein Restaurant mit den Möbeln, die Eugen bereits angefertigt und für die er keinen Abnehmer hat, zu eröffnen. Auch diese geschäftliche Beziehung geht mit einer privaten einher: Mitsuko und Eugen werden ein Paar. (vgl. MR 78-80).

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dessen, ein substitutiver Penetraktionsakt. Die Gleichsetzung des Essens mit dem Liebeszaubertrank vergangener Epochen verknüpft Mitsuko abermals mit Achims Fetisch erster Ordnung, der Idee einer längst vergangenen Zeit voller Geheimnisse. Daran anknüpfend verschiebt sich die daraus folgende Konversation an diesem Abend: Anstatt den Ansatz der Verführung durch Essen weiterzuverfolgen, schlägt Achim einen anderen Weg ein. Quasi aus dem Nichts fordert er von Mitsuko: »Demnächst mußt du dann mal eine Chanoyu für mich machen« (MR 186). Achim errötet und bekommt Angst vor der eigenen Courage, »weil es vermutlich ein grober Verstoß gegen alle Anstandsregeln war, sich bei einer Japanerin selbst zur Teezeremonie einzuladen.« (Ebd.) Er relativiert seine Aussage daraufhin, nur um seinem Begehren nochmals Ausdruck zu verleihen: »War natürlich Spaß … Aber deine Chawan würde ich wirklich gern einmal sehen. Überhaupt deine Teekeramik. – Du hast richtig alte Stücke, oder?« (MR 187) Das Erröten Achims suggeriert, dass es sich hierbei um mehr als ein Interesse an alter Keramik handelt, nämlich um ein sexuelles Interesse an der Besitzerin. Diese Passage markiert eine signifikante Verschiebung nicht nur des Gesprächs an diesem Abend, sondern auch der Narration des Romans: Obwohl Achim mit der Verführung durch Essen erfolgreich sein könnte, jetzt, da er weiß, dass dies der Weg zu Mitsukos Unbewußtem ist, gibt er dieses Unterfangen scheinbar völlig auf. In der Folge ist von japanischem Essen sowie vom Zusammenhang von Essen und Liebe, wie ihn das Stichwort ›Tampopo‹ für Achim und Mitsuko etabliert hatte, im Roman kaum noch die Rede. An dessen Stelle tritt ein Objekt, das die Bedeutung des primären Fetischs des alten Japan unterstreicht und ins Zentrum der Beziehung von Achim und Mitsuko rückt: die Teeschale. Obwohl Mitsuko auf Achims Versuche, ihre Sammlung von Teeschalen anzusprechen, bisher stets abweisend reagiert hatte, wirft er – angespornt von seinem Erfolg mit dem Abendessen – diese Bedenken nun über Bord, »zumal es bei Lichte besehen keinen vernünftigen Grund gab, das Thema Teeschalen zu meiden, als handelte es sich um eine finstere erotische Obsession.« (MR 187) Mit dem Verweis darauf, dass die Teeschalen gerade nicht der gängigen Definition eines Fetischs entsprächen, wird diese Fixierung von Achim jedoch verdächtig, genau das zu sein: ein Fetisch. Achim lässt daher nicht locker: Er holt ein Buch über Teekeramik aus dem Regal, weist darauf hin, dass ihm dazu der richtige Zugang fehlt, und hockt sich neben Mitsuko: Er blättert ihr die Seiten auf, »so daß sein linker Oberarm auf ihren Schenkeln ruhte« (MR 188). Was Achim hier konkret betreibt, entspricht seinem Plan, anhand von japanischer Kultur und ihren Gegenständen Mitsuko physisch wie emotional näher zu kommen, sprich: das Unwahrscheinliche – Liebe – wahrscheinlich zu machen. Dass er dabei zugleich versucht, Mitsuko zur gemeinsamen Lektüre zu bewegen, unterstreicht die Absicht dieses Unterfangens, handelt es sich dabei doch um einen erotischen Topos, der vor allem bei Dante und später

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

bei Goethe zu Berühmtheit gelangte.148 In diesem Zuge erklärt er Objekte zu einem Pfeiler der Subjektkonstitution, sie treten damit neben die romantische Liebe: »Ich glaube, daß es sich anders anfühlt, jetzt mal ganz gleich, ob man Deutscher oder Japanerin ist, wenn man aus einer Familie stammt, die fünfhundert Jahre oder noch älter ist[.] […] Das ändert den Blick auf das eigene Land, auch das Selbstwertgefühl, da bin ich mir sicher. Gerade wenn sich das in solchen Gegenständen materialisiert, die aufgeladen sind mit Vergangenheit.« (MR 191) Da Achim über keinen Familienbesitz149 dieser Art und damit keinerlei »Biographie-Requisiten«150 verfügt, er sich mithin als identitätslos empfindet – »Ich komme quasi aus dem Nichts« (MR 192) –, erklärt sich daraus seine Sehnsucht nach Sinn- und Identitätsstiftung, die er an seinen Fetisch des alten Japan, an die Liebe zu Mitsuko und zu alten, besonderen Gegenständen wie Teeschalen knüpft. Daraus ergibt sich schließlich eine triadische fetischistische Konstellation: Der Fetisch erster Ordnung, die Idee des alten Japan und dessen Objekte, mit denen Achim Sinnstiftung verbindet, dienen der Subjektstabilisierung. Laut Böhme können dies nur Fetische erster Ordnung leisten, da sie als »Ich-Dinge«151 unveräußerlich sind und nicht zirkulieren. Was jedoch zirkuliert, sind die Fetische zweiter Ordnung, anhand derer Achim glaubt, seinem primären Fetisch näher kommen zu können, weil sie einen gewissen »Abglanz des Fetischismus erster Ordnung«152 enthalten und damit ebenfalls zur Subjektstabilisierung beitragen können: Mitsuko, changierend zwischen primärem und sekundärem Fetisch, gehört dazu ebenso wie die Teeschalen, die als Stellvertreter der japanischen Kultur dabei helfen sollen, Mitsuko und dem alten Japan näher zu kommen. In diesem Fetisch-Dreieck ist Mitsuko den Teeschalen potentiell gleichgestellt: Diese Konstellation ist für die Liebesgeschichte von Achim und Mitsuko wie für die Narration des Romans signifikant, denn sie begründet Achims Scheitern an den Objekten seiner Liebe. 148 | Vgl. Kittler: Autorschaft und Liebe, S. 142-173. 149 | Vgl. dazu auch MR 154f.: Auf einer seiner Wanderungen betrachtet Achim »[w]eiter oben am Hang […] die Häuser der Reichen […]. Viele Fenster waren erleuchtet, obwohl es erst gegen Mittag ging. Achim dachte an Kunstwerke und Bibliotheken, an all die kostbaren Dinge, die Familienbesitz hießen und die ihm zeitlebens fehlen würden, da seine Eltern infolge von Krieg und Fortschrittsglaubens nichts besaßen, das überzeitlichen Wert hatte und das er dereinst hätte erben können.« (Herv. i. O.) Diese Passage erinnert an Gatsby, der vor Daisys Haus stehend ebenfalls die Identitätsstiftung durch Dinge begehrt, was ihm, wie Achim, durch Herkunft und Krieg bislang versagt geblieben ist. 150 | Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2009, S. 53. 151 | Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 303. 152 | Ebd., S. 305.

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2.3 Liebes-Objekte: Scheitern am Fetisch Wenige Tage nach dem Abendessen bei ihm unternimmt Achim den ersten von – ganz wie in romantischen Märchen – drei Versuchen, eine Teeschale zu erwerben. Die Persistenz, mit der er dieses Unterfangen verfolgt, liegt in deren Eigenschaften als Fetisch begründet. Laut Hartmut Böhme suggieren Objekte als Waren »Lust/Unlust, Partizipation/Nicht-Partizipation, Glück/NichtGlück, Schönheit/Nicht-Schönheit, Sinn/Nicht-Sinn […] Sein/Nicht-Sein«153 – genau jene Geheimnisse, die sich Achim von seinem Fetisch Japan erhofft. Die Teeschalen erhalten damit den Doppelstatus der Ware als Fetisch, »Ding und Symbol, Immanenz und Transzendenz uno loco zu vereinen.«154 Bei der ersten Teeschale handelt es sich um eine »kleine Schale aus – wie der Händler versichert[e] – zweihundert Jahre altem japanischem Imari-Porzellan« (MR 194), über dessen Authentizität wie Wert sich Achim nicht sicher sein kann: »Siebzig Mark waren viel Geld für einen völlig nutzlosen Gegenstand« (ebd.). Was ihn letztendlich aber doch zum Kauf bewegt, ist die Verbindung der Teeschalen mit Mitsuko: »Andererseits hatte er das vibrierende Gefühl, Mitsukos Geheimnissen mit dem Erwerb dieser Schale ein Stück näherzukommen.« (Ebd.) Ähnlich wie das Essen könnte, so seine Annahme, die Teeschale ihre Liebe katalysieren. Dementsprechend aufgeregt trägt Achim die Schale zu ihr – doch da Wolf im Restaurant ist und dies beinahe zu einer Eifersuchtsszene mit Eugen führt, gerät die Schale fast bis zum Ende des Kapitels in Vergessenheit. Bis auf Achims Antwort auf Eugens Frage, was er denn da habe, erfährt man nichts mehr über sie oder die Reaktion Mitsukos. Die Teeschale verschwindet als ›nutzloser Gegenstand‹ aus der Narration. Kurz darauf folgt der zweite Versuch, da mit einer ›Japanwelle‹, die die Stadt erfasst, auch ein neues Geschäft eröffnet, das »japanische Produkte gehobener Qualität« (MR 202) anbietet. Zusammen mit Wolf erkundet Achim den Laden. Aus der mitternächtlichen TV-Dokumentation weiß Achim, dass man sich einer Teeschale vorsichtig nähern müsse und diese nicht einfach wie jedes andere Konsumobjekt kaufen könne – schließlich wähle die Schale den Besitzer und nicht umgekehrt (vgl. MR 117). Teeschalen sind damit in Achims Vorstellung mit einem Agens aufgeladen, das er nun ergründen möchte: »Erst muß ich überhaupt herausfinden, ob ich zu einer dieser Schalen eine Beziehung auf bauen kann. Es geht ja nicht darum, hier einzufallen, ein Ding abzugreifen, Geld auf den Tisch zu knallen – und ab nach Hause damit.« (MR 206) Und weiter: »Diese Schalen biedern sich halt nicht an. Du mußt Geduld mitbringen. Jede hat ihre eigene Persönlichkeit. Sie sind durchs Feuer gegangen, ein regelrechtes Inferno. Der Brand hätte sie zerstören können.« (MR 207) Aus 153 | Ebd., S. 287. 154 | Ebd., Herv. i. O.

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der Anthropomorphisierung der Teeschalen ergibt sich Achims Überraschung, als er eine der Schalen berührt: »Sie war überraschend kühl. Aus irgendeinem Grund hatte er gedacht, daß sie die Körpertemperatur eines lebendigen Wesens haben müßte.« (Ebd.) Das hält ihn jedoch nicht davon ab, weiter zu anthropomorphisieren: »Achim schossen Geschichten von magischen Objekten durch den Kopf, die sich dem Zugriff durch Unbefugte entzogen. Er dachte an die mit Goldfugen reparierten Schalen aus den Büchern und fürchtete, diese könnte ihn ebenfalls zurückweisen, ein plötzliches Zittern auslösen, ihm wie verhext aus den Fingern gleiten und in tausend Stücke zerspringen.« (MR 208) Mit der Erhebung der Teeschalen in die Kategorie magischer Objekte wird ihr Status als Fetisch unterstrichen. Die Anthropomorphisierung hat schließlich laut Hartmut Böhme den Zweck, »quasi-personale Beziehungen zur Ware aufzubauen wie Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Sicherheit, […] Identifikation, affektiv-erotische Bindungen, Optimismus etc.«155 Mit der Charakterisierung der Teeschalen lässt sich nun auch Mitsukos Bedeutung für Achim neu evaluieren. Ähnlich wie den Teeschalen nähert er sich auch ihr nur mit äußerster Vorsicht »wie einem fremden Tier, einer Katze« (MR 117), sie ist ebenso rätselhaft und geheimnisvoll, die Berührungen zwischen den beiden sind selten, aber stets bedeutungsvoll (vgl. MR 178), und an ihr ist »etwas Uraltes« (MR 113) – wie Achim gleich bei der ersten Begegnung vermerkt –, das sie mit den Teeschalen in ihrem Besitz analogisiert (vgl. MR 187). So wie die Teeschale einem Lebewesen immer ähnlicher wird, wird Mitsuko im Gegenzug immer mehr zum Objekt,156 das für Achim denselben Fiktionswert besitzt wie die Teeschalen: Die Illusion, dass er anhand dieser Objekte seinem primären Fetisch des alten Japan näher kommen wird. Die bewussten und beabsichtigten Berührungen zwischen Achim und Mitsuko waren bis dahin selten und stets mit Bedeutung aufgeladen, beispielsweise in der Küche kurz vor Sue Anhs Auftritt oder beim Abendessen unter dem Tisch. Dementsprechend erweist sich auch die Berührung der Teeschale als ein besonderer Erkenntnismoment: »Allmählich nahm sie seine eigene Wärme an. Achim spürte, wie sie sich einfügte, als wäre sie auf genau seine Hände hin geformt worden, und plötzlich wurde ihm klar, warum er die ganze Zeit über nicht begriffen hatte, was es mit diesen Schalen auf sich hatte: Sie waren nicht für die Augen gemacht – jedenfalls nicht nur –, sondern für die Hände. Man mußte sie fühlen, wollte man etwas von ihnen erfahren.« (MR 208)157 Mit der Berührung »findet etwas statt« (ebd.) zwischen Achim und der Teeschale, 155 | Ebd., S. 335. 156 | Vgl. ebd. 157 | Die Passage erinnert an Baumgartens Bestimmung der Ästhetik, wonach Erkenntnis nicht nur durch die Wahrnehmung der oberen Erkenntnisvermögen, Verstand und Vernunft, sondern ebenso der unteren, also sinnlichen Wahrnehmung, möglich und

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das durch eine Bemerkung der Verkäuferin just unterbrochen wird: »Achim fiel aus einem Bild, in dem er sie, gefüllt mit leuchtend grünem Tee, aus dessen Duft feuchte Berghänge im Morgengrauen gestiegen waren, an den Mund geführt hatte.« (Ebd.) Das Bild, aus dem Achim fällt, ist ein typisches Beispiel für den Fiktionswert von Waren: Zum einen verweist es auf Achims primären Fetisch, das alte Japan mit unberührter Natur, zum anderen ist das Bild sexuell aufgeladen und stellt damit eine Verbindung zu Mitsuko her, deren Status als primärer Fetisch hier affirmiert wird. Achim möchte die Schale daher trotz des Preises, der um ein Vielfaches höher liegt als jener der ersten Schale, erwerben. Dies scheitert jedoch an einem Detail, das Achim entsprechend der Anthropomorphisierung und magischen Aufladung der Schale für unabdingbar hält: Es fehlt der Akt der Taufe, sie hat keinen Namen, und damit keinen direkten Bezug zum alten Japan: »Mit einem Namen, der ihr in Japan gegeben worden wäre, hätte er sie gekauft. Der Name wäre ihre Geschichte gewesen. Jemand – ein Meister – hätte sie angeschaut und herausgehoben aus der Fülle der Dinge. Dieser Blick allein wäre den hohen Preis wert gewesen.« (MR 209) Der fehlende Name signalisiert Beliebigkeit und Austauschbarkeit, womit sich die Teeschale nicht für den Fetisch erster Ordnung funktionalisieren lassen würde. Er ist zugleich ein entscheidendes Indiz dafür, welche Bedeutung Mitsuko für Achim hat – denn um dem alten Japan näher zu kommen, hätte er sich grundsätzlich auch jede andere Japanerin aussuchen können: Ihr Name158 notwendig ist. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik [1750]. Übers. v. Dagmar Mirbach. 2 Bde. Hamburg 2007, §1-13, S. 11-19. 158 | Es dürfte kein Zufall sein, dass die Marke Guerlain seit 1919 ein Parfüm führt, das »Mitsouko« heißt und dort mit ›mystère‹, also ›Geheimnis‹ (und damit sehr frei bis falsch) übersetzt wird (vgl. www.guerlain.com/fr/fr-fr/parfums/parfums-pour-femmes/ mitsouko, abgerufen am 18.12.2016). Inspiriert wurde das Parfüm von Claude Farrères Roman La Bataille (1909) und dessen Protagonistin Mitsouko, die, zwar verheiratet, eine unglückliche Affäre mit einem englischen Offizier unterhält – eine Dreiecksgeschichte also, nicht unähnlich jener in Peters’ Roman. Dass Guerlain Mitsouko mit ›Geheimnis‹ übersetzt, mag in der Tat eine »Marketingerfindung« sein (MR 32); gleichzeitig verweist dies aber auch auf den Fiktionswert, den Mitsuko für Achim hat: Mit ihr will er ihren wie den Geheimnissen des alten Japan näher kommen. Darüber hinaus ist der Name Mitsuko kulturgeschichtlich mehrfach besetzt, als Namenspatin kommen mehrere historische Persönlichkeiten in Frage: Erstens Mitsuko Aoyama Gräfin von Coudenhove-Kalergi (1874-1941), eine der ersten Japanerinnen, die – wie die fiktive Mitsuko – nach Europa auswanderte; zweitens Mitsuko Uchida, eine berühmte japanische Pianistin – ein Berufszweig, den auch die fiktive Mitsuko einmal eingeschlagen hatte; drittens Mitsuko Baisho, eine Schauspielerin, die in den Filmen von Akira Kurosawas mitspielte, dem einzigen japanischen Regisseur, den Achim mit Namen kennt (vgl. MR 97).

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bedeutet »Kind des Lichts« und verspricht damit dem Romantiker Achim nicht nur Erkenntnis, sondern auch Poesie.159 Die Teeschale, die er nun in Händen hält, hätte ihn allein aufgrund ihrer objekthaften Existenz diesem Versprechen näher bringen können: »Andererseits würde Mitsuko mir, wenn ich meine eigene Schale mitbrächte, vielleicht endlich ihre zeigen.« (MR  210) Dass es sich bei dem Zeigen der Teeschalen um einen Akt der Intimität und keinesfalls um einen bloßen Informationsaustausch handelt, wird von Wolf explizit unterstrichen: »Ihr kennt euch jetzt fast ein Dreivierteljahr und sie zeigt dir nicht einmal ihre Teeschalen?« (ebd.) Der Nicht-Erwerb der Teeschale korreliert mit einem weiteren Scheitern Achims in Hinblick auf Mitsuko: Sie verlobt sich mit Eugen und heiratet ihn wenig später, sie ist damit ebenso wenig im Besitz Achims wie die Teeschale. Kurz vor der Hochzeit jedoch nutzt Mitsuko Eugens Abwesenheit, um Achim in der Restaurantküche, dem Ort ihres Liebesdiskurses, mit einer Art improvisierter Teezeremonie zu überraschen. Sie inszeniert die Teezubereitung als Geheimnis, wenn nicht als Verführungsszene, indem er die Augen schließen muss, so dass Achim nur hört, aber nicht sieht, was sie tut. Als er sie wieder öffnet, steht Mitsuko ganz dicht vor ihm: »Er bemerkte, daß sie in Wirklichkeit kleiner war als in seiner Vorstellung. Sie reichte ihm mit beiden Händen eine rostrote Schale, auf deren Grund eine Pfütze leuchtend grünen Teebreis stand. Achim spürte wie ihm Hitze ins Gesicht schoß. Er hob die Arme, merkte, daß er schwitzte, daß er Angst hatte. Er wußte nicht, wie die Schale zu nehmen war, wie man sie zum Mund führte.« (MR  227f.) An dieser Stelle wird die Berührung der Teeschale, die im Gegensatz zu den Objekten im Japanladen eine direkte Verbindung zum alten Japan herstellt, explizit mit der Berührung Mitsukos in Beziehung gesetzt: »Noch immer hatte er keine Ahnung, wie er die Schale anfassen sollte. Obwohl es nahegelegen hätte, scheute er sich, seine Hände um Mitsukos zu schließen, und die Chawan langsam von ihren in seine hinübergleiten zu lassen.« (MR 228) Das, was darauf folgt, erinnert an einen rite de passage 160 und referiert auf zweierlei: Da Mitsuko Achim zeigen muss, ›wie es richtig geht‹, erinnert das Teetrinken an ›das erste Mal‹ und ent159 | Vgl. zur Bedeutung des Kindes in der Romantik: Yvonne-Patricia Alefeld: Göttliche Kinder. Die Kindheitsideologie in der Romantik. Paderborn, München u.a. 1996, S. 18f.; Hans-Heino Ewers: Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck. München 1989; Stephan K. Schindler: Das Subjekt als Kind. Die Erfindung der Kindheit im Roman des 18. Jahrhunderts. Berlin 1994; Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld. Berlin 1996. 160 | Vgl. Arnold van Gennep: Les rites de passage. Étude systématique des rites [1909]. Paris 1991.

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spräche damit Achims ›Entjungferung‹. Zum anderen enthält die Szene auch Referenzen auf die Eucharistie, eine Verbindung, die Achim selbst herstellt: Mitsuko trinkt zuerst aus der Schale, um es vorzumachen, und Achim denkt unweigerlich »an den Priester, der das Sakrament in der Gestalt des Weines austeilte.« (MR 229) Nicht ohne die Teeschale genau anzuschauen und wiederum in Fantasien zu versinken, setzt Achim sie schließlich an seine Lippen: »Er hielt inne, saugte den Duft einer Bergwiese nach kräftigem Schauer ein. Erst als die Schale sein Gesicht beinahe vollständig umschloß, stieß er an die warme, dickliche Flüssigkeit, deren bitterwürziger Geschmack zugleich mild und kraftvoll war und ihn sonderbar enttäuschte.« (MR 230) Die aufgebaute Spannung, die – so die Antizipation Achims wie des Lesers – im Geschmack des Tees kulminieren soll, implodiert, woraufhin Achim abermals eine Verbindung zur Eucharistie herstellt: »Ihm fiel die Enttäuschung wieder ein, als er mit acht Jahren zum ersten Mal die Kommunion empfangen hatte und mit der äußersten Ehrfurcht, die sein Kinderherz empfinden konnte, auf eine Oblate biß, die sich in nichts von denen für Mutters Weihnachtsmakronen unterschied.« (Ebd.) Da der Tee selbst unbefriedigenderweise die Erinnerung an die Entzauberung heiliger Objekte in profane Konsumprodukte161 hervorruft, interessiert sich Achim stattdessen vor allem für das Gefäß, die Teeschale. Er erzählt Mitsuko von seinem gescheiterten Teeschalenkauf, der eben genau den umgekehrten Vorgang impliziert: den Versuch der Sakralisierung eines Konsumobjekts. Damit jedoch zerfällt die durch das Teetrinken hergestellte Nähe zu Mitsuko: »Achim merkte, daß Mitsuko seine Versuche, die Schale einzuordnen, mißfielen.« (MR 232) Doch Achim fragt weiter und zieht sich »auf einen wissenschaftlichen Diskurs zurück, der die Zeremonie und damit das Ritual unmöglich macht.«162 Mit Peter Fuchs könnte man hier auch davon sprechen, dass Achim an der falschen Kommunikationsart anschließt: In der Liebe geht es schließlich nicht um ein Interesse an der Information, an dem Was, sondern vor allem um das Wie.163 Dementsprechend folgt denn auch die Ablehnung Mitsukos, indem sie ebenfalls in das Register des Was statt des Wie wechselt: Achim fragt sich, was es bedeutet, »wenn eine Frau für einen Mann erstmals den Tee aufgeschlagen hat[te]« (MR 233) und bekennt daraufhin: »Du weißt, daß …«, woraufhin Mitsuko ihn unterbricht: »Es reicht, wenn wir es wissen.« (Ebd.) Als Achim diesem aus seiner Perspektive unausgesprochenen Liebes161 | Vgl. dazu auch: Giorgio Agamben: Profanierungen. Übers. v. Marianne Schneider [Original: Profanazioni, 2005]. Frankfurt a.M. 2005, S. 70-91, insbes. S. 79f. 162 | Stephanie Waldow: Die Einverleibung des Fremden: Christoph Peters’ Mitsukos Restaurant (2009). In: Simone Broders, Susanne Gruß, Stephanie Waldow (Hg.): Phänomene der Fremdheit. Fremdheit als Phänomen. Würzburg 2012, S. 137-153, S. 148. 163 | Vgl. Peter Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. Konstanz 2003, S. 36f; vgl. auch Kap. II/2.1.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

geständnis Nachdruck verleihen möchte und nach der Hochzeit mit Eugen fragt, missversteht sie ihn absichtlich und erklärt, dass sie vorhatte, zu diesem Anlass eine Teezeremonie zu veranstalten, dies dann aber verworfen habe (vgl. ebd.). Sie schließt damit nicht an Achims Mitteilung an, dass eine Liebe zwischen ihm und ihr die Hochzeit mit Eugen konterkariert, sondern an der Information, nämlich der Ausgestaltung der Hochzeitsfeier. Die Unterhaltung endet an dieser Stelle – und wenig später heiratet Mitsuko Eugen. Als Achim den dritten Versuch unternimmt, eine Teeschale zu kaufen, und dafür in den neuen Japanladen zurückkehrt, ist die Schale, die er beim letzten Mal in den Händen hielt, bereits weg – vergeben sozusagen, genau wie Mitsuko. Die Auswahl im Laden ist indes noch größer geworden, aber es kann für ihn »nicht einfach um eine ähnliche Schale als Ersatz gehen […]. Ein neuer, völlig offener Entscheidungsweg lag vor ihm, der vielleicht zu einem gänzlich anders gearteten Stück führen würde.« (MR 265) Der Verkäufer verwickelt Achim in ein Gespräch über den Teeweg und die Kommerzialisierung von Teeschalen, als ihm eine unglasierte Schale auffällt, »ein im Vergleich zu den anderen eher niedriges Stück, das auf der ihm zugewandten Seite tiefrot leuchtete und sich zum oberen Rand hin blauschwarz verfärbte, so daß sich eine eigenartige Balance zwischen Erdwärme und Nachtkälte einstellte.« (MR  268) Da Achims Beziehung zu den Teeschalen stets auch mit einem emotionalen, wenn nicht sexuellen Kontext aufgeladen ist, ist die Analogie zu Achims privater Situation, nämlich dass er sich nicht nur eine neue Schale, sondern auch eine neue Frau suchen muss, unübersehbar. Die Berührung der unglasierten Schale hat konsequenterweise den Effekt, dass er mit ihr zu verschmelzen meint, als er sie in Händen hält (vgl. MR 270). Achim erwirbt schließlich diese Schale, obgleich sie nochmals mehr kostet als das vorherige Modell – nach einem Namen fragt er dieses Mal nicht. Es geht bei diesem dritten Versuch also nur noch darum, ein Objekt in Besitz zu nehmen, das potentiell – als Fiktionswert – eine Verbindung zum alten Japan herstellen kann, ungeachtet dessen, ob eine solche Verbindung, durch einen Namen oder ähnliches, tatsächlich vorliegt oder nicht.164 Obgleich Achim versucht, den Erwerb der Schale als etwas Heiliges zu inszenieren, so bleibt es am Ende ein Konsumakt: Er bekommt eine signierte Holzbox und ein gestempeltes Tuch zu der Schale, außerdem kauft er »noch einen Teespatel, einen Bambusbesen und eine spezielle Schöpfkelle« 164 | Man könnte diese Teeschale daher mit Yun Tsi und Achims Versuch, mit ihr statt mit Mitsuko eine Affäre zu beginnen, analogisieren – denn auch sie verfügt als Chinesin nicht über die richtige Herkunft, die der Name indiziert; gleichzeitig aber ist sie Mitsuko in dem Sinn ähnlich, als dass sie beide aus dem asiatischen Raum stammen. So wie Achim also die ursprünglich auserwählte Teeschale ebenso wenig haben kann wie Mitsuko, so sucht er nun nach einem Ersatz – der letzten Endes, in der Struktur der Fetischordnungen, nur ein Substitut des Substituts ist.

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(MR  271). Der Verkäufer schenkt ihm zudem »als Rabatt« (ebd.) eine Probe Matcha-Tee. Als Ware verheißt die Teeschale den »Code einer Utopie«,165 das ist im Fall Achims sein primärer Fetisch des alten Japan. Gleichzeitig verleugnet sie aber die Nicht-Utopie, die Wirklichkeit, für Achim also die Abwesenheit eben jenes alten Japans. Achim ist als Konsument, der in dieser Wirklichkeit lebt, illusioniert und desillusioniert zugleich und verfällt damit laut Böhme der »typische[n] Kompromiss-Struktur des Warenfetischs.«166 Die Desillusionierung nimmt überhand, als die Schale, daheim angekommen, nicht den gewünschten Effekt hat. Es folgt das nächste Scheitern Achims: »In der lieblos eingerichteten Wohnung, ihres japanischen Zusammenhangs beraubt, erschien sie ihm wie ein banales Stück Kunsthandwerk, das er ebensogut für dreißig Mark auf dem Weihnachtsmarkt bei einer hiesigen Töpferin hätte erstanden haben können.« (MR 277) Achim versucht, die Gegenstände in einer »Art Installation« (ebd.) anzuordnen, doch ohne Erfolg. Als nächstes wagt er sich daher an die Teezubereitung, doch da er bei seinem ›ersten Mal‹ mit Mitsuko die Augen geschlossen halten musste, weiß er nicht, was zu tun ist – entsprechend ernüchternd ist das Ergebnis: »Er führte die Schale zum Mund und probierte. Verglichen mit Mitsukos Getränk war das hier dünne Brühe, die nach bitterem Spülwasser schmeckte.« (MR 279) Das Scheitern manifestiert sich kulinarisch: Es schmeckt ihm nicht. Also bringen weder die Teeschale noch die Teezubereitung erwünschte Erkenntnisse: »Er würde sein Leben nicht der Teezeremonie verschreiben. Selbst wenn er sich dazu durchringen könnte, an einem Kurs teilzunehmen, käme er niemals über das Anfängerstadium hinaus. Am Ende würde er den zahlreichen Tätigkeiten, in denen er dilettierte, nur eine weitere hinzufügen. […] Er lag da und unterdrückte die Frage, ob er nicht unsinnig viel Geld für ein Hirngespinst ausgegeben hatte, und schluckte Enttäuschung hinunter.« (MR 280) Achim muss erkennen, dass er nicht nur an Mitsuko, sondern auch an den Teeschalen gescheitert ist. Doch es ist nicht das Ende der Geschichte – die Einbildungskraft des Romantikers kommt ihm zu Hilfe: »Nach einer Weile jedoch, mit zweieinhalb Metern Abstand und aus schräger Untersicht, schien es ihm plötzlich, als hätte der rote Ton seiner Schale sich mit Licht vollgesaugt, das sie jetzt von innen her zum Glühen brachte, majestätisch und still wie die Abendsonne im Dunst der Flußauen.« (Ebd.) Der Fiktionswert des Konsumobjekts Teeschale wird reaktiviert und vermag nicht nur die Enttäuschung Achims zu mildern, sondern ihm auch erneut Hoffnung zu schenken: »Möglicherweise würde er eines Tages doch etwas begreifen.« (MR 281) Das Leuchten der Teeschale kehrt kurz darauf in einem Traum Achims wieder: In diesem Traum sieht er sich und Mitsuko in einer Version von Romeo 165 | Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 333. 166 | Ebd., S. 334.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

und Julia als verbotene Geliebte. Mitsuko nimmt seine Hand »und ihre Finger sprachen mit ein wenig Druck über die Haut Unsagbares aus. Achim wußte, daß die Verheißungen, von denen er in der langen Zeit ihrer Abwesenheit manchmal geglaubt hatte, sie entsprängen lediglich seiner Einbildung, mehr denn je galten. Die wenigen Berührungen führten weiter als alle Zeichen, die sie einander je gegeben hatten.« (MR 291) Der Traum ist mehr als nur die Wiederkehr des Verdrängten: Mitsukos Bild gewinnt für Achim durch diesen Traum an »neue[r] Leuchtkraft« (ebd.) – genauso wie die Teeschale in seiner Wohnung zu leuchten begonnen hatte. Abermals ist es die Kommunikation über Berührungen, die Mitsuko, Achim und die Teeschalen miteinander verbindet: Diese sensorische Verbindung weit über ›alle Zeichen‹ hinaus ist paradigmatisch für das romantische Displacement, also das Wie der Kommunikation.167 Dementsprechend signifikant ist es, dass die Berührungen im Traum in der Realität wiederholt beziehungsweise imitiert werden. Als Achim Mitsuko am nächsten Tag im Restaurant antrifft, nimmt sie seine Hand »genau so, wie sie es im Traum getan hatte, und str[eicht] mit dem Daumen über seine Fingerrücken« (MR 292). Im Liebeskommunikationsmodus des Wie deutet der Romantiker-Dilettant Achim diese als Beweis der besonderen Verbindung zu Mitsuko: Er interpretiert »das Blitzen in ihren Augen als sichtbaren Ausdruck der geheimen nächtlichen Erlebnisse, die sie ebensowenig anzusprechen wagte wie er, denn nach allem, was sie über den Auf bau der Wirklichkeit wußten, konnte nichts dergleichen stattgefunden haben.« (MR 292) Konsequenterweise verändert sich mit dieser Berührung die Beziehung zwischen den beiden erneut: von der Distanz, die die Hochzeit mit sich gebracht hatte, zu mehr Nähe. Nach mehreren gescheiterten Versuchen scheint eine Verbindung zum primären Fetisch Mitsuko durch den sekundären Fetisch der Teeschalen endlich möglich. Das führt zu der absurden Situation, dass Achim auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin Mitsuko und Eugen auf ihrer nachgeholten Hochzeitsreise in die Schweiz begleitet. Auf dieser Reise – die durch die Anwesenheit eines Dritten ihrer liminalen Bedeutung für das frisch vermählte Paar beraubt wird168 – stellt sich heraus, dass Eugen Analphabet ist, womit er die Verachtung Mitsukos auf sich zieht (vgl. MR  310f.), so dass sie ihre Aufmerksamkeit fortan Achim widmet. Diese seltsame Ménage à trois kulminiert schließlich in einem gemeinsamen Saunagang. Die Konfrontation mit der nackten Mitsuko unterstreicht abermals ihre Bedeutung als exotisches Objekt für Achim: In der Gemeinschaftsdusche versucht er,

167 | Vgl. Kap II/2.1. 168 | Vgl. Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 170-175.

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Liebe und Konsum möglichst viel von Mitsukos Erscheinung einzufangen, ohne sie anzustarren: das Verhältnis Hüfte-Taille, die Beschaffenheit ihrer Haut, Größe und Form der Brüste […]. Achim wunderte sich, daß er Mitsuko eher wie ein Völkerkundler betrachtete, der statt mit brennendem Verlangen zu kämpfen Merkmale identifizierte und Vergleichsbilder heranzog. Die Frauen in den erotischen Holzschnitten Utamaros oder Kunisadas, die ihm mit ihren kompakten Formen, den runden Schultern, festen Brustküppchen immer so unvorteilhaft stilisiert vorgekommen waren, zeigten – wie er angesichts der nackten Mitsuko feststellte – einen realen Körpertypus. (MR 314f.)

Damit verfällt Achim abermals seinem Wissensdiskurs des alten Japan, was die Entzauberung der Geheimnisse von Mitsukos Körper mit sich bringt: Er fragt sich, ob es ein Fehler war, mit ihr in die Sauna zu gehen, ohne vorher mit ihr geschlafen zu haben (vgl. MR  317). Und obgleich er hier Authentizität vorfindet, gefällt ihm die nackte Mitsuko nicht (vgl. MR  322). Hier geht es nicht nur um das erotische Spiel der Ver- und Enthüllung, denn die Faszination Achims für Mitsuko gründet gerade in ihrer Andersartigkeit, in ihrer Fremdheit. Mit der Kenntnis dieses Fremden aber verliert dieses seinen Status als solches169 – und im Fall von Achim damit an Faszinationskraft: wie eine Ware, die den vom Konsumenten angenommenen Fiktionswert nicht erfüllt. Ein letzter Versuch der Annäherung am gleichen Abend schlägt schließlich fehl: Die vorsichtigen, tastenden Berührungen der beiden beim gemeinsamen Filmkonsum von Und täglich grüßt das Murmeltier 170 finden ein abruptes Ende, als der eingedöste Eugen erwacht und Mitsuko sich von Achim wegsetzt (vgl. MR 324f.). Diese Distanz, die jegliche Berührung unmöglich macht, markiert den Anfang des Endes seines Begehrens von Mitsuko als Frau und Geliebte. Mit der sich abzeichnenden Trennung von Mitsuko und Eugen bietet sie Achim die Erfüllung eines Wunsches an, den er an dem Abend äußerte, an dem er für sie gekocht hatte: Sie lädt ihn zur Teezeremonie zu sich ein. Zu diesem Zeitpunkt jedoch hat Achim, wie auch Mitsuko, bereits beschlossen wegzugehen – und mit Mitsuko möchte er höchstens eine Nacht, nicht aber sein Leben verbringen (vgl. MR 380). Damit zeichnet sich ab, dass Mitsuko zu einem Fetisch zweiter Ordnung degradiert wird: Achim geht es bei der Tee169 | Vgl. Waldow: Die Einverleibung des Fremden, S. 137. 170 | Der Film entspricht Achims romantischen Neigungen, geht es doch darum, den Bann der ewigen Wiederholung durch das Finden des richtigen Codes und damit der wahren Liebe zu durchbrechen. Im Roman jedoch schlägt genau das fehl: Der gemeinsame Filmkonsum, obgleich dieser den Bedingungen einer konsumromantischen Aktivität nach Eva Illouz entspricht, markiert den Anfang vom Ende, nicht nur der Ehe von Mitsuko und Eugen, sondern auch der Möglichkeit einer Beziehung von Achim und Mitsuko. Vgl. Groundhog Day [dt. Und täglich grüßt das Murmeltier]. Harold Ramis (R.). Columbia Pictures 1993.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

zeremonie nur noch um einen Zugang zu seinem primären Fetisch des alten Japan, wofür er Mitsuko ein letztes Mal funktionalisiert. Der Fokus liegt für Achim wie jeher auf der Frage der Authentizität. Zwar hat Mitsuko in ihrer Wohnung einen Raum, der »aus einem Museum für ostasiatische Kunst stammen könnte« (MR  382), doch er ist bereits enttäuscht, als der Wasserkessel mit Gas und nicht mit Holzkohle erhitzt wird. Dementsprechend bleibt Achim seinem eigenen Wissensdiskurs treu und fragt, ob es Eugen war, der ihr den Raum eingerichtet hat: »Mitsukos Gesicht wurde zur Maske. Die Maske nickte.« (MR  384) Hinzu kommt, dass Mitsuko sich für ihn zwar Mühe gibt, sich jedoch nicht an alle Details erinnert, Authentizität damit nicht gegeben ist. Umso mehr wendet sich Achim daher den Objekten zu. Als sie die für die Zeremonie vorgesehene Teeschale ins Zimmer bringt, ist Achim davon völlig gefangen genommen: »Während Mitsuko sich bemühte, die Dinge mit ruhigen konzentrierten Gesten so zu arrangieren, wie es für die Zubereitung des Tees vorgesehen war, blieb Achims Blick an der Chawan hängen. Sie strahlte eine Anwesenheit aus, wie er sie nie zuvor beim Anblick eines simplen Keramikgegenstandes gespürt hatte. ›Ist das …‹, setzte er an, doch Mitsuko führte den Zeigefinger an ihre Lippen, damit er schwieg.« (MR 386) Derart zum Schweigen gebracht, wandern seine Gedanken ein letztes Mal weg von den Objekten hin zu ihr: Als sie den Stiel der Schöpfkelle »fast schon obszön« (MR 387) zwischen ihren Fingern durchzieht, verliert Achim »endgültig den Faden. Er dachte an Mitsukos Brüste, die kleinen, dunkelbraunen Warzen, an eine Geisha im alten Edo, die geheime Liebeszauber beherrschte, stellte sich vor, wie er ein Reisebüro betrat und sagte: ›Ich brauche einen Flug nach Tokio – nur hin.‹« (MR  387f.) Was hier aufeinander prallt, sind die Fetische erster und zweiter Ordnung: Mitsuko führt ihn nur noch psychisch, anhand einer Gedankenkette, nach Japan, physisch jedoch führt der Weg zum primären Fetisch von ihr weg. Folgerichtig findet auch dieses Mal beim Konsum des Tees mit ihr keinerlei rite de passage statt und damit auch kein Weg zu einem wie auch immer gearteten tieferen Sinn: »Es mußte etwas anderes gewesen sein, als das, dem er soeben beigewohnt hatte oder noch beiwohnte, das mehr als fünfhundert Jahre lang die edelste und weihevollste Handlung eines jeden Japaners mit Herz gewesen war […], dieses Ritual, das zahllosen Abhandlungen, Erzählungen, Gedichten und Bildern Anlaß und Thema gegeben hatte, dessentwegen die gesamte japanische Keramik in all ihrer verrätselten Schönheit überhaupt nur existierte.« (MR 390) Achim interessiert sich daraufhin nur noch für die Teeschale, also seinen anderen sekundären Fetisch. Was hier greift, ist der Mechanismus der »displaced meaning«,171 den Grant McCracken beschreibt: die Verschiebung des 171 | Grant McCracken: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities [1988]. Bloomington, Indianapolis 1990,

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(Konsum-)Begehrens in Folge von Enttäuschung – nur so kann schließlich der Fetisch erster Ordnung, die Fantasie des alten Japan, anhand von Fetischen zweiter Ordnung aufrecht erhalten werden. Als er Mitsuko darum bittet, die Teeschale noch einmal ansehen zu dürfen, entlockt er ihr, dass es sich um eine jahrhundertealte Schale aus dem letzten Brand des Meisters Tsujimura handelt, die den Namen ›Narbenprinzessin‹ trägt. Da es sich hiermit nun um ein Unikat handelt, das nicht nur einen Namen hat, sondern aufgrund seiner Geschichte auch mit einer Aura aufgeladen ist, die Transzendenz verspricht und eine direkte Verbindung zu Achims Fetisch erster Ordnung herstellt,172 facht allein diese Information Achims Erregung weiter an: »Die Erregung, die ihn vibrieren ließ, hatte nichts mit der Frau neben ihm, sondern ausschließlich mit der Teeschale zu tun, mit dem, was sich in ihr bündelte, auch wenn er nicht wußte, um was es sich handelte: Es war nah und stark, wie eine Hand, die sich um den Herzmuskel legte.« (MR  392f.) Nachdem sich Mitsuko für Achim sozusagen ›verbraucht‹ hat, verschiebt sich sein Begehren nun endgültig von Mitsuko auf das Objekt der Teeschale. Als er nach ›mehr‹ Information verlangt, die auch Mitsukos Familie betreffen, erteilt sie ihm eine endgültige Absage. Mit ihrer Verweigerung, an seinem Wissensdiskurs, der eben kein Liebesdiskurs ist, teilzunehmen, endet die Liebesgeschichte der beiden: Er atmete langsam und tief und schaute sie an. Etwas in seinem Inneren rieselte in sich zusammen. Er trat aus sich heraus und sah dabei zu, wie sich sein Blick auf Mitsuko, ohne daß er etwas dagegen tun konnte, von Grund auf änderte oder vielmehr unerbittlich zu dem wurde, den er sich die ganze Zeit über verboten hatte. Plötzlich kniete neben ihm eine dieser geschlechtslosen ältlichen Japanerinnen, die in Gruppen mit khakifarbener Weste und lächerlichem Käppi vor dem Dom oder sonst irgendeiner Sehenswürdigkeit der Welt standen. (MR 393)

Der potentiell primäre Fetisch Mitsuko ist damit endgültig entzaubert, degradiert zu einer Ware, die Achim nicht mehr konsumieren möchte. Er ist derart fokussiert auf seinen eigenen Weltbezug, dass der ihrige ihm zwangsläufig fremd bleiben muss. Eine Kongruenz der Weltbezüge hatte sich anhand des japanischen Essens als Sonderhorizont der beiden potentiell Liebenden angedeutet, doch dieser mögliche Liebesdiskurs wird in der zweiten Hälfte des Romans nicht mehr verfolgt. Der Dilettant Achim sieht sich nicht in der Lage, das Kochen zur Meisterschaft zu bringen und damit die Liebe Mitsukos zu gewinnen. Stattdessen verlagert sich sein Begehren auf alte japanische Objekte. Im S. 104ff. Vgl. auch: Wolfgang Ullrich: Konsum der Kreativität. In: POP. Kultur & Kritik 8 (2016), S. 60-64, S. 63. 172 | Vgl. zur Verbindung der Fetische erster Ordnung mit einem Transzendenzversprechen: Kap. II/3.1.2.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

Zuge dessen wird Mitsuko zu einem ebensolchen, womit sie nur noch eine(s) von vielen ist. Die Höchstrelevanz und Einzigartigkeit, die die romantische Liebe einfordert, ist in dieser Konstellation nicht mehr möglich. Die von Achim angestrebte Subjektstabilisierung ist damit gescheitert: Die Objekte seiner Liebe und Fetische zweiter Ordnung, allen voran Mitsuko und die Teeschalen, können dies nicht leisten. Obgleich sie ein Abglanz der Fetische erster Ordnung sind, kommt die Fähigkeit, Subjektivität zu konstituieren, nur jenen primären Fetischen zu.173 Achims Entschluss, selbst nach Japan zu reisen und die Wanderung Bashōs zu wiederholen, sich also abseits der Zivilisation auf Sinnsuche zu begeben, erinnert an Erzählungen von Aussteigern und Eremiten. Vordergründig scheint dies die Abkehr nicht nur von Mitsuko, sondern auch von den Warenfetischen und damit vom Konsum zu markieren. Tatsächlich ist dies jedoch ein Trugschluss, schließlich muss Achim dafür immerhin ein Flugticket kaufen (vgl. MR 413) und er spekuliert darauf, in Japan eine neue Frau kennenzulernen (vgl. MR 415), sein Begehren also erneut zu verschieben. Das Versprechen unberührter Natur, mit dem ›Wahrheit‹, also: Sinn einhergeht, steht ohnehin nicht im Widerspruch zum Konsum, sondern ist laut Eva Illouz dem Kapitalismus inhärent: [D]as Bild der Natur in der heutigen Werbung [behauptet], dass der Konsum ein Mittel darstellt, um wieder Zugang zu verlorenen Schätzen, einem authentischen Ich, echten Beziehungen und einer wohlwollenden, majestätisch schönen Natur zu erlangen. Antimodernismus und die nostalgische Beschwörung eines verlorenen Paradieses der Natur und der Wahrheit sind in der Tat Leitthemen kapitalistischer Kultur und werden durch ihre obsessive Assoziation mit den Themen Liebe und Freizeit noch ausgeweitet.174

Was der primäre Fetisch Japan daher vor allem stabilisiert, ist der ökonomische Kreislauf des Fetischismus zweiter Ordnung: Ohne den Fetisch erster Ordnung würde Achim weder japanisches Essen in entsprechenden Restaurants konsumieren noch Teeschalen oder Flugtickets kaufen. Die fixe Idee des alten Japan als unveräußerlicher Fetisch erster Ordnung stellt sicher, dass die käuflichen Fetische zweiter Ordnung immer weiter zirkulieren. Der Kreis des transzendental-ökonomischen Fetischismus schließt sich. Nichtsdestotrotz ist auch die mit dem primären Fetisch verbundene Subjektstabilisierung fragwürdig: Obgleich der Fetisch als »Supersymbol […] Übernatürliches zu bewirken«175 verspricht, kann Achim zwar den Ort seines Begehrens, Japan, aufsuchen und versuchen, japanische Kunst zu imitieren; aber die Zeit kann er, ebenso wie Gatsby, nicht zurückdrehen und schon gar 173 | Vgl. Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 305. 174 | Illouz: Konsum der Romantik, S. 118f. 175 | Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt 1996, S. 248.

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nicht wiederholen – die Verbindung von Ort und Zeit seiner Sehnsucht bleibt unerreichbar. Zum anderen bleibt offen, ob Achim die Reise tatsächlich antritt, denn davon erzählt der Text nicht mehr. Wenn Achim zu Wolf ganz am Ende meint, »Alles wiederholt sich, findest du nicht? […] Ein bißchen ist es heute wie nach unserem gescheiterten Versuch, in Düsseldorf japanisch zu essen« (MR 414), dann legt dies immerhin nahe, dass Achim den Text so verlässt, wie er ihn betreten hat: als Dilettant.

2.4 Poetischer Fetischismus Achims Fetisch des alten Japan und der Teeschalen wird im Roman durch eine Textebene vertieft, die in den Haupt-Erzählstrang eingewoben ist: Zwischen jedem Kapitel steht eine Episode einer Geschichte, die mit Einige hundert Jahre zuvor in Japan überschrieben ist und sich im Ton deutlich von den restlichen Kapiteln unterscheidet. Sie handelt vom Meistertöpfer Tsujimura Kōsei, dem Brand von Teekeramik, und dem Samurai-Fürsten Takanosu Norishige – letzterer begehrt, wie Achim, ein Gefäß für Tee sowie das damit verbundene Geheimnis (vgl. MR 151f.). Und wie Achim scheitert auch Norishige daran. Die Geschichte Tsujimuras und Norishiges wird dem Leser als eine Art ›Beilage‹ zur Hauptnarration serviert, die Zeit und Ort von Achims Begehren aufleben lässt: das alte Japan. Die beiden Narrationen erscheinen daher zunächst diametral widersprüchlich: Auf der einen Seite der Mythos, der suggeriert, dass es so etwas wie Sinn doch noch geben kann, auf der anderen Seite die Postmoderne, beständig changierend zwischen Sinnkonstitution und Sinnentzug.176 Die Geschichten aus dem alten Japan sind jedoch nicht rein dekorativ und kontrastiv – quasi als Divertissement – zwischen die Kapitel eingestreut; bei genauer Lektüre stellt sich heraus, dass sich beide Erzählstränge von Anfang an gegenseitig bespiegeln. So harrt Norishige in seinem Begehren vor Tsujimuras Hof ebenso aus, wie Achim in seinem Begehren in Mitsukos Restaurant beharrlich darauf wartet, in ihre Geheimnisse eingeweiht zu werden.177 Nicht nur die Jahreszeiten und das Wetter korrespondieren exakt mit jenen in der Hauptnarration, auch Achims Ambitionen als Dichter finden in der 176 | Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens. Übers. v. Werner Hamacher, Peter Krumme [Original: Allegories of Reading, 1979]. Frankfurt a.M. 1988, S. 31-51; Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger, Hanns Zischler [Original: De la grammatologie, 1967]. Frankfurt a.M. 1983, S. 44f. 177 | Dieser Bezug wird am Ende explizit gemacht: Als Achim im finalen Dialog mit Wolf davon erzählt, dass Mitsuko ihn angerufen und ihm empfohlen hat, sowohl bei ihrem Vater in Japan als auch bei ihr in Sydney vorbeizuschauen, mit der Möglichkeit, im Restaurant ihrer Tante zu arbeiten, möchte Wolf ihm gerade davon abraten, als Achim ergänzt: »Vielleicht setzte ich mich einfach bei einem Töpfer vor die Tür und falle ihm so lange auf

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

Erzählung von Norishige einen Widerhall: Das zwölfte Kapitel, das von seinem Scheitern am Dichten und an Yun Tsi handelt, ist gerahmt von zwei Episoden, in denen sich Norishige ebenfalls als Dichter versucht: Norishige kniet im Innern beim Schein des Feuers und schreibt […]. Der Pinsel wischt in ruhiger Bewegung über das feine Papier, verharrt einen Augenblick zwischen Blatt und Gedanken. Flammen werfen zerfranste Bilder gegen die Wände. Das Holz knistert. Norishige legt den Pinsel zur Seite, sieht zu, wie die Zeilen trocknen. An den Rändern des ersten Zeichens schimmert es blau: Er hat die Silbe ertränkt. Scheite bersten, es regnet Funken. Ein Stück Glut springt über, frißt ein Loch in das Blatt, wird zur finster glühenden Linie, die Zeichen um Zeichen vertilgt, grell auflodert und auslöscht, was noch übrig war vom Vers. Schwarze Flocken schweben dahin, so leicht, daß der Sog des Feuers ihre Flugbahn krümmt. (MR 249)

Die Auslöschung der eben erst frisch getuschten Verse durch Feuer lässt sich als Metapher für die Ambivalenz der Sinnkonstitution bei gleichzeitigem Sinnentzug der Postmoderne lesen. Achim scheitert jedoch in seinem finalen Versuch des Dichtens bereits an der Sinnkonstitution – dies markiert den Moment, in dem er erkennt, dass er nur Dilettant ist: »Unabhängig von seinem angegriffenen Zustand, ließen Brauns Sätze in ihm die Erkenntnis aufsteigen, daß er allenfalls ein Hobbydichter war. Inzwischen hatte er ein Alter erreicht, in dem man damit nicht einmal mehr kokettieren konnte. Trotzdem nahm er ein neues Blatt. […] Weiter kam er nicht.« (MR  263) Es ist das Ende von Achims Dichterdasein – im weiteren Verlauf wird er keinen neuen Versuch mehr unternehmen. In diesen Passagen findet sich jedoch noch eine weitere Parallele zwischen den Geschichten aus dem alten Japan und Achim: Norishige bekommt, während er einen neuen Vers auf Papier tuscht, Besuch von einer Frau, die er jedoch zunächst nicht sehen kann. Sie greift ihn an, »zwingt ihn zu Boden, preßt sein Gesicht in die Tuscheschale, bis ihm Hören und Sehen vergeht.« (MR 251) Als er wieder erwacht, findet er auf »durchnäßtem Papier Zeichen in Schwarz, in verkrustetem Rot: eines anderen Handschrift, nicht zu entziffern.« (Ebd.) Das darauffolgende zwölfte Kapitel erzählt von Achims »Ringkampf« (MR 259) im Bett mit Yun Tsi – auch er unterliegt, genau wie Norishige. Dass dessen Kopf dabei in eine Tuscheschale gepreßt wird, lässt die Assoziation zu der Teeschale zu, die Achim in der zweiten Hälfte des zwölften Kapitels in Folge der gescheiterten Affäre mit Yun Tsi beinahe gekauft hätte. Die Tuscheschale stellt zudem einen engen Zusammenhang zwischen dem Objekt der Schale und dem Schreiben (von Versen oder Romanen) her. Diese Verbindungen suggerieren die Funktion eines narrativen Supplements der den Wecker, bis er einsieht, daß er mich als Schüler nehmen muß.« Damit referiert er explizit auf den Fürsten Norishige. (MR 414)

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Geschichte aus dem alten Japan, eventuell gar eines ›Schlüssels‹ zum Haupterzählstrang. Dies bleibt jedoch bloße Suggestion, die nicht eingelöst wird: Die Narration changiert zwischen Sinnkonstitution und Sinnentzug. Es ist konsequenterweise eine Schale, die als Kulminationspunkt beider Erzählstränge inszeniert wird. Als Norishige endlich die begehrte Teeschale von Tsujimura empfängt, bedeutet sie seinen Tod: Tsujimura hätte seinen Brand an Teeschalen in seiner Vollständigkeit zuallererst seinem Lehnsherrn zeigen müssen – stattdessen gibt er jedoch Norishige die Teeschale vorweg. Norishige wird mit der Teeschale aufgegriffen und getötet. Und auch Tsujimura erhält aufgrund des Diebstahls die Aufforderung zum Selbstmord – mit dieser doppelten Auslöschung, ähnlich den Versen Norishiges, enden die Geschichten aus dem alten Japan. Es handelt sich bei dieser Teeschale, die den Namen ›Narbenprinzessin‹ trägt, jedoch nicht um irgendeine Schale, sondern um jene, die Mitsuko in der Teezeremonie mit Achim verwendet, womit sie sich als Ahnin der »Burgherren von Tokoname« (MR 392) entpuppt. Diese Identifikation wird nicht nur durch Mitsukos Bemerkung, sie sei aus dem letzten Brand von Tsujimura, suggeriert, sondern auch über die nahezu identische Beschreibung der Schale sichergestellt: »Ein Wind fährt unter das Dach, als Kōsei aus dem Innern des Ofens zurückkehrt. In seiner Hand hält er, halb von einem Stück grünen Tuchs verhüllt, eine Schale. Sie glänzt sandfarben, wechselt zu weichem Orange, fahlem Braun. Vom Rand, den die Glut gewaltsam verformt hat, sind blaue Tropfen nach innen gelaufen, so licht und klar wie das Meer im Süden.« (MR 351) Norishige beschreibt den Riß, der die Schale vom Rand bis zum Boden aufgrund der extremen Hitze während des Brandes durchzieht, als »Wunde eines Schwertstreichs« (MR 352) und tauft sie demzufolge »Narbenprinzessin«178 (ebd.). Als Achim die Schale das erste Mal sieht, ist er ergriffen: »Sie schimmerte in warmen Braun- und Beigetönen, die sich an einer Seite zu einem satten Orange steigerten. Sie war sehr alt. Es schien, als hätte die Hitze sie während des Brandes gewaltsam verzogen.« (MR  388) Bei näherer Betrachtung bemerkt auch er den Riß: »›Allein die blauen Glastropfen, die an der Innenseite hinunterlaufen, als hätte jemand das Meer … nicht gefroren … versteinert, vielleicht. […] Hier sieht es aus, als wäre sie gerissen und anschließend wieder zusammengewachsen. Wie Baumrinde, die nach einem Schnitt vernarbt ist …‹ – ›Sie heißt Kizu-Ato Hime: die Narbenprinzessin.‹«179 (MR 391) Norishige wie Achim bezeichnen die Schale als »Wunder« (MR 351, 390). Ein einzigartiges Objekt, das Mythos und Postmoderne miteinander verbindet, ist damit der Berührungspunkt der beiden Narrationen: In der Teeschale ›Narbenprinzessin‹ laufen beide Erzählstränge zusammen. Hiermit erklärt sich auch Achims Faszination und Erregung bei der Teezeremonie: Da die Teescha178 | Herv. i. O. 179 | Herv. i. O.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

le mit einer Geschichte ausgestattet ist, die bis ins alte Japan zurückreicht, ist Achim seinem Fetisch nie näher gewesen als in diesem Moment. Notwendigerweise verfällt er daher in seinen Wissensdiskurs, der nur in Bezug auf das Objekt, nicht aber hinsichtlich Mitsuko ein Liebesdiskurs ist. Achims Fragen nach dem Wert und dem weiteren Hintergrund der Schale führen zu Abweisung seitens Mitsuko (vgl. MR 391f.) Der Fetischismus wird somit letztendlich auch im Romantext selbst wirksam, nicht nur »als Analysekategorie, sondern als textuelles Verfahren«,180 indem der Text die Funktionsweise des transzendental-ökonomischen Fetischismus nach Böhme ästhetisch verarbeitet und dieser damit zum poetischen Fetischismus181 wird: Die Geschichte aus dem alten Japan repräsentiert Achims Fetisch erster Ordnung – es handelt sich dabei um eine ebensolche mediale Vermittlung, die auch Achims einziger Zugang zum alten Japan ist, inklusive aller Fremdheitseffekte wie beispielsweise den Begriffen für Teekeramik: »Chawan« oder »Chaire« (MR 82f.). Um diese Geschichte zirkulieren nun die Fetische zweiter Ordnung, die im zweiten Handlungsstrang verhandelt werden: Mitsuko, japanisches Essen und die Teeschalen. Das Objekt der ›Narbenprinzessin‹ verbindet beide Fetischordnungen konsequenterweise miteinander, als authentisches Objekt der Zeit und Kultur des alten Japan und, in der Form ihrer käuflichen Nachfahren, als (potentielles) Konsumobjekt. Dass es eine Schale ist, die als poetologischer Knotenpunkt inszeniert wird, verknüpft Peters’ Japan-Roman wieder mit der europäischen Kultur. Die Schale ist, wie der Autor selbst vermerkt, »vermutlich das früheste Gefäß, das entwickelt wurde, nachgebildet den geöffneten, zum Wasserschöpfen zusammengeführten Handflächen«,182 und trägt damit immer schon eine archaische Aura. Das Wasserschöpfen wurde wiederum zur Metapher der dichterischen Inspiration, die ihren wohl bekanntesten Niederschlag in Goethes West-Östlichem Divan – einem Text der mithin ebenso wie Peters’ Roman westliche und östliche Kultur miteinander in Beziehung setzt – gefunden hat: »Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sich ballen.«183

180 | Bischoff: Poetischer Fetischismus, S. 48. 181 | Vgl. ebd.: Doerte Bischoff zeigt in ihrer Studie, die das ganze 19. Jahrhundert umfasst, eine beachtliche Spannbreite des ›poetischen Fetischismus‹ auf, eines Fetischismus also, der in literarischen Texten nicht nur inhaltlich, sondern auch narrativ und diskursiv wirksam wird. 182 | Christoph Peters: Museumsschreiber. Hetjens-Museum. 2. erg. Aufl. Düsseldorf 2007, S. 18. 183 | Johann Wolfgang Goethe: West-Östlicher Divan (Lied und Gebilde in: Moganni Nameh: Buch des Sängers) [1819]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt. Bd. 3.1. Hg. v. Hendrik Birus. Frankfurt a.M. 1994, S. 21. Vgl. dazu

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Mit den Verschiebungen innerhalb der Fetische zweiter Ordnung lässt sich der Roman zudem anhand jenes realistischen Erzählverfahrens aufschlüsseln, das Moritz Baßler mittels Verklärung, Metonymie und Entsagung beschrieben hat.184 Während diegetische Phänomene verklärt werden, bedroht dies zugleich den realistischen Charakter der Diegese, so dass der Text »in eine metonymische Bewegung kippt«,185 die die Verklärung naturalisiert, zugleich aber erneut nach Verklärung verlangt. Ziel der Verklärung in poetisch-realistischen Texten ist ein Metacode, der den Phänomenen der Diegese einen übergeordneten Sinn zuweist: Kunst, Liebe, Wahrheit usw. Die metonymischen Bewegungen des Textes zeugen vom Scheitern an diesen Metacodes, gleichzeitig wird der Text selbst aufgrund des beständigen Kippens zwischen Verklärung und Metonymie potentiell unendlich. In den poetisch-realistischen Texten des 19. Jahrhunderts ist daher die Entsagung der »technische[n] Trick«,186 der dem Text einen Abschluss ermöglicht. In Christoph Peters’ Roman zielt die Verklärung auf den Fetischismus erster Ordnung: das alte Japan – als Ort und Zeit prinzipiell unerreichbar. Um dies zu bewerkstelligen, werden die Fetische zweiter Ordnung in Stellung gebracht, so dass sich der Text metonymisch von einem zum anderen bewegen kann: Mitsuko, japanisches Essen, japanische Kunst, die Teeschalen bis hin zur ›Narbenprinzessin‹. Sie alle werden ›verbraucht‹ und im Fortgang entzaubert, das heißt sie erweisen sich im Hinblick auf den Fetisch erster Ordnung als sinnlos, was die Verschiebung auf neue Objekte notwendig macht. Der Roman endet jedoch nicht mit Entsagung wie noch jene Texte des poetischen Realismus, sondern bricht vielmehr ab und kommt so zu einem abrupten Ende, ohne befriedigende clôture. Mit der potentiellen Zirkularität des Romans, die von den Figuren selbst ins Spiel gebracht wird, markiert das Ende lediglich die Suspension der Kippfigur. Achim bleibt schließlich nur die käuflich erworbene Teeschale, das Flugticket nach Japan und somit die Möglichkeit, am Ort seiner Sehnsucht aktiv zu werden, das heißt: die metonymische Kippfigur des Fetischismus erneut in Gang zu setzen. Mit dem Dilettanten- und Außenseitertum seines Protagonisten beschwört der Roman noch einmal die Sehnsucht nach dem Ganzen, nach einem einheitlichen, weltkonstituierenden Sinn, kurz: einem Metacode. Die einem Mythos gleichende Geschichte von Tsujimura und Norishige suggeriert schließlich genau das: dass es so etwas wie Sinn eventuell doch noch auch: Sebastian Kaufmann: »Schöpft des Dichters reine Hand …«. Studien zu Goethes poetologischer Lyrik. Heidelberg 2011, S. 335-341. 184 | Vgl. Moritz Baßler: Zeichen auf der Kippe. Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne. In: Ders. (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin, Boston 2013, S. 3-21, S. 8f. 185 | Ebd., S. 8 186 | Ebd., S. 9.

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

geben könnte. Dies jedoch nur, um diesen Sinn direkt wieder zu entziehen, womit der Roman dem postmodern-dekonstruktivem Realismus187 angehört: Den Ursprung der ›Narbenprinzessin‹ markiert, ebenso wie den Ursprung des Fetischismus188 und jenen von Zeichen und Schrift, ein Riß, eine Spaltung, die Differenz – oder auch differance.189 Als Tsujimura dem Fürsten die Schale übergibt, vermerkt er: »Da ist kein Geheimnis« (MR  351). Der Mythos kippt über in die Postmoderne.

3. Z usammenfassung Mit den Analysen von The Great Gatsby und Mitsukos Restaurant hat sich zeigen lassen, dass Objekte für die romantische Liebe eine signifikante, wenn auch ambivalente Rolle spielen. Sie dienen in umfassendem Maß der Subjektkonstitution, wie das Beispiel Gatsbys illustriert. James Gatz erschafft anhand der Aquisition von kulturellem wie finanziellem Kapital und in Folge dessen durch den Erwerb seines luxuriösen Hauses und weiterer Luxusgüter die Identität Jay Gatsby. Dazu gehören auch die ausgelassenen Partys, die zum Inbegriff der ›Roaring Twenties‹ geworden sind und dem Zweck dienen, auch das letzte Objekt, das ihm zur Erfüllung seiner ›illusion to live by‹ fehlt, zu akquirieren: Daisy Buchanan. Daisy als Objekt zu bezeichnen, ist insofern gerechtfertigt, als dass sie von Gatsby eben diese Funktion in seinem Lebenstraum zugewiesen bekommt: Als Projektionsfläche eingeführt, deren Stimme ›full of money‹, also voll unendlicher Versprechen ist, stellt sie den Grundpfeiler seines Fantasiegebäudes dar: Mit ihr steht und fällt der Lebenstraum Gatsbys, der im grünen Licht seinen symbolischen Niederschlag findet und Fetisch erster Ordnung ist. Lassen sich die Besitztümer Gatsbys als Fetische zweiter Ordnung kategorisieren, die Liebe katalysieren und kommunizieren, so wird 187 | Vgl. Moritz Baßler: Die Unendlichkeit realistischen Erzählens. Eine kurze Geschichte moderner Textverfahren und die narrativen Optionen der Gegenwart. In: Carsten Rohde, Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld 2013, S. 2745, S. 43-45. 188 | Vgl. Joachim Harst: Textspalten. Fetischismus als literarische Strategie. Heidelberg 2007, S. 45: »Der Fetisch ist als Ersatz der Differenz gleichzeitig damit bereits ihr Produkt, da ihre Verleugnung erst durch sie selbst möglich gemacht wird. Im Fetisch, der das Spiel der Differenz fixieren und kontrollieren soll, wird so die Unverbindlichkeit jeder Ordnung bereits sichtbar, indem sie scheinbar bejaht wird.« (Herv. i. O.). 189 | Vgl. Jacques Derrida: Die différance. In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart 1990, S. 76-113, S. 84f.

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Daisy selbst zum Fetisch erster Ordnung erhoben, um den alle anderen kreisen. Gleichzeitig wird der Konsum von Luxus-Objekten zum genuinen Liebesdiskurs, anhand dessen sowohl Gatsby als auch Daisy ihre Liebe bekunden. Gatsby scheitert letztendlich daran, dass er die Zeit zurückdrehen möchte und seiner Illusion damit eine Komponente hinzufügt, die sich nicht materialisieren lässt, die außerhalb des realistisch Machbaren liegt. Konsequenterweise inszeniert der Text dieses Scheitern anhand der Tücke eines Objekts: dem ›yellow car‹, das einst aufgrund seiner idiosynkratischen Erscheinung ein Identitätssymbol Gatsbys war und am Ende zum ›death car‹ wird. Und auch das grüne Licht erweist sich als tückisch, da es vorgibt, Distanzen zu überwinden, aber doch nur ein Marker der unüberwindlichen Trennung ist. Daisy enttäuscht letztendlich den Fiktionswert, den Gatsby mit ihr verbunden hat, indem sie sich der Verfügbarkeit als ›enchanted object‹ seiner Fantasie entzieht und die Ehe mit Tom fortsetzt, wodurch sie ihre Funktion als primärer Fetisch verliert. Mit dem daraus resultierenden Verlust der ›illusion to live by‹ ist die Auslöschung der physischen Existenz Gatsbys nur folgerichtig. Für den Zusammenhang von Liebe und Konsum ist es zudem entscheidend, dass der Text ein stark affektives Verhältnis zwischen der Erzählerfigur Nick Carraway und Gatsby inszeniert, das sich letztendlich auf den Leser überträgt: Wie Gatsby selbst lebt der Text von der Kraft der Imagination, so dass er im Leser ganz eigene Fantasien entzündet und Gatsby damit zu einem Text-Konsum-Objekt macht. In Christoph Peters’ Roman Mitsukos Restaurant fungieren Speisen und deren Konsum als Sonderhorizont der Liebeskommunikation. Als Romantiker und Dilettant gekennzeichnet, hegt Achim als fixe Idee den primären Fetisch des alten, authentischen Japan. Wie Gatsby sehnt er sich zu einem Zustand zurück, der unwiederbringlich vergangen ist, von dem er sich aber ganz maßgeblich Identitätsstiftung verspricht. Um der Erfahrung dieses alten Japans wenigstens ansatzweise näher zu kommen, umgibt sich Achim mit Fetischen zweiter Ordnung: japanischer Kunst und japanischem Essen. Zu letzterem gehört auch die Köchin Mitsuko, die – ähnlich Daisy in The Great Gatsby – zu einem Fetisch erster Ordnung erhoben wird, da Achim meint, mit ihr den Geheimnissen des alten Japan am nächsten kommen zu können. Die Liebe zwischen den beiden wird vorrangig in der Restaurantküche, einem Ort des Konsums, und anhand von Konsumobjekten kommuniziert. In diesem Sonderhorizont der Liebenden sind die Speisen, die Mitsuko, aber auch Achim zubereiten, ebenso hervorzuheben wie die Teeschalen der japanischen Teezeremonie. Achims dreifacher Versuch, eine solche Teeschale zu erwerben, wird vom zunehmenden Scheitern der Liebe zu Mitsuko begleitet, denn sie heiratet einen anderen: Als sie Achim am Ende des Romans den Wunsch nach einer Teezeremonie erfüllt, bei der sie eine mehrere hundert Jahre alte Teeschale aus Familienbesitz verwendet, entwickelt diese Teeschale ein derartiges Agens,

IV. Objekte: Fetische und Fiktionswer te

dass Mitsuko nicht nur austauschbar, sondern gar zu einem Konsumobjekt degradiert wird, das Achim aber nicht mehr konsumieren möchte. Die Teeschale ruft den primären Fetisch des alten Japan auf den Plan, der vor allem einem Wissensdiskurs verpflichtet und damit dem romantischen Displacement der Liebeskommunikation, die gerade das Wie und nicht das Was interessiert, entgegengesetzt ist. Dieser primäre Fetisch sichert schließlich den Kreislauf der Fetische zweiter Ordnung: Achim kauft sich ein Flugticket nach Japan, um dort die Wanderung des Bashō zu wiederholen, bei der er hofft, ebenjene Sinnstiftung zu finden, die die Nebenerzählung des Töpfermeisters Tsujimura Kōsei verspricht. Das Textverfahren inszeniert diese Sinnstiftung als Metacode, der in der Teeschale ›Narbenprinzessin‹ narrativ kulminiert: Die Narration changiert damit, ebenso wie die Subjektkonstitution Achims, zwischen Mythos und Postmoderne. Objekte dienen in beiden Romanen nicht nur dem Ausdruck von Liebe, sondern schaffen auch die Bedingungen der Möglichkeit davon, sie wirken innerhalb des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Liebe als ›Enzym‹, das das Unwahrscheinliche wahrscheinlich macht, also Liebe katalysiert. Im Fall Gatsbys ermöglicht erst die Anschaffung seines Hauses und all der Luxuskonsumprodukte, die Liebe Daisys neu zu entfachen. Und auch Achim Wiese gibt die Aneignung von Objekten wie den Teeschalen als Strategie aus, um Mitsukos Herz zu erobern. In diesem Zusammenhang sind die Fiktionswerte der käuflichen Dinge und der transzendental-ökonomische Fetischismus nach Hartmut Böhme von zentraler Bedeutung. Gatsby treibt die Funktion von Fiktionswerten auf die Spitze, wenn sich sein primärer Fetisch im grünen Licht materialisiert und somit zur Fiktion von Fiktionswerten wird. Auch für Achim Wiese spielen Fiktionswerte eine wichtige Rolle, indem sie, verbunden mit dem Konsumobjekt Teeschale, suggerieren, eine Verbindung zu Achims primärem Fetisch des alten Japan herstellen zu können. Die Fiktionswerte sind also sowohl in The Great Gatsby als auch in Mitsukos Restaurant eng mit dem Funktionieren des kulturellen Fetischismus verbunden: Die Fiktionswerte der käuflichen Waren, die Fetische zweiter Ordnung sind, sorgen dafür, dass der Fetisch erster Ordnung verstetigt wird. Dieser wiederum ermöglicht jedoch zuallererst das Zirkulieren der Fetische zweiter Ordnung – als transzendental-ökonomischer Fetischismus erhält er den Kreislauf der Konsumobjekte am Leben. Dieser Zusammenhang von Fetischen und Fiktionswerten wird durch den Faktor Liebe potenziert: Die Begegnung mit Daisy beziehungsweise Mitsuko dynamisiert das Verhältnis der Fetischordnungen zueinander, sowohl für Jay Gatsby als auch Achim Wiese. Beide Frauen changieren zwischen dem Status eines Fetischs erster und zweiter Ordnung: Daisy wie Mitsuko sind zu Beginn sekundäre Fetische, die in einem engen Verhältnis zum primären Fetisch stehen, entweder weil sie wie Daisy diesen vervollkommnen oder, wie Mitsuko,

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den Weg zu dessen Erfahrung versprechen. Anhand der Imaginationskraft der männlichen Protagonisten werden beide Frauen zu Fetischen erster Ordnung, deren Absolutsetzung jedoch nur temporär ist. Am Ende werden Achim wie Gatsby Opfer der Tücke der Objekte, die sich gegen sie wenden – und Daisy wie Mitsuko werden wieder zu Fetischen zweiter Ordnung degradiert. Auch sie wenden sich, derartig zu Objekten gemacht, gegen die jeweils männliche Imagination, die ihre permanente Verfügbarkeit zur Voraussetzung hat. Für den Zusammenhang von Liebe und Konsum erweisen sich Objekte damit als ambivalent: Mit ihnen können weder Gatsby noch Achim die Zeit zurückdrehen, was ein zentraler Bestandteil ihres Fetischs erster Ordnung ist. Die Subjektkonstitution wie -stabilisierung funktioniert für eine gewisse Weile, sie kann jedoch nicht auf Dauer gestellt werden. Beide Figuren scheitern schließlich an den Objekten ihrer Liebe.

V. Medien: Die Persistenz des Codes 1. L iebe und K onsum : M edienre alitäten Liebe und Medien sind aufs Engste miteinander verknüpft. Das liegt allein schon daran, dass sich die literaturwissenschaftliche wie soziologische Forschung weitgehend darin einig ist, dass romantische Liebe eine Erfindung der Literatur ist: »Ohne Literatur keine Liebe, ohne Liebe keine Literatur.«1 Literatur wird hier im systemtheoretischen Sinn als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium begriffen: Kunst, und damit Literatur, ist laut Luhmann – wohl in Anknüpfung an die Etymologie von Ästhetik: aisthesis – in besonderer Weise mit Wahrnehmung befasst, die sie gezielt »irritiert und disponiert […] und sie damit selbst wahrnehmbar macht.«2 Daher kommt Kunst die Funktion zu, »etwas prinzipiell Inkommunikables, nämlich Wahrnehmung, in den Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft einzuspeisen.«3 Literatur als Medium kommuniziert also eine spezifische Wahrnehmung, indem sie diese Wahrnehmung ausstellt und damit zuallererst wahrnehmbar macht. In Anschluss daran hat Oliver Jahraus die enge Verbindung von Liebe und Literatur als »Medienrealität« bezeichnet: Literatur »ist nicht nur das Medium, in dem Liebesgeschichten erzählt werden, sondern es ist auch das Medium, das diese Liebeskonzeption überhaupt erst erfindet.«4 Jahraus führt zur Verdeutlichung dieser ›Medienrealität‹ die berühmte Klopstock-Szene aus Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers an. Diese ›Urszene‹ etabliert Litera1 | Elke Reinhardt-Becker: Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit. Frankfurt a.M. u.a. 2005, S. 14. Vgl. dazu auch Kap. I/1, Fußnote 8. 2 | Oliver Jahraus: Die Kunst der Gesellschaft (1995). In: Oliver Jahraus, Armin Nassehi u.a (Hg.): Luhmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2012, S. 236-241, S. 237. 3 | Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 227. 4 | Oliver Jahraus: Liebe als Medienrealität. In: Stefan Neuhaus (Hg.): Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft. Würzburg 2012, S. 21-33, S. 21.

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tur als das, was Liebe, die laut Luhmann grundsätzlich unwahrscheinlich ist, wahrscheinlicher zu machen sucht: Literatur erfindet eine Liebeskommunikation, in der sie sich selbst als Medium etabliert. Liebende kommen trotz aller Unwahrscheinlichkeit, die dem entgegensteht, als Liebende kommunikativ zusammen, weil es die Literatur gibt, in denen Liebende vorkommen, die als Liebende zusammenkommen, so dass die Literatur den Liebenden eben jenes notwendige Medium als Muster einer ästhetisch vermittelten Identifikation zur Verfügung stellt. Literatur, so verstanden, ist um 1800 auch ein Liebe generierender kommunikativer Prozess. 5

Der romantischen Liebe in ihrer spezifischen Konfiguration wird also im Medium der Literatur zuallererst Geltung – eine besondere Wahrnehmung – verschafft. Dass dies rezeptionsästhetisch relevant ist, hat zweierlei Gründe: Erstens sind die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien an der Ausdifferenzierung der Gesellschaft beteiligt.6 Das heißt, Literatur hat einen ganz wesentlichen Teil dazu beigetragen, dass das romantische Liebesmodell um 1800 demokratisiert wurde und für alle Gesellschaftsschichten Gültigkeit erlangte. Damit ist zweitens verbunden, dass sich das Verhältnis von Realität und Medien um 1800 – also jener Zeit, in der die romantische Liebe in der Literatur Einzug hält – grundlegend wandelte: Mit dem Begriff der ›Medienrealität‹ bezieht sich Jahraus auf Georg Jäger,7 der dargelegt hat, dass sich um 1800 »ein Problembewusstsein darüber eingestellt [hatte], dass Realitätserfahrungen auf Medienerfahrungen beruhen und Medienerfahrungen […] Realitätserfahrungen formatieren, wobei als zentrales Medium Literatur galt.«8 Dass dieser Wandel um 1800 einsetzt, dürfte nicht nur mit der zunehmenden funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft zu tun haben,9 sondern auch mit der Rolle der ›Verbreitungsmedien‹ – also Schrift, Texte, Bücher –, die im Zuge der umfassenden Alphabetisierung der Bevölkerung an Relevanz gewannen

5 | Ebd., S. 29. 6 | Vgl. Mario Grizelj: Medien. In: Oliver Jahraus, Armin Nassehi u.a (Hg.): Luhmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2012, S. 99-101, S. 100. 7 | Vgl. Georg Jäger: Liebe als Medienrealität. Eine semiotische Problemexplikation. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen 1993, S. 44-65. 8 | Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 30. 9 | Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997]. Frankfurt a.M. 1998, S. 678-775, sowie kompakter: Claudio Baraldi: Gesellschaftsdifferenzierung. In: Ders., Giancarlo Corsi, Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a.M. 1997, S. 65-71.

V. Medien: Die Persistenz des Codes

und damit gesellschaftliche Realitäten beeinflussten:10 Die Medienrevolutionen der Moderne brachten »eine Transformation der Muster sinnlicher Wahrnehmung und ihrer Gefühlsstrukturen«11 mit sich. Literatur, deren Medium die Schrift ist, fungiert in diesem Kontext eben nicht nur als symbolisch generalisiertes Kommunikations-, sondern auch als Verbreitungsmedium, das die Funktion hat, »den Empfängerkreis einer Kommunikation«12 zu erweitern und damit ihre spezifische ästhetische Wahrnehmung zu verbreiten. Zu den Verbreitungsmedien zählen laut Luhmann indes nicht nur Texte und Bücher, sondern mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung auch Medien der Telekommunikation: Kino, Radio, Fernsehen, Telefon und Computer.13 Auch für diese Medien ist die Verknüpfung mit Liebe zentral, beispielsweise war kein Thema je wichtiger für das Kino: »Das Thema der Liebesbeziehung entstand somit nicht mit dem Kino, aber das Kino sorgte für ein endloses Angebot an Filmen über romantische Zweisamkeit.«14 Das zeigt sich unter anderem am Melodram, das bereits im frühen Film derart populär war, dass fast alle Filmgenres – vom Western über den Detektiv- bis hin zum Science Fiction-Film – von melodramatischen Elementen durchzogen sind: »Film ist Melodram«,15 bringt Sigrid Lange dieses Verhältnis, bewusst zugespitzt, auf den Punkt. Das Kino fungiert dabei in mehrfacher Hinsicht als Konsumraum: Es ist nicht nur wesentlicher Bestandteil der aufkommenden Massenkultur; die Leinwand mutiert zuweilen zum Werbedisplay, wenn im Film gezeigte käufliche Objekte nur deshalb dort platziert werden, damit sie sich in der Folge besser verkaufen.16 Das Kino ist zudem ein zentraler Faktor der 10 | Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 · 1900. 4. überarb. Aufl. München 2003, S. 35-86; sowie ders.: Autorschaft und Liebe. In: Ders. (Hg.): Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. München u.a. 1980, S. 142-173. 11 | Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. 3. Aufl. Berlin 2013, S. 35. 12 | Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 202. 13 | Vgl. ebd., S. 302-311. 14 | Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn [Original: Consuming the Romantic Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, 1997]. Frankfurt a.M. 2007, S. 60. 15 | Sigrid Lange: Einführung in die Filmwissenschaft. Darmstadt 2007, S. 94. Vgl. dazu auch: Jörg Metelmann: Ressentimentalität. Die melodramatische Versuchung. Marburg 2016. 16 | Vgl. Charles Eckert: The Carole Lombard in Macy’s Window. In: Quarterly Review of Film Studies 3 (1978), H. 1, S. 1-21. Eckert legt die enge Verbindung von Hollywood und Werbung dar: Die Fantasien, die Filme bei den Zuschauern erzeugen, wurden eng

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Herausbildung einer »commodified visual mobility«,17 die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch »the coincident development of department store shopping, packaged tourism, and protocinematic entertainment«18 entstanden ist. Diese Entwicklung hatte wiederum Rückwirkungen auf die Literatur, was sich beispielsweise anhand von Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen (1932) nachvollziehen lässt.19 Die Devise der Protagonistin Doris, sie wolle »schreiben wie Film«20 – damit, wenn sie es später lese, »alles wie Kino [ist] – ich sehe mich in Bildern«21 –, greift die Tradition des empfindsamen Tagebuchs auf, nur um diese in Rekurrenz auf das neue Medium Kino wieder zu brechen: »Statt psychischer Befindlichkeiten generiert die Schrift die Schreiberin als Leinwandheldin.«22 Doris sucht, ebenso wie beispielsweise Denise in Zolas Au Bonheur des Dames, den Weg aus der ökonomischen Not über die Liebe: Auf dieser Suche werden nicht nur Männer und Konsumprodukte eng miteinander verzahnt – so zum Beispiel Hubert und die Niveacreme, Käsemann und der Mantel mit Fuchsbesatz, oder Arthur Grönland mit Kupferberg Sekt und einer goldenen Armbanduhr23 –, sondern auch die Männer selbst in einer Reihe von Ersetzungen ›konsumiert‹. Am narrativen Scheide- wie Höhepunkt muss sich Doris schließlich zwischen ihrem geliebten Feh-Mantel und ihrem Geliebten Ernst entscheiden. Ein Versprecher seinerseits, der falsche Name am falschen mit Konsumprodukten verknüpft, so dass man ein Stück dieser Fantasie selbst erwerben wollte und konnte. Vgl. dazu im deutschsprachigen Kontext den Film Menschen am Sonntag (1930, Regie: Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer), der halbdokumentarisch das Leben der Menschen in Berlin an einem Sonntag Ende der 1920er Jahre verfolgt. Er ist durchsetzt von der Sphäre des Konsums, nicht nur durch die omnipräsenten Werbeplakate und die Warenangebote in den Schaufenstern, sondern auch durch Freizeitaktivitäten, wie bspw. einer Tretboot-Fahrt auf dem Wannsee, dem bunten Treiben in einem Freizeitbad, dem Besuch eines Straßencafés, eines Vergnügungsparks, des Kinos usw. 17 | Anne Friedberg: Window Shopping. Cinema and the Postmodern. Berkeley u.a. 1993, S. 4. 18 | Ebd. 19 | Vgl. zur spezifisch filmischen Ästhetik von Keuns Roman: Stefanie Harris: ›Kinematografie‹: Filmische Schreibweisen in der Literatur der Weimarer Moderne. In: Claudia Benthien, Brigitte Weingart (Hg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin, Boston 2014, S. 445-461, insbes. S. 455-459. 20 | Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen [1932]. Berlin 2009, S. 8. 21 | Ebd. 22 | Thomas Wegmann: Irmgard Keun oder die Ästhetik von Konsumnomadinnen. In: Ders.: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850-2000. Göttingen 2011, S. 329-355, S. 333. 23 | Keun: Das kunstseidene Mädchen, S. 11, 12f., 21. Vgl. zu diesem Zusammenhang Wegmann: Irmgard Keun oder die Ästhetik von Konsumnomadinnen, S. 329-355.

V. Medien: Die Persistenz des Codes

Ort, nimmt ihr die Entscheidung ab und der Roman endet damit, dass Doris im Wartesaal Zoo ohne einen Mann, also ohne Liebe, und ohne finanzielle Mittel zum Konsum ausharrt.24 Der Code der romantischen Liebe – durch die Literatur um 1800 begründet und durch das Kino seit der Zeit um 1900 weiter institutionalisiert – hat bis heute nichts an Aktualität und Gültigkeit eingebüßt. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die heutige Gesellschaft eine Mediengesellschaft in nie zuvor gekanntem Ausmaß ist: Der Code schreibt sich in den audiovisuellen Medien (Filmen, Serien), in der Literatur wie auch im Internet weiter fort. Dabei spielt der Bereich des Konsums eine besondere Rolle, was sich an drei Aspekten deutlich machen lässt. Erstens geht dem Konsum von Literatur und audiovisuellen Medien ein Konsum im materiellen Sinn voraus, denn diese Medienobjekte müssen, bevor man sie im übertragenen Sinn konsumieren kann, zunächst käuflich erworben werden. Zweitens trifft das, was Oliver Jahraus für die Literatur veranschlagt, auch für die Werbung, also dem medialen Anreiz zum Konsum, zu: Eva Illouz hat aufgezeigt, wie die Werbung einerseits von den Vorstellungen romantischer Liebe aus Literatur und Filmen beeinflusst wird und andererseits die Vorstellungen von und Erwartungen an Liebeserfahrungen bei den Rezipienten wie Konsumenten nachhaltig prägt.25 Drittens eröffnet das Internet als das prägende Medium der heutigen Gesell24 | Tatsächlich ist nur in Bezug auf diese beiden, Ernst und den Feh-Mantel, der nahezu als Person gezeichnet wird, von Liebe die Rede (vgl. Keun: Das kunstseidene Mädchen, S. 61f., 194f.). Dementsprechend ist Doris vor die Wahl gestellt: Ernst drängt Doris, den gestohlenen Mantel zurückzugeben, doch als sie kurz davor ist, seiner Bitte nachzukommen, entfährt ihm bei ihrem ersten Kuß der Name seiner Ex-Frau. Daraufhin beschließt Doris, ihn zu verlassen, um den Weg für eine Versöhnung mit seiner ExFrau freizumachen. Auf eine eingehendere Analyse des Romans wird an dieser Stelle verzichtet, da dies bereits von Thomas Wegmann, aber auch bspw. von Björn Weyand und Ilke Vehling geleistet wurde (Vgl. Wegmann: Irmgard Keun oder die Ästhetik von Konsumnomadinnen, S. 329-355; Björn Weyand: Die Faszination des Glanzes: Irmgard Keuns Tagebuchroman Das kunstseidene Mädchen (1932) im Schnittfeld von Warenästhetik und Film. In: Ders.: Poetik der Marke. Konsumkultur und Literarische Verfahren 1900-2000. Berlin, Boston 2013, S. 168-240; Ilke Vehling: »Schreibe, wie du hörst«. Die Redeschrift der Neuen Frau in Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun. In: Sabine Biebl, Verena Mund, Heide Volkening (Hg.): Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit. Berlin 2007, S. 77-100). 25 | Vgl. Kap. II/2. Vgl. dazu auch Michael Kleebergs Novelle Barfuß (1995), in der Arthur K., von Berufs wegen Inhaber einer Werbeagentur, feststellt: »Untersuchungen hatten gezeigt, dass die Worte, mit denen man [in der Werbung, AO] operieren musste, aus dem Feld der Liebe kommen mussten, sowohl der ›reinen‹ als auch der körperlichen. ›Leidenschaft‹ war ein Schlüsselwort, welches den inneren Antrieb des Unternehmens

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schaft die Möglichkeit einer spezifischen Verschränkung der Aspekte von Liebe, Medien und Konsum in Form des Online-Datings.26 Das Online-Dating ist im Hinblick auf den Zusammenhang von Liebe und Konsum sogar von besonderer Relevanz, da es die Marktförmigkeit der Partnersuche explizit macht:27 Das Internet strukturiert die Suche nach einem Partner buchstäblich als einen Markt oder, genauer, es formalisiert die Suche nach einem Partner im Sinne einer ökonomischen Transaktion. Es verwandelt das Selbst in ein verpacktes Produkt, das mit anderen auf einem offenen Markt konkurriert, der nur durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert wird. Es macht aus Begegnungen das Ergebnis mehr oder weniger stabiler Präferenzen; es belastet den Prozeß der Suche mit dem Problem der Effizienz; aus den Begegnungen werden Marktlücken; aus den Profilen (also aus den Personen) werden (mehr oder weniger) feste ökonomische Werte, so daß sich die Personen um ihren Wert in einem derart strukturierten Markt sorgen und sich um eine Verbesserung ihrer Position bemühen. Und schließlich entwickeln die Individuen ein ausgeprägtes Bewußtsein für die Kosten-Nutzen-Seite ihrer Suche, sowohl im Sinne von Zeit als auch in dem Sinne, daß sie die Attribute der gefundenen Person maximieren wollen. 28

Mit der medialen Vermittlung der Begegnungen im Internet gehen zwei grundlegende Probleme einher, die beide mit dem Code der romantischen Liebe zusammenhängen: Erstens wird die Kennenlernsituation umgekehrt, die üblicherweise die physische Präsenz des anderen voraussetzt. Im Internet erfolgt zuallererst eine schriftliche Kommunikation ohne Anwesenheit des Gegenübers.29 Eva Illouz spitzt dies zu: Sie behauptet, dass das Internet für eine »Wiederbelebung des alten cartesianischen Dualismus zwischen Geist

hauptsächlich zu illustrieren hatte. […] Leidenschaft hatte zu einer Grundeinstellung zu werden.« (Michael Kleeberg: Barfuß. Eine Novelle. München 2010, S. 63). 26 | Vgl. dazu Julia Dombrowski: Die Suche nach der Liebe im Netz. Eine Ethnographie des Online-Datings. Bielefeld 2011; sowie Kap. III/2. 3. 27 | Nimmt man die Dating-App Tinder als Beispiel, so gleicht die Partnerwahl dem ›Window-Shopping‹, die Auswahl des Partners erfolgt nach rein optischen Kriterien. Vgl. dazu Nancy Jo Sales: Tinder and the Dawn of the »Dating Apocalypse«. In: Vanity Fair, September 2015, www.vanityfair.com/culture/2015/08/tinder-hook-up-culture-endof-dating, abgerufen am 07.06.2017. 28 | Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Übers. v. Martin Hartmann [Original: Cold Intimacies. The Making of Emotional Capitalism, 2007]. Frankfurt a.M. 2007, S. 132. 29 | Vgl. ebd., S. 119f.

V. Medien: Die Persistenz des Codes

und Körper«30 sorgt. Zweitens, und eng damit verbunden, ist die Konsequenz aus der Marktförmigkeit der Begegnung: Selbstbeschreibung und Profilfoto im Online-Dating entsprechen Produktbeschreibung und Verpackung, dementsprechend werden mit dem potentiellen Partner Fantasien, also: Fiktionswerte,31 verbunden. Während Illouz argumentiert, dass diese Fantasien potentiell pathologisch werden können, da sie nicht wie die romantische Vorstellungskraft in der Realität verankert seien,32 stellen Ellrich und Funken dem entgegen, dass gerade das Fehlen eines realen Körpers diesen zum beständigen Thema der Kommunikation macht: »Die mediale Distanzierung bringt den Körper nicht zum Verschwinden, im Gegenteil, sie macht ihn interessant und promoviert ihn zu einem Phänomen, das durch die Vielzahl der informationstechnischen Perspektiven, unter denen er sich darzubieten vermag, an Bedeutung gewinnt.«33 Der Körper als Leerstelle bedarf daher ständig neuer Repräsentationen anhand immer neuer Fiktionalisierungen: Das Internet wird zur unendlichen Projektionsfläche.34 Vor diesem Hintergrund ist die Untersuchung des Zusammenhangs von Liebe und Konsum im Hinblick auf den Aspekt der Medialität anhand eines Genres geboten, das den Ursprung der Liebe als Medienrealität und die unendlichen Konsumoberflächen des Internets miteinander verknüpft: Der E‑MailRoman, sozusagen als Briefroman im Zeitalter des Internets. Daran wird sich zeigen, dass der Code der romantischen Liebe und, damit verbunden, der Zusammenhang von Liebe und Konsum im digitalen Zeitalter, alles andere als Geschichte sind. Im Gegenteil: Eben weil es nicht zuletzt das Medium des Internets ist, das Liebe überhaupt wahrscheinlich macht, erweist sich der Code als überaus persistent.

30 | Ebd., S. 122. Vgl. dazu auch: Russell Belk: Extended Self in a Digital World. In: Journal of Consumer Research 40 (2013), Nr. 3, S. 477-500, und: Tanja Carstensen, Christina Schachtner, Heidi Schelhowe, Raphael Beer: Subjektkonstruktionen im Kontext Digitaler Medien. In: Dies. (Hg.): Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart. Bielefeld 2014, S. 9-27. 31 | Vgl. Kap. II/3.2.2. 32 | Vgl. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 152-158. 33 | Lutz Ellrich, Christiane Funken: Liebeskommunikation in Datenlandschaften. In: Marc Ries (Hg.): dating.21. Liebesorganisation und Verabredungskulturen. Bielefeld 2007, S. 67-97, S. 92f. 34 | Vgl. ebd., S. 91f.

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2. D igitale L iebe : D aniel G l at tauers G ut gegen N ordwind 2.1 Vom Brief- zum E‑Mail-Roman Die enge Verbindung von Liebe und Medien, die Oliver Jahraus basierend auf systemtheoretischen Überlegungen als Medienrealität bezeichnet, lässt sich am eindrucksvollsten am Beispiel des Briefromans nachvollziehen.35 Unter der Prämisse, dass Liebe »Zeichen-Produktion [ist und] keine Entität oder Kraft, die hinter jener liegt«,36 bietet sich der Liebesbrief-Roman als Studienobjekt par excellence an. Der private Brief ist deshalb so signifikant für die Liebeskommunikation, weil er seit »der Mitte des 18. Jahrhunderts als das privilegierte Medium der authentischen Selbstäußerung und der Selbstvergewisserung des Individuums«37 gilt: »Entsprechend der postulierten Fähigkeit des Briefes, auf expressive, rückhaltlose, spontane und das heißt vor allem nicht-rhetorische Weise ein ›Innen‹ mit einem ›Außen‹ kommunizieren zu lassen, wird der Briefverkehr also als subjektzentrierte Kommunikation ›von Herz zu Herz‹ begriffen.«38 Dabei muss allerdings sowohl »die Medialität des Briefes« als auch der »rhetorische[n] Aufwand[es], mit dem Nicht-Rhetorik inszeniert wird«,39 ausgeblendet werden: Bei Briefen handelt es sich, egal welchen Inhalts sie sind, immer auch um ein stark reguliertes Genre.40 Dass der Brief Nähe, Authentizität und Unmittelbarkeit suggeriert, steht also in Kontrast zu seiner Materialität als schriftliches Artefakt. Dreh- und Angelpunkt dieser Problematik ist die Abwesenheit von Körperlichkeit: Wie kann der Bereich der ›kalten‹, ›toten‹ 35 | Jahraus weist dem Brief und dem Briefroman eine Schlüsselrolle bei der Verknüpfung von Liebe und Medien zu. Vgl. Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 32. 36 | Bettina Wahrig: »Die Liebe ist im Grunde ein Schmerz, ein Wort oder ein Brief.« Julia Kristevas Geschichte der Liebe. In: Renate Stauf, Annette Simonis, Jörg Paulus (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2008, S. 379-399, S. 385f. 37 | Ulrike Vedder: Geschickte Liebe. Zur Mediengeschichte des Liebesdiskurses im Briefroman »Les Liaisons dangereuses« und in der Gegenwartsliteratur. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 12. 38 | Ebd. 39 | Ebd. 40 | Vgl. zu den ›Briefstellern‹, die nicht nur Auskunft über die Briefetikette gaben, sondern auch Anweisungen für ebenjene Inszenierung von Nicht-Rhetorik, die damit eine Rhetorik ex negativo ist, lieferten: Carmen Furger: Briefsteller. Das Medium »Brief« im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Köln u.a. 2010, insbes. S. 178-208; sowie: Susanne Ettl: Anleitungen zu schriftlicher Kommunikation. Briefsteller von 1880-1980. Tübingen 1984; und: Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 1969.

V. Medien: Die Persistenz des Codes

Buchstaben mit dem lebendigen, ›heißen‹ Bereich des Körpers korrelieren? Wie kommen Herz und Schrift zusammen zur Herzensschrift?41 Albrecht Koschorke schlägt vor, dass das Problem der abwesenden Körperlichkeit gelöst wird, indem es zu einer »Re-Inklusion des Körpers«42 anhand des Briefkörpers kommt: In der Konsequenz daraus lagert sich ein tausendfältiger Fetischismus an die Aktionen und Materialien des Briefverkehrs an. Denn Schriftlichkeit schafft allein auf Grund ihrer medialen Struktur exakt jene Bedingungen, aus denen auf semantischer Ebene die Fetische der Empfindsamkeit hervorgehen: Distanz, die Nähe suggeriert und eine Sprache der Distanzlosigkeit freigibt; Abschneidung des Körpers, die durch ungehinderte Zusammenkunft der Geister abgegolten wird; Abstreifung des Äußerlichen, die es ermöglicht, daß die hüllenlosen Innerlichkeiten miteinander verschmelzen. So treibt die Medialisierung eine neue Mythologie der Unmittelbarkeit hervor. Der Name dieser Mythologie ist Empfindsamkeit. Ihr Schauplatz und ihr Übungsfeld sind die empfindsamen Briefwechsel, seien sie biographischer oder fiktionaler Natur, im weiteren Sinn alle auf Schrift bezogenen Aktivitäten. 43

Die Absenz des realen Körpers wird anhand der metonymischen Verschiebung hin zum Briefkörper in Präsenz überführt: Dieser verbürgt eine Art von Präsenz in Absenz, verspricht er doch nichts weniger, als die Innerlichkeiten der Kommunikationspartner in Kontakt zu bringen, da er anhand seiner Materialität »Spuren der Erregung zu übertragen und Affekte hervorzurufen«44 41 | Vgl. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, Wien 1986; Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. Vgl. dazu auch die Inkommunikabilität von Liebe bei Luhmann: »Nicht das Versagen der Geschicklichkeit, sondern die Unmöglichkeit der Aufrichtigkeit wird zum Problem.« (Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität [1982]. Frankfurt a.M. 1994, S. 154). 42 | Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003, S. 51. 43 | Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. 2. Aufl. München 2003, S. 195. Vgl. zu den fetischisierten Materialien im Briefverkehr: Renate Moering: Briefbeigaben. In: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. 11. September bis 16. November 2008. Frankfurt a.M. 2008, S. 191-214. 44 | Vedder: Geschickte Liebe, S. 14. Vgl. zur Manifestation körperlicher Spuren auf dem Briefmaterial: Wolfgang Bunzel: Schreib-/Leseszene. In: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien

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vermag. Der Brief induziert somit auf paradoxe Weise Nähe, indem er qua Materialität von der Distanz des geliebten Gegenübers zeugt.45 Damit geht einher, dass der Brief das zu beglaubigen hat, »was er zugleich überträgt und herstellt: Subjektivität, Innerlichkeit, Liebe.«46 Was bedeutet dies nun für die Verschiebung von der Brief- zur E‑Mail-Kommunikation, mithin vom Brief- zum E‑Mail-Roman? Hat die E‑Mail zunächst einmal viele Gemeinsamkeiten mit der Briefkommunikation – auch sie suggeriert Unmittelbarkeit, Nähe und Authentizität –, so scheint sie das Problem der fehlenden Körperlichkeit auf die Spitze zu treiben, wird der materielle Briefkörper doch ersetzt durch digitale Daten. Die E‑Mail als Teil der potentiell unendlichen Konsumoberflächen des Internets gerät damit ins Zentrum schriftlicher ›Liebeskommunikation 2.0‹. Simultaneität ist das zentrale Stichwort, das in der Forschung als einer der signifikantesten Unterschiede der E‑Mail im Vergleich zum Brief angeführt wird: Die E‑Mail schaffe »die Möglichkeit einer nahezu gleichzeitigen Kommunikation zwischen Sender und Empfänger im World wide web, die raumzeitliche Grenzen anscheinend mühelos überwindet«.47 In McLuhans ›Global Village‹ werde durch die E‑Mail nicht nur die Zeitverschiebung, sondern auch die Entfernung der Kommunikationspartner aufgehoben: »Mit dem System der elektronischen Post entsteht, folgt man dem verbreiteten Mediendiskurs, jedenfalls das Phantasma einer universellen Kommunikation und Zustellbarkeit, das mit keiner Abwesenheit mehr rechnet.«48 Dieses ›Phantasma‹ jedoch verdeckt, dass auch die E‑Mail, aller Geschwindigkeit der Kommunikation zum Trotz, einem zeitlichen Nacheinander unterliegt, eine nahezu simultane Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. 11. September bis 16. November 2008. Frankfurt a.M. 2008, S. 237-262, S. 248: Bunzel führt den Brief Anna Louisa Karschs an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 1. Juli 1761 an, auf dem getrocknete Tränen zu sehen sind und in dem deshalb die Tränen das letzte Wort haben. 45 | Vgl. Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit, S. 52; sowie: Vedder: Geschickte Liebe, S. 15. Vgl. auch: Roland Barthes: Der Liebesbrief [La Lettre d’amour]. In: Ders.: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übers. v. Hans-Horst Henschen [Original: Fragments d’un discours amoureux, 1977]. Frankfurt a.M. 1988, S. 65-67. 46 | Vedder: Geschickte Liebe, S. 14. 47 | Annette Simonis: Liebesbrief-Kommunikation in der Gegenwart zwischen alt und neu: Schrifttradition, SMS, MMS und Internet. In: Dies., Renate Stauf, Jörg Paulus (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2008, S. 425-448, S. 425. 48 | Sigrid Weigel: Spuren der Abwesenheit. Zum Liebesdiskurs an der Schwelle zwischen ›postalischer Epoche‹ und post-postalischen Medien. In: Sigrid Schade, Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. München 1999, S. 80-93, S. 83.

V. Medien: Die Persistenz des Codes

Kommunikation damit zwar möglich, nicht aber zwingend ist.49 Ebenso kaschiert die scheinbare Annullierung der räumlichen Differenz diese nur: Auch wenn die E‑Mail-Adresse virtuell, also an keinen Standort im Raum gebunden ist und damit Kommunikation über Kontinente hinweg innerhalb weniger Sekunden oder Minuten möglich macht, so fällt die Abwesenheit der Körper, anders als Sigrid Weigel und Ulrike Vedder behaupten,50 keinesfalls weg. Die Körper, welche die E‑Mail zuallererst schreiben und die entsprechenden digitalen Signale durch Tastendruck auslösen müssen, sind nach wie vor raumgebunden und distanziert. Die Abwesenheit der Körper ist im E‑Mail Verkehr daher nicht annulliert, sondern wird im Gegenteil nur umso deutlicher. Damit erklärt sich beispielsweise auch der von Annette Simonis beschriebene Drang der sekundären Rückkehr zur alten Briefkultur durch die Imitation von Briefpapier und Schreibschriften in E‑Mail-Programmen als Versuch, die fehlende Personalisierung und Individualisierung zu kompensieren.51 War der Briefkörper gerade dazu da, abwesende Körperlichkeit in Präsenz zu überführen, so kommt es mit der E‑Mail zu einer »neuartige[n] Gleichzeitigkeit von körperlicher Abwesenheit und virtueller Anwesenheit.«52 Diese Potenzierung der physischen Abwesenheit in der E‑Mail-Kommunikation im Vergleich zum Briefverkehr wird unterschiedlich gedeutet: Eva Illouz geht davon aus, dass der »utopische[n] Diskurs«, der das Internet als »Technologie der Entkörperlichung«53 umgibt, die Idee eines umso authentischeren Selbstausdrucks propagiert: »Dieser Sichtweise gemäß ermöglicht der Körper – genauer: der fehlende Körper – den Emotionen, aus einem authentischeren Selbst hervorzugehen und so einem wertvolleren Objekt zuzufließen, nämlich 49 | Vgl. Vedder: Geschickte Liebe, S. 331. 50 | Vgl. Sigrid Weigel: Spuren der Abwesenheit, S. 82-85; sowie Vedder: Geschickte Liebe, S. 323f. 51 | Vgl. Annette Simonis: Liebesbrief-Kommunikation, S. 425, 428f. Emoticons und Emojis könnten als ein ebensolcher Versuch angesehen werden, Abwesenheit zu kompensieren und womögliche Zweideutigkeiten der Schriftsprache auszumerzen. Auch Ulrike Vedder hebt auf den möglichen Material- und Objektcharakter von E‑Mails ab, der sich jedoch vom Brief signifikant unterscheidet: »Zwar lassen E‑Mails sich ausdrucken, doch dann ist unübersehbar: Sie sind Text, ein Stück bedrucktes Papier, aber nicht (Text-)Körper, d.h. eben kein Körperspurtext wie ein handgeschriebener Brief, kein Stück einer Biographie, das es später beim Wiederlesen erlauben wird, Spuren einer Begegnung wiederzufinden – ungeeignet als Fetisch oder Sammelobjekt.« (Vedder: Geschickte Liebe, S. 330) 52 | Annette Simonis: Liebesbrief-Kommunikation, S. 430. Simonis bezieht diesen Befund vor allem auf Webcams und Videotelefonie, allerdings trifft er meines Erachtens ebenso auf die Kommunikation per E‑Mail zu. 53 | Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 114.

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dem entkörperlichten wahren Selbst eines anderen.«54 Das Problem an diesem Konzept ist jedoch, so Illouz, die Verankerung der Emotionen im Körper und damit verbunden die Frage, wie diese losgelöst vom Körper authentisch kommuniziert werden können.55 Ulrike Vedder plädiert deshalb dafür, dass mit der »›Entkörperlichung‹ […] die Befreiung von Identität« einhergehe: »Die Subjekte der Online-Kommunikation simulieren unterschiedlichste identities, erfinden sich, verstellen sich.«56 Da die E‑Mail nicht mehr als ein Gebilde von »Buchstaben aus Licht und Schatten«57 ist, spuke im Internet, so Vedder, »das Unheimliche einer Virtualität […], deren digitale Spuren zugleich an- und abwesend sind und die die tiefste Fremdheit und Anonymität instantan in größtmögliche Nähe und Intimität transformieren kann.«58 Ist das Konzept der Multioptionalität von Identitäten spezifisch postmodern,59 so trifft dies auch auf die Problematik im Herzen der E‑Mail-Kommunikation zu. Sofern keine materielle, das heißt körperliche Validierung der Identität stattgefunden hat, verbleibt der E‑Mail-Verkehr im Fahrwasser der Ungewissheit: Anders als in der brieflichen Kommunikation, in welcher der Briefkörper für die Identität des Senders bzw. Empfängers bürgt, kann man sich im Internet nie sicher sein, mit wem man tatsächlich kommuniziert.60 Das Fehlen der körperlichen Bestätigung erweist sich insbesondere in der Liebeskommunikation als Problem,61 weshalb die Kommunikation per E‑Mail zwischen potentiell Liebenden fast immer die Begegnung in der ›realen‹ Welt als Fluchtpunkt hat.62 54 | Ebd. Als treffendes Beispiel führt Illouz den Film You’ve got Mail (dt. e-m@il für Dich, Nora Ephron (R.), Warner Bros. 1998) an, in dem es genau darum geht, dass das »Internet-Selbst authentischer, echter und leidenschaftlicher« zu sein scheint als das ›reale‹ Ich, wodurch die Liebeskommunikation zuerst im Internet gelingt, und erst danach in das ›reale‹ Leben überführt werden kann. Vgl. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 113. 55 | Vgl. ebd., S. 114f. 56 | Vedder: Geschickte Liebe, S. 333. 57 | Ebd., S. 339. 58 | Ebd., S. 337. 59 | Vgl. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 121f. 60 | Aber auch der Brief verbürgt natürlich keine letztendlichen Sicherheiten, wie bereits Les Liaisons dangereuses (1782) von Choderlos de Laclos vorführen. Vgl. Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003, S. 34. 61 | Vgl. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 157f. Vgl. auch Kap. II/2. 62 | Vgl. Vedder: Geschickte Liebe, S. 333. Beim Online-Dating wird es gar als wichtig erachtet, die direkte Begegnung möglichst schnell herbeizuführen, damit die Fantasie nicht zu ausschweifig und die eventuelle Enttäuschung nicht zu groß werden kann. Vgl. Ellrich, Funken: Liebeskommunikation in Datenlandschaften, S. 69.

V. Medien: Die Persistenz des Codes

Im E‑Mail-Roman kommt es daher regelmäßig zum Re-Entry der Materialität: Als gedrucktes Buch, das die E‑Mails zwischen Liebenden abbildet, rückt er in die Nähe des Briefromans. Hatte dieser das Problem, eben jene Materialität, die die Identitäten und die Liebe der Schreibenden als ›Spurenträger‹ beglaubigt, zu nivellieren, indem er lediglich das geschriebene Wort abbilden kann, so zieht der E‑Mail-Roman wiederum das »Phantomhafte des electronic writing«63 ein, indem er den digitalen Buchstaben, gedruckt auf Papier, neuerlich Substanz verleiht: »In der Literatur interferieren die Immaterialität und Spurlosigkeit der E‑Mails mit einer Schrift, die wie im Liebesbrief die Erregungsspuren zu übertragen und lesbar zu machen vermag.«64 Diese Spannung zwischen Materialität und Digitalität soll auf der Folie der Überlegungen zum Zusammenhang von Liebe und Konsum anhand von Daniel Glattauers E‑MailRoman Gut gegen Nordwind einer genaueren Lektüre unterzogen werden.

2.2 Der Code schreibt sich fort: Romantische Liebe 2.0 Daniel Glattauers Roman hebt an mit einer Negation: der Aufkündigung eines Konsumverhältnisses. Gemeint ist die Kündigung eines Zeitschriften-Abonnements, die Emmi Rothner an den Like-Verlag schicken möchte, die jedoch versehentlich – durch einen falschen Buchstaben in der E‑Mail-Adresse – bei Leo Leike landet.65 Zu diesem Lapsus gesellt sich bezeichnenderweise neun Monate später ein zweiter: Einmal in ihre Kundenkartei geraten, schickt Emmi an Leos E‑Mail-Adresse eine Massenmail, in der sie den Empfängern frohe Weihnachten wünscht. Ein drittes Mal schließlich ergeht fälschlicherweise eine E‑Mail von ihr an ihn, in der sie sich nun wirklich endgültig von ihrem ›Like‹-Abonnement trennen möchte. In Folge dieser dritten fehlgegangenen E‑Mail entspinnt sich ein steter E‑Mail-Verkehr der beiden Protagonisten, der schließlich in einer Liebe mündet, die rein virtuell existiert – Love Virtually ist in Anlehnung an einen der erfolgreichsten Liebesfilme der Nuller Jahre66 die englische Übersetzung des Romans treffend betitelt.67 63 | Vedder: Geschickte Liebe, S. 339, Herv. i. O. 64 | Ebd., S. 347. 65 | In Michael Kleebergs Novelle Barfuß (1995) führt ebenfalls ein Tippfehler dazu, dass sich der Protagonist, der in der Kreativwirtschaft arbeitet, in einem Erotik-Chatroom des Minitel, ein spezifisch französischer Vorläufer des Internets, wiederfindet. Die Begegnung, die er dort macht, ist um einiges konsequenzenreicher als die Amour fou von Emmi und Leo, denn sie resultiert in der physischen Vernichtung des Protagonisten. 66 | Vgl. Love Actually. Richard Curtis (R.). Universal Pictures 2003. 67 | Vgl. Daniel Glattauer: Love Virtually. Übers. v. Jamie Bulloch, Katharina Bielenberg. London 2011.

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2.2.1 Buchstaben-Liebe Der ›Startmechanismus Zufall‹ wird in Glattauers Roman also gleich dreifach inszeniert und mit einem Buchstabenfehler begründet: Emmi, so erklärt sie Leo, leidet an einem »chronischen ›Ei‹-Fehler«,68 der bewirkt, dass ihr beim schnellen Tippen stets ein ›e‹ vor das ›i‹ rutscht (vgl. ebd.) und sie deshalb statt der Verlagsadresse »[email protected]« jene von Leo (»[email protected]«, GN 6) erwischt. Leos Interesse an ihr ist daraufhin zunächst rein beruflich: Er ist Sprachpsychologe und arbeitet an einer Studie über »den Einfluss der E‑Mail auf unser Sprachverhalten und […] über die E‑Mail als Transportmittel von Emotionen.« (GN 12) Dies mag angesichts eines Liebes-E‑Mail-Romans plakativ erscheinen, beschreibt es doch jene Versuchsanordnung, die der Text verfolgt. Dazu passt schließlich, dass Emmi Rothner »beruflich mit Homepages befasst« (GN 9) ist, sie sich also mit den Konsumoberflächen des Internets bestens auskennt. Leo ist sozusagen der Profi für den Inhalt und Emmi die Expertin für das Medium der Kommunikation. Dem beruflichen Interesse folgend, stellt Leo aufgrund von Emmis E‑Mail, die den ›Ei‹-Fehler erklärt, Vermutungen über ihre Person an: »Nun, Ihre E‑Mails lesen sich wie ›heruntergesprudelt‹, wenn ich mir diese Einschätzung erlauben darf. Ich hätte schwören können, dass Sie eine Schnellsprecherin und Schnellschreiberin sind, eine quirlige Person, der die Abläufe des Tages niemals rasch genau vonstatten gehen können.« (GN 10) Dass er sie derart schnell durchschaut, imponiert ihr (vgl. GN 11), weshalb das Spiel fortgesetzt wird: Sie schreiben wie 30. Aber Sie sind um die 40, sagen wir: 42. Woran ich es zu erkennen glaube? – Eine 30-Jährige liest nicht regelmäßig »Like«. […] Und schließlich: Sie heißen Emmi, also Emma. Ich kenne drei Emmas, alle sind älter als 40. Mit 30 heißt man nicht Emma. Emma heißt man erst wieder unter 20, aber unter 20 sind Sie nicht, sonst würden Sie Wörter wie »cool«, »spacig«, »geil«, »elementar«, »heavy« und Ähnliches verwenden. Außerdem würden Sie dann weder mit großen Anfangsbuchstaben noch in vollständigen Sätzen schreiben. […] Heißt man nun Emma und schreibt man jünger als man ist, zum Beispiel weil man sich deutlich jünger fühlt, als man ist, nennt man sich nicht Emma, sondern Emmi. Fazit, liebe Emmi Rothner: Sie schreiben wie 30, Sie sind 42. Stimmt’s? Sie haben 36er Schuhgröße. Sie sind klein, zierlich und quirlig, haben kurze dunkle Haare. Und sie sprudeln, wenn Sie reden. Stimmt’s? (GN 14)

Von der ›herunter gesprudelten‹ E‑Mail zur ›sprudelnden‹ Sprecherin ist es nur ein kleiner Schritt: An dieser Stelle wird ein Spiel initiiert, das den Roman durchzieht und das sich einem Verhältnis widmet, das typisch ist für den Zu-

68 | Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind. Wien 2006, S. 8. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle GN mit nachgestellter Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.

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sammenhang von Liebe und Konsum.69 Es geht um die Auslotung des Verhältnisses von Oberfläche und Kern, von äußerer Erscheinung und innerem Wesen, von einer potentiell trügerischen Maske und einem vermeintlich wahren, inneren Ich. Dabei setzt der Roman an die Stelle des traditionellen Oberflächenverständnisses bei der Partnersuche – die körperliche Erscheinung – eine Schreiboberfläche in Form der E‑Mails der Protagonisten. Diese Schreiboberfläche nutzt vor allem Leo zur Interpretation nicht nur des Aussehens von Emmi (Alter, [Schuh-]Größe, Frisur), sondern auch ihres Wesens (›quirlig‹). Das pseudo-visuelle Abtasten ihrer – von ihm imaginierten – Körperoberfläche initiiert das Spiel des Flirtens, das im Homoioteleuton »zierlich und quirlig« (GN 14) gipfelt: Kann ›zierlich‹ als Kompliment gelesen werden – dass er annimmt, sie entspricht dem gängigen Schönheitsideal –, so nimmt ›quirlig‹ dieses ein Stück weit zurück, da es besagtem Ideal gerade nicht entspricht. Dass seine Interpretation wie jeder hermeneutische Leseakt fehl gehen kann, räumt er durchaus ein, als die Antwort auf seine E‑Mail zunächst ausbleibt (vgl. GN 14f.). Ohne seine Annahmen zu bestätigen, sondern eher im Gegenteil seine Neugier zu schüren und ihn zu weiteren Deduktionen geradezu anzureizen (vgl. GN 15f.), gesteht Emmi, dass sie die Fähigkeit, einen Menschen derart lesen zu können, fasziniert: »Ich finde es spannend, dass Sie sich so auf einen Menschen einlassen können, den Sie gar nicht kennen, den Sie noch nie gesehen haben und wahrscheinlich auch niemals sehen werden, von dem Sie auch sonst nichts zu erwarten haben, wo Sie gar nicht wissen können, ob da jemals irgend etwas Adäquates zurückkommt. Das ist ganz atypisch männlich, das schätze ich an Ihnen.« (GN 15) Mit Luhmann ließe sich nun schlussfolgern: Diese empathische – man könnte auch sagen: empfindsame – Fähigkeit begründet seine Einzigartigkeit für Emmi und ist der Grund, warum sie sich letztlich in ihn verliebt. Leo habe sie »erkannt« (GN  223), behauptet Emmi ganz am Ende in einer fiktiven Antwort an ihren Ehemann. Diese Aussage ist doppeldeutig, denn sie meint nicht nur, dass Leo ihr wahres Ich erkannt habe, sondern ist im biblischen Sinn auch einer sexuellen Metaphorik verpflichtet.70 Der Prozess dieses Erkennens findet zudem allein im Schreiben und Lesen statt, weshalb Emmi fortan Leos E‑Mails begehrt: »[W]enn Sie mir drei Tage nicht schreiben, empfinde ich zweierlei: 1.) Es wundert mich. 2.) Es fehlt mir etwas.« (GN 16) Zwei E‑Mails später gesteht sie: »Ich lese Sie nämlich gerne, lieber Leo.« (GN 18) Damit meint sie nicht nur ihren eigenen Lektüreakt seiner E‑Mails, sondern auch seine Lektüre – ihrer E‑Mails und ihrer Person –, die 69 | Vgl. Kap. II/4 sowie Christian Metz: Warenästhetik, Liebe und literarische Selbstreflexion in Leanne Shaptons Romanexperiment Bedeutende Objekte. In: Heinz Drügh, Björn Weyand, Christian Metz (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Berlin 2010, S. 269-295, S. 278f. 70 | Vgl. 1. Mose 4, 1.

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wiederum in seinen E‑Mails Ausdruck findet.71 Die Basis der Liebe zwischen Emmi und Leo rekurriert damit auf den »Topos des beseelten Liebesbriefs«,72 wonach man »im Schreiben an den Anderen zu ihm und zu sich selbst finde, weil man einander im gegenseitigen Schreiben lesen und erkennen könne«.73 Dies affirmiert nicht zuletzt Leos E‑Mail-Adresse, also jene Wort-Zeichen-Kombination, die überhaupt erst zum Zusammentreffen von Leo und Emmi geführt hat. Der Konsum der E‑Mails fungiert fortan als Katalysator der sich entwickelnden Liebe zwischen den beiden, die sich als Buchstaben-Liebe bezeichnen lässt und konsequenterweise in einer Buchstabenfolge codiert ist:74 »[email protected]« trennt semantisch wie phonetisch nur ein Buchstabe von der E‑Mail-Adresse des Like-Verlags, was Emmi zuallererst mit Leo in Kontakt treten lässt. Kombiniert man die englische Bedeutung von ›like‹ mit ›woerter‹, dann sind es in der Tat seine Worte, die sie mag und die Begehren in ihr erzeugen.75 Das virtuelle Schreibartefakt der E‑Mail wird somit zum Liebesobjekt, während der Körper des/der Geliebten aufgrund seiner Absenz in den Bereich der Fiktion verschoben wird: Wir erzeugen virtuelle Fantasiegestalten, fertigen illusionistische Phantombilder voneinander an. Wir stellen Fragen, deren Reiz darin besteht, nicht beantwortet zu werden. Ja, wir machen uns einen Sport daraus, die Neugierde des anderen zu wecken und immer weiter zu schüren, indem wir sie kategorisch nicht befriedigen. Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, zwischen Wörtern, bald wohl schon zwischen den Buchstaben. Wir bemühen uns krampfhaft, den anderen richtig einzuschätzen. Und gleichzeitig sind wir 71 | Diese Kopplung von Schreiben und Lesen datiert auf das Aufschreibesystem um 1800, in dem beides automatisiert »Stimmen und Gesichte zwischen die gelesenen Zeilen« (Kittler: Aufschreibesysteme, S. 144) zu tragen vermag: »Das ›Lesenkönnen reiner Signifikate‹ [Kittler] qua halluzinatorischer Einbildungskraft ist also Effekt eines neuen – sinnstiftenden – Modus des Schreibens und Verstehens.« (Vedder: Geschickte Liebe, S. 10) 72 | Vedder: Geschickte Liebe, S. 338. 73 | Ebd. 74 | Diese Liebe steht damit in der Wertherischen Tradition nach Kittler: Vgl. Friedrich Kittler: Autorschaft und Liebe. In: Ders. (Hg.): Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. München u.a. 1980, S. 142-173, S. 150f. 75 | Dass drei Jahre nach Erscheinen von Gut gegen Nordwind ausgerechnet der ›Like-Button‹ seine Karriere in den sozialen Netzwerken des Internets antreten sollte, konnte Glattauer freilich kaum wissen. Auch wenn sich eine anachronistische Lektüre verbietet, so sei hier dennoch darauf verwiesen, dass sich für den heutigen Leser und Facebook-Nutzer eine zusätzliche Bedeutungsebene eröffnet.

V. Medien: Die Persistenz des Codes akribisch darauf bedacht, nur ja nichts Wesentliches von uns selbst zu verraten. Was heißt »nichts Wesentliches«? – Gar nichts, wir haben noch nichts aus unserem Leben erzählt, nichts, was den Alltag ausmacht, was einem von uns wichtig sein könnte. Wir kommunizieren im luftleeren Raum. […] Es gibt keine anderen Menschen um uns. Wir wohnen nirgendwo. Wir haben kein Alter. Wir haben keine Gesichter. Wir unterscheiden nicht zwischen Tag und Nacht. Wir leben in keiner Zeit. Wir haben nur unsere beiden Bildschirme, jeder streng und geheim für sich, und wir haben ein gemeinsames Hobby: Wir interessieren uns für eine jeweils völlig fremde Person. Bravo! (GN 19)

Wie beim Online-Dating ist die Identität des Gegenübers, von dem man nur die E‑Mail-Adresse kennt, hier ungewiss, handelt es sich doch nur um ›virtuelle Fantasiegestalten‹. Nichtsdestotrotz entwickelt sich ein Begehren zwischen den beiden und der Grund dafür ist der Code der romantischen Liebe, der Unwahrscheinliches wahrscheinlich macht: Diesem Kommunikationscode geht es schließlich nicht primär um das Was, sondern um das Wie: Es bedarf gar keiner Information, denn es wird ohnehin an der Mitteilung angeschlossen – die Mitteilung selbst wird informativ, also dass kommuniziert wird.76 Der E‑Mail-Verkehr zwischen Leo und Emmi enthält diesen Code in nuce. Dementsprechend lautet ihre Antwort, auf seine Frage, ob sie weiterhin wolle, dass er ihr schreibt: »JA, ICH WILL!!!!!!! E-MAILS VON LEO! E-MAILS VON LEO! E-MAILS VON LEO. BITTE! ICH BIN SÜCHTIG NACH E-MAILS VON LEO!« (GN 20) Der Einsatz des Gelübdes, das sonst Hochzeiten vorbehalten ist, die dreimalige Wiederholung des Begehrensobjektes und der Ausdruck der Abhängigkeit davon, der ausgiebige Gebrauch von Ausrufezeichen sowie schließlich die Setzung in Versalien verleiht ihrem Begehren nachdrücklich Ausdruck und ironisiert dieses zugleich: Für ein eindeutiges Liebesgeständnis wäre es an dieser Stelle schließlich noch viel zu früh.77 Der Ausruf »ICH BIN SÜCHTIG NACH […]« gehört zudem topisch in die Konsumsphäre, bringt man damit doch gewöhnlich ›guilty pleasures‹ zum Ausdruck. Die Art und Weise der Kommunikation zwischen Emmi und Leo changiert in Konkordanz mit der Liebesbrieftheorie permanent zwischen Nähe und Distanz, was dafür sorgt, dass sie nicht abbricht: In der nächsten E‑Mail öffnet Leo für Emmi den Zugang zu seinem Privatleben, er schüttet ihr, umgangssprachlich gesagt, sein Herz aus, indem er ihr von seiner Exfreundin Marlene erzählt. Diese gescheiterte Liebesgeschichte, die auch Konsumakte wie Ver76 | Vgl. Kap. II/2.1. 77 | Vgl. Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 28: In Bezug auf Ecos Überlegungen zu ›Ich liebe dich‹ führt Jahraus aus: »Der einzige Satz, mit dem man die eigene emotionale Disposition einfach und klar ausdrücken könnte […], ist zugleich der Satz, der die größte Gefahr des Scheiterns mit sich bringt.« Nichts gefährdet Liebe demnach so sehr, wie ›Ich liebe dich‹ zu sagen.

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söhnungsreisen nicht retten konnten (vgl. GN 21), führt das Thema der Liebe explizit in den E‑Mail-Verkehr von Leo und Emmi ein und schlägt zugleich einen Bogen zum Beginn der Bekanntschaft der beiden: Emmi bricht als Dritte anhand ihrer Weihnachts-E‑Mail direkt in die Liebesgeschichte von Leo und Marlene ein. Leo, der sein Weiterleben von dem Empfang einer Nachricht von Marlene an diesem Tag abhängig machte, hatte angesichts des Erscheinens eines Briefchens in der PC-Symbolleiste kurz vor Ende seiner selbst gesetzten Frist ein letztes Mal die Hoffnung auf ein Leben mit Marlene, nur um lesen zu müssen: »Frohe Weihnachten und gutes neues Jahr wünscht Emmi Rothner.« (GN 22) Diese E‑Mail markiert das Ende von Leo und Marlene, jedoch entbehrt die Koinzidenz nicht einer gewissen Komik, was auch Emmi nicht entgeht. Ihre Reaktion ist geprägt von hermeneutischer Distanz, sie liest Leos Offenbarung vor allem als Geschichte, das heißt als ein Narrativ mit Spannungsbogen: »[D]as ist eine besonders gute Geschichte. Vor allem die Pointe hat mich begeistert. Ich bin beinahe stolz, dass ich da so schicksalhaft hineinspiele.« (Ebd.) Ihre anschließende, recht scharfzüngige Analyse dieser Geschichte offenbart nun wiederum ihre Interpretation von Leo Leike, die er prompt zurückweist: »Glauben Sie bitte nicht, mich mehr zu kennen, als Sie mich kennen können! (Sie können mich gar nicht kennen.)« (GN 24) Die Paronomasie der Worte ›kennen‹ und ›können‹, die nur ein Buchstabe voneinander trennt, erinnert an den Lapsus Emmis, der die E‑Mail-Kommunikation der beiden überhaupt erst ermöglicht hat; dennoch stockt die Kommunikation im Anschluss daran und wird für eine Woche unterbrochen – was unter anderem daran liegt, dass Emmi mit ihrer Analyse vom Register des romantischen in jenes des auf klärerischen Displacement gewechselt hat, es also plötzlich um das Was und nicht mehr das Wie der Kommunikation geht.78 Leo aber, der die Unterhaltung mit Emmi von Anfang an »als Teil [s]einer Marlene-Verarbeitungstherapie betrachtet« (GN  25), kommunizierte mit seiner Marlene-Mail so sehr im Register des romantischen Displacement wie nie zuvor. Mit dem Registerwechsel enttäuscht Emmi seine Erwartungen, was zum vorläufigen Kommunikationsabbruch führt. Dieser dürfte zudem zusätzlich durch die Information, dass Emmi mit Bernhard verheiratet ist (vgl. GN 25), begründet sein. Die Wiederaufnahme des Kontakts gestaltet sich holprig: Emmi entschuldigt sich und führt die Differenz zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit als Grund an: »Das Problem ist, dass Sie nicht wissen können, wie ich bin, wenn ich so etwas sage.« (GN  29) Als sie ihren Status als verheiratete Frau als Ursache für seine ›Lustlosigkeit‹ in der Kommunikation vermutet, bricht 78 | Peter Fuchs bezeichnet mit dem romantischen Displacement die Tatsache, dass in der Liebeskommunikation an der Mitteilung selbst angeschlossen wird, es also um das Wie geht; im aufklärerischen Displacement dagegen interessiert die Information, also das Was der Kommunikation. Vgl. ausführlicher dazu: Kap. II/2.1.

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der Mailverkehr neuerlich ab, ihre täglichen Nachfragen – »HERR LEO?« (GN 30) – bleiben zunächst ohne Antwort. Der Grund dafür ist jedoch beruflicher Natur, denn Leo befindet sich auf Seminarreise in Bukarest und weist Emmis Vermutungen daher direkt zurück: Mich stört es überhaupt nicht, dass Sie »glücklich vergeben« sind. Ich hatte nie vor, Sie näher kennen zu lernen, näher als es im elektronischen Briefaustausch möglich ist. Ich wollte auch nie wissen, wie Sie aussehen. Ich mache mir aus den Texten, die Sie mir schreiben, mein eigenes Bild von Ihnen. Ich bastle mir meine eigene Emmi Rothner. Ich habe Sie in den Grundzügen noch immer so vor mir, wie Sie mir schon zu Beginn unseres Kontakts begegnet sind, egal, ob Sie dreimal tragisch verheiratet, fünfmal glücklich geschieden oder täglich munter aufs Neue »noch frei« und in den Samstagnächten ausschweifend ledig sind. (GN 31)

Diese umschweifige Absage affirmiert zunächst eine Aussage Leos wenige E‑Mails zuvor: »Ich halte das für sehr, sehr klug, dass wir davon ausgehen, dass es zu keiner Begegnung zwischen uns kommen wird. Ich will nämlich nicht, dass die Art unseres Gesprächs hier auf das Niveau eines Kontaktanzeigen- und Chatroom-Geplänkels absinkt.« (GN 17) Der Ausschluss des Treffens garantiert, so die Hypothese Leos, den Ausschluss eines emotionalen und vor allem sexuellen Interesses, das den Kontakt von Körpern voraussetzt. Zudem ergeht eine Absage an eine Liebeskommunikation, die als standardisiert (›Kontaktanzeigen‹) und inhaltslos (›Geplänkel‹) disqualifiziert wird, da sie vor allem in elektronischer Kommunikation (›Chatroom‹) zu erwarten ist.79 Diese offene Verneinung all dessen, was die Kommunikation mit Emmi nicht ist oder nicht sein sollte, ruft jedoch ex negativo genau diesen Kontext des Flirts, der eventuell zu einer (sexuellen) Begegnung führen könnte, auf. Daher kontrastiert Leos demonstrative Bekundung von Nicht-Interesse auch eine frühere E‑Mail von ihm, in der er ein »Wahnsinnsinteresse« (GN  20) an Emmi bekennt. Dieser ›double talk‹ seinerseits weckt ihr Begehren nur umso mehr und wird daher bestimmend für die Kommunikation der beiden: »Sie provozieren mich, Leo. Sie haben eine unorthodoxe, aber äußerst zielstrebige Art, sich bei mir immer spannender zu machen: Sie wollen gleichzeitig alles und nichts von mir wissen. Sie bekunden, je nach Tagesverfassung, Ihr ›wahnsinniges Interesse‹ und Ihr fast schon pathologisches Desinteresse an mir. Und das regt mich abwechselnd auf und an. Momentan gerade wieder: an. Ich gestehe es.« (GN  32) Dabei betreibt sie jedoch ebenso ›double talk‹: In ein- und derselben E‑Mail gesteht sie ihm zunächst, dass sie ihn mag – »Sehr, sehr, sehr!« (GN 32) –, und besteht gleichzeitig darauf, dass sie sich nicht treffen sollten,

79 | Vgl. Ellrich, Funken: Liebeskommunikation in Datenlandschaften.

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was im Kontrast zur Interessensbekundung steht, gleichzeitig jedoch die Kommunikation aufrechterhält: Und ich kann einfach nicht glauben, dass Sie mich nicht sehen wollen. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns tatsächlich sehen sollten. Sollen wir natürlich nicht! Aber ich würde zum Beispiel schon gerne wissen, wie Sie aussehen. Es würde vieles erklären. Ich meine, es würde erklären, wieso Sie so schreiben, wie Sie schreiben. Weil Sie dann nämlich so aussehen, wie jemand aussieht, der so schreibt wie Sie. Und ich würde verdammt gerne wissen, wie jemand aussieht, der so schreibt wie Sie. (GN 32f.)

Das kommunikative Spiel, umschweifig Nicht-Interesse an der realen Existenz und dem realen Körper des anderen zu erklären und damit ex negativo umso mehr Interesse daran zu bekunden, beherrscht Emmi ebenso wie Leo. Die enge Verknüpfung zwischen Schreib- und Körperoberfläche wird hier explizit gemacht: Emmis Interesse an Leos Aussehen speist sich aus seinem Schreiben, dabei wird das eine als Begründung für das andere und vice versa angeführt. Der Zusammenhang wird zirkulär. Während Emmi von der Schreib- auf die Körperoberfläche drängt, bleibt Leo der Schreiboberfläche und den damit einhergehenden Fantasien verhaftet, wenn er sich anhand ihrer E‑Mails »seine eigene Emmi Rothner« (GN 31) bastelt. Die Schreiboberfläche fungiert für ihn als Substitut der Körperoberfläche: »Schreiben Sie mir, Emmi. Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf. Emmi, Emmi, Emmi.« (GN 88) Der reale Körper wird damit irrelevant: »Mir ist egal, wie Sie aussehen. Ich habe mich in ihre Worte verliebt.« (GN 88) Der Liebesakt wird also ins Schreiben selbst verlagert, was die Buchstaben-Liebe affirmiert: »Ich schreibe gerne Emmi. Einmal linker Mittelfinger, zweimal rechter Zeigefinger, und zwei Reihen darüber rechter Mittelfinger. EMMI. Ich könnte tausendmal Emmi schreiben. Emmi schreiben ist Emmi küssen.«80 (GN 89) Konsequenterweise hat dies wiederum Rückwirkung auf sein Begehren von Frauen(-körpern): »Welche Frauen mir gefallen? Frauen, die so aussehen, wie Sie schreiben, Emmi.« (GN 107) Eine derartig auf Buchstaben gründende Liebe birgt Tücken, denen sich Emmi nach einer Weile schlagartig bewusst wird. Von einer Freundin daran erinnert, dass Leo Sprachpsychologe ist, der an einem Projekt zur »E‑Mail als Transportmittel von Emotionen« (GN 12) arbeitet, überkommt sie der Verdacht, dass sie für ihn lediglich ein Studienobjekt sein könnte (vgl. GN 97). Ohne den realen Körper und damit die Person hinter der E‑Mail-Adresse [email protected] 80 | Vgl. zu dieser Verknüpfung des Körper mit dem Akt des Schreibens auch die ikonische Szene des Vicomte de Valmont in den Liaisons dangereuses, der einen Brief an Madame de Tourvel im Bett auf dem Rücken der Prostituierten Emilie schreibt (was er im 47. Brief an die Marquise de Merteuil mitteilt).

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zu kennen, ist die bloße Suggestion von Gefühlen eine reale Möglichkeit:81 »Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben.« (GN 99) Dies kontrastiert ihr Bekenntnis, dass sie in ihren E‑Mails an Leo gerade umso mehr sie selbst sein kann: »Ich kann in meinen E‑Mails an Sie so sehr die echte Emmi sein wie sonst nie. […] Bei Ihnen, lieber Leo, scheue ich mich nicht, so spontan zu sein, wie ich im Innersten bin. Ich überlege nicht, was ich Ihnen zumuten kann und was nicht. Ich schreibe einfach munter drauflos. Und das tut mir so wahnsinnig gut!!! – Und, das ist ihre Leistung, lieber Leo, deshalb sind Sie für mich so unverzichtbar geworden: Sie nehmen mich so, wie ich bin.« (GN  98) Der Code der romantischen Liebe, der fordert, dass die Liebenden die Idiosynkrasien des anderen nicht nur zu bestätigen, sondern im besten Fall auch zu genießen, gar zu lieben haben, greift hier in vollem Umfang. Emmis Liebe zu Leo wird subjektkonstituierend, wenn sie nur im Rahmen ihrer E‑Mail-Kommunikation, dem sich ausdifferenzierenden Sonderhorizont 82 der beiden Liebenden, sie selbst sein kann und dort Unterstützung und Bestätigung ihrer eigenen Subjektivität erhält. Die Möglichkeit, dass Leo alles nur inszeniert hat, um seine Forschung voranzutreiben, sie also auch nur ein Fall von vielen und damit ihrer Einzigartigkeit beraubt wäre, ist für sie der Verrat an ihr selbst: »Leo, nehmen wir die E‑Mail, die ich Ihnen gerade schreibe: Die Vorstellung, dass Sie sie Wort für Wort abklopfen, um wissenschaftliche Erkenntnisse daraus zu gewinnen, um Beispiele zu zitieren, wie und womit man Emotionen transportieren kann, oder, noch schlimmer, womit man Emotionen beim anderen wecken kann, wie man schreiben muss, damit der andere emotionell hineinkippt, diese Vorstellung ist so grauenhaft, dass ich schreien könnte vor Schmerz!!!« (GN 100) Die Verwendung von Emmis E‑Mails für Forschungszwecke würde den radikalen und fundamentalen Wechsel von der Kommunikation im romantischen hin zum aufklärerischen Displacement markieren und damit den Liebesdiskurs der beiden unterminieren, der gerade auf der gegenseitigen Lektüre des anderen beruht. Dass Leo Emmi lesen kann wie kein anderer, begründete zuallererst ihr Interesse und ihre Zuneigung zu ihm. Die Möglichkeit eines derartigen Vertrauensbruchs wird dadurch unterstrichen, dass Emmi auf die »längste E‑Mail« (ebd.), die sie Leo je geschrieben hat, eine generische Abwesenheitsnotiz erhält, in der auf eben jenes 81 | Dabei geht es nicht nur um die Vortäuschung einer falschen Identität, sondern um Identität überhaupt: Mittlerweile gibt es sogenannte ›Social Bots‹ oder auch ›Realfakes‹, die auf Partnerbörsen vorgeben, eine reale Person zu sein, um die Kunden dieser Plattform länger dort zu halten oder eine Premium-Mitgliedschaft zu verkaufen – um also Geld zu verdienen. Vgl. dazu den Fall der Partnerbörse Lovoo, berichtet von Robert Hoffmann: Der Bot fürs Leben. In: www.taz.de/!5311900/, 09.06.2016, abgerufen am 19.03.2017. 82 | Vgl. Kap. II/2.1.

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Psychologische Institut, für das er arbeitet, verwiesen wird (vgl. ebd.). Als er sich schließlich eine Woche später meldet, verkündet er, dass er die Arbeit an der E‑Mail-Emotionen-Forschung längst aufgekündigt habe, da ihm das Thema zu privat geworden sei (vgl. GN  103). Emmis Reaktion darauf restituiert explizit das romantische Displacement der Kommunikation: »Sie haben Ihre Studie wegen uns beiden aufgegeben? – Leo, das ist schön, dafür liebe ich Sie!« (GN 104) Da dieses Liebesbekenntnis mit einem Nachsatz versehen ist: »(Zum Glück ahnen Sie nicht, in welcher Weise ich Ihnen das gerade gesagt habe)« (ebd.), bleibt es offen für Interpretationen und setzt den ›double talk‹ zwischen beiden fort: Es ist zugleich ernst und nicht ernst gemeint. Mit der Etablierung der Buchstaben-Liebe wird die fehlende Körperlichkeit zunehmend zum Problem, insbesondere für Emmi: Aber es hat doch keinen Sinn, was wir hier tun. […] Ich bin für sie ein Fantasiebild, real daran sind nur ein paar Buchstaben, die von Ihnen sprachpsychologisch in einen klangvollen Zusammenhang gebracht werden können. Ich bin für Sie wie Telefonsex, nur halt ohne Sex und ohne Telefon. Also: Computersex, nur ohne Sex und ohne Bilder zum Herunterladen. Und sie sind für mich reine Spielerei, eine Flirt-Wiederauffrischungsagentur. Ich kann das tun, was mir fehlt: Ich kann die ersten Schritte einer Annäherung erleben (ohne mich tatsächlich annähern zu müssen.) (GN 43)

Je mehr aus diesem Spiel Ernst wird, desto weniger ist Emmi im Gegensatz zu Leo bereit, sich mit einem Fantasie-Gebilde, das wie ein Konsumprodukt mit E‑Mails beworben wird und daher auch einen Fiktionswert 83 hat, zufriedenzugeben: Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben. Aber sind Sie nur ein Teil von diesem, so sind Sie schon ein ganz besonderer. Es sind Ihre Zeilen und meine Reime darauf: die ergeben so in etwa einen Mann, wie ich mir plötzlich vorstelle, dass es sein kann, dass es so jemanden wirklich gibt. Sie haben immer von Ihrer »Fantasie-Emmi« geschrieben. Ich bin vielleicht weniger bereit, mich mit einem »Fantasie-Leo« zufrieden zu geben, mir jemanden, den ich so gern mag, auf Dauer nur einzubilden. Der muss schon aus Fleisch, Blut und Ähnlichem sein. Und er muss einer Begegnung mit mir standhalten können. So weit sind wir noch nicht. Aber ich spüre in mir, dass wir unserer Begegnung mit schreiberischen Mitteln immer näher kommen können. Bis wir uns einmal gegenüberstehen. Oder gegenübersitzen. Oder knien. Ist ja egal. (GN 99)

Anders als Emmi weiß Leo um die Gefahr, die der Austausch des Schreibkörpers mit dem realen Körper mit sich bringt: Die Beziehung, auf Schreib83 | Vgl. Kap. II/3.2. Vgl. dazu auch die Ausführungen zum Online-Dating und der Marktförmigkeit der Begegnung im Internet in Kap. V/1.

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begehren aufgebaut, droht zu implodieren. Gleich zu Beginn vermerkt er diese Gefahr angesichts seines ›Wahnsinnsinteresses‹: Ich weiß aber auch, wie absurd dieses Interesse ist. Es würde einer Begegnung niemals standhalten, egal wie Sie aussehen, wie alt Sie sind, wie viel Sie von Ihrem beträchtlichen E‑Mail-Charme zu einem allfälligen Treffen mitnehmen könnten und was von Ihrem geschriebenen Sprachwitz auch in Ihren Stimmbändern steckt, in Ihren Pupillen, in Ihren Mundwinkeln und Nasenflügeln. Dieses »Wahnsinnsinteresse«, so mein Verdacht, nährt sich einzig und allein aus der Mailbox. Jeder Versuch, es von dort heraustreten zu lassen, würde vermutlich kläglich scheitern. (GN 20)

Nichtsdestotrotz dreht sich die Kommunikation von Leo und Emmi mehr und mehr um die (Un-)Möglichkeit eines Treffens, das, genau wie beim Online-Dating, der Fluchtpunkt der Kommunikation ist. Zugleich versuchen die beiden, die fehlende Körperlichkeit durch verschiedene Substitute, die stets in einem konsum-medialen Zusammenhang stehen, zu kompensieren.

2.2.2 Präsenz in Absenz: Substitutive Körperlichkeiten Die Versuche, das Fehlen der Körper in der Liebeskommunikation zwischen Emmi und Leo zu kompensieren, zielen auf die grundlegende menschliche Wahrnehmung ab: Sehen, Schmecken, Hören, Riechen und Fühlen. Anhand von Substituten für diese fünf Sinne soll die Distanz zwischen Schreib- zur Körperoberfläche eingeebnet werden. Emmis Begehren nach dem Wissen um seine Körperoberfläche nachgebend, schlägt Leo daher ein »verrücktes Spiel« (GN 33) vor, das auf den Sehsinn abzielt: »Ich wette, ich finde unter, sagen wir, zwanzig Frauen sofort die eine und einzige Emmi Rothner heraus, während Sie unter ebenso vielen Männern den echten Leo Leike niemals erraten würden. Wollen wir es auf diesen Test ankommen lassen?« (GN 33f.) Emmi ist sofort Feuer und Flamme und schlägt ein digitales Bilderrätsel vor, doch Leo möchte eine ganz spezifische Art der Begegnung: »Liebe Emmi, ich schlage vor, dass wir uns persönlich begegnen, ohne es zu wissen, also so, dass wir in der Masse von Menschen verwechselbar bleiben.« (GN 34) Dieses Spiel wählt er deshalb aus, weil es den digitalen Liebesdiskurs der beiden – den anderen zu lesen – auf die Realität überträgt: »Interessant ist, ob und woran einer den anderen zu erkennen glaubt, nicht, wie wir beide tatsächlich aussehen, meine ich. Ich sage noch einmal: Ich will nicht wissen, wie Sie aussehen. Ich will Sie nur erkennen. Und das werde ich.« (GN 35) Das Spiel bietet die Möglichkeit, den anderen allein aufgrund der bisher geschriebenen E‑Mails zu identifizieren, in einem hermeneutischen Akt – der die Schreib-Begegnung von Emmi und Leo von Anfang an prägt – einen Bogen von der Schreib- zur Körperoberfläche zu schlagen. Obgleich Emmi darauf brennt, zu erfahren, wie er aussieht, so fürchtet sie zugleich, dass ihre

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E‑Mail-Beziehung dann vorbei sein könnte: »Ist das dann das Ende unserer spannenden gemeinsamen Geschichte? Oder anderes gefragt: Wollen wir uns plötzlich so dringend erkennen, damit wir uns nicht mehr schreiben müssen?« (ebd.) Da er sich jedoch sicher ist, dass sie ihn nicht, er sie jedoch auf jeden Fall erkennen und somit sein Fantasiebild von Emmi bestätigen wird, schiebt er ihre Bedenken beiseite. Der Roman inszeniert das daraus folgende Erkennungsspiel wie eine detektivische ›locked room mystery‹: Der Leser weiß, dass Leo und Emmi anwesend waren, sich also gesehen haben müssen. Leo lässt Emmi nach und nach alle im Café Huber im verabredeten Zeitraum anwesenden Männer beschreiben und zudem begründen, warum sie diese allesamt für optisch »absolut indiskutabel« (GN 47) hält. Der Leser kann also mitraten, wer denn nun Leo Leike sein könnte. Für Emmi eröffnet sich derweil ein tiefer Graben zwischen der Lektüre von Leos E‑Mails und dem Lesen der Oberflächen der Männer im Café: »Ich habe eben gestern keinen einzigen Mann im Lokal gesehen, den ich auch nur annähernd so spannend gefunden habe, wie Sie mir schreiben, lieber Leo.« (GN  49) Die Diskrepanz, die hier auf bricht, ist jene von Fiktionswert und Konsumobjekt: Das Angebot von Männern und Frauen im Café Huber gleicht der Situation im Warenhaus oder Supermarkt, gilt es doch jenes Produkt zu finden, das am ehesten den eigenen Vorstellungen eines passenden Produkts entspricht. Leider hat Emmi zu ihrem Fiktionswert ›Fantasie-Leo‹ kein entsprechendes Produkt, sprich: Mann, gefunden, während Leo aus einem »›auffallend interessanten‹ Angebot« (GN 54) gleich drei potentielle Emmis auserkoren hat, die er allesamt ebenfalls wie Produkte etikettiert: »Der Prototyp, Ur-Emmi«, die »Gegenprobe, Blond-Emmi« (GN 55) und der »Antityp, Überraschungs-Emmi« (GN 56). Während Leo wie auch der Leser im Unwissen darüber gelassen werden, welche der drei Emmis die echte Emmi Rothner ist, gibt Leo schließlich zu, sich mit seiner Schwester Adrienne getarnt zu haben. Ohne es zu wissen, hat Emmi ihn als den interessantesten Mann im Café beschrieben: »Ein sehr interessanter Typ, vielleicht der einzige überhaupt, stand mit so einem langbeinigen blonden Vamp-Engel-Model rechts hinten an der Theke – Händchen haltend. Der wollte und hat wohl auch niemand anderen gesehen als sie.« (GN 49) Auch hier greift wieder das Prinzip der Oberflächen-Lektüre: Interessant ist er für Emmi lediglich aufgrund der äußeren Attraktivität seiner Begleitung: »Wer mit so einer Frau zusammen ist, muss wohl ein interessanter Typ sein.« (GN 62) Gleichwohl hat sie ihn durch dieses fast schon detektivische ›hiding in plain sight‹84 kaum wahrgenommen, 84 | Dass das beste Versteck jenes ist, das gar kein Versteck ist, geht auf Edgar Allan Poes Erzählung The Purloined Letter (1845) zurück, worin Detektiv Dupin den gestohlenen Brief eben deshalb ausfindig machen kann, da dieser gerade nicht verborgen ist, sondern offen herumliegt (vgl. Edgar Allan Poe: The Purloined Letter [1845]. In:

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seine Körperoberfläche bleibt für sie ebenso schemenhaft wie die ihre für ihn: Da er dem Café-Raum den Rücken zugewandt hatte und sich von Adrienne die Frauen beschreiben ließ, hat auch er keine Ahnung, wie die möglichen Emmis tatsächlich aussehen. Das Treffen im Café, das im Grunde ein Nicht-Treffen ist, kehrt die Konstellation der Präsenz in Absenz des E‑Mail-Verkehrs genau um: Absenz in Präsenz. Der gemeinsame Konsum von Wein – etwas, das nur die E‑Mail, niemals der Brief ermöglichen kann: jeder für sich vor dem eigenen Bildschirm, zur gleichen Zeit – ist der nächste Versuch der beiden, fehlende Körperlichkeit zu kompensieren: Dieser zielt auf den Geschmackssinn. Abermals ist es Emmi, die den Vorschlag unterbreitet, jedoch ist Leo abwesend und entschuldigt sich am nächsten Tag: »Liebe Emmi, das tut mir wirklich Leid, dass ich unsere romantische Mitternachtseinlage vor dem jeweiligen Computer versäumt habe. Ich hätte sofort ein Glas mit Ihnen, auf Sie und gegen die virtuelle Anonymität getrunken.« (GN 37) Da das Weintrinken damit explizit gegen das Nichtwissen vom Körper des anderen (›virtuelle Anonymität‹) gerichtet ist, verabreden sich die beiden für ein nächstes Mal: »Haben Sie heute spätabends oder frühnachts Zeit und Lust, mit mir ein Glas Wein zu trinken? Selbstverständlich getrennt. Also Sie und die Fantasie-Emmi. Und ich und der Virtuell-Leo. Und dazu schreiben wir uns ein paar Worte. Wollen Sie?« (GN 84) Bei diesen Verabredungen geht es also vorrangig darum, durch den gemeinsamen Konsum von Wein bzw. Alkohol die beiden Körper in den gleichen Rausch zu versetzen und die schriftliche Kommunikation damit nicht nur zu ergänzen, sondern zu intensivieren. Beim ersten Mal schießt Leo jedoch über das Ziel hinaus: »Liebe Emmi, hier ist der Leo, der wünscht Ihnen eine traumhafte Mitternacht, ganz zu zweit, nur für uns beide. Darf ich Sie umarmen, Emmi? – Darf ich Sie küssen? Ich küsse Sie. So, und jetzt trinken wir. Was trinken Sie? Ich trinke Sauvignon Visintini, Colli Orientali del Friuli, 2003. Und was trinken Sie? Schreiben Sie mir gleich, Emmi, ganz gleich, ja?« (GN  87) Das Treffen zur Mitternacht unterscheidet dieses ›virtuelle Treffen‹ von der bisherigen E‑MailKommunikation: Als Grenzzeit zwischen zwei Tagen signifiziert ›Mitternacht‹ Liminalität 85 und damit: Besonderheit, die nur den beiden, ›ganz zu zweit‹ geDers.: Collected Works of Edgar Allan Poe. Bd. 3: Tales and Sketches 1843-1849. Hg. v. Thomas Ollive Mabbott u.a. Cambridge, London 1978, S. 972-997). Die Aussage wird heute vor allem mit Dupins literarischem Nachfolger Sherlock Holmes verbunden, vgl. bspw. die britische Serie Sherlock: »The art of disguise is knowing how to hide in plain sight.« (Sherlock. Mark Gatiss, Steven Moffat (Cr.). BBC 2010: Staffel 1, Folge 3 The Great Game, 01:01:00). Vgl. dazu auch: Don Fallis: The Many Faces of Deception. In: Josef Steiff (Hg.): Sherlock Holmes and Philosophy. The Footprints of a Gigantic Mind. Chicago u.a. 2011, S. 159-177, insbes. S. 165-167. 85 | Vgl. Kap. II/2.2.

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hört. Der Weinkonsum löst zudem bisherige Grenzen auf: Von Umarmen oder gar Küssen war bis zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede. Und Leo geht noch einen Schritt weiter: »Ich habe Sehnsucht nach meiner Emmi. Wollen Sie zu mir kommen? Wir machen ganz einfach das Licht aus. Wir müssen uns nicht sehen. Ich will Sie nur spüren, Emmi. Ich mach die Augen zu. […] Kommen Sie zu mir, Emmi? Küssen wir uns? Meine Schwester sagt, dass Sie wunderschön sind, Emmi, wer auch immer Sie sind.« (Ebd.) Aus dem Weinkonsum, der Schreib- und Körperoberfläche näher bringen soll, folgt also unmittelbar das Verlangen nach einem realen körperlichen Treffen, was eine Verabschiedung von der Schreiboberfläche impliziert. Dem erteilt Emmi jedoch eine Absage: Ähnlich Lotte, die Werther mäßigen will,86 empfiehlt sie ihm auf Mineralwasser umzusteigen (vgl. GN 88). Dabei ist sie kurz angebunden, da sie annimmt, dass er »die Buchstaben ohnehin nicht mehr auseinander halten« (GN  88) kann. Die Buchstaben auseinanderhalten und damit voneinander unterscheiden zu können, ist jedoch immer noch die Grundvoraussetzung für die Liebeskommunikation zwischen den beiden, die auf der Lektüre des jeweils anderen gründet. Emmis ›double talk‹ lässt ihr Begehren beständig zwischen Schreib- und Körperoberfläche oszillieren: Obwohl sie es ist, die unbedingt Wissen über Leos Körperoberfläche gewinnen möchte, erfolgt die Initiation der Rückkehr zur Schreiboberfläche ebenfalls über sie. Man könnte sagen, dass ihr wie bei ihrem »›Ei‹-Fehler« (GN 8) in der Liebe, die über Schrift und Lektüre kommuniziert, das ›e‹ vor das ›i‹ rutscht, so dass das Begehren immer wieder auch auf den ›Leib‹ abzielt. Wird es jedoch konkret wie an dieser Stelle – Leo lädt sie explizit zu sich ein – wird der ›Ei‹-Fehler korrigiert und sie zieht sich auf die Erotik des Schreibens zurück, die durch den Alkoholkonsum initiiert wurde: »Ich habe das schön gefunden, was Sie mir da unabsichtlich geschrieben haben, sehr schön sogar. Sie sollten öfter volltrunken sein, da werden Sie ja zu einem richtigen Gefühlsmenschen« (GN  90). Er verwehrt ihr jedoch die schriftliche Kommunikation am nächsten Tag, nur um sie am Abend erneut zu sich einzuladen und ihr gar das Taxi bezahlen zu wollen (vgl. ebd.). Der Suggestion, sie durch den Einsatz von Geld zu sich locken zu können, hält sie einen übermäßigen Medienkonsum entgegen: »Und Sie haben genügend Bücher dieser Art gelesen und einschlägige Filmszenen gesehen, letzte Tangos mit Marlon Brandos und so. Leo, diese Szenen kenne ich auch: ER sieht SIE zum ersten Mal, möglichst im Halbdunkel, damit auch das schön ist, was vielleicht nicht so schön ist. Und dann fällt kein einziges Wort mehr, nur noch 86 | Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers [1774]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden. I. Abt. Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers, Die Wahlverwandtschaften, Kleine Prosa, Epen. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a.M. 1994, S. 10-266, S. 220.

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Gewand.« (GN 92) Das Fallen von Gewändern statt Worten markiert zwar den Vollzug der Verschiebung von der Schreib- zur Körperoberfläche, gleichzeitig sieht Emmi sich auf die Rolle einer Darstellerin in einer Männerfantasie reduziert und damit ihrer Einzigartigkeit beraubt: »Leo, so geht’s nicht. Da ist mit Ihnen ausnahmsweise der Klischee-Mann durchgegangen.« (Ebd.) Zu dieser Fantasie gehört seinerseits auch der Einsatz von »Augenbinden« (GN 88), was sämtlichen Fiktionswerten Raum gibt und zugleich das Treffen der beiden auf die Begegnung der Körper reduziert: »Wir müssten uns also nicht einmal sehen. Sie öffnen mir blind die Tür. Wir fallen uns blind in die Arme. Wir haben blinden Sex. […] Sex in seiner höchsten Stufe absoluter Unverbindlichkeit.« (GN 93) Diese Reduktion auf eine »Augenbinden-Nummer« (GN 94) blendet den Sehsinn völlig aus, eine solche Begegnung ist für Emmi ausgeschlossen, richtet sich ihr Begehren doch vor allem darauf, seine Körperoberfläche wahrnehmen zu können: »Jedenfalls sollten wir die Finger davon lassen. Oder, um es noch etwas klarer zu formulieren: Nicht mit mir!« (GN 93) Mit dieser Interpretation Emmis, die eine Metaebene gegenüber der Liebeskommunikation einnimmt und sich damit abermals im aufklärerischen und nicht im romantischen Displacement bewegt, entgleist die Kommunikation: Leo sieht sich selbst auf ein Klischee reduziert und seiner Individualität beraubt: »Ich will niemals und mit niemandem eine Nummer durchziehen.« (GN 94) Die Kommunikation gerät folglich ins Stocken. Das Fühlen, der Tastsinn, wird schließlich durch ein käufliches Objekt substitutiv zu befriedigen versucht: Auf Emmis Frage, ob er einen Pyjama trage, erwidert Leo: »Schlafen Sie vielleicht nackt?« (GN 41) Obwohl der Pyjama an sich alles andere als ›sexy‹ Konnotationen aufruft, steht er (beziehungsweise seine Abwesenheit) dennoch in Zusammenhang mit der (nackten) Körperoberfläche und bringt zugleich aufgrund des intimen Ortes, auf den er verweist – das Bett –, ein erotisch-sexuelles Interesse mit sich.87 Dieses wird von Leo in eine Konsumhandlung übersetzt: »Gestern habe ich mir extra für Sie oder zumindest in Gedanken an Sie einen neuen Pyjama gekauft.« (GN 42) Und weil Emmi wissen will, wie Leo Leike aussieht, interessiert sie auch das Aussehen des Pyjamas. Analog dazu entgegnet Leo: »Meinen neuen Pyjama kann man nicht beschreiben, den muss man sehen und angreifen.« (GN 44) Zum Sehsinn gesellt sich nun also der Tastsinn, und so, wie er ihr anbietet, zu ihm zu kommen, um auch ihn anzusehen und anzugreifen, so offeriert er, ihr den Pyjama zuzuschicken: »Meinen Pyjama sollten Sie wirklich angreifen, er fühlt sich sensationell an. Geben Sie mir eine Adresse, und ich schicke ihn 87 | Vgl. dazu auch die Passage, in der Emmi nebenbei bemerkt: »Ich weiß schon nicht mehr, was ich ausziehen soll.« (GN 114), worauf Leo entgegnet: »Sie wollen, dass ich mir vorstelle, wie das aussieht, wenn Emmi schon nicht mehr weiß, was sie ausziehen soll. Gewonnen, Emmi: Ich stelle es mir vor!« (GN 115)

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Ihnen zur Anfühl-Probe.« (GN 46) Der Pyjama verschwindet danach aus der Narration – als Versuch eines physischen Kontakts anhand eines Konsumobjekts ist die Passage dennoch signifikant. Der konkreteste Versuch, Körperlichkeit in die rein digitale Beziehung zwischen Emmi und Leo einzubringen, erfolgt schließlich über ein Körper-Surrogat:88 Emmis Freundin Mia. Nachdem Leo sich endgültig von Marlene getrennt hat, macht es sich Emmi zur Aufgabe, eine neue Frau für ihn zu finden. Da sie selbst »glücklich verheiratet« (GN 67) ist, kann sie nur eine »virtuelle Alternative« (GN 106), jedoch nicht mehr sein. Auffallend ist dabei, dass sie ihr Angebot an Leo in der Sprache des Verkaufs formuliert:89 »Was wollen Sie für eine? Wie soll sie aussehen? Los, sagen Sie’s doch endlich! Vielleicht habe ich tatsächlich wen für sie.« (GN  106) Dementsprechend liest sich ihre Beschreibung von Mia wie die eines Artikels im Warenkatalog: »Mia! Das ist sie! Leo und Mia – wie das schon klingt! Hören Sie zu, Leo: Mia ist 34, bildhübsch, Sportpädagogin, lange Beine, super Figur, kein Gramm Fett zu viel, dunkler Teint, schwarze Haare. Einziger Nachteil: Vegetarierin […]. Sie ist sehr belesen, hochintelligent, unternehmungslustig, fröhlich, immer gut drauf. Kurzum, eine Traumfrau.« (GN 107) Leo durchschaut dies sofort: »Über solche langbeinigen ›Mias‹ weiß ich Bescheid. Praktisch jede Woche stellt mir meine kleine Schwester eine neue vor. Ich kenne Modekataloge voll mit 0,0 Prozent fetten Models à la Mia, eine schöner und langbeiniger als die andere.« (GN 108) Es geht bei Mia also vorrangig um die Körperoberfläche, die Rückbindung an eine Schreiboberfläche fehlt. Da dies jedoch genau Leos Eros wäre,90 lehnt er zunächst ab, empfindet ein Treffen mit Mia statt Emmi gar als »pervers« (GN 112). Einen Tag später jedoch willigt er überraschend in das Treffen als »Trotzreaktion« (GN 126) ein, wie er schreibt. Die Kommunikation zwischen Leo und Emmi gerät nach dem Treffen von Mia und Leo ins Stocken, da sowohl Mia als auch Leo gegenüber Emmi eine Informationssperre verhängt haben. Banalitäten wie ungewöhnlich warmes Wetter und ein aufziehendes Gewitter (vgl. GN 120-123)91 markieren inhaltlich 88 | Vgl. dazu auch den Film Her von Spike Jonze, der die Idee der romantischen Liebe mit einem individualisierten Betriebssystem durchspielt. Auch hier wird die fehlende Körperlichkeit durch ein Surrogat zu kompensieren versucht. Vgl. Her. Spike Jonze (R.). Warner Bros. 2013, 01:11:40 – 01:18:10. 89 | Vgl. dazu ihre Berufsbeschreibung am Anfang: »Haben Sie eigentlich eine Homepage? Wenn nein, wollen Sie eine? Wenn ja, wollen Sie eine schönere? Ich bin nämlich beruflich mit Homepages befasst.« (GN 9). 90 | Vgl. GN 107: »Welche Frauen mir gefallen? Frauen, die so aussehen, wie Sie schreiben, Emmi.« 91 | Mit dem gemeinsamen Blick aus dem Fenster auf das Gewitter, wenn auch an unterschiedlichen Orten, ist Goethes Werther und die berühmte Klopstock-Szene auf-

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wie auch formal – die E‑Mails sind kurz angebunden – eine Abkehr von der bisherigen Kommunikation. Dabei hatte der Surrogat-Körper Mia dazu dienen sollen, Emmi und Leo einander näher zu bringen. Emmi bekennt: »Ich bin einfach nur traurig. Ich dachte, Mia würde uns beide auch physisch näher zueinander bringen. Doch sie bringt uns offensichtlich immer weiter auseinander.« (GN 127)92 Emmi entbrennt daraufhin in Eifersucht, da ihr durch Mia nicht nur die Körperoberfläche Leos vorenthalten, sondern nun auch ihr primäres Liebesobjekt, E‑Mails von ihm, weggenommen werden: »Früher, Leo haben Sie mir so schöne E‑Mails geschrieben. Seit Sie Sex mit Mia haben, reden Sie nur noch um den heißen Brei herum.« (GN 139) Der Graben zwischen der Buchstaben-Liebe Emmis und Leos und der körperlichen Begegnung reißt in der Folge umso tiefer auf: Emmi, ich war über Monate keinem Menschen näher als Ihnen. Und ich war (und bin) so froh, dass unsere Versuche, uns »physisch« zu begegnen, allesamt gescheitert sind. Es ist mir egal, wie Sie aussehen, solange ich Sie so sehen kann, wie ich Sie sehen will. Ich bin dankbar, dass ich nicht erfahren muss, dass Sie in Wirklichkeit eine andere sind als »meine Heldin Emmi aus meinem E‑Mail-Roman«. Da sind Sie perfekt, die Schönste der Welt, da kommt keine an Sie heran. Aber Emmi, es gibt da eben keine Steigerung mehr für uns. Alles andere spielt sich außerhalb unserer beiden Bildschirme ab. Mia ist der beste Beweis dafür. […] Sie, Emmi, wagen nicht einmal, Ihr Piano zu beschreiben, weil es in meiner Welt so absolut nichts zu suchen hat. Mia aber beugt sich einen halben Meter von mir entfernt über einen winzigen Tisch und wickelt Spaghetti al Pesto über den Löffel. Wenn sie den Kopf zur Seite dreht, spüre ich den Luftzug, der dadurch entsteht. Ich kann sie gleichzeitig sehen, hören, angreifen, riechen. Mia ist Materie. Emmi ist Fantasie. (GN 126, Herv. hinzugefügt)

Mia als Materie und Ersatz-Körper spricht alle Sinne an, sie stellt eine Nähe zu Leo her, die für Emmi als reine Fiktion und ›Romanheldin‹93 unerreichbar scheint. Das, was eine Verbindung zwischen Emmi und Leo herstellen sollte, wird für Emmi so zum Ausschlusskriterium, emotional – »Mia zu begehren,

gerufen (vgl. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 52f.). Sie wird hier jedoch karikiert, da gerade kein Gemeinsamkeit und somit Liebe stiftendes Wort fällt. 92 | Vgl. dazu auch Leos Bericht vom Treffen mit Mia: »Mia fühlte sich darauf reduziert, mich auszuhorchen. Sie sollte Ihnen detailreich von mir erzählen, sie sollte Ihnen die andere Ebene von mir servieren, die, die Sie nicht kennen, die physische, damit Sie ein rundes Bild von mir haben.« (GN 145) 93 | Die Bezeichnung Emmis als ›Heldin des E-Mail-Romans‹ erinnert an die wiederholte Charakterisierung Denise’ als ›heroïne de l’aventure‹ bei Zola (vgl. Kap. III/1.3.2) und unterstreicht den fiktiven Charakter Emmis in der Wahrnehmung Leos.

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heißt mich zurückzuweisen« (GN 128) – wie körperlich: »Wer mit Mia schläft, schläft niemals mit mir, nicht einmal geistig.« (GN 129) Für Leo jedoch funktioniert der Ersatz-Körper Mia94 in gewisser Hinsicht: Obgleich er mit Mia geschlafen hat, wie er Emmi später gesteht (vgl. GN 145), ist daraus »keine Liebesgeschichte« (GN 143) geworden. Und da Leo Mia nur wegen Emmi getroffen hat, bindet ihn diese Begegnung umso enger an sie: »Ich hätte Mia nicht kennen lernen dürfen. Ich hätte wissen müssen, dass mich das in absurder Weise fester an Sie bindet, Emmi. Ich habe Ihnen den Vorwurf gemacht, dass das Ihr Ziel war. Das nehme ich zur Hälfte zurück. Ich glaube, es war unser beider Ziel. Wir haben nur bis heute nicht gewagt, es uns einzugestehen, Mia war eine Verbindungsperson zwischen uns.« (GN 148) Mit dieser Erkenntnis ist es nun er, der »die Bremse ziehen« (ebd.) will, der weg von der Körper- wieder hin zur Schreiboberfläche drängt. Daraus folgt eine erneute Stockung der Kommunikation, die sich in seitenweise einzeiligen E‑Mails ausdrückt und in diesen zugleich reflektiert wird: »Vielleicht hatten wir uns nie was zu sagen« – »Dafür haben wir ganz schön viel miteinander geredet.« – »Wir haben stumm geredet. Alles leere Worte.« (GN 152) Dies gipfelt in einem insgesamt fünf Mal von beiden wiederholten und in wenigen Minuten aufeinanderfolgenden Gute Nacht-Gruß (vgl. GN 153), der absurd erscheinen mag, jedoch der Liebeskommunikation im romantischen Displacement entspricht: Wichtig ist hierbei nicht was, sondern dass überhaupt noch kommuniziert wird und dass diese Kommunikation nicht abbricht. Um es umgangssprachlich auszudrücken: Leo und Emmi können, was E‑Mails angeht, nicht die Finger von der Tastatur und damit voneinander lassen.95 Die Buchstaben-Liebe wird restituiert. Der letzte Versuch, fehlende Körperlichkeit zu kompensieren, dreht sich um das Hören der Stimme des anderen. Die dazugehörige E‑Mail-Kommunikation ist zeitlich wie örtlich liminal: Kurz nach Mitternacht wird Leo von einer eingehenden E‑Mail Emmis geweckt, da er den Laptop mit ins Bett genommen und die Lautstärke desselben voll aufgedreht hat (vgl. GN 168). Emmi fühlt sich nach einem enttäuschenden Treffen mit Mia einsam und bringt plötzlich ihr Begehren zum Ausdruck, Leos Stimme hören zu wollen. Er nimmt ihren Vorschlag bereitwillig auf und sie verabreden sich für den darauf folgenden Abend: Beide sollen eine E‑Mail auf den Anrufbeantworter des anderen sprechen. Da es sich 94 | Dass Mia ›Medium‹ und ›Materie‹ gleichermaßen ist, signifiziert auch ihr Name: Mia als Kurzform von ›Maria‹ bedeutet nicht nur, dass sie als Gegensatz zu Eva, der Verführerin, unschuldig ist, sondern ebenso wie die biblische Figur Medium für die Materialisierung von Gottes Sohn. 95 | Vgl. dazu auch Emmis Antwort auf Leos Frage nach der Art und Weise ihres E‑MailVerkehrs nach dem Treffen im Café Huber: »Lieber Leo, nein, natürlich mailen wir ungehemmt weiter.« (GN 48)

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hierbei um eine erste reale Materialisierung des Körpers des anderen, zugleich jedoch nur um eine andere Form einer durch Medien ermöglichten Präsenz in Absenz handelt, wird auch hier die Distanz zwischen dem Schreiben mit den dazugehörigen Fantasien und dem tatsächlichen Körper deutlich: Er ist zunächst »sprachlos«, da er nicht erwartet hatte, dass ihre Stimme »[w]ahnsinnig erotisch« (GN 175)96 sei. Sie wiederum findet seine Stimme »richtig[e] rauchig«: »Sie sprechen viel verwegener, als Sie schreiben.« (GN 175). Das Wissen um die Stimme des anderen hat Rückwirkung auf die E‑Mail-Kommunikation: »Emmi, ich werde alle ihre E‑Mails noch einmal lesen, und sie werden völlig anders klingen. Ich habe ihre E‑Mails bisher immer mit der falschen Stimme gelesen. Ich habe sie immer mit Marlenes Stimme gelesen. Emmi war für mich Marlene, Marlene ganz am Anfang, wo noch alles offen war. Da war nur Liebe und sonst gar nichts. Alles war möglich.« (GN 177) Da hiermit nun auch mit Emmi alles möglich scheint, führt das Hören der Stimme, begleitet durch Alkoholkonsum, neuerlich zu einem Begehren der Körperoberfläche: Emmi, kommen Sie zu mir! […] Ich verspreche: Ich werde nur meine Hand um Ihre Schulter legen. Nur eine Umarmung. Nur ein Kuss. Nur ein paar Küsse, sonst gar nichts. Ganz harmlose Küsse. Emmi, ich muss wissen, wie Sie riechen. Ich habe ihre Stimme im Ohr, jetzt brauche ich Ihren Geruch in der Nase. […] Nur einmal riechen. Nur einmal küssen. Kein Sex. Sie sind verheiratet, leider! Kein Sex, ich verspreche es. Bernhard, ich verspreche es! Ich will nur Ihre Haut riechen, Emmi. Ich will gar nicht wissen, wie Sie aussehen. Wir machen kein Licht an. Ganz im Dunklen. Nur ein paar Küsse, Emmi. Ist das was Böses? Ist das Betrug? Was ist Betrug? Eine E‑Mail? Oder eine Stimme? Ein Geruch? Oder ein Kuss? (GN 177f.)

Mit dem Verweis auf einen möglichen Betrug wird offenbar, dass es sich bei diesem E‑Mail- und Stimmen-Austausch um eine Begegnung von Emmi und Leo handelt, die eben mehr ist als nur »leere Worte« (GN  152). Emmi spielt darauf an, wenn sie ihn bittet, länger durchzuhalten, und sich beschwert, dass die virtuelle Begegnung mit Leo zwar fantastisch, aber »immer dann, wenn es gerade spannend wird – eindeutig (alkoholbedingt) zu kurz« (GN 177) ist. Wenn sie ihm am Folgetag »für die schöne Nacht« (GN 180) dankt, dann impliziert dies, dass hier eine Intimität geteilt wird, die keiner Gemeinsamkeit der Körper bedarf: »geistig miteinander [ge]schlafen« (GN 129) nennt es Leo, und 96 | Die Verbindung der Stimme mit Erotik, Verführung und Liebe ist literarhistorisch verankert: Franz Kafkas berühmter Brief an Felice Bauer vom 22./23. Januar 1913 setzt sich mit dem Parlographen auseinander, der die Geliebte zum einen auf Distanz hält, zum anderen aber sicherstellt, dass kommuniziert wird; Dieter Wellershoff hat in Die Sirene (1980) der Verführung durch eine Telefonstimme ein literarisches Denkmal gesetzt und Nicholson Baker lässt in Vox (1992) zwei Liebende qua Telefon zueinander finden.

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bringt damit auf den Punkt, dass die Liebeskommunikation der beiden zuallererst auf der Fantasie, man könnte auch sagen: auf dem Fiktionswert97 des jeweils anderen beruht. Die Begegnung der realen Körper, die keiner Fantasie je standhalten könnte, ist also ein Begehren, das aus dieser Fantasie entspringt und zugleich die Existenz dieser Fantasie – und damit die Grundlage ebenjenes Begehrens – bedroht. Deshalb changiert die Kommunikation zwischen Emmi und Leo im ›double talk‹ von Interesse und Nicht-Interesse, Begehren und Nicht-Begehren, Präsenz und Absenz gleichermaßen.

2.2.3 Buchstaben-Identitäten Mit der Intensivierung des E‑Mail-Verkehrs zwischen Emmi und Leo nach den durch Mia verursachten kommunikativen Stockungen drängt Emmi mehr und mehr auf ein Treffen. Leo jedoch ist skeptisch: Emmi, Sie sind nicht Mia. An Mia hatte ich keine Erwartungen gestellt – und umgekehrt. Mia und ich, wir hatten beim Start begonnen, wie das üblich ist, wenn sich zwei kennen lernen. Anders bei uns, Emmi: Wir starten von der Ziellinie weg, und es gibt nur eine Richtung: zurück. Wir steuern auf die große Ernüchterung zu. Wir können das nicht leben, was wir schreiben. Wir können die vielen Bilder nicht ersetzen, die wir uns voneinander ausmalen. Es wird enttäuschend sein, wenn Sie hinter der Emmi zurückbleiben, die ich kenne. Und Sie werden dahinter zurückbleiben! Sie werden deprimiert sein, wenn ich hinter dem Leo zurückbleibe, den Sie kennen. Und ich werde dahinter zurückbleiben! (GN 161)

Emmi und Leo fehlt »der natürliche Anfang der Begegnung« (GN  103): Das Fehlen des Körpers des anderen führt dazu, dass sich der Fiktionswert der konsumierten E‑Mails ins Unerreichbare auswächst. Das heißt, dass die Fantasie vom jeweils anderen so mächtig wird, dass keine reale Entsprechung ihr gerecht werden könnte. Emmi und Leo haben fiktive Identitäten voneinander aufgebaut, die von ihren realen Körpern radikal getrennt sind. Dass es sich hierbei in der Tat um einen Vorgang handelt, der strukturell auf die Sphäre des Konsums verweist, unterstreicht Leo anhand eines sprechenden Vergleichs, der auf die arendtianische Bedeutung des Konsums abhebt, nämlich Verzehr und Vernichtung:98 »Wir werden nach unserem ersten (und einzigen) Treffen ernüchtert auseinander gehen, träge, wie nach einem fetten Mahl, das uns nicht geschmeckt hat, dabei hatten wir uns ein Jahr mit Heißhunger darauf gefreut, hatten es Monate lang köcheln und brodeln lassen. Und dann? – Aus. 97 | Ein sprechendes Beispiel für den Fiktionswert liefert Leo, wenn er Emmis Aussprache von ›Whiskey‹ auseinandernimmt: »Und: ›Whiskey‹, ja das hört sich auch sehr edel an. Das ›Wh‹ – wie ein zum Schwingen gebrachtes Seil. Das ›Key‹ wie ein Schlüssel zu Ihrem … hmm … Schlafzimmer.« (GN 176) 98 | Vgl. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1958, S. 120f.

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Schluss. Gegessen.« (GN 161) Zu dem Problem, dass das Treffen zwar Schreibund Körperoberfläche in Deckung bringen würde, sich aber gleichzeitig als ›ungenießbar‹ herausstellen könnte, gesellt sich die Figur des Dritten: Emmis Ehemann Bernhard. Leos Bestreben, auf der Schreiboberfläche zu bleiben, beruht Emmis Meinung nach auf der Angst vor Kränkung: »Ihr Problem heißt Bernhard. Sie sind sich zu gut, der Zweite nach ihm zu sein. Sie wollen mich nicht treffen, weil Sie mich rein theoretisch gar nicht ›kriegen‹ können, ganz egal, ob Sie das dann praktisch tatsächlich wollen oder nicht. Per E‑Mail haben Sie mich ganz für sich allein, und in dieser Form kommen Sie mit mir ja blendend zurecht, da können Sie ganz nach Belieben von Distanz auf Nähe schalten und wieder zurück. Stimmt’s?« (GN 164) Emmi meint sich sicher in der Position, wie sie auch Lotte innehatte: Werther konnte schließlich auch immer nur zweiter nach Albert sein. Bernhard kommt die Funktion zu, aktiv in den E‑Mail-Verkehr zwischen Emmi und Leo einzugreifen. Da sich Emma, wie er seine Frau nennt, sehr verändert habe, sucht er nach Gründen dafür und findet in ihrem Zimmer »in einer versteckten Lade schließlich eine Mappe […], voll gefüllt mit Schriftstücken: ihr gesammelter E‑Mail-Verkehr mit einem gewissen Leo Leike, fein säuberlich ausgedruckt, Seite für Seite, Mitteilung für Mitteilung.« (GN 184) Es ist nicht schwer in der Mappe mit ausgedruckten E‑Mails, die wohlweislich versteckt sind, eine Referenz auf eine der berühmtesten Ehebrecherinnen der Literaturgeschichte zu erkennen, von der Emmi nur zwei Buchstaben unterscheiden: Effi Briest. Anders als Innstetten jedoch fordert Bernhard Leo nicht zum Duell, ganz im Gegenteil. Er selbst schreibt eine E‑Mail an Leo, in der er ihn bittet, sich mit seiner Frau zu treffen und mit ihr zu schlafen, »damit der Spuk ein Ende hat« (GN 181). Anders als sein literarischer Vorgänger kann Bernhard gar nicht um seine Frau kämpfen, solange Leo weder für ihn noch für Emmi real ist. Leos E‑Mails erfüllen vielmehr die Funktion, die Literatur für Emmis literarische Namensvetterin und ebenfalls berühmte Ehebrecherin hat: Emma Bovary99 stirbt zwar im Grunde an einem ungedeckten Wechsel, die Wurzel ihres Unglücks ist jedoch der Fiktionswert der Literatur und, eng damit verbunden, jener von käuflichen Dingen:100 Das Drama von Emma, »qui 99 | Das Spiel mit Namen ließe sich noch ein wenig weitertreiben. Trennt Emma und Emmi nur ein Buchstabe, was überdies in Glattauers Roman noch eine entscheidende Rolle spielt (vgl. GN 222f.), so verschiebt sich zwischen Emmi und Effi der labiale hin zu einem dentolabialen Doppellaut. Zieht man beide Referenzen zusammen, landet man bei der weiblichen Urfigur der Verführung: Eva. Damit wird die Gegensätzlichkeit von Emmi und Mia nochmals unterstrichen, vgl. Fußnote 94. 100 | Vgl. dazu Maria Vargas Llosa: Flaubert und Madame Bovary. Die ewige Orgie. Übers. v. Maralde Meyer-Minnemann [Original: La orgía perpetua. Flaubert y ›Madame Bovary‹, 1975]. Frankfurt a.M. 1996, S. 128-148.

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avait aimé […] la littérature pour ses excitations passionnelles«,101 entspinnt sich aus dem Abgrund zwischen den Fantasien, die die Lektüre von Romanen und Poesie in ihr erzeugt hat, und der Realität. Die »pourriture instantanée des choses«,102 die sie beklagt, resultiert »aus ihrer Phantasie, die sie immer dazu bringt, sich Dinge zu wünschen, die jenseits der Dinge liegen.«103 So wie sich Emma Bovarys Liebesfantasien mit ihren Liebhabern nicht erfüllen, so bleibt auch Leo, dessen Name möglicherweise eine Anspielung auf Emma Bovarys Liebhaber Léon ist, für Emmi Rothner Fiktion: »Sie sind nicht greif bar, Herr Leike, nicht antastbar, Sie sind nicht real, Sie sind ein einziges Fantasiegebilde meiner Frau, Illusion vom unendlichen Glück der Gefühle, weltferner Taumel, Liebesutopie, aus Buchstaben gebaut. Dagegen bin ich machtlos.« (GN 181) Der E‑Mail-Verkehr zwischen Emmi und Leo unterscheidet sich nach Bernhards Beschreibung kaum von Literatur: »Liebesillusionen per E‑Mail, sich stetig aufschaukelnde Gefühle, wachsende Sehnsucht, ungestillte Leidenschaft, alles auf ein nur scheinbar reales Ziel gerichtet, ein höchstes Ziel, das immer wieder weggeschoben wird, das Treffen aller Treffen, das nie stattfinden wird, weil es die Dimension des irdischen Glücks sprengen würde, die vollkommene Erfüllung, ohne Endpunkt, ohne Ablaufdatum, nur in den Köpfen lebbar. Dagegen bin ich machtlos.« (GN 183) Dass Emmis Liebe zu Leo nur ›aus Buchstaben gebaut‹ und nur in der Fantasie lebbar ist, gesteht sie selbst wenig später ein – im Unwissen über die Kommunikation zwischen Bernhard und Leo: »Mia behauptet, ich habe mich auf sonderbare Weise, nämlich schriftlich, in Sie verliebt, Leo. Sie meint, ich kann ohne Sie derzeit gewissermaßen nicht leben, zumindest nicht glücklich.« (GN 189) Als Leo in den Süden verreist ist, wird ihr bewusst, dass sie Leo vermisst – allerdings nicht Leo, den Mann aus Fleisch und Blut, sondern den Leo, der ihr schreibt: »Ich brauche keine wirklichen Küsse. Ich brauche den, der mich in manchen Situationen derart unbedingt dringend sofort küssen will, dass er nicht anders kann, als es mir zu schreiben.« (GN 190) Daher sind es auch nur Buchstaben von ihm, die ihre Schlaflosigkeit kurieren könnten: »Ein einziger Buchstabe von Ihnen, und ich würde sofort einschlafen.« (GN  191) Dieses Eindringen in ihre Intimsphäre – ihr Schlafzimmer – wird mit einem 101 | Gustave Flaubert: Madame Bovary [1857]. In: Ders.: Œuvres. Bd. I: La Tentation de Saint Antoine, Madame Bovary, Salammbô. Hg. v. A. Thibaudet, R. Dumesnil. Paris 1951, S. 303-717, S. 361. (Übersetzung: Emma, die »die Literatur um ihrer leidenschaftlichen Aufreizungen willen geliebt hatte«, in: Gustave Flaubert: Madame Bovary. Übers. v. Ilse Perker, Ernst Sander. Leipzig 2003, S. 45). 102 | Gustave Flaubert: Madame Bovary, S. 584. (Übersetzung: »das augenblickliche Verwesen der Dinge«, in: Flaubert: Madame Bovary. Übers. v. Ilse Perker, Ernst Sander, S. 306). 103 | Llosa: Flaubert und Madame Bovary, S. 142.

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Satz verknüpft, mit dem Emmi ihre Zuneigung zu Leo ausdrückt und der dem Roman seinen Titel gibt: »Leo, ich hab Sie sehr, sehr gern. Sie sind fantastisch gut gegen Nordwind!« (GN 142) Damit meint sie jedoch vor allem die E‑Mails, also Buchstaben, von Leo und nicht ihn als reale Person. Der unendliche Aufschub der Spannung, von dem Bernhard spricht, spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn dieser verhindert, dass »Routine« jegliche »Überraschungen« (GN 190) tilgt: »Wie wäre das wohl alles mit Ihnen, das Leben? Wie lange würden Sie mich unbedingt dringend sofort küssen wollen? Wochen, Monate, Jahre, immer?« (ebd.) Indem das Treffen immer wieder aufgeschoben wird, bedarf es keiner Antwort auf diese Frage, denn in der Fantasie fällt sie immer positiv aus: »the illusion is always better than the reality«.104 Die Buchstaben-Liebe von Emmi und Leo ist machtvoller als es jedwede reale Liebe je sein könnte. Dieser Schein trügt jedoch. Während sich Emmi erneut auf die Schreiboberfläche zurückzieht, ist es nun Leo, dem dies nicht mehr reicht. Als unmittelbare Folge von Bernhards E‑Mail teilt er Emmi mit, dass er nach Boston geht, um dort eine neue Arbeitsstelle anzutreten – und dass er damit auch den E‑Mail-Verkehr mit ihr einstellen wird: »Ich beende unseren E‑Mail-Kontakt. Emmi, ich muss Sie aus dem Kopf bekommen. Sie können nicht mein erster und mein letzter Gedanke jedes Tages bis ans Ende meines Lebens sein. Das ist krank.« (GN 192) Während Emmi sich also wünscht, weiter mit ihrem ›Fantasie-Leo‹ zu leben, ist das Leben für Leo mit seiner ›Fantasie-Emmi‹ nicht mehr (er)tragbar: Monatelang habe ich in jeder schönen Frau, die mir auf der Straße begegnet ist, Emmi gesehen. Aber keine von Ihnen konnte sich mit der wirklichen messen, keine konnte mit ihr in Konkurrenz treten, denn die Echte hatte ich fern jeder Öffentlichkeit, gesellschaftlich isoliert, abgeschieden, ganz für mich allein im Computer. […] Doch letztlich blieb sie in jeder Phase unerreichbar, uneinnehmbar für mich. Ihre Bilder waren so zart und zerbrechlich, dass sie meinem realen Blick auf sie nicht standgehalten hätten, ohne sofort Risse und Sprünge zu bekommen. Diese künstlich entstandene Emmi erschien mir so filigran, dass sie in sich zusammengefallen wäre, hätte ich sie auch nur einmal echt berührt. Physisch war sie nicht mehr als die Luft zwischen den Buchstabentasten, mit denen ich sie mir Tag für Tag herbeischrieb. Einmal hineinpusten – und fort wäre sie gewesen. (GN 193)

Mit der ›Luft zwischen den Buchstabentasten‹, die einfach weggepustet werden kann, wird nicht nur die Absenz von Körperlichkeit – und der daraus resultierende, fehlende körperliche Vollzug der Buchstaben-Liebe – als Grund für Leos Beendigung des Kontakts zu Emmi angeführt. Damit ist gleichzeitig auch der 104 | Colin Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism [1987]. York 2005, S. 90; vgl. auch Kap. II/1.2.

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Fiktionswert der E‑Mails, ›Fantasie-Emmi‹, gemeint, der immer nur ›herbeigeschrieben‹ werden kann und daher auch nur im Schreiben, als Resultat der »Schreib-Beziehung« (GN 192) existiert. Leo erteilt der Buchstaben-Liebe eine endgültige Absage: »Ich habe nicht vor, mit einer Frau durchs Leben zu gehen, die nur in der Mailbox frei für mich ist. […] Ich habe plötzlich wieder Lust, eine Frau auf stinkkonservative Art kennen zu lernen: Zuerst sehe ich sie, dann höre ich ihre Stimme, dann rieche ich sie, dann küsse ich sie vielleicht. Und irgendwann später werde ich ihr wohl auch einmal eine E‑Mail schreiben. Der umgekehrte Weg, den wir beschritten haben, war und ist wahnsinnig aufregend, aber er führt nirgendwo hin.« (GN 192) Dass dieser Weg nirgendwo hinführt, liegt jedoch weniger am Weg selbst, als daran, dass Emmi verheiratet und allein deshalb, gemäß dem Code romantischer Liebe, für eine körperliche Beziehung mit Leo nicht frei ist. In seiner E‑Mail, in der er die Schreib-Beziehung zu ihr beendet, reduziert er seine Funktion für Emmi auf jene der Ablenkung: »Was Ihnen fehlt, dürfte lediglich ein bisschen außereheliches Abenteuer im Kopf sein, etwas Kosmetik für Ihren abgeschminkten Gefühlsalltag. Darauf gründet sich Ihre Zuneigung zu mir.« (Ebd.) Die Kommunikation mit Leo ist damit deutlich als liminal im Sinne von Eva Illouz gekennzeichnet: Als Gegensatz zum Alltag mit Bernhard, gefühlsmäßig bereits ›abgeschminkt‹, ist die Zeit, die Emmi mit Leo verbringt, ein Korrektiv, das aber – selbst nur ›Kosmetik‹ – lediglich auf einer Oberfläche, der Schreiboberfläche der E‑MailKommunikation, statthat. Ist Liminalität in der romantischen Paarbeziehung dazu da, diese zu stabilisieren und affirmieren, so hat Emmi diese aus der Beziehung mit Bernhard scheinbar komplett ausgelagert: Emma und Bernhard führen zwar eine »Vorbildehe« (GN 131), die jedoch nicht mehr das Neue, Aufregende, Spannende und Geheimnisvolle zu bieten scheint, das Leo für Emmi verkörpert. Die E‑Mail-Kommunikation Emmis und Leos lässt sich deshalb anhand der vier Grenzziehungen, die Eva Illouz auflistet,105 eindeutig als liminal kennzeichnen: Erstens ist die Kommunikation zeitlich abgegrenzt, denn die Zeit, die Emmi schreibend mit Leo verbringt, ist Zeit, die sie eben nicht für Bernhard hat. Die intensivsten Kommunikationen zwischen Emmi und Leo finden zudem meist nachts, genauer: um oder nach Mitternacht statt. Zweitens ist sie räumlich genau abgegrenzt, findet die Kommunikation doch ausschließlich online, im virtuellen Raum, statt.106 Drittens ist die Schreib-Beziehung an besondere Objekte gebunden, in diesem Fall: den Computer bzw.

105 | Vgl. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 141-151. Vgl. auch Kap. II/2.2.2. 106 | Selbst die Aufnahmen der Stimmen auf den Anrufbeantwortern des jeweils anderen basieren auf dieser Kommunikation, sind es doch ihre E‑Mails, die sie vorlesend aufs Band sprechen. Vgl. GN 170-178.

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Laptop.107 Viertens schließlich die emotionale Grenzziehung, die Exklusivität des romantischen Gefühls: Leo bekennt mit seiner E‑Mail, in der er die Beziehung beendet, dass er in Emmi verliebt ist, wenn er sagt, dass er sie »aus dem Kopf bekommen« (GN 192) muss, und dass er, solange dies nicht passiert ist, für keine andere Frau frei ist. Emmi hingegen bestätigt Mias Vermutung, sie habe sich ›schriftlich in Leo verliebt‹ in Ihrer Antwort darauf: »Ich hab mich ein bisschen verliebt in Mister Anonym, das ist schon richtig.« (GN 194) Wenig später gesteht sie: »Ich bin sehr verliebt in Sie.« (GN 212) Ein Ende dieser Liebesbeziehung an dieser Stelle ist für Emmi inakzeptabel, konsequenterweise bringt sie ein letztes Mal ein Treffen als »witziges Ende« (GN 194) ins Spiel, obgleich sie lieber »E‑Mails aus Boston« (GN 197) empfangen möchte, dies nun aber durch Leos Verweigerung einer Fortsetzung der Buchstaben-Liebe keine Option mehr ist (vgl. ebd.). Leo stimmt dem Treffen zu. Die restliche Kommunikation der beiden dreht sich ab diesem Zeitpunkt nur noch um die Aushandlung der Parameter der körperlichen Begegnung sowie um mögliche Varianten des Ausgangs: Angenommen, Sie verlieben sich in die Frau, die Sie sehen, in die Mimik, die ihre Ironie begleitet, in den Ton ihrer Worte, in die Bewegungen ihrer Hände, in die Augen, in die Haare (Busen klammere ich aus), in ihr rechtes Ohrläppchen, in ihr linkes Schienbein, ganz egal. Angenommen, Sie spüren, dass uns beide doch viel mehr verbindet als der Internet-Server, dass es kein Zufall gewesen sein konnte, dass wir aneinandergeraten sind. – Leo, kann es nicht sein, dass Sie mich wiedersehen wollen? (GN 212f.)

Auch hier wird über die Verneinung – »Busen klammere ich aus« – das Abgelehnte erst recht fokussiert. Emmis Fantasien anhand der Möglichkeiten, die ein physisches Treffen eröffnen, werden durch Leos Vorschlag für den ersten physischen Kontakt noch mehr angeregt: »Ich würde gerne die Türe angelehnt lassen. Sie kommen herein. Sie treten vom Vorraum in das erste Zimmer links. Es ist verdunkelt. – Ich umarme Sie, ohne Sie zu sehen. Ich küsse Sie blind. Ein Kuss. Nur ein einziger Kuss!« (GN 215) Emmi erklärt sich mit diesem »rituellen Begrüßungsprogramm« (ebd.) einverstanden und heizt Leos Fantasien (vgl. GN 218) – wie auch die des Lesers – weiter an, indem sie ausführlich Leos 107 | Über dieses Objekt wird wenig gesprochen, die Kommunikation selbst jedoch setzt dessen Existenz voraus. Herauszuheben sind zwei Aspekte: Erstens die Rolle der Tastatur als Träger der Buchstaben und Kontaktpunkt von physischem Körper und Übertragungsmedium; sie wird daher konsequenterweise zu dem Ort, an dem sich die Beziehung als Buchstaben-Liebe konstituiert und auflöst, indem Leo ›hineinpustet‹ (vgl. GN 193). Zweitens wird der Laptop als besonderes Objekt ausgewiesen, wenn Leo diesen mit zu sich ins Bett nimmt, um dort von Emmis E‑Mail geweckt zu werden (vgl. GN 168).

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Kuss-Qualitäten diskutiert. Seine Antwort ist so einfach wie logisch: »Ich küsse so ähnlich, wie ich schreibe« (GN 216). Mit dem Kuss im Dunkeln wird der Sehsinn bewusst ausgeklammert, so dass die Fantasien, die der E‑Mail-Verkehr erzeugt hat, im blinden Erfühlen ohne Hinderung des Sehens, das eine Enttäuschung vor jeglichem körperlichen Kontakt mit sich bringen könnte, ihre volle Wirkung entfalten können. Schreib- und Körperoberfläche würden damit endlich in Deckung gebracht. Soweit jedoch kommt es nicht. Die über neun Kapitel aufgebaute Spannung, die zuletzt mit einem Countdown der Stunden bis zum Treffen von Emmi und Leo weiter verstärkt und mit dem Wechsel vom »Sie« zum »Du« versüßt wird, implodiert mit dem zehnten Kapitel. Emmis letzte E‑Mail, versehen mit dem Zeitindex »Am nächsten Abend«, verdeutlicht, dass das Treffen nicht stattgefunden hat: »Schuld daran war ein Buchstabe, ein einziger falscher Buchstabe, an einem Ort, wo er nicht sein durfte, zum unglücklichsten aller Zeitpunkte.« (GN 222) Es scheint nur konsequent, dass die Buchstaben-Liebe, die einst mit einem falschen Buchstaben begann, auch an einem ebensolchen scheitert: Der Kreis schließt sich. Es war jedoch dieses Mal nicht Emmi, sondern ihr Ehemann Bernhard, dem der Lapsus – bei der Verabschiedung Emmis, die sich zum Treffen mit Leo aufmacht – unterläuft: »Er hat gesagt: ›Amüsiere dich gut, EMMI.‹ Es war das gewohnte ›Amüsiere dich gut‹. Danach machte er eine Pause. Und dann kam dieses EMMI. Ein Hauch, nicht mehr als ein Hauch. Es ging mir durch Mark und Bein. Er nennt mich sonst ›Emma‹, immer nur Emma. ›Emmi‹ hat er schon jahrelang nicht zu mir gesagt.« (GN 222) Mit dem Hauch ›EMMI‹ ist es somit Bernhard, der in die Tastatur pustet und ›Fantasie-Emmi‹ zerstören will: »›Leo, das ›I‹ statt dem ›A‹, dieser einzige fremde Buchstabe hat einen Schock in mir ausgelöst. Ich mochte es nicht aus seinem Mund. ER durfte es nicht so aussprechen. Es klang so entlarvend, so desillusionierend, so zerstörerisch. Als würde er ahnen, wie es um mich bestellt ist, als hätte er mich durchschaut. Als wollte er mir sagen: ›Ich weiß es doch, du willst ›Emmi‹ sein, du willst endlich wieder ›Emmi‹ sein. Also sei ›Emmi‹ und amüsiere dich gut.‹« (GN 222f.) Mit der Wahl konfrontiert, ›Emma‹, also liebende Ehefrau und Stiefmutter, oder ›Emmi‹, die Geliebte von Leo, zu sein, entscheidet sich Emmi für die Identität, die sie anhand der Buchstaben-Liebe zu Leo aufgebaut hat. Sie imaginiert eine Antwort an Bernhard, die sie ihm so jedoch nicht gibt: »Und ich hätte ihm darauf etwas ganz Fürchterliches antworten müssen, ich hätte sagen müssen: ›Bernhard, ich will nicht nur Emmi sein, ich BIN Emmi. Aber ich bin nicht deine Emmi. Ich bin die Emmi von jemand anderem. Er hat mich nie gesehen, aber er hat mich entdeckt. Er hat mich erkannt. Er hat mich aus meinem Versteck geholt. Ich bin seine Emmi. Für Leo bin ich Emmi. Glaubst du mir nicht? Ich kann es dir beweisen. Ich habe es schriftlich.‹« (GN 223) Die schriftliche Identität ›Emmi‹, für die die Kommunikation mit Leo bürgt, bekennt schließlich unumwunden ihre Liebe: »Mein

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Gefühl hat den Bildschirm verlassen. Ich glaube, ich liebe Dich.« (Ebd.) Auf dieses Liebesbekenntnis folgt, in drastischem Kontrast, der virtuelle ›Selbstmord‹108 Leos in Form einer automatisch generierten Abwesenheitsnachricht: »ACHTUNG. GEÄNDERTE E-MAIL-ADRESSE. DER EMPFÄNGER KANN SEINE POST UNTER DER GEWÄHLTEN ADRESSE NICHT MEHR AUFRUFEN. NEUE E-MAILS IM POSTEINGANG WERDEN AUTOMATISCH GELÖSCHT. FÜR RÜCKFRAGEN STEHT DER SYSTEMMANAGER GERNE ZUR VERFÜGUNG.« (GN 223) Mit dieser Ablehnung, die eine Auslöschung nicht nur der E‑Mail-Adresse, sondern auch der Kommunikation mit Emmi ist, endet der Roman. Leo ist für Emmi unerreichbar, und da ›Emmi‹ nur in schriftlicher Bestätigung durch Leo existiert, verstummt auch sie. Die Buchstaben-Liebe der Buchstaben-Identitäten Emmi und Leo ist Geschichte.

3. L ove V irtually Liebe im Internet ist höchst unwahrscheinlich: Prinzipiell kann im virtuellen Raum jeder mit jedem kommunizieren – den Zugang dazu, der in Form von Hard- und Software ein Konsumprodukt ist und gekauft werden muss, vorausgesetzt. Das Internet und insbesondere die E‑Mail geben das »Versprechen, mit unendlich vielen anderen umstandslos kommunizieren zu können.«109 Damit werden die räumlichen und teilweise auch zeitlichen Grenzen der Partnersuche aufgehoben: Das Internet gleicht einem Warenhaus, das unendlich viele potentielle Liebespartner bereithält. Um hier aus der Masse hervorstechen zu können, muss ein hoher Grad an Individualisierung angenommen werden – womit Liebe zum scheinbar unmöglichen Unterfangen wird: Denn wenn alle tatsächlich höchst individuell kommunizieren, ist eine Passung ebenso unwahrscheinlich, wie wenn die vermeintliche Individualisierung, von allen praktiziert, doch wieder zur Standardisierung und damit zur Ununterscheidbarkeit führt.110 108 | Anders als Werther muss die unglückliche Liebe zwischen Leo und Emmi keine tatsächlichen physischen Konsequenzen haben: Da diese ohnehin nur im virtuellen Raum als Liebesgeschichte existiert (vgl. dazu Kap. V/3), genügt auch die Auslöschung der Existenz auf virtueller Ebene, um dieser ein Ende zu setzen. 109 | Vedder: Geschickte Liebe, S. 317. 110 | Beim Online-Dating sind es Algorithmen, die versuchen, genau dieses Problem zu lösen, indem sie gegen Bezahlung passende Partner ›errechnen‹. Der potentielle Partner wird so zum Konsumprodukt. Der Film Her von Spike Jonze spielt diese Idee bis zur letzten Konsequenz durch, denn dort ist die Partnerin kein Mensch, sondern ein individuell konfigurierbares Betriebssystem mit eigener Stimme, das man sich kaufen kann. Vgl. Her. Spike Jonze (R.), Warner Bros. 2013. Vgl. dazu auch Kap. III/2.3.

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Wenn Luhmann Liebe als Kommunikationscode definiert, der das Unwahrscheinliche wahrscheinlich macht, dann zeigt sich gerade anhand des Internets die Persistenz dieses Codes: Anhand von Kommunikation, die meist schriftlich, jedoch auch audiovisuell erfolgt und oftmals vom Zufall bestimmt ist, wird das scheinbar Unmögliche doch noch möglich gemacht. Die Zufälligkeit der Begegnung, die der Bestimmung romantischer Liebe als Schicksal und Bestimmung zuwider läuft, muss, mehr noch als bei zufälligen Begegnungen in der ›realen Welt‹, mit Latenzschutz ausgestattet werden. Zu diesem Latenzschutz gehört vor allem das Erzählen der eigenen Liebesgeschichte, die den Zufall tilgt und damit gar zum Nebencode avancieren kann.111 In Glattauers E‑Mail-Roman vermerkt Emma Rothner gegen Ende: »Zufälliger als unsere kann eine Bekanntschaft kaum sein.« (GN 198) Damit bringt sie kurzzeitig ein Gebäude ins Wanken, das zuvor behutsam aufgebaut wurde: die Liebesgeschichte von Emmi und Leo. Die Liebe zwischen den beiden bedarf aufgrund ihrer Zufälligkeit und ihrer Verortung im virtuellen Raum eines ganz besonderen Latenzschutzes, der sich im Roman anhand eines intrikaten erzähltheoretischen Konstrukts abbildet. Dieser besteht schließlich von der ersten bis zur letzten Seite aus abgedruckten E‑Mails. Hier gibt es keine Herausgeberfiktion, keinen Schlusskommentar eines Erzählers, sondern nur die Stimmen der Figuren Emma, Leo und Bernhard. Die Liebesgeschichte von Emmi und Leo ist somit eine Geschichte innerhalb einer Geschichte, nämlich des E‑Mail-Verkehrs der beiden. Dieser findet auf einer intradiegetischen Ebene statt, da er von den Figuren Leo Leike und Emma Rothner auf extradiegetischer Ebene – in der fiktiven Realität am PC sitzend – kreiert wird. Emmi und Leo sind ihre erzählten Figuren, die sich wiederum ihre Liebesgeschichte von ›Fantasie-Emmi‹ und ›Fantasie-Leo‹ auf metadiegetischer Ebene erzählen. Dass es sich bei dieser Beziehung der beiden um eine Geschichte handelt, wird von Emmi gleich zu Beginn angesprochen, als es um das Treffen im Café Huber geht: »Ist das dann das Ende unserer spannenden gemeinsamen Geschichte?« (GN  35) Und auch Leo hebt darauf ab, dass es sich hier um eine Geschichte in der Geschichte handelt, wenn er sie als »meine Heldin Emmi aus meinem E‑Mail-Roman« (GN 126) bezeichnet: Von der ›Wirklichkeit‹ abgegrenzt, ist sie in diesem ›Roman‹ »perfekt, die Schönste der Welt, da kommt keine an [s]ie ran.«112 (ebd.) Ein Treffen, die physische Begegnung der Figuren Emma Rothner und Leo Leike auf extradiegetischer Ebene, würde diesen ›Roman‹ beenden, denn die Liebesgeschichte existiert bis dahin nur auf metadiegetischer Ebene. Eine Übertragung der Liebe von dort auf die fiktive Realität auf extradiegetischer Ebene würde also eine doppelte Grenzüberschreitung 111 | Vgl. Kap. II/2.1. 112 | Das grenzt Emmi auch deutlich von Mia ab, mit der sich eben »keine Liebesgeschichte« (GN 143) entwickelt.

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voraussetzen. Die Unwahrscheinlichkeit dessen lässt nicht nur Emmas Ehemann Bernhard und Leos Schwester Adrienne sicher sein, dass ein Treffen das Ende der Beziehung zwischen Emmi und Leo sein wird (vgl. GN 108, 185). Auch Leo selbst ist sich sicher, dass ein Treffen ein ›würdiger Abschluss‹ für die Geschichte mit Emmi sein wird: »Ich will schriftlich keine Gefühle mehr in ›unsere Geschichte‹ investieren. […] Ich will Sie dieses eine und einzige Mal treffen, um ›unsere Geschichte‹ würdig abzuschließen, bevor ich nach Amerika gehe.« (GN 198f.) Und auch Emmi möchte aus dieser Geschichte kein »Tristan und Isolde auf virtuell« (GN 194) machen: Sie wünscht sich ein »witziges Ende« (ebd.) – eine Komödie und keine Tragödie. Wie dem Leser eines Romans geht es den beiden um clotûre, um einen Abschluss also, der es ermöglicht, das Buch beiseite zu legen und ein neues aufzuschlagen. Dieser Abschluss jedoch wird sowohl den Figuren wie auch dem Leser, der  – so die Unterstellung – bei Liebesgeschichten stets das Happy End begehrt,113 verwehrt. Während sich Emmi und Leo auf den »Dimensionssprung« (GN  217) vorbereiten, der eben jene doppelte Grenzüberschreitung von der meta- zur extradiegetischen Ebene bedeuten würde, inszeniert der Text die Verweigerung als Metalepse: Indem Bernhard Emma auf extradiegetischer Ebene – so der intradiegetische Bericht Emmis – ›Emmi‹ nennt, wird die Grenze zwischen intra- und extradiegetischer Ebene überschritten. In der fiktiven Wirklichkeit mit der von ihr erzählten Figur konfrontiert, kann Emmi den ›Dimensionssprung‹ selbst nicht mehr vollziehen. Da die extradiegetische Ebene im Roman konsequent ausgespart wird und darüber nur implizit auf intradiegetischer Ebene etwas zu erfahren ist,114 folgt die Verweigerung des Happy Ends dem poetischen Verfahren des Romans: die Darstellung einer rein digitalen Liebe, die sich über Textualität konstituiert und anhand dieser ausgestellt wird, indem sie exklusiv anhand von E‑Mails erzählt wird. Das schließt Ereignisse zwischen den Liebenden auf extradiegetischer Ebene aus, denn: Wie wäre, in der Konsequenz des Textverfahrens, davon zu erzählen? 113 | Eleanor Salottos Urteil zur Liebesgeschichte in Émile Zolas Au Bonheur des Dames hat in diesem Kontext nach wie vor Gültigkeit, vgl. Eleanor Salotto: Shopping for an I: Zola’s The Ladies’ Paradise and the Spectacle of Identity. In: Anna Gural-Migdal (Hg.): L’écriture du féminin chez Zola et dans la fiction naturaliste. Writing the Feminine in Zola and Naturalist Fiction. Berlin u.a. 2003, S. 449-470, S. 468: »The love plot functions as a kind of commodity in the text; it reflects the readers’ […] desire to see love conquering it all.« 114 | Dieses Verfahren ist wiederum dafür verantwortlich, dass die Innenwelten der Protagonisten und damit der Selbst- und nicht der Fremdbezug fokussiert wird, wie es der romantische Liebescode fordert. Vgl. Peter Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. Konstanz 2003, S. 36.

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Eva Illouz geht davon aus, dass das Internet zwar Fantasien freisetzt, jedoch romantische Gefühle behindert,115 es damit einen tiefen Einschnitt in der Geschichte romantischer Liebe sowie ihr mögliches Ende markiert.116 Sie begründet ihre These mit der fehlenden Körperlichkeit, die für die Liebe unabdingbar sei. Das Internet ist ihr zufolge eine Technologie, »die Begegnungen entkörperlicht, um ganz und gar psychologische Ereignisse aus ihnen zu machen, und Subjektivität textualisiert.«117 Betrachtet man jedoch den Ursprung romantischer Liebe – als Medienrealität ein Produkt der Literatur –, dann scheint das Internet mit der Produktion von Fantasien anhand von Konsumoberflächen wieder genau dorthin zurückzuführen. Den Nutzern wird schließlich ermöglicht, romantische Liebe, die er oder sie vor allem aus Literatur oder Filmen kennt, im Alltag selbst zu erleben – anhand eigener Fantasien und Fiktionen. Es wäre daher voreilig, zu sagen, dass mit dem digitalen Zeitalter das Ende der romantischen Liebe gekommen sei. Vielmehr unterstützt die Technologie des Internets bestimmte Aspekte des romantischen Liebescodes – und Daniel Glattauers Roman legt davon Zeugnis ab. Der E‑Mail-Roman Gut gegen Nordwind scheint sich, so könnte man argumentieren, durch ein Re-Entry der Materialität kaum vom Briefroman zu unterscheiden. Das heißt jedoch zunächst einmal, dass für ihn das gilt, was auch für den Briefroman festzuhalten ist: Er ist unmittelbar mit romantischer Liebe und ihrem Code verbunden,118 und schreibt daher auch die Problematiken des Briefromans, wie die fehlende Körperlichkeit, fort. Dass der Code romantischer Liebe auch in Glattauers Roman wirksam ist, zeigt sich daran, dass anzunehmen ist, die Protagonisten spielten zunächst nur ein Spiel: Leo und Emmi tragen »die Masken von Liebenden und spiel[t]en, nicht ohne Spaß an der Sache, mit den Versatzstücken großer Gefühle.«119 Die Kommunikationsanweisungen des Codes romantischer Liebe funktionieren jedoch unabhängig davon, ob tatsächliche Gefühle vorliegen oder nicht. Wie beim Vicomte de Valmont in den Liaisons dangereuses bewirkt das Spiel mit dem Code auch bei Emmi und Leo die Produktion tatsächlicher Liebesgefühle. Der Roman wiederum bildet im Grunde den romantischen Code par excellence ab: Das Erzählen der Liebe anhand der exklusiven E‑Mail-Kommunikation zwischen den beiden

115 | Vgl. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 154. 116 | Vgl. ebd., S. 164f. 117 | Ebd., S. 144. 118 | Vgl. Jahraus: Liebe als Medienrealität, S. 32f. 119 | Sandra Kegel: Sie mailen wieder! Der österreichische Autor Daniel Glattauer entlässt sein »E-Paar« ins Leben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.02.2009, Nr. 32/Seite Z5. (www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/daniel-glattauer-sie-mailen-wieder-1775253.html, abgerufen am 19.03.2017).

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Liebenden entspricht dem Code WIR ZWEI/Rest der Welt120 und unterstreicht somit narrativ die Höchstrelevanz der beiden füreinander.121 Nichtsdestotrotz unterliegen E‑Mail und Brief unterschiedlichen Bedingungen – diese Unterschiede jedoch, so wäre die hier vertretene These, tilgen den Bezug zur romantischen Liebe gerade nicht, sondern verstärken diesen sogar. Dass Emma Rothner und Leo Leike per E‑Mail und nicht per Brief miteinander kommunizieren, führt durch die Beschleunigung der Kommunikation – man kann dies durch Zeitangaben über den E‑Mails, die von wenigen Sekunden bis zu mehreren Tagen reichen, genau nachvollziehen – zu einer Intensivierung dieser. Dabei ist zu beachten, dass, nur weil elektronische Daten und kein Papier ausgetauscht werden, dies nicht bedeutet, dass unablässig, rund um die Uhr und simultan kommuniziert würde. Eine Kommunikationspause, beabsichtigt oder nicht, gewinnt im Gegenteil in diesem Setting umso mehr an Bedeutung. Es vermag die Kommunikation zu intensivieren, nicht nur weil diese schnell und trotz räumlicher Trennung nahezu zeitgleich möglich ist, sondern auch, weil ihr Ausbleiben mit einer umso größeren Spannung und Sehnsucht belegt ist. War es im postalischen Zeitalter noch möglich, dass der Transport der Post durch unzählige Faktoren fehlging, so ist die Kappung des Internetzugangs in einer sich immer stärker vernetzenden Gesellschaft, die quasi rund um die Uhr online ist, nahezu ausgeschlossen. Das heißt, dass das Wie der Kommunikation, konstitutiv für die romantische Liebe, im E‑Mail-Verkehr eine umso größere Bedeutung erhält. Daraus speist sich letztendlich das Begehren von Emmi und Leo, das immer nur im Aufschub Bestand hat.122 Aspekte des Codes romantischer Liebe werden jedoch auch durch die fehlende Körperlichkeit in der E‑Mail-Kommunikation verstärkt:123 Ebenso wie Konsumobjekte über die Eigenschaft der Fiktionswerte eng mit der romantischen Liebe verbunden sind, so intensiviert gerade die Körperlosigkeit in der 120 | Vgl. Kap. II/2.1. 121 | Das zeigt sich unter anderem auch daran, dass die Liebesgeschichte mit dem Einbruch des Dritten, Bernhard, in diese Kommunikation ihr Ende findet: Aufgrund der E‑Mails von Emmis Ehemann beschließt Leo nach Amerika zu gehen. 122 | Ulrike Vedder behauptet hingegen, dass es ein Begehren durch Aufschub im Cyberspace der simultanen Kommunikation und ständigen Erreichbarkeit nicht gebe, vgl. Vedder: Geschickte Liebe, S. 319. 123 | Es soll hier keineswegs behauptet werden, dass romantische Liebe grundsätzlich und generell der Körperlichkeit entbehren könnte. Worum es dem Code als Kommunikationscode aber vor allem geht, ist die Initiierung von Liebe, und dies ist ebenso gut über das Internet wie in der ›Realität‹ möglich. Dass das Internet durchaus in der Lage ist, bedeutungsvolle Beziehungen zu anderen aufzubauen, legt bspw. Clive Thompson dar in: Brave New World of Digital Intimacy. In: www.nytimes.com/2008/09/07/maga​ zine/07awareness-t.html, 05.09.2008, abgerufen am 19.03.2017.

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digitalen Kommunikation die für die romantische Liebe unabdingbare Komponente der Fantasie. Emma und Leo erzählen wenig von ihrem Leben abseits des Bildschirms und kreieren in der Kommunikation miteinander jedoch eine Art ›Online-Dating-Profil‹, nur ohne Foto. Derart in ein Produkt verpackt,124 spielt der mit diesem Produkt verbundene Fiktionswert eine umso größere Rolle, nämlich als ›Fantasie-Emmi‹ und ›Fantasie-Leo‹.125 Schließlich wissen Emmi und Leo nichts vom Körper des jeweils anderen, und dieses Nicht-Wissen wird zum Teil gar zur Bedingung der Liebe zwischen den beiden – beispielsweise wenn Leo gar nicht erfahren möchte, welche der drei Frauen im Café Huber die echte Emma Rothner gewesen ist, und viel lieber mit seiner ›Fantasie-Emmi‹ kommuniziert. Dieses Extrem wird natürlich wieder eingeholt, wenn es Leo beim mitternächtlichen Weinkonsum um nichts anderes als den Körper von Emmi geht. Denn eine Verselbständigung des Fiktionswerts ist nicht erstrebenswert: Der Film Her (2013) von Spike Jonze führt dieses Extrem vor, indem er ein individuell konfiguriertes Betriebssystem als Liebespartnerin auftreten lässt.126 Wie auch in Glattauers Roman wird versucht, die fehlende Körperlichkeit durch ein Surrogat zu kompensieren, was ebenso fehlschlägt. Dem setzt der Film eine Sexualität entgegen, die nur im Kopf der Protagonisten stattfindet,127 sich also auf die Fantasien der Figuren wie der Rezipienten und damit den Fiktionswert der Konsumobjekte ›Betriebssystem‹ und ›Film‹ stützt. 124 | Vgl. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 132. 125 | Wenn Oliver Jungen in seiner Rezension des Romans beklagt, dass die Figuren »gewisse Konturen, aber keinerlei Tiefe« erhalten, dann verkennt er die intrikate Erzählkonstruktion des Textes und die Bedeutung der Fiktionswerte für diese Liebesgeschichte. Vgl. Oliver Jungen: Ach, wenn Ihr Kabel nicht wär‹ – Oberflächenpolitur: Daniel Glattauer flirtet per E‑Mail. In: www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/ belletristik/ach-wenn-ihr-kabel-nicht-waer-1386428.html, 07.11.2006, abgerufen am 19.03.2017. 126 | Das Thema ist in der Populärkultur durchaus virulent. So widmet sich z.B. auch die US-amerikanische Comedy-Serie The Big Bang Theory dem Thema. In Staffel 5, Folge 14 The Beta Test Initiation führt Raj, der aufgrund selektiven Mutismus’ nicht mit realen Frauen sprechen kann, eine Beziehung mit seinem iPhone, genauer: mit Siri, dem ›Speech Interpretation and Recognition Interface‹ des Apple Telefons. Die Marktförmigkeit dieser ›Liebe‹ wird hier für den komischen Effekt bewusst überspitzt, wenn z.B. das Telefon durch Abziehen der Schutzfolie quasi ›ausgezogen‹ wird oder Raj feststellt: »I can’t believe I bought my soul mate at Glendale Galleria.« (15:54). Das Problem fehlender Körperlichkeit wird auch hier eingespielt, wenn Raj am Ende der Episode träumt, Siri als ›reale‹ Frau in ihrem Büro zu treffen und somit die Unfähigkeit, mit Frauen zu sprechen, auch diese ›Romanze‹ scheitern lässt. 127 | Vgl. Her. Spike Jonze (R.), Warner Bros. 2013, 40:25-43:25. Der Film bedient sich des cleveren Tricks des ›black screen‹, um den Höhepunkt der Vereinigung der beiden

V. Medien: Die Persistenz des Codes

Von diesen Fantasien lebt auch Glattauers Roman: Wenn Emmi und Leo sich kurz vor ihrem geplanten Treffen dieses genau ausmalen, dann geht die Fantasie nicht nur mit Leo (vgl. GN 218), sondern auch mit dem Leser durch. Die rein virtuelle Liebe zwischen Emmi und Leo hat am Ende des Romans eine derartige Wirkmacht entwickelt, dass kaum noch zu bezweifeln ist: Der romantische Code hat auch in der Digitalität Bestand. Beleg dafür ist zum einen der ungemeine Publikumserfolg, den Glattauer mit dem Roman hat, so dass dieser nicht nur in zahlreiche andere Sprachen übersetzt wurde,128 sondern auch als Theaterstück landauf landab gespielt wurde. Dabei kommt es zu einem neuerlichen Re-Entry der Materialität: Denn nun ist es nicht mehr nur gedrucktes Papier, das von der virtuellen Liebe zeugt, sondern es sind reale Körper, die sich, vermeintlich virtuell, auf der realen Theaterbühne begegnen. Dies hat jedoch zur Folge, dass der Roman, derart dramatisiert, seinen postmodern-dekonstruktiven Charakter verliert: Indem die E‑Mails der Protagonisten zur Figurenrede werden, beraubt die Theaterinszenierung den Text um das Ausstellen der Textualität der Liebe. Es handelt sich dabei also um ein ReEntry nicht nur der Materialität, sondern auch des Realismus, der allerdings kein postmoderner, sondern ein »Realismus proper«129 und damit potentiell ›trivial‹ ist. Zum anderen hat der Roman bei seinen Lesern ein Begehren erzeugt, das nur mit dem Code romantischer Liebe zu erklären ist: Das abrupte Ende, das eben gerade kein Happy End ist, erzeugte in derart vielen Lesern das Bedürfnis, Emmi und Leo doch noch zueinanderfinden zu lassen, dass Daniel Glattauer sich bemüßigt fühlte, einen Fortsetzungsroman zu schreiben.130 eben gerade nicht visuell darzustellen, da nur Theodore einen Körper besitzt. Es bleiben nur die Stimmen der beiden Protagonisten, die die Fantasie der Rezipienten anleiten. 128 | Die Webseite Daniel Glattauers listet 27 Übersetzungen auf, vgl. www.daniel-glat​ tauer.de/die-bucher/gut-gegen-nordwind/uebersetzungen, abgerufen am 19.03.2017. 129 | Moritz Baßler: Die Unendlichkeit realistischen Erzählens. Eine kurze Geschichte moderner Textverfahren und die narrativen Optionen der Gegenwart. In: Carsten Rohde, Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld 2013, S. 27-45, S. 44, Herv. i. O. Diese Spielart des Realismus schließt eng an den poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts an, wobei die Diegese anhand von Frames und Skripten konstruiert wird, »die im kulturellen Archiv bereits fest verankert sind.« (ebd., S. 27) Die Zeichenebene wird, anders als in der emphatischen Moderne, gerade nicht ausgestellt, sondern zum Verschwinden gebracht. Potentiell trivial ist dieser Realismus, da er in der Postmoderne zu den am wenigsten avancierten Erzählformen gehören dürfte (vgl. ebd., S. 39f.). 130 | Vgl. Daniel Glattauer: Alle sieben Wellen. Wien 2009. Vgl. auch: Kegel: Sie mailen wieder! Der österreichische Autor Daniel Glattauer entlässt sein »E-Paar« ins Leben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.02.2009, Nr. 32/Seite Z5.

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Eine derartige Wirkung einer Liebesgeschichte, die rein virtuell funktioniert, wäre nicht zu erklären, wenn der Code romantischer Liebe mit dem Internet an sein Ende gekommen wäre.131 Daniel Glattauers E‑Mail-Roman führt somit vor, dass der Zusammenhang von Liebe und Konsum, unter dem Aspekt der Medialität betrachtet, auch im Zeitalter des Internets von nicht zu unterschätzender Relevanz ist. War es bereits in der brieflichen Kommunikation der fehlende Körper, der als grundlegendes Problem einer Lösung bedurfte, so schreibt sich dieses in der digitalen Kommunikation potenziert fort: Gerade weil der Körper fehlt, wird er umso mehr thematisiert und anhand verschiedener konsum-medialer Maßnahmen und Surrogate zu kompensieren versucht. Glattauers Roman inszeniert dies anhand des Changierens zwischen der Schreib- und Körperoberfläche der Protagonisten. Dabei kommt es zur konsum-medialen Erschaffung von Identitäten, die schließlich mit den ›realen‹ Identitäten kollidieren: Narrativ als Metalepse in Szene gesetzt, endet die Liebesgeschichte der beiden aufgrund des Scheiterns daran, Schreib- und Körperoberfläche in Deckung zu bringen. Liebe und Konsum sind also auch in der Digitalität mit der Subjektstabilisierung befasst, diese kann jedoch nicht auf Dauer gestellt werden, da die postmoderne Multioptionalität von Identitäten im Internet zusätzlich potenziert wird, Identitäten damit umso variabler und mobiler werden. Gleichzeitig werden bestimmte Aspekte des Codes romantischer Liebe anhand der konsummedialen Oberflächen des Internets verstärkt – dieser ist damit nicht an sein Ende gekommen, im Gegenteil: Er schreibt sich auch im digitalen Zeitalter umso persistenter fort.

131 | Die Rezeption schließt damit in gewisser Weise an das ›Werther-Fieber‹ an, das Goethes Briefroman nach sich zog. Allerdings nötigten die Leser Goethe nicht, eine Fortsetzung bzw. ein alternatives Ende, gar ein Happy End, zu schreiben, sondern griffen stattdessen selbst zur Feder, vgl. dazu beispielsweise Ernst August Anton von Göchhausen: Das Werther-Fieber. Ein unvollendetes Familienstück. [Leipzig] 1776: Hier wird der Selbstmord Werthers verhindert, indem er kurzerhand vom Vater nach Amerika (sic!) geschickt wird; vgl. auch Friedrich Nicolai: Die Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein Gespräch. Berlin 1775. Nicolai inszeniert die Re-Integration des Stürmers und Drängers Werther in die bürgerliche Gesellschaft, indem Albert auf Lotte verzichtet, so dass Werther Lotte heiraten kann. Dieses Happy End wird schließlich durch acht gemeinsame Kinder gekrönt. Auch wenn die primäre Intention von Göchhausen und Nicolai die Auslöschung des Skandalons Selbstmord gewesen sein mag, so ließe sich zugespitzt dieses Verfassen alternativer Szenarien mit bekannten und etablierten Figuren als Fan Fiction einordnen, vgl. Kap. VI.

VI. Kein Ende in Sicht: Liebe und Konsum als condition postmoderne

›Wahre Liebe lässt sich nicht kaufen‹ – dieser anfängliche Einwand gegen eine Untersuchung des Zusammenhangs von Liebe und Konsum steht an deren Ende zur Disposition: So sehr man eine Trennung der beiden Phänomene bevorzugen mag, so evident ist ihre intrikate Verstrickung. Die Literatur legt davon facetten- und umfangreich Zeugnis ab. Die Verbindung von Liebe und Konsum lässt sich sowohl historisch-philosophisch anhand der Theorie Colin Campbells als auch soziologisch mittels der Arbeiten Eva Illouz’ und Niklas Luhmanns nachvollziehen. Zusammen mit den kulturwissenschaftlichen Überlegungen Hartmut Böhmes und Wolfgangs Ullrichs zur Verbindung von Affekten und käuflichen Dingen ergeben sich daraus thematisch-formale Cluster des Zusammenhangs: Erstens fungieren Liebe wie Konsum im Rahmen einer ›Enzymatik‹ als gegenseitige Katalysatoren: Liebe als grundsätzlich unwahrscheinliches Szenario wird durch Konsum wahrscheinlich gemacht, während Liebe wiederum Konsum initiieren und intensivieren kann. Zweitens sind Liebe und Konsum mit der Subjekt- und Identitätskonstitution bzw. -stabilisierung von Individuen in der Moderne wie Postmoderne befasst. Beide schicken sich an, den Sinnstiftungsmangel, den die Säkularisierung mit sich brachte, zu kompensieren. Damit geht jedoch die Dialektik dieses Stabilisierungsversuchs einher: Die Multioptionalität in Liebe und Konsum lässt Lebens- wie Identitätsentwürfe zunehmend selbst variabel und mobil werden, womit auch die Subjektkonstitution potentiell instabil wird. Die Wahrnehmung von Oberflächen spielt drittens für Liebe wie Konsum eine entscheidende Rolle, wird darüber doch die Wahl des passenden Konsumprodukts wie Liebespartners getroffen. Der Aspekt des Verzehrs, Verbrauchs und Abfalls ist viertens an Konsum wie Liebe gebunden, die sich beide verbrauchen und somit dem Ver- wie Abfall anheimfallen können. Schließlich sind fünftens der kulturelle Fetischismus und Objektbeziehungen eng an den Zusammenhang gebunden: Die Konsumkultur selbst ist materiell geprägt, während sich

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Liebe gern anhand von Objekten, zum Beispiel in Form von Liebesgaben, ausdrückt. Diese Cluster haben sich für die Analyse von Liebesromanen seit dem Ende des 19. Jahrhundert, das heißt seit der Entstehung der modernen westlichen Konsumgesellschaft, fruchtbar machen lassen. Dabei haben sich die Orte des Konsums als potentielle Orte der Liebe erwiesen: Als Kommunikationsstruktur ermöglichen sie nicht nur die zufällige Begegnung potentieller Liebespartner, sondern anhand der dort angebotenen Konsumobjekte machen sie Liebe, laut Luhmann grundsätzlich unwahrscheinlich, auch wahrscheinlich – das heißt, hier greift der Mechanismus der ›Enzymatik‹. In Émile Zolas Au Bonheur des Dames fungiert das Warenhaus als Bedingung der Möglichkeit von Liebe zwischen Denise und Octave Mouret. Die Entstehung und Entwicklung dieser Liebe ist topologisch, strukturell und kommunikativ dem Ort des Warenhauses verpflichtet: Es ist der Ort der Begegnung und bedingt die Liebe auf den ersten Blick auf beiden Seiten. Strukturell gleicht die Aushandlung der Liebe einem Tauschgeschäft und somit der ursprünglichen Funktion des Warenhauses: Mouret macht Denise Angebot um Angebot bis es schließlich zur Vertragseinigung und Denise’ Einwilligung in die Ehe mit Mouret kommt. Gleichzeitig bildet das Warenhaus den Sonderhorizont der beiden Liebenden ab, da sich ihre Kommunikation nahezu ausschließlich darum dreht: Es ist ihr eigener Liebesdiskurs. Das ambivalente Happy End markiert den Triumph von Liebe und Konsum wie die Dialektik der damit verbundenen Subjektstabilisierung gleichermaßen: Da der Text mit dem Heiratsversprechen abbricht, ist insbesondere die Identität Denise’ alles andere als gesichert, sie changiert vielmehr in sich unauflösbar widerstreitenden Möglichkeiten. David Wagners Roman Vier Äpfel verhandelt ebenfalls die Bedingungen der Möglichkeit von Liebe im Raum des Supermarkts. Die Auswahl von käuflichen Waren bestimmt dabei die Passung der potentiellen Liebespartnerin: Angesichts des unendlich scheinenden Warenangebots verdeutlicht diese Setzung die Unwahrscheinlichkeit wie Einzigartigkeit von Liebe gleichermaßen. Ist diese Passung jedoch einmal gefunden, kreieren Konsumprodukte, so führt der Roman vor, einen eigenen Sonderhorizont des Liebespaares, der für den Protagonisten nach Ende der Liebe schwer zu verlassen ist. Konfrontiert mit der hohen Unwahrscheinlichkeit einer neuen Liebe wird schließlich die Fantasie eines Algorithmus im Text installiert, der dem Individuum die Last der Wahl und Entscheidung abnimmt, auf diese Weise Unwahrscheinlichkeit reduziert und Liebe möglich macht. Auf der Ebene des Textverfahrens ist dies jedoch ambivalent: Die Algorithmus-Struktur suggeriert Sinnhaftigkeit und entzieht diese zugleich wieder, indem die Zahlenpoetik des Textes gerade nicht aufgeht. Liebe wie Konsum liefern Deutungsangebote, die jedoch keiner Meta-Physik mehr verpflichtet sind, sondern nur die Idee davon anbieten.

VI. Kein Ende in Sicht: Liebe und Konsum als condition postmoderne

Die Bedeutung von Objekten für den Zusammenhang von Liebe und Konsum ist ebenso signifikant wie ambivalent. Als käufliche Waren dienen sie ganz maßgeblich der Identitätskonstruktion, wie sie Fitzgeralds The Great Gatsby elaboriert vorführt. Darüber hinaus wird Konsum anhand der mit ihm verbundenen Objekte zu jenem Diskurs, in dem Liebe ausgedrückt, bekundet und authentifiziert wird. In The Great Gatsby sind dies vor allem Luxuswaren, während sich dieser Sonderhorizont in Christoph Peters’ Roman Mitsukos Restaurant anhand von Speisen, also dem Konsum von Essen, aufspannt. In diesem Zusammenhang dienen Objekte jedoch nicht nur dem Ausdruck von Liebe, sondern entfalten auch im Sinne der ›Enzymatik‹ von Liebe und Konsum Wirkmacht: Das heißt, sie machen Liebe möglich, während Liebe wiederum Aneignung, Ge- und Verbrauch von Objekten wahrscheinlich macht. Beides ist in den Romanen Fitzgeralds und Peters’ kaum voneinander zu trennen: Die Liebe zu Daisy katalysiert nicht nur die Erschaffung der Identität Jay Gatsbys, sondern auch die Anschaffung der dazugehörigen Luxuswaren. Dieser Konsum wiederum trägt maßgeblich dazu bei, dass sich Daisy erneut in Gatsby verliebt. Dagegen führt Achim Wieses Vorliebe für die japanische Kultur und ihre Objekte zuallererst dazu, dass er sich in Mitsuko verliebt, während die Liebe zu ihr wiederum seinen Konsum von japanischen Speisen und Teeschalen sowie die Reise nach Japan bedingt. Daran knüpft sich die Bedeutung der Fiktionswerte von Konsumobjekten und des kulturellen Fetischismus nach Hartmut Böhme. Achim als Dilettant und Romantiker schwelgt in den Fantasien, die ihm der Konsum japanischer Speisen und der Kauf von Teeschalen bescheren, da sie versprechen, eine Verbindung zu seinem primären Fetisch des alten Japan herzustellen. Gatsby wiederum potenziert die Bedeutung von Fiktionswerten, indem sich sein primärer Fetisch im grünen Licht auf der anderen Seite der Bucht materialisiert und zur Fiktion von Fiktionswerten wird. Die Verbindung von Fiktionswerten mit dem Fetischismus ist dementsprechend signifikant: Während sich die Fiktionswerte an die Fetische zweiter Ordnung, also käufliche Dinge, knüpfen, sorgen ebendiese für die Affirmation und Verstetigung des Fetischs erster Ordnung. Dieser jedoch ermöglicht zuallererst das Zirkulieren der Fetische zweiter Ordnung: Der Kreislauf des Konsums wird ganz maßgeblich durch den transzendental-ökonomischen Fetischismus am Leben gehalten. Dieser Zusammenhang von Fetischen und Fiktionswerten wird schließlich durch die Kombination mit Liebe dynamisiert. Sowohl in The Great Gatsby als auch in Mitsukos Restaurant changieren die Liebespartnerinnen zwischen dem Status eines Fetischs erster und zweiter Ordnung. Anhand der Fiktionswerte, die die männlichen Protagonisten mit ihnen verbinden, werden sie temporär von sekundären zu primären Fetischen erhoben. Die Objekte erweisen sich indes als tückisch: Das gelbe Luxusauto, einst Symbol für die Liebe zu Daisy, wird zum ›death car‹, was wiederum zum Tod Gatsbys führt. Die Teeschale in Mitsukos Restaurant entwickelt dagegen

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ein derartig eigenes Agens, dass sich daran der Fiktionswert einer Erfahrung des alten Japans, also des primären Fetisch, viel besser knüpfen lässt als an die Frau Mitsuko. Daisy wie Mitsuko verlieren daher ihre Funktion und wenden sich, derartig zu Fetischen zweiter Ordnung degradiert und Objekten gleichgestellt, gegen die Fantasien und Fiktionswerte der männlichen Protagonisten. Wie in den Romanen, die dem systematischen Aspekt des Ortes zugewiesen sind, erweist sich die Subjektstabilisierung auch unter dem Gesichtspunkt der Objekte als ambivalent: Gatsbys ›illusion to live by‹, konstruiert aus Konsumobjekten und ihren Fiktionswerten, scheitert am Ende radikal, indem sie in seiner Vernichtung endet. Achims Schicksal ist dagegen weniger definitiv: Mit der Konfrontation von westlicher Konsumgesellschaft und fernöstlicher Kultur changiert der Text zwischen Sinnstiftung und Sinnentzug, zwischen Mythos und Postmoderne. Während in Mitsukos Restaurant der Fetischismus im Textverfahren des Romans wirksam wird, werden die Figuren von The Great Gatsby sowie der Text selbst zu Konsumobjekten, die wiederum den Konsum von Produkten und Objekten, wie sie im Text selbst vorkommen, auslösen. Es entsteht damit ein komplexer Kreislauf, der sich aus dem Zusammenhang von Liebe und Konsum, Fetischismus und Fiktionswerten entspinnt. Medien schließlich spielen für den Zusammenhang von Liebe und Konsum eine ebenso wichtige Rolle wie die Aspekte des Ortes und Objekts. Nicht nur weil die romantische Liebe selbst eine ›Medienrealität‹ ist, sondern auch, weil sie mit Luhmann als Kommunikationsmedium definiert wird. Mit den Konsumoberflächen des Internets gewinnt der Zusammenhang zusätzlich an Relevanz, was sich nicht zuletzt in der Praxis des Online-Datings niederschlägt. Dabei ist ein grundlegendes Problem der Vernetzung von Liebe und Konsum im Internet der fehlende Körper. Der E‑Mail-Roman Gut gegen Nordwind von Daniel Glattauer inszeniert diese Abwesenheit, indem er anstelle der Körper- eine Schreiboberfläche setzt. Anhand des hermeneutischen Spiels, von dieser Schreiboberfläche auf die Person dahinter zu schließen, wird die Problematik von Oberfläche und Kern inszeniert, die für die Konsumkultur maßgeblich ist. Gleichzeitig kommt es zur Konstruktion von virtuellen Identitäten, die sich nicht nur ineinander verlieben und damit gegenseitig stützen, sondern auch mit den ›realen‹ Identitäten der Protagonisten kollidieren. Das Scheitern der auf diese Weise medial erzeugten Liebesgeschichte gründet in der Unfähigkeit, Schreib- und Körperoberfläche zur Deckung zu bringen, was der Text narrativ als Metalepse in Szene setzt. Mit der Potenzierung des postmodernen Problems der Multioptionalität von Identitäten im Internet bleibt auch die Subjektstabilisierung, die anhand von Liebe und Konsum versucht wird, ambivalent: Zum einen erschaffen Emma und Leo fiktive Identitäten, die sich ineinander verlieben. Zum anderen wirken diese fiktiven Identitäten zwar auf das ›reale‹ Leben zurück, können dort aber nicht verdauert werden. Dies führt jedoch nicht dazu, dass der Code der romantischen Liebe oder des-

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sen Verbindung zu Phänomenen des Konsums an ein Ende gekommen wären. Die Digitalisierung zerstört die romantische Liebe nicht, vielmehr wird ihr seit über zweihundert Jahren ausgeprägter Code in diesen konsum-medialen Zusammenhängen weiter praktiziert und affirmiert, so dass dieser sich im Zeitalter des Internets umso persistenter fortschreibt. Betrachtet man abschließend einen der internationalen Bestseller der letzten Jahre, die Romantrilogie Fifty Shades (2011-2012) von E. L. James,1 so lässt sich dieses Phänomen aus der Perspektive des Zusammenhang von Liebe und Konsum erhellen. Die aus gleich mehrfachen Gründen umstrittene Trilogie – eine eher simple sprachliche Gestaltung sowie die zweifelhafte Darstellung von BDSM-Praktiken2 sind nur die zwei prägnantesten – enthält im Kern zwei der wirkmächtigsten Utopien der Gegenwart: die der romantischen Liebe und die des Kapitalismus. Eva Illouz sieht in Fifty Shades eine »neue Liebesordnung«3 am Werk: Die Romantrilogie drücke die ›Aporien heterosexueller Beziehungen‹ in der Postmoderne aus, liefere eine Fantasie zur Überwindung dieser Aporien und könne zudem als Selbsthilfebuch fungieren. Illouz geht es dabei vor allem um die Befreiung von der Wahl, die der Kapitalismus dem Individuum auf bürdet: Der Sadomasochismus biete eine »symbolische Lösung für

1 | Vgl. E. L. James: Fifty Shades of Grey, Fifty Shades Darker, Fifty Shades Freed. New York, Toronto 2012. Tatsächlich gehört zu dieser Trilogie, die komplett aus der Perspektive der Protagonistin Anastasia erzählt wird, noch ein vierter Band, Grey. Fifty Shades of Grey as told by Christian (2015), der die Geschehnisse des ersten Bandes aus der Sicht des männlichen Protagonisten schildert. Er wird in den folgenden Betrachtungen vernachlässigt, da dieser Band kein ursprünglicher Teil des Phänomens Fifty Shades ist, sondern im Nachhinein von E. L. James geschrieben wurde – wohl, um aus diesem Phänomen noch mehr Kapital zu schlagen. Dafür spricht, dass auch der zweite und dritte Roman aus der Sicht Christian Greys veröffentlicht werden sollen. 2 | Genau genommen handelt es sich bei den dargestellten sexuellen Praktiken nicht um BDSM, da in der Beziehung von Christian und Anastasia grundlegende Charakteristika davon fehlen, wie bspw. die Verbindlichkeit eines Vertrages und der Respekt der Grenzen des Partners. Aufgrund dessen ist ein gewisser Teil der Interaktion zwischen Anastasia und Christian als Missbrauch einzuordnen, vgl. dazu: Amy E. Bonomi, Lauren E. Altenburger, Nicole L. Walton: »Double Crap!« Abuse and Harmed Identity in Fifty Shades of Grey. In: Journal of Women’s Health 22 (2013), Nr. 9, S. 733-744; sowie: Bethan Jones: ›My inner goddess is smoldering and not in a good way‹: An anti-fannish account of consuming Fifty Shades. In: Intensities. The Journal of Cult Media 8 (2016), S. 20-33. 3 | Vgl. Eva Illouz: Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey. Übers. v. Michael Adrian [Original: Hard-Core Romance. Fifty Shades of Grey, Bestsellers and Society, 2014]. Berlin 2013, S. 32.

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diese Aporien als auch ein Verfahren zu ihrer Überwindung«.4 Illouz’ Argumentation ist zuweilen überraschend regressiv, wenn ihre Lösung für die Probleme, die die Gleichberechtigung der Geschlechter in der romantischen Liebe mit sich bringt, in der Rückkehr zum Patriarchat besteht.5 Die Faszination von Fifty Shades scheint meines Erachtens jedoch nicht primär in der eher mittelmäßig in Szene gesetzten sadomasochistischen Pornografie zu bestehen,6 sondern zu einem gewissen Grad auch durch die exzessive, direkte und offene Zurschaustellung von Liebe und Konsum hervorgerufen zu werden. Schließlich ist der Exzess einer der Scharnierpunkte, der beides miteinander verzahnt: »Obgleich das Ideal der romantischen Liebe ein Gegenentwurf zu einer Konsumgesellschaft zu sein scheint, ist es doch ihre Maßlosigkeit, die Tür und Tor für den Konsum öffnet, weil das Ideal einen uneingestandenen Reizhunger impliziert, der auch zu den psychosozialen Antrieben der Konsumbereitschaft gehört.« 7 Der Exzess darf jedoch, so zeigen die Analysen von Au Bonheur des Dames und The Great Gatsby, nicht von Dauer sein, da er zu Instabilität führt. In Fifty Shades führt er aber gerade nicht zur Destabilisierung, im Gegenteil, der Exzess scheint das einzige zu sein, das die Verbindung der Protagonisten Anastasia Steele und Christian Grey in Form eines nicht enden wollenden Geld- und Samenflusses verdauert. Dass Grey damit als Mann höchster Potenz, sexuell wie finanziell, exponiert wird, und dass diese durch die Begegnung mit Anastasia mit der Idee romantischer Liebe erfolgreich verklammert wird, stellt die Wirkmacht der Verbindung von Liebe und Konsum offensiv aus. Anne Helen Petersen merkt daher in Bezug auf die Verfilmung des ersten Teils an: »The most dramatic reveal of Fifty Shades of Grey isn’t the Red Room of Pain. It’s not Dakota Johnson’s pubic hair, or even Jamie Dornan’s abs. It’s Christian Grey’s penthouse. […] The proceeding scenes had functioned as capitalistic foreplay: We see his towering office buildings, with the crisp white and

4 | Ebd., S. 26. 5 | Vgl. ebd., S. 60f. Vgl. dazu auch meine ausführliche Einschätzung von Illouz’ Thesen zu Fifty Shades: Von Herzen und Handschellen. Rezension zu Eva Illouz, »Die neue Liebesordnung. Männer, Frauen und ›Shades of Grey‹«. In: www.pop-zeitschrift.de/ wp-content/uploads/2014/01/rezension-opp-illouz.pdf, Januar 2014, abgerufen am 01.05.2017. 6 | Sadomasochismus ist zudem seit de Sades Romanen Bestandteil des literarischen Kanons, erotische Literatur gehört mittlerweile zum kulturellen Mainstream. Vgl. Illouz: Die neue Liebesordnung, S. 16. 7 | Rolf Haubl: Wahre Liebe kostet nichts? Erlebnisrationalität der romantischen Liebe. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2 (2005), H. 1, S. 119-130, S. 126.

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stainless steel that connote very important business going on here.« 8 Der Text9 wie der Film10 inszenieren die Welt der schönen Oberflächen des Kapitalismus und seine Potenz – die ›towering office buildings‹ lassen sich kaum anders als phallisch lesen – in Perfektion. Dazu gehören die Angestellten Greys – allesamt blonde Schönheiten in perfekter Kleidung – so selbstverständlich wie er selbst: »So young – and attractive, very attractive«,11 lautet Anastasias Beschreibung, als sie Grey das erste Mal erblickt. Ihre Empfindung dabei erinnert an jene, die auch Denise in Zolas Au Bonheur des Dames angesichts des Kaufhauses und Octave Mourets hat:12 Angst und Erregung.13 Die Bedeutung von Orten des Konsums für die Liebe wird auch in Fifty Shades aufgenommen: Dazu gehören die unzähligen, schicken Restaurants und Hotels, die die beiden aufsuchen, oder auch Greys Design-Penthouse. Zudem findet – im Anklang an die Warenhausliteratur – die zweite Begegnung von Christian und Anastasia in einem Baumarkt statt, in dem sie angestellt ist und wo er sie deshalb gezielt aufsucht. Nicht wissend, dass Grey sich mit Materialien für seine BDSM-Praktiken eindeckt, berät Anastasia ihn bei der Wahl der Produkte, womit das ikonische Setting von Verkäuferin und Kunde inszeniert wird. An Greys Einkauf knüpft sich der zweite systematische Aspekt der Verbindung von Liebe und Konsum: Objekte. Damit sind nicht nur die Fetische, die im ›Red Room of Pain‹ zum Einsatz kommen, gemeint, sondern vor allem auch 8 | Anne Helen Petersen: The Sly Capitalist Seduction of »Fifty Shades of Grey«. In: https://www.buzzfeed.com/annehelenpetersen/submit-to-capitalism, 15.02.2015, abgerufen am 01.05.2017; Herv. i. O. 9 | Vgl. James: Fifty Shades of Grey, S. 4f. 10 | Vgl. Fifty Shades of Grey. Sam Taylor Johnson (R.), Universal Pictures, Focus Features 2015. 11 | James: Fifty Shades of Grey, S. 7. Bei ihrer zweiten Begegnung ergänzt sie: »My memories of him did not do him justice. He’s not merely good-looking – he’s the epitome of male beauty, breathtaking« (S. 25). In der Folge lässt Anastasia kaum eine Gelegenheit aus, um auf seine körperliche Schönheit hinzuweisen, von der allgemeinen Beobachtung »he’s so freaking hot« (S. 36), die ihn zum »Greek God« (S. 78) macht, bis hin zu Details wie »his long-fingered, beautifully manicured hand« (S. 26) oder auch seine »sculptured, sensual lips« (S. 27). 12 | Vgl. Kap. III/1. 13 | Vgl. James: Fifty Shades of Grey, S. 8: In a daze, I place my hand in his and we shake. As our fingers touch, I feel an odd exhilarating shiver run through me. I withdraw my hand hastily, embarrassed. Must be static. I blink rapidly, my eyelids matching my heart rate.« Vgl. zum Erhabenen in Fifty Shades: Franziska Mader: »Ästhetik des Ersten Mals«. Das Erhabene in E L James’ »50 Shades«-Trilogie. In: www.pop-zeitschrift.de/2015/10/17/ aesthetik-des-ersten-malsdas-erhabene-in-e-l-james-50-shades-trilogievon-franziska-mader17-10-2015/, 17.10.2015, abgerufen am 01.05.2017.

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Konsumobjekte:14 Dazu gehören teure Kleidung, Luxusautos, neueste technische Geräte, besondere Speisen, Champagner usw. In diesem Zusammenhang sind auch die Geschenke relevant, die Christian Anastasia macht und die dazu beitragen, dass er sie für sich gewinnen kann: ob es die Erstausgabe von Tess of the d’Urbervilles von Thomas Hardy15 ist, das stylische MacBook Pro16 und Blackberry17 oder der neue Audi, den er ihr zum Abschluss ihres Studiums schenkt.18 Diese Geschenke weist Anastasia zunächst alle zurück, nur um sie, und mit ihnen auch Christian, endgültig in ihr Leben aufzunehmen: Denn die Geschenke binden sie umso enger an ihn, der damit nicht nur seine Gefühle für Anastasia ausdrückt, sondern immer auch Kontrolle über sie ausübt.19 Der Konsum von Luxuswaren ist ähnlich eng mit der Persönlichkeit Greys verbunden wie jene Jay Gatsbys. Anastasia bringt diesen Zusammenhang sogar selbst gleich zu Beginn ihrer Begegnung mit Grey auf den Punkt, wenn sie feststellt: »You sound like the ultimate consumer«, worauf er kurz und bündig antwortet: »I am.«20 Somit erscheint es geradezu zwangsläufig, dass die Stabilisierung der Beziehung über jene Formen des Freizeitkonsums erfolgt, die Eva Illouz geltend macht: Ausflüge in luxuriöse Hotels und Restaurants, ein Kurztrip nach Aspen, der aufregende Flug mit einem Segelflugzeug über dem Meer oder mit dem Helikopter von Vancouver nach Seattle usw. Die Zusammengehörigkeit von Christian und Anastasia lässt sich in der Formel von Liebe, Sex und Konsum kondensieren: Wenn die beiden keinen Sex – BDSM oder nicht – haben, dann konsumieren sie. Der ganze Bereich der Arbeit selbst wird, wie es die romantische Utopie laut Illouz fordert, nahezu komplett ausgeblendet.21 Die 14 | Ina Hartwig unterstellt dem Roman aufgrunddessen »Schleichwerbung«, womit absurderweise sämtliche Verfahren der Nennung von Produkten wie Marken in der Literatur seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in Abrede gestellt werden. Offensichtlich kommt der Vorwurf des Konsumismus hier gerade recht, um den Roman abzuqualifizieren, wobei verkannt wird, dass dies integraler Bestandteil dessen ist, was die Faszination an Fifty Shades ausmacht. Vgl. Ina Hartwig: Sadomaso-Sex und Schleichwerbung in simpler Prosa. In: www.sueddeutsche.de/kultur/sadomaso-bestseller-shades-of-grey-mit-duschgel-gefesselt-1.1405155, 09.07.2012, abgerufen am 01.05.2017. 15 | Vgl. James: Fifty Shades of Grey, S. 54f. 16 | Vgl. ebd., S. 178. 17 | Vgl. ebd., S. 299. 18 | Vgl. ebd., S. 261. 19 | Vgl. dazu bspw. die erste E‑Mail, die er ihr auf das eben geschenkte Blackberry sendet, ebd., S. 299. 20 | Ebd., S. 12. 21 | Vgl. Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Übers. v. Andreas Wirthensohn [Original: Consuming the Romantic

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Frage nach dem Ursprung des nie versiegenden Geldstroms wird nicht beantwortet, denn dann würde die Aufmerksamkeit auf jene utilitaristischen Zwänge gelegt, die die Ermöglichung von Konsum bedingen. Fifty Shades fokussiert stattdessen ausschließlich die hedonistische Seite der Liebesbeziehung und blendet die beschwerliche Seite weg: Damit geht die Fiktion ins Märchenhafte mit hohem Verführungspotential über.22 Die Romantrilogie führt zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurück: zum Ursprung des Konsums in einer romantischen Ethik. Die Lektüre von Fifty Shades löst jenen Mechanismus aus, den die romantische Literatur einst initiierte und der dann in die Konsumkultur übergegangen ist: ›day-dreaming‹. Dafür ist die Schicht, der Christian Grey entstammt, entscheidend: Wie Petersen anmerkt, ist die Fantasie von Fifty Shades im Kern eine »class fantasy: No one would be compelled by the fantasy of a man who gets off on restraining and whipping a woman in a trailer park, or even a suburban split-level.«23 Das ›day-dreaming‹ bezieht sich also mitnichten nur auf die sexuelle Fantasie, sondern ebenso auf den Kapitalismus: »What would my life be like if I were sexually submissive? is just as central a question as What would my life be like if I never had to worry about money?«24 Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass die Romantrilogie am Ende das Ideal romantischer Liebe affirmiert, das sie von ihrem Ausgangssetting her radikal zu unterlaufen scheint: »[T]he biggest spoiler of the Fifty Shades trilogy is that a potential deviant text so thoroughly and unproblematically reifies the status quo.«25 Fifty Shades steht somit in der Tradition jener Liebesromane, welche die Leser mit dem heiß begehrten Happy End beglücken. Daher spielt auch der dritte systematische Aspekt von Liebe und Konsum, die Medialität, in Fifty Shades eine wichtige Rolle. Auf der inhaltlichen Ebene findet ein erheblicher Teil der Konversation zwischen Anastasia und Christian über E‑Mails statt, die über Laptop und Blackberry ausgetauscht werden. Diese E‑Mails sind im Roman, ähnlich wie in Glattauers Gut gegen Nordwind, einem Faksimile nachempfunden mit E‑Mail-Header abgedruckt. Unter Christians E‑Mails befindet sich stets seine Signatur »Christian Grey CEO, Grey Enterpri-

Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, 1997]. Frankfurt a.M. 2007, S. 103; vgl. dazu auch: Petersen: Sly Capitalist Seduction. 22 | Fifty Shades setzt damit auf die gleiche Wirkung wie Werbung, indem die Fiktion gerade nicht als märchenhaft gekennzeichnet wird, sondern ›realistisch‹ in dem Sinne wirkt, dass es ›wirklich so‹ passieren könnte. Vgl. dazu Illouz: Konsum der Romantik, S. 103. 23 | Petersen: Sly Capitalist Seduction. 24 | Ebd., Herv. i. O. 25 | Ebd.

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ses Holdings, Inc.«,26 damit weder Anastasia noch der Leser je vergisst, welche Position Christian Grey in allererster Linie innehat: die des Geschäftsmanns. Dementsprechend findet die Verhandlung über die Beziehung der beiden, die nach Christians Willen zunächst im Rahmen eines Vertrages geregelt werden soll, auch per E‑Mail statt. Entsprechend seiner Vorliebe für BDSM-Praktiken will er, der »Dominant«, Anastasia zu seiner »Submissive«27 machen – romantische Liebe ist für ihn ausgeschlossen.28 In den Vertragsverhandlungen geht es um ›hard‹ und ›soft limits‹ der sexuellen Praktiken, die Verfügbarkeit Christians über Anastasias Körper in Form von Essensvorschriften und Fitnesstrainings, ihre Kleidung, Schlafgewohnheiten etc.29 Signifikant ist – und das wird von vielen Rezensenten oft übersehen –, dass Anastasia diesen Vertrag niemals unterschreibt, zwischen ihr und Christian also nie eine vertragliche BDSM-Beziehung zustande kommt. Denn Anastasia begehrt – nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Romanlektüre – genau das, was Christian zunächst ausschließt: romantische Liebe, und damit einen ganz anders gearteten Vertrag: die Ehe. Genau aus dieser Spannung von vermeintlichen BDSM-Praktiken und den Anforderungen romantischer Liebe entspinnt sich der zentrale Konflikt der Trilogie.30 Obgleich also Elemente des BDSM-Vertragswerks zunächst Bestandteil der Beziehung sind, entwickelt sich diese immer mehr zu einer romantischen Liebesgeschichte, die mit ein bisschen außergewöhnlichen Sexualpraktiken versehen wird.31 Beides ist eng miteinander verzahnt: Christian Grey favorisiert nur deshalb BDSM-Praktiken, weil er als Kind missbraucht und als Jugendlicher selbst zur ›Sub‹ einer älteren Frau gemacht wurde. Dies schließt 26 | James: Fifty Shades of Grey, S. 179. 27 | Ebd., S. 165. 28 | Vgl. ebd., S. 96: Als Anastasia fragt: »Does this mean you’re going to make love to me tonight, Christian?«, antwortet er: »No, Anastasia, it doesn’t. First, I don’t make love. I fuck … hard.« 29 | Vgl. ebd., S. 165-175. 30 | Vgl. Bonomi, Altenburger, Walton: »Double Crap!« Abuse and Harmed Identity in Fifty Shades of Grey, S. 734. 31 | Die Wirkmacht des Codes romantischer Liebe zeigt sich auch in der Verhandlung von Sexualität bestätigt: Ist diese stets Teil der ›Komplettberücksichtigung‹ des anderen laut Luhmann, so zeigt die Thematisierung davon jedoch den Krisen- und nicht den Normalfall an. Indem im ersten Band von Fifty Shades Sexualität explizit thematisiert und zwischen den Figuren verhandelt wird, deutet dies zunächst eine Abkehr vom Code romantischer Liebe an. Indem der Vertrag über die sexuellen Praktiken jedoch nicht zustande kommt und mit der Verlobung von Anastasia und Christian aus der Narration nahezu komplett verschwindet, wird der romantische Code restituiert. Vgl. zur Funktion von Sexualität in der systemtheoretischen Liebeskonfiguration: Peter Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. Konstanz 2003, S. 45f.

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an die bekannte Formel von Liebesromanen seit dem 18. Jahrhundert an: »Die Heldin begegnet einem attraktiven, jedoch finsteren und bedrohlich wirkenden Mann, von dem sich erst im Lauf der Zeit herausstellt, daß er sie liebt und ihr treu ergeben ist.«32 Anastasia wird zur Retterin des gebrochenen Helden, und mit seiner Erlösung geht die Einlösung des romantischen Liebesplots einher: »I’m your lover, Anastasia, not your Dom«,33 resümiert Christian die Beziehung der beiden kurz nachdem er ihr am Ende des zweiten Bandes einen Heiratsantrag gemacht hat. Auf medial-diskursiver Ebene ist Fifty Shades von Bedeutung, weil nicht nur die Ästhetik des Textes und seine Rezeption, sondern auch seine Produktionsbedingungen ein Sonderfall sind: Es handelt sich um Fan Fiction, das heißt um »writing that continues, interrupts, reimagines, or just riffs on stories and characters other people have already written about.«34 Fan Fiction sind also Texte, die von Lesern eines anderen Textes in Bezug auf diesen Text geschrieben werden. Dies geschieht aus unterschiedlichen Motivationen – einer der wesentlichen Gründe, der aus dem Konsum des Original-Textes resultiert, ist jedoch die Liebe zu dessen Figuren wie Narration: »Yet fanfiction is largely driven by a love of the very elements – narrative and character – that much experimental writing of the past half-century has targeted for disruption and critique.«35 Diese Liebe führt dazu, dass der Leser nicht möchte, dass der Text endet: »It’s about doing things with those existing characters and worlds that their creators couldn’t or wouldn’t do.«36 Die Geschichte wird weiter erzählt, Lücken in der Narration werden gefüllt, die Figuren werden unter Umständen verändert, sie werden in andere Welten – ›alternative universes‹ – versetzt, ihr Verhältnis zueinander wird auf andere Weise exploriert etc. Fan Fiction kommt damit ein signifikant subversives Potential zu: »Fanfiction transforms assumptions mainstream culture routinely makes about gender, sexuality, desire, and to what degree we want them to match up.«37 Gleichzeitig unterhält Fan Fiction ein intrikates Verhältnis zum Konsum und Mainstream: »Fanwriting commu32 | Illouz: Die neue Liebesordnung, S. 34. 33 | E. L. James: Fifty Shades Darker. New York, Toronto 2015, S. 487. 34 | Anne Jamieson: Why Fic? In: Dies. (Hg.): Fic. Why Fanfiction Is Taking Over The World. Dallas 2013, S. 17-24, S. 17. 35 | Ebd., S. 22. 36 | Lev Grossman: Foreword. In: Anne Jamieson (Hg.): Fic. Why Fanfiction Is Taking Over The World. Dallas 2013, S. xi-xiv, S. xii. Anne Jamieson präzisiert die Möglichkeiten von Fan Fiction: »serious alternate point-of-view or alternate-ending retellings: whatifs, could-have-beens, or (more often) should-have-beens, rewritten because the original writer, from the fan’s point of view, lost her way, got it wrong, needs correcting.« (Jamieson: Why Fic?, S. 18). 37 | Jamieson: Why Fic, S. 19.

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nities enjoy and consume commercial culture voraciously, celebrate it, even as they challenge and transform its products for their own sometimes radical purposes.«38 Wenn Leser also mit dem Schreiben von Fan Fiction selbst zu Autoren werden, dann könnte man von ihnen im Kontext der Konsumtheorie auch von ›Prosumern‹39 sprechen, die ihrem ›day-dreaming‹ – also jenen Fantasien, die der Originaltext bei ihnen auslöst – anhand von Texten Ausdruck verleihen.40 Die Fifty Shades-Trilogie ist Fan Fiction, die auf der erfolgreichen Twilight-Saga (2005-2008) von Stephenie Meyer beruht und in einem ›alternative universe‹ angesiedelt ist, womit aus dem Vampir Edward Cullen der Geschäftsmann Cullen wird. E.  L. James veröffentlichte diese unter dem Pseudonym ›Snowqueens Icedragon‹ mit dem Titel Master of the Universe – unter Beibehaltung der Figurennamen Meyers – auf einer der größten Fan Fiction-Portale fanfiction.net.41 Von dort wurde der Text 2011 entfernt, offiziell aufgrund des explizit sexuellen Inhalts.42 Auffallend ist jedoch, dass James zur gleichen Zeit einen Vertrag mit einem kleinen australischen Verlag43 zur Veröffentli38 | Ebd., S. 22. 39 | Vgl. Alvin Toffler: The Third Wave. The Classic Study of Tomorrow. New York 1980. 40 | Wie weit das Konzept des Konsumenten als Produzenten im Fall von Fans trägt und wie dies gar Einfluss auf die Produktion des Originaltextes nehmen kann, habe ich anhand der britischen Serie Sherlock aufgezeigt, vgl. »The Game Is Never Over«. Das Spiel transmedialen Erzählens in Sherlock. In: Jonas Nesselhauf, Markus Schleich (Hg.): Das andere Fernsehen?! Eine Bestandsaufnahme des »Quality Television«. Bielefeld 2016, S. 141-158. 41 | Vgl. Jason Boog: The Lost History of Fifty Shades of Grey. In: www.adweek.com/ galleycat/fifty-shades-of-grey-wayback-machine/50128, 21.12.2012, abgerufen am 28.04.2017. 42 | Vgl. das Interview mit Anne Jamieson in: http://fiftyshadesofpopculturetheory.blogspot.de/2012/03/full-exchange-with-jason-boog-for.html, abgerufen am 28.04.2017. Explizit sexueller Inhalt ist immer schon Teil von Fan Fiction, da er vor allem dazu dient, aus ›subtext‹ Text zu machen (vgl. Grossman: Foreword, S. xiii). Gleichzeitig steht der pornografische Inhalt oft im Dienst des subversiven Charakters von Fan Fiction: »It’s also about prosecuting fanfiction’s larger project of breaking rules and boundaries and taboos of all kinds.« (Ebd.) Nichtsdestotrotz geht die Gleichung ›Fan Fiction = Porn‹ nicht auf, wie Nick Cannata-Bowman darlegt: How ›Fifty Shades of Grey‹ Misrepresents Fanfiction. In: www.cheatsheet.com/entertainment/how-fifty-shades-of-grey-misrepresents-fanfiction.html, 22.06.2015, abgerufen am 01.05.2017. 43 | Der unabhängige Verlag The Writer’s Coffee Shop Publishing House ist aus der gleichnamigen Internetseite hervorgegangen, die Twilight-Fanfiction beheimatete. Vgl. dazu Anne Jamieson: The Twilight Fandom. In: Dies. (Hg.): Fic. Why Fanfiction Is Taking Over The World. Dallas 2013, S. 177-187, S. 185.

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chung des Textes abschloss. Mit dem neuen Titel Fifty Shades wurden auch die Figuren umbenannt, um den Ursprung, Meyers Twilight, zu verwischen.44 Als sich innerhalb eines Jahres 100,000 Exemplare davon verkaufen, erwirbt Random House die Lizenz und veröffentlicht die Trilogie erneut – mit der Behauptung, es handle sich um »original fiction«.45 Das ist der Moment, in dem das popkulturelle Phänomen ›Fifty Shades‹ geboren wird, denn: »the books blow up«46 – und als internationaler Bestseller wird Fan Fiction plötzlich zum Mainstream. Wenn Fan Fiction aus dem Konsum anderer Texte und der Liebe zu diesen Texten resultiert, dann ist auch hier der Zusammenhang wirksam: Mit der umstrittenen pull-to-publish-Strategie47 war ein großer Teil der Leserschaft bereits garantiert,48 da der Bedarf an Geschichten bei den Fans von Meyers Twilight-Saga alles andere als gedeckt gewesen zu sein scheint.49 Von der Warte des Kapitalismus aus gesehen ist das Geschehen nahezu zwangsläufig: Für einen nicht gedeckten Bedarf wurde ein Angebot erstellt, das bereitwillig angenommen wurde.50 Fifty Shades liefert darüber hinaus ein Beispiel für die Integration potentieller Subversion in den Kapitalismus: Als subversives Genre wird Fan Fiction,

44 | Master of the Universe und Fifty Shades gleichen sich ansonsten weitgehend, vgl. dazu die quantitative Analyse von Jane Litte: Master of the Universe versus Fifty Shades by E. L. James Comparison. In: http://dearauthor.com/features/industry-news/mas​ ter-of-the-universe-versus-fifty-shades-by-e-l-james-comparison/, 13.03.2012, abgerufen am 28.04.2017. 45 | Vgl. ebd. Zu den legalen Aspekten von Fan Fiction vgl.: Wolfgang Reißmann, Nadine Klass, Dagmar Hoffmann: Fan Fiction, Urheberrecht und Empirical Legal Studies. In: POP. Kultur & Kritik 10 (2017), S. 156-172. 46 | Andrew Shaffer: Fifty Shades of Gold. In: Anne Jamieson (Hg.): Fic. Why Fanfiction Is Taking Over The World. Dallas 2013, S. 268-273, S. 268, Herv. i. O. 47 | Vgl. ebd., S. 269. 48 | Vgl. das Interview mit Anne Jamieson in: http://fiftyshadesofpopculturetheory.blog​ spot.de/2012/03/full-exchange-with-jason-boog-for.html, abgerufen am 01.05.​2017. Sie geht davon aus, dass die Fan Fiction Master of the Universe hunderttausende Leser gehabt haben muss. 49 | Vgl. dazu auch die Fortsetzung der Handlung von Glattauers Roman Gut gegen Nordwind in Alle sieben Wellen: Auch hier dürfte das Begehren der Leser nach mehr Geschichten bzw. nach einer glücklichen Liebesgeschichte und die daraus resultierende Aussicht auf einen neuerlichen kommerziellen Erfolg die basalen Motive für die Produktion des Nachfolgeromans gewesen sein. Vgl. Kap. V/2.2.3. 50 | Vgl. zur Verbindung von Fandom und Kapitalismus: Sophie Einwächter: Transformationen von Fankultur. Organisatorische und Ökonomische Konsequenzen globaler Vernetzung. Phil. Diss. Goethe-Universität Frankfurt a.M. 2014.

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die ihrer Herkunft nach der gift economy51 verschrieben ist – das heißt: sie wird nicht aus kommerziellen Gründen verfasst –, aus dieser herausgelöst und auf dem Markt zum Konsum gegen Bezahlung angeboten. Damit geht jedoch oftmals der Verlust des subversiven Potentials einher, wenn beispielsweise homosexuelle Charaktere für die Veröffentlichung heterosexuell umgeschrieben werden.52 Fifty Shades war die Rücknahme der Subversion, die deviante Sexualität, jedoch von Anfang eingeschrieben: Der Plot der romantischen Liebesgeschichte versüßt und legitimiert die BSDM-Praktiken, da sich die Geschichte – entsprechend des unaufhaltsam erfolgreichen Zusammenhangs von Liebe und Konsum – so viel besser verkauft. An diesen Verkaufserfolg knüpft sich wiederum der Vertrieb weiterer Produkte, die mit dem Label ›Fifty Shades‹ versehen werden: Dazu zählen nicht nur die Filme (seit 2015), unzählige Romane und Selbsthilfebücher, die sich an Fifty Shades anlehnen, sondern auch Sexspielzeuge, Schmuck, Parfum, Duschgel und Bodylotion usw. Das Phänomen ›Fifty Shades‹ zeigt, dass der Zusammenhang von Liebe und Konsum in der Literatur nichts an Relevanz eingebüßt hat. Liebe ist, wie Eva Illouz darlegt, in der Postmoderne problematisch geworden, indem durch die massenmediale Verbreitung des romantischen Liebescodes die Kluft zwischen Realität und Fiktion umso mehr auf bricht. Die Multioptionalität von Identitäten, die die Konsumkultur mit sich bringt, verschärft dieses Problem, denn Liebe und Identität lassen sich nicht mehr zu einem grand récit zusammenführen.53 Wenn die romantische Liebe aber seit ihren Anfängen bereits immer schon ›Medienrealität‹ und der Satz ›Ich liebe Dich‹ stets Zitat und damit potentiell unaufrichtig ist, dann kann Literatur diese Inkommunikabilität 54 medial inszenieren und auf diese Weise der Liebe zum Ausdruck verhelfen – und das ganz ohne die berühmten drei Worte.55 Auf ähnliche Weise eröffnet die Konsumkultur Möglichkeiten, Liebe wieder ins Spiel zu bringen: Die Orte, Objekte und Medien der Konsumkultur problematisieren Liebe nicht nur, sie machen sie auch möglich, und das heißt im Sinne der Luhmann’schen Konzeption: sie machen Liebe wahrscheinlich. Die vorgelegten Analysen zei51 | Vgl. Anne Jamieson: Fic and Publishing. In: Dies. (Hg.): Fic. Why Fanfiction Is Taking Over The World. Dallas 2013, S. 259-298, S. 261. Die Opposition von Liebe und Geld scheint neuerlich aufgerufen, wenn es heißt: »real writers […] wrote only for love.« (ebd., S. 260). Dies ist jedoch eine Illusion, wie Jamieson betont: »This idealization of fandom as a profit-free, noncapitalist space is also not strictly accurate.« (ebd., S. 279). 52 | Vgl. ebd., S. 282f. 53 | Vgl. Illouz: Konsum der Romantik, S. 214-225. 54 | Vgl. zum Begriff: Kap. II/2.1. 55 | Vgl. Oliver Jahraus: Liebe als Medienrealität. In: Stefan Neuhaus (Hg.): Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft. Würzburg 2012, S. 21-33, S. 27f.

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gen auf, dass Literatur dieses Verhältnis ästhetisch und poetisch vielfältig reflektiert und mitgestaltet. Die daraus resultierende Ambivalenz von Subjektivität markiert den Zusammenhang von Liebe und Konsum als spezifische condition postmoderne.56 Damit ist jedoch mitnichten das letzte Wort gesprochen, vielmehr ist das Feld für die Erforschung dieses Zusammenhangs in der Literatur, der nun erstmals systematisch kartiert wurde, gerade erst eröffnet. Es stellt sich beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis von Liebe und Konsum unter Gender-Gesichtspunkten: Wenn Kapitalismus wie romantische Liebe männliche Erfindungen sind, was heißt das dann für die Verhandlung der Geschlechterbeziehung in der Literatur unter dem Aspekt von Liebe und Konsum? Zudem verspricht die detaillierte Aufschlüsselung der spezifischen Ausformung des Zusammenhangs in den unterschiedlichen Epochen wie Gattungen der Literatur einen Erkenntnisgewinn, für die Liebesliteraturforschung wie für jene, die sich den ökonomischen Zusammenhängen in der Literatur widmet. Schließlich wäre auch danach zu fragen, wie sich der Zusammenhang in der Literatur jener Sprachen und Kulturen darstellt, die hier nicht berücksichtigt werden konnten. Dies sind nur drei der möglichen Forschungsdesiderate, die sich im Anschluss an die vorliegende Analyse ergeben. Für den Zusammenhang von Liebe und Konsum in der Literatur gilt indes: Es ist bislang kein Ende in Sicht.

56 | Vgl. zum Begriff: Jean François Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris 1979.

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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