Poetik und Poesie der Werbung: Ästhetik und Literarizität an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz 9783839438268

Commercial esthetics or art? Interdisciplinary perspectives on the interaction of poetry-like structure and the esthetic

230 36 4MB

German Pages 242 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I WERBUNG IN KUNST UND LITERATUR
Gedichte, so wirksam wie Werbeslogans. Poesie, Werbung und Innovation
Poetik als Werbung. Marketingstrategien und Kunst in Émile Zolas Experimentalroman(en)
Kreativität im Korsett. Nostalgie und Konsumideologie im Fernsehdrama The Paradise
Zwischen Körper und Kapital. Erzählte und erzählende Werbung in Richard Powers Gain
II ÄSTHETIK UND POETIK DER WERBUNG
Poetik der Provokation. Lars von Trier und die Werbung
„It’s Time for Another Revolution“. Revolutionität in der Automobilwerbung
Das U(h)rverständnis von Mann und Frau – oder: Die inszenierte „Breitbeinigkeit“ geht in Serie. Zur Komik in der Werbeserie am Beispiel der Uhrenmarke IWC
Serendipity. Zufallskreativität in kommerziellen Werbestrategien und in literarischer Gegenwartspoetik
III NARRATIVE DER VERFÜHRUNG
Von perfektionistischen Superheldinnen, sexualisierten Santas und übermächtigen Schwiegermüttern
„Blow Some My Way!“ Darstellungen weiblicher (Un-)Abhängigkeit in Zigarettenwerbung des zwanzigsten Jahrhunderts
Kann man den „Herzschlag eines ganzen Volkes“ ausdrücken? Nationale Identitätsentwürfe in der Printwerbung
Eine kreative Wunde. Werbung mit den Medienikonen des 11. September
Autorinnen und Autoren
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Poetik und Poesie der Werbung: Ästhetik und Literarizität an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz
 9783839438268

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Martina Allen, Ruth Knepel (Hg.) Poetik und Poesie der Werbung

Konsumästhetik | Band 2

Für Harper und Jonathan, die uns über die gesamte Laufzeit dieser wahrhaft fruchtbaren Zusammenarbeit begleitet haben und die – wenn sie auch nicht sonderlich viel Inhaltliches zu dem Projekt beitragen konnten – uns zumindest nicht allzu oft von der Arbeit abgehalten haben.

Martina Allen, Ruth Knepel (Hg.)

Poetik und Poesie der Werbung Ästhetik und Literarizität an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: charles whitefield / shutterstock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3826-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3826-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

I W ERBUNG

IN

K UNST

UND

L ITERATUR

Gedichte, so wirksam wie Werbeslogans. Poesie, Werbung und Innovation

Beatrice Nickel | 21 Poetik als Werbung. Marketingstrategien und Kunst in Émile Zolas Experimentalroman(en)

Maren Scheurer | 35 Kreativität im Korsett. Nostalgie und Konsumideologie im Fernsehdrama The Paradise

Natalie Veith | 53 Zwischen Körper und Kapital. Erzählte und erzählende Werbung in Richard Powers Gain

Ricarda Menn | 69

II Ä STHETIK

UND

P OETIK

DER

W ERBUNG

Poetik der Provokation. Lars von Trier und die Werbung

Frederike Felcht | 87 „It’s Time for Another Revolution“. Revolutionität in der Automobilwerbung

Sebastian Baden und Dominik Schrey | 103 Das U(h)rverständnis von Mann und Frau – oder: Die inszenierte „Breitbeinigkeit“ geht in Serie. Zur Komik in der Werbeserie am Beispiel der Uhrenmarke IWC

Claudia Sassen | 121

Serendipity. Zufallskreativität in kommerziellen Werbestrategien und in literarischer Gegenwartspoetik

Reinhard M. Möller | 137

III N ARRATIVE

DER

V ERFÜHRUNG

Von perfektionistischen Superheldinnen, sexualisierten Santas und übermächtigen Schwiegermüttern. Rollenbilder in der Supermarktwerbung

Elisabeth Hollerweger | 159 „Blow Some My Way!“ Darstellungen weiblicher (Un-)Abhängigkeit in Zigarettenwerbung des zwanzigsten Jahrhunderts

Martina Allen | 179 Kann man den „Herzschlag eines ganzen Volkes“ ausdrücken? Nationale Identitätsentwürfe in der Printwerbung

Markus Raith | 197 Eine kreative Wunde. Werbung mit den Medienikonen des 11. September

Ruth Knepel | 217

Autorinnen und Autoren | 237

Einleitung M ARTINA A LLEN & R UTH K NEPEL

„Words cannot do justice to the pleasures of a good bookshop. Ironically.“1

Dieser Slogan, Teil einer nationalen Markenkampagne der britischen Buchhändler-Kette Waterstones aus dem Jahr 2012, folgt inhaltlich der zentralen Affektlogik von Werbung, die von Don Draper, Über-Werber aus der TV-Serie Mad Men mit den Worten „Advertising is based on one thing: happiness“2, zusammengefasst wird: Der erste Teil der Anzeige evoziert die Freuden des Lesens und setzt diese in Verbindung mit dem beworbenen Buchladen. Auch in seiner sprachlichen Verfasstheit erfüllt er zunächst die unbewussten Rezipientenerwartungen an diese Textform – die Reklame klingt nach Reklame. Der Nachsatz „Ironischerweise“ stört diese reflexartige Zuordnung und fordert den Rezipienten auf, den Slogan noch einmal auf seine message jenseits des vermeintlichen Werbersprechs zu reflektieren. So versucht die Anzeige gezielt, genau den Sinn für Humor ihrer an Literatur interessieren Adressaten zu treffen und auf diese Weise Lust auf die Art von Sprache zu machen, für die sie ja wirbt. In ihrer rhetorischen Komplexität problematisiert und kommentiert die Waterstones-Anzeige somit ein implizites Selbstverständnis von Literatur, das, ungeachtet aller dekonstruktiven Rhetorik der letzten Jahrzehnte, nach wie vor auf der Abgrenzung zu vermeintlich „niederen“, weil kommerziellen, Formen des Schreibens basiert. Ein solches Literaturverständnis findet vermeintlich in der „Plattheit“ eines Werbeslogans wie „Once You Pop, You Can't Stop“3 ihren natürlichen Gegenpol. Doch auch dieser Slogan für Kartoffelchips der Marke Pringles verfügt über ein

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Waterstones Brand Campaign 2012. Mad Men 2007, S01E01: 00.30.36-00.30.41. Pringles Slogan ca. 1990.

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poetisches Potential (und das nicht nur wegen des auffälligen Rhythmus und Reims), das der Sprache vieler Werbemaßnahmen oder -formate inhärent ist. Dass der Slogan nicht nur jahrelang das Kartoffelprodukt beworben hat, sondern auch Einzug in den umgangssprachlichen Kanon des urban dictionary gehalten hat, ist der Wahl der leicht schlüpfrig klingenden Vokabel „pop“ geschuldet.4 Die habituelle Opposition von Literatur und Werbung, Kunst und Kommerz bildet den Ausgangspunkt von Poetik und Poesie der Werbung. Diese allzu einfache und doch zentrale Dichotomie soll hier auf verschiedenen Ebenen in Frage gestellt werden, indem einerseits ungeahnte Gemeinsamkeiten und unheimliche Verschränkungen von Literatur und Werbung aufgezeigt werden und andererseits Werbung als Kunstform ernst genommen und nach ihrer Verfasstheit und Poetik befragt wird. Wie sowohl das Waterstones-Beispiel als auch der Pringles-Slogan zeigen, hängt die verkaufsfördernde Wirkung von Werbung nicht zuletzt vom versierten Einsatz „literarischer“ Strategien ab – hier vor allem der Stilmittel Assonanz und Hyperbel bzw. Reim und Neologismus. In besonderem Maße bedienen sich Werbeslogans der sogenannten „poetischen Sprachfunktion“, die Roman Jakobson nicht nur in literarischen Texten wahrnimmt. Das wichtigste Prinzip beim Verfassen von Texten, nämlich die Projektion des Äquivalenzprinzips von der Achse der Selektion auf die der Kombination5, ist in den kurzen Texten, die Werbung ausmachen, ebenso relevant, wie in den Zeilen eines Gedichts. Tatsächlich gehen die Anleihen der Werbung aus der Literatur, wie Urs Meyer in seiner systematischen Studie zur Werbepoetik zeigt, weit über die Nähe zur „Literatursprache“ hinaus und umfassen insbesondere auch das Aufrufen von Gattungsmustern wie zum Beispiel Märchen, Fabel oder Mythe.6 Der vermeintliche Antagonismus von Literatur und Werbung übersieht nicht nur die teilweise Kongruenz ihrer künstlerischen Mittel; er verschleiert auch die Tatsache, dass, ungeachtet des dezidiert anti-kommerziellen Geistes, der die literarische Welt mit einem Hauch von Idealismus und Exzentrik umweht, Literaturproduktion und -rezeption naturgemäß in einem ökonomischen Umfeld angesiedelt, literarische Werke somit letztlich selbst von guter Werbung abhängig sind. Auch ein Autor muss sich, wie Urs Meyer bemerkt, „selbst gleich einem Markenprodukt […] vermarkten […].“7

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Vgl. Urban Dictionary: Pringles Theory. Jakobson 1979: 94. Vgl. Meyer 2010. Meyer 2010: 18.

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Laut einem berühmten Diktum Marshall McLuhans ist Werbung die größte Kunstform des 20. Jahrhunderts.8 Eine andere, frühere Aussage relativiert diesen Aphorismus ein wenig, sie zeigt aber, dass für McLuhan Reklame keinesfalls ein reines Vehikel zur Vermarktung verschiedener Produkte ist: „Historians and archaeologists will one day discover that the ads of our time are the richest and most faithful reflections that any society ever made of its entire range of activities.“9 So geadelt ist es mithin nicht verwunderlich, dass Werbung einen wiederkehrenden Topos in der Populärkultur und Gegenwartsliteratur darstellt. Dabei lässt sich oft nicht so einfach zwischen Pastiche, die sich an dem spielerischen Umgang mit Sprache in Reklame vergnügt, und parodistischer Kritik an der Kultur des Spätkapitalismus10 unterscheiden. So etwa, wenn Salman Rushdie (der selbst mehrere Jahre als Werbetexter gearbeitet hat) in The Moor’s Last Sigh die Figur des Adam Zogoiby ein Scheinunternehmen für indisches Talkumpuder mit dem Markennamen „Baby Softo“ gründen lässt. Das Unternehmen, das als Deckmantel für Adams Drogengeschäfte dient, steht einerseits sinnbildlich für oberflächliche moderne Konsumgüter, die die jahrtausendealte Kultur des Subkontinents unter sich begraben und kommodifizieren. Andererseits zelebriert der Roman gerade den permanenten Austausch mit anderen Kulturen, einschließlich amerikanischer PopKultur, der im Roman auf verschiedenen Ebenen stattfindet, als charakteristisch für das Palimpsest Indien. Poetologisch sind gerade diese intertextuellen Bezüge zur Populärkultur für das Lesevergnügen zentral, und der wohl eingängigste Satz des Buches ist dann auch der lautmalerische Jingle für das Babypuder: „Baby Softo, sing it louder,/ Softo pofto talcum powder.“11 Das aktuell bekannteste Beispiel für die zunehmende popkulturelle Beschäftigung mit der Werbeindustrie ist die eingehend bereits erwähnte und vielfach ausgezeichnete AMC-Serie Mad Men, deren postheroischer Held Don Draper sich geradezu als Personifizierung des Kreativitätsdispositivs aufdrängt. Als „Nebenwirkungen“ der Apotheose kreativen Schaffens treten in der Serie im Laufe der Erzählung unter anderem ungesunde Selbstpazifierungsstrategien in Form von Zigaretten- und Alkoholkonsum, unbefriedigende zwischenmenschliche Beziehungen und die Notwendigkeit der permanenten Selbstinszenierung und -täuschung zu Tage – kurz: Manifestationen eben jener „Symptome“, die Andreas Reckwitz

8

McLuhan in einem Interview mit der Zeitschrift Advertising Age vom 3. September 1976. 9 McLuhan 1964: 232. 10 Vgl. Jameson 1991. 11 Rushdie 1995: 184.

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als „unintendierte Reaktionen auf die Anforderungen durch das Kreavitätsdispositiv“ ausmacht, „Depressions- und Erschöpfungssymptome sowie Aufmerksamkeitsdefizitstörungen“12, und die folglich in den creative industries grassieren. Aufgrund der ambivalenten (Selbst)Verortung von Reklame zwischen Fakt und Fiktion und dem werberischen Aktualitätsimperativ kommt sie nicht umher, sich zu gesellschaftlichen Entwicklungen zu positionieren, um die anvisierte Zielgruppe anzusprechen und zum Kauf des beworbenen Produktes zu bewegen. Das Verhältnis zwischen dem Einsatz künstlerischer Mittel und emotivem Bezug zu spezifischen gesellschaftlichen Diskursen ist daher wohl die am besten erforschte Dimension der Werbepoetik13 und ein wiederkehrender Aspekt der Analysen in diesem Band. Zumeist nimmt der Bezug die Form des affirmativen Aufrufens kulturell etablierter Rollenmuster und kognitiver Schemata an, die der Rezipient auf den ersten Blick erkennt und mit bestimmten Emotionen verknüpft. Eine riskantere Variante ist der sozialkritische Kommentar in Form eines Plädoyers für Veränderung oder der Entwurf einer utopischen Vision. In diesem Sinne ist Werbung gewissermaßen ein Zerrspiegel latenter gesellschaftlicher Ängste und Wünsche, die einerseits durchaus Rückschlüsse auf historische Verschiebungen von Werten und Weltanschauungen zulassen. Andererseits eröffnen Werbespots und -anzeigen nicht nur aufgrund ihrer Multimedialität14 verschiedene Bedeutungsebenen, die sich oft in einem Spannungsverhältnis in Bezug auf ihre message befinden. Darüber hinaus rekurriert Reklame auf tradierte Vorstellungen, unbewusste Vorurteile und Assoziationen, die sich der kritischen Reflexion des Rezipienten (und mitunter womöglich sogar des Produzenten) zunächst entziehen und die teilweise der vordergründigen verbalen oder visuellen „Botschaft“ zuwiderlaufen. Die Subtilität mancher eingesetzten Persuasionsstrategien15, die Kompaktheit und Multimedialität des Werbetexts und tief verwurzelte Deutungsmuster sind charakteristisch für Reklame und machen sie zu einem so komplexen wie faszinierenden Gegenstand ideologisch-rhetorischer Untersuchung. Die Beiträge in diesem Band sind in drei thematische Blöcke untergliedert, in denen jeweils ein Aspekt der skizzierten Thematik rund um Poetik und Poesie der Werbung in den Vordergrund tritt. Die vier im ersten Teil versammelten Beiträge widmen sich der Darstellung von Werbung als Thema in Kunst und Literatur. Die

12 Reckwitz 2012: 345. 13 Vgl. Barthes, Goffman, Packard. 14 Meyer spricht in diesem Kontext auch von Werbung als „Superzeichen“ (Meyer 2010: 31). 15 Vgl. Packard 1957.

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Nähe zwischen Poesie und Werbung bietet ein fruchtbares Feld für Schriftsteller und Dichter, sich (selbst-)kritisch mit der affizierenden Wirkung von Sprache und Konsum auseinanderzusetzen. Insbesondere stechen in diesem Kontext die Werke der Konkreten Poesie hervor, die sich, wie kaum eine andere Form des Schreibens den goût de la réclame zu eigen gemacht habe, wie Beatrice Nickel in ihrem Beitrag zeigt. Nicht nur haben Werbung und die Kurzformen der Konkreten Poesie eine reduktionistische Form und Ästhetik, sowie eine für Lyrik ungewöhnliche Multidimensionalität in ihrem Umgang mit Zeichen gemein; häufig beschäftigen sich die Dichter auch inhaltlich mit Werbeanzeigen oder -spots. Anhand ausgewählter Gedichte von Décio Pignatari, Diter Rot, Franz Mon und Christian Ludwig Attersee veranschaulicht Nickel, wie Werbesprache der Konkreten Poesie gleichermaßen als Inspiration und als Gegenstand von Kapitalismuskritik dient. Maren Scheurer argumentiert in ihrem Artikel zu Emile Zolas experimentellen Romanen, dass dessen poetologisches Programm des Naturalismus untrennbar mit seiner wirtschaftlichen Situation und den literaturökonomischen Rahmenbedingungen seiner Zeit verknüpft sei. Dies bedeute jedoch nicht – und hier weicht sie von der gängigen Lesart von Zolas Eigenwerbung ab –, dass seine Rückgriffe auf Werbetechniken reines Mittel zum Zweck seien. Nicht nur sei eine Poetik in ihrer Dar- und Zurschaustellung des Literaten naturgemäß immer schon ein Werbemittel, der Einsatz von Polemik und Verführungsstrategien darüber hinaus elementarer Bestandteil von Zolas Poetik. Scheurer liest die Poetik Zolas dementsprechend als Werbung und sucht im Umkehrschluss in der Darstellung von Werbung in Zolas Romanen Nana und Le Bonheur des Dames nach einer Reflexion seiner Poetik. Von den Schattenseiten des Lebens und des Konsums, die Zola beschreibt, ist, wie Natalie Veith in ihrem Beitrag beschreibt, in der Aufbereitung des Stoffes von La Bonheur des Dames in der BBC-Serie The Paradise reichlich wenig zu sehen. Veith untersucht, wie die literarische Vorlage hier so umgedeutet wird, dass Konsum- und Kreativitätsmodelle des 20. und 21. Jahrhunderts zurückprojiziert und nostalgisch überhöht werden. In der durch und durch pastelligen Darstellung des viktorianischen Konsumtempels blendet die Serie negative Folgen von und Diskussionen über sozioökonomische Veränderungen im ausgehenden 19. Jahrhunderts aus und stilisiert stattdessen das Aufkommen einer viktorianischen Einkaufskultur zum hyperrealen Ursprungsnarrativ spätmoderner Kreativitäts- und Konsumideologien. Ricarda Menns Beitrag beschäftigt sich mit dem 1998 erschienen Roman Gain des amerikanischen Autors Richard Powers, der sich formal durch wiederholt ein-

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gestreute Werbeanzeigen für die fiktiven Produkte eines ebenso erdachten Großkonzerns auszeichnet. Sie liest das Zusammenspiel zwischen den beiden Handlungssträngen der Erzählung und der fiktionalen Reklame im Sinne einer Kritik des Verhältnisses zwischen Körperlichkeit und Kapitalismus. Im Dreigespann Corporation-Konsum-Körper fungieren die Anzeigen gewissermaßen als Mittler, die eine intime Beziehung zwischen Verbraucher und Produkt herstellen. Doch entgegen der Glücksversprechen der Werbeindustrie suggerieren die Entwicklung der Protagonistin Laura Bodey und die omnipräsenten Reklameanzeigen einen invasiven Konsum, der sich rationaler Reflexion entzieht und sich – auf sozialer wie individueller Ebene – auf ähnliche Weise ausbreitet wie es Lauras Metastasen tun. Die Aufsätze im zweiten Teil widmen sich der spezifischen Ästhetik und Poetik verschiedener intermedialer Werbeformen und -genres. Dabei tritt besonders das subversive, revolutionäre und komische Potential von Werbung in den Vordergrund. Frederike Felcht untersucht in ihrem Beitrag den Zusammenhang zwischen dem wiederkehrenden Topos der Werbung im Schaffen des berühmt-berüchtigten Regisseurs Lars von Trier und Strategien der Provokation, die als Kern seiner „Marke“ bezeichnet werden können. Sie tut dies vor allem anhand eines close reading des Films Melancholia, in welchem sie erläutert, wie die namensgebende Melancholie und die Depression der Protagonistin des Films mit ihrer Rolle als Werbetreibender im Zusammenhang stehen. Dabei zieht Felcht auch Parallelen zu Lars von Triers Arbeit als Werber, die einen Einfluss nicht nur auf dessen Wirken, sondern auch auf dessen Werben für sein eigenes Werk hat. Ähnlich wie Zola im späten 19. Jahrhundert greift auch er auf Provokation als Strategie innerhalb der zeitgenössischen Aufmerksamkeitsökonomie zurück. Sebastian Baden und Dominik Schrey heben in ihrem Beitrag die Bedeutung spezifischer kultureller Mythen für die verkaufsfördernde (oder auch -hemmende) Wirkung von Reklame hervor. In Weiterführung von Ronald Barthes’ Neologismus der „Italianität“ kreieren sie den Begriff „Revolutionität“, um die assoziative Verbindung bestimmter Bilder und Semantiken mit politischen und kulturellen Umwälzungen zu beschreiben. Ausgerechnet der Mythos der kommunistischen Revolution werde in der Folge seiner Popularisierung seit den 1960er Jahren geschickt durch die Evokation eines vermeintlich „coolen“ gegenkulturellen Images und einer Ästhetik der Nostalgie zur Vermarktung von Konsumprodukten, insbesondere von Automobilen eingesetzt. Durch die parodistische Re-Semantisierung, die sich im Spiel mit dem Doppelsinn des Wortes „Bewegung“ eröffnet, wird der Kauf der Ware rhetorisch mit Sinn erfüllt – natürlich bei gleichzeitiger Sinnentleerung des Revolutionsbegriffs.

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Claudia Sassen stellt in ihrem Aufsatz am Beispiel des Uhrenherstellers IWC eine detaillierte rhetorische Analyse des werbewirksamen Einsatzes von Serialität und Komik, die der Verankerung des Markenimages (nicht nur) im Bewusstsein der Zielgruppe herstellt, vor. Im Zentrum der Werbeserie, mit der IWC zwischen 1999 und 2005 für ihre hochwertigen Chronographen warb, steht ein vermeintlich exklusives Männlichkeitspathos und das Spiel mit der resultierenden Sexismus(Selbst-)Bezichtigung, die in einer unauflöslichen Ambivalenz der Werbebotschaft mündet. Die Komik entstehe dabei aus dem wiederkehrenden Schema von angedeuteter Läuterung im ersten Teil der Schlagzeile und anschließender Reaffirmierung der Machohaltung durch eine Volte im zweiten Teil. Ironisierung fungiere hier als Strategie der Entschärfung, nicht aber der Entwertung der manifest machohaften Botschaft, sodass die Kampagne sowohl als genuin maskulistisch oder aber als süffisante Karikatur von Genderrollen und -debatten gelesen werden kann. Reinhard Möller begibt sich in seinem Aufsatz auf die Spur des ebenso nebulösen wie kulturell aufgeladenen Konzeptes der Serendipität, welches in den vergangenen Jahrzehnten zum Inbegriff kreativer Innovation avanciert ist, und das Literatur und Werbung auf ganz unerwartete – ja, fast serendipitäre – Weise verbindet. Der Begriff entstammt eigentlich der literarischen Sphäre und wird in der Gegenwartsliteratur wieder zunehmend als Strukturprinzip literarischer Produktion thematisiert. Weitaus mehr Aufmerksamkeit hat der Serendipitätsbegriff jedoch innerhalb solcher Bereiche wie der Wissenschaftstheorie und der Ökonomie erlangt, die die Fähigkeit, Unverhofftes zu entdecken, als zentralen Motor für Produktivität und Fortschritt identifiziert haben. Möller illustriert den Zusammenhang anhand Navid Kermanis Frankfurter Poetikvorlesung Über den Zufall, der gerade die Unplanbarkeit ins Zentrum seines Programms stellt und mit der Erwartungshaltung der Zuhörer/Leser spielt, indem er Zufall und inszenierte Zufallshaftigkeit auf ästhetischer und inhaltlicher Ebene miteinander verschwimmen lässt. Der dritte Teil des Bandes präsentiert vier Beispiele für verführerische Mikro-Erzählungen. Oder anders: für Werbemaßnahmen, die der Verführung erliegen, die kalkulierten Sehgewohnheiten und die emotionale Gebundenheit der Verbraucher zu nutzen, um eine Werbebotschaft aufzusatteln – und die damit oft scheitern. Elisabeth Hollerweger analysiert in ihrem Aufsatz Storytelling und Darstellung der Geschlechterrollen in zwei vorweihnachtlichen Werbespots für die Supermarktketten LIDL und Rewe auf narrativer, visueller und auditiver Ebene und vergleicht diese mit den bekannten Werbefilmen für den Lebensmittelkonzern Dr. Oetker aus den 1960er Jahren. Sie zeigt, dass, entgegen der gängigen Einschätzung des weltweit stark rezipierten LIDL-Spots #santaclara, dieser eben nicht die

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Gleichstellung der Geschlechter in Sachen Weihnachtsvorbereitungen und Geschenkestress fordere, sondern lediglich für die stärkere Würdigung weiblicher Aufopferung plädiere und somit auf subtile Weise sogar die traditionelle Rollenverteilung affirmiere. Die in den Filmen dargestellten Frauen und Männer emanzipieren sich, wie Hollerweger argumentiert, nicht wirklich von tradierten Klischees; stattdessen werde das Bild, das vor einem halben Jahrhundert in den Dr. Oetker-Spots rund um die emsige Hausfrau Renate entfaltet wurde, lediglich „in neuem Gewand“ präsentiert. Martina Allen untersucht in ihrem Beitrag die komplexe und oft paradoxe Beziehung zwischen der Frauenrechtsbewegung und dem Siegeszug der Zigarette im 20. Jahrhundert, die die Darstellung von Frauen in der Tabakwerbung entscheidend mitgeprägt hat. Sie zeichnet dabei die Geschichte der Tabakwerbung, die Zigaretten mal als „Fackel der Freiheit“ oder als Waffe gegen überschüssige Pfunde inszeniert, nach und hinterfragt die dort präsentierten Weiblichkeitsbilder. Dabei zeigt Allen, dass Zigarettenwerbung nicht nur das Bild der rauchenden Frau seines subversiven Potentials entledigt. Ähnlich wie Hollerweger gelangt sie zu dem Schluss, dass die vordergründig emanzipatorische Botschaft dieser Anzeigen im Widerspruch zu anderen Bedeutungsebenen – hier besonders die der visuellen Bildanordnung – steht, die das tradierte Klischee vom „schwachen Geschlecht“ eher zementieren, als es aus dem Weg zu räumen. Markus Raith zeigt in einer bild- und sprachrhetorischen Analyse dreier Printanzeigen für die BILD-Zeitung, den Reiseanbieter Vögele und den Discounter ALDI, wie Werbung nationale Identifikationsentwürfe sowohl aufruft als auch entwirft, oft ohne dass sich der Rezipient der automatischen Zuordnung zum Deutungsmuster „deutsch“ bewusstwerde. Raith beobachtet in den von ihm untersuchten Werbeanzeigen eine Tendenz zu regressiven Entwürfen von Nationalität, genauer beschreibt er verschiedene Deutungsmuster aus dem späten 18. und aus dem 19. Jahrhundert, die in moderner Werbung eingesetzt werden, um Rezipienten ihren Sehgewohnheiten entsprechende Bilder zu präsentieren und sie so zur Identifikation einzuladen. Während die bekannte BILD-Kampagne zur Fußball-WM auf eine jahrhundertealte Volkskörpermetaphorik und auf die Personifikation der Nation durch Frauenfiguren zurückgreift, bedienen die anderen Anzeigen die romantische Sehnsucht nach Exotik bzw. karikieren das Konzept der deutschen Bodenständigkeit. In allen drei Fällen operieren die Anzeigen, indem sie einen einzigartigen Augenblick zelebrieren, der zugleich auf etablierte nationale Wahrnehmungsmuster rekurriert. Ruth Knepel begibt sich im letzten Aufsatz des Bandes noch tiefer in die Niederungen des schlechten Geschmacks, wenn sie untersucht, wie die Terroran-

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schläge vom 11. September 2001 und ihre traumatische Wirkung auf die amerikanische Psyche in verschiedenen Werbeformaten instrumentalisiert werden. Dabei gibt es große Unterschiede nicht nur bei Fragen der Darstellbarkeit, sondern im Besonderen auch bei der Bewertung der Ereignisse als Zäsur in der visuellen Kultur. Knepel zeigt, wie sowohl Werbung als auch Literatur in den Jahren nach dem 11. September bis heute einen Anteil daran haben, wie die Anschläge und die Aufarbeitung des Traumas dargestellt und eingeordnet werden. An dieser Stelle könnte man erneut das vielzitierte Bonmot des Serienwerbers Don Draper zu bemühen, der das Glück als Basis alles Werbeschaffenden ansieht: „Advertising is based on one thing: happiness.“ Doch das Zitat ist an dieser Stelle nicht zu Ende. Draper erläutert in der ersten Folge der Serie auch, wie dieses Glück aussehen muss: „And do you know what happiness is? Happiness is the smell of a new car. It’s freedom from fear. It’s a billboard on the side of a road that screams with reassurance that whatever you’re doing is OK. You are OK.“16 Die in diesem Band besprochenen Werbemaßnahmen sind wie ein Beleg für diese Aussage. Ob mit Hilfe von Witz oder kollektiver Trauer, dem Zelebrieren der eigenen Nationalität oder des Geschlechts, ob durch Evokation von Vertrautem oder revolutionär Neuem, im Supermarkt, am Esstisch, im Kaufhaus oder in einem guten Buchladen – die emotionale Bestärkung des Verbrauchers ist gleichermaßen Motor und unerschöpfliche Inspiration für Werbung und Literatur. Dass es sich beim Zusammentreffen zwischen Werbung und Literatur um eine sehr produktive Liaison handelt, zeigte sich auch auf der interdisziplinären Tagung Poetik und Poesie der Werbung, die am 15. und 16. April 2016 an der Goethe Universität in Frankfurt stattfand und die Anlass zur Zusammenstellung dieses Bandes war. Wir möchten uns bei allen Beiträgerinnen und Beiträgern für die aufschlussreichen Vorträge und spannenden Diskussionen und für die angenehme Zusammenarbeit bedanken. Intellektuelle und finanzielle Förderung wurde uns außerdem von Julika Griem und Susanne Scholz zuteil, auf die wir uns immer verlassen können und denen wir auf diesem Weg ebenfalls ganz herzlich danken möchten.

16 Mad Men 2007 S01E01: 00.30.41-00.31.04. In dieser Aufzählung fehlt eines ganz klar: Bezeichnenderweise sieht man nämlich Don und die anderen Protagonisten häufig mit dem ein oder anderen literarischen Accessoire. Neben alten Klassikern wie Dantes Inferno, zeitgenössischen Romanen wie Thomas Pynchons The Crying of Lot 49 (1965) oder Philipp Roths Portnoy’s Complaint (1965) finden sich in diesem Reigen auch Skandalbücher, wie z.B. Lady Chatterley’s Lover (1928), das hier von den Sekretärinnen der Agentur heimlich und genussvoll verschlungen wird.

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Zu Dank verpflichtet sind wir außerdem dem Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften, das die Konferenz nicht nur finanziell, sondern auch inhaltlich gefördert und befördert hat. Unterstützung erhielten wir auch von Enrico Schleiff, der sich als Vizepräsident der Goethe Universität besonders für die Belange von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Beginn ihrer Karriere einsetzt. Ihm gebührt dafür besondere Anerkennung. Ebenso danken wir den Freunden und Förderern der Goethe Universität sowie der Dr.-Bodo-Sponholz-Stiftung. Wir freuen uns, mit diesem Band Anschluss an die Reihe „Konsumästetik“ im transcript Verlag gefunden zu haben und danken auch den Herausgebern der Reihe Moritz Baßler, Heinz Drügh, Birgit Richard und Wolfgang Ullrich für diese Gelegenheit. Zuletzt möchten wir den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung, unseren Frankfurter Kolleginnen und Kollegen sowie den Mitgliedern der Studiengruppe Wahrnehmungsverhältnisse und des Forschungskollegs „Schreibszene Frankfurt“ Dank sagen für die anregenden Diskussionen und wertvollen Hinweise auf dem Weg zu diesem Buch.

L ITERATUR Goffman, Erwing (1979): Gender Advertisements, New York: Macmillan. Jakobson, Roman (1979): „Linguistik und Poetik“, in: Ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 83-121. — (1979): „Was ist Poesie“, in: Ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hrsg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 67-82. Jameson, Fredric (1991): Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham: Duke University Press. McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media: The Extensions of Man, New York: McGraw Hill. McLuhan, Marshall (1976): Advertising Age, 3. September. Meyer, Urs. (2010). Poetik der Werbung, Berlin: Erich Schmidt. Packard, Vance (1957): The Hidden Persuaders, New York: McKay. „Pringles Theory“ Urban Dictionary, http://www.urbandictionary.com/define. php?term=Pringles%20Theory, zuletzt abgerufen am 20.08.2017.

E INLEITUNG

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Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Rushdie, Salman (1995): The Moor’s Last Sigh, Chatham: Jonathan Cape. „Smoke Gets in Your Eyes“ (S01.E01), Mad Men, AMC, 2007.

W ERBUNG Pringles Slogan (ca. 1990) (USA, Procter & Gamble). Waterstones Brand Campaign (2012) (GB, Leagas Delaney London).

I Werbung in Kunst und Literatur

Gedichte, so wirksam wie Werbeslogans Poesie, Werbung und Innovation B EATRICE N ICKEL

E INLEITENDE B ETRACHTUNGEN Vor allem die Dadaisten haben Dichtung und Werbung miteinander verbunden. Damit formulierten sie besonders scharf und führten zusammen, was sich im Verhältnis von Wareninnovation und poetischer Innovation bereits spätestens seit dem 19. Jahrhundert abgezeichnet hatte: Ästhetische Gestaltung des Alltags und eine an der Lebenswirklichkeit orientierte (Anti-)Kunst sollten miteinander verbunden werden. Wie die Dadaisten vertraten auch die Dichter der Konkreten Poesie die Ansicht, dass es darum gehe, ein Gedicht zu produzieren, das wirksam wie eine Reklameseite sei: „Perhaps more than any other poetic genre, concrete poetry is a form of writing that […] shares affinities with the language of advertising and mass media.“1 Der Nexus zwischen Poesie und Werbung besteht hier in mehrerlei Hinsicht: Zum einen wurden mehrere entsprechende Dichter von der Werbeindustrie verpflichtet. Paradebeispiele sind hier Eugen Gomringer, einer der Gründungsväter der Konkreten Poesie, der viele Warenhauskataloge u.Ä. gestaltet hat, und Décio Pignatari, der in São Paulo eine Werbeagentur gegründet hat. Zum anderen haben die Dichter der Konkreten Poesie von den Dadaisten den goût de la réclame übernommen, wenn es um die visuelle und verbale Gestaltung ihrer Texte ging. Die Schnittmenge zwischen Konkreter Poesie und Werbung basiert auf folgenden Faktoren: Es handelt sich jeweils um eine menschliche Ausdrucksform, die eine große Publikumswirksamkeit – so unterschiedlich diese auch ausfallen

1

Delville 2008: 71.

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mag – anstrebt. Außerdem operieren beide mit den eingesetzten Zeichen als Material, das in all seinen Dimensionen in Szene gesetzt werden kann (verbal, visuell, akustisch). Sowohl in der Werbung als auch in der Konkreten Poesie geht es primär darum, Zeichen bewusst einzusetzen. Aus diesem Grund zeichnen sich beide durch einen starken Hang zum Reduktionismus aus. Konkrete Poesie ist in diesem Sinne „[…] only one manifestation of a general movement towards the ‚formal simplification‘ of private and public languages, of which the direct, visual poetics of advertising and industrial design is the logical culmination.“2 Neben impliziten Verweisen auf die Werbung oder strukturellen Analogien, die sich aus dem innovativen Charakter von Waren, Waren-/Konsumästhetik und avantgardistischer Sprachkunst ergeben, gibt es im Bereich der Konkreten Poesie viele Gedichte, die sich explizit auf die Werbung beziehen. Der Bezug muss dabei keinesfalls affirmativ sein, sondern kann auch einen sozialkritischen Charakter besitzen. Prinzipiell besteht in den sogenannten video poems eine besonders hohe Übereinstimmung zwischen Poesie und Werbung, weil sie insofern stark an Werbespots erinnern können, als es sich um animierte Gedichte handelt, die oft neben der verbalen und der visuellen auch die akustische Dimension nutzen. Im Folgenden wird das breite mögliche Spektrum des Verhältnisses von Konkreter Poesie zu Werbung und Werbestrategien aufgezeigt, und es werden die jeweils eingesetzten poetischen Verfahren erläutert.

K ONKRETE P OESIE

UND

W ERBUNG 3

Verzerrte Werbung Ein Zusammenhang zwischen Poesie und Werbung ist im folgenden Gedicht nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Zunächst und vor allem zeichnet es sich dadurch aus, dass die meisten Buchstaben dadurch unkenntlich gemacht wurden, dass sie jeweils von einem anderen Buchstaben überschrieben wurden. Die wenigen Buchstaben, die lesbar sind, reichen aus, um vor dem geistigen Auge des (vor allem zeitgenössischen) Lesers den Begriff „olivetti“ entstehen zu lassen. Der Dichter legt durch die systematische Anordnung der entzifferbaren Buchstaben eine Spur, welcher der aktive Leser folgen muss.

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Delville 2008: 71. Bei den nachfolgenden Einzelanalysen handelt es sich um überarbeitete und ergänzte Fassungen von Nickel 2015: 121f., 179ff., 232ff. und 421f.

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Abbildung 1: Diter Rot, ohne Titel (1958)4

Sein Gedicht olivetti hat Diter Rot in der von Emmett Williams herausgegebenen Anthologie zur Konkreten Poesie mit folgendem Kommentar versehen, der explizit eine Verbindung zwischen dem Gedicht und der Werbung herstellt: „Advertising my typewriter.“5 Spätestens jetzt ist offensichtlich, dass die Buchstabenfolge im Gedicht auf die Firma olivetti anspielt, die jene Schreibmaschinen produziert hat, die von den Vertretern der Konkreten Poesie mit besonderer Vorliebe benutzt wurden. Damit ist das Gedicht zugleich insofern autoreferentiell, als es auf das Medium seiner Produktion verweist. Es zählt darüber hinaus aufgrund seiner Herstellungsart zur sogenannten Typewriter Art6, die sich auch im Kontext der Konkreten Poesie großer Beliebtheit erfreute. Legt Rot für den Leser auch eine Spur in Richtung Werbung, so darf dennoch nicht außer Acht gelassen werden, dass der Dichter das Entziffern des Firmennamens bewusst erschwert hat. Anders als in zahlreichen Texten der Konkreten Poesie handelt es sich nicht um eine völlige Bedeutungsverweigerung: Rot präsentiert dem Leser zwar lediglich eine Bedeutungsspur, diese kann allerdings nur sehr schwer übersehen bzw. überlesen werden. Nichtsdestoweniger unterscheidet sich das Gedicht in dieser Hinsicht stark von Werbeslogans, die ihr Anliegen in der damaligen Zeit ja gerade explizit formulieren, um den erhofften Erfolg bei der anvisierten Zielgruppe zu erreichen. Nicht zuletzt kann in Rots Vorgehen eine kritische Distanzierung von eben diesem Verfahren gesehen werden.

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Zit. n. Williams 1967: o. S. Williams 1967: o. S. Vgl. hierzu Riddell 1975.

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Beim folgenden Beispiel handelt es sich um eine poetische Collage, die – wie Rots Gedicht – eine deutliche Nähe zur Werbung aufweist und die Schreibmaschine als das zur damaligen Zeit aktuelle technische Medium der poetischen Produktion präsentiert: Abbildung 2: Franz Mon, ohne Titel (1965)7

Dem Rezipienten bietet sich hier zunächst und vor allem das Foto einer Schreibmaschine dar, die sich in einem entsprechenden Koffer befindet. Das Foto ist dabei mit Zeitungsfetzen unterschiedlichster Art und Herkunft (Tageszeitung, Magazin o.Ä.) beklebt. Der Schriftzug „DOUBLE OFFER!“, der sich an prominenter

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Zit. n. Dencker 1972: 81.

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Stelle an der oberen Innenseite des Schreibmaschinenkoffers befindet, deutet darauf hin, dass es sich um eine Werbeanzeige für ein bestimmtes Schreibmaschinenmodell handeln könnte. Denselben Eindruck soll auch der Garantieaufkleber in der unteren rechten Ecke der Collage erwecken. Die visuelle Gestaltung erinnert stark an Werbung, unterscheidet sich aber zumindest in einem wesentlichen Aspekt deutlich von dieser. Denn auch hier herrscht der Aspekt der Unleserlichkeit vor: Der Text in der Mitte der Collage ist durch das Übereinanderkleben von Zeitungsausschnitten entstanden, und zwar so, dass lediglich Wort- oder Satzfragmente auszumachen sind. Diese könnten durchaus aus Werbetexten stammen. Es stimmt mit Mons intermedialem Konzept der Collage überein, dass er in der vorliegenden nicht nur Wörter aus Zeitungen verwendet hat, sondern auch Abbildungen. Skripturale und pikturale Zeichen gehen hier eine enge Verbindung miteinander ein. Hieraus resultiert die prinzipielle Gleichwertigkeit beider Zeichensysteme, die ihren theoretischen Niederschlag im erweiterten Textbegriff der Konkreten Poesie gefunden hat. Das Konzept seiner poetischen Collagen hat Mon wie folgt zusammengefasst: in den textflächen verschwimmt die grenze zum bildnerisch grafischen daher wächst den techniken der textherstellung besonderes gewicht zu mechanische oder fototechnische überlagerung der schriftelemente zerrissen zerschneiden zerknäulen und pressen collagieren bewirken die destruktion des gegebenen schriftmaterials bzw. die konstruktion neuer textformen8

Der in der Collage neu entstandene komplexe Text ist dabei signifikanterweise durch das Zerstören von Texten – z.B. von Zeitungsartikeln –, die dem tradierten Textbegriff entsprechen, hergestellt worden. Dies versinnbildlicht auf paradigmatische Weise den notwendigen Bruch der Dichter der Konkreten Poesie mit überholten Textualitätskonzepten und Konzepten von Schriftlichkeit auf der Suche nach dem erweiterten Textbegriff, der ihren poetischen Werken zugrunde liegt. Und hierin liegt nicht zuletzt auch der Hauptunterschied zwischen der Collage und den Texten der Werbeindustrie.

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Mon 1967: o. S.

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Anti-Werbung und Produktkritik Wohl kaum ein Gedicht aus dem Umfeld der Konkreten Poesie steht so sehr im Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz zur Werbeindustrie wie das folgende: Abbildung 3: Décio Pignatari, beba coca cola (1957)9

Dieses Gedicht basiert zunächst und vor allem auf dem schon in den 1950er Jahren in São Paulo allgegenwärtigen Werbeslogan der Coca-Cola Company10: Drink Coca-Cola, dessen Übersetzung sowohl ins brasilianische Portugiesisch als auch ins Spanische beba coca cola lautet.11 Dass die Wahl nicht zufällig auf die Marke Coca-Cola gefallen ist, wird noch zu zeigen sein. Schon, dass Pignataris Gedicht nicht das einzige ist, dass sich mit dieser Marke auf irgendeine Weise auseinandersetzt, lässt hieran keinen Zweifel.12

9 Zit. n. Williams 1967: o. S. 10 Vgl. hierzu Clüver 2002: 318. 11 Auf den Aspekt der Polyglottie in diesem Gedicht wurde mehrfach hingewiesen. Vgl. Clüver 2002 und Hilder 2016: 42. 12 Vgl. hierzu beispielsweise Mirella Bentivoglios Gedicht „Il cuore della consumatrice ubbidiente“ (1975). Später hat auch Hilde Domin diesen Werbeslogan in ein Gedicht aufgenommen. Im Gegensatz zu Pignataris und Bentivoglios Gedichten besitzt dieses jedoch keine sozialkritische Dimension. Domin analogisiert vielmehr mit Blick auf die jeweils angestrebte hohe Publikumswirksamkeit den Werbeslogan der Coca-Cola-

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Im vorliegenden Gedicht erscheint der Originalwerbeslogan in der obersten Zeile. Auch die typographische Gestaltung, weiße Schrift auf rotem Hintergrund, verstärkt die Assoziation mit Coca-Cola.13 Was zunächst den Eindruck von Werbung erwecken könnte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als starke Distanzierung vom thematisierten Produkt und damit zugleich als eine Form von „anti-advertising“14, und zwar durch gezielte Vokalpermutationen und Buchstabenvertauschungen, wobei alle Wörter – bis auf das aussagekräftige Schlusswort cloaca – jeweils aus vier Buchstaben bestehen – ebenso wie die beiden Originalbegriffe des Produktnamens: „l’originario slogan pubblicitario si trasforma progressivamente, per mezzi di semplici sostituzioni di vocali […], in una spietata satira contro uno dei più noti ed emblematici prodotti statunitensi.“15 Neben der visuellen Ebene spielt im Gedicht – den Techniken der Werbewirtschaft nicht unähnlich – vor allem die lautliche Dimension eine entscheidende Rolle: Pignatari präsentiert dem Rezipienten ein Netz von Paronomasien, dessen verbale Kerne „beba“ und „coca“ sind. Durch die hiermit einhergehende „Veränderung der Wörter mit den lautlichen und optischen Ähnlichkeiten [werden] inhaltliche Analogien aufgebaut.“16 Eine große phonetische Übereinstimmung besteht vor allem zwischen dem Imperativ „beba“ (dt. „trink!“) und „babe“ (dt. ugs. „sabbere“) sowie zwischen „coca“ und „caco“ (dt. „Scherbe“). Zu denken ist hier auch an die Paronomasie zu Griechisch kakos, „das Schlechte“, was der kritischen Intention Décio Pignataris entspricht. Zum Schluss hat er die beiden Begriffe „cola“ und „caco“ zu „cloaca“ (dt. „Kloake“) verschmolzen – im Stile eines „Proteus-Wortes“. Signifikanterweise erscheint der Begriff „cloaca“ unter den beiden Begriffen, wobei er durch den Sperrdruck besonders hervorgehoben wird. Mit Blick auf das Schlusswort kommt es Pignatari sicherlich zugute, dass der Begriff „cloaca“ mehr oder weniger international verständlich ist, zumindest handelt es sich hierbei um ein „[…] Wort, das sich in mehreren westlichen Sprachen findet.“17

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Company und die experimentelle Poesie und fordert in diesem Sinne ein Gedicht „unabweisbar / als rufe es / »Trink Coca-Cola«“. Domin 2008: 335. Die Farbgebung des Originals wird in den Anthologien der Konkreten Poesie nicht wiedergegeben. Krüger 2005: 409. Ähnliche Verfahren gibt es auch in der poesia visiva. Pignotti hat hierfür den Begriff der „contropubblicità“ geprägt. Vgl. hierzu beispielsweise Pignotti 2000: 188. Pignotti/Stefanelli 1980: 128. Lenz 1976: 76. Clüver 2002b: 318.

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Nur ein einziger Begriff bleibt von Pignataris Buchstabenpermutationen ausgenommen, nämlich „cola“. Dieser weist insofern eine Polyvalenz auf, als er für die Getränkemarke steht, sich aber auch mit den Begriffen „Schwanz“ oder „Leim“ übersetzen lässt. Die zweite Übersetzung drängt sich einerseits durch die angedeuteten zerbrochenen Flaschen und andererseits durch die klebrige Qualität des Getränks selbst in den Vordergrund. Aus semiotischer Sicht stellen Pignataris Wortveränderungen einen grundlegenden Wandel der Zeichenqualität dar. Die ähnlich klingenden Wörter werden dem Namen der Getränkemarke nicht zufällig zugeordnet, sondern weil sie Merkmale oder Assoziationen benennen, die der Marke implizit zugeschrieben werden: „To use Peircean terms, an arbitrary symbol (a word) is transformed into an icon by manipulating similarities among various words.“18 Die von Pignatari vorgeführten Paronomasien bewirken dabei eine starke Abwertung von Coca-Cola, die im Begriff „cloaca“ ihren Höhe- bzw. Tiefpunkt findet. Im Gedicht sind die Wörter so arrangiert, dass drei voneinander isolierte Einheiten auszumachen sind: Bei der ersten handelt es sich um einen relativ schmalen Textblock, bei der zweiten um ein unvollständiges Quadrat und bei der dritten um den Begriff „cloaca“, der auf diese Weise eine besonders starke Betonung erfährt: „,cloaca‘ stands spatially […] apart […], acting as a one-word synthesis of an unmistakeable meaning.“19 Im Gesamtbild ergeben die drei Einheiten wieder ein unvollständiges oder auch defektes Quadrat. Zugleich lässt sich die Anordnung der Wörter auf der Papierseite auch als drei Spalten oder Säulen auffassen, wobei der Abstand zwischen der ersten und zweiten wesentlich größer ist als derjenige zwischen der zweiten und dritten, die darüber hinaus ein gemeinsames „Fundament“ haben, nämlich den Begriff „cloaca“.20 Verbunden werden diese beiden Blöcke durch den Produktnamen, der an deren Spitze erscheint. Dieser Interpretationsansatz bietet den Vorteil, dass er dreimal die Form der typischen CocaCola-Flasche in der Textgestalt erkennt und zugleich einen Hinweis auf die sozialkritische Dimension des Gedichts enthält. Zunächst scheint es so, als sei die Produzentenseite (vgl. den Imperativ „beba“) von der Konsumentenseite getrennt. Diese Annahme erweist sich jedoch als trügerisch, denn die letzten beiden Begriffe in der ersten Spalte („caco“, „cola“) entstammen der vierten Zeile der zweiten und dritten Spalte. Dies erweckt den Eindruck, dass diese Zeile in die erste Spalte und damit in die erste Coca-Cola-Flasche verschoben wurde. Auf diese

18 Webster 1995: 149. 19 Webster 1995: 150. 20 Vgl. hierzu Waldrop 1976: 146.

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Weise könnte Pignatari die zunächst angenommene strikte Trennung von Produzent und Konsument aufheben. Dies ließe Rückschlüsse über die sozialkritische Dimension der im Gedicht enthaltenen Kritik zu: The sides are interchangeable; those who drink are no better than those who manipulate them into drinking. The two sides are but different transpositions of one pattern: socially as well as linguistically. And this last point is made by coupling transposition inside the word with transposition in the spatial arrangement.21

Was Pignatari im vorliegenden Gedicht mithilfe der erläuterten phonetischen Operationen anprangern könnte, ist „die Überfremdung [der brasilianischen] mit [der] US-Kultur“22, die „coca-colonization“23, die sich nicht nur als Zwangsmaßnahme Amerikas, sondern auch als Fehlhaltung Brasiliens interpretieren lässt. Das Gedicht erwiese sich damit nicht nur als kritischer Kommentar zur imperialistischen Politik der USA, die durch das wohl bekannteste US-amerikanische Getränk symbolisiert wird, sondern formulierte vielmehr eine weitaus umfassendere, generelle Ablehnung: „The political message of the poem is obvious: Pignatari is using the brand name Coca-Cola as a symbol of a lifestyle of which he does not approve for Brazil.“24 Im Jahre 1992 wurde Pignataris Gedicht erstmals animiert.25 Diese Animation weist vor allem durch die Aspekte der Kinetisierung und der akustischen Untermalung26 und damit zugleich im Bestreben um die Selbstinszenierung als eine Art „Gesamtkunstwerk“ zunächst eine große Nähe zu Werbespots auf. Beides verstärkt letztendlich jedoch die Distanzierung vom scheinbar beworbenen Produkt

21 Waldrop 1982: 319. Vgl. hierzu Perloff 1991: 117f. 22 Kessler 1976: 152. 23 Hilder 2016: 42: „Coca-Cola was, after all, a powerful cultural image of the United States’ aggressive economic colonization, or ‚coca-colonization‘ as it has come to be known in contemporary globalization discourse.“ 24 Krüger 2005: 409. Ein derart politisches Engagement ist typisch für die brasilianische Konkrete Poesie. Vgl. hierzu Kessler 1976: 152: „Die konkrete Dichtung in Brasilien [ist] eine eigene Tradition geblieben […], die, als hervorstechendstes Merkmal (höchstens mit tschechischen Autoren vergleichbar), die wohl einzige wirklich sozial und politisch engagierte konkrete Dichtung […] hervorgebracht hat.“ Siehe auch Colòn 2003: 58: Pignataris Gedicht lässt sich in eine speziell lateinamerikanische Traditionslinie einreihen, die „[…] expresses a disenchantment that pervades much Latin American literature from the mid- to late twentieth century: the protest and anxiety of living in the specter of the American economic empire.“ 25 Abrufbar unter: http://www.youtube.com/watch?v=JrKG0xfPLj0&NR=1. 26 Die Musik stammt von Gilberto Mendes.

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und von den Methoden der Werbeindustrie. Die Gedichtanimation von Pignataris beba coca cola stimmt hinsichtlich des skripturalen Materials genau mit der Printversion überein, nur dass diese eben nicht simultan, sondern sukzessive präsentiert wird. Die Animation unterscheidet sich daneben im Wesentlichen durch zwei Aspekte von dem ihm zugrundeliegenden Gedicht: Auf der lautlichen Ebene wurden hier eine musikalische Untermalung, eine Art Chor und ein Geräusch des menschlichen Körpers hinzugefügt und auf der visuellen der weiße wellenförmige Balken, der auf dem Etikett einer jeden Coca-Cola-Flasche zu sehen ist und der neben der weißen und roten Farbe zum Markenzeichen dieses Getränks geworden ist. Dieses neue visuelle Element – zusammen mit dem ohnehin genannten Markennamen – macht die Stoßrichtung der Kritik noch offensichtlicher, als dies in der gedruckten Version der Fall ist. Darüber hinaus entspricht übrigens auch der hier gewählte Rotton mehr dem Original als der im Printgedicht verwendete. Wie in der Analyse des gedruckten Gedichts hervorgehoben, kommt schon hier der lautlichen Dimension eine große Bedeutung zu. In der Animation wurde ihre Bedeutung noch dadurch intensiviert, dass der Rezipient einen Chor hört, dessen einzelne Stimmen zwar jeweils nur einen Begriff vorsingen, sich dabei aber derart überlagern, dass kein harmonisch-melodischer Eindruck erzeugt wird. Harmonie, die dem Thema natürlich unangemessen wäre, wird vor allem auch dadurch verhindert, dass die Stimmen so gar nicht zusammenpassen. Kam dem Schlusswort und damit zugleich der finalen Pointe schon in der Druckversion eine besondere Bedeutung zu, so ist diese in der Animation potenziert, denn sobald auf dem Bildschirm der Begriff „cloaca“ erscheint, hört man das laute Aufstoßen eines Mannes. Dadurch erfolgt eine noch wesentlich stärkere Abwertung des US-amerikanischen Getränks. Beendet wird die Animation jedoch vom Klatschen einer undefinierten Menschenmenge. Hiermit könnte implizit eine generelle Kritik am problematischen Verhalten der Rezipienten von Werbebotschaften geübt werden: „The poem’s final belch is immediately followed by a round of applause, which suggests that an uncritical audience is ‚watching‘ the spectacle of advertising and relishing in the theatrical display of immediate gratification generated by mass food production.“27 Die Kritik richtete sich dann nicht nur gegen die Vermarktung und den Konsum des bekannten Getränks, sondern gegen das Konsumverhalten im Allgemeinen.28

27 Delville 2008: 71. 28 Vgl. hierzu Delville 2008: 72: „Pignataris’s poem enacts a critique of consumption […].“

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Kritik an den Methoden der Werbung Auch das folgende Beispiel zeugt von einer Orientierung an den gängigen Verfahren der Werbung, bei gleichzeitiger Distanzierung von diesen. Es handelt sich dabei um ein dreidimensionales Gedichtobjekt, das den menschlichen Körper – gemäß dem erweiterten Textbegriff in der Konkreten Poesie – als poetisches Material in Szene setzt: Abbildung 4: christian ludwig attersee, attersee’s prothesenalphabet (1966)29

Der Abbildung ist ein Text beigegeben, der sich wie ein Werbetext liest. Attersee bewirbt sein prothesenalphabet wie folgt: 26 modeprothesen für ein- und zweibeinige. attersee’s buchstabenprothesen geben ihren beinen die sicherheit, etwas besonderes zu sein. prothesen zum ertrinken und cocktailmixen. für den besuch von konditoreien, zum staubsaugen und nußknacken.

29 Zit. n. weiermair 1976: o. S.

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ein zweistündiger wettlauf der ganzen familie mit attersee’s buchstabenprothesen um das eigene campingzelt ist der unvergeßliche höhepunkt eines ferienaufenthaltes. beinamputierte mannequins tragen attersee’s buchstabenprothesen. mit attersee’s prothesenalphabet wird jeder tag zum sonntag.30

Dass es sich hierbei um eine Parodie gängiger Strategien der Werbeindustrie, vor allem des hyperbolischen Anpreisens des betreffenden Produkts handelt, wird niemand in Abrede stellen. Die völlig willkürliche Aufzählung erweckt dabei den Eindruck von Unsinnspoesie und erinnert mehr oder weniger stark an die Sinnentleerung der Sprache als Resultat ihrer starken Funktionalisierung und Instrumentalisierung im Sinne des jeweiligen Produkts, wie sie nicht selten in Werbetexten anzutreffen ist. Attersees Vorgehen ist dem „brainwashing of consumers by advertising slogans“31 durchaus nicht unähnlich. Nichtsdestoweniger handelt es sich in diesem Fall dennoch um eine gelungene Werbestrategie, die zwar nicht das eigentlich an den Mann zu bringende Produkt, das „prothesenalphabet“, betrifft, aber dafür den Dichter, der nicht zufällig das Zentrum des Fotos bildet. In dieser Hinsicht besitzt das Gedichtobjekt einen stark selbstreferentiellen Charakter. Lässt man die Prothese aus dem Spiel, erinnert seine Selbstinszenierung stark an die Darstellung eines griechischen Gottes. Sein größtenteils unbekleideter Zustand sowie seine aus paarweise angeordneten Spiegeleiern bestehende Unterhose erinnern dabei an die fortschreitende Sexualisierung des Werbediskurses, nach dem allseits bekannten Motto: sex sells. Zugleich reiht sich der Kopf des Dichters in einen Kreis, in dem sich bereits die Köpfe dreier Kleinkinder befinden. Das Motiv der Kinderköpfe taucht dabei weder in dem unter dem Foto abgedruckten „Werbetext“ auf, noch lässt es sich aus dem zu bewerbenden Produkt herleiten. Dies dürfte sowohl eine implizite Kritik an den Methoden der Werbeindustrie darstellen als auch der generellen Sprachkritik der Dichter der Konkreten Poesie Ausdruck verleihen, in deren Zentrum der Vorwurf einer sinnentleerten Sprache und die „Skepsis am ,un-eigentlichen‘ Sprachgebrauch“32 stehen.

30 Zit. n. weiermair 1976: o. S. 31 Delville 2008: 72. 32 Erdbeer 2001: 182.

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A BSCHLIESSENDE B ETRACHTUNGEN Die wichtigste Voraussetzung für die Verbindung von Poesie und Werbung ist zweifelsohne die Annäherung der Bereiche Kunst und Leben, wie sie zunächst vor allem von den Futuristen, den Dadaisten und den Surrealisten vertreten worden ist. In der Konkreten Poesie ab Mitte der 1950er Jahre ist die Annäherung geradezu zum poetischen Programm erhoben worden. Insofern ist es nur folgerichtig, dass hier jeweils die Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi der Werbung zum künstlerischen Bezugspunkt werden, und zwar meistens in Form einer kritischen Distanzierung. Denn die Sprache der Werbung wird zum Paradigma der Alltagskommunikation sowie der bisherigen poetischen Produktion und damit zugleich zu einem der primären Gegenstände der Sprachkritik der entsprechenden Dichter. Durch die Annäherung der Poesie an die Werbung soll der Stil der Werbesprache zum Maßstab der poetischen Kommunikation gemacht werden, was jedoch die Kritik und die Bewusstmachung der Funktionen der Werbesprache voraussetzt.

L ITERATUR Clüver, Claus (2002): „Das internationale konkrete Gedicht: Schreiben in vielen Sprachen“, in: Manfred Schmeling/Monika Schmitz-Emans (Hg.), Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 311-326. Colòn, David (2003): „Now what the DEFILL can that mean! The Latin-American Roots, Rhetoric and Resistance of Latin American Concrete Poetry“, in: Journal of Latino/Latin American Culture 1, 47-60. Delville, Michel (2008): Food, Poetry, and the Aesthetics of Consumption: Eating the Avant-Garde, New York u.a.: Routledge. Dencker, Klaus Peter (1972): „Visuelle Poesie plus Pop-Art“, in: Mitteilungen des Instituts für moderne Kunst Nürnberg 5, 16-21. Domin, Hilde (2008): Gesammelte Gedichte, 12. Aufl. Frankfurt (a.M.): Fischer. Erdbeer, Robert Matthias (2001): „Vom Ende der Symbole – Text und Bild in der Konkreten Poesie“, in: Heinz J. Drügh/Maria Moog-Grünewald (Hg.), Behext von Bildern. Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder, Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 177-204. Hilder, Jamie (2016): Designed Words for a Designed World: The International Concrete Poetry Movement, 1951-1971, Montreal/London/Chicago: McGillQueen’s University Press.

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Poetik als Werbung Marketingstrategien und Kunst in Émile Zolas Experimentalroman(en) M AREN S CHEURER

É MILE Z OLA , W ERBUNG

UND

K UNST

Im Jahr 1862 begann Émile Zola für das Verlagshaus Hachette zu arbeiten. Von der Postabteilung, in der er Bücherpakete verpackte, stieg er schnell zur Werbeabteilung auf. Innerhalb weniger Monate beförderte Hachette Zola sogar zum Leiter dieser Abteilung – eine Stellung, die er innehaben sollte, bis er 1866 mit der Veröffentlichung seines ersten skandalträchtigen Romans die Justiz auf sich aufmerksam machte und für das angesehene Verlagshaus untragbar wurde.1 Trotz ihrer Kurzlebigkeit verschaffte diese Anstellung Zola einen einmaligen Einblick in den Pariser Literaturbetrieb und ebnete seinen Weg zu ersten literarischen Arbeiten. Expertise in der Werbebranche war dabei von nicht geringer Bedeutung. Da Zola auf die Einkünfte aus seinen Romanen angewiesen war, benötigte er einen werbeträchtigen Ruf: „His determination to impose himself on the literary world is characterised by a commercial opportunism that is inseparable from his serious artistic commitment“, erklärt Pam Morris. „Zola recognised that, in the commercialised literary field of late nineteenth-century France, a slogan and a manifesto were effective means of self-publicity.“2 Der Slogan sollte bald „Naturalismus“

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Vgl. Brown 1997: 124. Morris 2003: 69-70.

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heißen und seine Entsprechung im Manifest Le Roman expérimental (1880) finden, in dem Zola bewusst populäres Gedankengut aufbereitet. Schon Morris’ Gebrauch der negativ konnotierten Worte „impose“, „opportunism“ und „self-publicity“ legt nahe, dass diese populäre Ausrichtung der Poetik Zolas jedoch oft als kommerzielle Strategie abgelehnt und in ihrer Naivität kritisiert – kurz, als geradezu anti-poetisch abgestempelt wird.3 Selbst Literaturwissenschaftler wie Peter Brooks, die gewillt sind, Zolas Programm ernst zu nehmen, warnen: „Beware […] of Zola’s advertisements for himself, which usually convey only part of what he is doing, and knows he is doing.“4 Und Barbara Ventarola weist in einer sensiblen Studie des Manifests darauf hin, dass man hinter die „simplizistische Popularisierungsrhetorik“ schauen müsse5, um zu komplexeren künstlerischen Inhalten zu gelangen. Doch warum sollten wir überhaupt von einer antithetischen Beziehung zwischen Zolas Werbemaschinerie und seiner künstlerischen Tätigkeit ausgehen? Welche Poetik ist nicht schon immer auch Exposition und Anpreisung der eigenen Methode? Wer festhalten will, was Literatur kann und soll – ganz gleich ob dies in Form einer Regelpoetik oder in Form einer poetologischen Programmschrift geschieht – muss seine Leser von der Richtigkeit oder zumindest der Innovationskraft des angestrebten Literaturideals überzeugen. Nun definiert sich Werbung nicht ausschließlich über ihre persuasive Funktion, sondern präziser durch den Versuch, das Handeln oder Urteilen von Konsumenten zu beeinflussen und sie dazu zu bewegen, Leistungen, Güter oder Ideen positiv zu bewerten und in einem ökonomischen Austauschprozess zu erwerben oder zu genießen.6 Mit Blick auf literarische Erzeugnisse gibt Urs Meyer zu bedenken, dass natürlich auch deren Autoren und Autorinnen spätestens seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht auf Werbung verzichten können, um ihre Leserschaft zu erreichen und Bücher abzusetzen.7 Allerdings scheint die „traditionell missfällige Haltung gegenüber den manipulativen Mechanismen der Werbung“8, die er ebenfalls attestiert, es schwer zu machen, Werbung und ästhetische Komplexität zusammenzudenken. Trotzdem möchte ich in diesem Beitrag die habituelle Logik umkehren und fragen, inwiefern es von Gewinn ist, Zolas Poetik als Werbung zu betrachten und in der Darstellung von Werbung in seinen Romanen eine Reflexion seiner Poetik

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Vgl. Ventarola 2010: 279. Brooks 2005: 126. Ventarola 2010: 305. Vgl. Janich 1999: 17. Vgl. Meyer 2010: 18. Ebd.: 13.

M ARKETINGSTRATEGIEN UND K UNST IN É MILE Z OLAS E XPERIMENTALROMAN ( EN )

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zu sehen. Dazu untersuche ich zunächst Zolas Programmschrift Le Roman expérimental auf ihre „Popularisierungsrhetorik“ hin und zeige ihren Zusammenhang mit Zolas Verfahren auf. Anschließend widme ich mich zwei Romanen aus Zolas naturalistischem Romanzyklus Les Rougon-Macquart, die auf unterschiedliche Weise Werbung und Poetik reflektieren. Ich beginne mit Nana (1880) – einem heftig beworbenen Skandalroman über eine Prostituierte, deren Werbetechniken die Handlung des Romans dynamisieren. Noch deutlicher wird diese Verschränkung zwischen Werbung und Kunst im Roman Au Bonheur des Dames (1883), in dem der Kaufhausbesitzer Octave Mouret immer neue Marketingstrategien ersinnt, um sein expandierendes Geschäft möglichst gut zu positionieren.9 In allen drei Werken zeichnet sich ab, dass die Verführungsstrategien, die Zola in seinen poetologischen Schriften als Schwäche ausgelegt werden, zu einem integralen Bestandteil seiner Poetik gezählt werden müssen.

Z OLAS P OETIK : L E R OMAN

EXPÉRIMENTAL

Um seine Einkünfte aufzustocken, verpflichtete sich Émile Zola von 1875 bis 1880, regelmäßige „Briefe aus Paris“ für die St.-Petersburger Zeitschrift Vestnik Evropy zu liefern. So erschien Le Roman expérimental 1879 zuerst in russischer Übersetzung, bevor die Programmschrift im gleichen Jahr in Le Voltaire und 1880 gemeinsam mit anderen Essays aus dem Vestnik als Sammelband in Frankreich veröffentlicht werden konnte.10 Das Schlagwort „Naturalismus“ hatte Zola allerdings schon wesentlich früher geprägt und lange vor dieser Programmschrift gab er zu Protokoll, er habe es vor allem zu Werbezwecken geschaffen. So warf Gustave Flaubert Zola einmal vor, durch Vorworte und Manifeste zu viel Lärm um seine Bücher zu machen. Edmond de Goncourt, der das Gespräch protokollierte, gibt Zolas Antwort folgendermaßen wieder: Vous, vous avez eu une petite fortune, qui vous a permis de vous affranchir de beaucoup de choses. Moi qui ai gagné ma vie absolument avec ma plume, qui ai été obligé de passer par toutes sortes d’écritures honteuses, par le journalisme, j’en ai conservé, comment vous dirai-je cela? Un peu de banquisme… Oui, c’est vrai

9

Nana und Au Bonheur des Dames sind nicht die einzigen Romane, in denen Zola über die Bedeutung von Werbung und verwandten Strategien spricht. So spielen politische Überzeugungstaktiken eine wichtige Rolle im Streikgeschehen, das in Germinal (1885) beschrieben wird, und Saccard setzt in L’Argent (1891) aufwändige Werbetechniken ein, um seine neu gegründete Universalbank erfolgreich zu machen. 10 Vgl. Brown 1997: 315.

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que je me moque comme vous de ce mot naturalisme; et cependant, je le répéterai sans cesse, parce qu’il faut un baptême aux choses, pour que le public les croie neuves…11

Anders als Zola war Flaubert als vermögender Mann nicht auf die Einkünfte aus seinen Büchern angewiesen. Nach eigener Aussage stellt sich für den Berufsschriftsteller Zola dagegen die Notwendigkeit, Scharlatanerei („banquisme“) zu betreiben, einen Markennamen zu kreieren – „naturalisme“ – und diesen unablässig zu wiederholen, um die Öffentlichkeit von der Außergewöhnlichkeit des eigenen Schaffens zu überzeugen. In Le Roman expérimental wird der „Experimentalroman“ des Titels als die exemplarische Form des Naturalismus vorgestellt: Der Romanschriftsteller soll als wissenschaftlicher Beobachter und Experimentator fungieren, indem er, auf Basis genauer Analyse der sozialen Zustände und mit Rückgriff auf naturwissenschaftliche Gesetze, experimentelle Handlungskonstellationen entwirft, um seinerseits wissenschaftliche Hypothesen über Mensch und Gesellschaft vorzulegen. Die neue Aufgabe der Schriftsteller ist eine „sociologie pratique“: Als „moralistes expérimentateurs“, experimentierende Sittenforscher, sollen sie einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt leisten12 und durch die Verwendung der experimentellen Methode ihre Kunst in Wissenschaft verwandeln. Das künstlerische Genie bleibt dabei als Ideenspender relevant, doch Fragen der Form und des Stils klammert Zola vorerst aus seinen Überlegungen aus.13 Dieses szientistischen Programmes wegen hat man Zola „naiven Wissenschaftsoptimismus“14 vorgeworfen und seinen Experimentalroman als „kaum mehr […] verifizierbares Pseudo-Experiment“15 bezeichnet. Ventarola sieht zwar hinter den „Sprachen der simplifizierenden Popularisierung [sowie] der überzeichnenden (und zudem apologetischen) Polemik“16 echte wissenschaftstheoretische Überlegungen verborgen. Dabei stellt sie jedoch minderwertige Werbetechniken einem wertvollen Reflexionsgehalt gegenüber, wenn sie vorschlägt, sich auf die Textschicht „hinter“ Zolas Stil, seiner Rhetorik und seinem Pathos zu konzentrieren.17 Im Folgenden setze ich auf die entgegengesetzte Methode: Ich möchte gerade die popularisierenden

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Zit. n. Reverzy 2008: 11-12. Zola 2004: 334. Vgl. ebd.: 345. Ventarola 2010: 279. Ebd.: 284. Ebd.: 285. Vgl. ebd.: 305.

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und polemischen Strategien in Zolas Schrift hervorheben, deren exzessive Rhetorik ich nicht als störendes Beiwerk, sondern als ein implizites Teilprinzip des vorgestellten Programms begreife. Eine zentrale Taktik Zolas besteht darin, sich auf den Physiologen Claude Bernard zu berufen, der mit seiner Schrift Introduction à l’étude de la médecine expérimentale seit ihrem Erscheinen 1865 große Berühmtheit und Popularität erlangt hatte. Unablässig zitiert Zola Passagen aus der Introduction, in der Bernard experimentelle Methoden in der damals noch weitgehend erfahrungswissenschaftlich basierten Medizin fordert. Dabei geht Zola so weit zu behaupten: „Le plus souvent, il me suffira de remplacer le mot ‚médecin‘ par le mot ‚romancier‘, pour rendre ma pensée claire et lui apporter la rigueur d’une vérité scientifique.“18 Zwei werbeträchtige Strategien fallen hier auf. Zum einen knüpft Zola mit seinem direkten Bezug auf Bernard an damals populäre wissenschaftliche Strömungen an, zu denen neben der Experimentalmedizin zum Beispiel auch die Evolutionstheorie Darwins gehört. Das Ziel ist dabei allerdings nicht in erster Linie, eine wissenschaftliche Abhandlung zu produzieren, sondern vielmehr von der Aura wissenschaftlicher Autorität für die emotionale Wirkung des Manifests zu profitieren.19 Somit muss unklar bleiben, ob Zola selbst wissenschaftsgläubig war; fest steht nur, dass er mit seiner Poetik die Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zielgruppe bedient.20 Zum anderen zeigt sich Zolas Tendenz zur Hyperbel21 und zur thesenhaften Übersteigerung in seiner Behauptung, er müsse nur das Wort „Arzt“ durch „Romanschriftsteller“ ersetzen, um seine Gedanken mit wissenschaftlicher Strenge anschaulich zu machen. Auf ähnlich überzogene und zugleich kühne Weise postuliert er die Determiniertheit des Menschen durch wissenschaftlich erklärbare Gesetze: „Une même déterminisme doit régir la pierre des chemins et le cerveau de l’homme.“22 Es ist kaum anzunehmen, dass Zola nicht bewusst war, welch große Kränkung für den Stolz einer sich der Natur überlegen wähnenden Menschheit sich hinter seiner gewagten Gleichsetzung des menschlichen Gehirns mit einem Stein auf der Straße verbirgt. Fernab von einer ernstzunehmenden These lässt sich diese Provokation demnach als taktischer Zug lesen, um das Interesse am naturalistischen Programm zu steigern.

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Zola 2004: 324. Zu ähnlichen Strategien in der Wirtschaftswerbung vgl. Janich 1999: 154. Vgl. Brooks 2005: 126. Auch die Übertreibung gehört laut Meyer zu den Grundelementen der Werbesprache (vgl. Meyer 2010: 156). 22 Zola 2004: 330.

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Kritiker begegneten dem Naturalismus von Anfang an mit Vorwürfen – Zola wühle im Schmutz und zersetze die Moral.23 Polemik und Apologetik gehören daher notwendigerweise zu den Grundstrategien dieser Schrift. Das naturalistische Programm wird dabei nicht nur verteidigt, sondern vorsätzlich überbewertet: Je ne sais pas […] de travail plus noble […]. Être maître du bien et du mal, régler la vie, régler la société, résoudre à la longue tous les problèmes du socialisme, apporter surtout des bases solides à la justice en résolvant par l’expérience les questions de criminalité, n’est-ce pas là être les ouvriers les plus utiles et les plus moraux du travail humain?24

Mit Adjektiven wie „nobel“, „nützlich“ und „moralisch“, die sein Projekt strategisch aufwerten, sowie symbolisch aufgeladenen Begriffen wie „Leben“, „Gesellschaft“ und „Gerechtigkeit“, welche die Fantasie seiner Leser anregen und ihre Gefühlswelt stimulieren sollen, lenkt Zola werbewirksam die Bewertung des Naturalismus.25 In diesen Worten klingt eine Heroisierung und gleichsam mythische Überhöhung des eigenen Vorgehens an. Wenn der naturalistische Schriftsteller auf diese Weise zum Herren über Gut und Böse und zum gesellschaftlichen Heilsbringer stilisiert wird, ist sein Gewerbe keineswegs schandhaft, sondern in höchstem Grade moralisch. Zola knüpft damit an das zu seiner Zeit allgemein vorherrschende Fortschrittsdenken an und bedient utopische Hoffnungen, zu denen auch die Literatur beitragen soll. Die Naturalisten sind bei ihm Helden, noble Vorkämpfer auf dem Weg zur Wahrheit, die das Gegenteil der gegen sie vorgebrachten Vorwürfe verkörpern: „C’est nous qui avons la force, c’est nous qui avons la morale.“26 Von dieser moralischen Kraft möchte Zola nicht nur seine Leser, sondern auch andere Schriftsteller überzeugen: Sein Werbefeldzug zielt letztlich darauf ab, das Verfahren vom Experimentalroman auf das Theater und die Poesie zu übertragen27 und die wissenschaftliche Methode allen jungen Schriftstellern beizubringen.28

23 In England wurden Übersetzungen von Zolas Romanen deshalb verboten und ihr Herausgeber musste nicht nur eine Geldstrafe zahlen, sondern auch eine Haftstrafe absitzen (vgl. Brooks 2005: 12). 24 Zola 2004: 335. 25 Zu „Hochwertwörtern“ und „Schlüsselwörtern“ als Werbestrategien vgl. Janich 1999: 111-115. 26 Zola 2004: 337. 27 Vgl. ebd.: 348. 28 Vgl. ebd.: 342.

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Zolas Programmschrift ist also aus doppelter Notwendigkeit auf Werbestrategien angewiesen: Zum einen muss er den Naturalismus verteidigen, zum anderen gehört es inhärent zu diesem fortschrittsgläubigen Programm, seine Erkenntnisse zu verbreiten, um zur Entwicklung der Kunst und der Gesellschaft beizutragen. Stilistisch scheint die Tendenz zur Hyperbel zwar nicht mit der wissenschaftlichen Grundierung des Projekts zusammenzupassen, aber gerade das neue Erkenntnisversprechen der Naturwissenschaften lädt den Naturalismus unweigerlich mit Energie auf. Zolas Formulierungen versuchen den Leser nicht rational zu überzeugen, sondern in Begeisterung mitzureißen. So verweist der vermeintlich „simplizistische“ Stil auf einen Aspekt der Zola’schen Poetik, der erst in seinen Romanen explizit zum Tragen kommt: die Kraft der Verführung.

P ROMOTION

UND

P ROSTITUTION : N ANA

Als im Oktober 1879 der erste Teil von Nana in Le Voltaire erschien, war die Prostituierte Nana keine unbekannte Figur mehr. Die Tochter von Gervaise Macquart erregte schon 1877 im Roman L’Assommoir die Gemüter der Leser. So wird spekuliert, dass das im gleichen Jahr fertiggestellte Gemälde „Nana“ von Édouard Manet durch Zolas Figur inspiriert wurde, auch wenn der Roman, der ihren Namen tragen und ihre Karriere ausführlich schildern sollte, erst 1880 erschien. Aus dieser Bekanntheit konnte Zolas Herausgeber Kapital schlagen. Le Voltaire verteilte Plakate in ganz Paris und Nanas Name war in Zeitungen, auf den Brust- und Rückenschildern von Sandwich-Men und sogar auf Zigarettenanzündern in Tabakläden zu lesen.29 Die strategische Ubiquität dieser damals ungewöhnlich intensiven Werbekampagne wurde selbst von Zolas Freund Henri Céard als geradezu alptraumhaft wahrgenommen: „Ce nom est à l’infini sur tous les murs de Paris. Cela tourne à l’obsession et au cauchemar.“30 Rechnet man die skandalträchtige Thematik zu dieser Werbemaschinerie, verwundert es kaum, dass Nana schon vor der Auslieferung vergriffen und bereits 1882 in zwölf Sprachen übersetzt worden war.31 Da Zola seinen Romanzyklus klug so angelegt hatte, dass ihre Protagonisten oft in verwandtschaftlichen Verhältnissen zueinander standen, konnte Nana zu einer Art Gütesiegel werden, über das beispielsweise in den USA andere Romane der Rougon-Macquart vermarktet wurden: L’Assommoir etwa als

29 Vgl. Brown 1992: 213. 30 Zit. n. Mitterand 2002: 17. 31 Vgl. Hill 2011: 78-80.

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Nana’s Mother und Germinal als Nana’s Brother.32 In Griechenland wurden mit Nanas Hilfe sogar Hüte und Süßigkeiten verkauft.33 Bemerkenswert an diesem internationalen Werbeerfolg ist aber vor allem, dass er im Text Widerhall findet. Denn Nana ist eine Künstlerin der Selbstinszenierung, die dem Roman zahlreiche Möglichkeiten bietet, sich selbst über seine Qualitäten zu versichern. Gleich im ersten Kapitel soll Nana in einem Theater als „Venus“ auftreten – ein Ereignis, das der Inhaber bereits seit Monaten bewirbt, sodass der Journalist Fauchery am Premierenabend gereizt ausruft: „Depuis ce matin, on m’assomme avec Nana. […] Nana par-ci, et Nana par-là!“34 Durch geschickte Werbestrategien, die ihren Namen in ganz Paris zum Gesprächsthema gemacht haben, gelingt es, die Lust der Zuschauer auf Nana zu steigern, lange bevor sie jemand wirklich zu Gesicht bekommen hat. So werden nicht nur Werbung und Prostitution in eins gesetzt, sondern auch eine implizite Verbindung zum Roman hergestellt, der mit ähnlichen Mitteln angepriesen wird und genauso (Leser-)Begehren erzeugen muss wie die Prostituierte.35 Der Spannungsaufbau durch Selbst- und Fremd-Promotion bedeutet aber auch, dass Nana von Anfang an für alle anderen Personen des Romans und zugleich für die Leser eine Figur ist, deren soziale und sexuelle Identität sich, wie Rita Felski zeigt, durch Mode und Werbung formiert.36 Als Nana endlich fast nackt auf der Bühne erscheint, für die Zuschauer aber unerreichbar bleibt, gleicht der Effekt einem Rausch: „La salle entière vacillait, glissait à un vertige, lasse et excitée.“37 Die ekstatische Wirkung, die Nanas Offerten auslösen, signalisieren, dass in ihrem Publikum vor allem irrationale und phantasmagorische Kräfte angesprochen werden. Nana wird so zu einer Stilikone, die sogar adlige Damen imitieren38, und zu einem Sehnsuchtsobjekt, das zahllose Männer in den Ruin treibt. Sie erzeugt ein Begehren, das als unendlicher Prozess des Aufschubs39 angelegt ist, gerade weil sie sich einer Inbesitznahme und Interpretation letztlich entzieht. Denn wer immer im Roman versucht, Nana zu begreifen oder festzuhalten, seien es ihre Liebhaber, die Leser oder gar der Erzähler, stößt auf das, was Brooks den „Nana-Effekt“ nennt: „disorientation, troubled vision, imperfect

32 33 34 35 36 37 38 39

Vgl. ebd.: 80. Vgl. ebd. Zola 2002: 23. Vgl. Reverzy 2009: 590; Reverzy 2012: 94. Vgl. Felski 1995: 75. Zola 2002: 52. Vgl. ebd.: 342. Vgl. Nelson 2001: 407.

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knowledge, dispossession.“40 Indem Zola Nana aber auch die Rolle einer Rächerin der niederen an den höheren Klassen und der Frau am Mann zuweist, wird ihre Verführungskunst zugleich zu einem Instrument in einem tödlichen Klassen- und Geschlechterkampf und Nanas zerstörerische Kraft zu einem Faszinosum. Als Fauchery einen Artikel mit dem Titel „La Mouche d’Or“ im Figaro veröffentlicht, in dem er Nanas Erscheinung als „une force de la nature, un ferment de destruction“41 bezeichnet, als schönes Gift, das wie eine goldene Fliege die Gesellschaft verseucht, interessiert Nana weniger, dass sie dadurch verunglimpft wird, als dass man sich in einer Zeitschrift überhaupt und lange mit ihr beschäftigt; das heißt, sie erkennt die Werbewirkung des Artikels, der sie schnell zum Stadtgespräch machen wird. Da verwundert es kaum, dass Zola just diesen Artikel, der später zu einem zentralen Teil seines Romans werden sollte, als Vorabveröffentlichung zum Fortsetzungsroman im Voltaire – nicht umsonst eine Konkurrenzzeitschrift zum Figaro – zeitlich genau kalkuliert nur wenige Tage vor Beginn der Serialisierung werbewirksam einsetzte.42 Zola bedient sich also bewusst journalistischer Praktiken innerhalb und außerhalb seines Romans und verschränkt diese Ebenen so untrennbar miteinander, dass er seinen potentiellen Lesern nicht nur vorgaukelt, Nana sei bereits ein Teil ihrer Lebenswelt, er liefert ihnen auch noch vor der Lektüre einen trügerischen Abriss des philosophischen Gehalts seines Werks. Denn obwohl selbst der Erzähler im Verlauf des Romans immer öfter auf Faucherys Vokabular zurückgreift, kann auch dieser Artikel Nana letztlich nicht erklären. Stattdessen erinnert die Diskussion um die goldene Fliege noch einmal an Zolas Marketingstrategien. Wie Nana hat er erkannt, wie wichtig es ist, dass man überhaupt über ihn spricht; wenn Zola im Nachklang Nanas bisweilen selbst als degeneriert beschimpft oder der Zersetzung der öffentlichen Moral beschuldigt wurde43, bedeutete dies tatsächlich gerade nicht, dass seine Bücher weniger verkauft wurden. Allerdings betrachtet der Roman die Folgen einer solchen Logik keineswegs unkritisch. Dass im letzten Kapitel Nanas Tod mit der Begeisterung auf den Straßen für den gerade einsetzenden deutsch-französischen Krieg von 1870/71 enggeführt wird, suggeriert, dass die Verführbarkeit der Massen zwar eine unumgängliche Tatsache der modernen Gesellschaft ist, gleichzeitig aber auch ihren Untergang bedeuten könnte. Eine zersetzende Kraft wird damit nicht so sehr in den Verführungsversuchen selbst, als vielmehr in der Sehnsucht nach Verführung und der Gier nach Zerstreuung ausgemacht.

40 41 42 43

Brooks 2015: 119. Zola 2002: 245. Vgl. Reverzy 2009: 592. Vgl. McLean 2012: 63.

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Auf solche Weise nutzt Zola wiederholt die Metaebene des Romans, um sein naturalistisches Programm zu diskutieren und die Leser zu Selbstreflexion anzuregen. Ein ähnliches Spiel mit den Erwartungen seines Publikums treibt Zola etwa, wenn er Nana über ihre Lektürevorlieben nachsinnen lässt: Elle avait lu dans la journée un roman qui faisait grand bruit, l’histoire d’une fille; et elle se révoltait, elle disait que tout cela était faux, témoignant d’ailleurs une répugnance indignée contre cette littérature immonde, dont la prétention était de rendre la nature; comme si l’on pouvait tout montrer! […] [E]lle voulait des œuvres tendres et nobles, de choses pour la faire rêver et lui grandir l’âme.44

Selbstironisch lässt Zola Nana einen Roman wie Nana lesen und als „Schmutzliteratur“ verwerfen. Besprechungshungrig, so könnte man meinen, schreibt sich Zola selbst einen Verriss. Der zeitgenössische Leser kann die „littérature immonde“, die Nana lieber durch eine Literatur ersetzt sähe, welche die Seele erhebt, leicht mit dem naturalistischen Programm identifizieren, das wegen seiner „schmutzigen“ Themen verrufen war und für das der Prostituiertenroman geradezu paradigmatisch einsteht.45 Dabei betont Zola aber nicht nur die Popularität und die Skandalträchtigkeit des Genres, die eine eigene profitable Werbekraft mit sich bringen46, sondern er fordert selbst skeptische Leser geradezu heraus: Indem Zola die Position seiner Kritiker ausgerechnet der ungebildeten Nana zuweist, stellt er deren Position in Frage. Wer nicht die naiven ästhetischen Ansichten der Prostituierten teilen möchte, sieht sich verführt, ja genötigt, den Naturalismus neu zu bewerten und in Zukunft noch mehr Zola zu lesen.

44 Zola 2002: 370. 45 Weitere Beispiele sind etwa Joris-Karl Huysmans’ Marthe (1876) oder Guy de Maupassants Erzählungen „Boule de suif“ (1880) und „Lit No 29“ (1884). 46 Zugleich stellt diese Passage eine Form des gendering des Leseprozesses dar, wie Felski betont: „In this brief passage is encapsulated an entire ideology of women and reading. […] Although the male intelligentsia disputed whether naturalist or modernist techniques were more suited to representing the complexities of the modern age, they were largely united in their disdain for an idealist aesthetic associated with an outmoded and cloying feminine sentimentality“ (Felski 1995: 79).

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W ARENHAUS -W ERBUNG : A U B ONHEUR

DES

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D AMES

Während Zola in Nana aus Selbstreflexivität Werbekapital schlägt, dienen in Au Bonheur des Dames die Passagen, in denen er sich mit Werbung auseinandersetzt, der Reflexion seines Verfahrens. Bei den Vorbereitungen für den Ende 1882 zuerst in der Zeitschrift Gil-Blas erschienenen Roman über ein Warenhaus profitierte Zola davon, dass er selbst bereits ein werbeträchtiger Name geworden war: Die Pariser Kaufhäuser Le Bon Marché, Le Louvre und La Place Clichy öffneten ihm bereitwillig die Türen für seine Recherchen, weil sie sich von einem Roman über ihr Gewerbe große Publikumswirkung versprachen.47 Kurz gefasst erzählt der Roman die Geschichte der Verkäuferin Denise Baudu, die nach anfänglichen Rückschlägen selbst in die Führungsriegen des Kaufhauses „Au Bonheur des Dames“ aufsteigt und die Liebe des Besitzers Octave Mouret gewinnt. Dabei erlebt sie die Expansion des Unternehmens, das alle Geschäfte im Umkreis in einem rigorosen Kampf ums Überleben auf dem Markt vernichtet. Die treibende Kraft hinter diesem Aufstieg ist Mouret, der immer wieder neue Werbekampagnen ersinnt, um Kundschaft anzulocken. Dazu gehören international versandte Kataloge mit Stoffproben, Anzeigen in Zeitungen, auf Mauern und Theatervorhängen und Werbegeschenke wie Luftballons, welche die Kunden selbst als Reklame durch die Straßen von Paris tragen.48 Mouret steckt einen großen Teil seines Gewinns in das, was seine Konkurrenten als „folies d’agrandissement et de réclame“49 bezeichnen. Tatsächlich wachsen die Summen, die Mouret im Laufe des Romans für Werbung ausgibt, im gleichen Maße, in dem auch die Raffinesse und der Erfolg der Werbestrategien zunehmen: „La grande puissance était surtout la publicité.“50 Das Verhältnis zwischen Produzent und Verbraucherin wird dabei metaphorisch immer wieder als Verhältnis sexueller Dominanz verhandelt51 und so verwundert es nicht, dass die Werbestrategien Mourets auf seine Verführungskunst zurückgeführt werden: „[I]l […] cherchait sans relâche à imaginer des séductions plus grandes.“52 Mouret erschafft das Begehren seiner Kundinnen, indem er ihnen etwas als begehrenswert vorführt.53 Die Verlockungspsychologie funktioniert hier ähnlich wie bei Nana: Je mehr Männer sie verführt, desto mehr Männer begehren

47 48 49 50 51 52 53

Brown 1997: 491. Vgl. Zola 1980: 282. Ebd.: 51. Ebd.: 282. Vgl. Felski 1995: 71. Zola 1980: 111. Vgl. Nelson 1993: 237.

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sie; je mehr Frauen Mouret in sein Warenhaus lockt, desto mehr folgen ihnen nach. Und ebenso wie Nana operiert auch Mouret mit der Kraft des Versprechens und des Aufschubs: Ausgedehnte Werbekampagnen und Warenanordnungen zielen darauf ab, die Kundinnen imaginativ und faktisch an das Etablissement zu fesseln. Das geht so weit, dass die Frauen durch die Reklame angeheizt regelrecht den Verstand verlieren und von einem Rausch erfasst werden: „C’était l’heure où la cohue, fouettée de réclames, achevait de se détraquer; les soixante mille francs d’annonces payés aux journaux […] laissaient à ces nerfs de femmes l’ébranlement de leur ivresse; et elles restaient secouées encore de toutes les inventions de Mouret.“54 Auch wenn es längst als Gemeinplatz zu gelten hat, dass der „Hauptzweck“ der Werbung die „Verführung“ ist55, zeigt Zola in seinem Kaufhausroman durch das Vokabular der Sexualität und der Ekstase noch einmal deutlich, dass diese Verführung im Bereich der Triebökonomie anzusiedeln ist.56 Mit anderen Worten: Auch Mouret wühlt mit seiner Tätigkeit im vermeintlichen „Schmutz“. Die Begleiterscheinungen blendet Zola nicht aus. Die kleinen Läden im Umkreis gehen an der Macht des Kaufhauses zugrunde und mit ihnen die Inhaber: Krankheit, Selbstmord und Tod sind die Folgen. Zudem besitzt Mourets Verführungskunst misogyne Untertöne: „Mouret avait l’unique passion de vaincre la femme. Il la voulait reine dans sa maison, […] pour l’y tenir à sa merci.“57 Mourets Verachtung gegenüber den Frauen, die er zu besiegen trachtet und die er nur deswegen umschmeichelt, um sie sich zu unterwerfen, erscheint zunächst problematisch. Zahlreiche Studien haben mit Blick auf die Genderkonstellationen des Romans festgestellt, einer regressiv-bedrohlichen Horde von Käuferinnen werde männliche Herrschaft über weibliches Begehren zelebratorisch gegenübergestellt.58 Viele Kritiker vermuten hinter dieser Darstellung eine Ambivalenz gegenüber der „neuen“ Frau, die sich zunehmend mehr Bereiche im öffentlichen Raum erobert hatte: Weil das Einkaufen im 19. Jahrhundert eine der wenigen Gelegenheiten war, sich unbegleitet in der Öffentlichkeit zu bewegen, zeigt Zolas Roman aber auch, wie dieser neue Raum Möglichkeiten für Frauen bietet, sichtbar zu sein und ihr Begehren zum Ausdruck zu bringen.59 Außerdem stellt der Roman Mourets männliche Dominanz auf zweierlei Weise grundlegend in Frage. Zum einen

54 Zola 1980: 316. 55 Meyer 2010: 16. 56 Steven Wilson hat bereits darauf hingewiesen, dass die ökonomische Dynamik in Au Bonheur des Dames durch Nana vorgezeichnet wird (vgl. Wilson 2012: 98). 57 Zola 1980: 281. 58 Felski 1995: 69, 72. 59 Vgl. Salotto 2003: 449, 457; Bunia 2015: 323.

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wird er am Ende des Romans nicht nur von Denise „erobert“ und seine Ausbeutung von Frauen somit zumindest symbolisch gerächt60, sondern seine Werbemaßnahmen beruhen auch auf einer Einfühlung in die Bedürfnisse seiner Kundinnen. Damit unterliegt Mouret, wie auch Felski betont, einer strategischen Feminisierung: „Success in modern commerce requires a new kind of subjectivity antithetical to old forms of rigid authoritarian masculinity, an identity mobile and sensitive enough to be able to respond quickly to the changing demands of an often fickle clientele.“61 Zum anderen begeistert und beteiligt sich die Verkäuferin Denise immer mehr an diesen Werbefeldzügen – ein Vorgang, der ihr im Bewertungskontext des Romans Respekt einträgt, zumal und gerade weil sie geschäftliches Kalkül mit sozialen Maßnahmen zu verbinden weiß. Remigius Bunia zieht deshalb das Fazit, dass „[in] puncto Vernunft und ökonomischem Kalkül […] kein Unterschied zwischen den Geschlechtern gezogen“62 wird. Die Marketingstrategien sind somit, wie schon in Nana, eine treibende Kraft in einem umfassenden und gegenseitigen Markt- und Geschlechterkampf. Zola öffnet diese Mechanismen zur Inspektion, ohne die Faszination gegenüber Mouret leugnen zu können – stellt dieser doch auch eine selbstreflexive Künstler-Figur dar.63 In Au Bonheur des Dames wird Werbung wiederholt als Kunst verhandelt. So spricht der Investor Baron Hartmann von Mourets „imagination“64, seinem „coup de génie commercial“65, und nennt ihn „un poète dans votre genre.“66 Der Werbetreibende wird hier dem Dichter gleichgesetzt, während sein Genie und seine Einbildungskraft aus der Werbung ein Werk machen.67 Darüber hinaus gibt es konkretere Parallelen zum naturalistischen Projekt: Mourets Konkurrent Baudu erklärt, „je rougirais d’employer de tels moyens“68 – ein Vorwurf, der sich durchaus mit der Anklage deckt, Zola schreibe schamlose Bücher. Dieser schildert Mouret jedoch als jemanden, der schlicht gelernt hat, durch kluge Analyse die Psychologie seiner Zielgruppe auszunutzen: „Du reste, il lui tendait des pièges plus savants,

60 61 62 63

64 65 66 67 68

Vgl. Niess 1978: 131. Felski 1995: 71. Bunia 2015: 322. Vgl. Reverzy 2012: 93. Auch Frederick Brown meint, Zola erschaffe mit dem Kaufhaus eine Metapher für die Konstruktion seiner Romanserie und zelebriere damit indirekt sein eigenes Unternehmen als Schriftsteller (vgl. Brown 1998: 500). Zola 1980: 106. Ebd.: 107. Ebd.: 367. Vgl. Reverzy 2012: 93. Zola 1980: 54.

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il l’analysait en grand moraliste.“69 Ist Mouret also auch eine Art „moraliste expérimentateur“, ein Moralist, der den Frauen Schlingen auslegt und sie zugleich analysiert? Jemand, der durch seine „Kunst“ des Werbeexperiments die Gesetze der Gesellschaft ausnutzt und aufdeckt? Jedenfalls lässt Mourets Werbetätigkeit eine Stilanalyse zu, die Zolas Poetik des Naturalismus ergänzt. Die Gestaltung des Kaufhausinneren erinnert an die überbordende Ansammlung detailreicher Beschreibungen in Zolas Romanen, da Mouret fordert, dass kein Winkel seines Etablissements (das passenderweise den gleichen Namen wie der Roman trägt) ohne Leben sein darf: „Il posait en loi que pas un coin du Bonheur des Dames ne devait rester désert; partout, il exigeait du bruit, de la foule, de la vie.“70 Zudem heißt es auch von Mouret, dass er auf kein Mittel verzichte und jedes Gefühl als (Stil-)Mittel einzusetzen wisse: „[Il] ne perdait aucune force, spéculait sur tous les sentiments.“71 Chantal Pierre-Gnassounou vergleicht auf dieser Basis Mouret mit dem Schriftsteller, der seinen Fortsetzungsroman wie ein Kaufhaus anlege, „full of sudden changes and detours, in which the female customer would become a captivated reader.“72 Die bereits zitierten Szenen, in denen die Kundinnen in rauschhafte Ekstase versetzt werden, gleichen Leseszenen und können mit Éléonore Reverzy als Allegorie einer Lektüre gelten73, da gerade Leserinnen immer wieder dem Verdacht ausgesetzt waren, sie könnten durch Lektüre verführt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es fragwürdig, ob Zolas berühmte Beschreibungsorgien allein der objektiven Wiedergabe der Realität dienen; vielmehr spricht er mit dem orgiastischen Element wiederum die Begierden der Leser(innen) an. Doch Mouret verführt nicht nur seine Kundinnen mit seiner pompösen Ausstattung; er verführt auch seine Geldgeber wie den Baron Hartmann. Dieser rezipiert Mourets Kunst deutlich mit ästhetischem Interesse, doch gilt seine Bewunderung weniger den unmittelbaren Reizen, als der Kunstfertigkeit und der Zielsetzung, mit der Mouret an seine Werbekampagnen herantritt. Jenseits von rein sinnlicher Empfänglichkeit kann Mouret also auch ein Interesse an der theoretischen Anlage und der Ausführung seiner Kunst bedienen. Kein Wunder also, dass Zola mit Metafiguren immer wieder den Blick auf die Gemachtheit seiner Romane und den bewussten Einsatz von aufsehenerregenden Motiven und Stilmitteln richtet, weiß er doch um ein Publikum, das wie Hartmann an der naturalistischen Poetik

69 70 71 72 73

Ebd.: 282. Ebd.: 283. Ebd.: 282. Pierre-Gnassounou 2007: 101. Vgl. Reverzy 2012: 92.

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interessiert ist. Dass die ersten Kapitel von Nana im Voltaire zeitgleich mit der serialisierten Version des Roman expérimental erschienen74, ist der gleichen Taktik geschuldet: Die naturalistische Theorie dient der Bewerbung des Romanprojekts nicht nur durch die Bereitstellung eingängiger Slogans, sondern sie hält darüber hinaus ein eigenes, ästhetisch-poetologisches Verführungspotential bereit. Auf einem Werbeplakat im letzten Kapitel gleicht der Stil des Reklamestichs dann auch auffällig dem Stil von Zolas Programmschrift und seiner Romane: Unverhältnismäßig, „d’une immensité exagérée, vus à vol d’oiseau“75, wird das Kaufhaus dargestellt. Da ist die Hyperbel, die Robert Niess als Element des Zola’schen Stils identifiziert76, aber mit der Vogelperspektive auch die analytische Distanz, auf die der Experimentalschriftsteller pocht. Beide Verfahren erscheinen erneut untrennbar miteinander verbunden. Unternehmer und Autor sind demnach Verführer und Forscher, die zu einem bestimmten Zweck um die Aufmerksamkeit und Begeisterung ihres Publikums werben.

W ERBUNG

UND

W AHRHEIT

Wenn Schreiben Verführen bedeutet und wenn sich der Autor somit nicht nur im Werbestrategen, sondern auch in der Prostituierten spiegelt77, dann liegen Poetik und Werbung keineswegs im Widerstreit miteinander, wie die Bemerkungen der Zola-Forscher nahelegen. Wissenschaftsoptimismus, Hyperbel, Heroisierung, Skandalisierung, Verführung – keine Frage, Zola weiß die Aufmerksamkeit und das Begehren seiner Leser zu lenken. Man mag diese Verfahren als Verkaufsstrategien verstehen78, doch darf man dabei, wie Reverzy betont, nicht vergessen, dass Zola mit dem Naturalismus eine keineswegs nur kommerzstrategisch verstandene Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft verband.79 Zolas Werbung soll also nicht die Kritikfähigkeit der Leser ausschalten, sondern dient einer Poetik80, die sich der Förderung ihres kritischen Potentials verschrieben hat: Dabei exponiert er nicht nur die Mechanismen der Werbung in der Fiktion selbst und fördert damit die

74 75 76 77 78 79 80

Vgl. Reverzy 2009: 595. Zola 1980: 451. Vgl. Niess 1978: 140. Reverzy 2012: 95. Zum „Aufforderungscharakter“ der Werbung vgl. Meyer 2010: 21. Vgl. Reverzy 2012: 90. Ebd.: 97.

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urteilende Lesefähigkeit des Publikums, sondern er richtet dessen Blick auch auf Problemhorizonte, die außerhalb der Fiktion liegen. Indem Zola die Verführungslogik seiner Werbestrategien in soziale und geschlechtliche Kämpfe einbindet, exponiert er zugleich ein Netz von Begierden und Ängsten, gesellschaftlichen Dynamiken und Werteverschiebungen. Zola zeigt, dass Werbung nicht ohne soziale Verwerfungen und nicht ohne Rückgriff auf tiefsitzende affektive und somatische Erfahrungen zu denken ist, was im Umkehrschluss aber auch bedeutet, dass revolutionäre Umstrukturierungen an dieser Stelle ansetzen könnten. Zolas einziger Anspruch an den Stil des Experimentalromans war, dass er zur Wahrheit führt.81 Wenn die Mechanismen der Werbung fortwährend auf solch unbequeme Wahrheiten verweisen, kann Zola schlechterdings nicht auf sie verzichten.

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81 Vgl. Zola 2004: 345.

M ARKETINGSTRATEGIEN UND K UNST IN É MILE Z OLAS E XPERIMENTALROMAN ( EN )

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Kreativität im Korsett Nostalgie und Konsumideologie im Fernsehdrama The Paradise N ATALIE V EITH

D IE

TRANSFORMIERTE

W ARENKULTUR

IN

T HE P ARADISE

In der zeitgenössischen Populärkultur lässt sich eine zunehmende Beliebtheit von Szenarien aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert beobachten, die sich sowohl auf ostentativ fiktive Formen historischer Auseinandersetzung erstreckt, wie etwa den Neo-Viktorianismus, als auch auf (mehr oder weniger) authentische historische Produktionen. Hierbei ist es häufig die viktorianische und edwardianische Warenkultur, die ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt: In manchen Fernsehserien, etwa dem historischen Drama Downton Abbey (ITV 20102015), erfolgt dies durch die Ausstattung mit entsprechenden Requisiten. Andere Serien setzen diesen Fokus noch direkter: In Mr Selfridge (ITV 2013-2016) und The Paradise (BBC 2012-2013) steht das alltägliche Leben in einem Kaufhaus im Mittelpunkt der Handlung. In diesem Beitrag wird am Beispiel der zuletzt genannten Serie dieser Fokus auf die viktorianische Waren- und Konsumkultur näher untersucht und seine diskursiven Wirkungsweisen hinterfragt. Es wird gezeigt, wie nicht nur vermittels historischer Kostüme und Requisiten die viktorianische Konsumkultur selbst visuell aufbereitet und konsumierbar gemacht wird, sondern wie hierbei unter anderem Strategien zum Einsatz kommen, die häufig auch im Bereich der Werbung Verwendung finden. Werbung und Konsum sind somit nicht nur auf Inhaltsebene zentrale Themen von The Paradise; die Serie selbst wird zur Werbefläche für Handlungspraxen und Mechanismen der Konsumkultur. Die Version der Vergangenheit, die hierbei „beworben“ wird, lässt eine signifikante Leerstelle bei der Darstellung negativer besetzter Diskurse, welche histo-

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risch die Institutionalisierung der Warenkultur begleiteten. Stattdessen ist die Serie von gegenwärtiger neo-liberaler Konsumideologie durchzogen, welche im Rahmen des historischen Szenarios eine scheinbare Naturalisierung erfährt. Um dies zu zeigen, werde ich zunächst die Darstellung der viktorianischen Konsumkultur in The Paradise mit viktorianischen Diskursen über Shopping kontrastieren, um so herauszuarbeiten, welche Transformationen der historischen Referenzsituation vorgenommen wurden. Anknüpfend an Andreas Reckwitz’ Theorien über gesellschaftliche Ästhetisierungsprozesse werde ich dann zeigen, wie das neunzehnte Jahrhundert zum Ursprungsnarrativ und zur Legitimation gegenwärtiger Modelle von Kreativität und Selbstverwirklichung erhoben wird. The Paradise wurde erstmals von 2012 bis 2013 auf BBC ausgestrahlt. Die Serie umfasst zwei Staffeln zu je acht Folgen. Die Geschichte ist eine lose Adaption des naturalistischen Romans Au Bonheur des Dames (1883) von Émile Zola. Sie beginnt mit der Ankunft von Denise Lovett, einem jungen Mädchen aus der Provinz, in einer (in der Serie namenlosen) Stadt, wo sie im Tuchladen ihres Onkels arbeiten möchte. Dieser muss jedoch eingestehen, dass er sie nicht beschäftigen kann, da das Geschäft nicht gut läuft seit direkt gegenüber ein großes Kaufhaus, das Paradise, eröffnet hat. Trotz der Abneigung ihres Onkels gegenüber dem Laden bewirbt sich Denise nun um eine Stelle im Paradise und die Serie folgt fortan ihrem alltäglichen Leben als Verkäuferin und den sich entwickelnden Nebenhandlungen. Mit der Zeit verlieben sich Denise und John Moray, der Besitzer des Paradise, ineinander, trotz seiner Verlobung mit der adligen Katherine Glendenning. Zusätzlich zu den offensichtlichen Problemen dieser Konstellation wird die Lage dadurch weiter verkompliziert, dass Katherines Vater, Lord Glendenning, quasi der Besitzer des Paradise ist, da Moray über keine eigenen finanziellen Mittel verfügt und sich zur Eröffnung des Geschäfts eine große Geldsumme von ihm geliehen hat. Moray muss entsprechend eine Entscheidung treffen zwischen seiner Verlobung mit Miss Glendenning, die ihm die Inhaberschaft seines Ladens sichern würde, und seinen romantischen Gefühlen für Denise, an deren Seite er jedoch keine andere Wahl hätte, als sich seinen Laden durch harte Arbeit zu verdienen. Wie bereits einleitend erwähnt, schreibt die Serie den historischen Warendiskurs auf signifikante Weise um, indem negative Aspekte ausgespart oder beschönigt dargestellt werden. Werkinterne Anzeichen für diese historische Verzerrung bleiben aus. Im Folgenden werde ich einige dieser historisch negativ besetzten Diskurse nachzeichnen und zeigen, wie die jeweiligen Themen in The Paradise beleuchtet werden. Als Grundlage dienen hierfür Reaktionen aus der spätviktorianischen Literatur und Presse auf die sich formierende Warenkultur, welche unter

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anderem die sozialen Antagonismen, Untugenden und gesundheitlichen Risiken thematisieren, welche die Warenkultur vermeintlich mit sich brächte.

D IE A NTAGONISMEN

DER

W ARENKULTUR

Es ist charakteristisch für spätviktorianische Diskurse über Konsum, dass die Interaktion zwischen den involvierten Agenzen mit einer binären Rhetorik beschrieben wird, durch welche jenen Beziehungen häufig antagonistische Züge eingeschrieben werden. Ein sehr offensichtliches Beispiel stellt die Geschlechterdichotomie dar: Mit der zunehmenden Institutionalisierung der Warenkultur und der Popularisierung des Einkaufens als Freizeitaktivität wurde dieses auch immer stärker geschlechterspezifisch ausgestaltet. Der Autor eines Zeitungsartikels aus dem Jahr 1893 behauptet zynisch, ein Mann würde beim Anblick eines Sonderverkaufs in einem Kaufhaus „as soon think of plunging into boiling water as he would into the writhing mass of femininity which surrounds these modern nuisances.“1 Einkaufen sei nicht einfach nur uninteressant für Männer, sondern ein Machtkampf zwischen den Geschlechtern in welchem männliche Unlust das weibliche Vergnügen noch weiter erhöhe, wie der Autor, ein „married contributor“, eines weiteren Artikels von 1876 betont: Some women like to drag their husbands about […] like tame poodles. They delight in seeing men dawdling on stools, gazing hopelessly on piles of millinery and upholstery, and lounging against counters, so long as they do not ogle the girls, which is, of course, contrary to all rules.2

Dies sei auch der Grund, aus dem er seine Frau nicht oft zum Einkaufen begleite, was „the last stage of degradation“3 wäre. Der Anreiz dieser Machtposition wird gerne in Relation zur vergleichbaren Machtlosigkeit der Frau in anderen Bereichen des Lebens erklärt, etwa 1875 in der Saturday Review: „How delicious, then, it must be to the dethroned mistress, trodden under foot in her own house, to find herself in the shop suddenly transported to a position of supreme command, with a world of material luxury at her feet.“4

1 2 3 4

„Shopping“ 1893: 257. „Shopping. By a Married Contributor“ 1876: 162. Ebd. „The Philosophy of Shopping“ 1875: 489.

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Viele zeitgenössische Publikationen beklagen auch die unnachgiebige Vehemenz, mit der das Verkaufspersonal versuche, ein Geschäft abzuschließen: „We can all call instances to mind when we have ourselves fallen victims to her [the shop girl’s] advice and persuasive powers,“ wie M.A. Belloc im Idler bemerkt5; „[o]h, the tyranny of the shop girls,“ klagt Annie E. Lane in der Fortnightly Review.6 Die Schuld an diesen geradezu aggressiven Verkaufsstrategien wird jedoch nicht immer dem Verkaufspersonal zugesprochen. Häufig wird es auf den Ladenbesitzer verlagert (zwischen Ladenbesitzern und Angestellten tut sich somit eine weitere binäre Konstellation auf), da es üblich war, den Angestellten nur ein minimales Grundgehalt zu zahlen, welches durch Provisionen aufgebessert werden konnte. Offensive Verkaufsgespräche wurden für einen Großteil des Personals so zu einer finanziellen Notwendigkeit. Auch wurde ein Teil der Schuld bei der Kundschaft gesucht. Durch unkontrolliertes Konsumverhalten würden sie das Personal zu solchen Strategien anstacheln, da dieses ständig Angst haben müsste, dass die Kunden entweder den Laden mit leeren Händen verlassen oder das Geschäft mit einer anderen Verkaufsperson abschließen könnten (wodurch auch unter dem Verkaufspersonal Konkurrenzdenken und Konflikte entstanden).7 „Shoppers of this class“ seien eine „public nuisance“ und sähen „assistants as mere machines, constructed and warranted to keep in perpetual motion for fourteen hours a day, and placed behind a counter for their gratification.“8 Auch gingen sie scheinbar davon aus, Kaufhäuser seien „opened, stocked, and kept up for their accommodation and amusement.“9 Zu beachten ist zudem, dass sich der Geschlechterantagonismus auch in diesem Bereich fortsetzt: Jene Art von Kundschaft ist in der Regel weiblich stilisiert und verhält sich Verkaufspersonal beiderlei Geschlechts gegenüber rücksichtslos. Männlichen Kunden hingegen wird meist die Opferrolle gegenüber einer weiblichen Verkäuferin zugeschrieben, wie etwa einem Herrn in Lanes Artikel, der einer Verkäuferin „the most dreadful yellow gloves“ abkauft mit der Begründung: „because I’m afraid of her.“10 Und nicht zuletzt ist auch die Konkurrenz zwischen großen Kaufhäusern und kleineren Geschäften zu nennen. Als etwa in den 1860er und 70er Jahren William Whiteley damit begann, sein Textilgeschäft zu erweitern und es in Londons erstes

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Belloc 1895: 14. Lane 1904: 155. „Shopping“ 1899: 92. „Shoppers and Shopping“ 1859: 295. Ebd.: 294. Lane 1904: 154.

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großes Kaufhaus zu verwandeln, war die Nachbarschaft in Aufruhr, wie Erika Rappaport darlegt: Am Guy Fawkes Day des Jahres 1876 habe ein Mob wütender Ladenbesitzer eine Herrn Whiteley nachempfundene Guy-Puppe durch die Straßen getragen und sie schließlich öffentlich verbrannt. In Lokalzeitungen seien Whiteley’s Geschäftsmethoden von dessen Gegnern als „wholesale butchery“ betitelt worden und als die „art of shutting up your neighbour’s shop and driving him elsewhere.“11 Eine ähnliche Abscheu wird auch in Zolas Romanvorlage von The Paradise zum Ausdruck gebracht: Denise’ Onkel und viele seiner Kollegen müssen verbittert zusehen, wie sie ihre Kunden an das Paradise verlieren. Diejenigen, die versuchen, sich gegenüber dem Kaufhaus zur Wehr zu setzen, sind am Ende schlechter dran als zuvor. Die meisten enden im Bankrott, während Monsieur Mouret (die Vorlage für Moray) ihre Läden aufkauft, um sein eigenes Imperium auszubauen.12 In der BBC-Serie hingegen fehlen solche antagonistischen Konstellationen fast vollständig. Zwar beschweren sich die Besitzer der gegenüberliegenden Geschäfte auch darüber, dass sie ihre Kundschaft an das Paradise verlieren, doch keiner von ihnen ist dazu gezwungen, seinen Laden aufzugeben. In der zweiten Staffel erleben sie sogar einen Aufschwung, als sie unter der Leitung von Denise neue Geschäftsmethoden ausprobieren.13 Am Ende der Serie gibt Denise ihre Stelle als Verkäuferin auf, um ihren eigenen Laden zu eröffnen – scheinbar ohne jegliche Angst vor Konkurrenz und direkt gegenüber ihrer alten Wirkungsstätte im ehemaligen Laden ihres Onkels, der sich zufrieden zur Ruhe setzt.14 Auch die Verhältnisse der Charaktere untereinander sind harmonisch: Denise wird schnell zum Liebling der Stammkundschaft, bei der sie einen Ruf als kompetente Verkäuferin und sachkundige Beraterin genießt. Der Großteil der Belegschaft hat ähnlich harmonische Beziehungen; die Serie zeichnet geradezu ein Bild der Komplizenschaft zwischen Verkaufspersonal und Kundschaft. Auch schließt Denise von Anfang an Freundschaften innerhalb der Belegschaft. Zwar muss sie sich manchmal mit den bissigen Kommentaren anderer Verkäuferinnen abfinden,

11 Rappaport 1996: 59. 12 Eine ausführliche Analyse des Romans Au Bonheur des Dames unternimmt Maren Scheurer im selben Teil dieses Bandes. 13 Sie führen ein Treue-System ein, bei dem man Stempel sammelt und entsprechende Rabatte erhält, wenn man bei mehreren Läden in der Straße etwas kauft. Dass die Kooperative letztendlich scheitert, liegt in der Schuld der anderen Ladenbesitzer, die sich nicht dauerhaft an Denise’ modernes Geschäftsmodell halten wollen. Vgl. The Paradise: Staffel 1, Folge 7, 20:27-21:52. 14 Ebd.: Staffel 2, Folge 8, 50:23-50:47.

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teils aus Neid wegen ihres Erfolgs, doch die Auseinandersetzungen bleiben weitestgehend harmlos. Insbesondere im Fall von Denise’ Kollegin Clara wird Neid und Unehrlichkeit auch als generelle Charakterschwäche dieser dargestellt, wodurch der Kern des Problems von den allgemein konkurrenzbefördernden Strukturen in den persönlichen Bereich verlagert wird. Denise hingegen zeigt sich großzügig gegenüber Clara und ist bereit, ihr auszuhelfen.15 Auch Moray zeigt sich regelmäßig darum bemüht, seinen Angestellten in allen Problemsituationen zu helfen, verhält sich ihnen gegenüber mit geradezu väterlicher Fürsorge und wird entsprechend geschätzt. Der einzige anhaltende Konflikt in der Serie besteht zwischen Moray und dem Adel. Letzterer wird als rückschrittlich und misstrauisch gegenüber den Mechanismen der zukunftsgerichteten Warenkultur dargestellt. Morays teils sehr riskante Geschäftsmethoden hingegen werden positiv beleuchtet und er erscheint als Selfmademan, der sein Warenimperium durch Kreativität und Unternehmergeist aufbaut, im Gegensatz zum geerbten Vermögen des Adels.

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DER

W ARENKULTUR

Abgesehen von der durch die Konsumkultur gesäten Zwietracht gerieten Kaufhäuser auch als Ballungszentren moralischen Verfalls in Verruf. So wird Werbung häufig als verlogen dargestellt, wie etwa in Anthony Trollopes satirischem Roman The Struggles of Brown, Jones and Robinson by One of the Firm (1862). Der Roman handelt von den erfolglosen Bemühungen dreier Männer, sich in der Kurzwarenbranche zu etablieren. Mehrfach werden Parallelen zwischen Werbesprache und poetischer Sprache gezogen, wodurch Werbung in den Bereich des Fiktionalen statt des Faktualen rückt. George Robinson, der Werbeschreiber des Unternehmens, bemerkt: There are those […] who say that advertisements do not keep the promises which they make. But what says the poet, – he whom we teach our children to read? […] ,Assume a virtue if you have it not.‘ It would be a great trade virtue in a haberdasher to have forty thousand pairs of best hose lying ready for sale in his warehouse. Let 16 him assume that virtue if he have it not.

15 Vgl. ebd.: Staffel 1, Folge 3. 16 Trollope 1993: 4-5.

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Robinson hält dieses Motto für grundlegend, um ein finanziell erfolgreiches Geschäft aufzubauen: „To obtain credit the only certain method is to advertise. Advertise, advertise, advertise. That is, assume, assume, assume. Go on assuming your virtue. […] Advertise long enough, and credit will come“17 – ein Plan, der scheitern wird. Dieser Mangel einer realen Grundlage – sowohl an verfügbarem Kapital als auch an Wahrheit in Werbetexten – lässt die Warenkultur in einem düsteren Licht erscheinen. Auch James Dawson Burn äußerte ähnliche Sorgen in seinem 1855 anonym publizierten Buch The Language of the Walls: Their [the advertisers’] literary productions contain an exposition of the crimes against nature […]. Their phraseology is a compound of cant, bombast, professional technicalities, and scholastic jargon, well calculated to impose upon the weakminded and the ignorant.18

Unehrlichkeit und Gier der Ladenbesitzer werden zur Gefahr für die Kundschaft stilisiert, die häufig auf gefälschte Waren und gestreckte Lebensmittel hereinfiel. In der Fernsehserie hingegen wird die Qualität der Waren nie in Frage gestellt. Miss Glendenning deutet zwar an, dass sie massengefertigte Konfektionskleidung für schlechter als maßgeschneiderte Kleidung hält, kritisiert jedoch nicht die Kleidungsstücke an sich und kauft letztendlich auch etwas.19 In den meisten Szenen erscheint es, als hielte sich das Personal an die Wahrheit, wenn sie Produkte anpreisen und in den Fällen, in denen sie übertreiben, bringt dies nie negative Konsequenzen mit sich. Auch ist nicht klar, ob die Kundschaft darauf hereinfällt oder sich möglicherweise nur an dem aufgebauschten Tratsch erfreut.20 Hier kommt erneut die bereits erwähnte Komplizenschaft zwischen Verkaufspersonal und Kundschaft ins Spiel, vermittels welcher über die Probleme eines noch nicht gesetzlich geregelten Verbraucherschutzes hinweggegangen wird. Eine weitere im 19. Jahrhundert häufig artikulierte Sorge ist, dass Einkaufen zur Vernachlässigung anderweitiger Pflichten führe. 1896 berichtet das London Journal: „Women make a fetish of shopping; they shop too much, get too tired, and are too eager for bargains.“21 Einkaufsausflüge führten zu einem verschwenderischen und unwirtschaftlichen Umgang mit Geld und hielten Frauen zu lange

17 18 19 20 21

Ebd.: 7. [Burn] 1855: 3. Vgl. The Paradise: Staffel 1, Folge 1. Ebd.: Folge 7, 31:41-32:31. W. 1896: 108.

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von ihrem Heim fern, wo ihre alltäglichen Pflichten unerledigt blieben. Ein weiterer Artikel des gleichen Jahres stellt zielloses Stöbern und unnötige Käufe als Laster dar und bietet schließlich einen Leitfaden für tugendsames Einkaufen. Die Kundin solle inquire the price of the article, and calculate in her own mind whether she can afford the sum the quantity she requires will come to. She will also prefer what is good and substantial to what is showy, and likely to go soon out of vogue […]. And having made her purchases, the shopper will go home, pleased to feel she has spent 22 a profitable afternoon, without spending too much money.

Dieser Aufruf zeugt von einer Sorge, dass die aufkommende Shopping-Kultur die Etikette des viktorianischen Bürgertums destabilisieren könnte. Kaufhäuser wurden als Orte kritisiert, an denen gegen die Logik der getrennten Sphären verstoßen wurde, einerseits dadurch, dass Frauen dazu ermutigt wurden, Zeit im öffentlichen Raum zu verbringen, und andererseits durch die Kombination von Waren unterschiedlichster Art unter einem Dach, die es vielen Leuten auch erschwerte einzuschätzen, welche Art von Waren oder Dienstleistungen ein Laden eigentlich anbot und ob es ein anständiger Laden sei.23 Diese Unsicherheiten setzten sich bis in Debatten über mögliche sexuelle Verrohung fort, in denen Verführbarkeit zum Kauf auch auf sexuelle Verführbarkeit übertragen wurde und Frauen, die während eines Einkaufsbummels ziellos umherstreiften und sich in unterschiedlichen Läden be- und entkleideten, mit Prostituierten verglichen wurden.24 Auch Zolas Roman schafft eine Verbindung zwischen dem Feilbieten von Waren und dem Verkaufen des eigenen Körpers: Die meisten Verkäuferinnen haben reiche Liebhaber, die ihnen Dinge kaufen, die sie sich von ihrem knappen Gehalt nicht leisten können. Das Bedürfnis nach diesen Dingen wird wiederum durch ihre Tätigkeit im Paradise gesteigert, da sie sich dort mit begehrenswerten Neuheiten umgeben. Auch viele männliche Verkäufer geben ihr komplettes Gehalt für Konsumgüter und Vergnügungen aus. Vermittels der Darstellung dieses sich ständig erneuernden Begehrens nach Neuheiten und der Verdinglichung zwischenmenschlicher Beziehungen kann der Roman als Kritik an den Auswirkungen der wachsenden Konsumkultur gelesen werden. Auch Mouret bildet keine Ausnahme: Er hat viele Liebhaberinnen, einige von ihnen verheiratete Frauen, die er solange hält, wie sie ihm nützlich sind. Seine Geringschätzung von Frauen wird

22 „How to Shop“ 1896: 91. 23 Vgl. Rappaport 1996: 68. 24 Vgl. Rappaport 1996 und Walkowitz 1998.

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offen dargestellt: „They all belonged to him, they were his property, and he belonged to none of them. When he had extracted his fortune and pleasure from them, he would throw them on the rubbish heap.“25 Diese misogyne Grundeinstellung durchzieht auch seine Werbe- und Geschäftsstrategien: „He wanted her to be queen in his shop; he had built this temple for her in order to hold her at his mercy. His tactics were to intoxicate her with amorous attentions, to trade on her desires, and to exploit her excitement.“26 In der BBC-Serie finden sich keine vergleichbaren Vorbehalte. Zwar ist das Paradise aufregend und unkonventionell, jedoch nicht aus sich selbst heraus unanständig. Das Liebesleben der Angestellten wird in der Serie zwar auch problematisiert, ist jedoch von solcher Natur, dass es aus heutiger Perspektive harmlos und unschuldig wirkt und lediglich unter dem Masternarrativ viktorianischer Repression problematisch erscheint. Auch ist es nicht als Manifestation eines schlechten Charakters zu sehen, im Gegenteil: Einmal hilft etwa einer der Verkäufer einer Dame, im Paradise eine öffentliche Bloßstellung zu vermeiden. Die Dame verfällt ihm aufgrund seiner Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, bringt ihn in eine verfängliche Situation und küsst ihn (entgegen seinem Willen), was einen Skandal verursacht.27 Auch Morays eigene „Eskapaden“ können kaum als solche bezeichnet werden. Es stellt sich zwar heraus, dass er ein Verhältnis mit Clara hatte und dass sein Interesse an Miss Glendenning eher finanzieller als romantischer Natur ist, dies wird jedoch dadurch gerechtfertigt, dass er nicht über den Tod seiner ersten Frau hinwegkommt und sich deswegen auf keine neue feste Bindung einlassen kann. Morays anhaltende Gefühle für seine verstorbene Frau und die signifikante Abwesenheit offen dargestellter Sexualität in der Serie lassen die kommerzielle, warengebundene Verführung von Frauen harmlos, gar unschuldig und verspielt erscheinen, was durch die pastellfarbenen Kulissen und Requisiten der Serie unterstützt wird. Es ist Verführung und Begehren ohne Sex, suggestiv genug um die Vorstellung anzuregen, jedoch nicht unmoralisch und unanständig, was die diesen historischen Konsumpraxen und -diskursen inhärenten Ängste und Strukturen zu relativieren scheint.

25 Zola 2008: 77. 26 Ebd.: 234. 27 Vgl. The Paradise, Staffel 1, Folge 2.

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D IE K ÖRPER

DER

W ARENKULTUR

Eine weitere Debatte, die in der viktorianischen Presse geführt wurde, betraf die Gesundheitsrisiken für das Verkaufspersonal durch das Verbot, sich während der Arbeitszeit, die meist zwischen 10 und 14 Stunden betrug, auch nur kurz hinzusetzen: „Summer and winter, well or ill, when business is brisk and business is dull, the damsel of the counter can never sit down ‚for a rest‘.“28 Dieser Umstand wurde häufig öffentlich kritisiert und blieb dennoch lange bestehen. Auch Zola griff diese Debatte auf und ließ Denise unter schweren Erschöpfungserscheinungen leiden: The parcels of clothes made her arms ache so much that, during the first six weeks, she would cry out with pain when she turned over at night, utterly worn out, her shoulders black and blue. She was always on her feet, trotting about from morning to night, scolded if she was caught leaning up against the woodwork for a minute, and her feet […] were swollen and felt as though they were being crushed by instruments of torture; her heels were inflamed and throbbed, the soles of her feet were covered with blisters, the skin of which was peeling off and stuck 29 to her stockings.

Zola kontrastiert hier die schöne, vergnügliche Warenwelt mit dem körperlichen Verfall jener, die sie am Laufen halten. Seine mit Ekel besetzte Schilderung von Blessuren und sich ablösenden Hautfetzen steht im Gegensatz zur verführerischen Schönheit der Waren. Neben den direkten gesundheitlichen Konsequenzen wird die enorme körperliche Belastung für Verkäuferinnen noch in einer weiteren Hinsicht zum Problem, da sie deren gepflegte, attraktive und jugendliche Erscheinung gefährdet, denn, wie Belloc betont, „[t]he average manager would rather engage a beginner possessed of a pretty figure and good address, than a thoroughly experienced hand less gifted by nature.“30 Die Werbemechanismen verleiben sich den Körper der Verkäuferinnen ein, Kaufhaus und Verkäuferin werden zur räumlichen und körperlichen Komponente des Werbens. Ähnlich der permanenten Zirkulation immer neuer Waren befördert die Konsumkultur so auch einen schnellen, geradezu verschwenderischen Verbrauch junger, schöner Körper. Doch auch die Körper insbesondere der weiblichen Kundschaft werden als gefährdet dargestellt. Ein ausgiebiger Einkaufsbummel sei nicht nur finanziell,

28 Belloc 1895: 14. 29 Zola 2008: 122. 30 Belloc 1895: 13.

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sondern auch körperlich auslaugend, da viele Damen unfähig seien, sich zu zügeln. Sie ließen sich bis an ihre körperlichen Grenzen treiben, nur um etwa einen Artikel für einen Shilling weniger zu erwerben, auch wenn dies dazu führen könne, dass sie vor Erschöpfung ohnmächtig würden „and [would] have to pay a cabman half-a-crown or so for taking her home, not to mention being unequal to her household duties for a day or so, and perhaps having a doctor’s bill in addition.“31 Am Grund dieser Debatte lässt sich eine Verschränkung ökonomischer und biopolitisch motivierter Ängste über den Niedergang der bürgerlichen Kultur ausmachen. Ähnlich der Werbung, in der alternde, eingeschränkte und unattraktive Körper häufig eine Leerstelle bleiben, wird die Darstellung dieser auch in The Paradise weitgehend ausgespart. Ebenso wie die Qualität der Waren nie in Frage gestellt und deren Abnutzung nie thematisiert wird, sind auch die Verkäuferinnen, allen voran Denise, körperlich unversehrt, jung, hübsch, gesund und leistungsfähig sowie – trotz des bereits thematisierten Ausbleibens offen dargestellter Sexualität – verführerisch. Historische Problematisierungen und inhärente Ambivalenzen des Körpers insbesondere der weiblichen Verkäuferinnen werden somit ausgespart und beschönigt, und das mit eben jenen Mitteln, die historisch zur Verschärfung dieser Situation beitrugen: So steht etwa die körperliche Darstellung von Denise in einigen Szenen des Romans der in der Fernsehserie fast diametral entgegen. Im Roman wird sie oft zur Zielscheibe für den Spott ihrer Kolleginnen und Vorgesetzten, die sich – teils im Beisein von Kunden – über ihre Figur lustig machen, ebenso wie über ihre wirre Frisur und ihre Unfähigkeit, sich in ihrem Arbeitskleid ordentlich einzuschnüren und zurecht zu machen. In einer Szene schließt sich sogar Mouret diesen Verhöhnungen an und verkündet: „And she should have combed her hair.“32 In der Fernsehserie wird diese Szene jedoch in ihr direktes Gegenteil transformiert, indem Mr. Moray ihr halb flüsternd sagt: „Your hair should have the slightest imperfection in it. Something suggestive“33, und sogar so weit geht, ihr mit einer verführerischen Geste eine Strähne aus dem ordentlich frisierten Dutt zu zupfen. Auch die Versuche von Denise’ Kolleginnen sie bloßzustellen schlagen in ihr Gegenteil um. Einmal wird Denise von den anderen Verkäuferinnen dazu angehalten, einer Kundin ein Kleid vorzuführen, das ihr nicht richtig passt und das ihr beim Anziehen Probleme bereitet. Am Ende der Szene steht sie vor der Kundin, hat das Kleid nur notdürftig übergestülpt und ihre Unterwäsche lugt hervor. Statt

31 „Shopping“ 1893: 257. 32 Zola 2008: 114. 33 The Paradise: Staffel 1, Folge 1, 38:10.

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sich der Demütigung jedoch hinzugeben, beginnt Denise ein Verkaufsgespräch und erklärt bescheiden, dass, nur weil ihr das Kleid nicht passe, es dennoch reizend an einer Dame mit guter Figur und Haltung aussehen würde. Es sei von herausragender Qualität und Mr. Moray habe dieses für die nachmittäglichen Mußestunden gedachte Kleid persönlich ausgewählt und aus Paris importiert. Denise’ körperliche Nacktheit steht im Kontrast zu ihrer eloquenten Gesprächsführung und der attributlastigen Beschreibung. Nicht nur die Kundin lässt sich von dieser unterwürfigen und zugleich autoritären Sprechsituation beeindrucken und entscheidet sich zum Kauf; auch Moray, der diese Szene beobachtet, ist sichtlich beeindruckt.34 Es ist eine Verführungsszene im mehrfachen Sinne (Verführung durch Waren, Werbung, nackte Haut, Unterwürfigkeit), was durch die voyeuristische Situation Morays unterstrichen wird, der als einziger Mann diese Szene unter Frauen im Ladies’ Wear Department heimlich beobachtet. Es kommt so zu einer Beschönigung der historischen Arbeitsbedingungen und einer Naturalisierung des ambivalent erotisierten Körpers der Verkäuferin.

N ATURALISIERTE K ONSUMIDEOLOGIE Wie diese Beispiele zeigen, erschafft die Serie einen hyperrealen Raum im Baudrillard’schen Sinne, eine Version der Vergangenheit, die auf keiner profunden Realität basiert.35 Die Verzerrung historischer Diskurse macht das Narrativ zu einer Art romantisierten Ursprungsmythos, der suggeriert, dass Rivalitäten und Ausbeutung keine dem Kapitalismus inhärenten Strukturen sind. Vielmehr wird die frühe Konsumkultur als Zeit scheinbar authentischen und unentfremdeten Konsums und als Raum kreativer Selbstverwirklichung dargestellt. Die Vergangenheit wird zur phantasmatischen Projektionsfläche für, mit Baudrillard gesprochen, den trügerischen Versuch, sich authentische Erfahrungen wieder anzueignen.36 Solche Bestrebungen sind im Kontext dessen zu betrachten, was Andreas Reckwitz auch das „Kreativitätsdispositiv“ nennt.37 Reckwitz bezeichnet damit ein in der Spätmoderne dominant werdendes heterogenes Cluster von Normen, Praxen und Strukturen, welche Kreativität als sozialen und ökonomischen Wert hervorheben. Innerhalb dieser Strukturen erfolgt eine Verschränkung von Ästhetisierungs- und

34 35 36 37

Ebd.: 26:48-30:00. Baudrillard 1994: 7. Ebd.: 13. Reckwitz 2012: 15.

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Subjektivierungsstrategien sowie eine Expansion und Intensivierung „eigendynamische[r] Prozesse sinnlicher Wahrnehmung, die sich aus ihrer Einbettung in zweckrationales Handeln gelöst haben.“38 Insbesondere ändert sich in dieser Konstellation der Stellenwert des Körpers und der Sprache, wie Reckwitz betont. Im Rahmen der im 19. und weiten Teilen des 20. Jahrhunderts dominanten Zweck- und Normrationalität komme dem Körper eine instrumentelle, zielgerichtete Funktion zu. In der spätmodernen Phase des ästhetischen Kapitalismus hingegen trete der Körper „als leibliche Instanz sinnlichen Affiziertwerdens und/oder als performativer Aufführungsort einer von anderen sinnlich wahrnehmbaren Darstellung hervor.“39 Diese Betonung von Körperlichkeit und sinnlicher Erregung lässt sich auch in The Paradise beobachten, etwa in der erwähnten Werbe-/Verführungsszene. Die zwecks Geldflüssen instrumentalisierten Körper der viktorianischen Warenkultur werden hier nicht ausgelaugt, sondern zum Zentrum sinnlicher Affekte. Bei Sprache und Zeichensystemen hingegen ginge es nicht mehr um möglichst eindeutige „Welterfassung, Informationsgewinnung und Kommunikationssicherung“, sondern darum, Sprache „in ihrer Mehrdeutigkeit und ihrer Fähigkeit, narrative, ikonografische oder andere semiotische Formen hervorzubringen, die Subjekte sinnlich-affektiv anzuregen.“40 Auch diese Tendenz lässt sich in The Paradise erkennen, wenn der Wahrheitswert der Verkaufsgespräche hinter deren Unterhaltungswert verschwindet und Diskurse über die potentielle Verlogenheit der Werbesprache ausbleiben. Auch die auffällige Selbstreflexivität von Denise’ kreativen Tätigkeiten soll hier erwähnt werden. Es wird wiederholt verdeutlicht, dass ihre kreativen Einfälle nicht ihren Erfolg als Verkäuferin steigern sollen, sondern, dass die Tätigkeiten selbst – etwa das Anrichten von Waren-Displays oder das Konzipieren von Verkaufsevents – ihr immense Freude bereiten. Wann immer sie eine neue Idee hat, wird sie mit leuchtenden Augen dargestellt und kann es kaum erwarten, Moray davon zu erzählen, der sie als seinen „little champion“ bezeichnet41 und gesteht, dass er wünschte, er hätte auch nur die Hälfte ihres Einfallsreichtums.42 Diese Darstellung verhält sich konträr zu Denise’ Arbeitsbedingungen im Roman. Hier ist sie ungeschickt und zeigt anfangs wenig Potential; erst im letzten Viertel des Romans geht ihre Karriere bergauf. Die Arbeit wird weder als angenehm noch als

38 39 40 41 42

Ebd.: 23. Reckwitz 2012: 27. Ebd. The Paradise, Staffel 1, Folge 4, 07:42. Ebd.: Folge 3, 41:17.

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befriedigend dargestellt, sondern ist von repetitiven Arbeitsvorgängen wie dem Zusammenlegen von Kleidung und dem Tragen von Paketen geprägt. Auch stellt im Roman jeder einzelne Arbeitstag ein weiteres Kapitel in Denise’ Kampf dar, dem finanziellen Ruin zu entrinnen. In der Fernsehserie herrscht jedoch nahezu eine Abwesenheit finanzieller Motivation. Trotz des Gewinns, den ihre Ideen dem Laden zwangsläufig einbringen, ist für sie erfolgreiches Werben und kreative Arbeit bereits ein Gewinn an sich. Durch die Abwesenheit pekuniärer Interessen wird nicht nur einer der maßgebenden Gründe für antagonistische Verhältnisse entfernt, sondern auch das maßgebliche zweckrationale Element des spätviktorianischen Kapitalismus. Denise’ Schaffen ist durch den Anreiz ästhetischer Affekte motiviert, wodurch sie quasi als Ikone individueller Kreativität auftritt. Dieser Effekt wird durch ihre Position im Paradise verstärkt: Da sie Teil des institutionalisierten Systems des Kaufhauses ist, kann sie ihre Kreativität nicht immer frei ausleben, da das Paradise von internen Hierarchien geprägt ist und es nicht erwünscht ist, dass Denise ihre Vorgesetzte übertrifft. So muss sie bisweilen sogar im Verborgenen agieren, um ihre Ideen umzusetzen; die Verwirklichung der kreativen Idee steht also deutlich über der ihr dafür zugutekommenden Anerkennung. In dieser Darstellung fungiert sie als kreatives und subversives Individuum, das sich der Uniformität und Rationalität der großen Institution widersetzt, auch wenn sie selbstverständlich integraler Bestandteil derselben ist und zu deren Erfolg und Stabilität beiträgt. Ironischerweise wird sogar Moray selbst auf diese Weise dargestellt, obwohl er die treibende Kraft hinter der Institution darstellt: Seine Methoden werden als rebellisch inszeniert und er tritt, wie bereits erwähnt, als Selfmademan gegen das aristokratische Monopol von Macht und Geld an. Wenngleich die anhand von Denise und Moray propagierten Werte charakteristisch für eine neo-liberale, spätmoderne Konsumideologie sind, erscheinen sie durch die nostalgische, historisch anmutende Inszenierung als originär und erfahren eine entsprechende Naturalisierung. Wenngleich die viktorianische Warenkultur mit ihrem Fokus auf perpetuelle Neuheiten eine vorbereitende Funktion für die Etablierung des Kreativitätsdispositivs im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat43, ist sie dennoch an die gesellschaftlichen Konstellationen und dominanten Diskurse ihrer Zeit gebunden, die sie beeinflussen, einschränken, überlagern, zurückdrängen, verstärken und formen. Die historische Genese dieser spezifisch spätmodernen Konsumideologie und die ihr entsprechend inhärenten Traditionslinien werden in der Serie jedoch verwischt. Kreativität als Ideal und allgemeiner kultureller

43 Vgl. Reckwitz 2012: 30-38.

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Wert steht im klaren Gegensatz zu den Werten und Handlungspraxen des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Die Angst vor dem durch die Konsumkultur verbrauchten und verkommenen Körper sowie die zweckrationale Ausrichtung überwiegt hier noch über Gedanken der Selbstverwirklichung und -transformation vermittels eines bestimmten, ästhetisierten Umgangs mit Konsumgütern. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich beobachten, wie dieser Gedanke sich zu einem dominanten Phänomen entwickelt, was ihn eindeutig gegenwärtiger Konsumideologie zuordenbar macht. Die Darstellung dieser Ideale als originär, gepaart mit dem beschönigten Bild der viktorianischen Warenkultur als zeitlose, pastellfarbene, nostalgische Utopie macht The Paradise nicht einfach zu einer historisch inakkuraten Darstellung der Vergangenheit, sondern zu einem Narrativ mit ideologischen und (kultur-)politischen Dimensionen. Werbung ist nicht nur eines der zentralen Themen in The Paradise, sondern die Serie bewirbt selbst eine bestimmte Haltung gegenüber der Konsumkultur und ihren kulturellen Mechanismen. Die Produktion und Popularität von The Paradise und ähnlichen Formaten lässt sich somit einerseits als Manifestation gegenwärtiger Konsumideale lesen, die jedoch andererseits auch gleichzeitig zu deren Stabilität und Kontinuität beiträgt, indem eine Naturalisierung kreativer Bestrebungen und Konsumpraxen stattfindet. Das Kreativitätsdispositiv mit seinen komplexen Verästelungen, die sich im Streben nach Kreativität verdichten, wird nicht als fragwürdiger und konfliktbeladener, kulturell und historisch gewachsener Komplex dargestellt, sondern in seinen Wirkungsweisen verschleiert.

L ITERATUR Baudrillard, Jean (1994): Simulacra and Simulation, aus dem Französischen ins Englische von Sheila Faria Glaser, Ann Arbor: U. of Michigan P. Belloc, Marie A. (1895): „The Shop-Girl“, in: The Idler August 1895, 12-17. http://search.proquest.com/britishperiodicals. Burn, James Dawson (1855): The Language of the Walls: and a Voice from the Shop Windows. Or, the Mirror of Commercial Roguery. By One Who Thinks Aloud. Manchester: Abel Heywood. „How to Shop“, in: The London Journal vom 1. Februar 1896, 91. Lane, Annie E. (1904): „Temporary Power“, in: The Fortnightly Review Juli 1904, 154-162. http://search.proquest.com/britishperiodicals.

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Rappaport, Erika D. (1996): „‚The Halls of Temptation‘: Gender, Politics, and the Construction of the Department Store in Late Victorian London“, in: Journal of British Studies 35.01, 58-83. http://www.jstor.org. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. „Shoppers and Shopping“, in: Tait’s Edinburgh Magazine Mai 1859, 291-297. http://search.proquest.com/britishperiodicals. „Shopping“, in: The London Journal vom 1. April 1893, 257. http://search. proquest.com/britishperiodicals. „Shopping“, in: The London Journal vom 4. Februar 1899, 92. http://search. proquest.com/britishperiodicals. „Shopping. By a Married Contributor“, in: The City Jackdaw vom 10. März 1876, 162. http://search.proquest.com/britishperiodicals. THE PARADISE (2012-2013) (UK, R: Bill Gallagher). „The Philosophy of Shopping“, in: The Saturday Review vom 16. Oktober 1875, 488-489. http://search.proquest.com/britishperiodicals. Trollope, Anthony (1993): The Struggles of Brown, Jones and Robinson by One of the Firm, London: Penguin. Walkowitz, Judith R. (1998): „Going Public: Shopping, Street Harassment, and Streetwalking in Late Victorian London“, in: Representations 0.62, 1-30. http://www.jstor.org. W., K.T. (1896): „Shopping“, in: The London Journal vom 1. August 1896, 108. http://search.proquest.com/britishperiodicals. Zola, Émile (2008): The Ladies’ Paradise, aus dem Französischen ins Englische von Brian Nelson, Oxford/New York: Oxford UP.

Zwischen Körper und Kapital Erzählte und erzählende Werbung in Richard Powers Gain R ICARDA M ENN

E INLEITUNG Betrachtet man die Gegenwart als „finanzialisierte“ Zeit, in der Mechanismen der Finanzwelt zunehmend Einfluss auf Individuen, Institutionen und Denkweisen haben1, so ist es nicht überraschend, dass sich literarische Darstellungsverfahren intensiver dem Verhältnis von Individuum und Marktinstitution widmen. Vor allem in einem amerikanischen Kontext scheint dies akut, und lässt sich auch literaturgeschichtlich begründen. So behandelt bereits der amerikanische Naturalismus den Einfluss von wachsenden Finanzkonzernen und Marktmechanismen – sei es in Theodore Dreisers Trilogy of Desire (1912-1947) und der illustrierten Gier des Protagonisten oder der de-individualisierenden Eisenbahn-corporation in Frank Norris’ The Octopus (1901). Geld und Macht sind des Weiteren ein zentraler Topos in F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby (1926) und der Parabel einer „voice full of money.“2 Der Charakter der Protagonistin Daisy wird in diesem Ausspruch auf monetäre Versprechen und die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs gemünzt. Eng verbunden mit einem inhärent amerikanischen Wunsch und Versprechen nach Wohlstand und aufwärtsgerichteter sozialer Mobilität, behandelt vor allem die amerikanische Literatur dezidiert diese Konzepte. Während die postmodernen Romane von Don DeLillo, White Noise (1985) und Cosmopolis (2003), eine ästhetisch anspruchsvolle Verhandlung von marktgesteuertem Konsum zeigen, wenden sich sehr zeitgenössische Texte wie The Circle (2013) von Dave Eggers

1 2

Martin 2000: 3. Fitzgerald 1926: 115.

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zunehmend einer dystopischen Gesellschaft zu, in der die Interessen von transnationalen Organisationen zu Lasten persönlicher Freiheiten und der Privatsphäre gehen. Dabei ist das Verhältnis von Individuum zum Finanzsektor jedoch immer auch ein ambivalentes – vor allem in The Circle wird deutlich, wie ein Einschnitt in die Privatsphäre zugleich eine vermehrte soziale Sichtbarkeit und Vermarktung der Partizipierenden bedeuten kann. In ähnlicher Weise skizziert die Kanadierin Margaret Atwood in ihrem neusten Roman The Heart Goes Last (2015) eine Zukunftsvision, in der Organhandel und freiwillige Inhaftierungsinstanzen ein Versprechen von Sicherheit evozieren, zugleich aber auch die Körperlichkeit der Individuen angreifen. Auch wenn die Marktinstanzen im alltäglichen Leben nicht immer materiell greifbar scheinen, so zeigt sich in zeitgenössischen Romanen doch eine Tendenz der zunehmenden psychischen und körperlichen Affektion von Subjekten durch bestimmte Marktmechanismen. Als Beispiel für ein spannungsreiches Verhältnis zwischen Körperlichkeit und Kapitalismus soll im Folgenden Richard Powers Gain3 von 1998 genauer in den Blick genommen werden. Parallel werden zwei Handlungsstränge4 dargestellt: Zum einen erzählt Gain die Firmengeschichte der Seifenfirma Clare & Co Company, von den frühkapitalistischen Gründungstagen bis hin zu einer zeitgenössischen, transnationalen corporation. Zum anderen wird das Leben und Krebsleiden von Laura Bodey illustriert, welche in unmittelbarer Nähe zu einer Clare-Fabrik wohnt und deren häusliche Sphäre durch Konsum und Konsumgüter charakterisiert ist. Die nähere Umgebung des Firmensitzes in Lacewood ist durch ein erhöhtes Auftreten von Krebserkrankungen gekennzeichnet, was nur implizit auf die einhergehende chemische Umweltbelastung der Seifenherstellung zurückzuführen ist. Neben diesen zwei Plots beinhaltet Gain eine weitere textuelle und erzählerische Ebene: In kurzen, unregelmäßigen Abständen enthält der Roman, neben biographischen und historischen Notizen zur Firmengeschichte, verschiedene Instanzen von fiktionaler Werbung. Die abgebildeten Reklamebeispiele erfüllen dabei eine doppelte Funktion innerhalb des Texts: Zum einen imitiert die enthaltene Werbung die Logik realer Werbung, zugleich problematisiert sie aber auch die Grenzen literarischer und textueller Repräsentation. Daher sollen einige dieser

3

4

Auch wenn ein Großteil der Romane von Powers ins Deutsche übersetzt worden ist, so ist Gain bislang nur auf Englisch erschienen. Daher werden ausgewählte Textstellen in der Originalsprache zitiert. Diese Technik lässt sich allgemein bei Powers beobachten, und reicht bis hin zu seinem Debüt Three Farmers on their Way to a Dance (1985) zurück, in welchem drei Erzählstränge kontrastiert und erst am Ende leicht zusammengeführt werden.

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fiktionalen Anzeigen im Hinblick auf die Frage diskutiert werden, was die Werbung im Roman von konventioneller Werbung absetzt und wie sie so Eigenheiten literarischer Ästhetik fördert und forciert. Zum anderen führt gerade die ästhetische Eigenheit zu einer weiteren Funktion der Werbung: Die Werbung verbindet die beiden Erzählstränge miteinander, da die Produkte der Clare Corporation nicht nur beworben werden, sondern auch materiell und ideell in Lauras Leben verankert sind. In einigen wenigen Textpassagen wird zudem ein ironischer Effekt erzielt, indem Werbung konkret Lauras Lebensumstände kommentiert. In gewisser Weise lässt sich die enthaltene Werbung als Symbol sehen, die sowohl den Tod als auch das Leben innerhalb des Romans darstellt und zugleich eine Spannung zwischen Körperlosigkeit und Körperlichkeit bedingt. Bei der folgenden Analyse stehen die Allgegenwärtigkeit des Mediums, sowie die eingearbeiteten Marketingmechanismen im Vordergrund.

W ERBUNG ZWISCHEN L ITERATUR A LLTAGSSPRACHE

UND

Während die Wechselwirkung von Literatur und/zu Werbung oft in Bezug auf Werbung über Bücher, zum Beispiel an der Außenaufmachung des Buches5 illustriert wird, so nimmt im Internetzeitalter der multimediale und interaktive Austausch über Bücher und Literatur einen zunehmenden Stellenwert im Buchmarkt ein.6 Dreht man dies jedoch um, und sucht nach Werbung in Büchern, so wird man weniger häufig fündig. Neben Werbung als Handlungselement ist Reklame als eigene, ästhetische Ebene im Text eher unüblich. In Gain hingegen spielt Werbung eine zentrale Rolle, die bislang eher wenig diskutiert und rezipiert worden ist. Während Heise die Präsenz der Werbung im Roman verdeutlicht7, so wird dies nicht als literarische Eigenheit verstanden, sondern vielmehr als Plotelement.8 Kucharzewski verdeutlicht überzeugend, wie Werbung als „Vermittler“ zwischen

5 6

7 8

Meyer 2010: 83. Zur Rolle von Digitalisierung und Buchmarkt, vgl. Janello, Christoph (2010): Wertschöpfung im Buchmarkt, Wiesbaden: Gabler. Für einen dichten Überblick über Veränderungen im Literaturbetrieb vgl. Theison 2013. Heise 2008: 170, 174. Heise begreift die Werbung in Gain zudem als „insertion of ‚authentic‘ discourse“ im Sinne einer modernistischen Literaturtradition (Heise 2008: 175). Der Fokus auf Authentizität der Werbung bleibt aber etwas simplifiziert, da Heise nicht zwischen einer

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den beiden parallelen Erzählsträngen fungiert und so eine Verbindung zwischen Protagonistin und Finanzwelt hergestellt wird9, untersucht Werbung aber ebenfalls nicht als eigene Erzähltechnik vor dem Hintergrund literarischer Eigenheiten. In Poetik der Werbung (2010) untersucht Urs Meyer, wie Werbung von literaturwissenschaftlicher Perspektive aus verstanden werden kann, vor allem in Bezug auf ästhetische und poetische Aspekte, die in vorhergegangenen Diskussionen aufgrund der vermeintlichen „Ideologie- und Zweckgebundenheit der Werbung“10 vernachlässigt wurden. Damit verdeutlicht er, dass Werbung als Medium immer schon an einem Zweck orientiert ist, nämlich der Vermarktung eines Produktes oder eines Lebensstils.11 In diesem Zusammenhang wird die „ideologische“ Komponente von Werbung oft als Verkörperung des Kapitalismus bewertet, und wird zudem als „Massenkommunikation in der Alltagskultur“12 verortet. Insoweit sei es nicht verwunderlich, dass Werbung aufgrund ihrer Marktnähe und Omnipräsenz im Alltag oft als Gegensatz zu Literatur und „der hohen Kultur“13 betrachtet wird. Meyer argumentiert im Gegensatz dazu auch, dass Werbung ebenso wie Literatur als „Zeichensystem“ funktioniert, wenngleich mit verschiedenen Funktionen.14 So benutzt Werbung sprachliche Figuren wie „Metaphern oder Analogien“, aber auch „Wortneubildungen“ und „Slogans“, um die Funktion des Werbens wirkungsvoll zu gestalten.15 Dadurch wird Werbung in gewisser Weise zu einer „Zwischensprache“ zwischen Literatur- und Alltagssprache, da erst die „Künstlichkeit“ der verwendeten Sprache zu einer effektiven Kommunikationssituation beitrage.16 Kloepfer und Landbeck analysieren in ähnlicher Weise die ästhetischen und poetischen Effekte von Werbung, die sie als allgegenwärtig ansehen.17 Sie gehen zudem davon aus, dass Werbung das Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Sphäre verändert: Dies betrifft zum einen die Omnipräsenz von Werbung in öffentlichem und privatem Alltag, verdeutlicht aber dadurch auch eine enge Beziehung zwischen Firmenöffentlichkeit und Privatperson. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden auch für die Romananalyse zentral sein, da in Gain recht

9 10 11 12 13 14 15 16 17

Imitation von Authentizität und den daraus resultierenden Besonderheiten fiktiver Werbung differenziert. Kucharzweski 2011: 344, 346. Meyer 2010: 16. Meyer 2010: 17. Meyer 2010: 16. Ebd. Ebd. Meyer 2010: 22, 149. Meyer 2010: 58. Kloepfer und Landbeck 1991: 11,13, 23, 25.

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exemplarisch eine juristische, öffentliche Firmenkonstellation im Kontrast zu einer Privatperson verhandelt wird. Neben einer „intermedialen“ Gestaltung, die neben Sprache vor allem Bilder, und, je nach publizierendem Medium, auch Musik und Film beinhaltet, sei Werbung an sich zudem durch eine „monopolistische Unternehmenskonzentration“ gekennzeichnet.18 Während Werbung also von einem Unternehmen auf eine Vielzahl von Konsumenten wirkt19, ist hierbei aus literaturwissenschaftlicher Sicht vor allem die Rolle des „Autors“ von Reklame interessant. Meyer spricht hier von einer „anonymen“ Senderrolle20, sodass der Urheber der Werbung nur allgemein auf die werbende Firma bezogen wird, allerdings nicht personengebunden ist. Indem ein nicht-definierbarer Autor auf ein unbestimmtes Zielpublikum wirkt, verdeutlicht Werbung so eine de-individualisierte und zunehmend entfremdete Beziehung zwischen Produktion und Konsum. Im amerikanischen Kontext ist das Verhältnis von Individuen zur Finanzwelt besonders präsent und drückt sich in festgelegten kulturellen Ausdrücken wie dem „organization man“ und einer gesichtslosen corporation aus.21 Diese teils negativen Konnotationen zu Großfirmen lassen sich vor allem an der Firmenstruktur der amerikanischen corporation festmachen. Die deutsche Übersetzung als „Körperschaft“ fasst allerdings die inhärenten Implikationen der legalen Konstitution nicht weit genug. Vielmehr ist das Recht zur incorporation22 seit dem 19. Jahrhundert in der amerikanischen Verfassung verankert23 und garantiert dieser Firmenform „legal immortality and illimitable expansion without the restrictions of a physical form.“24 Wenngleich die corporation wie eine Person vor Gericht behandelt wird, ist sie aufgrund ihrer Körperlosigkeit quasi unsterblich. Daher stellt dies eine eigene Firmenstruktur da, die zudem durch potentiell endloses Wachstum den Eindruck einer Nichtfassbarkeit erweckt.

18 Meyer 2010: 90. 19 Des Weiteren folgt auch der Bereich der Werbung eigenen Marktmechanismen, in denen Angebot und Nachfrage sich dezidiert an einigen wenigen großen Konzernen ausrichten. 20 Meyer 2010: 17. 21 Trachtenberg 1982: 5. Trachtenberg untersucht zudem sehr überzeugend und ausführlich, wie genau die incorporation amerikanische Kultur und Denkweisen beeinflusst hat. Der hier präsentierte Kurzeinblick zu den Eigenheiten der corporation ist gedacht, um ein besseres Verständnis für die Eigenheiten der im Roman dargestellten Firma herzustellen. 22 Trachtenberg 1982: 3f. 23 Mrozowski 2011: 163. 24 Mrozowski 2011: 162.

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Im Kontext von Gain gewinnt die Körperlosigkeit der Clare Corporation auch symbolischen Charakter. Als Vorzeichen für die körperliche Affiziertheit Lauras durch die corporation kann ihr Nachname gelesen werden. Wie auch Heise bemerkt25, liest sich „bodey“ phonetisch ähnlich zu „body“, zu Deutsch „Leib“ oder „Körper“. Lauras körperliche Verwundbarkeit wird von Anfang an als Kontrast zur körperlosen und legal unsterblichen Clare Corporation positioniert. So beobachtet Kucharzewski hier auch eine Spannung zwischen biologischer Körperlichkeit und legaler Körperlichkeit.26 Dies steht auch in einer engen Verbindung zu Wachstum: […] [Laura’s] body is literally consumed by metastatic growth, […] which acquire connotative meanings in the Clare story line. As Laura’s physical body is disintegrating, Clare is transformed into ‚one composite body‘ (Powers 158) through the law of ‚corporate personhood‘.27

Während die Clare Corporation Wachstum und finanziellen Erfolg durch eine transnationale Ausbreitung und einen stetigen Ausbau an Produkten vorantreibt, stehen Lauras körperlicher Abbau und ihre zunehmende Schwäche in einem Gegensatz dazu. Jedoch suggeriert die Struktur des Romans, dass sich diese beiden Aspekte dialektisch bedingen und Clares Wachstum auf Kosten des Individuums geht. Ralph Clare28 betrachtet dieses Verhältnis von corporation zu einzelnem Bürger als eine negativ konnotierte Metapher für die komplexen Verzahnungen in einer spätkapitalistischen Gesellschaft29 und bewertet Lauras Krebserkrankung als Kritik am Kapitalismus der corporations.30 Des Weiteren ist es in diesem Zusammenhang sicher kein Zufall, dass die Clare Corporation gerade ihre Ursprünge in der Seifenherstellung hat. Im Namen Clare klingt stark das englische clarity an und evoziert, in Kombination mit reinigenden und chemischen Produkten, die Illusion von Transparenz und Klarheit. Dies steht erneut im Gegensatz zu Lauras

25 26 27 28 29 30

Heise 2008: 172. Kucharzewski 2011: 349. Kucharzewski 2011: 346. Der Autor des Aufsatzes und die Firma tragen zufälligerweise den gleichen Namen. Clare 2013: 30. Clare 2013: 36. Dabei ordnet er Gain auch in eine spezifische Tradition dezidiert amerikanischer Literatur und Kultur ein, die wie Frank Norris’ The Octopus (1901) das Verhältnis von corporation und Individuum kritisch in den Blick nimmt.

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Körperlichkeit und dem unkontrollierbaren Krebs, der auch den reinigenden Effekten der Clare-Chemie widersteht. Daher ist die implizierte clarity von Clare als weiterer Kontrapunkt zu Lauras bod[e]y angelegt.31 Neben diesen Namenssymboliken bieten die bereits angesprochenen Werbebeispiele eine weitere Verhandlung des Verhältnisses von Individuum zu Finanzwelt, welche auch mit symbolischen Doppeleffekten innerhalb des Romans spielen und zudem eine weitere Erzählebene konstituieren. Ein erstes Beispiel für eine solche Werbung stellt eine ganzseitige Anzeige zu „Things to do Today“32 dar, welches typographisch abgesetzt in einer Passage zu Clares Firmengeschichte zu finden ist. Der Text enthält bis zu diesem Punkt bereits zwei Absetzungen, in Form eines Emerson-Zitats33 und der Verschriftlichung eines historischen Ortsschilds von Lacewood.34 Allgemein wird durch diese dritte Ebene der Erzählfluss sowohl von Clares als auch von Lauras Erzählung durchbrochen, sodass visuelle und inhaltliche Brüche entstehen. Auf inhaltlicher Ebene dienen die intertextuellen Zitate als eine Art Untermauerung der Historizität von Clares Firmengeschichte. Durch solche Einschübe wird gezeigt, wie eng die Entstehung und Entwicklung mit einer amerikanischen Tradition verknüpft ist. Zudem kreieren diese Zitate ein Gefühl von Faktizität innerhalb des Romans. Dies wird durch die intertextuellen Verweise und die Tatsache, dass die Erzählung von Clare durch einen heterodiegetischen Erzähler dargestellt wird und allgemein eher wie eine faktische Firmengeschichte wirkt, untermauert.35 Auch, wenn es unterschiedliche Formen und Funktionen dieser dritten Ebene gibt, so kann sie dennoch als eigene Erzählebene innerhalb des Romans beschrieben werden. Allgemein verschränken die verschiedenen Einfügungen die beiden eigentlichen Plots, sodass diese Erzählebene als verbindendes Element wirkt und zugleich auch typographisch und visuell eine Spannung innerhalb des Textes aufbaut. Wenn man sich also dieses erste Beispiel von fiktionaler Werbung genauer anschaut, fallen verschiedene Dinge auf. Als Unterüberschrift zu den Alltagsanweisungen findet sich eine kursiv gedruckte Bildbeschreibung: „Sixteen

31 Zudem wird Clare im englischen Sprachraum auch als weiblicher Vorname genutzt, sodass in einer weiterführenden Analyse auch die Geschlechterdynamiken des Texts in den Blick genommen werden könnten. 32 Powers 1998: 10. 33 Powers 1998: 7. 34 Powers 1998: 4. 35 Als weitere Beispiele seien hier noch ein Organigramm der Firma aus dem Jahre 1909 (Powers 1998: 312), sowie ein fiktives Aktienzertifikat (Powers 1998: 272) als Symbol für den Börsengang, erwähnt.

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rectangles run across a two-page spread, bordered like a colonial sampler. Each carries one imperative underneath a familiar package.“36 Durch diese Beschreibung wird eine Lücke deutlich, die die gesamte Werbung in Gain betrifft. Die einzelnen Werbebeispiele sind lediglich auf textueller Ebene abgebildet sodass audiovisuelle Komponenten fehlen. Diese werden durch eine kursive Beschreibung ergänzt, sodass diese beschreibende Instanz auch als eine eigene, wenn auch unpersönliche, Erzählstimme begriffen werden kann, die zwischen verschiedenen Perzeptionen vermittelt. Indem sich die kursiven Beschreibungen auch bei anderen Anzeigen finden, sind diese Werbebeispiele auch in gewisser Weise fokalisiert. Da eine unpersönliche Erzählstimme die Werbung teils beschreibt und kommentiert, übt sie Autorität über die Wirkung derselben aus. Somit sind auch die Reklamebeispiele narrativ konstruiert und konstituiert, sodass der Roman eine Doppelung von Erzählbarkeit kreiert: Auf der einen Seite wirkt die Werbung als vermittelnde Instanz zwischen den zwei Plot-Elementen. Damit geht auf der anderen Seite einher, dass die Werbung an sich auch erzählt und erzählbar gemacht wird. Im Gegensatz zu marktüblicher Werbung ist Reklame in Gain zudem keine komplett anonyme Institution. Neben den Einblicken in Lauras Leben, gibt es auch in Clares Firmengeschichte eine kurze Bemerkung zu Werbemethoden: So wird die Beteiligung von Kunden, mithilfe von Gedichten und Zeichnungen37 als eine partizipatorische Verbindung von Firma und Kunden begründet. Auch wenn dies nur eine kurze Episode darstellt, wird dennoch deutlich, dass die Werbung bei Clare nicht nur zentral zur Produktvermarktung dient, sondern auch Kundenbindung und Identifikation mit dem Unternehmen erreichen will. Außerdem wird Werbung personalisiert, da sie in enger Verbindung und Entwicklung mit Clare an sich steht, und sowohl die Historie als auch die Kunden in eine strukturelle Wechselwirkung setzt. Dadurch, dass der Roman somit Werbung in allen Handlungssträngen zentralisiert, wird deutlich, wie interdependent Firma und Individuen sind. Die Werbung im Roman zeichnet aus, dass sie planvoll narrativ eingesetzt wird, um die Wechselbeziehung zwischen Firmenwelt- und Privatwelt zu beleuchten. Kehrt man nun zu den „Things to Do Today“ zurück, so wird diese Kombination von Firmenöffentlichkeit und Privatheit der Protagonistin im ersten Beispiel besonders deutlich. Die insgesamt 16 Artikel werden auf doppelte Weise beworben: Zum einen funktionieren imperative Slogans, wie zum Beispiel „Rise and

36 Powers 1998: 4. 37 Powers 1998: 317.

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Shine“ oder „Put Your Best Foot Forward“38 als Herausforderung an den Konsumenten, einem bestimmten Lebensstil nachzueifern. Suggeriert wird, dass persönliche Ausstrahlung und der damit verbundene Lifestyle von Gesundheit und Vitalität am besten durch die Clare-Produkte erreicht werden können. Unter diesen Slogans sind, erneut kursiv gesetzt, die fiktionalen Produktnamen aufgeführt. Während die genaue Funktion dieser Produkte nicht klar wird, so imitieren auch die Namen an sich konventionelle Werberhetorik, in der Form von Alliterationen („Slickote Surface“, „Leather Lifts“39) und Assonanzen („Heat ’n’ Eat“40). Neben Reinigungsmitteln für Haus, Haut und Haar produziert Clare auch Schuhe („Put Your Best Foot Forward“) sowie Fertignahrung („Heat ’n’ Eat“41). Dadurch ist die Firma nicht nur geographisch, am Beispiel von Lacewood, omnipräsent, sondern auch im konsumorientierten Alltag verankert. Diese Ubiquität wird sowohl durch die Produktpalette an sich symbolisiert, als auch durch die wiederkehrenden Werbebeispiele im Verlauf des Romans. Die Allgegenwärtigkeit von Clare-Produkten, die für jede Situation und Lebenslage zur Verfügung stehen, lässt sich daneben auch in Bezug auf Lauras häusliche Sphäre konkretisieren. In der ersten erzählten Episode mit Laura wird dies besonders deutlich: Two pots in her medicine cabinet bear the logo, one to apply and one to remove. Those jugs under the sink – Avoid Contact With Eyes – that never quite work as advertised. Shampoo, antacid, low-fat chips. The weather stripping, the grout between the quarry titles, the nonstick in the nonstick pan, the light coat of deterrent she spreads on her garden. These and other incarnations play about her house, all but invisible.42

Eine der primären Beschreibungen von Lauras unmittelbarer Umgebung ist ausschließlich charakterisiert durch Clare-Produkte: Vom Inhalt des Medizinschranks zu Tabletten, Shampoo und fettarmen Chips, von der Teflon-Pfanne bis hin zum Fugenmörtel und dem Unkrautvernichtungsmittel im Garten – all diese chemischen Mittel stammen aus dem Hause Clare. Neben dem Verweis auf das Logo der Firma ist auch Lauras Verhalten allgemein durch Werbestrategien be-

38 39 40 41 42

Powers 1998: 10. Ebd. Ebd. Ebd. Powers 1998: 6.

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einflusst: „She hums the corporate theme song to herself sometimes, without realizing.“43 Zusammen mit dem Verweis auf die Gefäße unter dem Spülkasten, die ebenfalls ein unspezifiziertes Reinigungsmittel darstellen, jedoch ihre Wirkung nicht wie beworben erfüllen, ist auch Lauras Unterbewusstsein durch den Werbejingle von Clare geprägt. Dies wird in der Beschreibung ihrer Selbstwahrnehmung deutlich: „She lives wrong, from block to tape. From hair spray to toenail polish.“44 Anstatt der Redewendung „from hair to toe“, von Kopf bis Fuß, wird das persönliche Aussehen nicht auf Körperteile bezogen, sondern stattdessen auf Waren. Entsprechend wird ihre eigene körperliche Identität zunehmend durch Konsumprodukte verdrängt. Zudem wird der eigene, falsche Lebensstil auf Kaufentscheidungen zurückgeführt, und nicht auf persönliche Defizite. Diese Verhaltensweise eröffnet allerdings auch eine Spannung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Beeinflussungen durch die Werbung. Während die Reinigungsprodukte sowohl durch eine Notwendigkeit als auch eine bewusste Kaufentscheidung für Clare gekennzeichnet sind, gibt es auch negativ konnotierte Beispiele von unfreiwilliger Werbung. So wird Lauras Krankheit und ihr Leiden zuhause durch das Eindringen von Werbeflyern, unerwünschter Post und kommerziellen Telefonanrufen verschlimmert.45 Damit wird auch deutlich, dass nicht nur Lauras Verhalten durch die corporation beeinflusst ist, sondern dass die Werbemethoden der Firma sich auch räumlich bemerkbar machen. Lauras Zuhause ist sowohl durch gewollte als auch ungewollte Werbung gekennzeichnet, sodass das Haus als privater Rückzugsort gleichsam abhängig von der Konsumwelt und dadurch angreifbar ist. Daher kann ihre Krebserkrankung nicht nur auf die materielle und räumliche Nähe zu Clare und den Produkten bezogen werden, sondern scheint auch symbolisch in der Instabilität und Angreifbarkeit ihrer privaten, häuslichen Sphäre abgebildet. Somit wird die Ubiquität von Werbung nicht nur in der Form des Romans samt enthaltener Reklameinstanzen aufgegriffen, sondern auch am Leben der Protagonistin selbst. So stellt Werbung einen engen Zusammenhang zwischen der körperlichen Affiziertheit durch die nicht-körperliche corporation dar, da die corporation durch Produkte und deren Bewerbung materiellen und ideellen Einfluss über die räumliche und körperliche Sphäre der Protagonistin gewinnt. Zudem ist es auch zentral für diese Verbindung, dass Clare stark von chemischen Prozessen und den daraus resultierenden Produkten geprägt ist. So stehen bei der Vermarktung der Firma Reinigungsprodukte im Vordergrund, vorwiegend

43 Ebd. 44 Powers 1998: 42. 45 Powers 1998: 153.

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in Bezug auf den Firmenursprung der Seife. In „Depth Advertising“ bemerkt Roland Barthes, dass vor allem die Werbung von Schönheits- und Hygieneprodukten eine besondere Intimität beansprucht, da die beworbenen Artikel direkt auf die Hautoberfläche sowie den ganzen Körper und seine Tiefenstruktur einwirken.46 Dabei ist für ihn auch zentral, dass die Produkte nicht nur physisch, sondern auch metaphorisch auf den Konsumenten einwirken: Er beobachtet vielmehr, dass gerade Werbung für Schönheitsprodukte gesättigt ist an Symbolen für Reinheit, um so ein Versprechen für Jugend und Schönheit mit den Produkten zu assoziieren.47 Des Weiteren ist es nicht überraschend, dass sich ein Teil der Werbemaßnahmen in Gain an biblischen Vergleichen bemüht, um der körperlichen Reinheit auch eine religiöse Komponente beizufügen. So wird, erneut in kursiv, eine Szene der Wiederauferstehung der Toten beschrieben: „The recent corpses gaze astonished at their newly spotless limbs, the Last Judgment’s supreme windfall.“48 Direkt nach dieser Beschreibung der Leichen folgt ein typographisch abgesetzter Werbetext für Clare-Seifen: „BE CLEAN IN THE EYES OF CREATION. FOR HE IS LIKE 49 A REFINER’S FIRE, AND HIS GRACE LIKE FULLER’S SOAP.“ Im Augenblick des Jüngsten Gerichts wird eine überraschende Reinheit des anderweitig toten Körpers als unerwartetes, göttliches Geschenk empfunden. Während dies eine Kontinuität und Dialektik zwischen Leben und Tod bedeutet, wird hier eine starke Verbindung von Reinheit und religiösen Komponenten hergestellt. Die körperliche Reinheit beim Übergang in den Tod sowie ein potentielles Leben nach dem Tod wird als göttliche Gnade gewertet, und bedeutet zudem einen Erlass der Sünden und einen damit verbundenen, sprichwörtlich und symbolisch reinen Neubeginn. Vergebung und Gnade werden strukturell mit dem Produkt Seife gleichgesetzt. Der Ausdruck der „recent corpses“ fungiert zudem als Oxymoron, da das Stadium eines leblosen Körpers mit einem Ausdruck gleichgesetzt wird, den man mit „jüngst“ oder „kürzlich“ übersetzen kann. Somit werden Leben und Tod in einer rhetorischen Redewendung konterkariert, stehen also in einem paradoxen Zusammenhang, in dem beide einander bedingen, jedoch auch potentiell abstoßen. Allgemein lässt sich dieses sprachliche Bild auch in einen größeren Zusammenhang des Romans setzen: So wie die Clare Corporation zunehmend wächst, so wird Laura im Verlauf des Textes zunehmend schwächer. Daher ist die Spannung zwischen corporate profit und privatem Leben auch sprachlich in der Metaphorik des Romans verankert, die in den Werbebeispielen überspitzt wird.

46 47 48 49

Barthes 1957: 89. Ebd. Powers 47f. Powers 48.

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Heise beobachtet, wie Werbung als ironischer Gegenpol zu Lauras Krebsleiden fungiert.50 Als Beispiel lässt sich eine Werbung für einen Schwangerschaftstest51 nennen, die strukturell in den Sterbeprozess von Laura eingegliedert ist, und so auf zynische Weise eine Dialektik von Leben und Tod eröffnet. In einer vorhergehenden Passage wird dies bereits angedeutet: „Chemical processes are not the problem. They’re the rules of the game. It’s elementary: your life is chemistry. So is ours.“52 Erneut wird hier eine Spannung zwischen Leben und Tod impliziert: Wenngleich chemische Entwicklungen einen Fortschritt an Wissen und Profit bedeuten, wird an Lauras Erkrankung deutlich, dass chemische Prozesse auch unkontrollierbare Einflüsse auf die Umwelt und die darin lebenden Individuen nehmen. Entsprechend erhält der Ausspruch „your life is chemistry. So is ours“ eine zynische Bedeutung. Selbst im Sterben kann Laura der corporation nicht entfliehen, da sowohl die Laura verschriebenen Medikamente von Clare stammen, als auch das Krankenhaus von der Firma gefördert wird.53 Laura ist zwar abhängig von chemischen Produkten, zugleich verursachen diese aber auch ihre körperlichen Gebrechen. Erneut enthält die Selbstvermarktung der Firma also einen zynischen Kommentar auf die Spannung zwischen Privatperson und Firmenprofit. In Bezug auf diese eindeutigen Verweise der Werbung auf Lauras Situation stellt Kucharzewski heraus: […] the parallels between Laura’s everyday life and the polished advertising unrealities constructed by Clare cause a confusion of causality, leaving it unclear whether the spots, print-ads, and promotional texts reflect Laura’s reality or whether Laura’s life is an imitation of these commercials.54

Kucharzewski macht dadurch deutlich, dass die Verbindung zwischen Clare und Laura durchaus ästhetisch planvoll vollzogen ist. Durch die Parallelen zwischen einzelnen Werbebeispielen zu Lauras Situationen eröffnen sich allerdings zwei mögliche Lesarten: Entweder scheint Lauras Leben am Beispiel von Werbung literarisch konstruiert, oder die Werbung fungiert als ironischer Spiegel ihres Lebens. Im Kontext von Gain sind sicher beide Interpretationen plausibel. Zudem verdeutlicht diese ironische Verbindung, das Werbung im Kontext des Romans

50 51 52 53 54

Heise 2008: 170. Powers 1998: 327. Powers 1998: 173. Vgl. Powers 1998: 388. Kucharzewski 2011: 375.

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keine anonyme Institution ist, sondern vielmehr individuell mit Lauras Leben korrespondiert. Dadurch enthält die fiktive Werbung auch eine doppelte Instanz der Lesbarkeit: Zum einen wird sie durch die Leserschaft aufgenommen, durch die strukturellen Analogien wird jedoch auch ein Effekt von Lauras Rezeption kreiert. Die Werbung in Gain erzeugt strukturelle Analogien, da das Verhältnis von Individuum zu Firma immer ambivalent ist. Wenngleich Laura körperlich und räumlich angreifbar ist, so trägt sie doch durch ihren Konsum zum Wachstum der Firma bei, und ist in ihrem Lebensstil abhängig von deren Produkten. Daher untermauert die Werbung zugleich die Omnipräsenz von Clare in Lauras Leben, verdeutlicht aber durch eine wiederkehrende Dialektik von Leben und Tod auch die Abhängigkeit und Symbiose von Laura und der corporation. Lauras Krebsleiden ist symptomatisch für diese strukturelle und inhaltliche Wechselbeziehung, sodass die Werbung in Gain nicht nur den buchstäblichen Tod der Protagonistin kausal mitbegründet, sondern sich auf einer formalen Ebene wie ein Netz, oder, um es negativer auszudrücken, wie ein Geschwür durch den Roman zieht. Der Tod der Protagonistin fügt dem Verhältnis zwischen corporation und Individuum eine drastische und negative Lesart bei, die sich jedoch nicht nur als Kritik an der Firmenstruktur an sich liest, sondern auch die Komplizenschaft Lauras mit ihrem konsumorientiertem Verhalten betrifft. Die körperliche Versehrtheit durch eine nicht-körperliche Organisation wird in der fiktiven Werbung auch dadurch aufgegriffen, dass Werbung zum einen als materiell und fassbar präsentiert wird, zum anderen aber als ideell konzipiert ist. Die ästhetische wie sozialkritische Wirkung der fiktiven Werbung ergibt sich hier also auch aus der Spannung zwischen der materiellen und der symbolischen Ebene des Romans.

F AZIT Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass die Werbung in Gain in erster Linie als symptomatische Manifestation für die Omnipräsenz der corporation und Lauras konsumorientieren Lebensstil fungiert. So wie sich die verschiedenen Werbebeispiele konstant durch den Roman ziehen und textuelle, typographische und inhaltliche Brüche erzeugen, so verbinden sie gleichzeitig die verschiedenen Erzählinstanzen. Ähnlich allgegenwärtig sind auch die beworbenen Produkte in Lauras Haushalt, die eine räumliche Beeinflussung der privaten Sphäre kreieren und zugleich auch ideell in Lauras Denkweise und Selbsterfahrung verankert sind. Da diese Produkte exemplarisch der Clare Corporation zugeschrieben werden, verdeutlicht Werbung zudem auch in überspitzter Weise die Monopolstellungen einzelner Unternehmen. Die fiktionale Werbung imitiert durch Alliterationen und

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teils auch religiöse Symbole somit nicht zuletzt die Werbemaßnahmen solcher Konzerne, sie benutzt zugleich auch eine wiederkehrende Dialektik von Leben und Tod, um die im Roman präsente Spannung zwischen Lauras Körperlichkeit und der nicht-körperlichen, unsterblichen corporation zu verdeutlichen. Dadurch wird wiederholt Ironie erzeugt, die konkret auf Lauras Situation respondiert und somit auch verdeutlicht, dass Werbung ein zentrales erzählerisches Mittel im Text ist. Werbung wird erzählt und erzählbar gemacht, die Verbindung zwischen Privatperson und corporation durch diesen ästhetischen Mittler herausgestellt. Somit setzt sich die enthaltene Werbung auch von realer Werbung ab, da sie konventionelle Werbetechniken imitiert, durch Überspitzung aber auch unterminiert. Durch einen doppelten Einblick in die Firmenstruktur und das einzelne Leben der Protagonistin funktioniert die Werbung nicht mehr nur anonym, sondern persönlich und individuell, was sich vor allem an den ironischen Kommentaren innerhalb der Werbung sehen lässt. Zudem wird erst durch die Werbung eine Verbindung zwischen Laura und Clare deutlich fassbar, sodass Werbung am Ende als Symbol für den kommodifizierten Lebensstil Lauras steht und ihren Tod bedingt. Wie ein Geschwür im Text untermauert Werbung den Tod der Protagonistin auf struktureller und zugleich auf inhaltlicher Ebene. Durch diese ästhetische Strategie kritisiert Gain eine spätkapitalistische Konsumgesellschaft. Indem die Protagonistin durch ihren Konsum das Geschwür der unsterblichen corporation am Leben erhält, welches implizit ihre eigene körperliche Versehrtheit bedingt, überspitzt der Roman das soziokulturelle Verhältnis von Firmenöffentlichkeit zu Privatperson. Gain vermittelt ein drastisches Bild von Konsum, was durch den Einsatz fiktionaler Werbung ästhetisch verstärkt wird.

L ITERATUR Barthes, Roland (1957): „Depth Advertising“, in: Mythologies, New York: Hill and Wang, 89-91. Clare, Ralph (2013): „Your Loss Is Their Gain: The Corporate Body and the Corporeal Body in Richard Powers’ Gain“, in: Critique 54.1, 28-45. Heise, Ursula K. (2008): Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global, Oxford: OUP. Fitzgerald, F. Scott (1926): The Great Gatsby, Middlesex: Penguin Books. Kloepfer, Rolf und Hanne Landbeck (1991): Ästhetik der Werbung. Der Fernsehspot in Europa als Symptom neuer Macht, Frankfurt/Main: Fischer Sozialwissenschaft.

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Kucharzewski, Jan D (2011): Propositions about Life. Reengaging Literature and Science, Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Martin, Randy (2002): Financialization of Daily Life, Philadelphia: Temple University Press. Meyer, Urs (2010): Poetik der Werbung, Berlin: Schmidt. Mrozowski, Daniel J. (2011): „How To Kill a Corporation“, in: Studies in American Naturalism 6.2, 161-184. Powers, Richard (1998): Gain, London: Picador. Trachtenberg, Alan (1982): The Incorporation of America, New York: Hill and Wang.

II Ästhetik und Poetik der Werbung

Poetik der Provokation Lars von Trier und die Werbung F REDERIKE F ELCHT

E INLEITUNG : D IE I DIOTIE

DER

W ERBUNG

Das Vorhaben, Lars von Trier und die Werbung zusammenzubringen, überrascht vielleicht. Allgemein wird von Triers Schaffen wohl eher als Gegenentwurf zu einem kommerziellen Kino rezipiert. Doch gibt es mehr Verbindungen zwischen von Trier und der Werbung, als es auf den ersten Blick scheint. So thematisiert Lars von Triers Idioterne (Idioten, 1998) von Beginn an den Zusammenhang von Geldmangel und Überfluss, Idiotie und Werbung: Die zerbrechlich wirkende Karen schließt sich zufällig in einem Restaurant der titelgebenden Gruppe von „Idioten“ an, deren Mitglieder eine Geistesschwäche vortäuschen. Kurz davor hatte sie gegenüber dem Kellner noch zugegeben, sich keinen Schinken, Parmesan oder Lachs zum Salat leisten zu können (im Gegensatz zu den „Idioten“, die zu einem späteren Zeitpunkt ein Kaviargelage veranstalten). Gleich im Anschluss gerät sie mit den „Idioten“ in eine Betriebsbesichtigung bei einem Dämmwollehersteller. Diese Besichtigung ist deutlich als Werbeveranstaltung angelegt. Unter dem Vorzeichen der performten Idiotie der Teilnehmer wirft diese Werbeveranstaltung die Frage auf, wo die Grenze zwischen Sinn und Unsinn eigentlich verläuft. Konsequenterweise tritt das sogenannte „spasse“ (etwa: „Spasten“) erstmals in einer Werbeagentur in die Arbeitswelt ein. Der hanebüchene Werbeslogan des Werbers Axel, der die Gruppe der „Idioten“ kurz verlässt, um einen Deal an Land zu ziehen, findet im überraschenden Spast-Auftritt seiner Geliebten, die sich als potente Kundin ausgibt, sein Gegenstück. Axel selbst weigert sich jedoch später, den „in-

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neren Idioten“ in seine Firma zu tragen, als er für diesen Auftrag beim Flaschendrehen ausgewählt wird.1 Der Werber ist zwar angezogen von der Idiotie, doch zu feige, sich ihr hinzugeben. Sein Idiot bleibt ihm eigen, ganz im Sinne des Wortes.2 Die Werbebranche ist ein wiederkehrendes, von der Forschung jedoch kaum beachtetes Motiv in Lars von Triers Œuvre. Auch in der Sekundärliteratur zu Melancholia (2006), an dessen Beispiel ich die filmische Repräsentation von Werbung genauer nachzeichnen möchte, spielt das Motiv fast keine Rolle. Ein Augenmerk auf der Werbung fügt jedoch dem Werkverständnis eine Facette hinzu, die es erlaubt, von Triers Filme und ihre Positionierung in einer Aufmerksamkeitsökonomie3 zusammenzudenken und dadurch bestimmte ästhetische Strategien besser zu verstehen, auf die diese Filme zurückgreifen. Lars von Trier, so die These, entwirft eine Ästhetik der Provokation und macht den Skandal zu einer Strategie der Selbstvermarktung. Dabei greift er auch auf Erfahrungen aus der Werbebranche zurück.

H EISSE W ERBUNG Von Trier hat selbst Werbespots gedreht, nicht nur für seine eigene Produktionsfirma, sondern auch als reguläre Auftragsarbeiten. Der vielleicht bekannteste dieser Werbefilme ist Sauna bzw. Gå i bad med Ekstra Bladet (Geh ins Bad mit Extrablatt), ein knapp 50-sekündiger Spot, in dem wir zunächst einer Reihe von Männern beim Schwitzen in der Sauna zusehen. Einer von ihnen, der sich dabei mit einer Zeitung Luft zufächelt, stellt fest, dass er durch eine Luke in die benachbarte Damensauna blicken kann. Diesem Blick folgt die Kamera, die uns die dort versammelten Frauenkörper in verführerischer Nacktheit darbietet. Doch schaut kurz darauf eine strenge Saunameisterin durch die Luke zurück und betritt anschließend die Herrensauna. Dort müssen die Männer antreten, während die Saunameisterin die Reihen abschreitet. Als sie den Übeltäter erreicht, richtet sich ihr Blick zunächst auf das Gesicht des bemüht schuldlos Dreinblickenden und anschließend auf sein Geschlechtsteil. Dieses ist im Unterschied zu denen der ande-

1 2

3

Vgl. Idioterne (1998). Im Duden wird als Ursprung „ídios = eigen, eigentümlich“ angegeben. Der Darsteller von Axel war der kurzfristig aus einer Werbeagentur gecastete Knud Romer Jørgensen, vgl. Stevenson 2003: 94f. Der Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie lässt sich auf Georg Franck zurückführen. Vgl. Franck 1998.

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ren nicht von Händen verborgen, sondern von einer Zeitung, die auf seiner Erektion hängt. Der Spot endet mit diesem Bild und dem Slogan „Godt vi har Ekstra Bladet“ („Gut, dass wir Extrablatt haben.“).4 Der Spot ist ein ironisches Spiel mit dem Image des beworbenen Produkts und bezieht sich auf die sexuellen Inhalte, für die die dänische Boulevardzeitung Ekstra Bladet bekannt ist. Dazu gehört ab 1976 regelmäßig das Seite-9-Mädchen, doch schon zuvor gab es freizügige Bilder und Sexkolumnen.5 Der Spot kann auch in Bezug zu filmischen Kontexten gesetzt werden – der Filmkritiker und -wissenschaftler Michael Tapper beschreibt ihn als Paraphrase von Brian de Palmas voyeuristischen Hitchcockpastichen6, die Erektionsprüfung findet sich aber auch in Mel Brooks’ History of the World – Part 1 von 1981, der mir hier einflussreicher erscheint.7 Der Spaß an der anstößigen Nacktheit überwiegt. Lars von Trier hat in einem Interview erklärt, dass der Spot im dänischen Sender TV2 nicht gezeigt werden durfte, was das Interesse und die Berichterstattung zu seiner Freude nur noch verstärkte.8 Das ist insofern überraschend, als Dänemark seit der Aufhebung des Pornographieverbots in den 60er Jahren eigentlich als Land gilt, das sich durch einen sehr liberalen Umgang mit der medialen Repräsentation von Sex auszeichnet.9 Ich konnte von Triers Aussage nicht sicher widerlegen, allerdings ist der Spot von 198610 und TV2 ging erst im Oktober 1988

4

Der Spot ist im Netz unter wechselnden Adressen zugänglich, zuletzt abgerufen habe ich ihn von https://www.luerzersarchive.com/en/classic-spot-of-the-week/2007-35. html am 17.02.2017. 5 Vgl. Højsgaard 2008. 6 Vgl. Tapper 1991: 14-21. Online ohne Angabe von Seitenzahlen unter http://michaeltapper.se/hem/artiklar/den-europeiska-mardrommen-samtal-med-lars-von-trier-ochniels-vorsel/. 7 Vgl. Pilgaard 2013. 8 Vgl. Tapper 1991. Von Trier weist in diesem Zusammenhang auf die Filmzeitschrift Kosmorama sowie die Massenmedien hin, doch konnte ich keine Beiträge finden, die auf ein mögliches Verbot des Spots hinweisen würden. 9 Vgl. Højsgaard 2008. Der dänische Filmwissenschaftler Peter Schepelern hat in einem Essay darauf hingewiesen, dass dieser Spot zugleich Lars von Triers Urteil über die männliche Sexualität darstelle: „It’s a very simple thing: no death or a demonic fall into darkness – just desire, with a visual angle. / You will note that, while von Trier has investigated female sexuality over several hours in several films, it takes a lot less time to present male sexuality. The Ekstra Bladet commercial is male sexuality and Danish cultural liberalism – in 45 short seconds.“ Schepelern 2014. 10 Vgl. Lumholdt 2003: VIII.

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on air.11 Insofern ist es unwahrscheinlich, dass der Spot zu diesem Zeitpunkt noch lief und verboten wurde. Doch zeigt sich an dieser Anekdote zweierlei: Von Trier hat eine bewusst anstößige Werbestrategie gewählt und verweist im Kontext seiner Rezeption als Autorenfilmer12, in dem das Interview zu verorten ist, auf diese Strategie. Dabei ist diese Selbstdarstellung nicht frei von Mythologisierungstendenzen.

K APITALISMUS

UND

D EPRESSION

Melancholia ist nach von Triers eigener Aussage „[e]in wunderschöner Film über das Ende der Welt.“13 Melancholia besteht aus einem Vorspiel, einer Prelude14, und zwei Hauptteilen, die nach den zentralen Figuren, den Schwestern Justine und Claire, benannt sind. Das Vorspiel besteht aus einer Reihe traumartiger, mit intermedialen Bezügen angereicherter Bilder, in denen auch der titelgebende Planet Melancholia in einer Weltraum-Totale auftritt. Der erste Teil, zugleich eine Variation von Thomas Vinterbergs Dogma-Film Festen (Das Fest, 1998)15, zeigt uns die katastrophal verlaufende Hochzeit von Justine, die in einer Werbeagentur arbeitet. Schon bei der Hochzeit wird deutlich, dass Justine nicht nur eine talentierte Kreative ist, sondern unter Verstimmungen leidet, die sich im zweiten Teil des Films zu einer Depression entwickelt zu haben scheinen, ohne dass der Begriff explizit fällt. Der zweite Teil steht zudem unter dem Eindruck der Annäherung des Planeten Melancholia an die Erde, der schließlich in einer Kollision endet. Im Zuge dieser Annäherung verbessert sich Justines Zustand, der mit dem Planeten in Verbindung zu stehen scheint. Titel, Planetenmotiv und die Darstellung von Justine als kreativer, an der Welt leidender Figur erzeugen ein Netz von Verweisen auf die kulturelle Formation der Melancholie.16 Der Film stellt die Verortung der Melancholie im Subjekt infrage, indem er eine Welt entwirft, die Justine – obgleich sie auch Reichtum, Liebe und Anerkennung erfährt – durchaus Anlass zur Verzweiflung bietet, wie sich an ihrer Hochzeit zeigt. In meiner Analyse fokussiere ich mich nur auf einen Aspekt, die Rolle

11 12 13 14

http://omtv2.tv2.dk/fakta/historie/historiske-milepaele/. Zur Theoriegeschichte dieser Rezeptionshaltung vgl. Felix 2002: 13-57. Melancholia (2011) (Klappentext). Zur Rolle von Wagners Vorspiel zu Tristan und Isolde in Melancholia vgl. Wilker 2014: 263-273. 15 Vgl. Figlerowicz 2012: 22; Wennerscheid 2014a: 290. 16 Zur Geschichte dieser kulturellen Formation vgl. z. B. Földenyi 1988.

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der Werbung. Der Trauzeuge des Bräutigams ist zugleich Justines Chef. Seine Ansprache bildet den Auftakt zu einer Abfolge furchtbarer Hochzeitsreden. Seine Rede füllt er in erster Linie damit, von Justine noch während ihrer Hochzeit eine tagline zu einem Bild zu fordern. Sie sei immer gut darin gewesen, unter Zeitdruck eine tagline zu finden, meint er, und will wissen, ob das Glück, den Mann ihres Lebens gefunden zu haben, sie unfähig mache zu arbeiten. Er frage das, weil er, wenn er die Wahl hätte zwischen einer Frau für seinen guten Freund Michael und einer Angestellten („employee“), sich immer für die Angestellte entscheiden würde. Justine sei immer zu gut für die Werbung gewesen und er danke ihr dafür, dass sie dennoch dabeigeblieben sei. Dabei hat er im Hintergrund bereits das Bild, zu dem Justine eine tagline finden soll, auf einem riesigen Flachbildschirm zeigen lassen. Es zeigt drei Models in Unterwäsche und High Heels, die auf einem Teppich hingestreckt liegen, neben ihnen ein Couchtisch, auf dem ein Glas mit einer weißen Flüssigkeit umgefallen ist. Wir erfahren nicht, wofür geworben wird. Justines Chef befördert Justine am Ende seiner Rede noch zum Art Director.17 Doch bleibt es nicht bei diesem womöglich versöhnlichen Ende. Ihr Chef erklärt Justine wenig später, dass er seinen frisch angestellten Neffen mit dem Auftrag auf sie angesetzt hat, ihr die tagline zu entlocken. In diesem Zusammenhang demütigt er seinen Neffen aufgrund seiner fehlenden Berufsausbildung und stellt Justine gegenüber klar, dass sein Neffe wieder gefeuert werde, wenn er mit seinem Auftrag scheitert, obwohl er Schulden hat und auf den Verdienst angewiesen wäre.18 Dadurch unterstreicht er das Muster, alle Beziehungen unter dem Aspekt von Macht und Ausbeutungspotentialen zu betrachten. Sein Gebaren ist provokativ in dem Sinne, dass er gezielte Normverletzungen unternimmt. Das zeigt sich schon, wenn er seine Hochzeitsrede mit „Justine, listen up, goddammit“ eröffnet. Der Kern der Provokation liegt jedoch in seiner Missachtung der Trennung von (Arbeits-)Alltag und Fest und der klaren Priorität, die er dem Angestelltenverhältnis vor allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen zuschreibt, und die seine eigentliche Rolle als Trauzeuge des Bräutigams untergräbt. In Bonnie Honigs Interpretation scheitern Rituale, die gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften könnten, in Melancholia an der neoliberalen Entgrenzung der Arbeit, deren Zeitlichkeit die andere Zeitlichkeit des Rituals, hier: der Hochzeit, absorbiert.19 Auch John, Justines reichen Schwager, der die Hochzeit bezahlt und auf seinem Schloss ausrichtet, wertet Honig als Indikator des Neoliberalismus, da

17 Vgl. Melancholia (2011) (Dänemark u.a., R: Lars von Trier), 00.16.40-00.18.30. 18 Vgl. ebd.: 00.39.53-00.41.47. 19 Vgl. Honig 2015: 625.

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er für sein Geld Freude von Justine einfordert. Von Trier hatte in einem Interview als einen Ausgangspunkt des Films die These eines Therapeuten genannt, dass Melancholiker mit Katastrophen besser umgehen könnten als andere, weil sie darauf vorbereitet seien.20 Honig erklärt dagegen: The ill-fatedness of the wedding is a sign of the incapacity of old rituals to meet the demand of the moment. They cannot work in the new political-economic context. Thus, rather than see the film as an effort to depict the special preparedness of melancholics for catastrophe we may see it as an effort to show how the catastrophe of neoliberalism makes, or ought to make, melancholics of us all.21

In Honigs Lesart liegt die Katastrophe, die Melancholia in Form eines Weltuntergangs durch die Kollision der Erde mit dem Planeten Melancholia am Ende stattfinden lässt, bereits hinter uns. Wir nehmen die uns umgebende Verwüstung bloß nicht wahr.22 Patricia Martínez deutet Justines – in der zweiten Filmhälfte als solche deutlicher erkennbar werdende – Depression als Symptom einer Gesellschaft, welche die Negativität des „Nicht-Könnens“ durch ein grenzenloses „Können-Müssen“ ersetzt hat.23 Martínez greift dabei auf Alain Ehrenbergs und Byung-Chul Hans Überlegungen zur Depression als Symptom gegenwärtiger Gesellschaften zurück. Ehrenberg vertritt in Das erschöpfte Selbst die These, Depressionen seien die Kehrseite einer Gesellschaft, die nicht mehr auf Schuld und Disziplin, sondern auf Verantwortung und Initiative beruht. Nach dem Scheitern der politischen Utopie der Solidarität wurde der Unternehmenschef zum Modell des Handelns für jede/n. Motivation, Flexibilität und Projektentwicklung wurden eingefordert und verbunden mit einem hohen Maß an Unsicherheit, sich ausweitenden Selektionsprozessen und Statusübergängen.24 „Das Individuum ist institutionell gezwungen, um jeden Preis zu handeln und sich dabei auf seine inneren Antriebe zu stützen“ 25, so Ehrenberg, und hält fest: „[M]it den mangelnden Projekten, der mangelnden Motivation, der mangelnden Kommunikation ist der Depressive das genaue Negativ zu den Normen unserer Sozialisation.“26 Für Ehrenberg ist die Depression die Demokratisierung der Melancholie, da in der aktuellen Gesellschaft alle Menschen

20 21 22 23 24 25 26

Vgl. ebd.: 629. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Martínez 2015: 327f. Vgl. Ehrenberg 1998: 244-246. Ebd.: 287. Ebd.: 306.

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Herr ihrer selbst geworden und als solcher zu handeln gezwungen seien, während die Melancholie früher eine Krankheit weniger Ausgezeichneter gewesen sei.27 Darin deutet sich an, dass Melancholia mit seinem hochherrschaftlichen Setting an eine ältere Melancholietradition anschließt, diese jedoch in der gegenwärtigen Gesellschaft – zumindest in Ehrenbergs Interpretation – eine andere und allgemeinere Aktualität gewonnen hat. Byung-Chul Han betrachtet in seinem Essay Müdigkeitsgesellschaft die Unmöglichkeit, etwas zu tun, die mit depressiven Zuständen verbunden ist, als Antwort auf das „Nichts ist unmöglich“28 der gegenwärtigen Gesellschaft. Han plädiert dafür, Versenkung als schöpferische Kraft wiederzubeleben und fordert in diesem Zusammenhang auch, die „tiefe Langeweile“ zuzulassen, die zu kulturellen Leistungen ermächtige.29 Vor dem Hintergrund dieses theoretischen Ansatzes ließe sich auch die Langsamkeit von Melancholia, die insbesondere die zweite Hälfte des Films prägt, als produktives Prinzip begreifen. Während Ehrenberg unter den Ursachen der Depression nicht allein die neoliberale Arbeitswelt, sondern insbesondere auch die moderne Demokratie ausmacht und Hans Ansatz kulturkritisch Versenkung gegen Zerstreuung in Anschlag bringt (und letztlich eine konservative Spielart des Produktivitätsparadigmas vertritt), hat Mark Fisher einen deutlicher kapitalismuskritischen Ansatz für das Verständnis von Depressionen formuliert. Fisher beharrt darauf, dass Depressionen mit gesellschaftlicher Macht zusammenhängen und erkennt ein zentrales Problem darin, dass in heutigen Gesellschaften mangelnde Produktivität ausschließlich als individuelles Versagen gedeutet werde. Die Individualisierung ist weniger deshalb für ihn ein Problem, weil sie den Menschen mit ihrem Selbstbestimmungsanspruch überfordert, als vielmehr aufgrund der Tatsache, dass mit der individuellen Verantwortungszuweisung strukturelle Ursachen für Probleme, die gesellschaftliche Lösungen erfordern, in den Hintergrund treten.30 Diese Dimension des Verständnisses von Depression als Symptom gesellschaftlicher Zustände ist in Melancholia kaum gegeben. Honig interpretiert das Ende des Films, bei dem Justine ihren Neffen Leo dazu anregt, eine „magic cave“ aus Ästen zu errichten, in der Justine, Claire und Leo gemeinsam den Weltuntergang erleben, positiv. Justine etabliere ein „holding environment“ und kreiere ein neues Ritual angesichts des drohenden Untergangs der alten Kultur. Dieses Ritual könnte in ihrer Interpretation immer noch erlauben, die

27 28 29 30

Vgl. ebd.: 289. Han 2010: 22. Kursiv im Original. Vgl. Han 2010: 21f. Vgl. ebd.: 25f. Vgl. Fisher 2014.

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Verlassenheit auszuhalten, die die aktuelle Situation mit sich bringt.31 (Dabei übersieht Honig allerdings, dass am Ende nicht alle Figuren einander an den Händen halten, sondern Claire während der Kollision loslässt.) Auch Martínez erkennt in Justines Haltung eine Form der Resilienz und der Adaption an die Realität. Zudem erlaube erst ihre Melancholie Justine „la véritable création“32 („die wahrhaftige Kreation“). Martínez deutet Justine als Schöpferin des von uns gesehenen Films, der aus von ihr halluzinierten Bildern bestehe, was bereits die Anfangssequenz nahelegt. (Martínez geht nicht näher darauf ein, aber diese Sequenz öffnet nach einem Schwarzbild mit einer Aufnahme von Justines Gesicht, in der diese die Augen aufschlägt. Sophie Wennerscheid weist darauf hin, dass der Film zudem mit den von Justine gesprochenen Worten „Close your eyes“ schließt.33) Justine hat in Martínez’ Interpretation auf diese Weise die Schönheit und „le néant“ („das Nichts“), die sich im Film vereinigen, gleichermaßen gefunden. Der Film selbst zeige darüber hinaus die erlösende Kraft der Fiktion. In ihrer Lesart spenden Justines kreative Fähigkeiten am Ende des Films anderen Schutz und Trost.34 Doch würde ich diesen positiven Ergebnissen im Ausgangspunkt kapitalismuskritischer Interpretationen mit Fisher entgegenstellen, dass Melancholia die Vernachlässigung der strukturellen Ursachen teilt, die für den Umgang mit Depressionen in unserer Gesellschaft wesentlich sind. So verbleibt der Film überwiegend in einem extrem reichen Milieu, das gesellschaftliche Zusammenhänge ausblendet. Der Kreativitätszwang, dem Justine unterliegt, lässt sich zwar problemlos mit ihrer Depression assoziieren und diese somit als gesellschaftliches Problem deuten. Doch wird Justine zugleich als eine hochtalentierte Ausnahmepersönlichkeit inszeniert, auf deren Vorstellung womöglich das eigentliche Werk, der Film, den wir sehen, zurückgeht. So kommt auch Sophie Wennerscheid zu dem Schluss, „dass es im Grunde Justine ist, die diese Kollision [mit Melancholia] in ihrer Todeslust herbeiphantasiert.“35 Dadurch tritt Depression als Unfähigkeit, etwas zu tun, gegenüber einer schöpferischen Melancholie zurück, die eben keine

31 32 33 34 35

Vgl. Honig 2015: 630. Martínez 2015: 330. Vgl. Wennerscheid 2014b: 349. Vgl. Martínez 2015: 330f. Wennerscheid 2014b: 344.

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taglines, sondern Kunstfilme produziert. Dem Produktivitätsparadigma kann auf diesem Wege kaum entkommen werden.36

M ELANCHOLIA

UND DIE

Ä STHETIK

DER

W ERBUNG

Doch nicht einmal das Ersetzen von Werbung durch Kunst scheint sich bei näherem Hinsehen in Melancholia zu vollziehen. Das ist insofern konsequent als, wie Andreas Reckwitz gezeigt hat, die Werbung sich den Methoden der Kunst bei ihrer Transformation in eine „Kreativbranche“ seit den 1960er Jahren stark angenähert hat.37 Melancholia als bloße Kritik an einer zynischen Werbebranche zu lesen, übersieht, dass Justine kein unschuldiges Opfer ist, sondern ebenfalls Werberin. Dementsprechend antwortet sie auf die ihr zugemuteten Provokationen mit weiteren Normverletzungen – und verwendet somit eine für Werbung typische Strategie –, indem sie überfallartig mit dem Neffen schläft und wenig später ihren Chef so beschimpft, dass dieser sie entlässt.38 Zu Beginn dieser Beschimpfung setzt sie mit dem Wiederaufgreifen der Forderung ihres Chefs nach einer tagline ein und beschreibt ihre Aufgabe wie folgt: „The problem is: How do we effectively hook a group of minors on our substandard product, preferably in a habit-forming way?“39 Diese Aufgabe konnte sie zunächst nicht lösen und stellte sich deshalb vor, was wäre, wenn sie stattdessen ihren Chef der Öffentlichkeit verkaufen sollte. Und erklärt, am Ende wieder beim gleichen Ergebnis wie am Anfang ihrer Überlegungen angekommen zu sein: „At nothing.“ Der Neffe erklärt: „Nothing – it’s not such a bad tagline, Jack.“ Ihr Chef fordert Justine auf, ihre tagline zu erläutern, und sie hebt an mit: „Nothing is too much for you“40, um anschließend ihrem Hass auf ihn und seine Firma Ausdruck zu verleihen und sich somit dem Produktivitätszwang zu verweigern. Ironischerweise scheint mir, dass sie die geforderte tagline damit tatsächlich geliefert hat, denn sowohl das Bild der hingestreckten Schönheiten auf dem Teppich als auch die von Justine selbst formulierte Problemstellung lassen sich mit dieser tagline durchaus fassen.

36 Eine solche Unentrinnbarkeit entspricht Andreas Reckwitz’ Diagnose der Vorherrschaft des Kreativitätsdispositivs in unserer Gesellschaft. Vgl. Reckwitz 2012. Den Hinweis auf Reckwitz verdanke ich Christopher Hees. 37 Vgl. Reckwitz 2012: 173-177. 38 Vgl. Melancholia (2011), 00.53.40-00.54.12 und 00.56.10-00.58.45. 39 Ebd.: 00.57.06-00.57.15. 40 Ebd.: 00.57.37-00.57.58.

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„Nothing is too much for you“ ist zugleich das ästhetische Credo dieses Films41, der überbordet von Zitaten aus Literatur, bildender Kunst und Filmgeschichte; und den von Trier selbst im Audiokommentar als kitschig und romantisch beschreibt. Hochglanzästhetik, Wiedererkennbarkeit und Wiederholung sind dabei Elemente, die Melancholia mit der Werbung teilt. Reckwitz hat darauf hingewiesen, dass Werbung unter dem Vorzeichen ihrer Annäherung an Kunst sich unter anderem durch intermediale Kompetenzen und „intelligente Wortspiele“42 auszeichnet. Diese Strategien lassen sich auch für Melancholia festhalten. „Nothing is too much for you“ heißt auch, dass uns dieser Film mit dem Nichts überwältigt, das sein Zielpunkt ist. Dass er auf die vollständige Vernichtung von allem hinausläuft, unterscheidet ihn von den üblichen Apokalypse-Filmen.43 Dennoch hat Lars von Trier das Ende als „the happiest ending I’ve ever made“44 bezeichnet. Was genau ist dieses „happiest ending“? Honigs und Martínez’ Interpretation gelangen zu einer positiven Umdeutung des Endes mit der „magic cave“ und somit auch der depressiv-kreativen Werberin. Doch endet der Film – nachdem Claire die Hand ihres Sohns und ihrer Schwester losgelassen und so die friedliche Erwartung des Todes aufgehoben hat – mit der Planetenkollision, die Erde geht in Flammen auf. Wir sehen schließlich nur noch die schwarze Leinwand und hören weiterhin Wagner, aber, wie Ulrich Wilker erklärt, unter Auslassung der Takte, die in Tristan und Isolde mit der Hoffnung auf Erlösung assoziiert sind.45 Aus dem Vorspiel zum Film wissen wir, wie dieses Geschehen von außen, aus der Perspektive des Weltraums, aussieht, und dabei lassen sich Parallelen zwischen der Bildsprache von Befruchtungsbildern, die die Verschmelzung von Samen- und Eizelle zeigen, und Lars von Triers Inszenierung des Weltuntergangs feststellen. Hinzu kommt die Auswahl von Tristan und Isolde als Musik an dieser Stelle und im Vorspiel. Nicholas Vazsonyi hat dieses Musikdrama im Zusammenhang einer modernen Konsumkultur als Inszenierung eines erfüllten Begehrens

41 Nach Internet Movie Database lauten die eigentlichen taglines zum Film jedoch: „Enjoy it while it lasts.“ / „It will change everything.“ Vgl. „Melancholia Taglines“. 42 Reckwitz 2012: 175. 43 Vgl. auch Wennerscheid 2014b: 346. 44 Vgl. Figlerowicz 2012: 26. 45 Vgl. Wilker 2014: 268. Wilker geht nicht auf die Funktion der Musik des Abspanns ein, in dem das Vorspiel zum dritten Akt von Tristan und Isolde eingespielt wird, wie der Audiokommentar erläutert. Vgl. Tonspur Audiokommentar, in: Melancholia (2011), 02.04.59-02.05.08.

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interpretiert, das sich im Moment der Erfüllung von der sexuellen auf die ästhetische Ebene verlagert und somit auf das repräsentierende Produkt – das zu konsumierende Kunstwerk – angewiesen bleibt.46 Eine mögliche Pointe des Endes im Anschluss an diese Interpretation wäre, dass Melancholia den Weltuntergang als audiovisuellen Orgasmus inszeniert. Doch bleibt es nach Wennerscheid und unter Berücksichtigung von Wilkers Hinweis auf die fehlenden Takte fragwürdig, ob dieser Orgasmus Ausgangspunkt eines hoffnungsvollen Neuanfangs werden kann.47 Melancholia zeigt die zynische Ausbeutung der sensiblen – aber keineswegs unschuldigen – Kreativen, die auch als alter ego des Regisseurs rezipiert wurde, nachdem von Trier den Film medial als persönliches Depressionstherapeutikum lanciert hatte. Insgesamt lässt sich beobachten, dass Aussagen des Regisseurs bei von Trier-Filmen eine relativ große Bedeutung in der medialen, teils auch wissenschaftlichen Rezeption eingeräumt wird, was darauf zurückzuführen ist, dass Lars von Trier gekonnt eine mediale Persona konstruiert und seine Filme als Autorenfilme rezipiert werden. Dass er sich auf die Inszenierung seiner Produkte und die Kalkulation ihrer möglichen Interpretationen versteht, ließe sich auch auf seine Erfahrungen in der Werbebranche zurückführen. Neben der Depressionsthematik dominierte den Diskurs um Melancholia allerdings eine zweite Aussage von Triers, die er auf dem Filmfestival in Cannes tätigte. Ich zitiere nur die Skandalsätze: „I understand Hitler […] and I sympathize with him a little bit […] I’m a Nazi.“48 Auch diese Sätze band er während des Interviews biographisch ein, darauf einzugehen ist jedoch in unserem Kontext nicht erforderlich. Entscheidend ist lediglich, dass von Trier durch diese Aussagen seinen Ausschluss von den Festspielen in Cannes und ein gewaltiges Medienecho verursachte. Retrospektiv erklärt er im Audiokommentar zu Melancholia, er habe die „Nazi-Karte“ („Nazi card“) in Cannes gespielt, weil er wusste, dass der Film nicht gut genug sei, um zu gewinnen. Er gibt vor, den Skandal geplant zu haben, räumt aber auf die Rückfrage, ob dies Fakt oder eine „story“ sei, ein, dass das bei ihm keinen Unterschied darstelle.49 Er habe, als er die „Nazi-Karte“ spielte, erwartet, dass das Gleiche passiere, was die Rote Armee Fraktion von ihrem Terror erwartet hatte, nämlich: „That the authorities should overreact.“50 Die Reaktion

46 47 48 49 50

Vgl. Vazsonyi 2010: 150. Vgl. auch Wennerscheid 2014a: 295; dies. 2014b: 350f. „Lars Von Trier’s ,Nazi‘ gaffe at Cannes Film Festival“. Vgl. Tonspur Audiokommentar, in: Melancholia (2011), 02.05.40-02.06.20. Ebd.: 02.06.36-02.06.38.

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des Festivals, so fährt er fort, brachte ihm Sympathien ein und es sei die Geschichte aufgekommen, wenn er den Nazi-Kommentar nicht getätigt hätte, hätten sie gewonnen – „which of course for commercial reasons […] was so much better than winning the Palm.“51 Das zeige, wie clever und zynisch er sei.52 Lars von Triers Werbestrategie für Melancholia gewinnt somit spätestens in der selbstreflexiven Schleife des Audiokommentars große Ähnlichkeit mit der Repräsentation der Werbung im Film selbst: Beide beruhen auf bewussten Provokationen und einem ausgestellten Zynismus.

U MSCHLAGPUNKTE

EINER

P OETIK

DER

P ROVOKATION

Das Spiel mit dem Faschismus-Vorwurf betrieb von Trier seit Beginn seiner Karriere, wie Thomas Spejlborg Sejersen in seinem Aufsatz zu den Selbstinszenierungen Lars von Triers zeigt. Schon bei einer Pressekonferenz im Jahr 1984 zu The Element of Crime fragte von Trier, warum die Journalisten ihn nicht mit dem Vorwurf des Faschismus konfrontieren würden – das pflege man zu tun. Damals ging niemand direkt darauf ein, doch hinterließ die Provokation Spuren in den Rezensionen.53 Der Skandal von Cannes war also keineswegs ein Ausrutscher, sondern vielmehr der finale Erfolg einer langen Geschichte der Provokation. Neben dem Faschismusvorwurf konnte von Trier seinen Namen mit einem anderen fragwürdigen Markenzeichen verknüpfen: der tabubrechenden Repräsentation von Sexualität, die einen ersten Höhepunkt 1998 in der pornographischen Gruppensexszene des Dogma-Films Idioterne hatte54, der zugleich die Popularisierung der Handkameraästhetik einleitete. Auch die grundlegende Infragestellung der Unterscheidung zwischen Vernunft und Wahnsinn, die sich durch von Triers Werk zieht, ist in diesem Film bereits enthalten. Nicht zuletzt begründete die Produktion von Idioterne von Triers Ruf als sadistischer Regisseur, der Schauspieler psychologisch manipuliert, um ihnen bestimmte Gefühle zu entlocken.55 Spätestens mit dem 2009 erschienenen Antichrist wurde im Bewusstsein des Publikums schließlich das Markenzeichen einer tabubrechenden Repräsentation von

51 52 53 54 55

Ebd.: 02.07.03-02.07.12. Vgl. ebd.: 02.07.25-02.07.32. Vgl. Sejersen 2013. Vgl. zu Reaktionen der Zensur auf diese Szenen Stevenson 2002: 131f. Vgl. Kelly 200: 59f.; Stevenson 2002: 118-121. Das von von Trier während der Produktion geschriebene Tagebuch bestätigt diesen Eindruck teilweise, vgl. z.B. von Trier 2001: 128-137.

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Sexualität bei Lars von Trier um eine tabubrechende Dimension von Gewalt erweitert. Die Plotzusammenfassung dieses Films liest sich als Reduktion auf die Zutaten Sex, Gewalt und Wahnsinn. Damit war ein vorläufiger Endpunkt dieser ästhetischen Strategie erreicht. 2010 und somit im Anschluss an die Eskalation von Sex- und Gewaltszenen in Antichrist erschien ein Satirevideo auf der Webseite The Onion, das eine fiktive Werbekampagne für Dänemark zeigt, zu der von Trier die Spots gedreht haben soll. Das Video zeigt diese Spots und greift bei ihrer Ankündigung auf Merkmale zurück, mit denen von Triers Schaffen verbunden wird – unter anderem auf seinen quälenden Umgang mit Schauspielern. Von Triers Markenzeichen einer Verbindung von „unsettling sexuality and brutal violence“ werden in den vermeintlichen Werbespots, die beispielsweise einen Flirt mit einem Vergewaltiger und eine sadomasochistische, erotisch aufgeladene und mit Ekel spielende Truppenübungsszene zeigen, nicht nur gebündelt und zugespitzt, es wird auch die Zielgruppe benannt: junge, berufstätige Stadtmenschen, die den größten Bedarf nach einer Zerstörung ihres Selbst haben.56 The Onion zeigt in diesem Video, wie eine Marketingstrategie, die Aufmerksamkeit durch den Rückgriff auf immer weiter ins Extrem getriebene Repräsentationen sexualisierter Gewalt und angstbesetzter Phantasien generiert, ins Lächerliche umschlägt. Melancholia nimmt deutlichen Abstand von der Ästhetik der Provokation, die dieser Spot parodiert, sowohl auf der bildästhetischen als auch auf der Plotebene. Gerade die Abwesenheit extremer Darstellungen von Sexualität und Gewalt jedoch erklärt vielleicht, warum von Trier mit der von ihm so genannten „NaziKarte“ provozieren wollte. Der Weltuntergang allein war ihm zu harmlos.

L ITERATUR „Denmark Introduces Harrowing New Tourism Ads Directed by Lars von Trier“, in: The Onion, http://www.theonion.com/video/denmark-introducesharrowing-new-tourism-ads-direc-14403, zuletzt abgerufen am 08.03.2017. Ehrenberg, Alain (1998): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Felix, Jürgen (2002): „Autorenkino“, in: Ders. (Hg.), Moderne Film Theorie, Mainz: Bender. 13-57.

56 Vgl. http://www.theonion.com/video/denmark-introduces-harrowing-new-tourismads-direc-14403.

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W ERBUNG Ekstra Bladet „Gå i bad med Ekstra Bladet“ (1987) (DK, Wibroe, Duckert & Partners).

„It’s Time for Another Revolution“ Revolutionität in der Automobilwerbung S EBASTIAN B ADEN UND D OMINIK S CHREY

E INLEITUNG : V ON

DER I TALIANITÄT ZUR

R EVOLUTIONITÄT

1964 veröffentlichte Roland Barthes einen kurzen und bis heute vielzitierten Text mit dem Titel Rhétorique de l’image. Am Beispiel einer Printreklame der französischen Marke Panzani unterzieht er dort den komplexen und meist subliminal ablaufenden Prozess der Bedeutungskonstitution in alltäglichen Kontexten einer „Spektralanalyse“. Hierfür unterscheidet er drei verschiedene Botschaften: „eine sprachliche, eine kodierte bildliche und eine nicht-kodierte bildliche.“1 Diese untersucht er zunächst getrennt voneinander und dann in ihrem Zusammenspiel. In einer Art reverse engineering weist Barthes so den verschiedenen in der Anzeige vorhandenen sprachlichen und bildlichen Elementen jeweils eigene Bedeutungsgehalte zu, die in ihrer Gesamtheit die beabsichtigte Werbebotschaft bilden. Die Summe der Konnotationen in der Panzani-Werbung suggeriert demnach die Italianität des beworbenen Halbfertiggerichts: Geschickt werden Assoziationen an ein frisch zubereitetes mediterranes Mahl aufgerufen, obwohl es sich freilich um ein industriell verarbeitetes Produkt handelt. Dass Barthes für die Beantwortung der recht allgemeinen Fragestellung, wie „der Sinn in das Bild“ gelangt und wo dieser endet bzw. was „jenseits“ von ihm liegt, ein Werbebild wählt, begründet er mit dem Hinweis, dass man hier tatsächlich „mit Sicherheit“ davon ausgehen könne, dass die enthaltenen Botschaften „intentional“ seien2: In der Werbung wird nichts dem Zufall überlassen, jedes noch so kleine Detail ist Gegenstand weitreichender strategischer Planung, die ein klar

1 2

Barthes 1990: 32. Ebd.: 28.

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definiertes wirtschaftliches Interesse verfolgt und dabei „unverhohlen“3 vorgeht. Die anklingende ideologiekritische Dimension seiner semiologischen Analyse hatte Barthes bereits 1957 in seinen Mythologies ausführlicher diskutiert, weshalb diese beiden Texte auch häufig gemeinsam referiert werden.4 Als Beispiel für die gezielte Erschaffung eines modernen „Mythos“ dient Barthes der Bildredakteur eines illustrierten Magazins, der für ein bestimmtes abstraktes Konzept, nämlich die französische Imperialität, eine passende Form sucht und sie im Bild eines der Tricolore salutierenden afrofranzösischen Soldaten findet. Dieses Bild ist Barthes zufolge mehr als einfach nur ein Symbol für das Konzept, sondern bringt scheinbar selbstverständlich all das zum Ausdruck, was „eine bestimmte Gruppe von Lesern berühren“5 soll, die sich dabei jedoch der Konstruiertheit der Botschaft gewöhnlich nicht bewusst sind (weshalb sie von „Mythologen“ wie Barthes darauf hingewiesen werden müssen). Der so beschriebene Prozess entspricht einer „Selbstverneinung von Ideologie“6 durch Naturalisierung und Essentialisierung und ist offenbar auch und gerade für die Werbung charakteristisch. Trotz aller Unverhohlenheit versucht diese in der Regel, „als durch sich selbst determiniert, als nicht weiter klärungsbedürftig, als unmittelbar einleuchtend“7 zu erscheinen, wie auch der nicht gerade als Ideologiekritiker bekannte Niklas Luhmann feststellt. Um solche naturalisierenden Mythen „entziffern“ zu können, schreibt Barthes, brauche man passende Begriffe, deshalb seien Neologismen unvermeidlich: „China ist eine Sache, die Vorstellung, die noch bis vor kurzem ein französischer Kleinbürger sich davon machen konnte, ist eine andere. Für diese spezifische Mischung aus Rikschas, Glöckchengeklingel und Opiumrauchen ist kein anderes Wort möglich als Sinität.“8 Über die Unumgänglichkeit solcher Wortschöpfungen, die – wie Barthes eingesteht – zwar „nicht schön“ sind, aber „einer sehr überlegten Proportionalregel“9 gehorchen, ließe sich sicher streiten, dennoch bringen diese Begriffe – Italianität, Imperialität, Sinität – einen gewissen Gehalt zum Ausdruck, der sich anders nur umständlicher formulieren ließe: am besten wohl unter Rückgriff auf den kommunikationsstrategischen Begriff des Image, verstanden mit York Kautt als „Ty-

3 4 5 6 7 8 9

Ebd.: 29. Vgl. etwa Hausendorf 2002 oder Rimmele/Stiegler 2012. Barthes 1964: 99. Rimmele/Stiegler 2012: 133. Luhmann 1996: 87. Barthes 1964: 101. Ebd.

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pisierung des Sinnhaften zu Mustern […], die als Vorstellungssysteme das Erleben und Handeln von Menschen leiten und dies als soziale Konstruktion von Wirklichkeit tun, insofern sie als kollektive Vorstellungsbilder fungieren.“10 Im Folgenden möchten wir dieser Reihe einen weiteren Neologismus hinzufügen: den der Revolutionität, der ganz analog zu Barthes Wortschöpfungen zu verstehen ist und im Wesentlichen den gezielten Einsatz von Signifikanten bezeichnet, die das Konzept oder vielmehr das Image von Revolution konnotieren sollen. Besonders solche Kontexte werden uns interessieren, in denen keineswegs für einen Umsturz bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse geworben werden soll, sondern für kommerziell angebotene Produkte.

R EVOLUTIONÄRE B EWEGUNGEN IM A UTOMOBILMARKETING Der Begriff der Revolution wurde noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der politischen Ernsthaftigkeit verwendet, die ihn an politische Bewegungen von der Französischen Revolution bis zur Russischen Revolution zurückbindet. In den 1960er Jahren wurde mit der Idee einer zeitgenössischen Revolution vor allem das Konzept einer sozialistischen Gesellschaft assoziiert. Als deren Vorkämpfer und Idol wurde der Argentinier Ernesto „Che“ Guevara verehrt, dessen Konterfei unmittelbar nach seiner Ermordung 1967 Eingang in die Ikonografie revolutionärer Helden und Märtyrer fand. Die heute in der Populärkultur fest verankerte „Widerstands-Super-Ikone“11 hat eine breite Anschlusskommunikation gefunden. Mit dem bekannten kontrastreichen Porträt, das sich auch schon Andy Warhol für seine Siebdruckporträts berühmter Persönlichkeiten angeeignet hatte, wird längst auch in der Werbung gearbeitet.12 So verwendete Europcar 2002 die Ikone zusammen mit dem Slogan: „Auch du / kannst Großes bewegen / mit den günstigen LKWs von Europcar.“ Die kollektive Vorstellung des Revolutionärs wird hier nicht mehr mit einem linken Milieu verknüpft, sondern mit der besonderen Aura eines selbstbestimmten Akteurs, der sich großer Aufgaben annimmt, auch ganz im Sinne der ursprünglichsten Wortbedeutung von Revolution als Um-

10 Kautt 2008: 24. 11 Kleiner 2014: 67. 12 Der Kulturwissenschaftler Rudi Maier hat für eine privat kuratierte Wanderausstellung mit dem Titel „So geht Revolution – Werbung & Revolte“ alleine über 50 Anzeigen gesammelt, die das Che-Konterfei für Zwecke der Produktwerbung verwenden. Vgl. Dimar 2003.

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oder Wegwälzung von Gegenständen.13 Bewusst setzt das Plakat aber auch auf das Mittel der Ironie, wenn der politische Bewegungsbegriff auf ein privates Vorhaben, den günstigen (Waren-)Transport, und das Wort Bewegung damit wieder auf seinen ursprünglichen Wortsinn heruntergebrochen wird. Ähnlich warb der Autohersteller Mazda 2004 in Deutschland mit Ches Konterfei und dem Slogan „Wie startet man eine Revolution?“ für ein neues Modell (den MX-8) mit Kreiskolbenmotor, um so einerseits auf die Kreisbewegung des unkonventionellen Antriebs hinzuweisen und diesen andererseits mit einer Konnotation „revolutionärer Avantgarde“ zu versehen.14 Im Jahr 2012 übernahm der deutsche Autokonzern Daimler-Benz die CheIkone für eine Werbekampagne zur Präsentation neuer Modelle in den USA.15 Der große Bühnenauftritt des Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche fand vor einer wandfüllenden Projektion statt, auf der neben dem ikonischen Schablonengesicht noch der Slogan „Viva la Revolucion!“ aufschien. Doch damit nicht genug, Daimler-Benz leistete sich den grafischen Coup, den auf dem Barrett des Guerillas prangenden kommunistischen Stern durch das Signet des Konzerns – den Mercedes-Stern – zu ersetzen, der wohl wie sonst nur der Nike-Swoosh als Symbol für einen globalen Kapitalismus und Statusdenken steht (Abb. 1). Abbildung 1: Che Guevara mit Mercedes-Stern, 201216

13 Kluges Etymologisches Wörterbuch nennt als Beispiele für solche Bewegungen, die als Revolutionen bezeichnet wurden, etwa jene der Sterne am Firmament oder auch das Wegwälzen des Grabsteins Jesu. 14 Popplow 2008: 102. 15 Vgl. autobild.de. 16 Mercedes Benz Produktpräsentation Consumer Electronics Show 2012.

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So wird Revolutionität neu gebrandet, die Marke über den Referenten der politischen Identifikation montiert. Mit dieser parodistischen Re-Semantisierung, die in Europa schon aufgrund der oben genannten popkulturellen Adaption Che Guevaras seit den 1970er Jahren nicht als ungewöhnlich oder anstößig empfunden wird, konnte Daimler-Benz jedoch in den USA – zumal in der anvisierten Zielgruppe – nicht punkten. Wie Barthes in der Rhetorik des Bildes schreibt, ist eine spezifische kulturelle Prägung die Voraussetzung für die „richtige“ bzw. intendierte Dekodierung symbolischer Botschaften. Genau dieser Aspekt jedoch erwies sich hier als problematisch: Die politischen Spannungen mit Kuba, das anhaltend negativ konnotierte Image des kommunistischen Guerilla-Kämpfers und die spanisch-sprachige Parole des Slogans boten offenbar nicht das passende Identifikationspotenzial für den nordamerikanischen Markt. Hier misslang also die Aneignung des Revolutionsmotivs zum Zwecke einer aufregenden und neuartigen Produktplatzierung, die Ikone war offenbar noch zu eng mit dem Signifikat des tatsächlichen Guerilla-Kampfs verbunden, um als Signifikant problemlos in eine neue, für die Revolution des Automobils anschlussfähige semiologische Kette eingegliedert zu werden. Diese nur kurz angerissenen Beispiele sollen verdeutlichen, wie unterschiedlich sich Revolutionität in der Werbung auswirken kann. Speziell der für dieses Signifikat wichtige politische Bewegungsbegriff, der in Europa seine positive Konnotation ausspielen kann, gelangt international an seine Grenzen. Doch wie kommt es, dass das Image der Revolution bei den europäischen Kunden mit seiner popkulturellen Adaption punktet?

S UBVERSION

UND

A BSORPTION

Mit der Idee der Revolution ist seit der Aufklärung und dem Beginn der Moderne eine kritische Reflexion der Gegenwart verbunden. Im späten 20. Jahrhundert wird der Revolutionsbegriff gerne als utopische Konnotation von Gegenkultur ins Spiel gebracht, um damit besonders innovative, authentische und meistens politisch linke Positionen zu kennzeichnen, wie etwa die Hippie-, Punk- oder NeoAvantgarde-Bewegungen und allgemein eine sich als subversiv und antikapitalistisch verstehende Jugendkultur.17 Besonders den künstlerisch aktiven VertreterInnen dieser sogenannten Gegenkultur ist es zu verdanken, dass die semiologische

17 Hier wird der Revolutionsbegriff progressiv und als Bewegungsbegriff mit linkspolitischem Impetus verstanden. Eine Revolution kann jedoch natürlich auch restitutiv bzw. konservativ ausgerichtet sein, vgl. etwa Konersmann 2001: 9–37 oder Bollenbeck 1999.

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Operation gelang, der Revolution ein populärkulturelles Image zu verschaffen – auch wenn mit Pop „keine Revolution zu machen“18 ist, wie Kleiner rückblickend und resigniert die „Dysfunktionalität der Popularisierung von Widerstandskulturen“19 zusammenfasst. Noch pessimistischer gewendet wird dieser Zusammenhang bei Heath und Potter, die in ihrem Buch über den „Mythos der Gegenkultur“ behaupten, diese sei „in den letzten vierzig Jahren eine der wichtigsten Triebkräfte des Konsumkapitalismus“20 gewesen. Den Beginn dieses Prozesses einer Popularisierung der Idee des subversiven Widerstands markieren allerdings ernsthafte Bestrebungen, künstlerisch den modernen Avantgarden nachzueifern und die generell als kapitalistisch verstandene Gesellschaft und deren Kulturindustrie dadurch zu transformieren. Diesen Veränderungswünschen lagen häufig konkrete sozialistische oder kommunistische Wertvorstellungen zugrunde. In Frankreich hat bereits in den späten 1950er und vor allem in den 1960er Jahren die Gruppe Situationistische Internationale (S.I.) um Guy Debord ihre Gesellschaftskritik in diversen Formaten und Publikationen veröffentlicht und damit den Studentenprotesten von 1968 zugearbeitet.21 In diesen Kontext fällt wiederum die Popularisierung der bereits erwähnten Ikone des Revolutionärs Che Guevara. Abgesehen von ihrem politischen und ideologischen Engagement hat die S.I. eine wirkliche ästhetische Innovation in der Kunstgeschichte geprägt: Ihre künstlerischen Strategien der Verfremdung sind unter den Schlagworten dérive und détournement bekannt geworden. Darunter ist erstens das Umherschweifen als subversiver performativer Akt begriffen, zweitens die gezielte Verfremdung und Zweckentfremdung von Zeichen und kulturellen Codes.22 In ihrer Zeitschrift erklärte die S.I. 1959 letztere Form der Aneignung und Verwandlung von Signifikanten: Détournement, the reuse of preexisting artistic elements in a new ensemble, has been a constantly present tendency of the contemporary avant-garde, both before and since the formation of the SI. The two fundamental laws of détournement are the loss of importance of each detourned autonomous element – which may go so far as to completely lose its original sense – and at the same time the organization

18 19 20 21 22

So der Untertitel des Aufsatzes, vgl. Kleiner 2014. Ebd. Heath/Potter 2011: 14. Vgl. Ohrt 1990 und 2000. Vgl. Blisset/Brünzels 2012: 17f.

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of another meaningful ensemble that confers on each element its new scope and effect.23

Am deutlichsten zeigte sich die künstlerische Arbeitsweise im Sinne des détournement dort, wo die Inhalte von Comics so verändert wurden, dass in den Sprechblasen schlichtweg neue Texte standen, die dem dargestellten Geschehen entweder neuen Sinn verliehen oder den ursprünglichen Sinn verdrehten und parodierten. Text-Bild-Kombinationen boten dafür die beste Angriffsfläche, weshalb auch Werbegrafik ein beliebtes Arbeitsfeld der künstlerischen Verfremdung darstellt, wie bereits die Dadaisten vorgeführt hatten.24 Auch die Geistes- und Kulturwissenschaften haben diesen Appell an die effiziente Störung kultureller Codes aufgriffen – etwa Umberto Eco, dessen mittlerweile kanonischer Text Für eine semiologische Guerilla neben etwa zeitgleich erschienen politischen Schriften wie Régis Debrays Die Revolution in der Revolution als eine bemerkenswerte akademische Annäherung an den Revolutionsbegriff verstanden werden kann. Ecos Konzept des semiologischen Guerilla-Kampfs basiert auf der utopischen Vorstellung, die Entlarvung ideologischer Mythen, wie Barthes sie nur theoretisch beschrieben hatte, als tatsächliche Aufklärungsarbeit jenseits elitärer akademischer Zirkel zu praktizieren und so direkt und individuell auf die AdressatInnen massenmedialer Kommunikation einzuwirken.25 Die Guerilla ist demnach zu einer Metapher geworden, deren ursprünglich militärisches Signifikat nun zur Beschreibung einer subversiven Kommunikationsstrategie dient.26 Ihr revolutionäres semiotisches Potenzial diente allerdings nicht nur der Studentenrevolte, sondern auch im Umkehrprozess der Kulturproduktion, die vom gegenkulturellen Image der Kommunikations-Guerilla profitierte. Auch die sogenannte Appropriation Art, begründet von Marcel Duchamp mit seinen legendären Readymades, greift auf vorhandene Zeichen bzw. Signifikanten zurück, um sie neu zu kontextualisieren. Dieser Prozess der Aneignung (Appropriation) und Wiederaneignung (Re-Appropriation)27 lässt sich gewissermaßen endlos fortsetzen und führt zu einer Kettenreaktion der Interikonizität. Das Handlungsmuster folgt dabei aber der Logik einer zweckentfremdenden Referenziali-

23 Debord 1959. 24 Vgl. etwa Marcus 1992. 25 Vgl. Eco 1985. Der Essay geht auf einen Vortrag zurück, den Eco ursprünglich im Oktober 1967, unmittelbar nach dem Tod Che Guevaras, in New York hielt. 26 Vgl. Schölzel 2012 für eine ausführliche Genealogie des Konzepts. 27 Vgl. Sturken/Cartwright 2009: 82-89.

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tät, denn mit jedem weiteren Verwertungszyklus ändert sich die Semantik der Signifikantenkette.28 Diese literarischen und bildnerischen Mittel finden erfolgreich Einsatz sowohl in der Konsumkultur als auch in der Konsumkritik. Die kulturtechnische Aporie liegt nun im Umstand begründet, dass die Gegenkultur sich zwar als oppositionell begreift, tatsächlich jedoch nur eine weitere semantische und zu kommerzialisierende Nische in der Ausdifferenzierung der Populärkultur ausfüllt. So kritisieren Heath und Potter etwa (recht pauschal) an den westlichen gegenkulturellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, diese seien von „dem System“, gegen das sich ihr Protest richtete, durchweg weniger als „Gefahr für die bestehende Ordnung“, sondern vor allem als „Marktlücke“ wahrgenommen worden.29 Besonders augenfällig wird dieser Zusammenhang in zeitgenössischen Formen der Guerilla-Kommunikation. Diese Kulturtechnik wurde als professionelle Strategie sehr erfolgreich vom schwedischen Werbegrafiker Kalle Lasn in der von ihm gegründeten Zeitschrift Adbusters adaptiert. Sein Ansatz folgt der auf den Situationismus zurückgehenden Idee, „das System“ mit seinen eigenen Mitteln – bzw. Zeichen – zu schlagen. Das jedoch bedeutet eben auch, „dass man sich im gleichen System, unter dem Diktat einer erhitzten Aufmerksamkeitsökonomie bewegt. […] Spielt man also das Spiel notgedrungen mit, schreibt man eine bestimmte herrschende Logik der Kommunikation fort“ 30, wie Abusters häufig vorgeworfen wird. Die Zeitschrift, ursprünglich als Ratgeber und Szenezeitschrift in Opposition zu einer konformistisch orientierten Werbebranche geschaffen, ist deshalb rasch zum Vorbild – und karrieretechnischen Sprungbrett – auch für kommerzielles Marketing avanciert, liefert sie doch letztlich eine Art Baukasten für eine effektive, innovative und preisgünstige Werbestrategie. So werden die gegenkulturellen und sich als kritisch inszenierenden Kommunikationsstrategien gezielt absorbiert, um durch Störsignale und Überraschungseffekte auf unkonventionelle Art AdressatInnen zu erreichen, die gewöhnliche Werbung ignorieren würden.31 Das oben beschriebene Prozedere des détournement entwickelt sich so zu einer Spirale der Appropriation und Re-Appropriation von Zeichenkomplexen mit wechselseitiger Absorptionsdynamik.32

28 Solche Formen der semantischen Verfremdung gehen auf die aus der Antike bekannten Modi der Parodie und des Pastiche zurück. 29 Heath/Potter 2011: 49. 30 Rimmele/Stiegler 2012: 141. 31 Vgl. Blisset/Brünzels 2012. 32 Vgl. Rimmele/Stiegler 2012: 142.

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Lasn selbst hat für seine künstlerische bzw. ästhetische Arbeit den Neologismus Culture Jamming geprägt, der für eine konfrontative Aneignung und Vermischung von Botschaften steht33: „The remixing of advertisements in an attempt to unmask (rather than ornament) corporate evils.“34 Verfremdungseffekte und die Dekonstruktion eines angeblichen Feindbildes – wie es der Kapitalismus abgibt – zielen darauf ab, überraschende visuelle und geistige Anreize zu schaffen, um den KonsumentInnen ein aufregendes Erlebnis zu verschaffen. Diese emotionale und begeisternde Werbestrategie innerhalb eines als „ästhetischer Kapitalismus“35 verstandenen Marketingfeldes, in dem der Inszenierungswert der Waren ihren eigentlichen Gebrauchswert ausmacht36, ist die Voraussetzung auch für weitere, mit dem Konzept der Revolutionität arbeitende Kampagnen.

„S TATUS -D EMO “ – D AS L UXUS -N ARRATIV Eine besonders komplexe Kampagne, der wir uns im Folgenden ausführlicher widmen werden, wurde von der Hamburger Agentur Nordpol+ bzw. deren Ableger Interpol+-Studios für die rumänische Automarke Dacia erarbeitet und über einen längeren Zeitraum in verschiedenen Werbeformen umgesetzt.37 Der ehemals sozialistische Staatskonzern Dacia, seit 1999 eine Tochterfirma von Renault, produziert mit dem Logan MCV und dem Duster die günstigsten Modelle in ihren jeweiligen Vergleichsklassen (Kombi bzw. SUV) und unterbietet die Preise anderer Anbieter systematisch, was vor allem durch die für europäische Verhältnisse extrem niedrigen Arbeitslöhne in Rumänien und den Verzicht auf sonst standardmäßig verbaute Ausstattung wie etwa elektrische Fensterheber möglich ist, dennoch wird auf ein hochwertig aussehendes Äußeres offenbar viel Wert gelegt. Für die Bewerbung dieser Automodelle erfand die Werbeagentur unter anderem die „Anonymen Status Schützer“, eine Gruppe elitärer Reicher, die sich die subversiven Methoden des Culture Jamming aneignet, um gegen die vermeintliche Usurpation des Status-Symbols Luxusauto durch weniger kaufkräftige soziale Gruppen vorzugehen. Die zentrale Forderung dieser fiktiven „Establishment Guerilla Group“38 lautet, Luxus müsse einer kleinen Klasse Privilegierter vorbehalten

33 34 35 36 37 38

Vgl. Lasn 2006. Haiven 2007: 85. Vgl. Böhme 2016 und Hutter 2015. Vgl. hierzu auch Ulrich 2013. Vgl. Dacia Guerilla Marketing 2008. Ebd.

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bleiben. Die billigen Autos von Dacia, so die Logik der Kampagne, werden von den Superreichen als Bedrohung und Provokation wahrgenommen. Hierfür wurde eine erstaunliche double-bind-Argumentation entworfen: Angeblich stören die reichen Eliten sich nämlich nicht nur an dem vermeintlich steigenden Luxus jenseits ihrer Gruppengrenzen, sondern gerade an der Tatsache, dass die Dacia-KäuferInnen ihre Kaufentscheidung eben nicht auf der Grundlage eines kompetitiven Status-Denkens treffen, sondern aus rein pragmatischen Gründen: „Das StatusSymbol für alle, die kein Status-Symbol brauchen“ lautet deshalb auch der Slogan in einer Reihe von Werbeclips. In diesen kommentiert zum Beispiel ein Polizeipsychologe Aufnahmen einer Überwachungskamera, auf denen zu sehen ist, wie eine „Sportwagenfahrerin“ ohne erkennbaren Grund den Außenspiegel eines vor ihr parkenden Dacia demoliert – offenbar, weil sie sich von dessen bloßer Existenz zu dieser „neuen Form von Vandalismus“ provoziert fühlt. Hier findet eine interessante Inversion statt: Das Anzünden oder Beschädigen von Luxuswagen ist als Protestform einer antikapitalistischen Gegenkultur in gentrifizierten Großstadtgegenden bekannt. In der Status-Kampagne für Dacia wird dieses Motiv zugunsten eines ironisierenden Luxus-Narrativs umgekehrt, um für das „Gegenmodell zur statusgetriebenen Mobilität“ zu werben. Für die Außenwerbung in der Schweiz wurde eine Reihe von Anzeigen gestaltet, die zunächst recht unspektakulär aussehen: weißer Hintergrund, zentral im Bild das beworbene Automodell im Halbprofil, daneben in fetter Schrift ein Hinweis auf den (niedrigen) Preis, ab dem dieses Modell zu bekommen ist, oben das Markenlogo. Doch auch diese Plakatwerbung wurde vorgeblich nachträglich vandalisiert (Abb. 2): In roter oder goldener Sprühfarbe sind Parolen wie „Kein Preis = Kein Prestige“, „Kleine Kasse = Keine Klasse“ oder einfach nur „Frechheit!“ quer über die Werbemotive aufgetragen, ergänzt durch die offenbar mit einem Stencil, also einer Sprühschablone, aufgetragene URL „www.status-demo.ch“, der Homepage der fiktiven Guerilla-Gruppe, die allerdings direkt auf die Seiten von Dacia weiterleitet. Diese wiederum sollen laut Werbenarrativ während der Kernzeit der Kampagne von derselben subversiven Gruppe gehackt und umgestaltet worden sein, weshalb sich auch hier entsprechende Status-Forderungen fanden. Begleitet wurde die Kampagne zudem von Printwerbung in illustrierten Zeitschriften, die – als redaktionelle Beiträge getarnt – über angebliche Status-Demos und Proteste vor Dacia-Niederlassungen gegen deren Niedrigpreispolitik berichtete („Was hat die ‚feine‘ Gesellschaft gegen dieses Auto?“).

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Abbildung 2: Plakat der Werbekampagne „Status-Demo“39

So werden also „subversive“ Guerilla-Strategien der „Oberschicht“ inszeniert, die auf einer Vereinnahmung klassisch gegenkultureller Protestformen beruhen. Der Kauf eines günstigen Autos wird in dieser (Negations-)Logik selbst zu einem revolutionären Statement der Emanzipation, zu einer umgekehrten Kampfansage an das Establishment, das einen exklusiven Anspruch auf Luxus erhebt. So kann man sich gleichzeitig als PragmatikerIn wie als RevolutionärIn angesprochen fühlen und bekommt dafür auch noch erschwinglichen Luxus versprochen. Die Markenbotschaft passt demnach gut in das längst etablierte Schema einer „Konsumkritik als Konsumanreiz.“40

„I T ’ S T IME F OR A NOTHER R EVOLUTION “ Ebenfalls mit dem Image von Revolution, jedoch in einer ganz anderen Weise, spielt ein 2008 von Nordpol+ für Dacia produzierter Image-Spot, der einige Aufmerksamkeit erregte und für unseren Kontext der Revolutionität von besonderem Interesse ist, denn hier wird die Appropriation von Revolutionsrhetorik noch einer weiteren Volte unterzogen. Von diesem Film mit dem vielsagenden Titel

39 Dacia Werbekampagne „Status-Demo“ 2008. 40 Vgl. Heun 2014.

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Revolución existieren zwei unterschiedliche Schnittfassungen: eine gut zweiminütige Langversion, auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen werden, und eine vor allem um die Exposition gekürzte Fassung mit lediglich 47 Sekunden. Der Clip beginnt mit Aufnahmen einer Hazienda in sattgrüner Palmenlandschaft, die an Südamerika oder die Karibik denken lässt. Gefilmt wird mit einer wackligen Handkamera, offenbar von der Rückbank eines Fahrzeugs aus. So wird das Bild nicht nur durch die Rahmung des Autofensters kadriert, sondern auch durch die aufgrund der hohen Lichtempfindlichkeit der Filmemulsion fast komplett schwarze Silhouette eines Mannes, der ebenfalls im Inneren des Gefährts sitzt und durch seinen charakteristischen Bart und die Feldmütze leicht als Fidel Castro identifizierbar ist. Die nächste Einstellung bestätigt diesen Eindruck: Castro, in voller Uniform und mit zwei Havanna-Zigarren in der Brusttasche des khakifarbenen Armeehemdes, trägt einen abgewetzt aussehenden Koffer durch kniehohe Unkraut-Vegetation. Er läuft mit skeptischem Blick auf die heruntergekommen aussehende, einsam stehende Hazienda zu. Über dem Eingang des einst wohl herrschaftlichen Gebäudes im Kolonialstil hängt eine zerschlissene rote Fahne träge im Wind, Putz bröckelt vom Gemäuer, die Balustraden sind eingefallen, Topfpflanzen zieren die Veranda. Auf der Tonspur sind nun melancholische Klavierklänge und entfernt verhallende Trompeten zu hören. Ein als Mao Zedong zu erkennender Mann tritt aus dem Haus, offenbar um zwei große Mülltüten herauszutragen. Er reagiert aber nicht auf Castros schüchternen Kontaktversuch. Nun mischen sich in den ohnehin schon nostalgisch stimmenden Soundtrack die 8bit-Soundeffekte eines alten Pacman-Videospiels, das, wie sich in der nächsten Einstellung herausstellt, von Lenin gespielt wird, der gelangweilt auf einen Röhrenbildschirm starrt, auf dem groß „Game Over“ zu lesen ist. Auch er nimmt den Neuankömmling kaum zur Kenntnis – ebenso wenig wie Mahatma Gandhi, der auf einem Bett liegend fernsieht, während er genüsslich Kartoffelchips isst. Im Nebenraum ist Karl Marx höchstpersönlich über der Lektüre der Zeitschrift Capital auf einem Lehnstuhl eingenickt. Seine – wie es sich für das Klischee eines Deutschen gehört – weiß besockten und in Sandalen steckenden Füße ruhen auf dem Tisch vor ihm. Die nächsten Einstellungen zeigen Rosa Luxemburg beim Tischkickerspiel gegen Martin Luther King, Ho Chi Minh am Handy telefonierend und schließlich Che Guevara, der sich mit Ghandi darüber streitet, wer für den Abwasch verantwortlich ist. Castro scheint seine anfängliche Skepsis überwunden zu haben und fragt in die Runde, ob er bleiben dürfe, woraufhin Marx ihm mitteilt, er könne mit Gandhi ein Zimmer teilen. Auf die Frage, wie es sich mit dem Kochen und Putzen verhalte, meint Marx nur: „Well, this is not the Four Seasons.“ In einer halbnahen Aufnahme wird nun Che gezeigt. Ikonografisch deutlich an das berühmte Foto des

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„Guerillero Heroico“ von Alberto Korda aus dem Jahr 1960 angelehnt, allerdings mit einem lässigen Grashalm im Mundwinkel dargestellt, hört man ihn sagen: „It’s time for another revolution.“ Marx erwidert: „Che, it’s about what people need.“ In der nächsten Einstellung sieht man die drei – Che Guevara, mit einer Colaflasche in der Hand, Karl Marx und Fidel Castro – nachdenklich nebeneinander auf der Veranda (Abb. 3), bevor ein abrupter Schnitt diese revolutionsromantische Szenerie beendet und zum pack shot des Werbeclips überleitet. Abbildung 3: Screenshot aus dem REVOLUCIÓN Image-Spot für den Dacia Logan MCV41

Endlich ist das beworbene Produkt zu sehen: Ein Dacia-Kombi Logan MCV steht mitten in einer nicht näher benannten europäischen Fußgängerzone, auf dem Wagendach prangt ein gigantisches Preisschild: „8.400 €“. PassantInnen begutachten das Auto interessiert. Es folgt der Abbinder: Untermalt von Paukenwirbel erscheinen auf komplett weißem Hintergrund in schwarzen Großbuchstaben zunächst „The world’s first estate car everybody can afford“, dann der Produktname und schließlich das Dacia-Markenlogo. Die Revolutionsklischees, mit denen hier gespielt wird, unterscheiden sich offensichtlich deutlich von jenen, die wir einleitend besprochen haben: Hier geht es weniger um das Image des Revolutionärs als Idealist, als handlungsmächtiger Akteur oder als Vorreiter einer politischen Bewegung. Das Pathos der Che-Ikone, auf das Daimler, Europcar und Mazda abhoben, scheint im Dacia-Spot weitgehend zu fehlen. Es handelt sich bei den gezeigten Figuren durchweg um längst

41 Dacia Logan MCV Image-Spot 2008.

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verstorbene – bzw. ermordete – historische Personen (außer Castro selbst, der erst 2016 starb), die hier in einer fiktiven Altersresidenz für Revolutionäre versammelt wurden. Die leicht entrückte Stimmung des Clips und die Tatsache, dass man nicht sieht, von wem Castro zu diesem offenbar entlegenen Platz chauffiert wird, könnten auch den Schluss nahelegen, dass es sich um einen jenseitigen Ort handelt, an den Castro, der sich 2008 krankheitsbedingt endgültig aus dem aktiven politischen Geschäft verabschiedet hatte, nach seinem Tod gebracht wird. Insgesamt macht die in der Hazienda versammelte Truppe jedenfalls einen wenig revolutionären Eindruck. Gelangweilt scheinen die Figuren sich die Zeit zu vertreiben und über banale Alltagsprobleme zu debattieren. Alles wirkt nicht mehr ganz zeitgemäß, von dem Zustand des Hauses über die Kleidung der Figuren bis hin zu ihren Freizeitaktivitäten und den museal wirkenden Gegenständen und alten Medienapparaten, die das Haus schmücken. Zu diesem Eindruck trägt erheblich auch die für den Clip gewählte Ästhetik bei: Auffällig ist dabei zunächst vor allem das durchgehende Rattern eines alten Filmprojektors auf der Tonspur, das auch jene ZuschauerInnen, denen es nicht bereits durch die charakteristische Farbgebung und Körnigkeit der Bilder auffiel, darauf hinweist, dass es sich um analoge Schmalfilm-Aufnahmen handelt – bzw. handeln soll, denn tatsächlich gedreht wurde höchstwahrscheinlich digital. Der geradezu penetrante „Film-Look“ scheint dem Material erst in der digitalen Postproduktion beigemischt worden zu sein, dafür spricht allein schon die Bandbreite und Deutlichkeit der in den nur zwei Minuten eingesetzten „analogen Artefakte“.42 Die Farbintensität des stets leicht unscharfen Filmmaterials wirkt mal ausgeblichen oder überbelichtet, mal extrem übersaturiert, Helligkeit und Kontrast schwanken ebenfalls stark. Immer wieder gibt es sogenannte Light Leaks an den Rändern des leicht vignettierten Bildes. Auch Kratzer und Flecken sind zu beobachten, dazu ein starker Flickereffekt. Kurz wird zweimal auch die Perforation des vermeintlichen Filmmaterials sichtbar. Meist wird diese mittlerweile durch Smartphone-Apps wie Hipstamatic stark konventionalisierte Ästhetik der „analogen Nostalgie“43 eingesetzt, um ein positiv konnotiertes Bild einer weniger komplizierten Vergangenheit zu evozieren, auch und gerade in der Werbung. Tatsächlich betonen jüngere Studien die gestiegene Relevanz von nostalgischen Affekten für das Marketing44, wobei auch der Bezug auf historische Figuren eine zentrale Rolle spielen kann, sozusagen als rückwirkendes Celebrity Endorsement. Doch der Fall der Dacia-Werbung ist komplexer.

42 Flückiger 2008: 334–356. 43 Vgl. Schrey 2017. 44 Vgl. etwa Brown 2013 oder Kießling 2013.

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Offensichtlich will der Spot weder in Nostalgie für die Ideale der insgesamt doch sehr heterogenen Revolutionskonzepte der verschiedenen Akteure schwelgen noch richtet er sich an eine Zielgruppe, bei der man eine solche Haltung voraussetzen könnte. Anders als etwa bei Eder behauptet, loben die Revolutionäre deshalb auch nicht die Erschwinglichkeit des beworbenen Autos45, vielmehr bleibt unklar, worauf sich das Gespräch über die „neue Revolution“ genau bezieht. Insgesamt werden die Figuren in ihrer Apathie recht negativ gezeichnet. Außerdem scheinen sie ihre Ideale verraten oder zumindest vergessen zu haben: Der asketische Gandhi isst Kartoffelchips, Marx liest Capital, Che trinkt Coca-Cola. Gezeigt werden hier demnach nicht Visionäre, sondern ausrangierte Karikaturen, deren Revolution überholt und ohnehin nur Gerede ist. Die im Clip evozierte Nostalgie ist daher auch weniger eine, die die Erinnerung an historische Revolutionsbewegungen idealisierend heraufbeschwört, sondern vielmehr eine, die sich auf das Obsolete und Marginalisierte richtet und es auf diese Weise verharmlost bzw. verniedlicht, wie dies etwa bei Evan Watkins beschrieben wird.46 Der nostalgische Stil wirkt hier demnach als eine Art „ideologischer Diminutiv“: Die in vielerlei Hinsicht inkompatiblen Revolutionskonzepte, für die die gezeigten Figuren stehen, werden so gleichzeitig egalisiert und als obsolet codiert. Der nostalgisch romantisierten Revolutionsfiktion wird die vermeintlich authentische, realisierbare Option einer marktwirtschaftlichen Revolution gegenübergestellt. Deutlich wird dies auch daran, dass der pack shot sich ästhetisch stark vom Rest des Clips absetzt. Unprätentiös, nüchtern und schnörkellos wird hier nur das gezeigt, was im Sinne der Werbebotschaft wichtig ist: Das Auto und sein Preis, gefilmt ohne erkennbare Filter oder ästhetische Eingriffe. Durch den so entstehenden Kontrast schreibt sich Dacia zwar in die Reihe revolutionärer Ansätze ein, distanziert sich aber gleichzeitig auch von diesen. Die Kernbotschaft des ImageSpots ist: Während die Revolutionäre nur reden, schreitet Dacia zur Tat und schafft eine bessere, gleichere Gesellschaft – nicht durch Klassenkampf oder Umverteilung, sondern durch niedrige Preise für die Statussymbole, die den Massen sonst vorenthalten werden. Diese zeitgemäße, „andere“ Revolution, so der in der Kampagne entworfene Mythos, ist eine des Marktes selbst. Die Realität der Produktionsbedingungen bleiben dabei ausgeblendet. Gegen die legitime Forderung

45 Eder 2010: 303. Die Dacia-Werbung wird hier nur kurz erwähnt und nicht ausführlicher interpretiert. 46 Watkins 1993: 39.

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der ArbeiterInnen in der südrumänischen Dacia-Fabrik in Piteşti, am erstaunlichen Verkaufserfolg der Modelle Logan und Duster beteiligt zu werden, legte Renault Klage bei einem rumänischen Gericht ein.47 So zeigt sich, wie vielfältig und komplex die Formen der werbetechnischen Vereinnahmung von Revolutionität ausfallen können: Die Idee der gegenkulturellen und antikapitalistischen Revolution wird in den Beispielen auf sehr unterschiedliche Weise semantisch mit anderen Inhalten verknüpft, appropriiert und trivialisiert. Alle besprochenen Fälle basieren dabei auf der Prämisse der Bekanntheit revolutionärer bzw. revolutionsromantischer Ikonographie, deren Mythos sie so gleichzeitig fortschreiben und demontieren.

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47 Vgl. wikinews.org 2008.

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Das U(h)rverständnis von Mann und Frau – oder: Die inszenierte „Breitbeinigkeit“1 geht in Serie Zur Komik in der Werbeserie am Beispiel der Uhrenmarke IWC C LAUDIA S ASSEN

IWC, Schaffhauser Uhrenmarke mit der Ausbuchstabierung International Watch Company, warb ab der Jahrtausendwende sechs Jahre lang für „besonders männliche“2 Artikel mit einer „niemals frauenfeindlich, aber immer männerfreundlich gemeinten“3 Werbeserie. Insgesamt 49 Motive erschienen dem internationalen Presserezipienten in mehr als tausend Anzeigen und bewarben Schweizer Wertarbeit, die nicht nur zu Lande, zu Wasser, sondern auch in der Luft ihren Besitzer4 mit langer Lebensdauer erfreut – einigen Anzeigen zufolge mindestens bis ins Jahr 2499, denn dann läuft die uhreninterne Kalenderprogrammierung ab. „Männliches Erbgut.“ hieß es oder „Zarte Hände sind wie geschaffen für eine IWC. Um sie zu bauen.“ und: „Die erste IWC-Schlagzeile für Frauen: Bitte weiterblättern.“5 Als am 18. März 2005 eine rot durchstrichene Zusammenschau sämtlicher Motive in der Neuen Zürcher Zeitung geschaltet wurde, verabschiedete sich die IWC in eine neue Positionierung mit den Worten „Jetzt sind wir unser Macho-Image los.“6

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2 3 4 5 6

Vgl. Ahrens 2010 in einem Zeitungsartikel über den Chief Executive Officer der IWC, Georges A. Kern, unter dessen Leitung die „breitbeinigen Werbesprüche“ der Kampagne von 1999 bis 2005 abgesetzt wurden. Sofern nicht anders angegeben, sind sämtliche Schlagzeilen den IWC-Anzeigen auf www.fliegeruhr.ch entnommen. persoenlich.com. Der Lesbarkeit halber verwendet der Verfasser durchgehend das generische Maskulin. persoenlich.com. persoenlich.com.

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Ausschlaggebend war, dass man kritische Stimmen7 nicht unerhört verhallen lassen wollte. Unter Federführung von Marketingmanager Georges A. Kern wurden die testosteronhaltigen Zeilen durch frauenfreundlichere ersetzt. Eine neue Zielscheibe war bald gefunden: die eigenen Kunden, durchweg aus gehobenem Kreise, über deren Reichtum man sich lustig machte8: „Für alle, die sich ihr Motorboot auch mal von unten ansehen wollen.“9 Die Anzeigenserien der IWC funktionieren wie das Gros zeitgenössischer Werbeserien über Komik.10 Komik stellt über ihre hohe Prägnanz das Hauptmerkmal für die Gestaltung serieller Werbung dar und wirkt wie ein Bindemittel von Anzeige zu Anzeige. Der Mehrwert in der Kombination von Werbeserie und Komik steht mit der Beobachtung in Zusammenhang, dass Werbung stets in Konkurrenz zueinander tritt und die durch Werbung eingeforderte Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist, welches kompetitiv immer wieder neu eingeholt werden muss.11 Eine weitere Motivation für die Verwendung von Komik liegt in der industriellen Massenproduktion: Produzenten hatten einst erkannt, dass die eigenen Erzeugnisse denen der Marktbegleiter immer ähnlicher wurden, und strebten die Entwicklung von Marken zur Sicherstellung von Unverwechselbarkeit an. 12 Seriell basierte komische Werbung eignet sich hier besonders, da sie einerseits der Markenerinnerung dient, andererseits der Entwicklung und Verfestigung eines eigenen Stils. Sobald Werbung Komik verwendet, scheint das Spiel mit Genderrollen unvermeidlich, da auch dieses Thema über beträchtliche Einprägsamkeit verfügt. Bei IWC-Uhrenwerbung wird offenbar gerade über die seriell-komische Variation eine latente Ironisierung generiert. Daraus ergeben sich Situationen, die als ambivalent betrachtet werden können: Es ist schwer zu entscheiden, ob IWCUhrenwerbung frauenfeindlich ist oder nicht; denn für beide Sichtweisen lassen sich Argumente finden. Die sich genderspezifisch überbietenden Schlagzeilen „Männer verdienen mehr als Frauen. Zum Beispiel eine IWC.“ und „Die Lauterkeitskommission hat beschlossen: Die IWC-Werbung ist nicht weiberfeindlich.“ veranlassten laut Spiegel13 so viele Frauen wie nie zuvor, eine IWC-Uhr zu erwer-

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Der Standard. Vgl. Ahrens 2010. IWC Anzeige (2006). So zum Beispiel in Werbung für die Marken Ritter Sport, Astra Bier oder die IAA in Frankfurt. 11 Schmidt 2002: 112, Werber 1998. 12 Ingenkamp 1996: 160. 13 Der Spiegel 6/2004: 73.

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ben. Gleichzeitig entfachte sich unter Federführung des Schweizer Politikers Moritz Leuenberger ein nationenübergreifender Diskurs in den Medien, der Sexismus in IWC-Werbung thematisierte.14 Im Folgenden soll gezeigt werden, wie in der IWC-Werbekampagne des Intervalls 1999-2005 über komische Variation von Schlagzeile und Fließtext mit dem Rezipienten intelligent gespielt wird. Der Variation unterliegen häufig zwei im Bergson’schen Sinne interferierende Serien mit Genderrelevanz15, die auf Anzeigen mit mehrteiligen Schlagzeilen bezogen einen Zyklus zu bilden scheinen: Das unentwegte Bemühen der IWC-Werbung, ein maskulines Monopol aufzubauen, um es umgehend zugunsten potentieller Kundinnen wieder abzubauen und mit vorgenanntem Imageaufbau erneut zu beginnen, wobei der Einstieg jederzeit stattfinden kann und man nicht zu sagen vermag, was in diesen Anzeigen zuerst da war: Die Bestandsschutzmaßnahmen für den Mann oder die Kundenkreiserweiterung im Dienste der Frau.

S ERIE

UND

K OMIK

Werbeanzeigen enthalten formale und inhaltliche, gleichbleibende und variable Elemente, die, wie in einem Corporate Design, erkennbar geeint sein müssen, um einen „konstanten Look und Feel“ zugunsten von Wahrnehmung, intellektuellem Mitvollzug, sowie Erinnerungsleistung16 zu garantieren. Konstanten der IWCAnzeigen sind ihre Monochromie, das mit der Ziffer Zwölf nach links gerichtete Produkt im unteren Drittel – allerdings mit wechselnden Modellen – die Schlagzeile im oberen Drittel (Schrifttyp Impact), der mit ihr stark kontrastierende Fließtext (Helvetica) in einer Spalte rechts im Bild, sowie ein größer gedrucktes Herstellerlogo und ein wiederum kleiner gedruckter Slogan, außerdem Hersteller-, Agentur- und Kontaktinformationen.

14 Siehe auch den Abschnitt „Eine Variante mit diskursivem Kontext“. 15 Vgl. Bergson 1900/1988: 67f. Bergsons Prinzip der Interferenz ist trotz erheblicher Formenvielfalt auf die Merkmale einer Situation zusammenzufassen, die zwei widersprüchliche, inkongruente „Ereignisreihen“ kombiniert „und gleichzeitig auf zwei ganz verschiedene Arten gedeutet werden kann“ und letztlich zu einem „Moment der Unschlüssigkeit“ führt. 16 Armstrong 2011: 196.

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Das Seriell-Variable in der Werbung ist, ähnlich dem aus dem Slapstick stammenden Running-Gag, gekennzeichnet von der „comichaften Regenerationsfähigkeit“ seiner Elemente17, mit anderen Worten, dem Schlüssel zur potentiell endlosen Variation: Das Produkt, die Schlagzeile, der Markenname, das Logo oder damit verbundene Sympathieträger lassen sich immer wieder aufs Neue deklinieren und präsentieren. Gespielt wird zuweilen auch mit Verpackungseinzelheiten18 oder wie bei der IWC mit Images und Image-Elementen, die kaleidoskophaft und gleichzeitig sinnstiftend immer wieder anders zusammengefügt und verwendet werden. Sollten sie dabei zerstört werden, lässt man sie wiederauferstehen. Denn Images und Image-Elemente leiden nicht kampagnenübergreifend, sondern immer nur lokal, also in der jeweiligen Anzeige, die man gerade betrachtet. Nach dem Prinzip der Fortsetzung glaubt man sich an der „Neuheit der Geschichte“ zu erfreuen, goutiert aber de facto die Wiederkehr eines konstanten Schemas.19 Es lässt den Rezipienten auf jede neue Folge warten und nach Erleben ebendieser ungeduldig die nächste antizipieren. Vor allem die Differenz und die Variation sorgen für Wertschätzung, stützen gleichzeitig die Weiterführung der Serie und machen sie immer wieder lebensfähig. So haben (Werbe-)Serien ihre eigenen Regeln und sind höchst paradoxiehaltig, indem sie stets fertig, doch nie vollendet sind.20

B EOBACHTUNGEN

ZUR

IWC-S PRACHE

Das Ziel der IWC-Werbung besteht darin, seriell ein Verwendungsideal für den Mann zu zementieren, dem Rezipienten also zu zeigen, dass die Uhr am besten am männlichen Handgelenk aufgehoben ist („Outen Sie sich als Mann.“, „Typisch männliches Geschlechtsmerkmal.“, „Der Uhr.“). Dieses Ziel wird jedoch variationsreich zulasten des Mannes konterkariert, da die IWC-Werbung Anstrengungen unternimmt, (auch) die Frau zur Geltung kommen zu lassen und sie unter Umständen sogar vor IWC-Werbung zu bewahren („Bitte weiterblättern.“). Formal erfolgt der Fokus auf die Frau vor allem in Schlagzeilen, die aus zwei Sinneinheiten bzw. Teilen bestehen. Eine Umdeutung der Lesart im zweiten Teil sorgt für den komischen Effekt:

17 18 19 20

Marschall 2007: 557. Vgl. Anzeigen der Zigarettenmarke Lucky Strike. Vgl. Eco 1989: 305. Vgl. Kelleter 2013: 12.

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a) „So tief können nur Männer sinken: bis 2000 Meter u.d.M.“: Der erste Teil der Schlagzeile („So tief können nur Männer sinken“) wirkt wie eine durch die IWC repräsentierte Selbstanklage der Männerwelt, die sich exklusiv der Niveaulosigkeit bezichtigt. Implizit wird zu verstehen gegeben, dass Frauen eine Niveaulosigkeit diesen Ausmaßes nicht erreichen. Dies mag als ein Kompliment gedeutet werden, genauso aber auch als Unverfrorenheit, da Frauen auch bei dieser Leistungsform explizit ausgeklammert werden. Das Adverb „so“ als vorausweisendes Wort, welches im Sinne von Ehlichs Aspektdeixis auf Eigenschaften an Objekten verweist, ursprünglich auf konkrete, wahrnehmbare Gegenstände21, wird im zweiten Teil der Schlagzeile jedoch anders desambiguiert, als konventionell zu erwarten: „bis 2000 Meter u.d.M.“ Analog zum ersten Teil wäre an dieser Stelle mit einer Ausführung der Eigenschaften zu einem Abstraktum zu rechnen. Stattdessen wartet der zweite Teil mit einem exakten numerischen Wert auf, definiert also das „Tief-Sinken“ in etwas Greifbares um. Gleichzeitig gibt die IWC dem Mann Entwarnung: Er ist gar nicht exklusiv niveaulos. Er ist überhaupt nicht niveaulos. Es geht letztlich darum, dass ausschließlich er imstande ist, tief zu tauchen. Sein temporär scheinbar angekratztes Image wird umgehend rehabilitiert. Man reicht also im ersten Teil der Schlagzeile dem weiblichen Rezipienten die Hand und zieht sie ihm dort je nach Deutung wieder weg, wobei der zweite Teil als eine Art Surplus die Erwartung des Rezipienten aus dem ersten Teil enttäuscht und eine semantische Entwertung vornimmt. b) „Diese Anzeige ist sexistisch. Sie reduziert den Mann auf seine IWC.“ Bis zum Ende des ersten Teils der Schlagzeile wird der Rezipient davon abgehalten, eine IWC zu kaufen, weil zu befürchten ist, dass sich die Eigenschaft „sexistisch“ auf die IWC-Uhr überträgt und damit auf den Käufer. Da die Werbung ein maskulines Image schafft, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Rezipient primär Frauen als Sexismusopfer identifizieren wird. Außerdem wird der Rezipient die IWC als einen Mitgestalter der herrschenden Pro-Frau-Genderdebatte betrachten. Im zweiten Teil der Schlagzeile („Sie reduziert den Mann auf seine IWC“) vollzieht sich ein Bruch mit der Erwartungshaltung. Der Rezipient fühlt sich dabei ertappt, die Frau als Zielscheibe für Sexismus als selbstverständlich angenommen zu haben. Implizit wird von der IWC Kritik an einem übertriebenen In-Schutz-nehmen der Frau formuliert. Die privilegierte Stellung der Frau in der Sexismusdebatte, dergestalt, dass sie die Opferrolle vermeintlich für sich gepachtet habe, wird nun im Zuge der Gleichberechtigung der Geschlechter von der IWC auch für Männer beansprucht. Die IWC signalisiert dem Rezipienten, ihn durchschaut zu haben: Denn

21 Vgl. Hoffmann 2016.

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sie weiß, dass der Rezipient denkt, sie wisse nicht, dass man sich politisch korrekt verhalten soll. Einerseits scheint die IWC Frauen einen Platz einräumen zu wollen, andererseits ertappt sie den Rezipienten doppelt: und zwar dabei, sich mit der Frau zu solidarisieren, andererseits, Männer aus der Seximusdebatte als (potentielle) Opfer auszunehmen. c) Eine weitere Variation operiert ebenfalls mit einer mehrteiligen Schlagzeile, die gesondert durch Enjambements gekennzeichnet ist, welche den Rezipienten auf eine falsche Fährte locken: „Neu auch in Gelb-/gold für Frauen/nicht erhältlich.“22 Die Enttäuschung trifft den Rezipienten umso sch(m)erzhafter, denn etwas themenspezifisch Naheliegendes tritt ein, auf das man durch schlichtes Nachdenken auch selber gekommen wäre – hätte man den Parameter des Frauenausschluss-Running-Gags berücksichtigt. Graphisch betrachtet verleiht dieser Gag der Schlagzeile die klassische, für das Komische stets beschriebene L-Form. Man führt den Rezipienten auf einen geraden Weg, der dann unvermittelt abknickt.23 Wie der Rezipient manipuliert wird, soll nun auf einer sprachlichen Mikroebene expliziert werden: Bei Teilrezeption der Schlagzeile entsteht der Eindruck, dass Frauen nun doch als Zielgruppe für IWC-Uhren zugelassen sind oder – da man Frauen zunächst nicht thematisiert – sie zumindest nicht aus dem Kreise der Klientel ausschließt. Die Schlagzeile wird vermutlich zunächst als Phrase (Adjektivphrase mit Präpositional-Ergänzung) bis zum Bindestrich wahrgenommen: 24

Neu auch in Gelb- (Neu auch in Gelb [vorrätig]),

mit anderen Worten vermittelt der erste Teil dem Betrachter, dass seit kurzem eine IWC in der Farbe Gelb produziert werde. Das Produkt wird geschlechtsneutral eingeführt, was den Rezipienten für kurze Zeit in der Tat zur Annahme erhöhter Kundentoleranzwerte bei IWC motivieren könnte. Die nächste Zeile funktioniert ähnlich: gold für Frauen (gold [ist] für Frauen),

wodurch der Status der Frau bei IWC überraschend präzisiert und avanciert wird. Beide Zeilen können als Fragmente für sich gelesen und verstanden werden. Diese

22 Die Schrägstriche markieren Zeilenumbrüche. 23 Weyers-Rojas 2009: 51. 24 Die Ausdrücke in Klammern suchen eine mögliche, nachvollziehbare Vervollständigung der Phrasen zu liefern.

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Rezeptionsweise scheitert mitunter aber an der Minuskelschreibweise des Substantivs „Gold“. Dennoch rettet sich der Gedanke, dass die IWC nun auch Frauen berücksichtigt, über den Zeilensprung Neu auch in Gelb-gold für Frauen.

Durch das adverbial verwendete Lexem „neu“ erfährt der Rezipient, dass etwas 1. „neu“ und 2. „auch in Gelb“ zu bekommen ist. „Neu“ in Verbindung referiert auf etwas Bekanntes, einen Gegenstand, den es vorher schon gab, der in seiner jetzigen Ausführung allerdings noch nicht vorgelegen hat. Mit der Gradpartikel „auch“ wird eine Einstufung des Gesagten auf einer Erwartungsskala vorgenommen, das Unerwartete markiert. Der Rezipient bekommt jedoch eine bereits strukturierte Information, die sich am Umfang seines Vorwissens orientiert und „sich dessen Kopf macht.“25 In der Verknüpfung von „neu“ mit „in Gelb“ geht es um eine Bewegung in Raum und Zeit. Wenn etwas neu ist und gelb, so kann man sich fragen, was dieser Gegenstand außerdem noch ist. Nun entsteht eine Brechung, da das Lexem „gold“ beim Weiterlesen als Substantiv oder Adjektiv verstanden werden kann. Die Lösung liegt in der Verbindung mit dem von einer Präposition begleiteten substantivierten Adjektiv „(in) Gelb“ zum Kompositum „Gelbgold“ und ist „für Frauen [gedacht].“ Was nun passiert, läuft wiederum dem Erwarteten zuwider: Das Rezipientenauge rutscht in die nächste Zeile und der Rezipient erfährt, dass er einem garden-path-Satz aufgesessen ist; denn was als zwar elliptische, dennoch abgeschlossene Phrase kognitiv verarbeitet wurde – Neu auch in Gelbgold für Frauen [erhältlich] –

wird als Adjektivphrase mit Präpositionalphrasenergänzung fortgeführt: Neu auch in Gelb-gold für Frauen nicht erhältlich [seiend]).

Der Rezipient lernt bei Lektüre der gesamten Schlagzeile, dass seit kurzem das Produkt auch in einer bestimmten Edelmetalllegierung nicht für Kundinnen zur Verfügung steht. Die Negationspartikel „nicht“ wurde dem Rezipienten durch eine ungewöhnliche Spätplatzierung, und zwar vor dem prädikativ verwendeten Adjektiv „erhältlich“, fast bis zum Schluss der Schlagzeile vorenthalten und erfährt, falls gesprochensprachlich rekodiert, eine intonatorische Hervorhebung. Damit wird der Ausdruck „erhältlich“ ins Negative verkehrt. IWC erzeugt auf

25 Hoffmann 2016: 410.

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diese Weise für sich einen Wissensvorsprung und lässt den hinters Licht geführten Rezipienten, der nun auch weiß, was die IWC weiß, zurück. Eine standardsprachliche, als wohlgeformt empfundene Positionierung der Negationspartikel „nicht“ wäre vor der Präpositionalphrase „für Frauen“ zu erwarten, also im Mittelfeld der Konstruktion. Die ungewöhnliche Positionierung erfolgt nicht zufällig, da sie zu den neuralgischen Gewichtungen im Deutschen zählt. Diese findet am Ende einer Äußerung vor Terminierung der verbalen Satzklammer statt und dient dazu, relevante Information in den Vordergrund zu rücken, wobei meist „Exponenten des Prädikatsausdrucks wie das letzte Integrat [hervorgehoben werden].“26

E FFEMINIERTHEITSMERKMALE Flüchtig betrachtet kann man bei der IWC-Kampagne plakativ von Männern zugedachten Produkten sprechen. Schlagzeilen wie „Für die bemannte Luftfahrt.“, die stets in bombastischer Schriftgröße erscheinen, helfen dabei, dieses Image zu festigen. Mehrteilige, ebenso bombastisch gedruckte Schlagzeilen variieren sprachlich-komisch den Auf- und Abbau von Geschlechterbevorzugung und -inschutznahme. In IWC-Anzeigen gibt es einige Details jenseits der Schlagzeile, die den „sehr männlichen Artikel“ in seiner adonishaften Erscheinung deutlich einknicken lassen. Dazu zählt der recht klein gedruckte Fließtext mit seiner stereotyp Weiblichkeit konnotierenden filigranen Erscheinung. Die fortwährende Anstrengung, die hochdosierte Männlichkeit des IWC-Produktes in Stein zu meißeln, wird also durch Einsatz femininer Begriffe unterminiert und das auch noch vom Hersteller selbst, offenbar ohne, dass er dessen gewahr wird. Höchst wahrscheinlich wird er darum wissen27 und eine doppelte Strategie anwenden, aber hier lohnt es, dem Eindruck der Herstellerdesorientierung nachzugeben, um das dabei entstehende Moment des Komischen auszukosten. Wie in Bergsons Inversion findet eine „Vertauschung der Rollen“ statt, „eine Situation, die sich gegen den richtet, der sie herbeigeführt hat.“28: In der IWC-Werbung wird die IWC als Frauen demontierendes Organ demontiert, unter Umständen demontiert sie sich aber auch selbst, da sie die Hoheit über ihre Anzeigen hat. Zu weiteren effeminierenden Merkmalen, welche die IWC-Uhr demontieren, gehört

26 Hoffmann 2002: 16. 27 Die Werbeforschung dürfte in ihren Erkenntnissen mittlerweile so weit vorangeschritten sein, dass kein Element in seinem Wirkungsspektrum dem Zufall überlassen ist. 28 Bergson 1900/1988: 66f.

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a) der Slogan. Dieser konsolidiert jede Anzeige und riegelt die Zielgruppe Mann hermetisch ab: IWC. Seit 1868. Und solange es noch Männer gibt.

Die Struktur des Slogans verdient einen genaueren Blick in Bezug auf seine sprachliche Funktionalität: Er besteht aus drei Einheiten, von denen die letzten zwei trotz Punkt zeugmatisch verknüpft sind, also syntaktisch oder semantisch ungleiche Konstruktionen bilden. Diese Konstruktionen sind durch eine in der Werbung oft verwendete Quasi-Koordination „und“ und vor allem über ein gemeinsames Prädikat (hier „gibt“) verbunden.29 Die erste Einheit stellt eine Gegenstandspräsentation („IWC“) dar, Einheit zwei und drei eine Katalepse30, in der etwas, eine folgende Verbalisierung antizipierend, nicht versprachlicht wird.31 Die Katalepse erspart Rhematisches vorgreifend, integriert und verdichtet Sätze bzw. Konjunkte stärker und arbeitet auf einen informationellen Höhepunkt am Schluss des zweiten Teils hin, der weniger Wirkung hätte, wäre er zuvor bereits genannt worden.32 Die folgende Darstellung soll die syntaktischen Bestandteile verdeutlichen: IWC. (Nominalphrase) Seit 1868 [ ]. (Präposition + Nominalphrase). Und [ ] solange es noch Männer gibt. (Junktor/Subjunktion + Nebensatz).

In der rekonstruktiven Ergänzung ergibt sich: IWC. Seit 1868 [gibt es die IWC]. Und [die IWC wird es geben,] solange es noch Männer gibt.

Dieses Verfahren der Verbalisierung führt zu einer Fusion von Propositionen. Ein Intervall wird gedanklich nachvollziehbar, jedoch syntaktisch und semantisch unsauber abgesteckt, indem man die Initiation der IWC-Uhrenproduktion eindeutig auf das Jahr 1868 festzurrt und ihr Ende zwar einerseits ohne genaue Jahresangabe in Aussicht stellt, andererseits jedoch per indirekter Exaktheit mit dem Ableben des finalen, sich nicht mehr reproduzierenden Mannes koinzidieren lässt. Die syn-

29 30 31 32

Vgl. Janich 2013: 197. Nicht im Sinne Genettes (2010). Vgl. Zifonum, Hoffmann, Strecker 1997: 571. Vgl. ebd.

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taktische Unebenheit innerhalb des Slogans ergibt sich daraus, dass eine Jahreszahl über die Verbindung einer Präpositionalphrase und eines Nebensatzes mit dem Aussterben der als Kunden erhofften Zielgruppe in Beziehung gesetzt wird. Ein „IWC wird es geben von 1868 bis zu dem Zeitpunkt, da es keine Männer mehr gibt“, ist keine Alternative; denn ein Slogan, der zu sehr expliziert, läuft Gefahr, das Interesse des Rezipienten niemals einwerben zu können oder zumindest nicht erinnert zu werden. Betrachtet man den Slogan beispielsweise in Verbindung mit der Schlagzeile „Der Uhr.“ und dem Fließtextzusatz „sehr männlicher Artikel“, wirkt die Gesamtinformation einerseits übertrieben beflissen, andererseits unmännlich hilflos. Denn der Rezipient bekommt den Eindruck, dass die Schlagzeile und die darauffolgende Ausführung des Maskulinstatus im Fließtext nicht ausreichen, um den erhöhten Imagehärtegrad des Produktes überzeugend zu zelebrieren. b) Im Fließtext der Schlagzeile „Adamskostüm.“ wird darauf hingewiesen, dass die IWC einen „Weicheisenkäfig“33 besitzt, der vor Magnetfeldern schützt. Der adjektivische Bestandteil („weich“) des Determinativkompositums „Weicheisenkäfig“ konnotiert allgemein eher das schwache Geschlecht, denn kompromisslose Männlichkeit. c) Der periodisch wiederkehrende Hinweis auf den „ewigen Mondphasenanzeiger“ überrascht ob des maskulin konnotierten Fliegeruhrproduktes umso mehr, da mit Mondphase wahrscheinlicher die Synchronisation des Östrus in Zusammenhang gebracht wird. Einzig der Begriff „ewig“ könnte als Fingerzeig auf den bis ans Lebensende geschlechtsfähigen Mann gedeutet werden. d) Spätestens seit Nina Hagens Hommage an das eigene Geschlecht durch den Songtitel „Unbeschreiblich weiblich“ scheint nichts anderes mehr als Begriffspartner für das adverbial gebrauchte Adjektiv „unbeschreiblich“ haltbar als das Adjektiv „weiblich“. Die Wortpaarung könnte beinah den Status einer Kollokation besitzen. Die IWC eröffnet den Fließtext zur Schlagzeile „Der grosse Unterschied.“ mit den Worten „unbeschreiblich männlich“. Eine Auflösung in das traditionelle Wortpaar drängt sich auf und schiebt Weiblichkeit in den Vordergrund. Die einzig plausible Erklärung, um das werbesprachliche Vorgehen der IWC zu verstehen, liegt vermutlich darin, dass sich unumstößliche Männlichkeit nur im Kontrast zum Weiblichen entfalten kann.

33 Auch wenn es „der Käfig“ heißt, bekommt das Weibliche durch die Spezifizierung des Grundwortes mehr Gewicht.

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Das Verhältnis männlich-weiblich zu Gunsten oder zu Ungunsten der IWCUhr wird auf ein Neues variiert, wenn es in der Schlagzeile heißt: „Irgendwann werden auch Frauen diese Männeruhr tragen: Unternehmerinnen des Jahres.“ Der Fließtext übernimmt im generischen Maskulin mit „Wir gratulieren allen Preisträgern.“ (Hervorhebung CS) und löst damit Oppositionen auf, mit denen die IWC-Werbung jongliert. Darin besteht laut Jablonski eine der wesentlichen Eigenschaften der Komik: scheinbar feste Grenzen zu verwischen, die existieren zwischen denen, die ausgrenzen (IWC/Männer), denen die ausgegrenzt werden (Frauen) und „zwischen dem, durch komische Inszenierungen vorgeprägten Erwartbaren und Erwarteten in Bezug auf Sprache, Verhalten, Selbst- und Fremdbilder.“34

E INE V ARIANTE

MIT DISKURSIVEM

K ONTEXT

Obwohl Werbeserien durch ein leicht erlernbares formal-inhaltliches Musterwissen beim Rezipienten Fortsetzungserwartungen erzeugen, dürften Werbetreibende ein hohes Interesse daran haben, dass die Anzeigen solitär verstanden und vor allem serendipitär wahrgenommen werden können.35 Es mag zwar IWCAnzeigen geben, die sich dem Rezipienten schneller erschließen als andere, beispielsweise die Schlagzeile „Funktioniert bis ins hohe Alter. Wie ein Mann.“ Die Schlagzeile „Der Uhr.“ hingegen lässt ohne Kenntnis der IWC-Werbeserie vermutlich als erstes an einen unzuverlässigen Erzähler denken, da das Genus für „Uhr“ laut synchroner Wörterbücher weiblich ist. Doch auch diese Werbeanzeige ist ohne Unterstützung durch eine andere IWC-Anzeige interpretierbar, ultimativ mit Lektüre des Fließtextes, der die Schlagzeile mit dem Hinweis „sehr männlicher Artikel“ spezifiziert. Dennoch gibt es Anzeigen, die nur über vorausgehende Anzeigen in ihrer Gesamtheit zu begreifen sind, folglich also eine Ebene besteht, die auf Diskurse zielt. In der letzten hier behandelten Variation findet eine explizite Interaktion zwischen der Serie und ihrem diskursiven Kontext statt mit der Schlagzeile Unikat für Moritz Leuenberger: Das erste politisch korrekte IWC-Plakat.

34 Jablonski 2016: 13. 35 Siehe hierzu die Ausführungen von Reinhard M. Möller in diesem Band, weiter vorne in Abschnitt II.

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Leuenberger wirkte von 1995 bis 2010 als Regierungsmitglied und stand einem Departement vor, das unter anderem für Kommunikation zuständig war. Er galt als Kritiker der IWC-Werbung und nutzte den Diskurs, um sich an einer Genderdiskussion zu beteiligen und gleichzeitig sein Image als engagierter Politiker zu schärfen.36 In Antwort auf seine Äußerungen brachte die IWC ein als solches bezeichnetes „politisch korrekte[s] IWC-Plakat“ heraus und, da ein Unikat, auch nur genau einmal; Variationen dieser Anzeige sind nicht bekannt. Der Begriff „Unikat“ könnte bis zum Doppelpunkt der Schlagzeile auch als chronometrische Sonderanfertigung für Leuenberger gedeutet werden. Doch diese Option wird dem Rezipienten beim Weiterlesen der Schlagzeile entzogen, so dass sich besagtes Unikat in einer vergleichsweise kostengünstigen Papierversion erschöpft und die Schlagzeile erneut auf die klassisch-komische L-Form rekurriert. Die Anzeige wirkt wie eine Teilkapitulation der IWC, obwohl diese weiterhin darin aktiv ist, ihr Image aufrechtzuerhalten – unter anderem durch sich selbst ironisch auflösende Aussagen im Fließtext, die verbunden sind mit augenzwinkernd appositivinstalliert und wohlgemerkt nicht attributiv-restriktiv gebrauchten Adjektiven (siehe die Hervorhebung): So langweilig ist IWC-Werbung, ohne die Ironie unserer männerfreundlichen, nicht frauenfeindlichen Schlagzeilen.

Bei restriktivem Verständnis wären lediglich die IWC-Schlagzeilen gemeint, die männerfreundlich und nicht frauenfeindlich sind. Es könnten also auch männerfreundliche und frauenfeindliche existieren, daneben aber ebenso nicht männerfreundliche und nicht frauenfeindliche, sowie nicht männerfreundliche und nicht frauenfeindliche und darüber hinaus solche Schlagzeilen, die über die zuvor genannten Adjektive und ihren Skopus hinausweisen. Bei einem nicht restriktiven, appositiven Verständnis sind die Eigenschaften „männerfreundlich“ und „nicht frauenfeindlich“ für sämtliche IWC-Schlagzeilen gültig. Da die IWC ihre gesamte Kampagne mindestens auf Männerfreundlichkeit angelegt hat, ist hier von einem nicht restriktiven, appositiven Gebrauch der Adjektive auszugehen. Ihre Installation, sprich Einlagerung in eine bereits komplette Äußerungseinheit („ohne die Ironie unserer Schlagzeilen“), ist ein gekonnter, wenn nicht perfider Schachzug der Werbesprache: En passant werden die zentralen aus IWC-Sicht stets gültigen Eigenschaften der Uhrenkampagne benannt und bieten wenig Angriffsfläche für Diskussionen. Man erspart sich, für die Wahrheit dieser Sätze einzustehen; denn Eigenschaften, die eingelagert sind, erfahren selten eine Thematisierung. Auf

36 Leuenberger 2002.

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diese Weise ist es möglich, mit Adjektiven unangenehme Eigenschaften zu verbergen, Zusatzinformationen zu geben und gleichzeitig Relevantes zu verstecken oder unterzuschieben, das erst in einem zweiten Schritt wirksam wird.37 Was den Rezipienten an dieser Stelle womöglich schmunzeln lässt, ist die Redundanz und ein leicht lästiges, sich aufdrängendes und schwerfälliges Moment dieser Statements, das man als Rezipient nicht abschütteln kann und deshalb zu dulden scheint. Obwohl die IWC im nächsten Satz erklärt, dass es schließlich gelte, „eine der letzten Männerbastionen zu verteidigen“, wirkt der schließende Satz dieser Anzeige wie ein vorläufig gültiges, trauriges Kopfschütteln: Zugegeben, das ist politisch nicht immer ganz korrekt, aber sexistisch?

Die unterliegende Botschaft zieht mit einem resignativen „Liebe Rezipienten, kann es wirklich sein, dass ihr uns so missversteht?“ gleich. Doch die Gültigkeit dieser Resignation hat sich spätestens mit Planung oder Erscheinen des nächsten Werbemotivs aufgelöst, wenn es letztlich wieder heißt: Wie variieren wir diesmal die imagefeste Darstellung gar nicht mal so damenbärtiger Luxusuhren?

S CHLUSSBEMERKUNG So wie Komik über ihre hohe Prägnanz das Hauptmerkmal darstellt, um serielle Werbung zu gestalten, spielen wiederum in der Komik Genderaspekte eine große Rolle, da diese einprägsam sind und Raum für ein breites, seriell variables Handlungsspektrum bieten. Die Komik der IWC-Werbung ist mannigfaltig und komplex. Makrostrukurell lässt sie sich für die Serialität der Anzeigenmotive konstatieren, der nicht versiegen wollenden Variation des Versuchs ein selbstoktroyiertes Reinheitsgebot durchzusetzen, d. h. die IWC-Produktmännlichkeit gegen Frauen abzuschotten. Wesentliche komische Eigenschaften finden sich in der Enttäuschung von Erwartungshaltungen und in der Garantie eines großzügig offenbar sich selbst zugestandenen seriellen Scheiterns in der Einhaltung des Reinheitsgebotes. Mikrostrukturell findet sich Komik in der Erzeugung von Wissensvorsprüngen für die IWC, dem Verführen des Rezipienten zum Fehlparsing, dem Einsatz elliptischer und

37 Vgl. Hoffmann 2016: 45.

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kataleptischer Konstruktionen, Adjektiv-Installationen und dem beflissenen Nachjustieren der Männlichkeit durch konsolidierende Ausdrücke im Fließtext. Vor allem anhand des linguistischen Instrumentariums zeigt sich, dass das Komische an IWC-Werbung in einem nichtlösbaren Oszillieren besteht: zwischen Variation in der Imageformung und der variablen Zerstörung dieser Imageformung.

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Serendipity Zufallskreativität in kommerziellen Werbestrategien und in literarischer Gegenwartspoetik R EINHARD M. M ÖLLER

S ERENDIPITÄT

ALS

K ONZEPT

DER

Z UFALLSKREATIVITÄT

Die moderne Ästhetik hat es seit ihrer Grundlegung im 18. Jahrhundert bekanntlich nicht nur allgemein mit dem Unerwarteten und Neuen zu tun, sondern auch mit der vor allem künstlerische Produktion anleitenden Zielvorstellung, etwas als gut oder „glücklich“ Betrachtetes zu (er)finden oder hervorzubringen, obwohl – oder besser: weil – man es zuvor nicht gesucht oder seine Hervorbringung nicht planvoll angestrebt hat. Diese besondere Akzentuierung antiteleologischer Aspekte kommt nicht zuletzt in den von Kant in der Kritik der Urteilskraft formulierten Definitionskriterien einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ und des „interesselosen Wohlgefallens“ als Merkmale der ästhetischen Erfahrung des Schönen zum Ausdruck, während entsprechende Ideale autonomer Selbstzweckhaftigkeit zeitgleich auch das zentrale produktionsästhetische Paradigma kreativer Genialität bestimmen.1 In zeitlicher Nähe etwa zu Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1759), einem Grundlegungstext der neuzeitlichen Genieästhetik, prägte der britische Politiker, Sammler und Autor Horace Walpole 1754 den Begriff „serendipity“, der die Fähigkeit bezeichnet, mit Hilfe von nicht-regelhaften Zufallsimpulsen zu kreativen Ergebnissen und „Entdeckungen“ zu gelangen.

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Vgl. Kant 1995: 116-117, 136-137, sowie 241-246.

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Walpole führte den von ihm eingeführten Begriff explizit auf den aus dem indisch-persischen Raum stammenden und ab dem 16. Jahrhundert in Europa verbreiteten literarischen Märchenstoff der Drei Prinzen von Serendip, also auf einen literarischen Prätext zurück.2 Der Terminus „serendipity“ wird spätestens mit Robert K. Mertons und Elinor Barbers in den 1950er Jahren verfasster Studie Travels and Adventures of Serendipity3 zu einem wissenschafts- und organisationstheoretischen Konzept der Zufallskreativität erweitert, für das Kolumbus’ Landung in Nordamerika, die Entdeckung der Röntgenstrahlen, des Penicillins, von LSD oder auch die Entwicklung des „Post-it“-Klebezettels als signifikante Beispiele dienen. Das von Merton und Barber identifizierte „serendipity pattern“ umfasst hierbei kein bloßes Warten auf Zufallsentdeckungen, die als „unanticipated, anomalous and strategic“4 gelten, sondern zugleich die Schaffung von Bedingungen, die solche Entdeckungen ermöglichen, ebenso wie geschickte Strategien ihrer Weiterverarbeitung, und richtet so den Fokus auf Serendipität als gezielte Integration nicht planbarer Aspekte in planvoll angelegte Ordnungen. Hiervon ausgehend beginnt sich in jüngerer Zeit etwa ein vor allem informations-, organisations- und wissenschaftstheoretisch ausgerichtetes Forschungsfeld in Form eigenständiger „serendipity studies“5 zu entwickeln, welche die Rolle unplanbarer Impulse ebenso wie die hiermit verbundene Fähigkeit zum kreativen Umgang mit dem Zufall zum zentralen Thema machen. Erstaunlicherweise aber sind literaturwissenschaftliche Untersuchungen bislang kaum Teil dieses Feldes, obwohl die Denkfigur Serendipität nicht nur von einem literarischen Stoff abstammt, sondern offensichtlich eine besondere Relevanz gerade für literaturtheoretische und ästhetisch-poetologische Fragen besitzt.

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Walpole verbindet bei seiner Einführung des Begriffs ein zentrales Motiv des literarischen Märchenstoffs mit einem eigenen analogen Illustrationsbeispiel („To Mann, Monday 28 January 1754“, 407-408: „I once read a silly fairy tale, called The Three Princes of Serendip: as their Highnesses travelled, they were always making discoveries, by accidents and sagacity, of things which they were not in quest of: for instance, on the them discovered that a mule blinds of the right eye had travelled the same road lately, because the grass was eaten only on the left side, where it was worse than on the right—now do you understand serendipity? One of the most remarkable instances of this accidental sagacity (for you must observe that no discovery of a thing you are looking for comes under this description), was of my Lord Shaftesbury, who, happening to dine at Lord Chancellor Clarendon’s, found out the marriage of the Duke of York and Mrs. Hyde, by the respect with which her mother treated her at table.“ Merton/Barber 2006. Merton/Barber 2006: 236. Siehe zum Begriff der emergierenden „serendipity studies“ Silver 2015: 236-238.

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Auffallend ist unterdessen, dass die steigende Bedeutung von Serendipitätsaspekten in nicht-literarischen Zusammenhängen wie etwa der Ökonomie oder Informationstheorie oftmals als „Ästhetisierung“ ästhetikferner Kulturfelder durch den Einbezug von Faktoren wie Zweckfreiheit verstanden wird, die mit einer gleichzeitig angestrebten Ziel- und Ergebnisplanung in Konflikt treten kann. In ökonomisch-organisatorischen Kontexten verlagern gegenwärtige Serendipitätsmodelle den Fokus auf die weitreichende Operabilisierung oder gar Automatisierung dieses Konzepts partieller Nicht-Operabilität, die bis zu einem Boom populärer Ratgeberliteratur für die Entwicklung zielgerichteter Serendipitätsstrategien 6 reicht, aber eben gerade auch Strategien der Werbung mit einer Ästhetik des Zufälligen umfasst. Die Frage, wie sich eine eine anti-teleologische Akzeptanz von Zufälligkeit, Okkasionalität und sogar „wastefulness“ mit der Zielsetzung verbindet, zu „brauchbaren“ Ergebnissen zu gelangen, verbindet offenbar Kreativitätsprozesse sowohl in ökonomischen Zusammenhängen als auch im ästhetischen Kontext, und zwar insbesondere im Hinblick auf Strategien der Selbstreflexion und der werbenden Selbstpositionierung gegenüber RezipientInnen. Vor diesem Hintergrund untersucht dieser Artikel eine exemplarische Strategie von kommerzieller Werbung mit Serendipität am Beispiel von „Serendipity Shops“ und ein Programm serendipitärer Zufallskreativität in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Navid Kermanis 2010 gehaltener Frankfurter Poetikvorlesung Über den Zufall in vergleichender Perspektive.

„S ERENDIPITY S HOPS “ ALS B EISPIEL FÜR W ERBESTRATEGIEN DER S ERENDIPITÄT „Serendipity“ erweist sich als eine vor allem in Europa und Nordamerika, aber auch weltweit zunehmend beliebte Werbestrategie etwa im Bereich des Einzelhandels, welche sich in Slogans und Werbenarrativen, aber gerade etwa auch in

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So steht beispielsweise ein Artikel des Harvard Business Review 2011 unter dem paradoxal anmutenden Titel „Make Serendipity Work For You“, der die Tendenz zur Einspeisung eines teleologiekritischen Kreativitätskonzepts in eine teleologische ökonomische Verwertungslogik auf den Punkt bringt (vgl. De Rond/Moorhouse/Rogan 2017: „Serendipity is a [...] capability that can be cultivated, bought and sold [...,] developed, protected and sustained […]“). Vgl. zur Tendenz einer zweckorientierten Ökonomisierung ästhetischer Praktiken aus der kritischen Perspektive einer sozialwissenschaftlichen Kreativitätstheorie Reckwitz 2014, sowie Boltanski/Chiapello 2003; und (allerdings wiederum mit affirmativer Wertung!) Florida 2004.

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der ästhetischen Gestaltung von Ladenarchitekturen dokumentiert. Beispielhaft hierfür stehen sogenannte „Serendipity Shops“ als spezielle Form des concept store beispielsweise für Kleidung, Möbel, Einrichtungsstücke oder Bücher. Der für diesen Ladentypus durchaus exemplarische „Serendipity Urban Fashion Store“ in Mainz fasst seine „Geschäftsphilosophie“ in dem Slogan „Let it find you“ zusammen und begründet diese auf seiner Website www.findingsomethinggood.de mit der aus dem Oxford English Dictionary entlehnten Definition des Serendipitätskonzepts als „the effect by which one accidentally stumbles upon something truly wonderful; especially while looking for something entirely unrelated.“7 Als Vorläufer einer hier vorgestellten serendipitären Ladenästhetik können traditionell etwa Antiquitätengeschäfte und Buchantiquariate gelten, die typischerweise durch ein Warenangebot im Zeichen heterogener, unstrukturierter Fülle ein ebenso unstrukturiertes, nicht zielgerichtetes Stöbern ermöglichen, das in überraschende Zufallsentdeckungen münden kann, aber idealerweise nicht gezielt mit einem Kauf enden muss. Diese einkaufsästhetische Leitvorstellung korrespondiert in der Tat mit der konkreten Reaktualisierung des Begriffs „serendipity“ zum Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem dieser im Anschluss an Walpoles Begriffsprägung für ein gutes Jahrhundert in begriffliche Latenz getreten war: Ein kulturelles Feld, auf den der wiederentdeckte Serendipitätsbegriff verstärkt bezogen wurde, war der Kontext des Büchersammelns und der Bibliophilie, also eine Kulturpraxis, die typischerweise intellektuelle, ästhetische und kommerzielle Ziele integriert, wofür nach Mertons und Barbers Rekonstruktion etwa mehrere Leseranfragen in der Londoner Zeitschrift Notes and Queries ab 1875 als Beleg gelten können. Signifikant erscheint hier zugleich, dass es sich bei dem wohl ersten „Serendipity Shop“ der Kulturgeschichte um ein auf „rare books“ spezialisiertes Londoner Buchantiquariat handelte, das in einer Zuschrift des Lesers John Hebb an Notes and Queries vom 31. Oktober 1903 erwähnt wurde und somit durchaus eine vorbereitende Rolle für die Verbreitung des Serendipitätskonzepts in der intellektuellen Öffentlichkeit spielte: „Hebb had come across bearing the name Serendipity Shop and he sought an explanation of the name: A shop has recently been opened at No. 118 Westbourne Grove, with the extraordinary name of ,Serendipity Shop.‘ What is the meaning of ,Serendipity‘?“8 Tatsächlich gehörte das erwähnte Antiquariat nicht zufällig einem gewissen Everard Meynell, dem Sohn des umtriebigen Londoner Publizisten und „amateur

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http://www.findingsomethinggood.de. Merton/Barber 2006: 72-73.

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scholar“ Wilfrid Meynell, der in der britischen intellektuellen Öffentlichkeit Merton und Barber zufolge als Pionier eines systematischen Interesses an der Denkfigur und dem Begriff der Serendipität gelten könne.9 Während insofern das verstärkte Interesse der intellektuellen Öffentlichkeit an der Denkfigur der Serendipität im Großbritannien des ausgehenden 19. Jahrhunderts unter anderem auch durch Hebbs konkrete Referenz auf das Ladenkonzept eines Buchgeschäfts angeregt wurde, steht das Modell des Antiquariats oder des Antiquitätengeschäfts auch in einem repräsentativen Sinne für eine ältere, traditionsreichere Ladenarchitektur im Zeichen der Zufallskreativität, nämlich für eine Verkaufsumgebung, die von komplexer (Un-)Ordnung geprägt erscheint und durch Fülle und Diversität überraschende „Zufallsentdeckungen“ ermöglicht. Wie sich zeigt, folgen typische „Serendipity Shops“ der Gegenwart, die sich zwar teilweise auch noch auf historische Bücher oder Möbel, vor allem aber auf Mode und Einrichtungsgegenstände spezialisieren, oftmals jedoch einem hiervon zu unterscheidenden einrichtungsästhetischen Prinzip im Zeichen planvoller Reduktion. Ein beispielhafter „Serendipity Shop“ für Kleidung wie derjenige in Mainz präsentiert sich dementsprechend in einer minimalistischen Einrichtungsästhetik, die den Verkaufsraum einem Ausstellungsraum anverwandelt: Die wenigen Verkaufsobjekte sind entweder in ästhetischen „Landschaften“ angeordnet und wie Kunstobjekte markiert oder wie zufällig unregelmäßig im Raum verstreut, also auf eine Weise arrangiert, die (auch aufgrund fehlender Preisauszeichnungen) ihren Warencharakter und die leitenden kommerziellen Ziele noch stärker als in einem klassischen Antiquariat vergessen machen soll. Im Mainzer „Serendipity“Laden werden die wenigen zum Verkauf angebotenen Waren im Sinne einer Ästhetik inszenierter sloppiness präsentiert, als wären sie in einer Privatwohnung in morgendlicher Eile an irgendeinem zufälligen Platz vergessen worden: Eine Jeans hängt zusammengefaltet über der Kante eines Tisches, so als könne sie jederzeit auf den Boden fallen, andere Kleidungsstücke lagern in Plastik-Wäschekörben, in die sie achtlos hineingestopft worden sein könnten. Ein solcher Verkaufsraum, der als Erfahrungsraum Anspruch auf Individualität oder Singularität in Abgrenzung von gewohnten standardisierten Verkaufsräumen erhebt und bei dessen Gestaltung Zufallskreativität bewiesen wurde, soll es KundInnen ermöglichen, selbst solche Zufallskreativität zu entwickeln.10 Der Kaufakt soll hier dementsprechend

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Merton/Barber 2006: 63: „Meynell seems to be the first of those whose interest in serendipity was more than incidental whimsy but, rather, part of a moral and intellectual outlook“. Vgl. zu Everard Meynells erstem „Serendipity Shop“ auch dort, 73. 10 Vgl. zum Modell eines „kreativen Konsums“, auf welches Werbestrategien der Serendipität deutlich Bezug nehmen, Hohnsträter 2016: 7-13, und passim.

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nicht als passiv-abgeleitete Handlung des Konsums, sondern als ein quasi-ästhetischer Akt erscheinen, durch den man ein vermeintlich zufällig begegnendes Objekt mittels kreativer Improvisation in einen Gegenstand, dessen Aneignung sich lohnt, verwandelt und ihn so mit Bedeutung versieht. Während sich in traditionellen Antik- und Gebrauchtwarenläden jedoch eine chaotische Ladenästhetik eher ungeplant herausbildet, typischerweise im Lauf der Zeit einen „vollgestopften“ Verkaufsraum entstehen lässt und insofern auch viel eher tatsächliche Zufallsfunde ermöglicht, liegt der Fall bei neueren Werbestrategien und Ladenarchitekturen, welche die Denkfigur der Serendipität explizit in Anspruch nehmen, anders. So werden zwei zentrale warenästhetische Prinzipien des Supermarktzeitalters, nämlich „Symmetrie“ und „Serialität“11, hier nicht etwa wie im Fall des traditionellen Antiquariates zwanglos vernachlässigt, sondern gewissermaßen ausdrücklich negiert – gerade hierdurch betont eine explizit serendipitäre Ladenarchitektur ihren Inszenierungscharakter und weist sich in besonders betonter Weise als eine ästhetische Form der Warenpräsentation aus, die darauf abzielt, Kaufentscheidung und Warenauswahl als zwanglose „unerwartete Entdeckung“ erscheinen zu lassen und sie durch geschicktes nudging dennoch zu beeinflussen.12 Festzuhalten ist hier die durch das Werben mit der Möglichkeit von Zufallsentdeckungen besonders deutlich sichtbar werdende Tendenz, die Unterscheidung zwischen „Produzenten“ und „Rezipienten“ einer Verkaufsumgebung zu verwischen und die typischerweise eher passive Rolle der KonsumentInnen von Werbung, deren (aktive) Kaufentscheidung durch Strategien der Persuasion angeregt oder auch vorgezeichnet werden soll, hin zu der Rolle von (vermeintlich) kreativen Akteuren und „MitspielerInnen“ eines ästhetischen Prozesses der Entfaltung von Zufallskreativität zu verschieben.13 Tatsächlich kann ein solcher Auswahl- und Kaufprozess offenbar selbst dann, wenn er als Ergebnis einer planvollen Inszenierung von Zufälligkeit erkannt wird, von KundInnen als Erfahrung vermeintlich authentischer freier Zufallskreativität positiv erfahren und als naive oder

11 Vgl. Drügh 2015: 81. 12 Vgl. hierzu Zurstiege 2015: 115-116. Zurstiege erkennt gerade in der aktiven Inszenierung von Serendipität in (insbesondere digitalen) Werbestrategien der Gegenwart die Bedingung für die zunehmende Unmöglichkeit serendipitärer Konsumerfahrung, die er historisch mit der Verkaufsarchitektur des klassischen Warenhauses assoziiert. 13 Hierin lässt sich – ganz im Sinne eines Kreativitätsfigurationen zweckhaft usurpierenden „creative capitalism“ – eine geschickt verschleierte Werbetaktik erkennen, welche die planvolle Beeinflussung von Kaufentscheidungen mithilfe ästhetischer Mittel herbeizuführen und mit diesen zu leugnen versucht, während etwa eine Supermarktarchitektur, die Kaufentscheidungen durch den naheliegendsten Griff ins Regal ohne Umweg herbeizuführen versucht, diese Zielorientierung offen eingesteht.

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auch als reflektierte Täuschung aktiv gesucht werden. Gerade die hier erkennbare „unreine“ Kombination aus echter und vorgetäuschter ästhetischer Autonomie, aus planvoll inszeniertem und „echtem“ Zufall weist aufschlussreiche Parallelen zur möglichen poetologischen Funktionalisierung des Serendipitätskonzepts und zum Stoff der Drei Prinzen von Serendip als dessen literarischem Prätext auf.

D IE „U RSZENE “ SERENDIPITÄRER K REATIVITÄT : W ERBUNG MIT DEM Z UFALL IM M ÄRCHENSTOFF DER D REI P RINZEN VON S ERENDIP Bemerkenswert ist, dass die durch die spätere Begriffsprägung mit Zufallskreativität verknüpften Motive auch innerhalb des zugrundeliegenden literarischen Märchenstoffs der Drei Prinzen von Serendip typischerweise in einer Situation werbender Rede situiert wird, die umso wirksamer erscheint, da sie indirekt und wie zufällig eingesetzt wird. Unter dieser Perspektive lässt sich die – hier aus der 1583 in Basel erschienenen, von Johann Wetzel vorgelegten frühneuhochdeutschen Bearbeitung von Cristoforo Armenos Peregrinaggio di tre giovani figliuoli del re di Serendippo (1557) zitierte – vorbildhafte „Urszene“ des späteren Modells serendipitärer Kreativität, die vielfach als Vorläufer für typische Motive der modernen Kriminal- und Detektivgeschichte angesehen wird, auch auf den Kontext des Werbens mit Hilfe des Zufalls beziehen: Während sich die drei von ihrem Vater aus Serendip exilierten Prinzen auf dem Weg an den Hof des Königs Bahrams befinden, begegnet ihnen zufällig ein „Cameltreiber“, der nach seinem Kamel sucht und die drei reisenden Prinzen „fragt ob sie das nit auff dem weg irgendt gesehen hetten.“14 Was nun folgt, ist bemerkenswert: Die drei Prinzen beginnen, bestimmte, möglicherweise sogar nur erfundene kontingente Beobachtungen mit detaillierten Schlüssen zu verbinden, um so im Sinne einer „Scharfsinnsprobe“ ihre Fähigkeit zu dokumentieren, marginale Spuren sinnhaft auszuwerten und sie auf diese Weise in produktive „Entdeckungen“ zu überführen. Nach Aussage des Erzählers hatten die drei Prinzen zwar „die tritt oder fußstapffen deß Thiers gespürt und gesehen, jedoch aber das Thier selbs nit“, dennoch „sagten sie ja daß sie es auff der straß gesehen.“15 Sie erfinden also die Vorführung einer detaillierten Spurenlese, die im Folgenden als kennzeichnend für das Serendipitätsparadigma gelten soll, improvisierend aus einer kontingenten Situation heraus und unterstützen diese durch persuasive Rhetorik, die auf Vertrauensaufbau abzielt: 14 Armeno/Wetzel 1896 [1583]: 15. 15 Ebd.

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Und damit er ihnen desto mehr glauben gebe (denn als weise und verstendige Jüngling hatten sie viel gemerck und gewüsse zeichen deß verlornen Thiers gesehen) sagt der Elter: Guter Freund, sag mir, das Camel so du verlorn hast, ist es nit an einem Aug blind? Der Mann sagt ja. Der ander Bruder sprach, mangelt nit deinem Camel, zu dem so es an einem Aug blind ist, auch ein Zan im Maul? spricht abermals er ja. Der dritte sagt, zeig an, hinckt nit auch dein Camel? Er bestetigt es wie vorhin mit ja alles. Diß Thier, sagten sie, haben wir zimlich weit hinder uns gelassen. Der Cameltreiber gantz frölich saget den dreyen Brüderen grossen danck, zeucht die Straß im, sein Camel zu suchen, anzeigt, etliche meil nach, kann aber kein Camel das sein sey finden [...].16

Später kommt es zunächst zu einer negativen Wendung, als die Protagonisten dadurch, dass sie serendipitäres „Täterwissen“ offenbart haben, selbst unter Verdacht geraten, das Kamel gestohlen zu haben. Als es dann jedoch während ihrer Gefangenschaft wenig später gefunden wird, strahlt ihr Ruhm umso heller: Die Prinzen gelten nun als spontane Serendipitätsexperten mit einem besonderen Talent zum improvisierten Fingieren und Schlussfolgern, die das Problem ihres „Kunden“ divinatorisch erkennen. Der Text lässt bezeichnenderweise geschickt in der Schwebe, ob es sich bei ihrer erfolgreichen Spurenlese um eine echte, methodisch gesteuerte Spurenlese aufgrund kontingenter Spuren oder aber um eine reine Fiktion konkludenter Schlüsse, also um virtuose Hochstapelei handelt, der gegenüber sich die Realität ex post zufällig und glücklicherweise als kongruent erweist. Somit geht es bereits in der literarischen Vorlage für Walpoles spätere Begriffsprägung um ambivalente Verfahren der Werbung mit dem kreativen Fingieren von Zufällen sowie ihrer Verarbeitung. So wird bereits in den literarischen Prätexten ein Verwischen der Grenzen zwischen „echter“ Kreativität auf der Grundlage „echter“ Zufälle und deren planvoller fiktionaler Erfindung erkennbar, das sich durchaus auf verschiedene Formen der gegenwärtigen Funktionalisierung von Serendipität im Zusammenhang kommerzieller Werbung, aber auch ästhetischer und literarischer Praxis und Reflexion im Spannungsfeld zwischen geplanter Unordnung und ungeplanter Ordnung beziehen lässt.17

16 Ebd. 17 Walpoles schließlich erfolgreiche Begriffsbildung verdankt sich ebenfalls eher einer Rhetorik der suggestiven Illustration und der werbenden Persuasion als einer systematischen Argumentation. Das Ausgangsbeispiel für „serendipity, a very expressive word“, das statt auf „derivation“ auf Wirkungsaspekte wie Eingängigkeit und Anschaulichkeit setzt, ist eine eigene heraldische Entdeckung Walpoles, der in einem alten venezianischen Adelsbuch eine überraschende Ähnlichkeit zwischen den Wappen der

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S ERENDIPITÄT ALS P RINZIP POETOLOGISCHER S ELBSTCHARAKTERISIERUNG IN N AVID K ERMANIS Ü BER DEN Z UFALL Navid Kermanis im Sommersemester 2010 in Frankfurt gehaltene und 2011 veröffentlichte Poetikvorlesung trägt den programmatischen Titel Über den Zufall und präsentiert ein Beispiel für mit Serendipität werbende und zumindest bis zu einem gewissen Grad selbst serendipitär verfahrende poetologisch-autobiographische Selbstdarstellung. Einerseits handelt es sich bei dem auf dem Cover der bei Hanser veröffentlichten Buchfassung der Vorlesung abgebildeten Kamel um eine erklärte Anspielung auf den in der Vorlesung zitierten, dem Propheten Mohammed zugeschriebenen Aphorismus „Vertraue auf Gott, aber binde zuerst dein Kamel an“18, andererseits aber auch um eine (nicht?) zufällige glückliche Allusion auf den Märchenstoff der Drei Prinzen von Serendip und die diskutierte Passage als „Urszene“ des Serendipitätsmodells. Wenn dort das eben nicht angebundene, deshalb entlaufene und durch die serendipitäre Zufallskreativität der drei Prinzen wiedergefundene Kamel als „Wappentier“ dieses Modells eines virtuosen Umgangs mit dem Zufall präsentiert wird, lässt sich Serendipität auch als komplementäre Entsprechung der in dem genannten theologischen Aphorismus artikulierten Klugheitsregel praktischer Vernunft verstehen: Wer sein Kamel nicht anbindet (und insofern auf Gott oder den Zufall vertraut), muss zwar damit rechnen, dass es verlorengehen kann, kann aber, wenn er über serendipitäres Vermögen verfügt, damit rechnen, es auf Umwegen wiederfinden zu können, sodass die präventive Vorsichtsmaßnahme eben doch entbehrlich wird. Bezogen auf literarische Kreativität läuft dies auf die Zielsetzung hinaus, die zielorientierte und projektbezogene Planung von Schreibprozessen durch ein nicht-teleologisch ausgerichtetes Handlungsprogramm zu ersetzen (und implizit darauf zu vertrauen, dass sich hierbei auf Umwegen doch Ergebnisse einstellen). Diese theologisch, lebenspraktisch und poetologisch interpretierbare nicht-regelhafte Regel, die zu Beginn von Kermanis Vorlesung eingeführt wird, hat selbst wiederum viel mit der spezifischen Gestaltung von Kermanis Poetikvorlesung und mit der Textgestalt ihrer veröffentlichten Fassung zu tun, welche vor allem das für die Vortrags- und Textgattung der Poetikvorlesung konstitutive Spannungsverhältnis von planvoller Strukturie-

später tatsächlich durch Heirat verbündeten Häuser Capello und Medici erkennt (Walpole 1937-1938: 407). 18 Kermani 2012: 14.

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rung und Ungeplantheit in besonderer Weise fruchtbar macht, statt es aufzuheben.19 Hiermit reiht sich Kermanis Umgang mit dem Format der Poetikvorlesung, das traditionell auktorialer Selbstwerbung dient, einerseits in einen jüngeren Trend ein, der das Format und die Textgattung der Poetikvorlesung als eine offene „Form für nichts“20 erscheinen lassen, in der sich AutorInnen typischerweise durch verschiedenste rhetorische und narrative Strategien von der eigentlich mit dem Format verknüpften, sich aus genieästhetischen Traditionen speisenden Erwartung distanzieren: Diese richtet sich traditionell auf einen in strukturierter und autoritativ beglaubigter Form dargebotenen Einblick in die techné des eigenen Schreibens, der als Selbst- und Werkdarstellung gleichzeitig innerhalb des Literaturbetriebs die Funktion erfüllt, Werbung für den Verkauf der eigenen Publikationen als Ergebnisse der dargestellten kreativen Prozesse zu machen. Kermanis Vorlesungsreihe Über den Zufall nutzt dieses Format dahingehend, dass sie den „Roman, den ich schreibe“, und der 2011 unter dem Titel Dein Name21 veröffentlicht wird, ebenso wie seine poetologischen, literaturtheoretischästhetischen, theologischen und philosophischen und vor allem auch autobiographischen Kontexte nicht nur zum Thema von (Selbst-)Reflexion und Erzählung macht, sondern zu großen Teilen auch in diesen Vorlesungstext selbst integriert: Mit Blick auf die schwierige Wahl eines Titels für den sich durch Improvisation immer wieder ad hoc verändernden Vorlesungstext erklärt der Vortragende die Poetikvorlesung einerseits zum Paratext des Romans, andererseits beide für identisch. In einem narrativen work-in-progress werden beide Textteile vielfach überblendet, um den Eindruck zu verstärken, der Roman würde parallel zum Halten der Vorlesung entstehen, während gleichzeitig in den Vorlesungen (ebenso wie im Roman) immer wieder der Prozess des Schreibens der Vorlesungen und des Romans in ihrem Verhältnis zur alltäglichen Lebenspraxis des Erzählenden in einer Art mise en abyme-Struktur erzählt und reflektiert werden. In der Poetikvorlesung stellt der Sprecher eine Autorpoetik anhand eines immer wieder unterbro-

19 Dieses Spannungsverhältnis speist sich einerseits aus der Publikumserwartung eines strukturierten Einblicks in die auktoriale Praxis, der wenn schon nicht in Form einer Regelpoetik, so doch in Form einer geregelten Darstellung erwartet wird – und andererseits aus der gerade in zeitgenössischen Poetiken oft bekundeten Unmöglichkeit, diese Erwartung zu erfüllen, da eine nicht-regelhafte Praxis sich nicht in geregelt-planvoller Form reflektieren und darstellen lasse. Gerade diese rhetorische Geste kann jedoch nicht nur als Bescheidenheitstopos zur captatio benevolentiae, sondern auch als Strategie zur Bedienung genieästhetischer Autorschaftsmodelle gedeutet werden. 20 Bohley 2011: 227-242. 21 Kermani 2011.

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chenen Schreibprozesses im Kontext einer selbstreflexiv gebrochenen Selbstdarstellung vor, zu deren erklärten Vorbildern Jean Pauls teils autobiographische, teils mit autobiographischen Aspekten spielende Romantexte wie die Selberlebensbeschreibung (1818/1819) zählen.22 Auf allen Ebenen der als improvisatorische Erzählung angelegten Vorlesungsreihe spielt der Zufall eine entscheidende Rolle, welche dem Titel eine interessante Doppelbedeutung verleiht: Während sich unter der Überschrift prinzipiell auch die systematische, abhandlungsartige Reflexion einer Zufallspoetik verstehen ließe, die dann allerdings einen gewissen performativen Selbstwiderspruch erkennen ließe, präsentiert sich der Text viel eher als eine Erzählung, in der auf dem Weg über Zufälle ein Hybrid aus poetologischer Reflexion einerseits und der Narration eines Schreib- und Autorschaftsprozesses andererseits entsteht, in deren Zentrum jeweils serendipitäre Zufallskreativität steht. Die bereits zu Beginn unter Verweis auf den mittelalterlichen buddhistischen Zen-Meister Baso Matsu als Zielvorstellung proklamierte Vorgabe, „[zu] ,schlafen‘, wenn man müde ist, [zu] essen, wenn man hungert“, verweist somit auf die Absage an langfristiges strategisches Handeln zugunsten einer situativen Prozesslogik, die sowohl auf existenzphilosophisch-ethische Fragen wie auf den spezifischen Kontext literarischer Kreativität am Beispiel des „Roman[s], den ich schreibe“, bezogen wird.23 Bei allen Unterschieden liegen die Berührungspunkte zu serendipitären Werbestrategien im kommerziellen Kontext hier also in einer Inszenierung von Zufallskreativität, die das Werbeargument einer kunstvollen Ungeplantheit nutzt und scheinbar die Abgrenzung zwischen professioneller Tätigkeit und privatem Verhalten in Frage stellt, die sich hier mit Blick auf das Verhältnis zwischen „primärer“ Produktion und „sekundärer“ Rezeption von Literatur vor allem auf die rhetorische Aufgabe auktorialer Kontrolle und ihre folgende Restitution bezieht. Der entscheidende Unterschied besteht aber, wie sich zeigt, gerade darin, dass entsprechende Signale für die Authentizität einer zufallszentrierten autobiographischen Schreib- und Selbstdarstellung als Mensch und Autor, durch die HörerInnen einer Poetikvorlesung einen vermeintlichen Einblick in die alltägliche Lebens- und

22 Sowohl auf inhaltlicher als auch performativer Ebene wird so die Abgrenzung zwischen einer professionellen Autor-Persona und dem Autor als Privatperson durch die Ausstellung von prozesshafter Improvisation verwischt: Indem die Vorlesung thematisiert, wie der Alltag des Schreibenden immer wieder den Schreibprozess der Vorlesung und des Romans beeinflusst, entsteht trotz der asymmetrischen Kommunikationssituation ein Authentizitätseffekt mit dem Eindruck, in unverstellter Form einem Autor zu „begegnen“, der als Privatperson über sich und sein Schreiben Auskunft gibt. 23 Vgl. Kermani 2012: 8-9.

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Schreibpraxis eines Autors bekommen, hier einerseits aufgerufen, andererseits jedoch durch Signale der Skepsis und Ironie kritisch in Frage gestellt werden. Dass die mit autobiographischer Selbstbeschreibung verschränkte, „miterlebbare“ Erzählung des Schreibprozesses einen deutlichen Inszenierungs- und Konstruktionscharakter besitzt, thematisiert Kermani bereits in der ersten Vorlesung vom 11. Mai 2010: Zur Begründung des poetologischen Bezuges auf Jean Paul wird eine prototypische klassische Serendipitätsszene, die zur intensiven Lektüre von Jean Paul-Texten geführt habe, zunächst eingeführt und dann selbst wiederum dekonstruiert. So habe der erste Band einer „Dünndruckausgabe von Jean Pauls Werken“, nachdem er jahrelang ungelesen in einem Karton gelegen habe, zunächst nur dazu gedient, die Schieflage der Schreibtischplatte des Autors auf zwei Malerböcken auszugleichen, und dann, als er durch das Anbringen neuer Tischbeine entbehrlich wurde, den „Romanschreiber“ endlich im Sinne eines glücklichen Zufallsfunds zu einer besonders produktiven, da eine Neuorientierung der eigenen Poetik provozierenden Jean-Paul-Lektüre angeregt. Diese Erfahrung wird jedoch – im Sinne eines wiederum von Jean Paul inspirierten „Verfremdungseffekt[s]“24 – daraufhin explizit als fiktionale Erfindung gekennzeichnet, die den Bezug auf Jean Paul strategisch begründet, während es sich tatsächlich um eine Ausgabe von James Joyce’ in seiner Form und Poetik mindestens ebenso sehr mit Zufallskreativität assoziierbarem Text Finnegans Wake gehandelt habe. Dass es sich „in Wirklichkeit“ um Joyce gehandelt habe, habe aber „angesichts der Anlage des Romans zu nahe“ gelegen, „um als Zufall zu bestehen“. Auf diese Weise wird hier die Konstruktion glücklicher Zufälle sowohl auf der poetologisch-programmatischen als auch auf der thematisch-motivischen Ebene von Literatur in den Blick genommen: Als Gegenstück zu der „pathischen“ Aufnahme von kontingenten Kreativitätsimpulsen wird das aktive Fingieren signifikanter Zufälle als ein zentrales Verfahren literarischer Kreativität thematisiert und vorgeführt, während gleichzeitig die Notwendigkeit zur fiktionalen „Korrektur“ realer Zufälle durch die Annahme legitimiert wird, dass „in der Wirklichkeit so viele“ und oft so signifikante „Zufälle [geschähen], daß es in einem Roman für unwahrscheinlich gehalten würde und also ausgeschlossen sei.“25

24 Kermani 2012: 19. 25 Vgl. Kermani 2012: 16-17. Im Sinne eines inversen „effet de réel“ (vgl. hierzu Barthes 1968: 84-89) müssten demnach reale, biographisch bedeutsame Zufälle, denen eine allzu perfekte erzählstrategische Funktion zukäme, wiederum fiktional abgeändert erzählt werden, um sich einer Vorstellung von Wirklichkeit anzugleichen, in denen solch bedeutsame „Glücksfunde“ als allzu selten gelten: „In einem Roman ist es unwahrscheinlich, daß sich auf Seite 200 etwas Gravierendes ereignet, was weder vorher noch

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Erzählte Zufälle von unterschiedlichster Bedeutung werden in den autofiktionalen und den poetologischen Teilen der Vorlesung immer wieder als Störfälle und zugleich als Impuls für Abschweifungen und Improvisationen vorgeführt, welche den Sprecher bewusst nicht als ein professionell planendes Autor- und Rednersubjekt ausweisen, sondern den Eindruck einer „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“26 vermitteln, die sich nicht trotz, sondern dank kontingenter Zwischenfälle vollzieht. So wird die „Tonstörung“, durch die während der 2. Vorlesung vom 18. Mai 2010 „über Minuten eine Vorlesung aus dem Nachbarsaal zu hören“ gewesen sei, in der folgenden Vorlesung nicht nur als narratives Motiv, sondern als existenzphilosophisch-poetologische Allegorie aufgegriffen, um die in der auf diese Weise gestörten Veranstaltung vorgetragenen Thesen über „Hölderlin als Sufi der deutschen Literatur“27 fortzuführen und gleichzeitig zu relativieren, ebenso wie die Beobachtung, dass „ziemlich genau um fünf nach sieben eine Reihe von Hörerinnen und Hörern aufstanden und so diskret, wie es die Höflichkeit nur verlangen kann, den Hörsaal verließen“28, in den Erzählzusammenhang integriert wird. Ähnlich wie KundInnen eines „Serendipity Shops“ in gewisser Weise als Gäste und „Mitschaffende“ umworben werden, können sich die ZuhörerInnen von Kermanis Poetikvorlesung so auch als indirekte Beteiligte am dargestellten kreativen Prozess betrachten, die durch ihr Verhalten die Performance des Sprechers, den scheinbar improvisierten Text der Vorlesung und den entstehenden Roman beeinflussen. Das so demonstrierte Modell einer „pathisch“29 von außen bestimmten Kreativität stehe, wie Kermani reflektiert, mit dem Begehren nach auktorialer Kontrolle in Text und Leben in einem konstitutiven Spannungsverhältnis, welches Schreibprozesse ebenso sehr hemme wie antreibe: „Wie jeder, der ,ich‘ zu sagen lernt, möchte auch ich, daß alles Künftige gerade so sei, wie ich es möchte, und bin vielleicht [...] deshalb Romanschreiber geworden, um wenigstens zwischen zwei Buchdeckeln alles bestimmen zu können [...]. Wie jeder, der ,ich‘ sagt, erfuhr auch ich an der Unbeständigkeit, Unvorhersehbarkeit und Zufälligkeit der Dinge die eigene Ohnmacht, die mich von mir

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nachher irgendeine Bedeutung hat. Im Leben geschieht es andauernd. Romane beruhen auf Wahrscheinlichkeiten, damit auf einer Ordnung. Die Wirklichkeit hingegen scheint voller Zufälle“ (Kermani 2012: 32). Kleists berühmter Essay entwirft unter diesem Titel unter anderem eine Theorie kreativer Prozesse, die nicht aus sich selbst heraus, sondern auf dem Umweg über externe „Zumutungen“ und Zwänge emergieren. Vgl. Kleist 1990 [1805]. Vgl. Kermani 2012: 101. Kermani 2012: 106. Zum Konzept des „Pathischen“ vgl. Busch/Därmann 2007: 7-32.

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erlösen könnte, achtete ich nur auf sie. [...] Es ist der Zufall, der dem Ich seinen Hochmut austreibt.“30 Dass die fünfte Vorlesung vom 8. Juni 2010 zumindest gemäß der Ankündigung am Ende der vorhergehenden Vorlesung explizit den ästhetischen und existenziellen „Zufall“ thematisieren soll, wird ebenfalls auf eine Parapraxe zurückgeführt, durch die „meine Zunge das Wort Gott gegen das Wort Zufall aus[getauscht]“31 habe, obwohl „der Begriff des Zufalls“, wie in der ersten Vorlesung behauptet, „die Poetik des Romans, den ich schreibe, nur unzureichend bezeichnet und zudem ausgerechnet derjenige dem Zufall mißtraute, der für mein Herzklopfen verantwortlich war, weil ich an seinem Pult zu stehen meinte: Theodor W. Adorno.“32 Wie in Jean Pauls Romanen, in denen dieser nach zeitgenössischen Kritikerurteilen „schreibe wie ein spazierender Hund“33, laufe aber die auf den eigenen Roman bezogene poetologisch-wirkungsästhetische Zielvorstellung auf die zugleich „religiöse“ Hoffnung hinaus, „daß die Zufälle, die für den Romanschreiber und die anderen Figuren keine Struktur ergeben, sich für den Leser zu einer Ordnung fügen“34, die dann ein nicht planvoll geordnetes, aber dennoch nicht zusammenhangloses textuelles „Sammelsurium“ der Diversität ergeben würden, in dem sich überraschende Entdeckungen wie in einem Gemischtwarenladen machen lassen. Dieses Verfahren sei zugleich der Wirklichkeit eher analog, in der eben signifikante Entdeckungen, wenn überhaupt, nicht gezielt zu suchen, sondern „verstreut“ neben zahllosen nicht-signifikanten kontingenten Erfahrungen zu finden seien. Mit erneuter Berufung auf Jean Paul wird die eigene Poetik sowohl mit Blick auf den entstehenden Roman als auch die Poetikvorlesung somit durch ein – der Rezeptionsästhetik zumindest traditioneller „Serendipity Shops“ durchaus analoges – Prinzip heterogener Angebotsfülle charakterisiert, bei der wie auf einer „weiten Ebene“ [...] ringsum alles Mögliche verstreut liegt, das Höchste und das Niederste, Philosophie und Neunmalkluges, Poetik und Alltagsbeobachtungen, ohne daß die Seiten einer inneren Notwendigkeit zu folgen scheinen, die begreifbarer wäre als die Logik eines jeden Lebens selbst.“35 Die hierzu komplementäre produktionsästhetische Grundhaltung laufe somit auf eine rezeptive Offenheit gegenüber kontingenten Impulsen anstelle strategisch ordnender Planung hinaus.

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Vgl. Kermani 2012: 167-168. Kermani 2012: 160. Ebd. Kermani 2012: 35. Kermani 2012: 32. Kermani 2012: 17-18.

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Neben diesem Impuls zur poetologischen Neuorientierung des „Romanschreibers“ aus einem (fiktional abgewandelten) serendipitären Vorfall führt nach Kermanis Beschreibung ein weiterer typischer produktionspragmatischer (Um-)Weg zur Überwindung einer Schreibhemmung gerade über das Eingeständnis, vorübergehend „nichts anderes mehr als Abfall zu produzieren.“ Unter lebenspraktischen „Umstände[n], die das Arbeiten, wie er es gewohnt ist [...], unmöglich machen“36, habe sich der „Romanschreiber“, anstatt die Arbeit am eigentlich avisierten Großprojekt eines Romans voranzutreiben, im Sinne eines bescheideneren Kreativitätsprogramms lediglich darauf verlegt, „sich dem hin[zugeben], was die Tage bringen“, also kürzere Textfragmente unterschiedlichster Thematik und Gattungsorientierung („Alltagsszenen, Reisebeschreibungen, spontane Kommentare politischen Geschehens, Reflexionen über Filme, Gemälde, Bücher“37) zu notieren, die später einen poetologisch programmatisch ungeordneten Roman bilden, und sich so „vom Leser [befreit].“38 Das Verfahren, „sich den Gedanken an ein Ergebnis und damit eine Ordnung [zu] verbiete[n]“ und gerade dadurch zu Ergebnissen zu gelangen, die nicht als Ziele angestrebt werden, ist ein weiterer Teilaspekt eines serendipitären Programm literarischer Kreativität, das gleichzeitig dem Gestus der Okkasionalität entspricht, in dem die Poetikvorlesung selbst präsentiert wird. Ein literarisches Programm der werbenden Selbstinszenierung im Zeichen von Serendipität als Vermögen, wie Kermani es hier vorführt, unterscheidet sich insofern von „ungebrochenen“ kommerziellen Werbestrategien der Serendipität durch die deutliche Offenlegung des Konstruktionscharakters einer solchen Inszenierung, die gegenüber dem Eindruck authentischer Zufälligkeit wiederum den Aspekt der Planung ins Spiel bringt, gleichzeitig aber auch zeigt und reflektiert, wie Planungsabsichten ihrerseits immer wieder vom Zufall irritiert werden. Somit wird hier auch der Zufall nicht als ein bereits als regulierbar vorausgesetzter Faktor innerhalb zielgerichteter Strategien, sondern als tatsächlich unvorhersehbare Größe angesprochen, die trotzdem als solche zumindest bis zu einem gewissen Grad „handhabbar“ werden kann. Während die beschriebene „Serendipity“-Werbestrategie einen „echten“, nicht inszenierten Zufall tendenziell als Störfaktor betrachten müsste, präsentiert Kermani hier eine Strategie, die Zufälligkeit und Planung in einer Mischform integriert: Diese wird in der Charakterisierung von Jean Pauls impliziter Theologie und Romanpoetik zusammengefasst, der zufolge dieser „[den Zufall] als Christ

36 Kermani 2012: 45. 37 Kermani 2012: 52. 38 Kermani 2012: 47.

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bestreitet“ und „als Dichter besiegt [...], in dem er sich ihm ergibt“39, und Texte hervorbringt, die „das Paradox eines ,Kunstgartens des Zufalls‘ [sind], indem sie höchst willentlich vom eigenen Wollen lassen.“40 Zufallsimpulse können in einem solchen Kreativitätsmodell a) als produktive Ablenkungen dienen, aber in die Narration eines Schreibprozesses integriert werden, also die Textproduktion indirekt unterstützen, b) können sie Schreib- und Erzählimpulse“ für „Abschweifungen“ liefern, die sich additiv miteinander verbinden und so schließlich doch einen Plot bilden, und sie können c) Situationen hervorbringen, in denen aus ethischen oder pragmatisch-ökonomischen Gründen geschrieben werden muss, ohne dass die hierfür eigentlich notwendigen Bedingungen gegeben wären, und somit unter Aufgabe des „eigentlichen“ Zieles wiederum reale und erzählbare Schreibsituationen erzeugen. Mit Bezug zu langen gattungspoetologischen Traditionen des Romans wird hier unter Aufgabe geschlossener Werk- und Erzählvorstellungen eine Poetik der heterogenen Diversität präsentiert. Der „Romanschreiber“ als Erzähler weist sich so als ein Zufallskreativer aus, der mit dem Zufall after the fact virtuos umzugehen weiß, gerade weil er nicht versucht, ihn präventiv zu beherrschen, und formuliert somit eine exemplarische literarische Gegenwartspoetik im Zeichen von Serendipität als Zufallskreativität.41

39 Kermani 2012: 185. Das hier mit Jean Paul formulierte Prinzip serendipitärer Kreativität verweist auf eine poetologische Haltung der Zufallskreativität, mit der sich als einer eigenen Kompetenz werben lässt: Diese „ergibt [sich]“ dem Zufall insofern, als sie ihn in immer wieder neuen Varianten als hemmend-anregenden Faktor eigener Planungen begreift, der sich – entsprechend einer mit theologischen Argumentationsfiguren begründeten anti-fatalistischen „Kunstreligion“ – der eigenen Kontrolle entzieht, aber sich gerade als ein unkontrollierbarer Faktor nutzen lässt. 40 Kermani 2012: 186. Kermani zitiert hier eine Passage aus Jean Pauls letztem unvollendetem Roman Selina und bezieht die ästhetische Leitmetapher vom „Kunstgarten des Zufalls“ von dort weiter auf Neil Youngs Konzertimprovisationen, Szenen aus Werner Herzogs Film Grizzly Man oder Gerhard Richters mit Hilfe eines Zufallsgenerators entworfene Kirchenfenster für den Kölner Dom. 41 Die noch nicht geschriebene Literatur- und Theoriegeschichte der Serendipität, in die sich eine solche Position einordnen ließe, ist ab Walpoles Begriffsprägung bis in die literarische Gegenwart reich an Beispielen, die auf thematisch-motivischer Ebene Fälle serendipitärer Zufallskreativität zeigen und auf ästhetisch-poetologischer Ebene serendipitäre Produktions- und Rezeptionspraktiken avisieren.

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F AZIT Wie sich zeigt, haben die beschriebenen Motive poetologischer Selbstreflexion und mehr oder weniger expliziter „Werbung“ für die eigene kreative Produktion verschiedene Aspekte mit kommerziellen Werbestrategien der Serendipität gemeinsam, während sich gleichzeitig durchaus eigene Merkmale einer komplexeren spezifisch literarischen Serendipitätspoetik erkennen lassen. Präsentieren aktuelle Warenästhetiken der Serendipität, für die hier „Serendipity Shops“ als exemplarisches Beispiel herangezogen wurden, eine Ästhetik minimalistischer Heterogenität, die etwa einen Verkaufsraum als Ort für Zufallsentdeckungen ausweist, aber dessen planvolle Organisation weder ganz verbergen noch in ironisch gebrochener Weise reflektieren kann, so verweisen spezifisch literarische Ästhetiken der Serendipität, für die Kermanis Poetikvorlesung als Beispiel diente, auf eine Produktions- und Rezeptionsästhetik heterogener Fülle, die als Zielvorstellung geplanter Ungeplantheit zugleich „beworben“ und kritisch relativiert wird. Dennoch sollte gezeigt werden, dass es sich hierbei nicht um einen essenziellen Unterschied etwa zwischen dem kommerziellen „Missbrauch“ eines Unplanbarkeitsparadigmas und „freier“ Zufallskreativität in der Literatur und den Künsten andererseits, sondern um eine graduelle Differenz handelt, welche die Annahme eines klaren Gegensatzes zwischen einem rein funktional-teleologischen „Gesetz der Werbung“ und einer unbeschränkt zweckfreien „Freiheit der Kunst“42 in Frage stellt: Gemeinsam sind den jeweiligen Serendipitätsfigurationen verschiedene „unreine“ Kombinationen von Planung und Unplanbarkeit in unterschiedlichen Abstufungen, sodass der Unterschied weniger in den Praktiken selbst, sondern vor allem im jeweiligen Grad von Selbstreflexivität zu sehen ist. Die Überschneidung zwischen radikal serendipitärer Kreativität, die sich dem Ungeplanten mehr oder weniger weitgehend überlässt, und einer Pseudo-Zufallskreativität, die mehr oder weniger planvoll das Ungeplante bearbeitet, verbindet sowohl Werbestrategien als auch literarische Poetiken der „accidental sagacity“ mit Blick auf unterschiedliche Formen der spielerischen Nutzung fingierter und „authentischer“ Zufälle..

42 Zu dieser aus autonomieästhetischen Traditionen ableitbaren Dichotomie vgl. kritisch Meyer 2010: 85-89.

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III Narrative der Verführung

Von perfektionistischen Superheldinnen, sexualisierten Santas und übermächtigen Schwiegermüttern Rollenbilder in der Supermarktwerbung E LISABETH H OLLERWEGER

Alle Jahre wieder… gehen in Anbetracht der weihnachtlichen Schlemmertage nicht nur Lebensmittelkonzerne, sondern auch die großen Supermarktketten mit ihren Werbekampagnen an den Start und scheinen spätestens seit Edekas polarisierendem Viralhit #heimkommen (2015) die Öffentlichkeitswirksamkeit eines gesellschaftskritischen Impetus erkannt zu haben. Diesen in emotional aufgeladene Geschichten einzubinden, die eine „innere Beteiligung“ auslösen und damit „nicht nur die Auseinandersetzung mit der Marke stärken, sondern auch virale Effekte generieren“1, ist dabei von größerer Bedeutung als eine explizite Präsentation des Verkaufsobjektes, denn „vordergründige Werbung kann den Empfehler unglaubwürdig machen und wird daher gemieden. Virals verbreiten sich besser, wenn der Absender bereit ist im Hintergrund zu bleiben.“2 Diese Tendenz zum sinnstiftenden Storytelling in Werbespots bietet interessante Anknüpfungspunkte für die Literaturwissenschaft im Hinblick sowohl auf histoire und discourse der neuen Marketing-Narrative als auch auf die darin codierten Rollenmodelle und Botschaften. Denn geht man einerseits von dem besonderen immersiven Potential von Erzählungen aus3 und andererseits von einer „Doppelrolle von Werbung, in ihrer die Gesellschaft reflektierenden und auf diese wiederum zurückwirkenden

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Grabs/Sudhoff 2014: 258. Heiser et. al. 2009: 34. Vgl. Leubner/Saupe 2012: 11-13.

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Form“4, ist die Analyse der „gestalterischen Mittel, die auf die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung der Zuschauer zielen“5 von grundlegender Bedeutung, um die Wirkungsmechanismen dieser zweckgebundenen Erzählform zu durchdringen. Ulla Fix’ Ausführungen zum Stilbegriff folgend, werden die Untersuchungsgegenstände im vorliegenden Beitrag als „Komplexe von Zeichen verschiedener Zeichenvorräte betrachtet“6 und hinsichtlich charakteristischer Handlungsmuster, medienspezifischer Darstellungsweisen und produktübergreifender Implikationen analysiert. Der Fokus liegt dabei auf der Konstruktion von Geschlechterrollen, deren Bedeutung im Zusammenhang mit Werbung in verschiedenen Kontexten immer wieder neu verhandelt wird7 und die laut Goffman daraufhin zu untersuchen ist, „wie soziale Situationen als szenisches Material benutzt werden, um visuelle Belege unserer angeblichen menschlichen Natur zu gestalten.“8 Den Ausgangspunkt bildet die These, dass die Gestaltung sozialer Situationen insbesondere in vorweihnachtlichen Werbespots darauf abzielt, tradierte Rollenmuster abzurufen und zu reproduzieren, was am Beispiel von Lidls #santaclara9 und REWEs Weihnachten wird ein Fest10 systematisch untersucht wird. Der darauffolgende Vergleich der aktuellen Spots mit Dr. Oetkers Werbeklassikern der 1950er Jahre soll die gewonnenen Erkenntnisse kontextualisieren sowie Entwicklungen und Konstanten in der Inszenierung von Rollenbildern bzw. -verhältnissen aufzeigen.

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Holtz-Bacha 2011: 16. Mikos 2008: 13. Schneider/Stöckl 2011: 76. Vgl. Holtz-Bacha 2011: 8-20. Goffman 1981: 119. Farwick 2016. Werner 2016.

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G ESCHLECHTERKAMPF BEI L IDL : S ANTA C LARA VS . S ANTA C LAUS Intention und Wirkung Als Beitrag zur Genderdebatte11, als Plädoyer für Gleichstellung unter dem Weihnachtsbaum12, als „Liebeserklärung an Frauen, die fleißigsten aller Weihnachtswichtel“13 sowie als „Appell für heterogenere Weihnachten“14 wurde Lidls Kampagne #santaclara in der medialen Berichterstattung wahrgenommen und landete in verschiedenen Übersetzungen für insgesamt 26 Länder schließlich auf dem vierten Platz der weltweit meistverbreiteten Weihnachtsspots 2016.15 Selbst konservative Kritiker teilten die Überzeugung, bei dem Spot würden „die Herzen aller Genderideologen höher schlagen“16 und ließen sich davon so provozieren, dass die Kommentarfunktion in einzelnen Foren wegen übergriffiger Hasstiraden abgeschaltet werden musste.17 So verschieden die einzelnen Bewertungen also ausfallen, so einhellig bestätigen sie letztlich dem von Lidl beauftragten Kreativ-Kollektiv Überground und seiner Inhaberin Jo Marie Farick die erfolgreiche Umsetzung ihrer Intention: „Das Thema Gleichstellung steht ganz oben auf der Agenda der Welt. Das sollte auch für Weihnachten gelten.“18 Auch die von Lidl anlässlich des Kampagnenstarts publizierte Pressemitteilung betont unter Bezugnahme auf die extra in Auftrag gegebene Nielsen-Studie den Realitätsgehalt und das genderdiskursive Potential der „frechen und außergewöhnlichen Kampagne, die gezielt mit überalterten Klischees und der gesellschaftlichen Debatte um Gleichberechtigung spielt.“19 Diese sowohl produktions- als auch rezeptionsbezogenen Einschätzungen legen eine innovative Erzählung nahe, die aktuelle Gender-Diskurse aufgreift, starke Identifikationsfiguren etabliert und dadurch alternative Wege des Gendermainstreamings eröffnet. Inwiefern dies auf Lidls #santaclara tatsächlich zutrifft, wird auf Basis des Drei-Ebenen-Modells der Filmanalyse nach Hicke-

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Vgl. Weber 2016, Unckrich 2016, Erle 2016. FOCUS Online 2016. Shz.de 2016. Nguyen 2016. Ebd. Gabriel 2016. Erle 2016. FOCUS Online 2016. LIDL 2016.

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thier20, d.h. unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenspiels von narrativer, visueller und auditiver Ebene überprüft. Zentrale Handlungs- und Darstellungselemente Der musikalisch untermauerte Aufbau des Spots lässt sich grob in vier Abschnitte unterteilen, denen als gemeinsame Komplikation21 die weibliche Überbelastung durch diverse Vorweihnachtsaktivitäten zugrunde liegt. Diese wird im ersten Teil an drei Frauen in unterschiedlichen Lebenssituationen gezeigt: erstens der Familienmutter, die vollbepackt mit Weihnachtseinkäufen durch die winterlichen Straßen hetzt, die bei ihrer Rückkehr inmitten von Chaos und tobenden Kindern ihren Mann mit Tablet auf der Couch vorfindet und die in Anbetracht seiner vorgetäuschten Produktivität ihr Lächeln schlagartig verliert; zweitens der WGBewohnerin, deren Bemühungen, einen Truthahn in die Mikrowelle zu schieben, scheitern und deren anschließende Wahnvorstellungen um eine übergroße goldene Mutation des präparierten Vogels kreisen, der sie auf dunkler, verschneiter Straße verfolgt; drittens der alleingelassenen Mutter, die mit je einem Kind auf dem Arm und am Rockzipfel sowie dem zwischen Schulter und Ohr eingeklemmten Telefonhörer Kugelketten aufzuhängen versucht. Durch die halbnahe Einstellung in den jeweiligen Überforderungsmomenten wird der Blick auf die Unverhältnismäßigkeit zwischen der weiblichen Statur und den aus Geschenken, Festbraten und Kindern bestehenden Lasten gelenkt. Die gedrückte Stimmung, die die drei Frauen trotz aller Diversitäten vereint, kommt in den aufeinander folgenden Nahaufnahmen ihrer frustrierten Gesichter zum Ausdruck. Einblendungen dekorativer Weihnachtsmänner in unterschiedlichen Ausführungen konterkarieren innerhalb dieses ersten Teils die weiblich organisierten Abläufe und stellen gleichzeitig eine Vorausdeutung auf den zweiten Teil dar, der den Weihnachtsmann als Macho mit grauhaarigem Pferdeschwanz und Sonnenbrille in den Fokus rückt. Der Zoom auf seinen aus dem Auto steigenden Schuh sowie auf Hochglanzmagazine, deren Titelseiten sein Konterfei schmückt, setzen sein Star-Image ebenso überspitzt in Szene wie seine Gewinnerposen vor jubelnden Menschen, die ihn feiern, ohne dass er dafür sichtbar etwas leistet. Als er der dritten Protagonistin ein Geschenk wegnimmt, um damit deren Tochter zu beglücken, wird mit dem in Nahaufnahme eingefangenen Stimmungsumschwung der

20 Hickethier 2007: 24. 21 Die Kategorien Komplikation und Auflösung sowie Faktoren für Komplikation und Auflösung entstammen dem Komplikationsmodell zur Handlungsanalyse nach Leubner/Saupe 2012: 53.

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Betroffenen auch der dritte Teil des Spots und gleichzeitig der Wendepunkt eingeleitet. So formiert sich auf der gesäumten Straße plötzlich eine Gruppe Frauen mit zunächst hochgeschlagenen Mänteln, die Santa Claus deutlich irritiert und der allgemeinen Aufmerksamkeit beraubt. Zwar bildet die gemeinsame Tanzeinlage der Frauen einen Gegenpol zur narzisstischen One-Man-Show, folgt dabei aber ähnlichen Inszenierungsmechanismen. Wie zuvor bei Santa Claus werden zunächst Nahaufnahmen der Schuhe gezeigt, deren hohe Absätze nicht nur klischeehaft auf das Geschlecht der Trägerinnen verweisen, sondern kulturgeschichtlich betrachtet auch erotische Konnotationen hervorrufen.22 Diese werden im weiteren Verlauf verstärkt, wenn die Frauen sich – ähnlich wie Santa Claus zuvor hinter der Autotür – unter ihren Kapuzen zu erkennen geben und in hautengen Anzügen eine Choreographie präsentieren, in der gespreizte Beine und betonte Brüste selbstverständlicher Bestandteil sind. Angeführt wird die Frauenbewegung von der titelgebenden Santa Clara in Gestalt einer dunkelhäutigen Blondine, die auch die drei bereits bekannten Alltagsheldinnen aus ihrer Resignation in die Menge der Tanzenden zieht und immer mehr Menschen mitsamt Mobiliar und Weihnachtsessen aus ihren Häusern lockt. Das kooperative Aufstellen des riesigen Weihnachtsbaumes, an dem auch der Tablet-affine Partner aus dem ersten Teil mitwirkt, lässt Santa Claus und Santa Clara als erfolgreiches Team in Erscheinung treten und bildet den Auftakt für den vierten Teil, in dem alle gemeinsam Weihnachten feiern. Dass mit diesem Fest auch die anfängliche Grundkomplikation positiv aufgelöst wird, zeigt sich daran, dass die zuvor noch überforderten Protagonistinnen zusammen mit Santa Clara selbstbewusst und -zufrieden neben der Festtafel stehen, während sich Santa Claus als Kellner in Szene setzt. Faktor dieser positiven Auflösung ist innerhalb der Handlungslogik also das wirkungsvolle Auftreten von Santa Clara, die den Frauen als Stellvertreterin und Sprachrohr mehr Sicht- und Hörbarkeit verleiht. Während die Geschichte vor allem auf visueller Ebene durch Kameraperspektiven, Einstellungsgrößen und Schnitte erzählt wird, entfaltet sich die (Werbe-) Botschaft des Spots erst in der Kombination der Filmbilder mit den Textbausteinen und der Musik. Textsprachlich lassen sich dabei zwei Modi unterscheiden, die fließend ineinander übergehen: zum einen die weibliche Stimme aus dem Off, die die Rezipientinnen direkt anspricht und die in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, zum anderen der englische Songtext von Emily Roberts23, der sich ähnlich explizit an alle „christmas makers“ richtet, darüber hinaus aber die Figur Santa

22 Vgl. Ebberfeld 2007. 23 Roberts, Emily: #santaclara. Berlin: BMG Rights Management.

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Clara namentlich benennt sowie als Initiatorin des Wandels und der Gerechtigkeit ankündigt. Der aus dem Off gesprochene Text rahmt den Spot durch den einleitenden Adressatenbezug: „Hey Leute, hey Mädels, dies ist für alle Superheldinnen unter euch. Für alle, die immer wollen, dass alles perfekt wird.“ sowie das abschließende Plädoyer: „Ihr macht Weihnachten erst zum Fest. Jedes, wirklich jedes Jahr. Seid stolz auf euch. Weihnachten ist für alle. Lidl auch.“ Ansonsten meldet sich die Sprecherin nur noch im zweiten Teil des Spots mit der zentralen Frage: „Warum ist es eigentlich so, dass jedes Jahr wieder der Weihnachtsmann den ganzen Fame bekommt?“ zu Wort, die als rhetorischer Verweis auf die herrschende Ungerechtigkeit unbeantwortet bleibt. Diese Ungerechtigkeit bezieht sich allerdings nicht auf die einseitige Arbeitsteilung, sondern lediglich auf die Diskrepanz zwischen Arbeit und Anerkennung. Dementsprechend fordert der Text auch nicht zu einer Veränderung des Status quo, sondern lediglich zu einer Veränderung der Selbstwahrnehmung auf und unterstützt dies durch Bestätigung und Würdigung der „jedes Jahr“ bestehenden Ordnung. Die abschließende Floskel „Weihnachten ist für alle.“ steht dazu in keinem schlüssigen Zusammenhang und bildet auch einen irritierenden Kontrast zur vorangegangenen Einschränkung des Adressatenkreises auf die „Mädels“.24 Die englische Version des Spots bietet mit „Be proud of yourself. We are. Lidl.“ ein in sich stimmigeres Konzept an, dennoch bleibt die Kernaussage in Bezug auf die Rollenzuschreibungen dieselbe. Der Song ist so geschnitten, dass der Songtext den Off-Text im ersten Teil mit der Anrede und im zweiten Teil mit der Frage nach dem Grund des Ruhms in leichter Variation wiederholt und ausschmückt, im dritten Teil die Kommentierung der Mission Santa Claras alleine übernimmt und im vierten Teil zugunsten des Anerkennung ausdrückenden Off-Textes verstummt. Durch diese enge Verzahnung verstärken sich die Textelemente gegenseitig, auch wenn in Sprachräumen, in denen Off-Text-Sprache und Songtext-Sprache nicht übereinstimmen, von unterschiedlichen Rezeptionsweisen auszugehen ist. Der Songtext bringt insbesondere im dritten Teil die Kritik an dem „stupid old school game“ deutlicher zum Ausdruck und stellt „a whole new era Santa Clara's gonna reign“ in Aussicht. Die Ausgestaltung dieser neuen Ära gründet aber ähnlich wie im Off-Text auf der offensichtlich nicht veränderungsbedürftigen Erkenntnis „Christmas would suck without us, so let's run this.“

24 Eine ähnliche Einschränkung nimmt auch die englische Ansprache in dem Spot vor: „Hey woman, hey gorgeous, pretty fantastic half of mankind“, wenn sie auch der weiblichen Zielgruppe mehr schmeichelt.

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Der Gewichtung der Textelemente entsprechend verändert sich auch die Musik, die den Spot zwar konstant durchzieht, dabei aber unterschiedliche Funktionen erfüllt. Dient sie in Kombination mit den Off-Texten vorwiegend der Einstimmung, Begleitung und Untermalung, bildet sie in den gesungenen Szenen ein gleichwertiges Pendant zum Songtext, das den Rhythmus des Spots bestimmt, Schlüsselwörter wie „change“ und „justice“ markiert und sich durch eingängige R&B-Klänge auszeichnet. Besondere Bedeutung kommt der Musik in der einzigen textlosen Szene des Spots zu, in der die Vision des übergroßen Truthahns ins Bild gesetzt wird. Hier steigern sich erstmals Tempo und Lautstärke und anstelle der dezenten, harmonischen Hintergrundmelodien treten düstere und dominante Beats. Diese brechen mit den bekannten Weihnachtsohrwürmern, geben der Vorweihnachtszeit also einen neuen Sound und erzeugen die bedrohliche und gehetzte Stimmung, die im Blick der Protagonistin nur angedeutet werden kann. Insgesamt ist der Spot also als dichte Montage multimedialer Darstellungsformen angelegt, die den Aufruf zur Anerkennung weiblicher Leistungen in der Vorweihnachtszeit audiovisuell auf verschiedenen Ebenen inszeniert. In der Überlagerung der narrativen Einzelelemente wird die Reizüberflutung zwischen Konsumwahn und Familienzeit, zwischen Perfektionsanspruch und Geselligkeit nicht nur thematisch, sondern auch strukturell verarbeitet. Rollenbilder In Anbetracht dieser Beobachtungen ist die anfangs skizzierte Verortung des Spots im Bereich des Gender-Mainstreamings durchaus erstaunlich. Denn obwohl am Ende ein gemeinsames Fest „für alle“ stattfindet, wird die in der Rezeption von #santaclara sowohl befürwortete als auch angeprangerte Gleichstellung unter dem Weihnachtsbaum auf allen Erzählebenen eher subtil konterkariert als konsequent umgesetzt. Da sich die Dichotomie, die dem Spot als narratives Strukturprinzip zugrunde liegt, nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern vor allem zwischen den unterschiedlichen RepräsentantInnen der Geschlechter entfaltet, werden statt alternativer Rollenvorbilder tradierte Stereotype in neuem Gewand etabliert. Mit versagenden Partnern und selbstherrlichem Santa Claus stehen den ebenso ambitionierten wie frustrierten Alltagsheldinnen zwei männliche Extreme gegenüber, denen sie in der Dramaturgie des Spots situativ aus eigener Kraft nichts entgegenzusetzen haben. Stattdessen bedarf es einer weiblichen Macht von außen, die sich durch ihre aufmerksamkeitserregende körperbetonte Performance mit dem gefeierten Glamour-Star Santa Claus messen kann, dabei aber mit den fleißigen Protagonistinnen genauso wenig gemeinsam hat wie Santa Claus mit dem faulen Couch-Potato. In der Umarmung von Santa Claus und Santa Clara

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wird der Sonderstatus der beiden Ausnahmeerscheinungen zusätzlich hervorgehoben, während eine Annäherung zwischen Santa Claus und den drei in tradierten Rollen verhafteten Protagonistinnen ausbleibt. Die Barrieren zwischen diesen handlungslogischen Gegenspielern können auch in der abschließenden Einstellung nicht überwunden werden. Denn selbst wenn sich Santa Claus und Santa Clara am Ende unter das Volk mischen, heben sie sich durch ihr Äußeres und ihre Posen weiterhin von ihren jeweiligen GeschlechtsgenossInnen ab. Diese geben sich mit dem gemeinsamen Fest zufrieden, ohne dass damit eine Veränderung der Rollenzuteilung einhergeht.

G ENERATIONENKAMPF BEI REWE: S CHWIEGERTOCHTER VS . S CHWIEGERMUTTER Intention und Wirkung Im Gegensatz zu den diskursiven Bedeutungszuschreibungen, die die Rezeption des Lidl-Spots kennzeichnen, ist REWEs Weihnachten wird ein Fest in erster Linie als „witzig“25, „lustig“26 und „unterhaltsam“27 aufgenommen worden, avancierte mit 5,9 Millionen Klicks innerhalb von vier Wochen zum Youtube-Hit28 und schaffte es unter den vom Bildungsportal Management Circle vorgestellten „besten Spots zum Weihnachtsgeschäft 2016“ noch vor #santaclara auf Platz 2.29 Leichtigkeit und Witz hebt REWE auch in der zeitgleich mit dem Spot erschienenen Pressemitteilung als grundlegend für die Konzeption des Werbefilms hervor: „Mit unserer neuen Kampagne nehmen wir den Erwartungsdruck bewusst mit Humor und liefern die richtigen Bestandteile, um in diesem Jahr alles anders zu machen. Weihnachten soll schließlich allen Spaß bringen.“30 Die Veränderung, die neben Humor und Spaß offeriert werden soll, greift auch die beauftragte Werbeagentur thjnk auf, wenn sie den Spot als Spiel „mit dem erlernten Erwartungsgeflecht“31 beschreibt. Ähnlich wie bei der Lidl-Kampagne geht es vor allem darum,

25 26 27 28 29 30 31

Stern 2016. Stern 2016, Ema 2016. Erle 2016. Wunderlich 2016. Erle 2016. REWE Markt GmbH 2016. Link 2016.

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eine „typische Situation in deutschen Haushalten vor den Festtagen“32 zu inszenieren und damit Identifikationsangebote zu schaffen. Wie diese als typisch eingestufte Situation auf narrativer, visueller und auditiver Ebene inszeniert wird, inwiefern dabei eine wie auch immer geartete Veränderung sichtbar wird und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede die zeitgleich erschienenen Spots aufweisen, steht deshalb im Zentrum der Analyse. Zentrale Handlungs- und Darstellungselemente Auch in Weihnachten wird ein Fest bildet der gesprochene Text den Rahmen des Spots, fungiert dabei aber anders als bei #santaclara als relevanter Handlungsträger und wird auch nicht aus dem Off, sondern von den Akteuren gesprochen. Die gemütliche Familienszene der ersten Einstellung, in der die Eltern bei leiser Musik Zeitung lesend und Tee trinkend auf der Couch sitzen, während das Kind ruhig im Hintergrund bleibt, wird durchbrochen von dem Satz des Mannes: „Oh ja, ähm, meine Mutter kommt zu Weihnachten.“ Sein anfängliches Herumdrucksen, die Pausen zwischen den Wörtern sowie sein in der Nahaufnahme eingefangener, verzerrter Gesichtsausdruck lassen bereits darauf schließen, dass ihm das Überbringen dieser Nachricht schwerfällt und er sich ihrer negativen Wirkung durchaus bewusst ist. Wendet die Frau sich ihrem Gatten nach dem ersten Gestammel zunächst noch offen und freundlich zu, erfolgt nach der entscheidenden Information ein Bruch auf allen Erzählebenen: Der Raum verdunkelt sich, inmitten von Donnergeräuschen und Gewitterblitzen wird zunächst der Weihnachtsbaum aus Froschperspektive und schließlich das Antlitz der Schwiegermutter in Nahaufnahme sichtbar, bevor die zwischen Unsicherheit und Panik changierende Miene der Protagonistin in den Fokus rückt. Die Schädigung, die sie durch die Ankündigung des Schwiegermutterbesuchs erfährt, lässt sich damit als Grundkomplikation der Handlung ausmachen. Statt ihrem Mann zu antworten, verfällt die schicksalsergebene Gattin in eine Art inneren Monolog, der als Variante von Gloria Gaynors I will survive33 inszeniert wird und durch den Wechsel des Erzählmodus wie eine Binnenerzählung erscheint. Die im Genette’schen Sinn hypertextuelle Bezugnahme34 auf den

32 Theobald 2016. 33 Gaynor 1978. 34 Vgl. Köppe/Winko 2013. Im Unterschied zur intertextuellen Bezugnahme, z.B. durch integrierte Zitate liegt eine hypertextuelle Relation dann vor, „wenn sich ein Text durch Transformation […] oder Nachahmung […] auf einen Vorgängertext bezieht.“ (Ebd.: 130).

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Kulthit verleiht den Anstrengungen der Schwiegertochter eine existentielle Dimension, die auch in Schlagzeilen wie „REWE und thjnk lassen Schwiegertochter ums Überleben kochen“35 hervorgehoben wird. Die Kontextverschiebung von der Bewältigung eines Beziehungsendes zu einer Bewältigung eines gewissermaßen beziehungsbedingten Besuchs verändert die Rolle des lyrischen Ichs grundlegend. Geht es im Original darum, sich mit allen Konsequenzen vom ehemaligen Partner loszusagen, sich der widerfahrenen Ungerechtigkeiten klar zu werden, Grenzen aufzuzeigen und selbstbestimmt und stark aus der Krise hervorzugehen, vermittelt die Adaption genau das Gegenteil davon. Hier unterwirft sich die Protagonistin fraglos den Anforderungen, die an sie als Partnerin gestellt werden, denkt nicht über ein alternatives Leben „without you by my side“, sondern lediglich über das „festive meal with pride“ nach und verbringt ihre Nächte statt mit „thinking how you did me wrong“ mit „making sure things won’t go wrong“. Dieser verbalisierte Akt der Selbstvergewisserung scheint mit Blick auf die dazu eingeblendeten Filmbilder zunächst wenig erfolgsversprechend. Zwischen den Stapeln an Kochbüchern rund um das Bett, in dessen anderer Hälfte anstelle des Ehemannes die erwartungsvoll dreinblickende Schwiegermutter liegt, erscheint die Protagonistin bereits auf verlorenem Posten. Diesen Eindruck unterstützt die sich plötzlich in endlose Höhen erstreckende Küche, die sowohl aus Frosch- als auch aus Vogelperspektive in Relation zu der ambitionierten Köchin eingefangen wird und deren Unzulänglichkeit und Machtlosigkeit besonders deutlich hervortreten lässt. Dadurch, dass die weibliche Hauptfigur zur Liedzeile „So I went back, back to my place” panisch zum Ofen hechtet, in dem der Braten bereits verbrannt ist, erfährt das auf Textebene deutungsoffene „my place“ in Form des heimischen Herds eine klare Zuschreibung. Diese nächtlichen Szenen des Scheiterns setzen sich auch bei Tageslicht fort, wenn die Schwiegermuttervision im Küchenschrank zwischen Käsereibe und Kräutern mit einem „disappointed face“ aufwartet, das Kind mit einem Ausdruck freudiger Erwartung im Gesicht ein Ei auf den Boden fallen lässt, der „stupid pot“ zu klein für den Festtagsbraten ist und die „different sauce“ lediglich in Gedanken der inzwischen eine Küchenschürze tragenden Protagonistin existiert. Ihr Zusammensinken auf dem Küchenboden, das in schnellen Schnitten zunächst von vorne in der amerikanischen Einstellung und schließlich von der Seite in der Halbtotalen gezeigt wird, stellt einen Tief- und Wendepunkt dar, auf den die Erleuchtung „If I’d known for just one second you’d have helped me out, of course.“ folgt. Der Wechsel zur Du-Anrede, die sich an dieser Stelle nicht sinnvoll auf die ansonsten durchweg adressierte Schwiegermutter beziehen lässt, geht einher mit

35 Möhring 2016.

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einem räumlichen Wechsel, der durch das Öffnen der Kühlschranktür eingeleitet wird. In Analogie zu fantastischen Narrativen tritt die Heldin durch ihren Kühlschrank in eine andere Welt ein, die sie in überbelichteter Nahaufnahme zum Staunen und Strahlen bringt. Inmitten von frischen, bunten Lebensmitteln, die einen deutlichen Kontrast zu den monotonen Farben der heimischen Küche bilden, gibt sich der attraktive REWE-Mitarbeiter in Schürze und weißem Hemd als wahrer Retter zu erkennen. Mit einer schnellen gemeinsamen Tanzdrehung verwandelt er die verzweifelte Hausfrau zwischen den Regalen in eine selbstbewusste Küchenfee, die mit einer Kiste voller REWE-Zutaten und der Gewissheit „I’ll make it good for sure“ in ihre Welt zurückkehren kann. Ihre neu gewonnenen Kräfte, die in Tanzbewegungen und fröhlich singender Mimik einen Ausdruck finden, werden durch das alleine weiterschneidende Küchenmesser im Bereich des Magischen verortet und rufen bei ihrem statistenhaft ins Bild tretenden Gatten ein in Nahaufnahme präsentiertes Stirnrunzeln hervor. Die zeitgleich mit seinem Erscheinen im Lied aneinandergereihten Fragen „Weren’t you the one who thought I give up and cry? Did you think I’d crumble? Did you think I’d lay down and die?“ lassen sich demnach nicht nur auf die Schwiegermutter, sondern auch auf ihn als passiv zuschauenden statt aktiv handelnden Partner beziehen. Beide Nebenfiguren repräsentieren eine stumme Erwartungshaltung gegenüber der Protagonistin, deren Entwicklung letztlich nicht darin besteht, sich von den äußeren Ansprüchen loszusagen und ihnen etwas entgegenzusetzen, sondern diese Ansprüche vielmehr zu verinnerlichen und zu erfüllen. Das aus dem Inneren des Ofens herangezoomte freudige Gesicht beim Anblick des gelungenen Bratens, der beschwingte Schritt sowie die wippenden Haare auf dem Weg zur Festtafel und die ausladende Geste, nachdem die Auflaufform auf dem Tisch platziert ist, zeigen eine Frau, die den ihr zugewiesenen Aufgaben gewachsen ist und in ihrer Erfüllung Stärke und Sicherheit gewinnt. Das selbstbewusste Credo „Oh no, not I, I will survive“ ist dem ersten Blickkontakt zwischen der „realen“ skeptischen Schwiegermutter und der sich selbst behauptenden Schwiegertochter unterlegt und unterstreicht damit die konfrontative Stimmung. Die Stille, die nach dem quietschenden Ausklingen der Musik eintritt und von der tickenden Uhr im Hintergrund eher verstärkt als durchbrochen wird, knüpft an die ruhige Ausgangssituation des Ehepaars auf der Couch an und schlägt den Bogen von der Ankündigung und Visionierung zur Realisierung des gefürchteten Besuchs. Am Kopf der Tafel sitzend bildet die Schwiegermutter das Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Dies verdeutlichen die auf sie gelenkten angespannten Blicke der anwesenden Gäste sowie die Nahaufnahme ihres Gesichts und damit auch ihrer Kaubewegungen. Ihre erste verbale Reaktion „Scheiße“ fungiert als eine Art retardierendes Moment, in dem auch noch einmal die abwartende

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Mimik der Schwiegertochter zu sehen ist. Der kurz darauffolgende Nachsatz „ist das lecker“ löst die Szene und damit auch die Grundkomplikation positiv auf und bildet den Auftakt für die gemeinsame Feier, die durch die wiedereinsetzende Musik und das eingeblendete Credo „Weihnachten wird ein Fest“ untermauert wird. Die letzte Einstellung, die den gelungenen Braten von oben mit der Überschrift „Jetzt Schwiegermutter beeindrucken“ zeigt, ergänzt abschließend, was sich durch die narrative Konstruktion von Rahmen- und Binnenhandlung sowie die hypertextuelle Bezugnahme auf verschiedenen Ebenen entfaltet und gegenseitig verstärkt: Auch unlösbar erscheinende Aufgaben sind zu bewältigen, wenn man sich ihnen stellt und sich Hilfe dort holt, wo man sie auch erwarten kann. Rollenbilder Die Protagonistin aus Weihnachten wird ein Fest ordnet sich insofern in die Reihe verkannter Alltagsheldinnen aus #santaclara ein, als auch sie sich mit vermeintlich naturgegebener Selbstverständlichkeit gesellschaftlichen Anforderungen aussetzt, mit denen sie sich unfreiwillig konfrontiert sieht. Das zugrundeliegende Ungleichgewicht zwischen Erwartung und Erfüllung bekommt mit der omnipräsenten Schwiegermutter ein weibliches Gesicht, sodass letztlich die Rivalität zwischen den Frauen unterschiedlicher Generationen die Genderproblematik überlagert. Von Seiten des Partners wird Unterstützung weder erwartet noch eingefordert, sondern stattdessen Hilfe von außen in Anspruch genommen. Diese Hilfe kommt anders als bei #santaclara nicht aus den Reihen des eigenen Geschlechts, sondern von einem Mann, dessen Lösungs- und Serviceorientierung zu seinem Beruf gehört und an dem sich der heimische Pantoffelheld deshalb auch nicht messen lassen muss. Mit der Gegenüberstellung von unterwürfiger Schwiegertochter vs. dominanter Schwiegermutter sowie passivem Lebenspartner vs. aktivem Helfer werden also auch in REWEs Erzählung Dichotomien festgeschrieben, die in der Logik der Handlung keiner Revision bedürfen. Denn letztlich wächst die Schwiegertochter an ihren Aufgaben und „erkocht“ sich das nötige Selbstbewusstsein, um das System weiter zu erhalten. Die in der Konzeption des Spots intendierte Veränderung bezieht sich demnach lediglich auf die eigene Einstellung zu den Rahmenbedingungen, nicht aber auf die Rahmenbedingungen selbst.

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D IE „L EBENSFRAGEN EINER F RAU “ IM HISTORISCHEN V ERGLEICH Für beide Weihnachtswerbespots lässt sich demnach konstatieren, dass sie mit der Überforderung von Frauen an Weihnachten einen realistischen Status quo aufgreifen, diesen aber in den entwickelten Geschichten nicht überwinden, sondern lediglich affirmativ umdeuten. Die Storylines folgen einem ähnlichen Spannungsbogen, im Rahmen dessen die Protagonistinnen folgende Stationen durchlaufen: 1. Übermacht der bevorstehenden Aufgaben repräsentiert durch unverhältnismäßig große und omnipräsente Bilder, 2. Erschöpfung und Resignation festgehalten in Nahaufnahmen 3. Wendepunkt durch eine in Auftreten und Erscheinung vom Bekannten abweichende Hilfe von außen, 4. Anerkennung und neues Selbstbewusstsein verdeutlicht durch veränderte Mimik und Gestik. Das Happy End besteht hier wie dort darin, die zugeteilten Aufgaben erfüllt zu haben und die verdiente Wertschätzung dafür zu bekommen. Nimmt man Werbung als „Instrument der gesellschaftlichen wie der individuellen Wirklichkeitskonstruktion“36 ernst, legen die Spots nahe, die tradierte Rollenverteilung nicht etwa zu verändern, sondern wieder positiver zu besetzen und zu verstärken. Inwiefern damit ein Rückgriff auf präemanzipatorische Zeiten erfolgt, wird abschließend im Vergleich mit der Dr. Oetker-Werbespottrilogie um die Protagonistin Renate aus dem Jahr 1956 herausgearbeitet. Dies scheint insbesondere deshalb interessant, weil es Dr. Oetker genauso wie Lidl und REWE darum ging, eine realitätsnahe Identifikationsfigur zu kreieren, über die ein erstrebenswertes Lebensgefühl vermittelt werden kann. Dementsprechend wollte man in der Werbeabteilung von Dr. Oetker auch kein „neues Frauenbild schaffen, sondern passte sich dem Bild der Frau in der Gesellschaft jener Zeit an.“37 Der Erfolg dieses Konzeptes spiegelt sich vor allem an den fließenden Übergängen zwischen Fiktion und Realität im Umgang mit der Figur Renate wider. So erhielt Schauspielerin Hannelore Cremer zahlreiche an Renate adressierte Briefe, „die neben Rezeptanfragen auch private Probleme zum Inhalt hatten“38 und schließlich sogar ein eigenes Büro, um diese zu beantworten. Verbindendes Element der Spots von früher und heute ist nicht nur die weibliche Hauptfigur selbst, sondern auch deren häusliche Tätigkeiten zu einem bestimmten gesellschaftlichen Zweck. Geht es im ersten Teil39 darum, den einmal

36 37 38 39

Holtz-Bacha 2011: 17. Conrad 2002: 114. Ebd. Oetker 1956a.

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eroberten Mann an sich zu binden und jeden Tag aufs Neue zu gewinnen, greift der zweite Teil40 die Herausforderungen des Ehefrauenalltags auf, bevor der dritte Teil41 mit dem überraschenden Sonntagsbesuch beider (Schwieger-)Mütter das junge Paarglück auf die Probe stellt. Alle drei Teile entfalten narrativ eine Baumstruktur, in der für verschiedene Situationen jeweils zwei verschiedene Möglichkeiten vorgestellt, erwogen und durchgespielt werden. Diese Multioptionalität des Lebens wird schließlich kontrastiert mit der Tatsache, dass es in der Küche nur „die eine ganz bestimmte altbewährte Möglichkeit“ in Form von Dr. Oetker geben kann, die aber wiederum unzählige verschiedene Koch- und Backvarianten hervorzubringen vermag. Die Geschichten werden von einem Sprecher aus dem Off erzählt, der den Rezipienten durch Anreden wie „Stellen Sie sich vor“42 in das Geschehen einbindet, sich einerseits selber in die Menge der Männer einschließt, wenn er konstatiert: „Das haben wir Männer so an uns, das sind wir gewöhnt und das wollen wir dann auch so haben“43 und andererseits eine Beobachterposition einnimmt, aus der heraus er beurteilen kann: „Es macht Spaß zuzusehen, denn Backen macht Freude.“44 Mit Anweisungen wie „So, jetzt aber Tempo! Bald wird Peter da sein mit einem Bärenhunger“45 nimmt der Erzähler zusätzlich eine belehrende und erzieherische Funktion ein, die sich in der bestätigenden Vermittlung grundlegender Alltagsweisheiten zuspitzt: „Wir wissen ja – eine Frau hat zwei Lebensfragen: Was soll ich anziehen und was soll ich kochen?“46 Macht das „wir“ den Rezipienten zum Verbündeten und Mitwisser, betont das „ja“ die Allgemeingültigkeit und Selbstverständlichkeit dieser basalen Erkenntnisse. Die zentralen Schlüsselszenen der Produktpräsentation sind dadurch markiert, dass Renate als Expertin auf ihrem Gebiet selbst zu Wort kommt, ihren Blick in die Kamera und damit auf den Adressaten richtet und den Erzählerkommentar zum Beispiel durch „und das Wichtigste ist der Pudding“47 erweitert oder durch „nämlich ein Kuchen von mir selbst gebacken mit Dr. Oetker Backpulver Backin“48 konkretisiert. Im spotübergreifend mit ähnlichem Wortlaut wiederkehrenden Resümee „Drum macht’s wie Renate (und die weiß es wieder von ihrer Mutter)“ richtet sich der

40 41 42 43 44 45 46 47 48

Oetker 1956b. Oetker 1956c. Oetker 1956c. Oetker 1956a. Ebd. Oetker 1956b. Ebd. Ebd. Oetker 1956a.

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Erzähler schließlich direkt an die weibliche Zielgruppe und hebt die generationenübergreifende Wirkungsmacht von Dr. Oetker-Produkten hervor, die als Erfolgsgarant nicht nur für gelingendes Essen, sondern ebenso für eine gelingende Ehe geltend gemacht werden können. Der enge Zusammenhang zwischen Eheschließung und Küchenaktivität wird bereits im ersten Teil Wenn zwei sich begegnen durch fließend ineinander übergehende Nahaufnahmen der Frauenhände vergegenwärtigt, die zuerst dem Mann den Ring anstecken und direkt im Anschluss – nun ebenfalls beringt – mit Tütchen von Dr. Oetker hantieren. Das Ergebnis wird aus verschiedenen Perspektiven in der Nahaufnahme gezeigt, die Wirkung in der Mimik und Gestik des Ehemannes sichtbar gemacht und schließlich die Vielfalt alternativer Rezeptvorschläge durch schneller werdende Schnitte, höher werdende, spannungssteigernde Hintergrundklänge und bunte Detailaufnahmen präsentiert. Die Ankündigung, dass das neue Kleid bei derartiger Verköstigung auch etwas teurer sein könne, rekurriert auf die enge Wechselwirkung zwischen den beiden Lebensfragen der Frau sowie auf die als naturgegeben akzeptierte weibliche Abhängigkeit von der männlichen Gunst. Eint das Streben nach Anerkennung ihrer Leistung Renate mit den Protagonistinnen aktueller Spots, hebt sie sich durch ihre offensichtliche Zufriedenheit und Stabilität grundlegend von diesen ab. Das bezieht sich nicht nur auf ihr Hausfrauendasein, sondern auch auf ihren Beruf als Sekretärin, der im zweiten Teil Wenn man’s eilig hat den Ausgangspunkt bildet. Überforderung wird als Option dargestellt, gegen die man sich bewusst entscheiden kann, denn „entweder man verliert die Nerven […] oder man bricht sämtliche Rekorde im Maschinenschreiben.“49 Die Nahaufnahme der schnell tippenden Finger rückt erneut den Ehering in den Fokus und visualisiert die Vereinbarkeit von beruflicher und ehelicher Verpflichtung, die letztlich in der Zubereitung des perfekten Puddings gipfelt. Um allgemeine Zufriedenheit zu erreichen, benötigt sie weder ein wirkungsmächtigeres weibliches Sprachrohr noch eine außereheliche männliche Retterinstanz, sondern lediglich die kleinen Tütchen von Dr. Oetker, die als verlässliche Helfer fungieren. Dass festgeschriebene Rollen die Partner auch verbinden und entlasten, legt schließlich der dritte Teil Wenn überraschend Besuch kommt nahe. Analog zu Weihnachten wird ein Fest wird die hier explizit als „gemütlich“ benannte Ausgangssituation, in der das Paar Musik hört und Zeitung liest, plötzlich unterbrochen. Anders als in der REWE-Geschichte betrifft und überrascht diese Störung der Idylle allerdings beide Partner gleichermaßen. Erst Renates Blick durch den Türspion, dem der Rezipient durch den Point-of-view-Shot folgen kann, zeigt,

49 Oetker 1956b.

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dass sich von den vorgestellten Optionen, „entweder es ist seine oder ihre Mutter“50, beide bewahrheiten. Die Möglichkeit Abwesenheit vorzutäuschen wird letztlich gemeinsam verworfen, der Besuch freundlich in Empfang genommen und die damit verbundene Verpflichtung, die Mütter zu verköstigen und zu unterhalten, selbstverständlich unter den Partnern aufgeteilt. Im Unterschied zu den alleingelassenen, frustrierten Protagonistinnen der aktuellen Spots stellt sich Renate selbstbewusst und motiviert der Aufgabe „ausgesprochenen Kennern zu zeigen, was man kann“51, während Peter den offensichtlich unangenehmeren Part übernimmt, denn, wie der Erzähler mit entsprechend abfallender Intonation hervorhebt: „Eigentlich hat sie es ja viel besser als er – sie darf backen. Er muss reden.“52 Die vorwiegend halbnahen Einstellungsgrößen setzen die geschäftige Expertise der professionellen Küchenfee innerhalb ihres Reiches in Szene, wohingegen von Peter im Gespräch mit den beiden auf ihn einredenden Müttern nur der Rücken zu sehen ist. Erst beim Servieren des „aus dem Ärmel geschüttelten Kuchen[s]“53 wird seine freudige Erwartung von vorne in der Nahaufnahme eingefangen und sein Versuch, das erste Stück zu ergattern von seiner Frau ebenso liebevoll wie bestimmt abgewehrt. Mit der wohlgesonnenen Reaktion der Mütter auf den präsentierten Gaumenschmaus findet die Geschichte einen glücklichen Ausgang und stimmt damit in den zentralen Handlungselementen mit Weihnachten wird ein Fest überein: Auf die Schädigung durch den – realen bzw. angekündigten – Schwiegermutterbesuch folgt die Aktivität der Protagonistin in der Küche, die durch – materialisierte bzw. personifizierte – Helfer unterstützt wird und deren Erfolg sich in der Zufriedenstellung der – respektierten bzw. gefürchteten – älteren Frauengeneration manifestiert. Die Unterschiede, die durch diese Parallelen besonders deutlich zutage treten, beziehen sich also nicht auf die Rolle der Frau an sich, sondern vielmehr auf ihre eigene Haltung gegenüber ihrer Rolle sowie auf die Interaktion zwischen den Geschlechtern. An die Stelle der souveränen Ehefrau tritt eine von Selbstzweifeln geplagte und unter Beweisdruck stehende Weiblichkeitsrepräsentantin und an die Stelle des wertschätzenden Ehemannes ein herumlungernder Taugenichts, sodass letztlich die nach festgelegten Mustern funktionierende Kooperation der Partner außer Kraft gesetzt ist. Unter Bezugnahme auf Krahs Aspekte der Gender-Analyse54 lässt sich zusammenfassend festhalten, dass sich in den Werbeerzählungen die Gender-Träger

50 51 52 53 54

Oetker 1956c. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Krah 2016: 55-58.

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grundlegend verändert haben, während Gender-Setting und Gender-Aktionen insbesondere der weiblichen Protagonistinnen bemerkenswerte Konstanten aufweisen. Ist Renate noch eins mit sich sowie den ihr zugewiesenen Räumen und Aufgaben, sind die neuen Heldinnen geprägt von einer grundlegenden Inkongruenz von Selbstbehauptungsparadigma und Alltagsrealität, die sie erst überwinden müssen. Das Credo „Macht’s wie Renate“ ist dabei insofern auch heute noch wirksam, als in der Logik der Erzählungen letztlich die Erfüllung der Rollenerwartung zu Anerkennung führt. Diese gesteigerte Komplexität des Gender-Diskurses schlägt sich auch in seiner Repräsentation nieder, denn während sich die explizite Auseinandersetzung mit Genderphänomenen bei Dr. Oetker in klaren Aus- und Ansagen des Erzählers manifestiert, wird sie in Lidls und REWEs Kampagnen auf die musikalische Ebene verlagert und erfordert zunächst eine Decodierung. Dementsprechend ist auch der stringent auf die Produktpräsentation zulaufende Erzählaufbau einer verschachtelten narrativen Konstruktion mit vielschichtigen intermedialen Bezügen gewichen, die der veränderten Wahrnehmung sowohl der Gender-Thematik als auch des Mediums Werbespot Rechnung tragen. Die vielfältigen Reaktionen auf die Spots verdeutlichen die gesellschaftliche Relevanz des medialen Doing Gender, denn „Werbung kann nur dann wirken, wenn sie den Nerv einer Gesellschaft trifft und auf der Höhe der Zeit kommuniziert.“55 Inwiefern eine sexualisierte Santa Clara oder eine kochend überlebende Schwiegertochter an das Identifikationspotential der rollenkonformen Renate anknüpfen kann und soll, ist schließlich Teil eines sozialen Aushandlungsprozesses, den öffentlichkeitswirksames Storytelling auszulösen vermag.

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55 Weinert 2013: 46.

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W ERBUNG Oetker (1956a) „Wenn zwei sich begegnen…“ Imagefilm (D, Insel-Film). Oetker (1956b): „Wenns man’s eilig hat…“ Imagefilm (D, Insel-Film). Oetker (1956c): „Wenn Besuch kommt…“ Imagefilm (D, Insel-Film). Lidl (2016): „#santaclara“ Imagefilm (D, Überground). REWE Markt GmbH (2016): „Weihnachten wird ein Fest“ Imagefilm (D, thjnk).

„Blow Some My Way!“ Darstellungen weiblicher (Un-)Abhängigkeit in Zigarettenwerbung des zwanzigsten Jahrhunderts M ARTINA A LLEN

Über hundert Jahre lang verband Werbung und Zigaretten eine enge symbiotische Beziehung1, trugen Anzeigen, später Plakate und Werbespots maßgeblich zur weltweit massenhaften Verbreitung des Glimmstängels bei. Tatsächlich wurden einige der einflussreichsten und langlebigsten Werbestrategien vor allem für die Vermarktung des Rauchens entwickelt: Sammelkarten, Sponsoring, ProductPlacement und Prominentenwerbung. Gleichzeitig verlief der Aufstieg der Zigarette als dominante Form des Tabakkonsums nicht nur parallel zur Frauenrechtsbewegung; die brennende „Kippe“ erlangte auch bald selbst den Status eines Symbols für die Emanzipation der Frau. Der folgende Aufsatz vollzieht die Entwicklung dieser komplexen Dreiecksbeziehung nach. Im Zentrum steht dabei die Analyse der Darstellung und Wirkung von Frauen in Zigarettenreklame, genauer: die rhetorischen, narrativen und visuellen Mittel, die zum Einsatz kommen, um einerseits eine weibliche Zielgruppe zu erreichen und andererseits spezifische Weiblichkeitsbilder zu bewerben. Ausgangspunkt ist dabei folgende These Torben Vestergaards und Kim Schrøders: „In its visual and verbal representation of the

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Es handelt sich um eine Beziehung, die seit Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts aufgrund der zunehmenden gesetzlichen Beschränkungen für Tabakwerbung in die Krise geraten ist.

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sexes, advertising comes to function as an ideological apparatus for the reproduction of our gender identities.“2 In diesem Sinne möchte ich eine Reihe amerikanischer Zigarettenkampagnen3 aus dem Zeitraum der frühen 1920er Jahre bis in die 1990er Jahre, die, wie ich argumentiere, Zäsuren innerhalb dieses Diskurses markieren, analysieren und gegen den Strich lesen, um zu untersuchen, inwieweit Zigarettenwerbung tatsächlich als instrumental für die Etablierung neuer, ermächtigender Weiblichkeitsbilder bezeichnet werden kann.

Z IGARETTEN

ALS

M ÄNNLICHKEITSPROTHESEN

In den meisten Kulturen galt Rauchen vor Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als entschieden männlich-homosoziale Aktivität. Sobald Tabak im späten 16. Jahrhundert begann, sich in England immer größerer Beliebtheit zu erfreuen, wurde ihm eine bedeutende und äußerst positive Rolle innerhalb der Galenischen Medizin zugewiesen: Er wurde mit den „männlichen“ Attributen der Hitze und Trockenheit assoziiert und galt daher als Mittel zur Austreibung der Krankheiten und Trägheit, die vermeintlich von „weiblicher“ Kälte und Nässe verursacht wurden.4 Diese gedankliche Verknüpfung von Tabak und Männlichkeit lockerte sich erst allmählich mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und dem Siegeszug der Zigarette, die zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht die beliebteste Form des Tabakkonsums darstellte, welcher zumeist gekaut oder in Pfeifen oder Zigarren geraucht wurde. Tatsächlich hatte die Zigarette ein handfestes Imageproblem, denn laut gängiger Meinung war sie eher etwas für Arme, Immigranten und verweichlichte Männer5: „Men of substance,“ stellt Richard Kluger fest, „smoked cigars […].“6 Zwei Entwicklungen aber trugen maßgeblich zur steigenden Beliebtheit der Zigarette bei: der Erste Weltkrieg, in dessen Folge das Rauchen der schmalen mit Tabak gefüllten Papierröllchen, die einen vergleichsweise praktischen und günstigen Bestandteil der täglichen Rationen darstellten, für Millionen von Soldaten zur Gewohnheit wurde. Als zweiter entscheidender Faktor lässt sich die Frauen-

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Vestergaard und Schrøder 1985: 74. Allesamt abrufbar auf der Website der Forschergruppe Stanford Research into the Impact of Tobacco Advertising Website, http://tobacco.stanford.edu. Pollard 1996: 39. Kluger 2004: 62. Ebd.

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rechtsbewegung ausmachen, die von der Zigarettenindustrie effektiv instrumentalisiert wurde, um ihren Kundenkreis zu erweitern. Bis in die späten 1920er Jahre galt Rauchen als nicht damenhaft, obwohl es natürlich bereits viel früher rauchende Frauen gab, wie sie auch in der Kunst der Jahrhundertwende reichlich vertreten sind.7 Dennoch wurden Frauen, die in der Öffentlichkeit rauchten, weithin mit sexuell deviantem Verhalten in Verbindung gebracht, galt der Glimmstängel doch als provokantes Markenzeichen für Prostituierte, sogenannte Flapper und New Women. Dieser Umstand verdeckte womöglich die zunehmende Verbreitung des weiblichen Qualmens im häuslichen Umfeld, denn im Gegensatz zu anderen Formen des Tabakkonsums ließ sich die Zigarette nahezu problemlos in den Tagesablauf vieler Frauen integrieren, wie Kluger feststellt: „The cigarette […] was short, mild, white, a fraction as smelly [as a cigar], did not cling ineradicably to clothing and draperies, and could be taken briefly in the insterstices between the numberless tasks that made up a woman’s day.“8 So war es nur folgerichtig, dass, sobald sich die Befürchtung gelegt hatte, Tabak könne das gleiche Schicksal der Prohibition ereilen wie Alkohol, die Größen der Tabakindustrie (auch als „Big Tobacco“ bezeichnet) begannen, nach Wegen zu suchen, dieses Marktpotential durch gezieltes Ansprechen von Frauen mittels Werbekampagnen zu erschließen. Eine der ersten Werbeanzeigen, die das Thema Frauen und Rauchen anspricht, ist eine Anzeige von Chesterfield aus dem Jahre 1926, die eine romantische Szene bei Mondschein zeigt.9 Zu sehen ist hier eine lächelnde Blondine mit frischem Teint, die sich an einen sportlich aussehenden jungen Mann anschmiegt. Ihr Blick, der beim ersten Hinsehen schüchtern gesenkt erscheinen mag, geht tatsächlich in Richtung seiner rauchenden Zigarette. „Blow some my way“, bittet ihn die junge Frau, die so gar nicht dem gängigen Bild der modernen Großstadtfrau der Zwanziger entspricht, und bestätigt somit implizit die Vorstellung, dass respektable Frauen nicht rauchen – eine Vorstellung, die sie zugleich bereut, da sie ihr die Zigarette, das eigentliche Objekt ihrer Begierde, verwehrt. Vestergaard und Schrøder vertreten die Ansicht, dass Werbung nicht etwa die zeitgenössische Wirklichkeit abbildet, sondern latente Ängste und Hoffnungen ihrer Zeit versinnbildlicht: „the world portrayed in advertisements moves on a day-dream level, which implies a dissatisfaction with the real world expressed through imaginary

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So beispielsweise in Edouard Manets „Die Pflaume“, das um 1878 entstanden ist und eine junge, durchaus adrett in Rosa gekleidete Frau in entspannter Körperhaltung an einem Cafétisch zeigt, die vor einem Glas mit einer Pflaume sitzt und eine Zigarette zwischen zwei Fingern hält. Kluger 2004: 64. Vgl. Sivulka 1997: 167.

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representations of the future as it might be: a Utopia.“10 Für gewöhnlich implizieren Werbeanzeigen, dass für die Realisierung des utopischen Szenarios nichts weiter nötig sei, als der Kauf des angepriesenen Produkts. Nicht so jedoch in dieser Chesterfield-Werbung: Hier wird rhetorisch die Kluft markiert, die zwischen Traum und Realität besteht, und welche die Verlockung des verbotenen Objekts erhöht. Gleichzeitig suggeriert die physische Nähe zwischen Frau und Zigarette in der Bildanordnung, dass die Erfüllung ihrer Wünsche letztlich nur davon abhängt, ob sie den Arm ausstreckt und sich nimmt, was sie will. Nur drei Jahre später führte Edward Bernays mit einem der womöglich raffiniertesten PR-Gags der Werbegeschichte diesen Gedanken weiter, indem er eine offensichtliche Verbindung zwischen der Frauenrechtsbewegung und der Zigarette herstellte. Von George Hill, dem Präsidenten von American Tobacco, explizit damit beauftragt, das Tabu um in der Öffentlichkeit rauchende Frauen zu bekämpfen, kam Bernays die Idee, im Rahmen der New York Easter Sunday Parade einen sogenannten „Freedom March“ zu organisieren, während dem eine Reihe von dafür engagierten Frauen sich eine Zigarette anzündeten und mit der Presse sprachen, die zuvor über die Aktion informiert worden war.11 Der Psychologe A. A. Brill, der Bernays zu dem Thema beraten hatte, sah das emanzipatorische Potential dieser Geste, wie Kluger erläutert, eben gerade in der männlichen Konnotation des Genussmittels: „Cigarettes, which are equated with men, become torches of freedom.“12 Der Akt des Rauchens markierte die Einforderung von Privilegien, die bis dahin nur Männern zugestanden wurden, doch da die Zigarette als Männlichkeitssymbol galt, wurden rauchende Frauen im Sinne Judith Halberstams gemeinhin als „gender deviants“13 betrachtet. Ausgehend von Judith Butlers These, dass Geschlechteridentität auf Identifikation und Imitation beruhe, argumentiert Halberstam in Female Masculinity, dass Maskulinität nicht etwa eine natürliche Eigenschaft männlicher Körper sei, sondern über Geschlechtergrenzen hinweg performativ evoziert und zu eigen gemacht werden könne und dies in verschiedenem Maße auch schon immer wurde. Allerdings führe die „immense social power that accumulates around masculinity“14 dazu, dass sie allein Menschen mit männlichen Körpern zugesprochen, solchen mit weiblichen Körpern hingegen aktiv verwehrt werde. Halberstam verwendet das Konzept der female masculinity vor allem im Sinne von butchness, also der Identifikation mit dem männlichen

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Vestergaard und Schrøder 1985: 122. Jones 1999. Kluger 2004: 78. Halberstam 1998: 232. Ebd.: 269.

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Geschlecht durch lesbische Frauen oder Transsexuelle, um gesellschaftliche Reaktionen auf das Phänomen und deren Folgen für die Betroffenen zu beschreiben. Die Performativität von Gender legt jedoch ebenfalls nahe, dass von verschiedenen Graden und Formen auch von weiblicher Maskulinität auszugehen ist. So bezeichnet die subversive Aneignung männlich kodierter Accessoires und Aktivitäten einen Gestus, der weniger die Geschlechteridentität als vielmehr die dominante Geschlechterhierarchie anvisiert: Frauen, die sich vermeintlich männliche Verhaltensweisen zu eigen machen, bedrohen dadurch, dass sie Männlichkeit als performativ denaturalisieren, die patriarchale Rollenverteilung und somit die bürgerliche Gesellschaftsstruktur. Innerhalb dieser kulturellen Performance dienen Gebrauchsgegenstände wie die Zigarette gewissermaßen als Männlichkeitsprothesen. Die phallische Erweiterung des weiblichen Körpers als Form der subversiven Geschlechtsimitation bildet die logische Umkehrung von Butlers’ These, dass Kastrationsangst die Lösbarkeit des Phallus voraussetze: „Castration could not be feared if the phallus were not already detachable, already elsewhere, already dispossessed; it is not simply the spectre that it will become lost that constitutes the obsessive preoccupation of castration anxiety.“15 Otto Dix’ Porträt der Journalistin Sylvia von Harden aus dem Jahr 192616 lässt erahnen, welch ambivalente Wirkung die weibliche Aneignung dieser „Prothese“ auf ihre Zeitgenossen hatte: Bemerkenswert markante Gesichtszüge und grotesk große Hände komplementieren die für die New Woman typische Kurzhaarfrisur. Der Mangel an femininer Form und Zartheit wird durch die Aneignung der maskulin konnotierten Objekte Zigarette und Monokel erhöht und versinnbildlicht. Einzig der dunkle Lippenstift und die teilweise heruntergerutschten Seidenstrümpfe stellen eindeutig weibliche Merkmale dar, stehen jedoch gleichzeitig für eine bedrohliche sexuelle Freizügigkeit, die mit dem neuen Frauentypus in Verbindung gebracht wurde. Wie an diesem Porträt aus der Weimarer Zeit zu erkennen ist, stellte die geschlechtsambivalente Frau gleichermaßen ein Objekt der Faszination und eine Quelle kultureller Angst dar. Ironischerweise eröffnete ausgerechnet die steigende Akzeptanz rauchender Frauen in den kommenden Jahren die Möglichkeit, das subversive Potential dieser Geste zu entschärfen, indem man eigene Produkte und Verkaufsstrategien für Raucherinnen entwickelte. Bald wurden in der Zigarettenwerbung spezifisch „weibliche“ Wünsche und Probleme angesprochen, allen voran Aussehen und Attraktivität. Bereits wenige Monate nach dem Freedom March begann Lucky Strike

15 Butler 1993: 101. 16 In der Öffentlichkeit rauchende Frauen waren zu dieser Zeit bereits ein gängigeres Bild in Europa als in den USA.

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mit einer Werbekampagne, die Zigaretten als ideale Methode der Gewichtskontrolle anpries. Auf den Werbeplakaten zu sehen sind verschiedene attraktive junge Menschen vor der Silhouette ihres zukünftigen übergewichtigen Selbst (s. Abb. 1), in das sie sich vermeintlich zu verwandeln drohen, sollten sie es versäumen, hochkalorische Süßigkeiten durch Zigaretten zu ersetzen – der Slogan der Kampagne lautete: „Reach for a Lucky instead of a sweet.“ Diese Werbekampagne unterscheidet sich von späteren Evokationen des Abnehmversprechens qua Zigarette in zweierlei Hinsicht: Zum einen sprachen einige der Lucky-Strike-Anzeigen auch gezielt Männer an, während das Versprechen später exklusiv als Verkaufsargument auf Frauen ausgerichtet wird. Abbildung 1: Werbung für Lucky Strike aus dem Jahr 1930: „The Shadow which pursues us all. When tempted reach for a Lucky instead.“17

17 Stanford Research into the Impact of Tobacco Advertising (SRITA) Online Database, http://tobacco.stanford.edu/tobacco_web/images/tobacco_ads/keeps_you_slim/fsf/ large /fsf_1.jpg.

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T RAUM VON Z IVILISATIONSFLUCHT UND S ELBSTBESTIMMUNG : M ARLBORO -M ÄNNER UND M AVERICKS Als erster Tabakkonzern versuchte Philip Morris, den weiblichen Markt durch die Kreation einer Zigarettenmarke eigens für Frauen zu erschließen. Sie nannten das Produkt Marlboro. Eine der ersten Kampagnen für Marlboro um 1935 zeigt verschiedene distanziert-elegante und perfekt geschminkte Frauen – Verkörperungen amerikanisch-bürgerlicher Weiblichkeitsvorstellungen der Zeit. Der Slogan „Mild as May“ trägt der Ansicht Rechnung, dass die Frau generell milde Aromen bevorzuge, während eine Innovation mit dem wohlklingenden Namen „Ivory Tip“ – „Elfenbeinspitze“ – dafür sorgen soll, dass ihr Lippenstift auch ja nicht verschmiert. Die Botschaft, die hier vermittelt wird, ist, dass es sich bei der Marlboro um das perfekte Accessoire handelt, da sie die weiblichen Reize unterstreicht, anstatt sie zu kompromittieren. Eine weitere Marlboro-Anzeige aus dieser Zeit widmet sich offensiv dem anrüchigen Image der rauchenden Frau, indem sie die rhetorische Frage stellt: „Has smoking any more to do with a woman’s morals than has the color of her hair?“18 Durch den Vergleich mit dem äußeren Erscheinungsbild der Frau unterstellt die Anzeige gleichzeitig auf subtile Weise eine vermeintlich schmückende Wirkung des Glimmstängels. Die neue Zigarettenmarke für die Frau war durchaus erfolgreich, doch kamen die Verkaufszahlen nie in die Nähe solcher Marken wie Old Gold, die nicht auf die weibliche Zielgruppe ausgerichtet waren. 1954 entschied man daher, Marlboro sollte gewissermaßen einer „Geschlechtsumwandlung“19 unterzogen werden; von nun an sollte Werbung für das Produkt gezielt Männer ansprechen. Es entstand „the most powerful mascot in American tobacco marketing in history“20 – der Marlboro Man (s. Abb. 2). In dieser wohl erfolgreichsten Werbekampagne für Zigaretten erschien der raue Cowboy als Phantasma ursprünglichster Männlichkeit, der sich ewig der vermeintlich zähmenden und lähmenden Wirkung der modernen Gesellschaft und Arbeitswelt entzog: „a throwback hero, strong, stoic, selfreliant free […], potent – the kind of man women are drawn to – and he never punched a time clock.“21

18 19 20 21

Zit. nach Kluger 2004: 74. Kluger 2004: 176. Shirk 2015. Kluger 2004: 295.

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Aus feministischer Sicht mag dieser Imagewechsel im Sinne einer Abwertung der Verbraucherin als Rückschritt erscheinen. Eine etwas andere Perspektive eröffnet sich hingegen, betrachtet man Werbung, wie es Vestergaard und Schrøder tun, als Manifestation unerfüllter Träume und Hoffnungen, aus denen sich im Umkehrschluss der Unmut über bestehende gesellschaftliche Zustände ablesen lässt: „By inviting us to enter its imaginary paradise, advertising […] becomes a magic mirror in which a more subtle interpretation enables us to discern the contours of widespread popular discontent with everyday life and with the opportunities provided by the society in which we live.“22 Abbildung 2: Werbung für Marlboro aus dem Jahr 1970: „Come to Marlboro Country.“23

22 Vestergaard and Schrøder 1985: 119-20. 23 Stanford Research into the Impact of Tobacco Advertising (SRITA) Online Database, http://tobacco.stanford.edu/tobacco_web/images/tobacco_ads/filter_safety_myths/marlboro_men/large/men_51.jpg.

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In diesem Sinne beschreibt Kluger die Sehnsucht, die der Marlboro Man verkörpert, als Wunsch nach Komplexitätsreduktion und nichtentfremdetem Alltagsleben: „Marlboro Country“ seemed to beckon Americans to an earlier, simpler, morally unambiguous time, to the frontier irretrievably lost to the encroachment of thronged modernity. In the final third of the twentieth century, the nation too often found its cities increasingly blighted and violent, its suburbs sterile and conformist, its offices glazed and hermetic boxes, its work programmed and dehumanizing, its government inept when not corrupt, its faith bereft of nobler instincts, and life in general more alienating than fulfilling.24

Auf ähnliche Weise wird Darrell Winfield, der Cowboy, der über zwanzig Jahre lang in Marlboro-Anzeigen zu sehen war, in einem Nachruf des Economist als Sinnbild für Unabhängigkeit, Widerstandskraft und Unternehmertum charakterisiert.25 Obwohl das Phantasma einer „heroic“ oder „epic masculinity“26, das hier evoziert wird, zweifelsohne primär der Mobilisierung einer männlichen Zielgruppe dient, lässt sich dennoch argumentieren, dass Marlboros Versprechen auch bei vielen Frauen Anklang fand, gerade weil der Cowboy einen krassen Gegensatz zu Alltagstrott und empfundenem Mangel an Selbstbestimmung darstellt. Wie Shirk erläutert, teilte Philip Morris Jahre später Frauen im Rahmen einer Lifestyle-Analyse in verschiedene Gruppen ein und bezeichnete weibliche Raucherinnen, die Marlboro („the man’s cigarette“) bevorzugten, als „Mavericks“27 – ein Label, das dem Wildwestkonnotat der Marke nicht nur ein weiteres Element hinzufügt, sondern auch die vermeintliche Unangepasstheit der Marlboro-Raucherin an geltende Gendernormen impliziert: Sie ist ungezähmt und erkennbar nicht Teil der „Herde“. Die Geste des Marlboro-Rauchens durch die Frau kann daher als zumindest teilweise Ablehnung dominanter Weiblichkeitsvorstellungen gelesen werden; anders gesagt: Der weibliche Maverick performt eine alternative female masculinity als Strategie des Widerstands.

24 25 26 27

Kluger 2004: 295. Vgl. Shirk 2015. Halberstam 1998: 1, 4. Shirk 2015.

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„Y OU ’ VE C OME A L ONG W AY , B ABY “, O DER : E MANZIPATION ALS R UNNING G AG IN V IRGINIA -S LIMS W ERBEANZEIGEN 1968 wandte sich Philip Morris erneut mit einer eigenen Zigarettenmarke namens Virginia Slims und einer aufsehenerregenden Werbekampagne, die fast zwanzig Jahre andauerte, an weibliche Konsumentinnen. Ihr schulterklopfender Slogan lautete: „You’ve come a long way, baby.“ So zelebrierten die Anzeigen laut Kluger denn auch die neue Unabhängigkeit der Frau und kritisierten zugleich, oft lakonisch, deren lange Ausbeutung durch den Mann: „The ad copy was pitched at the newly independent social status of women, exuberantly declaring their progress and needling men for having long exploited them as cooks, laundresses, and floor scrubbers.“28 Die Anzeigen präsentieren Mininarrative, die gewissermaßen einem düsteren „Es-war-einmal“ ein erheiterndes „Happy End“ gegenüberstellen. So zeigt zum Beispiel ein Plakat aus dem Jahr 1981 im Vordergrund eine kniende Frau mit kurzer Hose und rotem Holzfällerhemd bekleidet, Wanderschuhe und -strümpfe an den Füßen, ein Gurt mit Kletterseil und anderem Gerät um die Hüfte. Die blonde Frau mit offenem, schulterlangen Haar schaut lächelnd in die Kamera, fingerlose Handschuhe in der linken Hand, den Arm in die Hüfte gestemmt, die Zigarette lässig in der anderen, den rechten Ellenbogen auf das Knie gestützt. Am oberen Bildrand sind drei viktorianisch anmutende Fotografien in Sepia zu sehen, die jeweils eine Frau beim mühevollen Aufbau eines Zeltes, beim Wäschewaschen an Zuber und Waschbrett und beim Feuerholzschleppen zeigen. Darunter sind in Kursivschrift die sarkatistischen Worte zu lesen: „Virginia Slims remembers the many pleasures of a woman’s day while camping in the great outdoors.“29 Seit damals, als sie nur Lakai ihres Mannes war, so die Botschaft, hat Frau es weit gebracht! Eine andere Virginia-Slims-Anzeige aus dem Jahr 1991 (Abb. 3) zeigt eine lächelnde brünette Frau in braunem Anzug über weißem Hemd und violett gemusterter Krawatte; darüber einen offenen pinken Mantel. In der linken Hand trägt sie einen silbernen Aktenkoffer und eine Handtasche, zwischen den Fingern der rechten Hand hält sie die Zigarette. Das stöckelbeschuhte linke Bein ist angewinkelt und vermittelt zusammen mit dem schwingenden Mantel den Eindruck dynamischer Bewegung. Am linken Bildrand ist eine sepiafarbene Fotografie zu sehen,

28 Kluger 2004: 315. 29 Stanford Research into the Impact of Tobacco Advertising (SRITA) Online Database, http://171.67.24.15/tobacco_web/images/tobacco_ads/womens_cigarettes/vsbaby/large/vs_130.jpg.

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die drei Frauen in eng geschnürten Korsetts zeigt, darunter die kursivierte Bildunterschrift: „There used to be a lot more pressure on women to succeed in middle management.“ Dieses Wortspiel suggeriert, dass sich die moderne Frau frei gemacht habe von einem antiquierten und ungesunden Schönheitsideal, das ihr durch die patriarchale Gesellschaft aufgezwungen wurde – das middle management der Viktorianischen Frau beschränkt sich auf die Bändigung der Körpermitte –, um stattdessen Selbstverwirklichung im beruflichen Erfolg zu finden. Abbildung 3: Werbung für Virginia Slims aus dem Jahr 1991: „There used to be a lot more pressure for a woman to succeed in middle management. You’ve come a long way, baby“30

Die Virginia-Slims-Kampagne rekurriert erkennbar auf die mittlerweile etablierte kulturelle Verknüpfung von Zigarette und Emanzipation. Dies trug ihr vonseiten Einiger den Vorwurf ein, das Emanzipationsnarrativ zu missbrauchen, um ein

30 Stanford Research into the Impact of Tobacco Advertising (SRITA) Online Database, http://171.67.24.15/tobacco_web/images/tobacco_ads/womens_cigarettes/vsbaby/large/vs_281.jpg.

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überaus schädliches Suchtmittel an die Frau zu bringen31, während andere, ungeachtet des beworbenen Produkts, die Kampagne als „mit dem Ethos des Feminismus der zweiten Welle durchdrungen“32 feierten. Beide Einschätzungen jedoch messen der verbalen Botschaft und ihrer Wirkung einen höheren Stellenwert bei als der visuellen Darstellung der Frau, die, so meine These, dem ermächtigenden Slogan der Anzeigen zumindest teilweise zuwiderläuft. Vom Gebrauch der mindestens ambivalenten generischen Apostrophe „baby“ einmal abgesehen, werden die in den Damals-Fotografien abgebildeten Frauen zwar als Opfer dargestellt. Bildanordnung und die Ironie der Texte sorgen jedoch dafür, dass deren unwürdige Situation ins Lächerliche gezogen wird. Für die moderne Raucherin im Zentrum des Plakats scheinen die dunklen Zeiten weiblicher Benachteiligung so fern, dass sie für ihre Geschlechtsgenossinnen nur ein ungläubiges Lächeln übrighat – ein Gestus, der die vermeintliche Kritik an den patriarchalen Unterdrückungspraxen unterläuft oder zumindest von ihr abzulenken droht. Dabei suggerieren die Posen, die die Models in den Virginia-Slims-Anzeigen einnehmen, ironischerweise das Gegenteil dieser proklamierten Zäsur, denn sie implizieren, wie ich im Folgenden zeigen möchte, ein Frauenbild, das sich nach wie vor durch Unterwürfigkeit und Oberflächlichkeit auszeichnet.

V ON

VERSCHÄMTEN K NIEN UND ANDERE DES VISUELLEN D IMINUTIVS

F ORMEN

Ich berufe mich hier auf Erwing Goffmans Auffassung von Werbung als minuziös inszenierte Situationen, die nicht nur dazu dienen, ein Produkt attraktiv erscheinen zu lassen, sondern auch blitzschnell lesbar sein müssen. Aus diesem Grunde lassen sich Werbeanzeigen als „ritual-like displays“33 verstehen, die die Gesellschaftsstruktur mikroökologisch widerspiegeln. Für Goffman trifft dies in besonderem Maße auf die Repräsentation der Geschlechterverhältnisse durch Reklame, vor allem auf die Darstellung von Frauen, zu. Er bezeichnet diese als eine Form der „political ceremony […] affirming the place that women of the female sexclass have in the social structure, in other words, holding them to it.“34 In seiner Analyse der ritualisierten Unterordnung35 der Frau in der Werbung konzentriert

31 32 33 34 35

Vgl. Lee 2008. Shirk 2014. Goffman 1979: 1. Ebd.: 8. Ebd.: 40.

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sich Goffman auf typische Posen, Gesten, Gesichtsausdrücke und hierarchische Anordnungen zu Männern und dem Betrachter. So macht er Gesten des körperlichen Kleinmachens und der Niederwerfung als besonders effiziente Möglichkeit der Darstellung von Unterwürfigkeit und Ehrerbietung aus.36 Auffällig oft (und deutlich öfter als Männer) würden Frauen beispielsweise auf dem Boden oder einem Bett sitzend oder liegend abgebildet. Eine ähnlich häufige Pose, die nicht auf den ersten Blick unterwürfig erscheinen mag, ist das angewinkelte Bein, das von Goffman als „bashful knee bend“37 bezeichnet wird. In der einflussreichen Kampagne von Virginia Slims, die explizit die Errungenschaften der Emanzipation zelebriert, wimmelt es nur so von schüchternen Knien und anderen Körperhaltungen, die die Frauen kleiner und somit nichtdominant wirken lassen. Das angewinkelte Bein der Businessfrau aus der oben beschriebenen Anzeige betont zudem die Taille des Modells, sodass seine Silhouette trotz des Businessanzugs der Figur ihrer korsetttragenden Vorgängerinnen aus dem „Damals“-Bild ähnelt. Die Beuge- und Neigeposen in diesen Anzeigen werden durchgängig begleitet von einem Lächeln, das suggeriert, dass die Raucherinnen sich amüsieren. Solche Ausdrücke der Unbeschwertheit lassen sich nur selten auf männlichen Gesichtern in Werbeanzeigen finden. Goffman erklärt diese Diskrepanz in den genderspezifischen Abbildkonventionen mit der habituellen Projektion des Eltern-Kind-Komplexes als Paradigma einer positiv besetzten hierarchischen Beziehung auf Geschlechterverhältnisse, wobei der Frau entsprechend die Position des Kindes zugeschrieben werde.38 Der vermeintliche Vorteil dieser Unterordnung sei, dass den Betroffenen der Ernst des Lebens, der aus der Verantwortung der Verantwortlichen resultiert, erspart bleibe („saved from seriousness“39). Das Kind (und in Weiterführung die Frau) würden daher durch die Werbung häufig als beneidenswert unbefangen und verspielt imaginiert: „[…] children are not engaged in adjusting to and adapting to social situations, but in practicing, trying out, or playing at these efforts.“40 Kontrastiert man in diesem Sinn die Gesichtsausdrücke weiblicher Raucherinnen mit den zumeist ernsthaften oder konzentrierten Mienen rauchender Männer, so fällt auf, dass selbst in solchen Anzeigen, in denen Frauen in vermeintlich maskuliner Kleidung abgebildet sind oder maskulin konnotierten Tätigkeiten nachgehen, eher der Eindruck des Rollenspielens entsteht, eines So-tun-als-ob, statt einer eigentlichen Identifikation mit der

36 37 38 39 40

Ebd.: 40. Ebd.: 45. Ebd.: 4-8. Ebd.: 5. Ebd.: 5.

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Rolle. So blicken die Modelle, lächelnd und meist mit leicht geneigtem Kopf, direkt in die Kamera, als ob sie Bestätigung durch den Betrachter suchten, während beispielsweise der Blick der Cowboys in den Marlboro-Anzeigen ganz auf ihr Handeln gerichtet ist. Während männliche Raucher als ganz bei sich und ihrer Tätigkeit gezeigt werden, bestätigen Gestik, Mimik und Blickrichtung der Virginia-Slims-Frauen John Bergers These, dass Frauen sich oft selbst in die Objektposition begeben: Men act and women appear. Men look at women. Women watch themselves being looked at. This determines not only most relations between men and women but also the relation of women to themselves. The surveyor of woman in herself is male: the surveyed female. Thus she turns herself into an object – and most particularly an object of vision: a sight.41

Ironischerweise werden Frauen in Zigarettenreklame zudem selten mit dem Glimmstängel zwischen den Lippen oder beim Ausatmen von Zigarettenrauch abgebildet, mit anderen Worten: Man sieht sie fast nie tatsächlich rauchen. Stattdessen halten sie die Zigarette zumeist in relativ großem Abstand zum Mund zwischen zwei Fingern. Goffman bezeichnet diese „gefühlvolle“ Art der Handhaltung als „feminine touch“: Women, more than men, are pictured using their fingers and hands to trace the outlines of an object or to cradle it or to caress its surface […] or to effect a ,just barely touching‘ of the kind that might be significant between two electrically charged bodies. This ritualistic touching is to be distinguished from the utilitarian kind that grasps, manipulates or holds.42

Dieser feste oder zupackende Griff bleibe eben in der Regel Männern vorbehalten. Der Umstand, dass Frauen fast nie rauchend abgebildet werden, lässt sich zudem an Roland Barthes’ Überlegungen zu Oberfläche und Tiefenstruktur in Kosmetikwerbung anschließen: In „Publicitè de la profondeur“ argumentiert Barthes, dass Reklame für Produkte wie Gesichtscremes ein Modell der Tiefe voraussetzen43, die im Sinne einer „épique de l’intime“44 dargestellt werde. Feuchtigkeit, die mit

41 Zit. durch Vestergaard und Schrøder 1985: 81. 42 Goffman 1979: 29. 43 In „Saponides et détergents“ aus demselben Band stellt er zuvor bereits die These auf, dass Waschmittelwerbung auf ähnliche Weise Textilien (eigentlich Inbegriff reiner Oberfläche) eine elementare Tiefe zuschreibt. 44 Barthes 1970: 83.

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den positiven Attributen Reinheit und Frische gleichgesetzt werde, könne tief in die Haut eindringen und so ihre ursprüngliche Jugend und Unberührtheit wiederherstellen. Obwohl Barthes diese Beobachtungen nicht explizit auf die Darstellung von Frauen bezieht, erlaubt die Tatsache, dass es sich um stark gegenderte Produkte handelt, die Lesart, dass die Aufrechterhaltung körperlicher Reinheit und Unversehrtheit der Frau kulturell stark präferiert ist. In diesem Sinne ist die Aufnahme reinigender und regenerierender Substanzen in den weiblichen Körper wünschenswert, das Eindringen der maskulin konnotierten Zigarette und des opaken, grauen Rauchs jedoch selbst dann nicht, wenn ihnen sozialer Status – Virginia Slims’ „Du hast es weit gebracht!“ – und revitalisierende Eigenschaften – Lucky Strikes „Erhalte dein jugendlich straffes Erscheinungsbild!“ – zugeschrieben werden. All das deutet darauf hin, dass der Entschärfung des gesellschaftlich disruptiven Potentials weiblichen Rauchens in Zigarettenreklame eine wichtige Funktion zukommt. Obwohl die Virginia-Slims-Werbeanzeigen also auf eine weibliche Zielgruppe zugeschnitten waren und explizit die Errungenschaften der Emanzipation hervorheben und begrüßen, suggerieren Anordnung und Körpersprache einen Habitus, der eher von Unterordnung und Beschwichtigung zeugt. Möglicherweise lässt sich der Widerspruch teilweise darauf zurückführen, dass es sich hier um Abbildkonventionen oder Gesten handelt, die stark verinnerlicht und daher selten Gegenstand eingehender ideologischer Untersuchungen sind. Denkbar ist jedoch auch, dass es eben gerade diese mixed message ist, die zumindest bei einem Teil der Zielgruppe der Raucherinnen ankommt, nämlich bei denjenigen, die zwar einerseits die neu gewonnenen Freiheiten und Möglichkeiten genießen, die Frauen im Zuge der Emanzipation zukommen, die sich jedoch andererseits weiterhin mit Aspekten einer traditionellen Vorstellung von Weiblichkeit identifizieren. Zwar suggeriert die Kampagne, die Tatsache, dass Frauen eine eigens für sie entwickelte Zigarettenmarke rauchten, die sich von den wenig stylischen Männermarken unterschieden, sei an sich eine Errungenschaft, Teil einer umfassenderen emanzipatorischen Entwicklung. Das Werbeargument, dass sich der Geschmack weiblicher „natürlich“ von dem männlicher Raucher unterscheide, bezeichnet allerdings aus gendertheoretischer Sicht eben keine Überwindung patriarchalen Denkens, basiert es nicht nur qua Implikatur auf der grundlegenden Differenz zwischen Männern und Frauen, sondern präsentiert der Betrachterin gewissermaßen im Imperativ: Unterscheide dich von Männern! Sei eine (echte) Frau!45

45 Eine Anzeige der Marke aus der Nachfolgekampagne mit dem Slogan „It’s a Woman Thing“, artikuliert dieses exklusive Weiblichkeitsideal in ihrem Werbetext mit den Worten: „Until you try walking in 3-inch heels… you can’t smoke one of ours.“

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In diesem Sinne erfreuen sich die Virginia-Slims-Aushängeschilder zwar öffentlich an ihrer Besserstellung gegenüber den „Frauen von früher“, sind dabei jedoch stets ladylike: freundlich, fröhlich, adrett und niemals widerspenstig. Und sie sind mit dem Erreichten zufrieden und erklären so gleichermaßen den Geschlechterkampf für beendet. Virginia-Slims-Markenmanagerin Ellen Merlos Erklärung für den Erfolg der Kampagne scheint diese These zu unterstützen, wenn sie selbige als „never strident, almost always tongue-in-cheek, and not feminist so much as liberationist […]“46 beschreibt.

F AZIT Interessanterweise identifiziert sich die Mehrheit der Raucherinnen womöglich nicht mit dem Image, das Zigarettenmarken für Frauen bewarben und bewerben. Tatsächlich stellte Philipp Morris im Rahmen von Marktforschungsanalysen Folgendes fest: „ultimately […] all the categories of ‚new young adult female smokers‘ smoked Marlboro more than any other brand – and in most cases ten times more than targeted brands like Virginia Slims.“47 Trotz der sonst wohl unerreichten Verfügbarkeit der Marke ist das Ergebnis in dieser Höhe doch überraschend. Ein Aspekt, der vermeintlich zur ihrer unerreichten Popularität bei Raucherinnen beiträgt, ist der Umstand, dass gerade das Ideal heroischer Maskulinität, das mit Marlboro assoziiert wird, ihnen eine ähnliche Möglichkeit der Artikulation des eigenen Anspruchs auf Selbstbestimmung und -verwirklichung bietet, wie es der Verstoß gegen das Verbot öffentlichen Rauchens von Frauen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts tat. Die Reklame für Zigaretten, die auf eine weibliche Zielgruppe abzielt, bedient sich hingegen (visuell wie verbal) einer Rhetorik, die signifikante Elemente genderpolitischer Einhegung und Stabilisierung beinhaltet. Aus semiotischer Perspektive eröffnen also paradoxerweise gerade jene Normen des Systems der Geschlechterdifferenzen, die hier die langue darstellen, und die Benachteiligung der Frau gegenüber Männern begründen, auch die Möglichkeit der Kritik auf Ebene der parole in Form bewusster Akte der Appropriation männlich kodierter Objekte und Handlungen durch Frauen. Auch heute noch – ja, aufgrund der zunehmenden Stigmatisierung des Rauchens insgesamt, möglicherweise mehr als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten – birgt die Zigarette zwischen

(http://tobacco.stanford.edu/tobacco_web/images/tobacco_ads/womens_cigarettes/vs_after/large/vs_138.jpg). 46 Zit. nach Kluger 2004: 316. 47 Shirk 2015.

W EIBLICHE (U N -)A BHÄNGIGKEIT IN Z IGARETTENWERBUNG

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Frauenlippen also genderpolitischen Zündstoff, auch wenn in der Zigarettenwerbung davon wenig zu spüren ist.

L ITERATUR Barthes, Roland (1970): „Publicité de la profondeur“, in: Mythologies, o.O: Éditions du Seuil, 82-85. — „Saponides et détergents“, ebd., 38-40. Butler, Judith (1993): Bodies that Matter: On the Discursive Limits of “Sex”, NY & London: Routledge. Dix, Otto (1926): „Porträt der Journalistin Sylvia von Harden”, Musée National d’Art Moderne, Paris. Gilman, Sander L. and Zhou Xun (Eds.) (2004): Smoke: A Global History of Smoking, London: Reaktion. Goffman, Erving (1979): Gender Advertisements, NY [u.a.]: Harper & Row. Halberstam, Judith (1998): Female Masculinities, Durham & London: Duke UP. Jones, E. Michael (1999): „The Torches of Freedom Campaign: Behaviorism, Advertising and the Rise of the American Empire“, in: Culture Wars, Juni 1999, http://www.culturewars.com/CultureWars/1999/torches.html, zuletzt abgerufen am 08.04.2017. Kluger, Richard (1996): Ashes to Ashes: America’s Hundred-Year Cigarette War, the Public Health, and the Unabashed Triumph of Philip Morris, NY: Alfred A. Knopf. Lee, Jennifer S. (2008): „Big Tobacco’s Spin on Women’s Liberation.“, in: Cityroom. NY Times, 10. Oktober 2008, https://cityroom.blogs.nytimes.com/2008/ 10/10/big-tobaccos-spin-on-womens-liberation/?mcubz=0, zuletzt abgerufen: 24.09.2017. Manet, Édouard (um 1878): „Die Pflaume”, National Gallery of Art, Washington. Meinking, Mary (2009): Cash Crop to Cash Cow: The History of Tobacco and Smoking in America. Kindle ed., Broomal, PA: Mason Crest. Pollard, Tanya (2004): „The Pleasures and Perils of Smoking in Early Modern England“, in: Smoke: A Global History of Smoking. Ed. Sander L. Gilman and Zhou Xun, London: Reaktion. Shirk, Adrian (2014): „The Death of the Cool Feminist Smoker“, in: The Atlantic, 30. Januar 2014, https://www.theatlantic.com/health/archive/2014/01/thedeath-of-the-cool-feminist-smoker/283273/, zuletzt abgerufen: 24.09.2017.

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— (2015): „The Real Marlboro Man“, The Atlantic, 17. Februar 2015, https:// www.theatlantic.com/business/archive/2015/02/the-real-marlboroman/385447/, zuletzt abgerufen: 24.09.2017. Schrøder, Kim and Torben Vestergaard (1985): The Language of Advertising, Oxford & NY: Basil Blackwell. Sivulka, Juliann (1997): Soap, Sex and Cigarettes: A Cultural History of American Advertising, Belmont, CA: Wadsworth. Stanford Research into the Impact of Tobacco Advertising. http://tobacco.stanford.edu, zuletzt abgerufen am 08.04.2017.

W ERBUNG British American Tobacco Lucky Strike Anzeige „When tempted reach for a Lucky instead.“ (1930) (USA). Liggett & Myers Tobacco Company Chesterfield Kampagne „Blow some my way“ (1926) (USA). Philipp Morris Marlboro Anzeige „Mild as May“ (1935) (USA). Philipp Morris Marlboro Kampagne „Come to Marlboro Country“ (1970) (USA, Leo Burnett Company). Philipp Morris Virginia Slims „You’ve come a long way, baby.“ Kampagne (1968-1996) (USA, Leo Burnett Company). Philipp Morris Virginia Slims „It's a woman thing“ Kampagne (1996-ca. 2005) (USA, Leo Burnett Company).

Kann man den „Herzschlag eines ganzen Volkes“ ausdrücken? Nationale Identitätsentwürfe in der Printwerbung M ARKUS R AITH

Kann man – wie es in einer Kampagne der BILD-Zeitung heißt – den „Herzschlag eines ganzen Volkes“ ausdrücken? Mit dieser Frage, und das heißt mit der Frage nach nationaler Identität, begibt man sich nicht nur soziopolitisch, sondern auch wissenschaftlich auf unsicheres Terrain. Dennoch gab und gibt es immer wieder Versuche, diesem Thema analytisch und in systematischer Weise nachzugehen. Hans-Dieter Gelfert versieht die Frage Was ist deutsch? mit einem Untertitel, der ihre historische Dimension betont: Wie die Deutschen wurden, was sie sind, und verweist in seiner Einleitung auf eine andere Frage, die in diesem Zusammenhang gestellt wird: Wie deutsch sind die Deutschen?1 Ob man zur Beantwortung dieser Fragen nun den problematischen Begriff der Identität beiseitelässt und sich, wie Gelfert, eher Mentalitäten zuwendet; ob man wie Klaus Stierstorfer Deutschlandbilder im Spiegel anderer Nationen 2 untersucht; oder ob man mit Asserate das Ganze ironisch-spielerisch angeht und feststellt Draußen nur Kännchen. Meine deutschen Fundstücke3: Stets geht es darum, kollektive Wissensbestände, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in Bezug auf nationale Geschichte, Sprache und Kultur zu erfassen und dabei vor allem den Diskurs „als die Wirklichkeit des Imaginierten“4 in den Blick zu bekommen. Und stets geht es auch darum, Identität vor der Folie von Alterität zu verhandeln, be-

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Gelfert 2005. Stierstorfer 2003. Asserate 2012. Schneider 2001: 45.

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steht eine Grundeinsicht der Interkulturalitätsforschung doch darin, dass beide relationale Kategorien sind, dass sie also immer aufeinander bezogen gedacht werden müssen. Dies kann tendenziell durch Abgrenzung oder Annäherung geschehen, mit all den Abstufungen, die zwischen diesen beiden Polen möglich sind. Für die folgende Analyse von Werbebeispielen möchte ich mich daher auf Überlegungen aus der Interkulturalitätsforschung stützen, insbesondere auf Claus Altmayers Studie Kultur als Hypertext. Zu Theorie und Praxis der Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache. Altmayer geht von einem weiten Textbegriff aus – Text verstanden als kommunikative Handlung, in die präsupponiertes lebensweltliches Wissen eingeht – und betont die Rolle kultureller Deutungsmuster. Dabei handelt es sich um intersubjektive, abstrakte und typisierte Wissensstrukturen, die „eine gewisse Konstanz und Stabilität über längere Zeiträume hinweg aufweisen und die daher für Deutungsprozesse innerhalb einer Sprachund Kommunikationsgemeinschaft immer wieder herangezogen werden.“5 Diese Muster werden gerade in Rezeptionsprozessen oft unbewusst und automatisch aktiviert. Daher ist es Ziel der kulturwissenschaftlichen Analyse, sie zu rekonstruieren, und zwar in ihrer jeweiligen medialen Realisierung, in unserem Falle also in Schrift und Bild. Denn Printwerbung bringt zwei sehr unterschiedliche Zeichensysteme mit je eigenem Darstellungspotential zusammen. Bereits 1992 hat sich eine Studie zur Kultur der Werbung mit dem Zusammenspiel von Bilderflut und Sprachmagie auseinandergesetzt, in jüngster Zeit wurden diese Ansätze durch Bildlinguistik, Medienlinguistik und die Multimodalitätsforschung vertieft.6 Auch für die nachfolgenden Fallstudien soll ein solcher Zugang gewählt werden, mit dem Fokus auf ästhetischen Verfahren, wie wir sie auch in Kunst und Literatur finden.

I DENTITÄT

UND

A LTERITÄT

IN DER

W ERBUNG

Geht man von der Beobachtung aus, dass „Werbung […] ihre ökonomische Zielsetzung mit ästhetischen Strategien, die wie sensible Resonanzkörper auf gesellschaftliche Entwicklungen ausgerichtet sind“, verfolgt und daher das „Entstehen und Vergehen sozialer Stereotype, kollektiver Symbole und Wunschwelten […] an den Medienangeboten der Werbung besonders deutlich beobachtet“7 werden können, wird ersichtlich, wieso Werbung auch aufschlussreich für die ästhetisch

5 6 7

Altmayer 2004: 154. Vgl. Diekmannshenke/Klemm/Stöckl 2011. Spieß 1992: 80.

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elaborierte Inszenierung von nationalen Identitätsentwürfen ist. Solche Identitätsentwürfe im Rahmen des kulturellen Deutungsmusters „deutsch“ sensu Altmayer finden sich in der Werbung in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlicher Funktion. Mindestens vier Varianten lassen sich grob unterscheiden: Erstens der Entwurf eines nationalkulturellen Settings, ohne dass explizit auf das Nationale Bezug genommen würde, etwa in der traditionellen Werbung für Kaffee. In verschiedenen Werbespots aus den 60er und 80er Jahren wird etwa von der Firma Jacobs der kulturspezifische Rahmen der nachmittäglichen Kaffeestunde im familiären Rahmen aufgespannt.8 Dabei werden Ess- und Trinkgewohnheiten in ihren sozialen Bezügen in Szene gesetzt, welche die Rezipienten leicht wiedererkennen können. Insbesondere das Weihnachtsfest mit seinen kulturspezifischen Ausprägungen erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit in der Werbung und bezeugt die Langlebigkeit entsprechender Deutungsmuster.9 Zweitens gibt es Produktwerbung mit explizit nationaler Ausrichtung, die wie das berühmte „Made in Germany“ als Gütesiegel gilt. Beispielsweise – um bei Kaffeewerbung zu bleiben – die Kampagnen für den italienischen Kaffeeveredler Lavazza. Dieser Kaffee wird sprachlich als „Italian experience“ angepriesen, visuell werden gut wiedererkennbare Narrative aufgerufen, welche heterostereotyp mit Italiens Geschichte und Kultur assoziiert werden, beispielsweise der Mythos von der Gründung Roms, wenn in einer Kampagne eine als Wölfin inszenierte Frau mit zwei kleinen Jungen gezeigt wird. Eine beliebte Variante dieses explizit aufs Nationale abzielenden Werbetypus ist die Verwendung der jeweiligen Nationalsprache, so präsentiert sich beispielsweise Renault auch außerhalb Frankreichs als „créateur d’automobiles“. Drittens Produktwerbung mit explizit nationaler Ausrichtung, die aber entsprechende Stereotypen ironisiert oder spielerisch abwandelt, eine Werbeform, die sich vor allem seit den 80er Jahren durchgesetzt hat. Als Beispiel sei etwa die LBS-Werbekampagne „Entdecke den Spießer in Dir“ genannt, welche verschiedene Ausformungen des Deutungsmusters „deutsch“ in seinen soziokulturellen Spielarten ironisch aufgreift: etwa das Faible für die Ferne, das man sich domestizierend in Form von Souvenirs und Einrichtungsgegenständen ins eigene Haus mitnimmt; oder die Bedeutung der Freikörperkultur, welche an die akkurate Pflege des Eigenheims gekoppelt wird, wenn ein Rentner nackt den Rasen mäht. Schließlich gibt es, viertens, vor allem bei weltweit agierenden Unternehmen eine Form der Werbung, die bisweilen demonstrativ bemüht ist, das Nationale

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Jacobs 1989. Über die Besonderheiten der werberischen Inszenierung des Weihnachtsfestes aus Gender-Perspektive schreibt Elisabeth Hollerweger im selben Teil dieses Bandes.

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verschwinden zu lassen und Internationalität auszustellen. In der Regel sind hier junge Menschen zu sehen, etwa bei Benetton, die offensichtlich aus verschiedenen Kulturkreisen kommen. Dies wird aber gerade nicht an kulturellen Aspekten sichtbar, sondern an biologischen, an Haut- und Haarfarbe oder an Gesichtsformen. Dabei fällt auf, dass meist verschiedene Typen repräsentiert werden, dass also eine bestimmte – politisch korrekte – Quotierung eingehalten wird, pflegt man doch „in modernen Werbebildern die schwarz-weißen Hautkontraste (Benetton-Colors, Peter Stuyvesant „Come together“, West, Kodak) und präsentiert sich gerne als „Botschafter in Sachen Multikulturalität“.10 Einen Sonderfall von Werbung stellen schließlich Kampagnen von Hilfsorganisationen, Verbänden, Landes- oder Bundesverwaltungen dar. Sie bewerben keine Produkte, werben aber buchstäblich um Verständnis für und Zustimmung zu soziopolitischen Belangen (und bisweilen auch für Spendengelder). Bekannt geworden ist in unserem Zusammenhang vor allem die Plakatserie „Einbürgerung“. Mit dem Slogan „typisch deutsch“ wurde seit 1999 für das neue Staatsbürgerschaftsrecht gleichsam geworben.11 Ebenfalls einige Bekanntheit erlangte die umstrittene „Du-bist-Deutschland“-Kampagne aus dem Jahr 2005/2006. Den Machern wurde unter anderem vorgeworfen, dass sie sich einer zweifelhaften Volkskörperrhetorik bedient hätten, was mittlerweile auch eine Vielzahl an Parodien auf diese Kampagne hervorgerufen hat.12 Dass diese Varianten von Werbung selten in Reinform auftreten und dass es noch eine Reihe weiterer Darstellungsmuster gibt, lässt sich an den drei Fallbeispielen, die nachfolgend erörtert werden, erkennen. Sie zeigen die Komplexität nationaler Identitätsentwürfe in der Printwerbung, denn alle drei greifen auf – unterschiedlich – homogenisierende Deutungsmuster aus dem späten 18. und aus dem 19. Jahrhundert zurück und aktualisieren sie im Kontext gesellschaftlicher Identitätsentwürfe des 21. Jahrhunderts. Der Fokus der Analyse wird auf den bildund sprachrhetorischen Mitteln liegen, mit denen zeitgenössische Identitäts- beziehungsweise Alteritätsdiskurse an historische Deutungsmuster und insbesondere an Vorstellungen von Körperlichkeit gekoppelt werden. Dabei ist auch der Frage nachzugehen, welche Varianten nationaler Identitätsentwürfe auf diese Weise legitimiert und somit möglicherweise akzeptiert werden.

10 Vgl. z.B. Bennetton 2012. 11 Vgl. dazu Altmayer 2004. 12 Vgl. Jähner 2005.

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D EUTSCHLAND EIN S OMMERMÄRCHEN ? N ATIONALE I DENTITÄT UND F USSBALL -WM IN DER W ERBUNG Unser erstes Beispiel entstammt einer neueren Werbekampagne der BILDZeitung, welche die Leistungen ihrer Journalisten in den Mittelpunkt der Anzeigen rückt. Dabei wird behauptet: „Ein einziger Reporter kann den Herzschlag eines ganzen Volkes ausdrücken.“ Dieser Satz ist am unteren Rand eines Fotos zu lesen, das jubelnde Fußballfans mit Deutschland-Fahnen und Trikots der Nationalmannschaft zeigt. Ohne zunächst auf die Details des Bildes einzugehen, ist doch die semiotische Selbstreflexion im Hinblick auf Text und Bild bemerkenswert. Das Bild zeigt, was der Text behauptet. Damit wird auf das kommunikative Potential von Bildern rekurriert. Sie können symbolisch verdichten, etwas augenblicklich und eindringlich zeigen, statt umständlich zu erklären. Nur so kann es einem einzigen Reporter gelingen, den Herzschlag eines ganzen Volkes auszudrücken: durch ein Foto, welches jubelnde Fußballfans im Augenblick höchster Begeisterung zeigt. Denn wie sollte das sprachlich möglich sein? Auch auf diese Frage gibt das Textelement eine Antwort: durch Metaphorik, durch Sprachbilder also, wenn vom „Herzschlag eines ganzen Volkes“ die Rede ist. Diese zunächst recht vage und vieldeutige Metapher wird durch das Foto kontextualisiert und vor allem konkretisiert. Die jubelnden Fußballfans sind als pars pro toto für das ganze Volk zu verstehen, das von den Spielen emotional berührt wird. Auf diese Weise eröffnet sich ein metaphorisches Feld, das an Körperlichkeit gebunden ist und sich in Redewendungen wie „Das lässt die Herzen höherschlagen“, „Herzklopfen haben“ u.v.m. manifestiert. Es verweist auf die physiologischen Grundlagen von Emotionen, welche die dargestellten Personen offenbar in hohem Maße empfinden; dies lässt sich an ihren Gesichtern, ihren halboffenen Mündern und ihren geweiteten Augen ablesen. Die Nähe von religiös grundierter, ekstatischer Verzückung und Fußballjubel – auf Seiten der Spieler wie auf Seiten des Publikums – ist immer wieder betont worden, jüngst von Peter Sloterdijk in einem Interview, in dem er von „mystische[r] Ekstase“, von „Augenblicksgötter[n]“ und von dem Fußballjubel als „quasipfingstliche[m] Ereignis“13 spricht.

13 Sloterdijk 2016: 20, vgl. auch Martínez 2001.

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Abbildung 1: Werbung mit Fußballmotiv14

Aber nicht nur religiöse Verzückung wird hier evoziert, auch die Ästhetik des einzigartigen Augenblicks in Kunst und Literatur grundiert diese Szene. Bereits seit der Antike gibt es entsprechende Topoi, aber vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert nimmt das Momentane, Situative einen zentralen Platz in Ästhetik und Poetik ein.15 Die Erfahrung des flüchtigen, aber dennoch erfüllten Augenblicks gilt als eines der zentralen Konzepte der ästhetischen Moderne, die – pauschal gesprochen – zunehmend von dauerhafter Glückseligkeit auf situatives Glück umstellt.16 Gerade die Werbung hat entsprechende Vorstellungen ausgiebig adaptiert und vor allem dann verwendet, wenn es um hochemotionale Momente geht, wie wir sie gehäuft etwa in der Parfum-Werbung finden. Exemplarisch wäre eine Werbekampagne für Guerlain zu nennen, die bereits im Titel den Augenblick mit sich führt: L’instant de Guerlain.17 Berücksichtigt man weiterhin den soziokulturellen Kontext und vor allem die Rede von der Fußball-WM 2006 als „Sommermärchen“, wird deutlich, in welchem Maße das Foto ein eigentlich national ausgerichtetes Ereignis in die Nähe

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Deichmann Kundenmagazin 09/2013 Vgl. Hillebrand 1999 und Herold 2017. Vgl. Thomä 2003. Vgl. Guerlain 2007.

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von Kunst, Literatur und Religion rückt, ihm also eine spezifisch ästhetische Rahmung verleiht, die es gleichsam der soziopolitischen Realität entrückt. Das Foto trägt auf diese Weise ganz entscheidend zur potentiellen Akzeptanz der Werbung bei, indem es der Metapher vom „Herzschlag eines ganzen Volkes“ ihre historische Schärfe nimmt. Denn solche und ähnliche biologisierenden Metaphern, welche national definierte Kollektive als Körper konzeptualisieren, stehen vor allem seit dem 19. Jahrhundert in einer hochproblematischen Tradition. Insbesondere in Deutschland, nach den Erfahrungen mit der NS-Diktatur, ist man gegenüber solchen Sprachbildern, die ein soziales Kollektiv als naturwüchsigen Organismus erscheinen lassen, zurecht misstrauisch, gerade in Verbindung mit dem Begriff „Volk“. Wahrscheinlich ist es nur im Kontext des Fotos möglich, die Metaphorik des „Volkskörpers“ zu reaktualisieren, ohne dass an der Werbung Anstoß genommen würde. Denn die Begeisterung für Fußball, insbesondere nach der WM 2006, ist in Deutschland noch immer eine der wenigen öffentlich akzeptierten Formen von nationalem Enthusiasmus.18 Im Zuge eines neuen, als unverkrampft deklarierten Patriotismus werden hier nationale Identitätsentwürfe an den Sport gekoppelt und können so für die BILD-Werbung genutzt werden. Deswegen sind auf dem Foto nicht etwa grölende, martialische Fans im Stadion dargestellt, sondern sympathische junge Menschen vor einer Leinwand. Im Vordergrund ist ein blondes Mädchen zu sehen, das aus der Menge herausragt und Schwarz-Rot-Gold trägt. Überdies blickt es die Betrachter mehr oder weniger direkt an. Auch in diesem Fall wird ein visuelles Stereotyp, das in einer aus heutiger Sicht zweifelhaften Tradition steht, reaktualisiert: die allegorisierende Personifikation von Nationen durch Frauenfiguren.19 Das blonde Mädchen erscheint hingegen als gänzlich unkriegerische, mit ihren Hasenohren eher karnevaleske oder besser boulevardeske Germania, die mit der Wacht am Rhein nichts zu tun hat und wohl auch nicht zu tun haben will. Eher noch wirkt sie wie der „Körper der

18 Vgl. das Konzept der „Sportnation“ (zusammengefasst in Kolpatzik 2009: 28ff) und die Vorstellung von der Fußball-WM als „emotionaler Nationsbildner“ (Kolpatzik 2009: 32). 19 Die Pose erinnert an Darstellungen der französischen Nationalheldin Marianne. Sebastian Baden und Dominik Schrey beschreiben in ihrem Beitrag über Revolution in der Werbung in diesem Band eine solche Darstellung, „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix.

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Sportnation.“20 Sie ist zudem in einem Rahmen zu sehen, den wir aus vielen anderen Werbeformaten kennen, nämlich inmitten fröhlich feiernder junger Menschen. Vor allem die Lichtreflexe erscheinen wie Lampions oder Konfetti und lassen die Szene fast surreal anmuten: als Fest oder Maskenball mit gewissermaßen national „kostümierten“ Menschen. Hinzu kommt, dass die blonde Frau nicht nur als visuelles Stereotyp und Personifikation der Nation zu verstehen ist, sondern von Nutzern entsprechender Medienangebote als reale Person erkannt werden könnte. Seit der Fußball-WM von 2006 taucht eine gewisse Daja aus Steglitz in sozialen Medien und in den von BILD verbreiteten Nachrichten als „Fanmeilen-Göttin“ und “Schlandine“ auf21, personifiziert also in neuer Weise ein nationales Kollektiv, ohne allzu explizit auf das Nationale und seine problematische Tradition in Deutschland zu verweisen.

J UNGE UND M ÄDCHEN DIE F ERNE BETRACHTEND – E XOTISMUS IN DER R EISEWERBUNG Das zweite Fallbeispiel für nationale Identitätsentwürfe ist der Reisewerbung entnommen. Es geht um das Titelbild eines Reisekataloges, das vor allem visuell historische Deutungsmuster aufgreift und im Spannungsfeld von Identität und Alterität neu verortet. Drei zentrale Elemente lassen sich auf dem Bild erkennen: die Kinder im Vordergrund, die Frau am Horizont und die Landschaft, in der sich beide befinden. Beginnen wir mit dem Vordergrund. Die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, sind blond und entsprechen so einem Typus, der im imaginaire collectif 20 Vgl. Kolpatzik 2009: 36: „Da es den Sozialkörper eines Kollektivs im Sinne einer sichtbaren, greifbaren Wirklichkeit nicht gibt, sondern er immer auf Metaphern und andere soziale (Hilfs-)Konstrukte angewiesen ist, gilt die Nationalmannschaft als akzeptierter symbolischer Repräsentant der jeweiligen ‚Sportnation‘.“ In der BILD-Werbung, so meine ich, ist es gerade nicht die Mannschaft, sondern das Fankollektiv und insbesondere das Mädchen, das als akzeptierte symbolische Repräsentantin fungiert. Folgt man Grabbe 2016, so erzeugen Sportereignisse eine nationale Gemeinschaft, die sich im Kontext des Sommermärchens als neu zu formierende darstellt. Dies würde auch erklären, warum junge Fans und eine junge Frau im Mittelpunkt der Werbung stehen. Möglicherweise werden dabei Bezüge zum Fall der Mauer und den folgenden Einheitsfeiern aufgerufen, wo ebenfalls Bilder von Fahnen schwingenden Menschen zirkulierten, sodass die Frau als Verkörperung von neu gewonnener Freiheit verstanden werden könnte. 21 Vgl. etwa den Bericht in der BZ (2014) „Fanmeilen-Party: Nass, aber glücklich“.

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mit Deutschland oder zumindest mit Mittel- und Nordeuropa in Verbindung gebracht wird. Sie tragen weiße, kurze Kleidung, was mindestens drei verschiedene Deutungsmuster aufrufen kann: ein farbsymbolisches – Weiß gilt als die Farbe der Unschuld; ein historisches – denkt man an die helle Farbe der Kolonialuniformen; und ein soziales – weiße Polohemden lassen an gutsituiertes, etwa Tennis spielendes Bürgertum denken. Abbildung 2: Titelbild Vögele Reisen Katalog22

Bemerkenswert ist überdies die stark kodifizierte Pose, welche die Kinder einnehmen und die wir als romantische Pose eines erwachsenen Paares zu rezipieren gewohnt sind. Das etwas kleinere Mädchen scheint seinen Kopf auf die Schulter des Jungen zu legen und es steht hinter ihm, um sich an ihn anzulehnen. Auf diese Weise dienen die Kinder als milieuspezifisches, nationalkulturell grundiertes Identifikationsangebot an die erwachsenen Rezipienten des Katalogs.

22 Vögele 2002/2003.

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Hinzu kommt die Einbettung der Kinder in eine kulturspezifische Tradition der Landschaftsdarstellung.23 Denn die Pose des Paares erinnert an die romantischen Sehnsuchtslandschaften mit ihren Rückenbildern. Vor allem die Gemälde Caspar David Friedrichs – und hier insbesondere das berühmte „Mann und Frau den Mond betrachtend“ (1824) – sind im kollektiven Gedächtnis der bürgerlichen Milieus fest verankert und können daher durch die Werbung aufgerufen werden. Auch hier wird auf die Ästhetik des besonderen Augenblicks rekurriert, nimmt die (gemeinsame) Rezeption von Kunstwerken als quasi-religiöser Moment doch seit dem 18. Jahrhundert eine zentrale Stellung in bildender Kunst und Literatur ein.24 Allerdings besteht ein grundlegender Unterschied zwischen romantischem Rückenbild und Reisewerbung. Der offene Horizont, der bei den Romantikern eine unbestimmte Sehnsucht visualisiert, wird hier geschlossen; er wird eingenommen von einer überdimensionierten Frauenbüste. Sie verkörpert gleichsam allegorisch eine exotische Fremde und gibt der vagen romantischen Sehnsucht damit eine sichtbare (und natürlich konsumierbare) Gestalt. In Bezug auf die Kinder wird sie folgerichtig als mütterlicher Typ konkretisiert, freundlich herablächelnd, mit einladender Geste. Zur Darstellung kommt also eine freundliche, domestizierte Fremde, wie dies Brigitte Spieß für das Fremde in der Werbung ganz allgemein konstatiert: „Die Medien bemühen sich, die Differenz zum beunruhigend unübersichtlichen fremden Leben so weit abzuschleifen, bis man sich ‚ein Bild‘ von ihm machen kann.“25 Vorgeführt wird in dieser Werbung nicht nur das allegorische, stillgestellte und simplifizierte Bild der Fremde, sondern gewissermaßen auch der Akt der Rezeption, blicken die Kinder auf die Frau doch wie auf ein überdimensioniertes Gemälde. Für die Werbung im Ganzen besonders aufschlussreich sind dabei die Blickverhältnisse, denn die Kinder schauen hinauf zur Frau, während diese geradeaus blickt, die Betrachter des Kataloges direkt anlächelt. Die Kinder fungieren so als visuelle Stellvertreter der Rezipienten im Bild und laden auf diese Weise zur Identifikation ein. Dieses Angebot funktioniert, weil dabei kulturelle Deutungsmuster des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts aufgerufen werden: zuvorderst die vor

23 Kulturspezifisch in dem Sinne, dass es um eine Tradition der Landschaftsdarstellung geht, die in Westeuropa insgesamt verbreitet ist, aber vor allem in der deutschen Romantik eine zentrale Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Tatsache zu sehen, dass die Firma Vögele ein Schweizer Unternehmen mit Sitz in Zürich ist, das entsprechende Katalogangebot von 2002/2003 aber auch in Deutschland und für ein deutsches Publikum gemacht wurde. 24 Vgl. Markiewitz 2013. 25 Spieß 1995: 79.

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allem in Deutschland wirkmächtige Idealisierung von Kindheit, in deren Zentrum das Kind als unschuldiges, noch unverdorbenes Wesen steht, das so lange wie möglich eines besonderen Schutzraumes bedarf. Die potentiellen Kunden werden also einerseits als Erwachsene angesprochen – daher die ungewöhnliche Pose der Kinder – andererseits suggeriert die Werbung, dass sie zumindest temporär, in der Zeit des Urlaubs, wieder wie Kinder sein könnten, unbeschwert und ohne Verpflichtungen26, dass sie also gleichsam Kindheit als poetische Daseinsform27 noch einmal erleben können, wenngleich nur für kurze Zeit und gegen Bezahlung. Daher werden im Sinne Altmayers kulturspezifische Deutungsmuster aufgerufen, die formal ans romantische Rückenbild gekoppelt sind und inhaltlich ein rousseauistisch grundiertes Bild vom Kind in Szene setzen, wie es sich seit der Erfindung der Kindheit (Ariès) vor allem in Deutschland entwickelt hat: „das neue ‚sakrale‘ Kind breitet sich in einer von den Mühen der Arbeits- und Wirtschaftswelt sowie von den Gefahren der Straße abgeschotteten familialen Eigenwelt aus, die primär von Emotionen […] bestimmt ist.“28 Die Reisewerbung suggeriert ein analoges Erlebnis, in einer von der Heimat weit entfernten, exotischen Eigenwelt, die zumeist von den realen Mühen und Zumutungen der Reiseländer – Armut, Kriminalität etc. – durch entsprechend isolierte Ferienressorts und Hotelanlagen abgeschottet ist.

W ER BRAUCHT DENN RECHTSDREHENDE P ASTA ? N ATIONALKULTUR UND G LOBALISIERUNG IN DER N AHRUNGSMITTELWERBUNG Unser drittes Beispiel ist einer umfangreichen neueren Werbekampagne der Firma ALDI entnommen, die auf dem Prinzip Einfachheit und dem entsprechenden Leitbegriff „einfach“ basiert. Das Textelement lautet: „Einfach, weil es keine rechtsdrehende Pasta aus dem Himalaya gibt, sondern Spaghetti.“ Dieser eine Satz ist extrem aufgeladen mit präsupponierten Deutungsmustern und implizitem Wissen, das im Rezeptionsvorgang aktiviert werden muss, um die Werbung zu verstehen. Auf syntaktischer und

26 Vgl. auch Ullrich 1997: 24: „Das romantische Bild des Kindes als eines schon vollkommenen, weil mit sich einigen und noch ursprünglich schöpferischen Menschenwesens, welches die Erwachsenen verjüngen kann, [...]“. 27 Ewers 1989. 28 Ullrich 1997: 18.

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semantischer Ebene wird dabei ein Gegensatz aufgespannt zwischen zwei verschiedenen, normativ grundierten Formen des Lifestyle, die an Identitätsfragen gekoppelt sind. Abbildung 3: Werbung für den Discounter ALDI29

Im Sinne der Frame-Linguistik werden hier zwei gegensätzliche Frames miteinander konfrontiert und implizit auch bewertet, vor allem durch das konnotative und intertextuelle Umfeld ihrer Schlüsselbegriffe. Dabei wird zunächst ein bestimmter Ernährungs- und somit auch Lebensstil mit den Begriffen „rechtsdrehende Pasta aus dem Himalaya“ evoziert. „Rechtsdrehend“ ist ein Begriff, der den meisten KonsumentInnen aus der Joghurtwerbung bekannt sein dürfte, wo für Produkte mit entsprechenden Joghurtkulturen geworben wird. Dabei steht vor allem die gesundheitsförderliche Wirkung dieser Produkte im Vordergrund.30 Der Begriff „Pasta“ wiederum ist hier nur im Gegensatz zu „Spaghetti“ zu verstehen, weil er somit – und nur in diesem Kontext – auf eine gehobene italie-

29 ALDI Imagekampagne „Einfach ist mehr“ 2016. 30 Vgl. Danone Aktivia 2017. Die Firma Danone verwendet den Slogan „gesund leben“. Insbesondere die Activia-Produkte werden explizit an einen bestimmten Lebensstil geknüpft. Die Überschrift lautet: „Meine Stärke kommt von innen. Wenn ich im Einklang mit mir selbst bin, bin ich stark“, die entsprechenden Rubriken „Wellness“, „Leben“, „Essen und Ernährung“.

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nische Esskultur verweist, die im Gegensatz zu den in Deutschland lange bekannten Spaghetti steht, die man eher mit Kinder- oder auch Studentenessen in Verbindung bringt, jedenfalls mit einfacher und unkomplizierter Küche. „Himalaya“ schließlich hat eine stark exotistische Komponente und zwar in kulinarischer wie soziokultureller Hinsicht. Der Begriff erinnert einerseits an teure, exquisite Nahrungs- und Genussmittel aus fernen Weltgegenden, wie sie vor allem im Zuge der Globalisierung in den gehobenen Mittelschichten konsumiert werden, etwa das Himalaya-Salz, das zudem sehr gesundheitsfördernd sein soll. Andererseits evoziert „Himalaya“ auch die daran gekoppelte Vorliebe entsprechender sozialer Milieus für fernöstliche Spiritualität, das starke Interesse an Tibet etc.31 Wenn diese Begriffe nun in der ALDI-Werbung auf ironische Weise rekombiniert werden – es gibt keine rechtsdrehende Pasta aus dem Himalaya – entsteht ein komischer Effekt. Der Ernährungsstil und die daran gekoppelten Lebensstile und Deutungsmuster werden lächerlich gemacht, sie werden als manieriert, abgehoben und auch exotistisch abgewertet. Sie symbolisieren die Künstlichkeit, das Gespreizte und Bemühte des damit verbundenen, vermeintlich gesunden Lebensstils und haben einen entlarvenden Effekt. Darin sind durchaus Parallelen zu künstlerischen Montagetechniken zu sehen, welche seit den historischen Avantgarden dergestalt das etablierte Bürgertum kritisieren. Latent schwingt dabei wohl auch ein Rückgriff auf zivilisatorische Degenerationsdiskurse mit, die seit der europäischen Romantik beständig reaktualisiert werden. Im Namen der Einfachheit wird hier ein gleichsam überzivilisiertes Milieu kritisiert, welches Essen zur sozialen Distinktion funktionalisiert. Von Bedeutung für die daran gekoppelten Vorstellungen von Identität ist, dass der abgewertete Lebensstil mit Exotik, Fremdheit und globalisiertem Warenverkehr in Verbindung gebracht wird. Dem steht ein anderer Identitätsentwurf gegenüber, der das Eigene im Einfachen, Natürlichen und letztlich Vergangenen verortet. Sprachlich symbolisieren die Spaghetti, paradoxerweise ein italienisches Gericht, diesen Entwurf. In Kombination mit dem Leitbegriff der Kampagne „einfach“ – hier polysem gebraucht – verweisen die Spaghetti auf eine Zeit vor den großen Globalisierungsschüben seit den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Spaghetti sind schon lange Bestandteil der deutschen Küche und werden im imaginaire collectif zumindest

31 Eine Google-Suche im Hinblick auf Kollokationen ergibt neben geographischen Informationen folgende Suchergebnisse: „himalaya herbals health and beauty shop“, „Himalaya Ayurveda Massage“, „Antiquitäten“, „Naturmode“ und auch Hinweise auf die Debatte über die gesundheitsfördernde Wirkung von Himalaya-Salz.

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der älteren KonsumentInnen wahrscheinlich mit den bekannten Werbekampagnen für Miracoli assoziiert. Sie stehen somit für eine Zeit, die vermeintlich übersichtlich und einfach war, übrigens auch mit übersichtlichen Familienverhältnissen, ist es doch immer die Mutter, welche in der Miracoli-Kampagne die Kinder zum Essen ruft. Plakativ gesprochen stehen die Spaghetti für die gute alte Zeit ohne nennenswerte Ausdifferenzierung in Lebensstil- und Konsummilieus. Diese konnotative Aufladung wird in ganz erheblichem Maße durch das Foto verstärkt. Zu sehen ist ein kleines Mädchen, das in seinem Kinderstuhl sitzt, vor ihm die verschütteten Spaghetti, auf dem Kopf das Sieb wie ein Hut und über dem Mund eine Nudel, die wie ein Bart aussieht. Das Kind fungiert ganz im rousseauistischen Sinne als natürliches, einfaches Gegenbild zum überzivilisierten Erwachsenenmilieu32 der „rechtsdrehenden Pasta“-KonsumentInnen, weil es sich an einem einfachen Gericht erfreut. Dass es mit den Spaghetti spielt, verweist auf den Topos des unkonventionellen Kindes, das sich über die Regeln der Erwachsenenwelt hinwegsetzt und diese dadurch in ihrer Künstlichkeit bloßstellt.33 Allerdings ist diese Inszenierung durchaus ambivalent. Denn das bereits erörterte Textelement wird graphisch gleichsam in einer Art Sprechblase präsentiert, seine Aussage somit dem Kind zugeordnet. Dass ein Kleinkind allerdings einen solchen Satz äußert, ist eher unwahrscheinlich, viel eher könnte er als eingeblendeter Kommentar der Eltern verstanden werden34, die auf dem Bild allerdings nicht zu sehen sind. Diese Werbung arbeitet also mit ähnlichen Verfahren wie der Reisekatalog. Kinder fungieren gleichsam als Stellvertreter für die unausgesprochenen Wünsche und Sehnsüchte von Erwachsenen. Im Zusammenspiel von Text und Bild verstärkt sich so der Eindruck, dass hier ein soziokultureller Identitätsentwurf

32 Vgl. Ullrich 1997: 28 zum romantischen Bild des Kindes: „Im Kind erscheint dem Menschen auf einer späten Stufe der kulturellen Entwicklung das verlorene Paradies. An der Unschuld des Kindes ermißt [sic!] der bürgerliche Mensch den Grad seiner Entfremdung. Das Kind ist noch mit sich im Einklang und erscheint noch offen für den Anspruch des Ganzen. […] Mit der Verabsolutierung des Kindes wird jede Fortschrittsgeschichte der Zivilisation negiert.“ 33 Interessant ist auch der Umstand, dass das Kind nicht nur mit dem Essen spielt, sondern es auch verschwendet. Die Spaghetti liegen haufenweise auf dem Kinderstuhl, auf dem Tisch und – so dürfen wir annehmen – auch auf dem Boden, sind also ungenießbar gemacht worden. Möglicherweise fungiert die Szene so auch als subversiver Akt gegen politische Korrektheit und die Moralisierung bzw. Politisierung von Ernährung und Ernährungsgewohnheiten. 34 Vgl. Ullrich 1997: 22 zum romantischen Blick auf das Kind in der Pädagogik der Gegenwart: Kinder veranlassen Erwachsene „über ein besseres Leben nachzudenken“, sie repräsentieren „auch ein Stück konkreter Utopie selbst“.

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inszeniert wird, der wesentlich auf einer rousseauistisch grundierten Idealisierung der Vergangenheit beruht: auf einer Zeit, die vermeintlich weniger komplex und „einfacher“ war, visuell verkörpert durch das Kind, sprachlich evoziert durch die Gegenüberstellung von Spaghetti und rechtsdrehender Pasta. Anders gesagt: Die ALDI-Werbekampagne inszeniert Identitätsangebote an eine deutsche Mittelschicht, von der in den letzten Jahren medial viel die Rede war: die angeblich unter einer beschleunigten Globalisierung und unter komplexen Lebensverhältnissen leidet und sich rückwärtsgewandt nach der Einfachheit35 der Bonner Republik sehnt.36 Das Thema „Einfach“ wird allerdings auf verschiedene Weisen und mit verschiedenen Motiven durchgespielt. Bemerkenswert ist eine Werbeeinblendung im Internet, die das Gesicht einer Frau im Spiegel zeigt. Sie bemalt ihre Wange mit einem Lippenstift, nebenan finden wir gleichsam als Sprechblase den Text: „Kinder brauchen nicht viel, um glücklich zu sein. Wieso sollte das bei uns anders sein?“. Diese Werbung kann als intertextueller Kommentar der Werbung mit Kind und Spaghetti verstanden werden. So wie das Mädchen die Nudeln spielerisch zweckentfremdet, macht dies die Frau mit ihrem Lippenstift (der überdies mit dem Blond der Haare und den schwarzen Schatten die deutschen Nationalfarben ergibt). Während das Foto des Kindes uns allerdings den besonderen, sprachlosen Augenblick in Form eines Schnappschusses zeigt, führt uns die Frau im Spiegel einen Moment der Reflexion vor.

A M P FLOCK DES A UGENBLICKS : I DENTITÄTSENTWÜRFE IN DER P RINTWERBUNG Alle drei Fallbeispiele zeigen, dass mit bild- und sprachrhetorischen Mitteln kulturelle Deutungsmuster aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert aktualisiert werden. Auf diese Weise kann man traditionelle Identitäts- und Alteritätskonstruktionen neu beleben. Insbesondere der Rückgriff auf die Ästhetik des einzigartigen

35 Die Logik der Kampagne folgt so der Logik des neoliberalen Diskurses, in dem gesellschaftlich-strukturelle Probleme zu Privatproblemen von Individuen umdefiniert werden und beispielsweise als Lebensstil- oder Konsumphänomene wieder auftauchen. Das erweist sich auch an der Widersprüchlichkeit verschiedener, zeitlich parallellaufender ALDI-Kampagnen. Denn mit den Slogans „Einfach.Ganz.Ich“ und „Für meinen Körper gebe ich alles“ wird für genau jenen Lebensstil geworben, der in der SpaghettiWerbung diskreditiert wird. 36 Vgl. Bude 2014.

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Augenblicks erlaubt es, in komprimierter und symbolisch verdichteter Form präsupponierte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu codieren, die bei der Rezeption aktiviert werden. In allen drei Beispielen kommt visuell ein gewissermaßen sprachloser Augenblick zur Darstellung, der durch die Textelemente gerahmt wird und in dieser Kombination die potentiellen Rezeptionspfade vorgibt. In der Werbung für BILD geschieht dies dezidiert unter Rückgriff auf politische Symbolik – Flaggen, Menschenmasse, Personifikation der Nation – und sprachlich in Form der Volkskörpermetaphorik. Allerdings erscheint das Nationale gerade nicht als politische Größe, sondern im Kontext des (Fußball-)Spiels, wodurch es eine neue, gesellschaftlich breit legitimierte Akzeptanz erhält. Visuell werden dabei ästhetisch und religiös grundierte Motive der verstummenden Begeisterung, ja, der Verzückung inszeniert, sprachlich wird die Metapher des Volkskörpers durch den Herzschlag reaktualisiert. In der Reisewerbung stehen kulturelle Aspekte im Vordergrund: einerseits mentalitätsgeschichtlich im Hinblick auf die Repräsentation von Kindheit, andererseits kultur- bzw. kunstgeschichtlich, wenn die Rückenbilder der deutschen Romantik zitiert werden. Insbesondere die gemeinsame kontemplative Kunstbetrachtung, die eine so prominente Rolle in der Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums einnimmt, wird visuell aufgerufen, während die Textelemente den Warencharakter der dargestellten Situation betonen, nämlich als Angebot eine Reise zu buchen. Die Werbekampagne für ALDI schließlich fußt in erster Linie auf soziokulturellen Alltagspraxen (Essen/Einkaufen) im Rahmen gesellschaftlicher Distinktionsstrategien. Auch hier kommt ein Kind zur Darstellung, allerdings in ganz anderer Weise als in der Reisewerbung. Genutzt wird eher eine sehr zeitgemäße Ästhetik des Augenblicks, die dem Schnappschuss eine prominente Rolle zuweist, so wie er – insbesondere mit Kinder- und Tiermotiven – in den neuen sozialen Medien vielfach veröffentlich wird, um das eigene Alltagsleben zu dokumentieren. Sprachlich gerahmt ist dieses Foto durch einen Kommentar, der das Kind als Repräsentant eines Lebens- und vor allem Konsumstils definiert, der auf Einfachheit beruht und einem anderen Stil gegenübersteht, der dadurch als überkomplex abgewertet wird. Auf einer grundsätzlicheren Ebene geht es dabei auch um soziokulturelle Identitätsentwürfe im Spannungsfeld von Nationalem und Globalisierung. In allen Beispielen rekurriert Werbung auf die Ästhetik des einzigartigen Augenblicks, wie sie für die Literatur- und Kunstgeschichte insbesondere der Moderne typisch ist.37 Dies wird im ersten Fall durch die besondere Situation des

37 Vgl. Markewitz 2013.

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Festes und des Spiels realisiert, einem dem Alltag enthobenen Moment; in den beiden anderen Fällen durch das Augenblickswesen Kind. Sie lassen auf diese Weise Rückschlüsse auf tiefgreifende Wahrnehmungsmuster nationaler Identität zu: „Die (Leit-)Bilder des Kindes sind Bestandteil der Mentalität, d.h. des Ensembles der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für eine Kultur prägend ist.“38 Dabei spielt es keine Rolle, ob die Kinder tatsächlich als Kinder dargestellt werden oder eher als verkindlichte Erwachsene, in beiden Fällen werden sie in einer Situation des besonderen Augenblicks gezeigt und verweisen so – als inszenierte Figuren – auf das imaginaire collectif, mit dem die Ästhetik der vorgestellten Werbung spielt.

L ITERATUR Altmayer, Claus (2004): Kultur als Hypertext. Zu Theorie und Praxis der Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium. Asserate, Asfa-Wossen (2012): Draußen nur Kännchen. Meine deutschen Fundstücke. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Baringhorst, Sigrid (1995): „Kampagnen gegen Ausländerhaß und Gewalt. Zur sozialen Konstruktion von Solidarität im Medienzeitalter“, in: Siegfried J. Schmidt/Brigitte Spieß (Hg.), Werbung, Medien und Kultur, Opladen: Westdeutscher Verlag, 65-78. Bartels, Maike (2015): Kampagnen. Zur sprachlichen Konstruktion von Gesellschaftsbildern. Berlin: de Gruyter. Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: HIS. Diekmannshenke, Hajo/Klemm, Michael/Stöckl, Hartmut (Hg.) (2011): Bildlinguistik. Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Berlin: Erich Schmidt. Ewers, Hans-Heino (1989): Kindheit als poetische Daseinsform. Herder, Jean Paul, Novalis, Tieck. München: Wilhelm Fink. „Fanmeilen-Party: Nass, aber glücklich“ (2014), in bz-berlin.de, http://www.bzberlin.de/berlin/fanmeilen-party-nass-aber-gluecklich, zuletzt abgerufen am 20.09.2017. Gelfert, Hans-Dieter (2005): Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind. München: C.H. Beck. Grabbe, Katharina (2014): Deutschland - Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990. Berlin/Boston: Walter de Gruyter.

38 Ullrich 1999: 10.

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Eine kreative Wunde Werbung mit den Medienikonen des 11. September R UTH K NEPEL

M EDIENIKONEN Als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York flogen und diese zum Einsturz brachten, war schnell klar, dass die Anschläge auf eines der prominentesten und symbolträchtigsten Wahrzeichen der Metropole auch eine Zäsur in der visuellen Kultur nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern auch im Rest der Welt darstellen sollte.1 Es gibt einige Bilder, die am 11. September entstanden, die besondere Bekanntheit erlangt haben und die mittlerweile als Medienikonen bezeichnet werden. Diese Bilder zeigen z.B. die Flugzeuge und das Stadtpanorama unmittelbar vor den Einschlägen, die brennenden Zwillingstürme und das besonders eindringliche Motiv der aus den Türmen springenden bzw. fallenden Menschen. Künstlerische Aufarbeitungen der Terroranschläge des 11. September sind mehr als 15 Jahre später zwar seltener geworden, nichtsdestotrotz sind die Ereignisse in New York in Romanen, TV-Serien und Filmen immer noch sehr präsent. Erstaunlicherweise findet man visuelle Bezüge zu den Anschlägen auf das World Trade Center nicht nur in Texten, die von den Ereignissen selbst erzählen. Die Bilder des Terrors werden vielmehr in den unterschiedlichsten kulturellen Outputs als visuelle Strategien konzeptualisiert, auch wenn es in der jeweiligen Geschichte gar nicht um die Anschläge geht. Gestalter, die solche Bilder einsetzen, rufen aber bewusst den historischen Hintergrund auf. Sie erzeugen eine Umlenkung der

1

Zur Einordung der Anschläge als Zäsur siehe u.a. Poppe, Sandra und Sascha Seiler (2009): 9/11 als kulturelle Zäsur: Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld: transcript.

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Blickrichtung auf eine Geschichte hinter der Geschichte, die mitgelesen werden soll. Die Orchestrierung des Terrors an 9/112 und die Dramaturgie der Bezeugung und Wiedergabe in den Medien haben die Ereignisse zu einem Bilderkanon des Desasters hinzugefügt, der so einprägsame Fotografien beinhaltet wie die der Havarie des Luftschiffs Hindenburg über Lakehurst im Jahr 1937, die Abbildung des Mädchens Kim Phúc im Vietnamkrieg 1972 oder das Bild des so genannten „Tank Man“ auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989.3 Damit diese Bilder überhaupt zu Ikonen werden können, bedarf es Gerhard Paul zufolge geradezu der Werbung, ist sie doch Teil der Alltagskultur: Erst die diachrone, d.h. die zeitlich nachfolgende Nutzung und Re-Inszenierung in Kunst und Kultur [...], die Verbreitung in der Konsum- und Alltagskultur [...] sowie vor allem die massenhafte und kontinuierliche Aneignung des Bildes durch die Rezipienten und seine Nutzung im alltäglichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben als Gebrauchsgegenstand, Protestsymbol, Anschauungsobjekt in Ausstellungen und Museen entscheiden darüber, ob Bilder überhaupt zu Ikonen werden und wie intensiv sie Zugang zum individuellen wie zum kollektiven 4 Gedächtnis finden.

In diesem Beitrag möchte ich einige Beispiele besprechen, die sich der Ikonen des 11. Septembers bedienen, um sie einer werberischen Funktion zuzuführen. Ausgehend von einer Beobachtung von Bestrebungen, die ich mit der Überschrift memorial marketing versehen würde, zeichne ich den Weg nach, den die Bilder von 9/11 z.B. als Illustrationen auf Buchdeckeln oder in der Bewerbung von Fernsehserien genommen haben. Schließlich zeige ich, wie dieselben Bilder für so verschiedenartige Produkte wie Bier und Matratzen zu werben vermögen – oder eben nicht. Die Bilder des 11. September werden in dieser Zusammenschau zu einem verbindenden Element zwischen Kunst bzw. Literatur und der „degraded landscape of schlock and kitsch, of TV series and Reader’s Digest culture, of advertising and motels“5 wie Fredric Jameson die Auswüchse der kommerziellen Kultur nennt.

2 3 4 5

Die amerikanische Schreibweise des Datums hat sich, wie ich später in diesem Aufsatz erläutere, zu einer regelrechten Wort-Bild-Marke entwickelt. Gerhard Paul befasst sich unter dem Schlagwort der visual history mit diesen Medienikonen. Vgl. Paul 2011. Paul 2011: 10. Jameson 1991: 2.

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FÜR UND MIT

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E RINNERUNG

Die Geschichte der 9/11-Werbung beginnt vielleicht mit der Agentur BBDO, die im Auftrag des New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani im Jahr 2001 unter dem Namen “The New York Miracle”6 eine Weihnachtskampagne mit prominenten New Yorker Bürgern gestaltete. In sechs verschiedenen Werbefilmen sind die Schauspieler in „typischen“ New York-Situationen zu sehen, wobei keiner der Spots direkt auf den 11. September Bezug nimmt. In einem der Filmchen, die die Tourismusbranche nach 9/11 wieder ankurbeln sollte, bestellt eine Kundin in einem Sandwich-Laden einen „Ben Stiller mit Bacon“, woraufhin die Schauspieler Ben Stiller und Kevin Bacon an ihren Tisch kommen. Ein anderer Spot zeigt Billy Chrystal in einem TruthahnKostüm und Robert De Niro in einem Siedler-Kostüm auf einer Bank im Central Park sitzend, wo sie über die Vor- und Nachteile der Teilnahme an der Thanksgiving-Parade diskutieren. Woody Allen brilliert auf dem Ice-Skating-Rink vor dem Plaza Hotel, Henry Kissinger legt einen Home-run im leeren Yankee Stadium hin und so weiter. Der Slogan zu den Filmen lautet jeweils: „Everyone has a New York dream. Come find yours.“ In einer Rezension kritisiert der Kolumnist Rob Walker, das einzig Gute an der Kampagne sei: „[...] there is something admirable—maybe even moving—about so many big-name, big-ego personalities getting involved in a campaign that, as much as anything else, makes the case for New York as a truly (miraculously) one-of-a-kind place.“7 In der Tat scheint die humoristische Kampagne knapp drei Monate nach den Anschlägen darauf ausgelegt, die Stimmung der New Yorker Bürger wiederzubeleben – und auch das Weihnachtsgeschäft.8 BBDO ist auch die verantwortliche Agentur für zwei Fernsehspots unter dem Slogan „History remembered“, die die Eröffnung des 9/11 Memorial Museum im Mai 2014 ankündigten.9 Ein Spot mit dem Namen „The Watch“ zeigt in Nahaufnahmen die zerschmolzene Uhr von Todd Beamer, einem der Passagiere, die – wenn die Erzählung stimmt – gegen die Flugzeugentführer von Flug United 93 revoltierten und das Flugzeug, das angeblich ins Weiße Haus gelenkt werden sollte, über Pennsylvania zum Absturz brachten. Der Film ist aus ästhetischer Sicht bemerkenswert, da er nicht nur über die Erzählstimme aus dem Off an den

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„The New York Miracle“ Kampagne. Walker 2001. Vgl. Vagnoni 2001. „History remembered“ Kampagne.

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11. September gemahnt10, sondern auch visuelle Verweise zieht. Die goldene Uhr verfügt über ein Ziffernblatt mit einer geriffelten Oberfläche, die so aufgenommen ist, dass sie an die Architektur des WTC erinnert. Eine weitere Einstellung zeigt die serifenlosen Ziffern der Elf, die, zwei Türmen gleich, im Rahmen der Datumsanzeige stehen. Der andere Spot namens „Astronaut“ zeigt den Blick auf das brennende World Trade Center von der Internationalen Raumstation aus, hinterlegt von dem Live-Audiokommentar des Astronauten Frank L. Culbertson Jr., der sein Beileid ausspricht und den New Yorkern versichert „that their city still looks very beautiful from space.“ Die Bilder werden unterstützt von einem Text, der eingeblendet wie folgt lautet: „The events of 9/11 were witnessed by an estimated 2 billion people on earth. And someone who wasn’t.“11 Ergänzt werden die Fernsehspots um einen etwa 2-minütigen Kurzfilm für die virale Verbreitung im Internet. Auch dieser Film spielt mit einer ungewöhnlichen Perspektive, indem er die Ereignisse aus der Sicht des so genannten Survivor Tree erzählt, einem Birnbaum, der bei den Aufräumarbeiten nach den Anschlägen on den Trümmern gefunden und später wieder eingepflanzt wurde und der heute als Mahnmal für den Überlebenswillen der New Yorker am Eingang des Memorial Museum steht.12 Am Ende eines jeden dieser Spots steht das Logo des 9/11 Memorial, wobei die Ziffer 9 und der Schrägstrich sowie das Wort “memorial“ schwarz auf weißem Hintergrund stehen, während die Zahl Elf des serifenlosen Fonts in Hellblau nicht nur die Form der Türme symbolisiert, sondern auch den blauen Himmel zum Zeitpunkt der Anschläge in New York. Zum 13. Jahrestag der Anschläge im September 2014 gestaltete BBDO schließlich zwei Filme, die abstrakte Re-Animierungen der Twin Towers zeigen.13 Wie schon das Logo des Memorial spielen auch diese beiden Filme mit den grafischen Besonderheiten der Architektur der Türme. Weiße Linien auf blauem Hintergrund fahren ins Bild und nehmen die charakteristische Form der Bögen am Eingang der Türme an, die eher einer gotischen Kirche als einem Wolkenkratzer

10 Der Sprecher gibt die Geschichte Beamers und der anderen Passagiere kurz wieder und verweist auf den Symbolgehalt der Uhr: „though it no longer tells time, [it] now speaks volumes about courage.“ Ebd., https://de.adforum.com/agency/4945/creative-work/ 34497475/the-watch / 9-11-memorial-museum. 11 Ebd., https://de.adforum.com/agency/4945/creative-work/34497476/astronaut/9-11memorial-museum. 12 Ebd., https://de.adforum.com/agency/4945/creative-work/34502192/survivor-tree/911-memorial-museum. 13 „Day to remember“ Kampagne.

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zugehörig scheinen. In einer weiteren Bewegung werden aus den Linien die Umrisse der Türme, so angeordnet, dass es den Zuschauer in die Froschperspektive eines am Fuße der Türme nach oben Schauenden versetzt. Die grafischen Elemente werden begleitet von Worten in einer schlichten weißen Schrift, die sich um die geometrischen Formen herum anordnet und die gleichzeitig von dem Schauspieler Robert De Niro gesprochen werden. Das Fazit dieser Filme lautet: „Take a day to remember the day that changed us forever.” und mündet in einer farblich gespiegelten Darstellung des bereits bekannten Memorial-Logos (diesmal sind die Ziffern der Elf in weiß auf blauem Grund). Betrachtet man die Gestaltung der oben erwähnten Kampagnen, dann kann man eine Entwicklung erkennen: von einer Verweigerung der Abbildung der Ereignisse hin zu einer sehr konkreten Darstellung, wenn auch, wie in den Fällen von Todd Beamers Uhr und dem Film aus der Raumstation aus ungewöhnlichen Perspektiven betrachtet, bis zu einer abstrakten, eher Design-orientierten Darstellung. Im Folgenden werde ich anhand von Beispielen aus Kulturprodukten der letzten 15 Jahre zeigen, dass sich die Ikonologie des 11. Septembers im Besonderen auch auf den Einbänden von Büchern als Marketinginstrument entwickelt hat.

9/11 ALS V ERKAUFSSTRATEGIE K ULTURPRODUKTE

FÜR

L ITERATUR -

UND

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Romanen, die sich explizit mit dem Thema 11. September beschäftigen. Bei der Umschlaggestaltung wird dabei häufig auf die 9/11-Ikonen zurückgegriffen. Ein frühes Beispiel für einen Roman der Kategorie „post-9/11“14, Windows on the World des französischen Autors Frédéric Beigbeder15 aus dem Jahr 2003, ist aufgrund seines Voyeurismus höchst umstritten. Die Geschichte handelt von einem texanischen Immobilienmakler, der mit seinen beiden kleinen Söhnen einen Ausflug zum Frühstück ins Restaurant „Windows on the World“ im 107. Stock-

14 Über die Definition des Genres 9/11 novel und die Merkmale dieser zweifelhaften Gattung schreibt Richard Gray (2011): After the Fall. American Literature Since 9/11, Chichester: Wiley-Blackwell. 15 Beigbeder 2003. Es ist davon auszugehen, dass Beigbeder sich seiner Präsenz auch aus werberischer Sicht bewusst ist, arbeitete er doch lange als Texter für die Agentur Young and Rubicam.

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werk des World Trade Center-Nordturms unternimmt. Beigbeder zeichnet in symbolischen 120 Kapiteln die Gedanken des Vaters kurz vor dem ersten Einschlag eines Flugzeuges in den Nordturm um 8.30 Uhr bis eine Minute nach dem Einsturz des Nordturms um 10:29 Uhr nach. Den Titel der französischen Originalausgabe des Romans, erschienen im Verlag Grasset, ziert ein Foto eines blauen Himmels. über den sich der Kondensstreifen eines Flugzeuges zieht.16 Der deutsche Verlag Ullstein verwendete für die deutsche Übersetzung 2004 ebenfalls ein Bild der dünnen Wolken vor blauem Himmel. Die 2005 erschienene Ausgabe des Verlags Gallimard setzt auch auf das Motiv des Kondensstreifens, allerdings auf eine grafische Darstellung desselben, weiß auf hellblauem Grund. Die 2005 erschienene Paperback-Ausgabe der englischen Übersetzung verwendet hingegen ein deutlich reißerischeres Motiv. Auf dem Umschlag des Buches ist eine Originalfotografie des 11. September abgedruckt: Man sieht, aus der Perspektive des unbeteiligten Zuschauers am Boden aufgenommen, den brennenden Nordturm, und davor ein Flugzeug mit Kurs auf den Südturm (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Windows on the World17 Abbildung 2: Falling Man18

16 Eine Zusammenstellung der unterschiedlichen Titelbilder findet sich unter https:// www.librarything.com/. 17 Beigbeder 2005. 18 DeLillo 2005.

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Ein anderes Beispiel für einen Roman, der sich direkt mit den Ereignissen des 11. September beschäftigt ist Don De Lillos Falling Man von 2007. Wie viele Texte post-9/11 verhandelt der Roman die Geschichte einer persönlichen Krise vor dem Hintergrund der geschichtlichen Krise. Die Gestaltung des Buchtitels ähnelt der von Beigbeders Roman. Viele der Ausgaben zeigen in unterschiedlichen Bildausschnitten Wolken vor einem blauen Himmel19. Auf der britischen Ausgabe des Verlags Picador ist ein fahrender Zug vor einem Wohnblock abgebildet. Durch die Anordnung – das Bild ist um 90° gedreht – entsteht der Eindruck es handele sich um ein Hochhaus, dessen Fassade jemand im Fallen fotografiert (Abbildung 2). Abbildung 3:Falling Man20

Abbildung 4: Saturday21

Auf der Covergestaltung des israelischen Künstlers Noma Bar für den selben Roman erscheinen die Türme des World Trade Center als Zahl „11“ (Abbildung 3). Die Spitzen der Zahlen zeigen den oft zitierten klaren blauen Himmel, der den Anschlag als „out of the blue“, also als völlig unerwartet, charakterisiert. Unten

19 https://www.librarything.com/work/3019892/covers. 20 DeLillo 2011. Im Jahr 2011 wurde Bar mit der Gestaltung einer Neuauflage des kompletten im Verlag Picador erschienenen Werk DeLillos beauftragt. 21 McEwan 2005.

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rechts im Bild ist der Umriss eines Fallenden zu erkennen, der buchstäbliche und sprichwörtliche „falling man“, von dem der Roman erzählt. Ein Beispiel für Romane mit einer gewissen zeitlichen oder räumlichen Distanz zu den Ereignissen ist Ian McEwans gefeierter Roman Saturday, der einen Tag im Leben des Gehirnchirurgen Henry Perowne nachzeichnet. Dieser tritt – von einem merkwürdigen Gefühl geweckt – mitten in der Nacht ans Fenster und glaubt zu sehen, wie ein Flugzeug in den Londoner Funkturm fliegt. Eine Abbildung dieses Ausblicks sehen wir auch auf dem Umschlag des Buches (Abbildung 4). In McEwans Roman erweist sich das Bild des vermeintlichen Anschlags als Illusion; das Flugzeug, eine Transportmaschine, die lediglich ein brennendes Triebwerk hat, fliegt hinter dem Turm vorbei und legt ansonsten unbeschädigt eine Notlandung hin. Das Erlebnis ist für Perowne der Einstieg in eine Auseinandersetzung mit seiner Einstellung zu Terrorismus, dem beginnenden Krieg und dem allgemeinen Weltgeschehen. Der namensgebende Samstag ist nämlich der 15. Februar 2003, der Tag, an dem weltweit Demonstrationen gegen den beginnenden Irakkrieg stattfanden. Die Umschlaggestaltung der Erstausgabe rekurriert auf den Inhalt der Einstiegshandlung, diese wiederum dient aber nur dazu, die Erzählung im Kontext des 11. September anzusiedeln. David Llewllyns Roman Eleven22 aus dem Jahr 2008 spielt zwar am 11. September, allerdings mit einer deutlichen räumlichen Entfernung zu den Anschlägen: Die Geschichte handelt, ausschließlich in Emails erzählt, von einem frustrierten Angestellten, der in einem Bürogebäude einer Londoner Versicherung sitzt und von den Ereignissen im fernen New York in Mitteilungen der Kollegen erfährt, jedoch nicht auf deren Nachrichten reagiert. Der Buchumschlag zeigt eine Darstellung zweier Türme, die, besonders im Zusammenspiel mit dem Titel des Romans, die Zahl Elf symbolisieren. Dass die Art und Weise wie diese Romane auf ihren Buchumschlägen auf sich und ihre Geschichten hinweisen auch auf andere Geschichten übertragbar ist, die überhaupt keine inhaltliche Verbindung zum 11. September und seine Narrative haben, mithin also wirklich als bloße Werbestrategien gesehen werden müssen, zeigt sich in den folgenden Beispielen.

22 Llewellyn 2006.

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Abbildung 5: The Fear Index Buchumschläge23

Robert Harris Roman The Fear Index aus dem Jahr 2011 handelt von einem Hedgefonds Manager, der einen Algorithmus, den so genannten „Fear Index“, also Angstindex, entwickelt, welcher Marktprognosen aus dem Internet (z.B. durch Terrorwarnungen) gewinnt und so schlechte Nachrichten antizipiert. Der Algorithmus profitiert von diesen schlechten Nachrichten, weil er auf das Eintreten von schrecklichen Ereignissen wettet, ein klassischer Finanzkrisen-Roman. Der 11. September wird bewusst nicht im Roman erwähnt, jedoch wird durch die Gestaltung des Umschlags klar, wo die Bedrohung durch den Terror ihren Anfang nahm. Auf dem Umschlag ist eine Figur zu sehen, die im Fallen begriffen ist. Dass diese Bild-Strategie kein Zufall ist, wird offensichtlich, wenn man sich andere Ausgaben oder Übersetzungen des Romans ansieht (Abbildung 5). Der „falling man“ wird zum key visual.

23 Harris 2011: The Fear Index. London: Hutchinson, — Frygtens Indeks. Kopenhagen: Lindhardt og Ringhof, — Angst. München: Heyne, — Indeks Strachu. Warschau: Albatros, — Pelkokerroin. Helsinki: Otava, — L’indice de la Peur. Paris: Pocket.

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Auch die erfolgreiche AMC-Fernsehserie Mad Men24 greift eine Version des „falling man“ auf. Als im Juli 2007 die erste Folge über die Bildschirme flimmerte, wurde gleich in den opening credits die Figur des Don Draper, gespielt von Jon Hamm, im Fallen gezeigt. Eine Scherenschnittversion des Protagonisten fällt in diesem Vorspann von einem Hochhaus; in den Glaspaneelen spiegeln sich Anzeigen für diverse Konsumgüter wie Parfum, Strumpfhosen und Schmuck. Anstatt eines Aufpralls erfolgt am Ende des Clips die sanfte Landung in einem Clubsessel, eine Zigarette lässig in der Hand. Dieser Paratext des Vorspanns ermöglicht es, die Serie, die im New York der 1950er und 60er spielt, als eine Allegorie von Kommunikation und Konsum der heutigen Zeit zu lesen, eine Zeit, in der ein fallender Mann unwiederbringlich an den 11. September und die Opfer des Terrors erinnert. Die Macher von Mad Men wurden nicht besonders für diese Bildwahl kritisiert, bis ein Vorankündigungs-Plakat zur fünften Staffel der Serie eine kleine Kontroverse auslöste, weil man – anders als im bewegten Bild des Vorspanns – in dem für das Plakat gewählten Ausschnitt Ähnlichkeiten zu einem besonders bekannten Bild des 11. September entdeckte: der Zufalls-Fotografie eines fallenden Mannes, die der associated press Fotograf Richard Drew aufnahm und die unter dem schlichten Namen „The Falling Man“25 weltweit bekannt wurde. Tatsächlich, so schreibt Tom Junod, seien die opening credits der Serie vom ersten Moment an von den amerikanischen Zuschauern als Anspielung auf den 11. September verstanden worden und haben die Rezipienten gemahnt, dass es in der Serie um „the age of American decline“26 gehe. Junod erinnert daran, dass die mediale Auseinandersetzung mit den Ereignissen schon unmittelbar nach den Anschlägen nicht nur eine Aufarbeitung des Traumas, sondern auch eine Ausbeutung des Themas und der Opfer der Anschläge war: [...] when a television network is accused of exploiting a sacred 9/11 image for its own purposes, [...] it's worth reminding ourselves that the guardians of American culture have been exploiting sacred 9/11 images since at least 9/12, [...]27

Der Vorspann zu einer Serie oder der Umschlag eines Buches sind vielleicht die einfachste Art, für das jeweilige Produkt zu werben. So wie in Mad Men werden

24 25 26 27

Mad Men 2007. Drew: 2001. Junod: 2012. Ebd.

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manche Bilder des 11. September direkt oder indirekt als Werbestrategie für Romane und Serien instrumentalisiert. Im Folgenden möchte ich mich offensichtlicheren Werbemaßnahmen widmen.

D ER 11. S EPTEMBER

ALS

K ASSENSCHLAGER

Auch abseits von Kulturprodukten wird mit den Bildern des 11. September geworben. Die Firma Budweiser erregte mit einem Spot im Jahr 2002 große Aufmerksamkeit. In diesem Clip spielen acht edle Clydesdale-Hengste, die häufig in Aktionen und Spots der Brauerei eingesetzt werden, eine zentrale Rolle.28 Von getragener Musik begleitet startet das prächtige Pferdegespann an einem kalten Morgen von einem Hof auf dem Land und kommt, vorbei an zunehmend urbaneren Gegenden, schließlich majestätisch in die Stadt New York geritten. Über die Brooklyn Bridge erreicht das Gespann Manhattan und hält vor der durch den 11. September veränderten Skyline inne. Ein Schwenk der Kamera geht in Richtung Freiheitsstatue, dann knicken die edlen Pferde den rechten vorderen Huf nach hinten, senken die Köpfe und verneigen sich geschlossen vor dem Stadtpanorama in Richtung des Ground Zero. In diesem Werbespot werden nur scheinbar keine der üblichen Bilder zum 11. September abgerufen. Vielmehr treffen zwei verschiedene ikonische Bildwelten aufeinander. Die Werbefilme der Budweiser Brauerei spielen häufig in entlegenen Gegenden der USA, wo das Leben vermeintlich noch in Ordnung ist, die Luft klar, Männer noch echte Kerle etc. Diese Attribute werden bestens vermittelt durch die Clydesdale-Hengste, die fest im Kanon der nordamerikanischen Sehgewohnheiten verankert sind. In dem Super Bowl memorial spot treffen die heile Welt des ländlichen Amerika auf die vom Terror gezeichnete Stadt, symbolisiert durch die die landmarks Brooklyn Bridge und Statue of Liberty – und durch das neue „Wahrzeichen“ der Stadt: das Fehlen der Türme des WTC. Interessant an diesem Spot ist also, was man nicht sieht. So verzichtet der Werbefilm auch auf jeden Kommentar und lässt die Bilder für sich sprechen. Der Spot wurde 2002 nur ein einziges Mal zum Super Bowl ausgestrahlt. Im Jahr 2011 holte Budweiser den Clip aus der Mottenkiste, retuschierte Frühlingswetter hinein und versah ihn mit dem claim “We’ll never forget”, gefolgt vom Logo der Brauerei, einem jovialen Hinweis, verantwortungsvoll zu trinken und einem Spendenaufruf für das 9/11 Memorial.

28 Budweiser Super Bowl Spot „Clydesdale Respect“.

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Regisseur Spike Lee drehte 2011 einen Werbespot für den Versicherer State Farm.29 In diesem Film fährt eine Gruppe Schulkinder mit dem Bus aus der Vorstadt – erneut Besuch aus der Provinz, der über die ikonische Brooklyn Bridge die Stadt erreicht – nach New York City, um für die Feuerwehrmänner von vier verschiedenen New York Fire Departments das Lied „Empire State of Mind“, im Original interpretiert von Alicia Keys, zu singen. Nachdem die gerührten Männer die Kinder in den Arm genommen und sich bedankt haben, werden Bilder des neuen World Trade Center One im Entstehen und die gigantischen Brunnen des 9/11 Memorial eingeblendet. Der Film endet mit den Worten „Never Forgotten – Forever Grateful – State Farm“. Auch dieser Spot arbeitet mit der Darstellung typischer New York-Situationen, von denen es eine ganze Reihe im Sortiment der kollektiven Sehgewohnheiten gibt. In diesem Fall sehen wir die Staten Island Ferry, das Yankee Stadium, das Empire State Building, die U-Bahn und erneut die Freiheitsstatue. Die nicht-linear hintereinandergeschnitten Bilder des Spots zeigen die Reise der Kinder, deren Ankunft vor den mit Erinnerungsbildern verzierten Rolltoren der Feuerwachen, wie diese sich langsam öffnen und die Gesichter der Feuerwehrmänner erscheinen, und wie diese dann mit feuchten Augen der Darbietung der Kinder lauschen. So entsteht eine Erzählung von Heldentum und Dankbarkeit für dieses Heldentum, das auch schon Thema im Spot der Budweiser Brauerei ist. In dem Zusammenschnitt der verschiedenen New Yorker Schauplätze mit den neuen Ikonen, dem Memorial und dem World Trade Center One wird eine Neuinterpretation von New York als Sehnsuchts- und Erinnerungsort angeregt, die Geschichte der Stadt umgeschrieben, um die Ereignisse am 11. September für das Narrativ der Stadt zu vereinnahmen. Trotz aller Schlichtheit dieser gefühligen Darstellungen kommen laut Ace Metrix, einer Agentur, die die Effizienz von Werbung in den USA misst, solche Spots beim amerikanischen Publikum sehr gut an. Budweisers memorial campaign schlug gar alle anderen Spots der Branche und zählt zu den erfolgreichsten Werbefilmen, die in der Saison 2002 gezeigt wurden.30 Eine Kampagne, die hingegen besonders hintergründig mit den Kopf-Bildern und Assoziationen der Zuschauer spielt, ist die Werbeoffensive für die Red Bull Cliff Diving World Series in Boston im Jahr 2012. Das Anzeigen-Triptychon, das unter anderem in der Boston Metro angeschlagen war, besteht aus drei Postern. Von links nach rechts betrachtet sieht man auf dem ersten Bild eine Aufeinanderfolge von Springern, die zusammengenommen den Fall oder Sprung eines

29 State Farm „Never Forgotten“. 30 Vgl. Wheaton 2011.

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Mannes darstellen. Auf dem zweiten Bild ist die Skyline einer Großstadt abgebildet; auf der linken Bildseite ein Flugobjekt, von dem nicht klar ist, ob es sich um einen Springer, einen Vogel oder ein kleines Flugzeug handelt. Das dritte Bild schließlich zeigt einen Mann in einer kunstvollen Sprungbewegung, über seinem Kopf kreuzt ein Flugzeug am Himmel. Die bewusst ungenauen Slogans „Twist“ bzw. „Blind Entry“ (die nur Experten als Namen für verschiedene Arten von Sprüngen bekannt sein dürften) lassen viel Spielraum für Interpretationen; in der Kombination der Bilder werden aber unzweifelhaft Erinnerungen an den 11. September geweckt. Auch diese Kampagne verzichtet auf jede weitere Erklärung und lebt geradezu von den Auslassungen, die den Rezipienten dazu veranlassen, seine persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen einfließen zu lassen, um die Lücken zu füllen. Ist die Motivation für die Gestaltung dieser Werbemaßnahmen noch relativ nachvollziehbar, so gibt es indessen Beispiele, die eine unglaubliche Aneinanderreihung von schlechtem Geschmack und problematischen Entscheidungen der beteiligten Kreativdirektoren darstellen. Auf der Branchenplattform iMediaConnection.com stellt David Zaleski seine Kollektion der „10 most disrespectful 9/11 ads“31 vor. Es zeigt sich, dass die Ikonologie des 11. September besonders für Non-Profit-Organisationen reizvoll erscheint, um Aufmerksamkeit auf den guten Zweck zu lenken. Zaleski zeigt unter anderem die Kampagne der Action on Smoking and Health (kurz ASH). Die rauchenden Türme des Word Trade Center sind hier durch zwei glimmende Zigaretten vor einem blauen Hintergrund ersetzt. Es ist eine beliebte Marketingstrategie, Dinge miteinander zu vergleichen, Sachverhalte einzuordnen und in Relation zueinander zu setzen. Und in diesem Fall werden auf der Anzeige, die ansonsten ohne eine Headline oder Texte zurechtkommt, die „Terrorism-related deaths since 2001: 11.337“ mit den ca. 30 Millionen Toten infolge von Tabakkonsum verglichen. Ein weiteres Beispiel für diese Strategie zeigt die französische Hilfs-Organisation Solidarités International. Auch hier wird eine ziemlich perfide Gleichung aufgestellt und mit kleinen Modellen visualisiert – der Untergang der Titanic addiert mit den Anschlägen auf das World Trade Center * 2000 = ein Glas Wasser –, um darauf aufmerksam zu machen, wie viele Menschen auf der Welt jährlich an verschmutztem Trinkwasser sterben.

31 Vgl. Zaleski 2014. Alle der im Folgenden beschriebenen Anzeigen und Werbemaßnahmen sind auf https://www.imediaconnection.com/articles/ported-articles/red-dot-articles/2014/sep/the-10-most-disrespectful-911-ads/ zu finden.

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Auch eine Anzeige des WWF versucht, den 11. September in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang einzuordnen. Das Bild zeigt Manhattan von der Atlantik-Küste aus mit einem Weitwinkel fotografiert. In Richtung der Insel und der Twin Towers fliegen Hunderte von Flugzeugen und drohen, die Stadt zu treffen. Im oberen rechten Rand der Anzeige steht, neben dem bekannten PandaLogo, die Bilderklärung: „The tsunami killed 100 times more people than 9/11. The planet is brutally powerful.“ Hier werden die Anschläge auf New York bewusst mit einer Naturkatastrophe gleichgesetzt, um zu zeigen, wie viel schwerer letztere in die Leben von Millionen Menschen eingegriffen hat (Abbildung 6 ). Abbildung 6 : WWF Anzeige „Tsunami“32

Eine andere Branche, die sich der Bilder des 11. September bedient, ist eine, die vermutlich nicht wenig von den Ereignissen profitiert hat. So gibt es mehrere Beispiele, in denen Medienunternehmen die Anschläge als Hintergrund für ihre Anzeigen verwenden. Die Zeitung Moscow News zeigt eine Anzeige, die – wie das Bild der Anti-Zigaretten-Kampagne – die Türme verfremdet, indem sie sie aus einem anderen Material darstellt, in diesem Fall aus zu Türmen gefaltetem und zerknülltem Zeitungspapier (letzteres symbolisiert die Wolke aus Asche und

32 World Wildlife Fund „Tsunami“.

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Feuer am oberen Ende der Türme). Der holprige Slogan „Things hard to explain is a language you understand“ lenkt nur ungenügend von der eher geschmacklosen Darstellung ab. Auch die spanische Zeitung El País zeigt ein Bild, auf dem einer der Türme bereits brennt, das zweite Flugzeug nimmt gerade Kurs auf den Nordturm (der in der Realität zuerst getroffen wurde). Die Einflugstelle ist nicht korrekt dargestellt und das erste Gebäude brennt auch an der falschen Stelle. Zudem ist die Hälfte der Stadt nicht New York, sondern zeigt die charakteristische Skyline San Franciscos. Die Botschaft ist entsprechend simpel: Leser der El País sind so gut informiert, dass Ihnen solche Fehler sofort auffallen. Courrier International, eine wöchentlich erscheinende französische Zeitschrift, setzt unter dem Slogan „learn to anticipate“ ebenfalls auf die Strategie der Bildmanipulation. Hier sind die Türme des World Trade Center kürzer gebaut, die beiden Flugzeuge fliegen einfach darüber hinweg. All diesen Anzeigen ist gemein, dass sie mit den Medienikonen arbeiten, die der 11. September hervorgebracht hat. Es ist dabei bemerkenswert, dass die als positiv bewerteten Kampagnen, diese Ikonen nicht direkt abbilden, sondern eher das Fehlen derselben. Man kann vermuten, dass diese abstraktere Art der Werbung als geschmackvoller empfunden und emotional eher angenommen wird. Hier ist sicher auch relevant, dass die populären memorial campaigns keine offensichtliche Werbebotschaft verbreiten, sondern sich auf den Erfolg der Imagewirkung verlassen. Besonders Werbung, die auf den ersten Blick nicht wie Werbung wirkt, wird intensiver wahrgenommen – und die erwünschte Werbebotschaft dementsprechend eher im Gedächtnis behalten. Ist über die Reaktion auf die zuvor geschilderten „disrespectful ads“ wenig bekannt, so gibt es doch im Zusammenhang mit 9/11-Werbung mittlerweile auch einige Skandälchen. Die Kommunikationsabteilung des Telekommunikationsriesen AT&T postete anlässlich des 12. Jahrestags der Anschläge auf der Social Media-Plattform Twitter ein Bild, das zeigt, wie mit einem Smartphone eine Erinnerungsaktion – die Umrisse der Türme am Nachthimmel von New York, dargestellt mittels gigantischer Leuchtstrahler – fotografiert wird. Trotz des Slogans „Never Forget“ wurde diese Werbung nicht als memorial campaign gewertet, sondern wegen des besonders dreisten product placement gescholten. Der Tweet entfachte ein wahres Feuerwerk an Kritik, die Zuschauer empfanden die Werbung mit der Erinnerung als höchst anstößig. Die Firma entfernte noch am selben Tag das Bild und entschuldigte sich schleunigst. Dieses Beispiel zeigt, dass auch große Firmen mit entsprechend großen Marketing-Budgets schon mal gehörig danebengreifen, indem sie die Sensibilitäten ihrer Zielgruppe falsch einschätzen.

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Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Geschmacklosigkeit im Jahr 2016, als zum 15. Jahrestag der Anschläge ein Matratzendiscounter auf die Idee kam, anlässlich der Gedenkveranstaltungen einen „Twin Tower Sale“ zu bewerben.33 In einem laienhaft produzierten Werbefilm steht die Geschäftsführerin von Miracle Mattress aus San Antonio, Texas, an beiden Seiten flankiert von einem Mitarbeiter, vor zwei großen Stapeln Matratzen. Als sie die Offerte „any size mattress for a twin price, all day long“ ausspricht, rudert sie in einer Geste der Begeisterung mit den Armen so weit zurück, dass die beiden Männer das Gleichgewicht verlieren und in die hinter ihnen liegenden Matratzenstapel fallen, die daraufhin einstürzen. Die Matratzenverkäuferin imitiert kurz das Entsetzen der Menschen, die die Einstürze der World Trade Center Türme beobachteten, nur um sich kurz darauf mit einem einfältigen Lächeln direkt an die Zuschauer zu wenden und – wie in einer Art disclaimer – zu verlautbaren: „We will never forget.“ Diese Art von Werbung wird auch 15 Jahre nach den Anschlägen noch mit einem veritablen shit storm quittiert, wie lokale Medien berichteten.34

I KONEN

UND

K EY V ISUALS

Warum ist gerade ein einschneidendes Ereignis wie der 11. September so beliebt, wenn es darum geht, zu werben, also positive Emotionen zu erzeugen? Betrachtet man das Ganze aus werberischer Perspektive gibt es eine naheliegende Antwort. Die Bilder, die am 11. September entstanden sind, enthalten eine Reihe unglaublich starker key visuals. Die alte Maxime „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“ funktioniert hier so gut, weil die Bilder des 11. September sich so im kollektiven Gedächtnis eingebrannt haben, dass leichte Abänderungen oder Hervorhebungen von den Rezipienten sofort erkannt werden. Durch die Verpflichtung von Hollywood-Größen vor und hinter der Kamera, Anleihen der Werbung an literarische Erzeugnisse und andersherum Werbemaßnahmen, derer sich Schriftsteller bedienen, findet zunehmend eine Verschmelzung von Alltagskultur und Kunst statt. Der Journalist Thomas Flynn sah am 11. September die Anschläge von seiner Wohnung aus und schwang sich sofort aufs

33 Richmond 2016. CNN berichtet im selben Atemzug noch von einer weiteren missglückten Point of Sale-Werbung, die die Ikonologie der Türme aufgreift. Hier wurden zum Entsetzen der Kunden in einer Filiale des Einzelhändlers Walmart die Türme aus Cola-Dosen nachgebaut. 34 Weber 2016.

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Rad. Als die Türme in sich zusammenstürzten wurde er mit einer Gruppe Flüchtender in einer Tiefgarage verschüttet und konnte sich später retten. Sein Erlebnis veranlasste ihn dazu, ein episches Gedicht zu verfassen, inspiriert von Dantes Inferno. Im Jahr 2014 wurde dieses Werk für die Bühne adaptiert, als Bikeman. A 9/11 Play. Was an dieser Adaption hervorsticht, ist die Werbekampagne, die dafür gestartet wurde. Werbeflyer und -plakate sind, insbesondere in Farbgestaltung und Schriftbild, ganz bewusst an die Gestaltung des Erscheinungsbildes des 9/11 Memorial angelegt. Die Flyer wurden dementsprechend auch am Memorial selbst an Touristen verteilt und boten – typisch amerikanisch – eine Buy One, Get One Free-Option für den Besuch des Theaterstücks. Anhand dieses Beispiels kann man erkennen, wie eine Grenze durchbrochen wird, zwischen den tatsächlichen Ereignissen am 11. September und dem Narrativ, das sich im Nachgang der Anschläge entwickelt hat. Und man lernt, dass für die Bewerbung eines Erinnerungsortes auch Crossmedia Selling-Strategien eingesetzt werden können. Am Beispiel der Bikeman/Memorial-Kooperation zeigt sich zudem ein weiteres Mal die geschickte Inszenierung des Datums 9/11 als Wort-Bild-Marke.35 Die Ähnlichkeit der Zahl „11“ und der Zwillingstürme des WTC werden in vielen Darstellungen genutzt, um das Datum zu visualisieren. Auch die Wahl der Farben Schwarz, Weiß und Hellblau bzw. himmelblau erklärt sich aus den zahllosen Bildern, die von den Ereignissen gemacht wurden. Die Tatsache, dass an einem solch schönen Morgen, gänzlich „out of the blue“, ein solch entsetzliches Verbrechen passieren sollte, erschien vielen Kommentatoren als absolut unverständlich. Zusammenfassend kann man sagen, dass ein visueller oder intertextueller Verweis auf die Ereignisse des 11. September 2001 auf Buchdeckeln, in Werbespots oder Anzeigen selten einen Imageschaden anrichtet, sondern vielmehr ein hohes Aufmerksamkeitspotential verspricht. Es gibt aber Ausnahmen, wenn es um die Vermarktung bestimmter Produkte geht, wenn Manipulationen oder Re-Interpretationen der tatsächlichen Geschehnisse Inhalt der Anzeigen oder Poster sind, oder wenn in irgendeiner Weise despektierlich von den Anschlägen und deren Opfern gesprochen wird. An den hier beschriebenen Werbemaßnahmen und den Reaktionen darauf zeigt sich, dass die Wunde von 9/11 noch lange nicht geschlossen ist. Dass das so bleibt, dafür sorgen auch Werbeanzeigen und TV-Spots, die die Bildwelt des 11. September sichtbar halten.

35 Zur Erklärung des Begriffs Wort-Bild-Marke siehe https://www.dpma.de/ marke/markenschutz/index.html.

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Autorinnen und Autoren

Martina Allen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für England- und Amerikastudien der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie promovierte zum Thema Gattungsexperimente in zeitgenössischer Literatur. Zurzeit arbeitet sie an einer Monographie zu soziopolitischen Aspekten verschiedener Drogen- und Abhängigkeitsdiskurse. Forschungsschwerpunkte: Gattungstheorie, Literatur der Postmoderne, viktorianische Kultur und Literatur, Narrative der Abhängigkeit und des Rauschs. Sebastian Baden ist akademischer Mitarbeiter im Fachbereich Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung (HfG) Karlsruhe. Er promovierte über Das Image des Terrorismus im Kunstsystem. Außerdem arbeitet er als freier Mitarbeiter der Zeitschriften ARTMAPP, artline und Neue Kunstwissenschaftliche Forschungen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: die Geschichte der modernen Kunstausstellung im Zusammenhang mit dem Kunstmarkt (Art Market Studies), politische Ikonologie und Kunstkritik. Frederike Felcht ist Juniorprofessorin für Skandinavistik an der Goethe-Universität Frankfurt. Zuvor war sie Research Fellow an der LMU München, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere skandinavische Literaturen an der Universität Greifswald. Sie erforscht aktuell die Darstellung von Hunger in der skandinavischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Elisabeth Hollerweger promovierte 2004 in Freiburg mit einer Dissertation zu Dieter Wellershoffs Der Liebeswunsch und ist derzeit als Lektorin im Bereich Literaturdidaktik an der Universität Bremen tätig, wo sie das Bremer Institut für

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Bilderbuchforschung leitet. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört u.a. das literarische Lernen durch transmediale Narrative von Kindheit, Nachhaltigkeit, Tier-Mensch-Beziehungen und Gender. Ruth Knepel studierte Germanistik, Anglistik und Wirtschaftswissenschaften in Darmstadt und Mainz. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für England- und Amerikastudien der Goethe Universität Frankfurt und arbeitet an einer Dissertation zum Thema Mythen und Ikonen des 11. September 2001. Forschungsschwerpunkte Strukturalismus und Mythologie, Narratologie in TVSerien und Philosophie in der Populärkultur. Außerdem ist sie freiberuflich in Werbeagenturen als Texterin tätig. Ricarda Menn hat an der Goethe Universität Frankfurt am Main English Studies (B.A.), American Studies (M.A.) und Anglophone Literatures, Cultures and Media (M.A.) studiert. Seit 2017 promoviert sie zu serieller Autofiktion, gefördert durch ein Promotionsstipendium der Stiftung der deutschen Wirtschaft. Reinhard M. Möller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sein Magisterstudium schloss er 2009 an der Freien Universität Berlin ab. 2015 promovierte er an der Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Ästhetik des 18.-21. Jahrhunderts im kulturwissenschaftlichen Kontext, Serendipität und Literatur, Reiseliteratur, Poetik des Anekdotischen. Beatrice Nickel ist Privatdozentin am Institut für Romanische Literaturen der Universität Stuttgart. Arbeitsschwerpunkte: die europäische Literatur der Frühen Neuzeit und des 20. Jahrhunderts, Intermedialität, Rezeption, Interkulturalität, Globalität der Literatur, poetische Imaginationen von Kulturlandschaften. Veröffentlichungen (Auswahl): Tendenzen der Globalisierung der literarischen Kommunikation im Europa der Frühen Neuzeit: Diskurstypen, Gattungen und Motive (Göttingen 2014), Habilitation Texte inmitten der Künste – Intermedialität in romanischen, englischen und deutschen Gedichten nach 1945 (Köln/Weimar/Wien 2015). Markus Raith ist Akademischer Oberrat am Institut für Romanistik der Pädagogischen Hochschule Freiburg i.Br. mit den Arbeitsschwerpunkten Sprachdidaktik und Medienkulturdidaktik. Er promovierte zum Thema Theater in europäischen

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Romanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Derzeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zur Didaktik multimodaler Texte (insbesondere Schrift-BildKombinationen) im Kontexte medienästhetischen Lernens. Claudia Sassen studierte an der Universität Bielefeld Englisch und Biologie auf Lehramt und promovierte dort in Computerlinguistik über die Kommunikation bei Flugzeugabstürzen. Derzeit ist sie Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Technischen Universität Dortmund am Institut für deutsche Sprache und Literatur. Forschungsschwerpunkt: Komik, Serie und Werbung. Aktuelle Monographie: Larry Semon – Daredevil Comedian of the Silent Screen. A Biography and Filmography, Jefferson: McFarland, 2015. Maren Scheurer studierte in Frankfurt und York (UK). Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und am Institut für England- und Amerikastudien der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2016 verteidigte sie ihre Dissertation mit dem Titel Gesprächs-Kunst: Die therapeutische Beziehung als ästhetische und poetologische Reflexionsfigur in Literatur, Theater und Fernsehen. Forschungsschwerpunkte: Literatur und andere Medien vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Wechselwirkungen zwischen den Künsten und den Wissenschaften, Psychoanalyse und Therapiedarstellungen, Ästhetik und Poetik des Spätrealismus. Dominik Schrey studierte Germanistik (mit Schwerpunkt Film und Medien) an der Universität Karlsruhe bzw. dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT), wo er derzeit lehrt und forscht. 2011 war er Visiting Fellow an der Harvard University. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Theorie und Geschichte der Medien, Visuelle Kultur, Sound Studies, Intertextualität und Intermedialität. Im Juni 2017erschien seine Dissertation mit dem Titel Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur beim Kulturverlag Kadmos Berlin. Natalie Veith schloss ihr Magisterstudium der Anglistik und Germanistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Cardiff University im November 2013 mit einer Arbeit zu Distorted Voices – Counter-Narratives in the Works of Alan Moore ab. Aktuell arbeitet sie an ihrem Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel Victorian Types and the Visual Politics of Neo-Victorian Comics. Forschungsinteressen: Comicforschung und Neo-Viktorianismus, Visual Culture Studies, Diskursanalyse und Gender Studies sowie Viktorianismus und Postmoderne.

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)

Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)

Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-1709-2

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6

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