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German Pages 332 [336] Year 2004
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Conrad Wiedemann
Band 173
Jörg Wesche
Literarische Diversität Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
D7 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-18173-7
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Einführung
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Literarische Diversität
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ι Grundriss des Diversitätskonzepts 1.1 >Gebändigte Vielfalt< poetischer Wälder bei Martin Opitz . 1.2 >Simplicissimus< als Chimäre hybrider Vielfalt und die >Variations-Kunst des Baldanders< 1.3 Zwischenergebnisse
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2 Grundlegung zur Kategorie des poetischen Spielraums 2.1 Forschungsstand 2. ι. ι Spielräume in der Germanistik (vorwissenschaftlicher Sprachgebrauch, erzähltext- und mythenorientierte Ansätze, Spielräume in der Barockforschung) . . . . 2.1.2 Spielräume in der Logik 2.2 Zur historischen Begrifflichkeit (imitatio, ingenium, aptum, licentia poetica) 2.2.1 Spielräume als poetische Lizenzen? 2.2.2 Bernhard Walter Marpergers >De Licentia Poetica» . . 2.3 Spielarten als poetische Abweichungen in Grenzen: Integrationsmodell auf der Basis der Abweichungspoetik Harald Frickes 2.3.1 Stellungnahme zur Fachkontroverse 2.3.2 Entwurf des Integrationsmodells poetischer Spielräume 2.4 Semantische Ubergänge zwischen poetischen Spielräumen und literarischem Spiel II
Gattungsinterne Diversität ι Spielräume des Epigramms und Sonetts ι. ι Methoden der Spielraumanalyse 1.2 Poetische Spielräume in den Dimensionen des Textes: Ausdehnungs-, Relations- und Strukturaspekt
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ι.2.ι
Gegenstandsspielräume als Gattungskennzeichen: zur Variabilität des Epigramms 1.2.2 Spielräume der perspektivischen Festlegung durch Epigrammtitel 1.3 Die Gattung als >Spiel-RaumBreslauer Anleitung* 2.3.1 Historisches Erkenntnisinteresse und Faszination chorischer Vielfalt: Julius Caesar Scaligers >Poetices libri septem< (1561) 2.3.2 Frühe deutsche Normierungsversuche: Georg Philipp Harsdörffers >Poetischer Trichter* (1647-1653) 2.3.3 Persistenz der Normierungslücke: Birkens >Redebind-und Dicht-Kunst< (1679) 2.3.4 Aufkündigung historischer Detailverbindlichkeit im Dienst der Spielraumerweiterung für die aktuelle Dramenpraxis: Albrecht Christian Rotths Vollständige Deutsche Poesie* (1688)
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2.3-5 Der Chor klingt aus: Magnus Daniel Omeis' Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dichtkunst< (1704) und >Breslauer Anleitung< (1725) 2.4 Kulturkonkurrenz als Spielraummotiv: Feldbesetzung durch Festigung muttersprachlicher Kulturmuster 3 Das Handwerk des Poetikschreibens: zur Machart barocker Dichtungslehren (Regel- und Exempelspielräume) 3.1 Poetik der »Dichtgesezgebung«: der restriktive Regelmodus bei Opitz und den >Opitzianern< 3.1.1 Modi der doctrina und Exempelspielräume 3.2 Literarische Diversifizierung und die Folgen für die Poetik 3.2.1 Didaktisierung der Poetik 3.2.2 Diversität im Gattungssystem: »Bändigungsstrategien« und Diversitätsbewusstsein 3.2.3 Vom restriktiven zum potentialen Regelmodus (Dunckelberg, Uhse, Opitz, Buchner) 3.2.4 Formen der Gattungs- und Exempelorientierung zwischen Wagenseil und Gottsched 4 Inhaltliche Folgen literarischer Diversifizierung 4.1 Aufwertung des ingenium (Thomasius, Johann Ernst Weise) 4.2 Poetologische Präsenz des >SpielDer Höllische Proteus< (1690) von Erasmus Francisci.2 Drastisch zeigt das Bild die besondere Vielgestaltigkeit des Proteus als Chimäre. Hinter der Hybridität der mythologisch-heidnischen Figur verbergen sich Geschichten, in denen der Teufel - »wandelbarer als Proteus< - u.a. als >verführerisches Irrlichts >OhnekopfWerwolf< oder auch »gelehrter Teufel· umgeht. Franciscis »Erzehlung der vielfältigen Bild-Verwechslungen Erscheinender Gespenster/ Werffender und poltrender Geister« - so wird es der curiösen Sensationsgier im Titel versprochen - überformt die antike Proteus-Gestalt zur christlichen Teufelsallegorie.3 Dabei erscheint der höllische Proteus im barocken Welttheater als, so weiter im Titel, »Tausenkünstige[r] Versteller« und betrügerischer »Schauspieler«. Dieses auf die »vielfältigen Bild-VerwechslungenBarockAntitheseAntithesepoetische Abweichung< und >Lizenz< ein. In der zweiten Teilstudie stehen die Spielräume der Poesie im Zentrum. Hier wird das entwickelte Diversitäts- bzw. Spielraumkonzept an Beispielen aus der poetischen Praxis erprobt und weiter differenziert. Grundsätzlich bleiben diese Analysen Fallstudien. Der exemplarische Charakter dieser Fallstudien zeichnet sich zunächst in gattungstypologischer Hinsicht ab. So werden die Konzepte im Wesentlichen auf im historischen Sinne poetische, also versifizierte Texte angewendet.23 Den Schwerpunkt bilden dabei die Gedichtgattungen (erst in der dritten Teilstudie werden poetische Spielräume des barocken Versdramas - insbesondere der Rey en im schlesischen Trauerspiel - in die Analyse einbezogen). Im Feld der poetischen Kleinformen sind bei der unübersehbaren Fülle der Texte weitere gattungsbezogene Einschränkungen notwendig. Daher wird sich der zweite Untersuchungsteil auf die Gattungen Sonett und Epigramm konzentrieren.24 Wo es möglich und sinnvoll ist, wird ausblicksweise auch auf andere Kleinformen eingegangen.2' Die Zuspitzung der Untersuchung auf die humanistisch geprägten, >poetischen< Textmuster der Barockzeit ist wesentlich darin begründet, dass insbesondere an diesen poetologisch und rhetorisch geprägten Formen das historisch wechselseitig bestehende Wirkungsgefüge von Ordnungen, Abweichungen, Spielräumen und >Gegen-Ordnungen< verdeutlicht werden kann. Darüber hinaus haben die Analysen auch hinsichtlich des Quellenumfangs als Fallstudien zu gelten. Schon die gegebene Fülle von Sonet22
Jaumann, Artikel >BarockFaustArminiusschwülstig< bezeichnet wird. In einem zweiten Sinne w i r d sie auch als gleichsam verhinderte Vielfalt beklagt - so w e n n Kritiker darauf abzielen, dass es der immer wieder als schematisch w a h r g e n o m m e nen Sonettdichtung der Barockzeit an Variabilität mangele. Solche allgemeinen Ü b e r l e g u n g e n zu ganz unterschiedlichen literarischen A s p e k t e n ließen sich leicht fortsetzen. D o c h vermutlich erschiene der Betrachtungsgegenstand literarische Vielfalt« bald zunehmend unscharf. Verstärkt w ä re nur der E i n d r u c k , dass Vielfalt in ihrer Wandelbarkeit dem antiken Meergott und Verwandlungskünstler Proteus tatsächlich ähnlich sieht: Wie dieser versteht sie es, ihren Verfolgern in immer neuer Gestalt zu entschlüpfen. U n d dennoch rückt diese Untersuchung die Vielfältigkeit literarischer Texte in den Mittelpunkt. A l s grundsätzliche methodische Schwierigkeit muss sie also bewälti-
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Vgl. zu diesem auch in der Forschung viel beachteten Diversitätsaspekt Ciupke, »Das Geklimper vielverworrner Töne Rausch« (1994). Zu Verschlüsselungsstrategien bei Grimmelshausen vgl. besonders Gersch, Geheimpoetik (1973).
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gen, dass sich gerade die Vielfältigkeit literarischer Gegenstände dem literaturwissenschaftlichen Bemühen um Systematisierung oder Typologisierung bzw. Formen der wissenschaftlichen Komplexitätsreduktion entgegenstellt.3 Erschwerend kommt hinzu, dass die Literaturwissenschaften gegenwärtig keine Methode zur Analyse literarischer Vielfalt bereithalten. Symptomatisch ist im wissenschaftlichen Diskurs stattdessen ein gemeinsprachlicher bzw. vorwissenschaftlicher Gebrauch der Begriffe >Vielfalt< oder >DiversitätScherer-Schule< (Erich Schmidt u.a.) und die »Junggrammatiken erhoben. Ihr positivistischer Wissenschaftlichkeitsanspruch orientierte sich an den naturwissenschaftlichen Disziplinen (Psychologie, Biologie, Physiologie), die sich um die Jahrhundertwende neu formierten. 9 Die darwinistisch geprägte »naturalistische Literaturtheorie< des 19. Jahrhunderts verfolgte dabei vor allem auf formaler Ebene die Suche nach Gesetzen der Kunst, die dem Status von Naturgesetzen vergleichbar sein sollten. 10 Doch grenzten sich geistesgeschichtliche Strömungen, die auf diese Versuche reagierten, schließlich dezi-
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Die Anfänge der Biodiversitätsforschung reichen bis in die sechziger Jahre zurück. Spätestens in den achtziger Jahren wird Diversitätsforschung zu einem der führenden Forschungszweige der Biologie (vgl. Hobohm, Biodiversität [2000], S. 4). Darüber hinaus entwickelte sich >Biodiversität< seit einer Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (1992) zu einem »Kultbegriff« der Alltagskommunikation, der auch von Politikern, Umweltschützern oder den Medien für ihre Zwecke genutzt wird; verbreitet sind in diesem Feld populäre Formeln wie »Vielfalt ist Lebensqualität« (Bick, Grundzüge der Ökologie ['1998], S. 3 iof.). Der methodische Seitenblick orientiert sich vor allem an den verständlich geschriebenen Einführungen von Solbrig, Biodiversität (1994) und Hobohm, Biodiversität (2000).
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Wenngleich man gerade in der neueren Ökologie und Systematik an der Gültigkeit von Naturgesetzen zweifelt und prominente Vertreter dieser Teildisziplinen ein dezidiert historisches Fachverständnis artikulieren (vgl. Mayr, Das ist Biologie [1998]). Vgl. hierzu die Uberblicksdarstellung von Rosenberg, Das Modell der Naturwissenschaften (1981). Dazu Burdorf, Poetik der Form (2001), S. 351-367.
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diert gegenüber naturwissenschaftlichen Anleihen ab. 11 In der neueren Wissenschaftsgeschichte bewertet man diese emphatische Gegenbewegung allerdings zunehmend kritisch. 12 So nimmt die neuere Kulturtheorie naturwissenschaftliche Denkweisen trotz der viel diskutierten Kluft zwischen den >zwei Kulturen^ 3 und ihrem wechselseitig geführten >KampfGebändigte Vielfalt« poetischer Wälder bei Martin Opitz Einen geeigneten Ausgangspunkt für die historische Präzisierung literarischer Diversität liefert einer der bekanntesten theoretischen Texte der Barockzeit: Martin Opitz' Poetik >Buch von der Deutschen Poeterey< (1624). Opitz behandelt die Vielfalt poetischer Formen und Sujets in seiner Poetik zwar nicht als ei-
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Erinnert sei an die wertsetzende >Südwestdeutsche Schule< um Heinrich Rickert (s. besonders Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [1896-1902] sowie Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft f 7 i926]). 12 Zu der sich verfestigenden Unterscheidung zwischen Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaft zwischen 1890 und 1914 bemerkt etwa Dainat, Von der Neueren Deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft (1994), S. 510: »Die Konsequenzen dieser Unterscheidung [...] sind kaum zu unterschätzen, weil schon bald der Hinweis auf naturwissenschaftliche Anleihen genügt, um eine literaturwissenschaftliche Arbeit zu diskreditieren. Auch hier wird Scherer zu Unrecht zur negativen Projektionsfigur für das Fach.« 13 Im Sinne Snows, Die zwei Kulturen (1967). 14 Vgl. etwa Sokal/Bricmont, Eleganter Unsinn (2001). ' ' Vgl. im Feld der Evolutionstheorie besonders Fleischer, Kulturtheorie (2001) sowie die auch in Deutschland zunehmend rezipierten Biopoetics US-amerikanischer Provenienz, die auf die Etablierung einer >third culture« abzielen (s. dazu Eibl, Lusttexte und ihre Interpretation [2002]).
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genen Teilkomplex, doch fällt die Gattungsbestimmung der aus dem antiken Formenschatz übernommenen poetischen Wälder (silvae) diesbezüglich ins Auge. Denn sie enthält einen selbständigen Zusatz, der auf das Problemfeld literarischer Diversität verweist. Dies wird deutlich, wenn man die Grundaspekte seiner Gattungsbestimmung skizziert. Opitz umreißt die >Wälder< als eigenständiges Genus im Bereich des die Lyrik einschließenden genus mixtum und stellt sie neben Epos, Tragödie, Komödie, Satire, Epigramm, Ekloge, Echo, Hymnus und Ode.' 6 Als positive Gattungsbestimmung setzt er: Sylven oder wälder sind nicht allein nur solche carmina/ die auß geschwinder anregung vnnd hitze ohne arbeit von der hand weg gemacht werden/ von denen Quintilianus im dritten Capitel des zehenden buches saget: Diuersum est huic eorum vitium, quiprimhm discurrere per materiam stylo quam velocissimo volunt, & sequentes calorum atque impetum ex tempore scribunt: Hoc syluam vocant; vnd wie an den schönen syluis die Statius geschrieben zue sehen ist/ welche er in der Epistel für dem ersten buche nennet libellos qui subito calore & quadam festinandivoluptate ipsifluxerant: sondern/ wie ihr name selber anzeiget/ der vom gleichniß eines Waldes/ in dem vieler art vnd Sorten Bäwme zue finden sindt/ genommen/ sie begreiffen auch allerley geistliche vnnd weltliche getichte/ als da sind Hochzeit- vnd Geburtlieder/ Glückwündtschungen nach außgestandener kranckheit/ item auff reisen/ oder auff die zuerückkunft von denselben/ vnd dergleichen. 17
Diese Bestimmung entspricht dem in humanistischen Poetiken und Gedichtsammlungen üblichen Verfahren, »die >kleinen Gattungen der Casuallyrik unter dem Titel Silvae zu subsumieren«; zugleich spiegelt sie Opitz' »distanzierte Haltung zu der florierenden Gelegenheitsdichtung seiner Zeit wider«.18 Dabei wird ein deutlicher »Trennungsstrich« gezogen zwischen »den ungebildeten und drauflos schreibenden Verseschmieden einerseits und den gelehrten Poeten andererseits, die sich durch Teilhabe am göttlichen furor poeticus aus der ' 6 Die eigentümliche >doppelte< Behandlung der genera im fünften bzw. siebten Kapitel bei Opitz erklärt sich aus dem über Scaliger vermittelten dialektischen Aufbau der Poetik. Vgl. Trappen, Dialektischer und klassischer Gattungsbegriff bei Opitz (2002), S. 96: »Opitz operiert mit dialektischen Techniken und jenen beiden Diaphora, deren Eignung die Poetik Scaligers bewiesen hatte. Das Diaphoron res piazierte er wie Scaliger bei der dispositio (nämlich im fünften Kapitel), versus hingegen bei der elocutio (und damit im siebten Kapitel). Beide Befremdlichkeiten der Poetik von Opitz, die Behandlung literarischer >Gruppen< an verschiedenen Stellen sowie die Bezeichnung beider >Gruppen< als »genera«, finden ihre gemeinsame Erklärung in den Lehren der Dialektik.« 17
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Opitz, Poeterey, S. 30. Vgl. zum gesamten Komplex Adam, Poetische und kritische Wälder (1988), S. 128, der die Silvendichtung und ihre Theorie von Statius bis Herder umfassend erschließt. Adam, Poetische und kritische Wälder (1988), S. 128. Salmen, Lustgärten (2000), S.4I2Í. weist darauf hin, dass silvae im 17. Jahrhundert (zum Beispiel bei Rognoni oder Monteverdi) auch musikalische Werke bezeichnen kann, dann jedoch nicht im Sinne eines eigenständigen genus verwendet wird.
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Gruppe der übrigen Menschen herausheben« (ebd., S. 129). Im Rückgriff auf Quintilian und Statius als Autoritäten folgt Opitz der Skepsis gegenüber der Schnellschreibpraxis des gewöhnlichen >Reimenschneiders< oder >PritschmeistersBegeisterung< (»Sylven [...]/ die auß geschwinder anregung vnnd hitze ohne arbeit von der hand weg gemacht werden«). Diese Begeisterung wird im 17. Jahrhundert für die Vorstellung vom idealen Poeten insofern zentral, als dieser - wie später etwa Friedrich von Logau pointiert herausstellt - Poesie als »Töchter freyer Eile« in poetischen »Nacht-Gedanken« verfasst.' 9 Damit bewegt sich Opitz im ersten Abschnitt seiner Gattungsdefinition fraglos »innerhalb der konventionellen Argumentationsmuster«. 20 Auffällig ist nun, dass »er sich im zweiten Teil seiner Silvendefinition von den durch antike Autoritäten gesicherten Positionen« entfernt (ebd.). Denn neu ist bei Opitz die explizite »Gleichsetzung des arten- und sortenreichen natürlichen Waldes mit den vielfältigen und unterschiedlichen Genera der Casuallyrik« (ebd.; vgl. bei Opitz das »gleichniß« Wald, »in dem vieler art und sorten Bäwme zue finden sindt«). Dieser eigenständige Zusatz öffnet nun ein weites Feld an Deutungsmöglichkeiten, die sich mit der Waldmetapher verbinden lassen und im Verlauf der Silvendichtung des 17. Jahrhunderts von Paul Fleming bis Christian G r y phius unterschiedlich genutzt werden. Nicht zuletzt führt er zum Komplex der literarischen Diversität. Denn die Waldmetaphorik birgt die Möglichkeit, gerade die Vielfältigkeit poetischer Formen und Sujets auf einfachem Wege zu einer bildlichen Einheit - der des Waldes - zusammenzufassen. Genau diese Möglichkeit sieht offenbar auch Opitz, wenn er explizit darauf verweist, dass poetische Wälder - so »wie ihr name selber« anzeige, »vieler art vnd Sorten Bäwme« einschließen.21 Die poetische Vielfalt heterogener poetischer Kleinformen fügt sich in der Vorstellung des Waldes mithin zu einem Gesamtbild. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass die gewissermaßen naturwüchsige Vielfältigkeit poetischer Wälder bestimmten Ordnungsvorstellungen unterliegt. Sie stellen keinesfalls ein »chaotisches Sammelsurium von Texten« dar, sondern verfolgen ganz im Sinne des barocken >OrdoNebenwerck< dient daneben der Legitimaron des Dichtens neben dem eigentlichen >Amt< des Hofbeamtens (vgl. zum »Nebenstundentopos« bei Logau den kritischen Uberblick von Palme, »Bücher haben auch jhr Glücke« (1998), S. 36-46; Palme erarbeitet in diesem Kontext u.a. die programmatischen Ähnlichkeiten zwischen der Opitzschen Silven-Konzeption und der Epigrammatik Logaus. 20 21
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A d a m , Poetische und kritische Wälder (1988), S. 128. Opitz, Poeterey, S.30.
len«.22 »Chaos, tumultus oder Rebellion als Abweichung« werden bewusst aus der Vorstellung des Waldes ausgeklammert (ebd.). Auch differente poetische Elemente sind in der Silven-Metaphorik also fest in einem übergreifenden Ordnungssystem verankert. 23 Entscheidend ist daher, dass die Vielfältigkeit poetischer Formen und Sujets bei Opitz im Bild des Waldes als ordnungskonforme, gleichsam gebändigte Vielfalt gedacht wird. In Anlehnung an die Opitzsche Silvendefinition lässt sich schließlich diese Form von Vielfalt als ein erstes Grundmodell literarischer Diversität bestimmen.24 Der selbständige Zusatz in der Gattungsbestimmung zeigt an, dass die über Statius und Quintilian traditional gebundene Sí'/uew-Konzeption bei Opitz den Aspekt der literarischen Vielfältigkeit als innovatives Moment einschließt. Die Tragweite dieser Neuakzentuierung erweist sich nicht nur in der von Wolfgang Adam aufgearbeiteten Rezeption zahlreicher Poeten der Barockzeit, die das Ordnungsschema der poetischen Wälder produktiv übernehmen und es zu einer »bevorzugte[n] Publikationsform barocker Lyrik« machen, 2 ' sondern bereits bei Opitz selbst. Denn dass der Gedanke des poetischen Waldes als einheitsstiftendes, übergreifendes Ordnungsprinzip poetischer Kleinformen in der Vorstellung des Reformers zentral ist, bestätigt bereits die deutliche Aufwertung der Silven gegenüber dem neulateinischen Poesieverständnis. So steht die »Wertschätzung« bei Opitz einer deutlichen »Geringschätzung« oder »Abwertung« der silvae in der Poetik Scaligere gegenüber (ebd., S. i3of.). Diese besondere Wertschätzung erweist sich insofern auch in der Opitzschen Dich-
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A d a m , Poetische und kritische Wälder (1988), S. 136. Wenn die Frage nach dem Verhältnis von literarischen Ordnungen und A b w e i c h u n gen in unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Forschungskontexten zunehmend gestellt wird, verdeutlicht dieses Beispiel, in welchem G r a d e die Analyse von >AbweichungenSpielräumen< oder >Gegen-Ordnungen< an die gleichzeitige Betrachtung poetischer >NormenRegelsysteme< oder >Ordnungen< gebunden ist. >Ordnung< und >Abweichung< sind relationale Begriffe; Ordnungs- und A b w e i chungsphänomene sind daher grundsätzlich im Zusammenhang zu untersuchen. Entsprechend verfolgen eine relationale Betrachtungsweise auch die Abweichungspoetik Frickes als Analyse des Wechselspiels von >Norm< und >Abweichung< (vgl. in der aktuellen Reformulierung >Gesetz und Freiheit< [2000]), die poetikgeschichtliche U n tersuchung Härters zum Verhältnis von >Ordnung< und >Digression< (Digressionen [2000]) oder in der neueren Forschung zur Literatur der Moderne die Beiträge bei Denneler als Gegensatz zwischen literarischer >Formel< und dem U n v e r w e c h s e l b a rem (Die Formel und das Unverwechselbare [1999]). A u f diese Ansätze wird unten näher eingegangen.
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Diese Vorstellung ist dem aus dem der Antike hergeleiteten Konzept ästhetischer Mannigfaltigkeit durchaus vergleichbar. Zentrale Bedeutung erlangt das K o n z e p t der Schönheit als Einheit in der Mannigfaltigkeit in Deutschland freilich erst in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts (vgl. Strube, Artikel >Mannigfaltigkeit, ästhetisches in: Ritter/ Gründer Historisches Wörterbuch der Philosophie 5 [1980], S p . 7 3 5 - 7 4 0 ) .
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A d a m , Poetische und kritische Wälder (1988), S. 148.
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tungspraxis, als seine exempla-Sammlung >Acht Bücher, Deutscher Poematum< (1625) als zentrales »Lehrbuch für die deutschen Dichter des X V I I . Jahrhunderts«26 bekanntlich ein bemerkenswert vielfältiges Repertoire differenter Kleinformen unter dem Stichwort »Poetische Wälder« versammelt. Diese Vielfalt ist denkbar weit gefasst, erstreckt sich doch auch die Silvendefinition bei Opitz sowohl über die gesamte thematische Spannbreite (»allerley geistliche und weltliche getichte«) als auch über die occisiones, die in offener Aufzählung (Hochzeit, Geburtstag, Abreise, Wiederkehr usw.) mitgenannt sind.27 Entsprechend soll der >DiversitätsDiversität< als ein sämtliche N\z\{Äterscheinungen (Phänotypen) einschließender Oberbegriff bestimmt wird. 28 Nach biologischem Verständnis existiert Vielfalt in »jede[r] Klasse biologischer Entitäten«, also in »Gen, Zelle, Einzellebewesen, Art, Lebensgemeinschaft oder Ökosystem«. 2 ' Ähnlich wird hier ein weiter Begriff von literarischer Diversität< zugrunde gelegt. Eingeschlossen sind damit alle literarischen Entitäten von der phonetisch-phonologischen bis zur pragmatischen Betrachtungsebene, also zum Beispiel die typographische, metrische und thematische Vielfalt von Texten oder auch die Vielfalt der Gattungen eines Literatursystems. Bezieht man an dieser Stelle die historische Semantik ein, ergibt sich als Gegenakzent, dass der lateinische Begriff diversitas stärker als im biologischen Sinn einen >Unterschied< oder >Gegensatz< bezeichnet.30 Dabei dient lateinisch varietas als begriffliche >BrückeVerschiedenheit< als auch M a n nigfaltigkeit bezeichnen kann.' 1 Im 17. und 18. Jahrhundert werden die Adjektive >vielfältig< und >mannigfaltig< (häufig in der archaischen Form >vielfalt< und >mannichfaltigpoetische Wälder< kommt zudem der oben vorgenommenen methodischen Einschränkung auf die versifizierten Formen entgegen, wenngleich silvae im Einzelfall auch kleinere Prosatexte einschließen können (vgl. Adam, Poetische und kritische Wälder [1988], S. 133). Vgl. Solbrig, Biodiversität (1994), S. 40 und Hobohm, Biodiversität (2000), S. 202. Solbrig, Biodiversität (1994), S.9. Das weit gefasste Verständnis schließt neben organismischer Vielfalt häufig auch abiotische Faktoren ein. So fasst man unter der Bezeichnung 'habitat diversity< (Lebensraumdiversität) insbesondere in der anglo-amerikanischen Forschung geologische, geomorphologische, hydrologische und klimatische Vielfalt zusammen (s. Hobohm, Biodiversität [2000], S. 202). Vgl. Georges, Handwörterbuch 1 [1985], Sp.2245. >Vielfalt< wird im Lateinischen besser mit multiplicitas übersetzt (vgl. ebd., 2 [1985], Sp. 1042!.). Vgl. ebd., Sp. (hierauf wird unten im Zusammenhang mit der Präzisierung von >Varietät< näher eingegangen). Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch 12 (1885), Sp. 1588-1591 (Einträge >mannigfalt< bis >MannigfaltigungVielfalt< bis »VielfältigungDiversitätsVielfalt< als auch mit >Mannigfaltigkeit< in die historische Begrifflichkeit übersetzen.33 Im historischen Verständnis bezeichnet >Vielfalt< allerdings häufig den Gegensatz zu >EinfaltFeyrtags-SonettPluralismus< als ein ähnlich unspezifiziertes Synonym zu >VielfaltFortpflanzung< bzw. des >WachstumsFortpflanzungspluralen< Vervielfältigungsmöglichkeit können Silven auch monogenetisch erweitert werden: erstens durch Hinzufügung eines Einzeltextes, der einer Textsorte angehört und in der jeweiligen Silvensammlung bereits enthalten ist (also zum Beispiel die Erweiterung der Sonette eines poetischen Waldes um ein weiteres Sonett) sowie zweitens durch Erweiterung eines Einzelgedichts.'6 Fragt man nun nach Funktionen, die Prozesse der Diversifikation im poetischen System erfüllen können, führt wiederum der Seitenblick auf eine biowissenschaftliche Denkweise weiter. So lautet eine ältere, immer noch heftig diskutierte Hypothese in der Biodiversitätsforschung, dass stark diversifizierte Ökosysteme gegenüber Störfaktoren (anthropogene Einflüsse, Insektenfraß usw.) weniger anfällig bzw. >stabiler< sind als weniger diversifizierte Ökosysteme. Dieser Annahme liegt die >Diversitäts-Stabilitäts-Hypothese< zugrunde, die besagt, dass die Stabilität eines Systems proportional zu seiner Diversität ansteigt.57 Gefragt wird damit nach einer nicht unmittelbar absehbaren oder - im fachlich präzisierten Sinne - >ultimaten< Auswirkung einer Diversifikation auf
im 17. und 18. Jahrhundert ungewöhnlich häufig auf Poesie und Sprache übertragen. Wichtige >Stationen< sind neben den Silven die f r u c h t b r i n g e n d e Gesellschaft^ Gottscheds erstes Kapitel der >Critischen Dichtkunst (»Vom Ursprünge und Wachstume der Poesie überhaupt«) oder Herders >Abhandlung über den Ursprung der Sprachen Einschlägig ist auf diesem Feld beispielsweise auch die »Stilpathologie« oder >SchwulstGeschwulsttumoronkosWaldes< auch die Vorstellung einer textinternen >Diversifikation< ein. Diese Form wird unten im Kontext der Präzisierung textinterner Spielräume genauer erläutert.
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Ü b e r den aktuellen Diskussionsstand informiert MacCann, The diversity-stability debate (2000). >Stabilität< wird in der Ökologie recht unterschiedlich verwendet: im Sinne von »Persistenz, wenn eine bestimmte Variable über längere Zeit ihren Wert behält, im Sinne von Resistenz, wenn die Widerstandsfähigkeit gegenüber einem Wirkfaktor gemeint ist [...] oder im Sinne von Resilienz (Elastizität), die sich auf die Rückkehrgeschwindigkeit einer Variablen zum alten Wert bezieht« (Hobohm, Biodiversität [2000], S. 204; Hervorh. i. Orig.).
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der Systemebene. 58 Systemische Effekte wie die Stabilisierung werden dabei als Emergenzeη bezeichnet." Analog zu dieser Betrachtungsebene soll im weiteren Untersuchungsverlauf auch in literarischen Kontexten nach Emergenzen gefragt werden, die sich als ultimate Faktoren literarischer Diversifikation bestimmen lassen. So verfolgt insbesondere die Auswertung der Ergebnisse am Schluss dieser Untersuchung die Frage nach der poesiespezifischen Wirkungsweise eines Diversitäts-Stabilitäts-Gefüges im poetischen System des 17. Jahrhunderts. Als weitere Emergenz wird unten im Kontext der Spielräume der Poetik der erwähnte Systemöffnungseffekt untersucht, den Niklas Luhmann auf einen Varietätsanstieg in sozialen Systemen zurückführt. Hierbei geht es also um die noch zu klärende Frage, inwiefern mit ansteigender Varietät tatsächlich eine Öffnung des poetischen Systems verbunden ist. Der genetische Aspekt der Silvenkonzeption erlaubt neben der Unterscheidung von Diversitätsprozessen und -emergenzen eine weitere systematische Grundüberlegung. Sie zielt darauf ab, dass der poesiebezogenen Vorstellung des >Wachstums< bzw. der >Fortpflanzung< trotz spezifischer Spielfreiheiten auf Grund der Ordnungskonformität grundsätzlich Grenzen gesetzt sind. Die prinzipielle Ordnungskonformität der Silven bedingt, dass sich Vielfalt nur innerhalb definierter Spielräume ausprägen kann. Das Bestehen von Spielräumen ist zugleich eine grundlegende Bedingung dafür, dass textuelle Vielfalt überhaupt entsteht, da es ohne das Ausloten von (Regel-)Spielräumen allenfalls zu einer extrem schematisierten poetischen Produktion käme. Poetische Spielräume sind somit in einem vorerst noch recht allgemeinen Sinne als eine wesentliche Diversitätsbedingung bestimmtbar.60
1.2 >Simplicissimus< als Chimäre hybrider Vielfalt und die >Variations-Kunst des Baldanders< Vor dem Hintergrund der Silvenkonzeption von Opitz wurde bisher das Konzept einer ordnungskonformen, >gebändigten< Vielfalt skizziert. Hieraus ergaben sich Überlegungen zum weit gefassten >DiversitätsWachstumFortpflanzungArs poetica< des Horaz zurückgehenden »poetologischen Topos«, demzufolge eine »ähnlich monströse Figur als abschreckendes Bild für ein häßliches, zusammengestückeltes und folglich mißratenes Dichtwerk«, für ein »formloses mixtum compositum« stehe (ebd.). In dieser poetologischen Deutungslinie
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Im Folgenden wird aus der von Breuer herausgegebenen >SimplicissimusSimplicissimusChimäre< genau jene Ordnung oder >Einheit in der Mannigfaltigkeit fehlt, die f ü r die Waldmetaphorik bei Opitz konstitutiv ist. Stattdessen steht im Titelkupfer Grimmelshausens eine heterogene, >ordnungsfremde
monströs< abgelehnt wird, liegt die Besonderheit bei Grimmelshausen indessen darin, dass dieser insofern für eine ordnungsüberschreitende Dichtkunst eintritt, als nur sie die freie Entfaltung des poetischen Geistes (ingenium) erlaubt. 64 Das in Anlehnung an das Titelkupfer des >Simplicissimus< skizzierte alternative Diversitätsmodell, für das die Begriffe >ordnungsfremdheterogen< oder >hybridMannigfaltigkeitsUniversallexicon< (1739) verzeichnet unter dem knappen Artikel >MannigfaltigkeitSimplicissimus< Meid, Grimmelshausen (1994), S. 1 0 3 - 1 2 1 sowie die ausführliche Studie von Trappen, Grimmelshausen und die menippeische Satire (1994), besonders S. 87-124. Hier kann auch an den kulturtheoretischen >HybriditätsHybriditätHybride Genres< werden unten im Kontext der Interferenzspielräume erörtert. Zedier, Universallexicon 19, Sp. 1022.
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Auf dieser Grundlage lässt sich zunächst zwischen Diversität und Heterogenität unterscheiden. >Mannigfaltigkeit< bezeichnet bei Zedier die Gesamtheit verschiedener Erscheinungen (den zu »bemerkende[n] Unterschied«) innerhalb eines zeitlich und räumlich bestimmten Fokus der Betrachtung. Dabei ist es nach Zedier letztlich unmöglich, Mannigfaltigkeit in ihrer gesamten Komplexität zu begreifen (»weil Zeit und Raum auf vielerley Weise unendliches in sich fasset«). Mit der raum-zeitlichen Perspektivierung in die Unendlichkeit akzentuiert der Zedier, ähnlich wie Opitz bei den Silven, auch die Offenheit von Mannigfaltigkeit.67 Doch unterstreicht der Artikel vor allem den jeweiligen Grad, mit dem sich Gegenstände voneinander unterscheiden (»da nehmlich immer eines von dem anderen bald mehr, bald weniger abgeht«). >Mannigfaltigkeit< wird damit nicht kontradiktorisch gegen >Einf alt< gesetzt, sondern - wie in dieser Untersuchung - auch historisch als gradierbarer Begriff bestimmt. Allerdings wird >Mannigfaltigkeit< bei Zedier nicht analog zum weiten >DiversitätsMannigfaltigkeit< vor allem den Aspekt der Verschiedenheit, den Grad, in dem sich Gegenstände voneinander unterscheiden, bezeichnet. Diese graduelle Ebene der Betrachtung zielt auf einen Vielfaltsaspekt, der im Folgenden als Heterogenität (vs. Homogenität) präzisiert sei. Ahnlich wie Varietät und Pluralität, die auf raum-zeitlicher Betrachtungsebene differenziert wurden, bezeichnet >Heterogenität< somit auf gradueller Ebene eine spezifische Form bzw. einen Teilaspekt von >Diversitäthybrid< bzw. >heterogen< bezeichnete Konzept literarischer Vielfalt als Ganzheit zu begreifen, verdeutlichen bei Grimmelshausens schon die nahezu unendlichen Möglichkeiten der episodischen Handlungsführung, die sich bekanntlich vom >Simplicianischen Zyklus< (>Simplicissimus TeutschContinuatioLandstörtzerin CourascheSpringinsfeldWunderbarliches Vogel-Nestsimplicianischen Schriften< (>Rathstübel PlutonisDer erste BeernhäuterDer stoltzte Meiches usw.) erstrecken.69 Hier steht als Ganzes eine textuelle Vielfalt vor Augen, die in ihrer digressiven Tendenz von dem harmonisierenden >FortpflanzungsEinheit in der Vielheit und Vielheit in der EinheitPolyphonie< des satirischen Romans stehe dabei gegen die Monopolisierung der Rede im höfischen Roman und unterstreiche somit prinzipiell die subversive Funktion des neuen Textmusters.
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Merzhäuser, Satyrische Selbstbehauptung (2002), S. 23 spricht in Anlehnung an den ethnologischen Gebrauch bei Clifford Geertz von einer »tiefen Vielfalt«, die Grimmelshausen beim Schreiben praktiziere, und bestimmt dies als ein »Schreiben, das um eine Heterogenität weiß, die aus keinem hintergründigen Konsensus mehr gelöst und negiert werden kann, um eine Pluralität, deren Einheit nur mehr aus der Differenz heraus, im Durchgang durch die Komplexität der Besonderheiten, zu begründen ist.« Somit akzentuiert also auch »tiefe Vielfalt· den Aspekt der Heterogenität. Im Folgenden kann es nicht um eine kritische Sichtung der Deutungsansätze gehen. Einen Uberblick über deren Fülle bietet der richtungweisende Beitrag Wiethölters, »Baldanderst Lehr und Kunst« (1994), besonders S.62; vgl. ergänzend die neuere Uberblicksdarstellung Heßelmanns, Fiktion und Wahrheit (1998). Vgl. Sachs, Baldanderst so bin ich genandt, der ganzen Welte wohlbekannt (1534). Breuer nennt in seinem Stellenkommentar zu Grimmelshausens >Continuatio< (S. ioi6f.) weitere Quellen von Hans Sachs, auf die Grimmelshausen zurückgriffen haben soll: >Die eilend klagent roßhautVon dem verlornen redenten gülden· und das >Gesprech der Philosophia mit einem betrübten melancholischen Jüngling·. Neben dem Spruchgedicht von 1534 existiert noch eine gekürzte Bearbeitung in strophischer Meisterliedform aus dem Jahre 1550, die handschriftlich überliefert ist (vgl. Sachs, Der Baldanderst, in: Werke in zwei Bänden 1, S. i82f.). Mögliche Quellen diskutiert auch Haberkamm, Der Römer Baldanders mit dem Mond im Wappen (1983); vgl. zum gelegentlich angenommenen Homer-Einfluss kritisch Scheuring, »Der alten Poeten schrecklich Einfäll und Wundergedichte« (1991), S. 1 5 7 - 1 6 2 .
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Breuer, Grimmelshausen-Handbuch (1999), S.63. Wiethölter, »Baldanderst Lehr und Kunst« (1994), S. 63. In der Forschung wird vermutet, dass bereits Hans Sachs' >Baldanderst< auf eine spätmittelalterliche Quelle zurückgeht, die jedoch verloren gegangen ist. Für diese Annahme spricht vor allem die
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>Allegorie der Allegorie< r ü c k e n damit K e r n b e g r i f f e w i e »Vieldeutigkeit« u n d »Sinnvervielfältigung« (ebd., S. 46), 7< die den G e s a m t t e x t prägen u n d gegen m o n o s e m i e r e n d e - e t w a heilsgeschichtliche - S i n n z u w e i s u n g e n der F o r s c h u n g stehen. 7 7 Ä h n l i c h e s gilt bei G r i m m e l s h a u s e n f ü r emblematische V e r f a h r e n , die »statt der >Einheit< die relationale D i s k o n t i n u i t ä t u n d H e t e r o n o m i e dieser k o m p l e x e n T e x t - B i l d - G e f l e c h t e , insbesondere j e d o c h den hermeneutisch auf die unterschiedlichste Weise nutzbaren Spielraum betonen, der sich z w i s c h e n pictura u n d subscriptio«
ausmachen lässt. 7 8 D i e ständigen M e t a m o r p h o s e n o d e r
» P e r m u t a t i o n e n « des H e l d e n (ebd., S. 56) prägen d e n G r i m m e l s h a u s e n - R o m a n in V e r b i n d u n g mit einer sinnreich ausphantasierten K o m b i n a t i o n k u n s t , die sich v o m anagrammatischen N a m e n s p i e l 7 9 bis z u m b e r ü h m t g e w o r d e n e n R ä t selspruch des B a l d a n d e r s erstreckt. 8 0 Solche P h ä n o m e n e der (allegorischen) Sinnvervielfältigung o d e r das O p e r i e r e n mit emblematischen Spielräumen im
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Existenz eines »Viel anders« iiberschriebenen mittelhochdeutschen Gedichts (vgl. Anmerkungen zu Sachs, Werke in zwei Bänden 1, S. 353). Vgl. zur zunehmend gesehenen Mehrdeutigkeit und Ambivalenz barocker Allegorien Drügh, Anders Rede (2000), S. 3 1 - 1 1 2 sowie Ders., »Was mag wol klärer seyn?« (2000). Wiethölter, »Baldanderst Lehr und Kunst« (1994), S. 63 weist darauf hin, dass den spätmittelalterlichen »Viel anders« im 17. Jahrhundert vor allem Moscherosch, Gesichte Philanders von Sittewald (seit 1640) wieder ins Gespräch bringt. Dabei wird aus ihrer Sicht im ursprünglichen Namen des Baldanders das Moment der Vielfältigbzw. Vieldeutigkeit seiner Verwandlungen prägnant deutlich. Das Moment der »Bedeutungspolyvalenz« und »Auslegungspluralität« hebt auch Heßelmann, Fiktion und Wahrheit (1998), S. 165 hervor. Allerdings kritisiert Heßelmann insbesondere die Bezugnahme Wiethölters auf Walter Benjamins AllegorieAuffassung sowie die Tendenz, die »Heilsgewißheit« Grimmelshausens grundsätzlich in Frage zu stellen (ebd., S. 182, Anm. 28). Wiethölter, »Baldanderst Lehr und Kunst« (1994), S. 52 (mit Forschungshinweisen zu emblematischen Erzählverfahren bei Grimmelshausen). Vgl. dazu Kaminski, Narrator absconditus (2000). Die Bezüge zwischen anagrammatischem Maskenspiel und der Figur des Baldanders erhellt bereits Merkel, Maske und Identität (1964), S. 52-69. Einen konzisen Uberblick über die besonderen Spielmöglichkeiten des Anagramms bietet Secker, Artikel > Anagramma in: Ueding, Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992). »Ich bin der Anfang und das End, und gelte an allen Orten. Manoha, gilos, timad, isaser, sale, lacob, salet, enni nacob idei dadele neuaco ide eges Eli neme meodi eledid emonatan desi negogag editor goga neneg eriden, hohe ritatan, auilac, hohe ilamen eriden diledi sisac usur sodaled auar, amu salif ononor macheli retoran; Vlidon dad amu ossosson, Gedal amu bede neuavv, aliis dilede ronodavv agnoh regnoh eni tatae hyn lamini celtah, tsis tolostabas oronatah assis tobulu, Wiera saladid egrivi nanon aegar rimini sisac, heliosole Ramelu ononor vvindelishi timinitur, bagoge gagoe hananor elimitat. « (Grimmelshausen, Continuatio, S. 604^; statt »neuaco« und »timinitur« sind die Varianten »neuaw« und »timinituz« zu lesen). Gemäß der vorangestellten Auflösungsregel ergibt sich als Lösungssatz »Magst dir selbst einbilden, wie es einem jeden Ding, hernach einen Diseurs daraus formirn und davon glauben, was der Wahrheit aehnlich ist; so hastu, was dein naerrischer Vorwitz begehret.«
Text 81 beruhen wesentlich auf dem Prinzip der Variation. Unter dem Diversitätsaspekt deutet sich dabei ein Zusammenhang zwischen dem Variationsprinzip und der Genese von Vielfalt an. Dies erweist sich zunächst bei der Einführung der Baldanders-Figur. Simplicissimus stellt hier die Frage, ob der sonderbare Wandlungskünstler »den Menschen dann zu sonst nichts tauge/ als sie und alle ihre Händel so mannigfaltig zuverändern.« 81 Die in dieser Passage deutliche Kollokation von >Mannigfaltigkeit< und >Veränderung< regt dazu an, den Zusammenhang zwischen beiden Begriffen genauer zu bestimmen. >Mannigfaltigkeit< wird - wie noch bei Zedier (s. o.) - im 17. Jahrhundert neben >Vielfältigkeit< und >Verschiedenheit< auch im Sinne von >VielseitigkeitVielschichtigkeit< oder >Vieldeutigkeit< verwendet. 8 ' Dabei stützt die Bedeutungsnuance >Vieldeutigkeit< die in der Forschung unter anderem von Wiethölter vertretene Akzentuierung des Polyvalenz-Komplexes. Mit Blick auf die literarische Diversität ist dabei wichtig, dass ebenso wie im Begriff der >Mannigfaltigkeit< auch in der ursprünglichen Benennung des Baldanders als >Viel-Anders< nicht nur auf die Koexistenz verschiedener Deutungsmöglichkeiten, sondern gleichzeitig auf deren Vielfalt in der Gesamtheit verwiesen wird. Versucht man von hier aus das Veränderungs- bzw. Variationskonzept bei Grimmelshausen näher zu bestimmen, lässt sich bei dem zitierten Rätselspruch des Baldanders ansetzen. Grundsätzlich weist auch Dieter Breuer das »Prinzip der Veränderung« als poetisches Grundprinzip in Grimmelshausens >Continuatio< aus.84 In der Figur des Baldanders sieht er eine Verkörperung des »Prinzip[s] der Veränderung des menschlichen Lebens«, wobei die Veränderlichkeit des Menschen eine »Folge der Curiositas« Ursünde sei. 8 ' Aus dieser neu testamentarisch geprägten Sicht ist nun im Rätselspruch des Baldanders ein Veränderungsprinzip wirksam, das Breuer als »poetische Tätigkeit« fasst. Dabei könne die »Curiositas, der närrische Vorwitz« sich über diese Tätigkeit der »Einbildungskraft bedienen«; der Rätselspruch verweise dann »auf einen positiven Aspekt der Curiositas: auf die poetische Einbildungskraft, die Phantasie, die alles auflösen und verändern kann« (ebd, S. 76). Folgt man Breuer, ist hinter der menschlichen Wiss-
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Mit Birken, Rede-bind-und Dicht-Kunst, S. 81 sind beide Formen als >Gleichnis-Rede< bestimmbar, für die allgemein gilt: »Wann die Gleichnis-Rede sich vervielfältigt/ verdient sie erst recht diesen Namen.« Grimmelshausen, Continuatio, S. 604. Vgl. ergänzend den Artikel >Mannigfaltigvielfachvielseitig< >vieldeutig< oder »unbeständig« übersetzt werden kann (vgl. Georges, Handwörterbuch 2 [1985], Sp. i04if.). Breuer, Sich verändern, sich verwandeln (1990), S. 69. Breuer, Grimmelshausen-Handbuch (1999), S.75.
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begier also letztlich die poetische K r a f t der V e r ä n d e r u n g zu erkennen. D a B r e u er curiositas
auf diesem Wege bei G r i m m e l s h a u s e n z u r positiven K r a f t u m g e -
wertet sieht, k o m m t er z u d e m Schluss: »Diesselbe K r a f t , die das Paradies zerstörte, k a n n es ü b e r die E i n b i l d u n g s k r a f t erneuern. D a s ist die überraschende B o t s c h a f t des B a l d a n d e r s « (ebd.). F ü r den F o r t g a n g der U n t e r s u c h u n g ist wichtig, dass d u r c h die Positivierung der V e r ä n d e r u n g als >poetische Tätigkeit« der Dichtungsbezug
der
variado
in den V o r d e r g r u n d rückt. 8 6 D i e Plausibilität des hergestellten D i c h t u n g s b e zugs w i r d d a d u r c h bestätigt, dass im weiteren poetikgeschichtlichen K o n t e x t bereits Scaliger das P r i n z i p der varietas
»zu einer der vier >virtutes poetaeContinuatio< heißt - » U n b e s t ä n d i g k e i t A l l e i n beständig sey«. 8 8 D e r R ä t s e l s p r u c h w i r d , w i e d e r u m mit D i c h t u n g s b e z u g , zugleich als Kristallisationskern einer » G e h e i m p o e t i k « gesehen, 8 9 die drastisch v o r A u g e n f ü h r t ,
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Dass die verrätselte Rede des Baldanders starken Poesiebezug hat, glaubt auch Heßelmann, Fiktion und Wahrheit (1998), S. 1 7 1 . Er liest die »aspektenreiche Baldanders>fabula«< als »verschlüsselte Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Romantheorie- und kritik«. Die Figur des Baldanders wird dabei begriffen als »satirisch-provokative Replik auf die von Romangegnern vorgebrachte Kritik an der Fiktionalität« des Texts (ebd., S. 177). »Semantische Mehrfachkodierung oder Polysemie« und »Polyperspektivismus« in der Personifikation des Baldanders bewertet Heßelmann abschließend als Komponenten einer »romanimmanenten Poetik«. Diese Poetik wird als »bemerkenswert modern« eingestuft (ebd.). Solche Befunde - zu denen etwa auch Wiethölter gelangt - relativieren die insbesondere durch Schmidt gefestigte Epochensicht, aus der >Polyvalenz und Ästhetik-Konvention* als Leitdifferenzen erst im 18. Jahrhundert ein autonomes Literatursystem konstituieren (vgl. Schmidt, Selbstorganisation [1989]). Vgl. als Uberblick über literaturbezogene Polyvalenz-Theorien Steinmetz, Sinnfestlegung und Auslegungsvielfalt ('1997) und Kramaschki, Anmerkungen zur Ästhetik- und Polyvalenzdiskussion (1991).
87
Reineke, Julius Caesar Scaliger (1988), S. 96. Dieser Punkt wird unten in den Kapiteln zu den Spielräumen der Poetik aufgenommen. Kombinatorische variatio und poetische varietas sind freilich zu unterscheiden, da Variation in der Kombinatorik streng genommen als Sonderfall festgelegt ist (im engen Sinne verstanden als Verbindung zweier Elemente; vgl. die historische Schreibweise »cormnatio«). Von Variation wird in der Kombinatorik gesprochen, wenn eine gegebene Kombination permutiert wird (vgl. Traninger, Artikel »Kombinatorik*, in: Ueding: Wörterbuch der Rhetorik 4 [1998], Sp. 1154). Varietas betont demgegenüber das Moment der Vielfältigkeit in der Verschiedenheit (s.o.); vgl. ergänzend zum Komplex variatio und varietas in den Poetiken des 17. Jahrhunderts Zeller, Spiel und Konversation im Barock (1974), S. 1 7 7 !
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Grimmelshausen, Continuado, S. 557. Über antistoische Tendenzen in Grimmelshausens >Continuatio< orientiert Breuer, Grimmelshausen-Handbuch (1999), S. 6/f. Uber stoizistische Modelle im 17. Jahrhundert informieren etwa Barner, Die gezähmte Fortuna (1995) und Stadler, Formen des barocken Stoizismus (1976). Gersch, Geheimpoetik (1973). Dieser zeigt auf, inwiefern auch die frühneuzeitliche Proteusrezeption die Mythengestalt zum Teil im Sinne einer »im Verborgenen liegen-
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w i e w e i t Spielräume der A n d e r s a r t i g k e i t poetischer Sprache bei G r i m m e l s h a u sen tatsächlich reichen. 9 0 Wenn man versucht, diese k o m b i n a t o r i s c h geprägte A n d e r s a r t i g k e i t , die B r e u e r auch als » K u n s t des >BaldandersVeränderung< k a n n als Variation präzisiert w e r d e n . D a die B u c h s t a b e n umgestellt w e r den, ist diese V a r i a t i o n s f o r m als Permutation
zu spezifizieren. 9 2 W i e d e r u m va-
riiert w i r d die erste U m s t e l l u n g s r e g e l , w e l c h e die Stellung der A n f a n g s - und E n d b u c h s t a b e n b e t r i f f t , dabei im z w e i t e n R ä t s e l s p r u c h . In diesem Fall sind die mittleren B u c h s t a b e n z u s a m m e n zu lesen (Variation der Variation). Festhalten lässt sich daher, dass die Vielschichtigkeit poetischer Sprache (bzw. ders-RedeViel-an-
>Bald-anders-
de[n] und schwierig zu fassende[n] Wahrheit« allegorisiert (ebd., S. 90). Unter der Vielzahl kritischer Stellungnahmen zu Gerschs Studie sei verwiesen auf die Dallet, Geheimpoetik (1981). Meid, Grimmelshausen (1984), S. ιζ6ί. hegt Skepsis gegenüber den bis dahin vorgebrachten Deutungen der >BaldandersContinuatio< selbst verfasst, um zu erklären, mit welchen Mitteln man sich >kugelfest< macht: »Das Mittel folgender Schrifft behüt/ daß dich kein Kugel trifft. Asa, vitom, rahoremarshi, ahe, menalem renah, oremi, nasiore ene, nahores, ore, eldit, ita, ardes, inabe, ine, nie, nei, alomade, sas, ani, ita, ahe, elime, arnam, asa, locre, rahel, nei, vivet, aroseli, ditan, Veloselas, Herodan, ehi, menises, asa elitira, eve, harsari erida, sacer, elachimai, nei, elerisa.« (Grimmelshausen, Continuado, S. 626). Setzt man jeweils die mittleren Buchstaben zusammen (vgl. »Das Mittel folgender Schrifft«), lautet der Auflösungssatz »steh an ein Ort da niemand hinscheist [= hinschießt]/ so bistu sicher« (Grimmelshausen, Continuatio, S. 628; vgl. zu dieser Auflösung Gersch, Geheimpoetik [1973], S. 86f.). Wichtig ist hierbei, dass die Auflösungsregel des ersten Rätselspruchs (Kombination von Anfangs- und Endbuchstaben) im zweiten Geheimtext abgewandelt ist (Kombination der mittleren Buchstaben; dabei stellt Gersch die erste Form in die Nähe des Akroteleutons, die zweite in die des Mesostichons [ebd., S. 87]). Diese >Variation der Variation veranschaulicht, mit welcher Radikalität das Prinzip der permanenten Variation im Text umgesetzt ist. Breuer, Grimmelshausen-Handbuch (1999), S. 64. Etwas enger bestimmt Breuer den Lösungssatz auch als »Poetologie« (Kommentar zu Grimmelshausen, Continuatio, S. 1017). Analog können weitere Formen der Variation unterschieden werden (s. dazu in der zweiten Teilstudie die Ausführungen im Kapitel zu den Spielraummechanismen). 33
RedeAuflösen< bezeichnen - ist es, welches die Aussage des Baldanders letztlich bis zur Unverständlichkeit entstellt. Breuer hebt nun den Dichtungsbezug des Variationsprinzips heraus. Veränderung ist also auch in dem Sinne >poetische KraftQuasi-Normen< gefasst werden können, erlaubt ein zumindest vordergründig einfaches Textverstehen im Sinne des Lösungssatzes.96 Mit Blick auf den Diversitätskomplex lässt sich akzentuieren: Sowohl Variationen als auch Abweichungen bedingen die Vielschichtigkeit poetischer Aussageweise. Im Fall des Rätselspruchs greifen beide Mechanismen ineinander. Ubergeordnet ließe sich formulieren, dass Variation und Abweichung zwei Grundmechanismen darstellen, über die literarische (Bedeutungs-)Vielfalt erzeugt wird. Genau dies bestimmt einen wesentlichen Aspekt des oben nachgefragten Zusammenhangs von Diversität und Variation bei Grimmelshausen.97 93
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In der Forschung wurde mehrfach auf die Parallelen zur >SchermesserQuasi-Normen< Fricke, Norm und Abweichung (1981), S. 162-167. Beispiele stellen die Regeln normativer Poetiken dar, die im poetischen Einzeltext befolgt oder verletzt werden können. Werden sie verletzt, spricht Fricke von sekundären Abweichungen (hierauf wird unten vertiefend eingegangen). Versteht man die verrätselten Aussagen der >Continuatio< poetologisch, werden primäre Abweichungen (von den Normen der Gemeinsprache) und sekundäre Abweichungen (vgl. das Prinzip der geregelten Variation) gewissermaßen übereinander geblendet. Als Grundmechanismen biologischer Diversifizierung werden typischerweise gene-
W ä h r e n d auf den A b w e i c h u n g s a s p e k t später im K o n t e x t der G r u n d l e g u n g z u r K a t e g o r i e des poetischen Spielraums näher eingegangen w i r d , soll v o r e r s t n u r der B e g r i f f der >Variation< w e i t e r v e r f o l g t w e r d e n . Bleibt man i m R a h m e n der >BaldandersBaldandersteuflische< Seite des Proteus in der Barockzeit später bei Erasmus Francisci greifbar, der den »höllischen Proteus« als Titelgestalt seiner gleichnamigen Gespenstergeschichtensammlung (1690) wählt (s.o.). Freilich scheint das Gespenstische der Figur bei Grimmelshausen im Sinne einer humoristischen »Abrechnung mit dem Proteus-Syndrom in der Literatur des Barock« parodistisch gebrochen (Scheuring, »Der alten Poeten schrecklich Einfäll und Wundergedichte« [1991], S. 160).
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ders keineswegs willkürlich ablaufen. 9 5 D u r c h die Beispiele (»Bratwurst«, »Baurentreck«, »Kühefladen«) w i r d die Schilderung der E n t w i c k l u n g immer wieder satirisch durchbrochen, w o b e i die E n t w i c k l u n g s b e w e g u n g das k o m i sche Spiel mit schnell aufeinander folgenden Progressions- bzw. Regressionsbewegungen einschließt. Diese führen v o n höheren auf niedrigere Organisationsstufen und wieder zurück. U b e r dieses Verfahren scheint auch der anagenetische Z u g , den die E n t w i c k l u n g auf G r u n d der Wandlung zur menschlichen Gestalt annimmt, mit den vorangehenden >absteigenden< M e t a m o r p h o s e n satirisch überlagert. D i e damit v o r A u g e n stehende >figurative< Vielfalt exemplifiziert eine heterogene Varietät, die einem (monogenetischen) Variationsprinzip erwächst. 1 0 0
1.3
Zwischenergebnisse
D i e bisherigen Abschnitte zeigten, inwiefern s o w o h l das bei O p i t z ' e n t w o r f e ne Silvenkonzept als auch Grimmelshausens R o m a n »Simplicissimus Teutsch< und dessen >Continuatio< z u m P r o b l e m k o m p l e x literarischer Diversität hinführen. A u f der Basis dieser Ausgangstexte können wesentliche G r u n d z ü g e und spezifische Zusammenhänge des Problemfelds literarischer Vielfalt aus historischer Perspektive umrissen und systematisch ergänzt werden. Während O p i t z im Fall der Silven zu einem o r d n u n g s k o n f o r m e n bzw. >gebändigten< Vielfaltskonzept tendiert, gibt Grimmelshausen in den untersuchten E r z ä h l texten der Vorstellung einer >hybridenauflösenden< A b weichungen, die letztlich eine (bei Grimmelshausen z u m poetischen Ideal gewendete) »monströse Heterogenität« herbeiführen. 1 0 1
Ordnungskonformes
A g i e r e n in Spielräumen einerseits und A b w e i c h u n g als Verletzung von O r d -
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Breuer fasst den Entwicklungsgang im Stellenkommentar so zusammen: »Eichel als Futter für die Sau; die Bratwurst als Produkt und Nahrung; der Bauerndreck als Produkt und Dünger für Kleewiesen; Klee als Nahrung für die Kuh; Kuhfladen als Produkt und Dünger für Blumen und Maulbeerbaum, dieser als Nahrungsspender für die Seidenraupe; der seidene Teppich als Medium der Schönheit mit den zeittypischen >künstlich-natürlichen< Darstellungen menschlicher Gestalten, die lebendig werden« (Kommentar zu Grimmelshausen, Continuado, S. 1017). In der Forschung hat man vielfach versucht, den monogenetischen Variationsverlauf weiter auszudeuten. Breuer vermutet etwa, dass die Metamorphosen die Entwicklung »von der Natur zur Kunst« nachzeichnen sollen (ebd.). Merzhäuser, Satyrische Selbstbehauptung (2002), S.23.
nung andererseits markieren somit zwei grundlegende Handlungsmuster, aus denen Vielfalt entsteht. Dem weiteren Untersuchungsverlauf liegt nun als Arbeitshypothese zu Grunde, dass zumindest in der >opitzianistischen< Barockpoesie ein Denken und Handeln in Spielräumen vorherrscht. Damit legt diese Untersuchung den Schwerpunkt auf das Spielraumkonzept, das im folgenden Abschnitt genau umrissen wird. 102 Zuvor sei die vorläufig erarbeitete Systematik zum Problemkomplex literarischer Diversität in einer tabellarischen Übersicht zusammengefasst.
Betrachtungsebene
Begrifflichkeit
Diversitätszustände:
Diversität Unterformen: Variabilität, Varietät, Pluralität, Heterogenität, Polyvalenz
Diversitätsprozesse:
Diversifizierung, Reduktion Unterformen: mono- und polygenetische Diversifizierung
Diversitätsmechanismen:
Abweichung, Variation Unterform: Permutation
Diversitätsebenen:
Diversität im Gattungssystem, gattungsinterne Diversität (formale, thematische, okkasionelle Diversität)
Diversitätsbedingungen:
Spielräume
Emergenzen:
Stabilität, Systemöffnung
Fig. ι : Systematische Übersicht zum Grundriss literarischer Diversität.
2 Grundlegung zur Kategorie des poetischen Spielraums Der >SpielraumSpielraumVielfaltsDiversitätsSpielräumen< zwar die Rede, und auch in Veröffentlichungstiteln wird man auf ihn aufmerksam, doch handelt es sich hierbei nahezu durchgehend um einen vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch. 103 N u r in wenigen Ausnahmefällen wird die Bezeichnung >Spielraum< fachspezifischer als in der Gemeinsprache gebraucht. Ein wichtiges Beispiel gibt der erzähltextorientierte Ansatz Benno von Wieses. Von Wiese verwendet den Begriff im Rahmen seiner Novellentheorie. 1 0 4 Dabei wird die Kategorie des Spielraums als Gattungskennzeichen der Novelle bestimmt, um Schwierigkeiten bei der Gattungsabgrenzung der typologischen Vielfalt von Novellentexten zu umgehen und das Bild der Novelle als besonders strenger Textform zu relativieren. 105 Dieser >SpielraumSpielraums< zwar nicht explizit, aus seiner Verwendung ergibt sich allerdings, dass Hebel ihn auf den Freiraum bei Bedeutungsfestlegungen durch den Sprecher (Schreiber) bzw. Hörer (Leser) bezieht. Wortsemantische Spielräume werden zwar auch im Folgenden in die Präzisierung einbezogen, jedoch ist die semantische Schwerpunktsetzung Hebels zu eingeschränkt, da textuelle Spielräume in allen sprachlichen Dimensionen des Textes bestehen. 10 4 Vgl. Jas Folgende bei von Wiese, Vom Spielraum des novellistischen Erzählens (1962).
105
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Neben von Wiese benutzt den >SpielraumspielenSpielraum der Novelle< genannt worden« (Novellistisches Dasein [1953], S. 9). Inden Blick geraten hier besonders die Spielräume des »Inhalts und des Aufbaus« bzw. Erzählstoffs und Erzählvorgangs (ebd.).
weit gefasst, da er - in diesem Punkt stimmt das Spielraumkonzept von Wieses mit dem unten entwickelten überein - sowohl die formalen als auch die inhaltlichen Variationsmöglichkeiten der Novelle einschließt. Gegen das Verfahren von Wieses erhob vor allem Hans Hermann Malmede Einspruch. 106 Dieser bezog sich auf die in zweifacher Hinsicht gegebene Unscharfe des >SpielraumSpielraumMythologica< von Lévi-Strauss (vgl. Schupp, Mythos und Religion. Der Spielraum der Ordnung [1979], S.67). Vgl. etwa zu den Freiheiten der Disposition mythischer Geschehensabläufe ebd., S. 66: »Der »Spielraum der Ordnung* des Mythos kann sich ebenso auf die Geschichte erstrecken«.
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formation« (ebd., S. 68 und 71). Schupp stellt treffend die Ambivalenz von Spielräumen heraus, die einerseits begrenzen und einschränken, andererseits jedoch Bewegungsfreiheit einräumen und Möglichkeiten öffnen. Weitere Präzisierung erfährt der Begriff nicht, so dass er wiederum als eher formelhafter Nenner mythenspezifischer Variationsmöglichkeiten im Raum steht. Auch in der germanistischen Barockforschung nimmt der vorwissenschaftliche Gebrauch des >SpielraumMorgen Sonnet< von einem »poetischen Spielraum« des Sonetts als einem alternativen menschlichen »Erfahrungs- und Existenzraum«." 2 Ein drittes Beispiel geben schließlich Verweyen/Witting, die den >SpielraumSpielraumAn SichDer X X X V . Libes-KußSpielraumSpielraum< als Bezeichnung für die Gesamtheit möglicher Elementarsätze, der durch die Grenzfälle der Tautologie und Kontradiktion definiert wird. Damit steht letztlich der >totale Spielraum< dem >leeren Spielraum< gegenüber. 12 ' In diesem Sinne postuliert Rudolf Carnap, »dass ein Satz um so mehr besagt, je kleiner sein Spielraum ist«. 126 Für einen literaturwissenschaftlichen Präzisie-
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Dies weiterverfolgend werden in der zweiten Teilstudie Gegenstandsspielräume von Epigramm und Sonett vergleichend untersucht. I2 ' Vgl. etwa die spielerische Rezeption von »Zahlenmystik« bei Philipp von Zesen oder die Entfaltung einer spielerisch »ausgefallenefn] Bildphantasie« bei J o h a n n G e u d e r (ebd., S.62). 124
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Barner verweist etwa auf die okkasionelle Anbindung eines Figurengedichts Catharina Reginas von Greiffenberg an seinen »stark brautmystisch getönten Andachtszweck« (ebd., S. 61). Vgl. Knebel, Artikel >SpielraumImitatioIngeniumVerse-
schmiedIngeniumDecorumLicentiat< als Bezeichnung für einen dem Doktorgrad vergleichbaren akademischen Abschluss wichtig (dazu Artikel >LicentiatusPoetische Lizenz«, in: Weimar, Reallexikon der Literaturwissenschaft 3 (2003) und Schmude, Artikel >Lizenz«, in: Ueding, Wörterbuch der Rhetorik 5 (2001) versammeln vor allem Hinweise zur Wort- und Begriffsgeschichte. Für das Barock kann allenfalls auf Fallstudien zurückgegriffen werden. Eine Ausnahme stellt die knappe Uberblicksdarstellung von Fischer, Gebundene Rede (1968), S. 94-98 dar.
mentär und verstreut sind.'49 Zudem wird die licentia poetica im historischen Diskurs kaum zu anderen Kategorien - wie dem decorum - ins Verhältnis gesetzt. 1 ' 0 Entsprechend undeutlich bleibt das Konzept, so dass aus historischer Perspektive bereits Erdmann Neumeister ironisch formuliert: Man kan keine gewisse Regeln von ihr geben. Denn überall pfleget man sich auf sie zu beruffen/ w o man sonst von den nichtigen und ordentlichen Praeceptis abgewichen ist. 1 ' 1
Hierbei kann zunächst wiederum an den mehrfach herausgestellten Begrenzungsaspekt angeschlossen werden, der schon in der Poetik-Epistel des Horaz hervorsticht.152 So gilt auch in der Barockzeit für Lizenzen generell, dass der »Spielraum der dichterischen Freiheit [...] entschieden begrenzt« ist. 1 ' 3 Denn Lizenzen werden entweder durch Poetiken und anerkannte Mustertexte festgelegt oder müssen sich im Einzelfall »allein aus sich erklären«, um nach historischem Verständnis nicht als fehlerhaft zu gelten (ebd.). Trotz einiger früher Universalisierungsversuche 1 ' 4 bleibt die licentia in den Poetiken streng limitiert, beispielsweise auf Wort-Inversionen um des Metrums willen, archaisierende Wortwahl und dergleichen, [...] oder auf erweiterte Tolerierung von >materiae< in bestimmten Gattungen oder Gattungsbereichen (besonders etwa in der Satire). 1 "
Diese knappe Bestimmung zeigt erstens, dass Lizenzen an ein bestimmtes Genre gebunden sein können. Es lassen sich also Genrespielräume eingrenzen, die jeweils enger oder weiter gefasst sind. Barner hebt hervor: »Die Satire ist neben dem (früh als eng verwandt eingestuften) Epigramm die Gattung mit dem weitesten >Spielraummateriae< angeht« (ebd., S. 5 5, Anm. 76). Auf Grund der besonders weitgehenden Lizenzen der Satire wird daher bereits im historischen Diskurs auch eigens von einer licentia satyrica gesprochen. 1 ' 6 149
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Eine wichtige Ausnahme ist in dieser Hinsicht die von Christian Friedrich Hunold herausgegebene Poetikvorlesung Erdmann Neumeisters, die ein zwar knappes, aber immerhin doch eigenständiges Kapitel »Von der Licentia Poetica« enthält (vgl. Allerneueste Art, S. 507-510), auf das noch eingegangen wird. Vgl. Sinemus, Poetik und Rhetorik (1978), S. 202. Hunold/Neumeister, Aller-neueste Art, S. 507. Dazu etwa Jung, Kleine Geschichte der Poetik (1997), S. 28: »Den Auftakt der Schrift bildet ein Bekenntnis zur Freiheit des Dichters, eine Freiheit jedoch, die zugleich gezügelt werden muß« (vgl. hier auch die vertiefenden Hinweise zum dichtungsbezogenen Freiheitskonzept bei Horaz). Wagenknecht, Deutsche Metrik ('1993), S.22. Dazu Barner, Nicodemus Frischlins »satirische Freiheit« [1997]). Barner, Spielräume (2000), S. 55. Die weitreichenden Materienspielräume des Epigramms werden unten im Abschnitt zur gattungsinternen Diversität erörtert; zum Komplex der licentia satyrica vgl. Barner, Nicodemus Frischlins »satirische Freiheit« (1997) sowie Ders., Vergnügen, Erkenntnis, Kritik (1985), S.yéjí. Eine Spezialuntersuchung zu den satirischen Lizen-
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Z w e i t e n s m u s s h e r v o r g e h o b e n w e r d e n , dass L i z e n z e n z w a r w e s e n t l i c h d e n G e b r a u c h v o n W ö r t e r n u n d S a t z f i g u r e n , also b e s o n d e r s d e n B e r e i c h d e r tio b e t r e f f e n , sich j e d o c h d u r c h a u s a u c h auf die materiae
elocu-
erstrecken.'57 G r u n d -
l e g e n d s i n d h i e r die A u s f ü h r u n g e n v o n O p i t z z u d e n F r e i h e i t e n d e r seit A r i s t o teles d i s k u t i e r t e n fictio
poetica:'
Das getichte vnd die erzehlung selber belangend/ nimpt sie [die Poesie] es nicht so genawe wie die Historien/ die sich an die zeit vnd alle vmbstende nothwendig binden mußen [...]: lest viel außen was sich nicht schicken wil/ vnd setzet viel das zwar hingehöret/ aber newe vnd vnverhoffet ist/ vntermenget allerley fabeln/ historien/ Kriegeskünste/ schlachten/ rahtschläge/ stürm/ wetter/ vnd was sonsten zue erweckung der Verwunderung in den gemütern von nöthen; alles mit solcher Ordnung/ als wann sich eines auff das andere selber aliso gebe/ vnnd vngesucht in das buch kerne. Gleichwol aber soll man sich in dieser freyheit zue tichten vorsehen/ das man nicht der Zeiten vergeße/ vnd in jhrer warheit irre. 1 ' 9 A u f d e r E b e n e d e r G e g e n s t ä n d e b e s t e h e n n a c h d i e s e r B e s t i m m u n g also L i z e n z e n , die n e b e n d e r A b w e i c h u n g v o n h i s t o r i s c h e n T a t s a c h e n w i e E r e i g n i s f o l g e n e t w a a u c h F r e i h e i t e n in d e r C h a r a k t e r d a r s t e l l u n g u m f a s s e n . D a r a u f d e u t e t die A b g r e n z u n g g e g e n ü b e r d e n » H i s t o r i e n / die sich an die zeit v n d alle v m b s t e n d e n o t h w e n d i g b i n d e n m u ß e n « . D e n n ü b e r die »zeit« h i n a u s - v e r s t a n d e n als Z e i t r a h m e n u n d Z e i t f o l g e - v e r w e i s t die E r w ä h n u n g d e r » v m b s t e n d e « auf d i e circumstantiae
d e r S t a t u s l e h r e , die in d e r R h e t o r i k s o w o h l O r t e als a u c h P e r s o n e n
eines F a l l s {casus) e i n s c h l i e ß e n . 1 6 0 W i c h t i g ist d a b e i w i e d e r u m d e r B e g r e n z u n g s -
zen in der italienischen L y r i k (1500-1700) hat Corsaro, La regola e la licenza (1999) vorgelegt. Freilich sind satirische Lizenzen keine feste Größe. Im 17. und 18. Jahrhundert stehen sie in einem dynamischen Verhandlungsprozess zwischen Literatur, Poetik, Recht, Medizin, Pädagogik oder Theologie (dazu jetzt umfassend Deupmann, >Furor satiricus< [2002]). Vgl. im weiteren Umfeld auch die Forschung zu den spezifischen Lizenzen des Witzes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (etwa zur Tolerierung des Anstößigen oder der Kleruskritik in Fazetien Röcke, Lizenzen des Witzes [1999] und Barner, Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetien [1993], besonders S. 294-298). 157
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Sinemus, Poetik und Rhetorik (1978), S. 202 weist jedoch an mehreren Poetiken nach, dass dichtungsspezifische Freiheiten ausdrücklich nur auf der Elokutionsebene eingeräumt werden. Die Extension poetischer Lizenzen lässt sich für die Barockzeit also nicht streng vereinheitlichen. Vgl. zum Komplex fictio poetica in der Barockpoetik Fischer, Gebundene Rede (1968), S. 9éf.; auf die antiken Grundlagen wird unten im Abschnitt zur Fiktionslizenz in der historischen Abhandlung >De Licentia Poetica< (1700) von Bernhard Walter Marperger eingegangen. Opitz, Poeterey, S.26f. Uber die verschiedenen status informiert Ottmers, Rhetorik (1996), S. 1 4 0 - 1 4 2 . A n ähnlich herausgehobener Stelle beruft sich auch Sigmund von Birken auf die Freiheiten der >Umstände< (vgl. den Beginn der Vorrede zur >Aramena< von Anton Ulrich; Nachdruck bei Schöne, Das Zeitalter des Barock, S. 34). Die Poetik Hunold/Neumeisters formuliert allerdings gegenteilig: »Jedennoch aber beziehet sich die Licentia
aspekt; denn die Freiheiten der Gegenstände sind auch bei Opitz durch den Zusatz »Gleichwol aber soll man sich in dieser freyheit zue tichten vorsehen/ das man nicht der Zeiten vergeße/ vnd in jhrer warheit irre« entschieden limitiert. Die grundlegende Bedeutung der Begrenzung poetischer Lizenzen unterstreicht ein kurzer Ausblick auf das Verständnis in der antiken Rhetorik. Dort bestehen Lizenzen zunächst im Bereich der elocutio als Metaplasmen und Figuren.161 Fremdwörter dürfen nur dann gebraucht werden, wenn die Muttersprache keine angemessenen Bezeichnungen bereithält. Erlaubt sind Wortneuschöpfungen oder Abweichungen in Lautstand und Silbenzahl, die nach Schreib- oder Sprechweise unterschieden werden (vgl. ebd., S. 222). In Wortverbindungen versteht man licentia im Bereich der Ornatus-Lehre übergreifend als eine Form von freimütiger Rede (licentia): Die licentia ist nur dann eine Gedankenfigur, wenn sich der Redner die Freiheit zu offener Rede herausnimmt, obwohl er diese Freiheit nach den Forderungen des äußeren aptum eigentlich nicht hat. Der Redner vertraut darauf, daß das Publikum provozierende Gedankengänge und Formulierungen hinnimmt und daß es ihm darüber hinaus seine brüskierende Offenheit und Direktheit wohlwollend zugute hält. Wird die licentia richtig angewendet, >so werden die Zuhörer vor einem Fehltritt bewahrt, und der Sprechende wird für einen Freund von ihnen in der Wahrheit gehalten< (Her. 4,37). Die licentia ist daher mit List verbunden, häufig auch mit Schmeichelei und versteckter Ironie. 162
Licentia wird hier als παρρησία (>FreimütigkeitRedefreiheit< übersetzt wird. 163 Daneben begegnet licentia in der Rhetorik schließlich auch im Bereich der Redeteile (partes orationis). Innerhalb der Erzählung (narratio) wird die licentia als εξουσία den Mängeln (vitia) und Tugenden der Erzählung (virtutes narrationis) zur Seite gestellt.'64 Im Feld der narra-
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Poètica bloß auf die Sylben/ Reime/ Pedes/ Verse etc. Nicht aber auf die Haupt-C/rcumstantien und die Historie an sich selbst/ daß man z. E. bey einer Belägerung oder Kriege in alten Zeiten wolte Stücken/ Bomben und Carcassen mit aufführen« (Allerneueste Art, S. 5o8f.). Vgl. die folgenden Unterscheidungen nach dem Schema Ueding/Steinbrinks, Grundriß der Rhetorik ('1994), S. 333-339. Einschlägige Belegstellen bietet Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik ('1990), §471. Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik ('1994), S. 315; vgl. zur systematischen Einordnung der παρρησία wiederum das Schema ebd., S.338 (b 6) sowie die Belegstellen bei Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik ('1990), §761. Dazu Grasmuck, Redefreiheit und Staatsgewalt (1989), S. 531-543. Über Wort- und Begriffsgeschichte von παρρησία informiert Casevitz, Parresia (1992). Ursprünglich handelt es sich um eine politische Kategorie. So ist - in dem Sinne, wie zum Beispiel Wahlrecht zugleich immer Wahlpflicht einschließt - Redefreiheit in der antiken >Parresia-Kultur< nicht nur Grundrecht, sondern auch Verpflichtung. Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik ('1994), S. 335 unterscheiden im Bereich der vitia Dunkelheit (obscuritas), Zweideutigkeit (ambiguitas) und Drumherumreden (circumlocutio)·, im Bereich der virtutes werden Kürze (brevitas), Klarheit (perspicui-
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tío kann also in begründeten Fällen von den Tugenden abgewichen werden; und sonst als fehlerhaft bzw. >vitiös< empfundene Redeteile sind dann über die έξουσία gedeckt. 16 ' Ohne diesen Ausblick in die Rhetorik weiter zu vertiefen, wird licentia auch im Rhetorikkontext als durchgehend positiv besetzter Begriff erkennbar. Anders verhält es sich bei der lateinischen Begriffsverwendung im politischen Diskurs. 1 " Hervorhebung verdient in diesem Zusammenhang die antipopulare Verwendung des >LizenzVerteutschte und mit kurtzen Noten erklärte Poetereykunst Des vortreflichen Römischen Poeten, F L A C C U S , Q. HORATIUS< (1639) in den Anmerkungen die postulierte Freiheit der Poeten und Maler'73 mit folgender Einschränkung: Horatim antwortet denselbigen Einwurff/ das die Freyheit zwar Poeten gegeben sey/ doch nicht zum Mißbrauch/ so daß man nach belieben allerley Dinges vngereimpt durch einander mengen dürffte.' 74 169 170 171
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Hess, Poetik ohne Trichter (1986), S.22. Hunold/Neumeister, Aller-neueste Art, S. 509. Mit Aristoteles wird sie zumeist als Wirkungsfunktion gedacht (Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik P1994], S. 216). Fischer, Gebundene Rede (1968), S. 94. Wegen des Unterschieds zwischen >Unvermögen< und >Bewusstsein< bezeichnet man Lizenzen auch als »gewollte Verstöße« (Träger, Wörterbuch der Literaturwissenschaft [1986], S. 104). Vgl. dazu Horaz, De Arte Poetica, V. 9-13. Buchholtz' Anmerkungen sind zum Teil sehr ausführlich und für die Barockrezeption dieses zentralen Referenztextes der Barockzeit aufschlussreich. Sie wären einer genaueren Betrachtung durch die Forschung wert. Buchholtz, Verteutschte und mit kurtzen Noten erklärte Poetereykunst, S.45. Die
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Auch hier bestätigt sich, dass die poetischen Lizenzen, die im Hinblick auf Lautung, Wortbedeutung, Satzbau, Versmaß, Reim, Rhythmus, Stillage und Gegenstände (einschließlich historischer Tatsachen wie Ereignisfolgen oder Charakterdarstellung) bestehen, nicht »nach belieben« wahrgenommen werden dürfen. Werden die Kriterien der poetischen Funktionalisierung und »Bewußtheit« missachtet, handelt es sich folglich um echte Verstöße, die nach rhetorischem Verständnis als Soloezismen (Regelverstöße gegen Grammatik und Syntax) oder Barbarismen (Verstöße auf der Einzelwortebene) eingestuft werden.175 Diese qualitative Beschränkung der universellen Lizenz wirft im Einzelfall freilich Bewertungsprobleme auf, so dass sich etwa Gottfried Ludwig wieder auf die metrische Ebene zurückzieht und eine konventionalistische Position einfordert: »Die Licentz/ so man sich in Versen nehmen will/ sey üblich und bekandt«.'7De Licentia Poetica< Zur Beantwortung dieser Frage wird hier auf die Dissertation >De Licentia Poetica< von Bernhard Walter Marperger zurückgegriffen.'77 Obwohl dieser unter
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Einschränkung nicht »allerley Dinges vngereimpt durch einander« zu mengen, leitet Buchholtz aus dem Horazischen Verbot ab, Zahmes mit Wildem, Schlangen mit Vögeln oder Lämmer mit Tigern zu paaren (vgl. Horaz, De Arte Poetica, V. i2f.). Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik ('1990), §§496-527 zu Soloezismen und ebd., §§479-495 zu Barbarismen. Auf die besonderen Formen des Soloezismus wird in der zweiten Teilstudie im Abschnitt zu den Variationsmechanismen eingegangen. Das Kriterium der poetischen Funktionalisierung zur Unterscheidung von erlaubter und unerlaubter Abweichung wird unten im Rahmen der Integration poetischer Spielräume in die Abweichungspoetik genauer erörtert. Ludwig, Ternsche Poesie dieser Zeit, S. 333. Vgl. den daraufhin angefügten detaillierten Katalog »unverbotene[r] Licentien« ebd., S.333-335. Der Text blieb - soweit zu sehen ist - der Forschung bisher unbekannt. Der vor allem als Theologe und Lieddichter bekannte Bernhard Walter Marperger (1682-1746) studierte seit 1699 Philosophie, Philologie und Mathematik an der Universität Altdorf unter anderem bei dem Poetiklehrer Johann Christoph Wagenseil und dem Mathema-
der Aufsicht von Daniel Magnus Omeis entstandene Text in der Barockzeit vermutlich kaum Verbreitung gefunden hat - das Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts< (VD17) weist gegenwärtig nur zwei überlieferte Exemplare in Dresden und München nach - , handelt es sich um ein Textdokument, das exemplarisch über den Kenntnisstand im gelehrten Diskurs um 1700 informiert. Hauptquelle Marpergers ist die Poetik Scaligers; die Poetiken anderer humanistischer Bezugsautoritäten (Aristoteles, Horaz, Vida) werden nur kursorisch hinzugezogen. Der schlichte Aufbau des Textes führt in 19 durchnumerierten Abschnitten die gesamte Breite der Lizenzen von der Ebene der Silben (Prosodie/Metrik) über die Wortwahl bis zu den Gegenständen vor Augen. Das Hauptgewicht des Textes legt Marperger auf die Erörterung der Gegenstandslizenzen - ihnen widmet er fast die Hälfte der insgesamt 20 Seiten umfassenden Darstellung. Neben einigen Überlegungen zur Gegenstandswahl rekonstruiert dieser Teil Aspekte der umstrittenen Fiktionslizenz und legt in dieser Frage eine eigene Position dar. Während die insgesamt wenig originellen, vorwiegend historisch interessierten Ausführungen zur Metrik und Wortwahl im Wesentlichen die aus der lateinischen Literatur bekannten Lizenzen summarisch versammeln, haben die Abschnitte zu den Materienspielräumen eher den Charakter einer die Haltung des Verfassers einschließenden, kritischen Erörterung. Stellenweise lesen sich die Ausführungen zur Wort- und Gegenstandswahl sowie zur Fiktionslizenz zudem als implizite Stellungnahmen zu poetologischen Diskursen um 1700. Um dies zu zeigen, ist es sinnvoll, einen auf die Kernaussagen zugespitzten Uberblick über die einzelnen Abschnitte des Textes zu geben. Soweit möglich werden dabei die bisherigen Ausführungen zur licentia poetica einbezogen. Abschließend folgt dann der Versuch, die oben gestellte Leitfrage nach dem Ubereinstimmungsgrad von poetischen Spielräumen und Lizenzen vor dem erarbeiteten Hintergrund zu beantworten. Im ersten Teil seiner Abhandlung »Licentia Poetica circa coordinationem syllabarum et verborum« stellt Marperger die bekannten prosodischen bzw. metrischen Lizenzen der lateinischen Poesie zusammen.'78 Aufgezählt werden hier verschiedene Beispiele aus den Werken von Catull, Horaz, Lukrez, Marti-
tiker Johann Christoph Sturm (i. e. der Vater des Mathematikers und Architekturtheoretikers Leonard Christoph Sturm). Marperger wurde Oberhofprediger, Kirchen- und Oberconsistorialrat in Dresden. Er verfasste auf allen genannten Gebieten Schriften in deutscher und lateinischer Sprache. Als Promotionsvorsitzender der Dissertation wird der ausgewiesene Poetiker Daniel Magnus Omeis (1646-1708) genannt, der gleichfalls an der Universität Altdorf lehrte. >De Licentia Poetica< ist Marpergers früheste Schrift (vgl. zur Vita Marpergers auch den Artikel >Marperger, Bernhard Walther< in Zedlers >Universallexicon< 19 [1739], Sp. 1 6 5 1 - 1 6 5 8 mit einem Verzeichnis seiner wichtigsten Publikationen). 178
Vgl. Marperger, De Licentia Poetica, S. 4-7.
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al, Vergil u.a., die anzeigen, in welchen Fällen die prosodisch gegebenen Quantitäten in lateinischen Versen verschoben werden (vgl. S. 4-6). Marperger bezieht hierbei auch metrische Lizenzen der Komödie bei Plautus und Terenz ein (vgl. S. 7). Dabei wird immer wieder deutlich, wie der Freiheitsgrad vom jeweiligen Genre abhängt (erinnert sei in diesem Zusammenhang an die oben dargestellte Spezifik der satirischen Lizenzen). 17 ' Ohne diese Freiheiten im Einzelnen zu referieren, sei auf einige allgemeinere Überlegungen des Abschnitts hingewiesen. Marperger unterscheidet zunächst zwischen Poet und Grammatiker. Grundsätzlich erlaubt er dem Poeten, das Lager der Grammatiker (»Grammaticorum castra«, S. 5) beliebig oft zu verlassen. Dies begründet er entweder durch metrische Notwendigkeit (»necessitate metrica«, ebd.) oder eine gewisse virtus - hier im Sinne von poetischer Kraft oder poetischem Ausdruckswert, wie er etwa aus dem Klang (sonus) oder der Zierlichkeit (elegantia) entstehe (vgl. ebd.; im Hintergrund stehen die aus der Rhetorik geläufigen virtutes elocutionis und narrationislio). Auch Marperger nennt also die metrica nécessitas als typische Begründung für die Abweichung von Sprachnormen (s.o.). Auf prosodischer Ebene handelt es sich demnach um Sprachnormen, auf metrischer Ebene dagegen um poetische Regeln, von denen Lizenzen vorübergehend entbinden. Sprachnormen, poetische Regeln und Lizenzen werden somit in einen kommunikativen Interaktionszusammenhang gebracht. Marperger veranschaulicht diesen Zusammenhang in einem bemerkenswerten Vergleich: Quemadmodum enim utraque, inter quam flumen continetur, ripa non modo nullam moram parit, sed impetum addit undis, urgetque eas atque impellit, ut cursu concitatiore multo per alveum profluat; sic etiam legibus illis metricis excitan potius, trudi, ac rapi quasi Poëtae spiritum, ut nusquam haerere opus habeat, [...]. (S.6) l S l
Wie bereits im Silvenkontext kurz herausgestellt, greifen hier wiederum organologische Vorstellungen, indem Marperger die Poesie mit einem Flusslauf vergleicht. Dabei seien die beiden Ufer, zwischen denen ein Fluss entlanglaufe, nicht nur ein Hindernis. Vielmehr erzeuge das Ufer gleichzeitig Wellen und treibe auf diese Weise den Schwung des Wassers voran. Wie also das Ufer den Fluss belebe, so werde auch der Geist des Poeten (>Poëtae spirituskanalisierte< Freiheit des Wasserlaufs auf die besondere Freiheit der Poesie. Darüber hinaus verbildlicht er in der Vorstellung des Ufers schließlich, wie das ingenium sich erst im Spielraum entfalten kann, bzw. wie erst durch die >flexible< Handhabung der Gesetzmäßigkeiten eine lebendige Poesie entsteht. Mit Marperger kann die Vorstellung des Flusslaufs der Poesie daher als eine überaus treffende Spielraummetapher bestimmt werden. 182 In der Überleitung zum zweiten Teil »Licentia Poetica circa dictionem« hebt Marperger zunächst hervor, dass die Freiheiten des Poeten trotz der metrischen Einschränkungen im Bereich der Wortwahl deutlich weiter gefasst seien als die des Redners. Bei dieser Abgrenzung folgt er dem bekannten Beispiel Ciceros: Cicero Lib. II. de Oratorem ad Qu.fintum] Fratrem scribens: Numéris quidem adstrictiorem paulo Oratore, verborum tarnen licentia liberiorem esse Poëtam. (S. 7)
Mit dieser auch bei Marperger nahezu topischen Abgrenzung von Poesie und Rhetorik anhand der weitergehenden poetischen Freiheit (s.0.) 183 rückt der graduelle Begrenzungsaspekt von Lizenzen in den Vordergrund. Als solche erläutert werden im Einzelnen die Abweichungsmöglichkeiten im Wort wie Apharese, Synkope, Tmesis usw. sowie der in bestimmten Ausnahmefällen eingeräumte Gebrauch von Archaismen, Neologismen und Fremdwörtern (vor allem Gräzismen). Ausnahmslos wird hier auf die Gefahr des zügellosen Gebrauchs von Lizenzen aufmerksam gemacht. Dies sei zunächst am Beispiel des Fremdwortgebrauchs dargestellt. Auch hier ist nur das selten gebrauchte Fremdwort als Rarität zu begrüßen, während eine ungezügelte Verwendung Tadel auf sich zieht: Sic e. g. quia & raritas delectat ornamentumque affert, liciti sunt, imo suaves & elegantes, in Poësi Latina Graecismi; quando vero rarus atque insolens, quam planus Lati-
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Das dynamische M o m e n t der Flussmetapher - bei Marperger noch in der F o r m des bildlichen Vergleichs - lässt sich an die oben dargelegte Metaphorik des poetischen Waldes anschließen, da es, ähnlich der Vorstellung von Wachstum und Fortpflanzung, sowohl poetische Progression oder Innovation (vgl. Voranfließen des Wassers) als auch Kontinuität oder Traditionsbindung (vgl. Kontinuität des Wasserflusses) impliziert.
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Ahnliche Gegenüberstellungen finden sich ebd., S. 8 (Abschnitt VII), S. 10 und 1 1 (Abschnitt IX). Vgl. zu den Belegstellen in der lateinischen Literatur Lausberg, H a n d buch der literarischen Rhetorik ('1990), §983.
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ñusque videri Statius maluit, & nimia insolentium phrasium coacervatione ad affectationem usque libertate hac usus est, quaeque in Lyricis tantum Comicisque frequentiora, in Heroicum carmen immoderatius transtulit, cordatiorum omnium merito reprehensionem incurrit. (S. io)
Der Textausschnitt impliziert das >Maß halten< im Sinne des aptum und verdeutlicht exemplarisch, dass die Grenze der licentia allein durch Häufung (»coacervatione«) - hier von Gräzismen - überschritten wird. Als Folge des abundanten Gebrauchs wirkt der Stil gekünstelt (»ad affectationem«).' 84 Diese Argumentation zielt wiederum auf den graduellen Aspekt der Spielraumbeschränkung. Ahnlich verfährt Marpergers auf der Ebene der Stilfiguren: Q u o d ad Figuras attinet, quamvis magna earum, praecipue in affectuum regno, vis deprehendatur; cavendum tarnen, ne nimis frequenter adhibitae lectoris taediosum reddant animum; vitanda quoque perpetua affectatio ¡mmodicaque; verbo, phalerarum luxuria fugienda. Q u e m a d m o d u m enim in pictura fieri solet, ut umbris etiam relinquatur locus, quo magis, quod illuminatum est, exstare & eminere possit; ita & in carmine non omnia figuranda sunt, quo clarior figuratorum appareat elegantia. (S. 1 1 )
Auch hier betont er zunächst, dass die unmäßige Anwendung von Figuren vermieden werden muss. Marperger treibt die Begründung über den Vergleich mit der Malerei buchstäblich ins >Ästhetische< weiter; auf diese Weise öffnet sich im Text eine weitere Bildebene, die implizit der horazischen ut pictura poesis-Formel (>De arte poéticas V. 361) verpflichtet 1st.185 Denn ebenso wie in der Malerei auch dem Schatten Raum gegeben werde, damit das, was aufgehellt worden sei, nur umso deutlicher hervorstechen könne, solle auch in der Poesie nicht alles durch Figuren ausgestaltet werden. Nur so könne die einzelne bzw. seltene Stilfigur ins Auge fallen. Als >ästhetische< Begründung dient also letztlich das Prinzip der Kontrastierung (Gegensatz von hell/dunkel in der Malerei und Gegensatz von figurai ausgestaltet/ungestaltet in der Poesie). Die Argumentationsgänge, die das graduelle Moment des >Maß-Haltens< bzw. das Kontrast-Prinzip in den Vordergrund rücken, lassen darauf schließen, dass sich Marperger über den Text indirekt zu einschlägigen poetologischen Diskursen um 1700 positioniert. Im Hintergrund der Ausführungen zur puntas (als übertriebene Vermischung des Lateinischen mit Gräzismen) steht vermutlich die A la moJe-Kritik der Zeit, welcher sich Marpergers humanistisch orientierter Traktat offenbar anschließt. Die historische Abhandlung über die Lizenzen der antiken Literatur dient damit letztlich auch der Positionierung im
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Besonders der V o r w u r f der »affectatio« wird im anschließenden Abschnitt mehrfach wiederholt. Vgl. zur Wirkungsgeschichte der Formel - auch f ü r das 17. Jahrhundert - Markiewicz, U t pictura poesis (1987); Buch, U t pictura poesis (1972), besonders S. 1 1 - 2 5 oder Schweizer, T h e U t pictura poesis C o n t r o v e r s y (1972), K a p . 1. Die Affinität der Schwesterkünste in den Poetiken und Rhetoriken der Barockzeit, bei H a r s d ö r f f e r , Birken u.a. beleuchtet aktuell Hess, » N a c h ä f f i n der N a t u r « (2000).
Feld der Querelle auf Seiten der Anciens. Zugleich klingen in der dezidierten Ablehnung der Häufung
als Dichtungsprinzip, das gern als typisch >barock
klassizistische< Formstrenge pochende Position innerhalb des galanten Diskurses um 1700 zu verorten. 188 Im dritten Teil seiner Untersuchung »Licentia Poetica circa res ipsas« erörtert Marperger schließlich die Gegenstandsspielräume. Gegliedert wird hier nach Lizenzen der Gegenstandswahl und der Fiktionslizenz. Bezogen sich Marpergers bisherige Ausführungen auf Freiheiten gegenüber den Regeln der Sprache, Metrik und Ornatus-Lehre, erweitert sich das Untersuchungsfeld nun also auf die Inhalte der Poesie und ihren pragmatischen Bezug. Dieser Teil bildet den weitaus umfangreichsten des Textes und sei wiederum nur in Grundzügen skizziert. Zur Gegenstandswahl führt Marperger zunächst aus, dass der Poet weniger seiner Natur (natura) als vielmehr seinem gewachsenen Schamgefühl {verecundia) folgen solle; hässliche oder obszöne Gegenstände würden dadurch vermieden (»quod vel auditu vel aspectu obscoenum ac turpe est, fugiendum censet«; S. 12). 1 8 9 Marperger berührt hier also den Bereich der Moral, wobei wiederum das >Schickliche< (decorum) als spielraumbegrenzende Kategorie genannt wird. Die Darstellung von Lastern erlaubt Marperger nur, sofern sie der Abschreckung (atrochas) dient. Dies veranschaulicht ein weiterer Vergleich von Poesie und Malerei: Q u a n d o descriptione vivida vidi alicujus, vel hominis ilio polluti, detestandam raagis ejus faciem reddere possunt. V b i pictoriam artem imitari Poësin statuunt; quarum illa veluti no[n] Veneres tantum depingit & Gratias, Thersitas etiam, Saty[ros] [a]c foedissima quaeque monstra: sie hanc humanae vitae pandere Theatrum, inque eo virtutes
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Sehr deutlich bei Szyrocki, Die deutsche Literatur des Barock (1979), S. ^ji. Vgl. zur Produktion und Rezeption manieristischer Sprachformen im deutschen Barock sowie zur Schwulst-Kritik der A u f k l ä r u n g die grundlegende Studie von Schwind, Schwulst-Stil (1977). Vgl. zu den verschiedenen Diskursformationen Niefanger, D i e Chance einer ungefestigten Nationalliteratur (2001) und Ders., Galanterie (2000). In der Unterscheidung von natürlicher Scheu (»naturalem pudorem«) und Schamgefühl stützt sich der Verfasser explizit auf Samuel Pufendorfs >De Iure Naturae et G e n tium Libri octo< (1672; vgl. ebd.). A n die Existenz eines natürlichen Schamgefühls mag Marperger nicht glauben. Die Akzentuierung des gewachsenen Schamgefühls steht dabei im Kontext der A u f w e r t u n g der Geschmackskategorie (bon goût) im poetologischen Diskurs um 1700 (vgl. dazu Fick, Artikel >GeschmackSpielraum< des Theaters soll dabei die Wirkung über den Chor in seiner Funktion als Kommentator gelenkt werden. 1 ' 0 Zum anschließenden Komplex der seit Aristoteles kontrovers diskutierten poetischen Fiktion führt Marperger einleitend einige gelehrte Positionen ins Feld (Aristoteles, Masen, Scaliger, Vida, Vossius u.a.) und erläutert den Gegensatz zwischen Fiktion und Historie, das Ähnlich- und Wahrscheinlichkeitspostulat sowie die gelehrte Diskussion um die Etymologie von >poetaPalaestra Eloquen190
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*[···] ajunt, aut sapientes & seniores in Comoediis, Choros in Tragoediis vitiosa reprehendisse, animisque ad bene vivendi rationem viam monstrantes induxisse.« (ebd.) Vgl. Näheres zu Fiktionsdiskurs und Fiktionskonzepten der Barockzeit bei Trappen, Fiktionsvorstellungen der Frühen Neuzeit (1998). Aus der Vielzahl von Spezialuntersuchungen zu den frühen Formen der Fiktionskritik bei Piaton, Hesiod, Solon, Xenophanes, Heraklit, Pindar u. a. sei verwiesen auf Rosier, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike (1980); zur Fiktionskritik seit der Antike lässt sich auf Schlaffer, Poesie und Wissen (1990) zurückgreifen. Unerörtert bleibt bei Marperger die ethisch dimensionierte licentia zur ironisch distanzierten Aussage (als spezifischer Form unwahrhaftiger Rede; dazu Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik P1990], Vgl. »[...] ut ille, qui fingit, imprimis Poëta appelletur; si is tantum nonpenitus privetur titulo hoc, qui minus comminiscitur.« (S. 15)
tiae ligataeHohen Lied< Salomos akzentuiert.'96 Von hier aus lässt sich zu Marpergers Position gegenüber der christlich geprägten Mythenkritik der Zeit überleiten. Denn scheint ihm bis dahin hinreichend klar, dass dichterische Fiktion an sich legitim sei, sofern sie - nach dem Diktum des Horaz - sowohl nütze als auch erfreue, stellt sich nun die aus seiner Sicht schwieriger zu beantwortende Frage, ob heidnische Dichtungen - gemeint sind hier die Erzählungen der griechisch-römischen Mythologie - überhaupt zum Gegenstand christlicher Poesie gemacht werden dürfen: D u m ex adhuc dictis (ut ego quidem opinor) satis patet, Poetas, si, ut delectando doceant. fingunt. jure fingere; nemo, credo, negabit, etiam ab aliis, eadem intentione & cum judicio fictis, uti illos posse. Sed plus adesse difficultatis videtur, quando in specie quaerunt, an Ethnica quoque sigmenta adhibere Christiano liceat? (S. 17)
Da der Diskurs über die Legitimität mythologischer Elemente in poetischen Texten für das 17. Jahrhundert kaum erforscht ist, sei der Text an dieser Stelle etwas genauer betrachtet. Generell vertritt Marperger in der gestellten Frage den Standpunkt, dass die Rezeption mythologischer Dichtungen in der Poesie erlaubt sei. Dies mag gerade im Fall des humanistisch ambitionierten Gelehrten Marperger wenig überraschen, nicht zuletzt da er sich in Altdorf im Umkreis des mytheninteressierten Poetiklehrers Magnus Daniel Omeis bewegte. 197
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Buch I, Kap. VII, S. 14. Vgl. bei Masen falsch »avidus«, ebd. Mit Masen stellt Marperger zudem die rhetorische Frage, was letztlich das G e w ü r z ohne die Speise (der Wahrheit) ausmache (»Quid vero condimentum absq[ue] cibo faciat?«; ebd). Vgl. »Unde, ni fallor, etiam propullulat ratio, cur nec ipse Deus in sacris literis abstinuerit parabolis: Christusque saepissime usus iisdem sit.« und »[...] praecipue vero ilio adhuc, quod sanctos etiam vates finxisse negari non potest, cum vel solus Salomo in Cantico Canticorum luculentum exemplum praebeat [...].« (S. 14) Immerhin wurde Omeis als Verfasser eines der wenigen mythologischen Handbücher der Barockzeit (Teutsche Mythologie; 1704) bekannt. Das Handbuch selbst ging freilich erst nach Marpergers Abhandlung in den Druck.
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Aufschlussreich ist gegenüber der grundsätzlichen Haltung daher, wie Marperger die liberale Position im Einzelnen begründet. Insgesamt entwickelt er sie im Stil einer rhetorischen Beweisführung (argumentatio), in der widerlegende und bestätigende Beweismittel bzw. Autoritäten nach dem Muster von refutado und probatio ineinander greifen. Zunächst führt er die Gegenpositionen an. Während er dabei nur kurz auf ablehnende Äußerungen bei Tertullian und Augustin hinweist, zitiert er wiederum eine Partie aus Masens >Palaetra Eloquentiae Ligatae< ausführlich, 19 ® in der die antike Mythologie als eine über die Ordnung der Natur emporstrebende (»supra naturae ordinem elevandis«) Lüge der Heiden (»ethnicorum vanitati«) verworfen wird (S. 17). An dieser Stelle wendet sich Marperger jedoch gegen die sonst für ihn maßgebliche Autorität Masens - übrigens nicht ohne hinzuzufügen, dass Masen sich selbst nicht an sein Verdikt gehalten habe (vgl. ebd.) - , indem er einem Urteil aus August Buchners Stillehre >De commutata ratione< folgt. Demnach entspreche es einem abergläubischen Verhalten erst recht, wenn man heidnische Dichtungen völlig meide. 1 " So meint Marperger schließlich gegen Masen einwenden zu können, dass die mythologischen Bezeichnungen im Laufe der Geschichte ihre ursprüngliche Bedeutung abgelegt hätten und gerade nicht mehr die den Dingen vorangestellten Götter bezeichneten, sondern nunmehr allegorisch auf die Dinge selbst verwiesen. 100 Diese Argumentation offenbart eine Geschichtskonstruktion, in der Marperger unter Berücksichtigung des jeweils spezifischen zeitlichen Umstands (»conditio temporum«; S. 17) zwei Stadien differenziert. Als erstes wird ein christliches Frühstadium genannt. Für dieses erste Kirchenzeitalter räumt Marperger zunächst ein, dass die Ablehnung der heidnischen Mythologie aus zwei Gründen selbstverständlich und gerechtfertigt sei: Zum einen konnte gerade der Glaube der erst kürzlich bekehrten Christen durch mythologische Dichtungen erschüttert werden, zugleich habe zum anderen die Gefahr bestanden, dass die Aufnahme mythologischer Elemente in christlichen Texten nach außen hin nur allzu leicht als eine gewisse Akzeptanz des Aberglaubens ausgelegt werden konnte. 201 198
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Buch I, K a p X I , S . 2 4 f . »>Abstinere in totum superstitioni cuidam videatur simile: promiscue omnibus, & ubivis uti, irreligiositas fueritMythos, M y t h o l o g i e s in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie 6 [1984], Sp.283f.). »Scil.ficet] prima ecclesiae aetate e re erat talibus abstinuisse: partim quia exemplis illis
Von hier aus unternimmt Marperger nun einen gewaltigen Sprung in das zweite Stadium der >JetztArbeit am Mythos< empfiehlt, wenn ein >heidnischer< Verfasser nachgeahmt werden solle: Licet itaque, licet inquam, adhibere talia, praesertim ubi continuandus imitandusve auctor ethnicus; aut Comoediae, Satyrae, & similia his componenda. (S. i8)
Wenn an dieser Stelle also unvermittelt ein Bezug zur >JetztDe Licentia Poetica* in seiner > M Y T H O S C O P I A R O M A N T I C A * (1698) auf biblische Fabelverbote berief. 202 Marperger bezieht demgegenüber die Gegenposition, indem er die Fiktionslizenz grundsätzlich einräumt. Allerdings formuliert auch er eine Spielraumbeschränkung, die wiederum theologisch begründet ist. Danach hätten >heidnische< Dichtungen oder Wörter in der Poesie nur dann keinen Platz, wenn - Marperger zitiert hier erneut zustimmend aus Buchners >De Commutata ratione< - gleichzeitig von Engeln, Aposteln oder Christus gesprochen werde. Auch dürfe man bei christlichen Weihehandlungen wie der Eucharistie niemals heidnische Begriffe verwenden und für Brot >Ceres< anstelle von >Panis< oder für Wein >Lyaeus< bzw. >Bacchus< anstelle von >Vinum< sagen.203 Erst eine Vermischung von mythologischen und geistlichen Dichtungselementen gilt damit aus der Sicht Marpergers als Spielraumüberschreitung. Prononciert formuliert Marperger an dieser Stelle erneut die Gegenstandsspezifik von Lizenzen. So sind die Lizenzen in mythologisch geprägten Texten weiter als in geistlichen Texten gefasst. Während die Materienspielräume der geistlichen Poesie auch nach Marperger eng gezogen sind, kann sich in mythologischen Dichtungen eine Spielfreiheit entfalten, die in der Barockzeit gerade
infirman recentium Christianorum conscientiae potuissent; partim vero quod gentilium superstitioni aliqua ratione favere quis fuisset visus.« (ebd.) 202 203
D a z u Trappen, Fiktionsvorstellungen der Frühen Neuzeit (1998), S. 145. » Q u o d si vero vel de ignoto gentilibus argumento [...] vel >de sanctissimis fidei nostrae capitibus & sacramentis loquendum est; aut Christo Servatori in Dramate aliquo; vel angelo etiam, Apostolove tribuendus est sermo, talibus locus ullus haud est: nec unquam de verendis Eucharistiae mysteriis agens, aut Cererem pro pane, aut L y a e u m vel Bacchum pro vino, quae ibi porrigunturArgenisSpiels< (Indus) in den Blickpunkt. 2 0 7 A u f nehmen lässt sich daher der bereits bei den Silven thematisierte Zusammenhang von poetischen Spielräumen und literarischer Spielfreiheit. So wird in dem zi204
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Vgl. zum Kontext die Forschungshinweise bei Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie ( 2 20oo), S. i6of. sowie den konzisen Uberblick zu den historischen Hauptpositionen (Aristoteles, Piaton, Lukian, Sidney u.a.) ebd., S . 9 - 1 9 . So in der von Schulz-Behrend besorgten historisch-kritischen Ausgabe der OpitzUbersetzung von Barclays >Argenis< (1626), S. 630 (im Folgenden wird nach der Paginierung von Schulz-Behrend zitiert). Vgl. zur gelegentlich zu beobachtenden ironischen Distanzhaltung des N i c o p o m p u s als Barclays »Sprachrohr« Siegl-Mocavini, J o h n Barclays >Argenis< (1999), S. 23 sowie den Forschungsüberblick ebd., S. 1 1 - 1 4 . Vgl. den Text bei Marperger, D e Licentia Poetica, S. 20: » N e c displicet Barclajus in III. Argenidis libro dicentem introducens N i c o p o m p u m suum: >ita esse Poëseos genium, ut ad aurium voluptatem exerret extra verum, eo quidem licentius, quod, cum sciat sibi non credi, quicquid fingit, innocentis potius ludi, quam inverecundi mendacii res sitArgenis< ( 1 7 0 1 ) , indem er ludus mit >Scherz< übersetzt: »Denn was wäre die A r t der Poesie/ daß sie die Ohren zu vergnügen von der Wahrheit ausschweife/ und z w a r desto freyer/ weil sie wisse/ daß ihr nicht gegläubet werde/ was sie dichte/ so sey es mehr eine Sache eines unschuldigen Schertzes/ als einer unverschämten Lüge.« (Barclay, Die durchlauchtigste Argenis [...] von Talander, S. 597)
tierten Textausschnitt der >Argenis< auf ungewöhnlich deutliche Weise ein kausaler Zusammenhang zwischen dichterischer Freiheit und poetischem Spiel hergestellt (»eo quidem licentius, quod. cum sciat sibi non credi, quicquid fingit, innocentis potius ludi, quam inverecundi mendacii res sit«; S. 20). Damit wird nicht nur das unschuldige Spiel< des Poeten als wesentliches Grundmerkmal der Poesie bestimmt, sondern auch herausgearbeitet, dass die Freiheit des Poeten im Kern eine besondere >SpielSpielSpielRäume< eingrenzt und öffnet. Wenn im historischen Begriffsfeld keine passende Bezeichnung existiert, die die gesamte Breite poetischer Spielräume abdeckt, mag es zu2.0
2.1
66
Dies wird auch in der Forschung nicht konsequent unterschieden (vgl. z.B. Pietsch, Artikel >Poetische LizenzSpielraumIhr AbweicheierKunstphilosophie< gerechtfertigt (Rezension zu Harald Fricke: Gesetz und Freiheit, in: KulturPoetik 2 [2002]). Daher wird der Präzisierung poetischer Spielräume der frühere - dezidiert auf Literatur bezogene - Entwurf >Norm und Abweichung< ( 1 9 8 1 ) zu Grunde gelegt. Dazu Budde, Besprechung von >Norm und Abweichung« (1987), S. 375. Fricke selbst bezeichnet sein Modell in systematischer Hinsicht als »so generell wie möglich, in literaturgeschichtlicher Hinsicht jedoch so differenziert wie nötig« (Fricke, N o r m und Abweichung - Gesetz und Freiheit [1995], S. 506). Anz: Artikel >AbweichungSprachnormzerbrechlich< ist nach Ryle bestimmt; das Verb >wissen< dagegen bestimmbar (der Sinn von >wissen< erschließt sich nur über den jeweiligen Kontext). In dem Entwurf der Abweichungsästhetik unternimmt Fricke einen umfassenden Bestimmungsversuch des >Funktionsinterne< vs. >externe Funktion< um die pragmatische Wirkungsfunktion< schlägt Zymner vor (vgl. Manierismus [1995], S.353). Fricke, Norm und Abweichung (1981), S.96.
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tät wird dabei die Ähnlichkeitsrelation gegeben; das Unterscheidungskriterium ist folglich Transitivi tät.241 Ein dritter grundsätzlicher Einwand betrifft schließlich den Begriff àtrpoetischen Abweichung. Dieser könne keinesfalls als hinreichendes Bestimmungsmerkmal jeglicher Dichtung dienen/ 42 Damit richtet sich die Kritik gegen den Totalitätsanspruch der Abweichungspoetik. Dieser Kritik wird hier insofern gefolgt, als nicht jede poetische Sprachverwendung durch eine Sprachnornrzyerletzung erklärt werden kann. Martinez/Rühling werfen Fricke vor, genau dies zu versuchen, indem er eine poetische Abweichung als »Verletzung sprachlicher Normen« präzisiere. 243 So kommen sie zu dem Ergebnis, dass Fricke eine gewisse dichterische »Freiheit von Normen« bzw. die » Andersheit« poetischer Sprache mit Normverstoßen verwechsele. 244 Thomas Anz kritisiert Fricke ähnlich: Individualitäts- und Originalitätsansprüche [von Dichtern] lassen sich keineswegs nur durch Abweichungen von der N o r m realisieren, sondern auch in der kreativen Interpretation von N o r m v o r g a b e n und in der Ausgestaltung des freien Spielraums, den N o r m e n in mehr oder weniger starkem Maße offenlassen. 2 4 '
Damit gibt Anz nicht nur das Stichwort des >SpielraumsAbweichungsAbweichung< daher im Folgenden in Anlehnung an das linguistische Verständnis als »neutraler Oberbegriff« verstanden.246 Denn hierunter fallen sowohl sprachliche Normverstöße als auch das unten näher zu präzisierende Agieren im >freien Spielraums
141
Vgl. Bochenski, Grundriß der Logistik C 1 9 7 3 ) , S. 108. Fricke (ebd., S.96) führt aus, dass diese drei Klassen von Relationen mit ihren Negationen die Möglichkeiten interner Funktionsbindung erschöpfen. Im Gegensatz dazu lässt sich fragen, ob nicht auch die Partim-Relationen (dazu Bochenski, Grundriß der Logistik [ 4 i 9 7 3 ] , S. io6f.) intern funktionalisiert sein können. Blickt man in die Barockzeit, lassen sich beispielsweise die Verse in Christian G r y p h i u s ' >Ungereimtem Sonett< (vgl. den Text bei Wagenknecht, Gedichte 1 6 0 0 - 1 7 0 0 , S. 343) durch die interne Funktion »x reimt sich mit y nicht« beschreiben. Denn wegen des programmatischen Titels ist diese Relation durchaus als poetisch funktionalisiert anzusehen. Die Relation muss dabei logisch als symmetrisch η irreflexiv r\partimtransitiv bestimmt werden. Transitiv ist die Relation deshalb nicht, weil - auch wenn ein χ und ein y sich nicht reimen und ein y und ein ζ sich nicht reimen - χ und ζ gleichwohl einen Reim bilden können (die Platzhalter stehen in diesem Fall f ü r die Sonettverse).
242
Vgl. Martinez/Rühling, Literatur als Abweichung? (1986), S.390. Fricke, N o r m und A b w e i c h u n g ( 1 9 8 1 ) , S.87. Martinez/Rühling, Literatur als A b w e i c h u n g ? (1986), S.390. A n z , Soziologie literarischer N o r m e n (1984), S. 1 3 7 . Dittgen, Regeln f ü r Abweichungen (1989), S. 17. >Abweichung< bezeichnet in diesem Sinn >AndersartigkeitAbweichungsAbweichung< als einen Oberbegriff zu fassen, der nicht zwangsläufig die Vorstellung des Normverstoßes impliziert. Martin Opitz erörtert in seiner Poetik die Möglichkeiten der rhetorischen Abweichung nicht, vermutlich da sie in die Domäne der Rhetorik fallen, die in der Barockzeit grundsätzlich als Normhintergrund der Poetik mitzudenken ist. 2 ' 0 Allerdings ist man sich trotz der »Unbrauchbarkeit des landläufigen Literaturbegriffs« 2 ' 1 selbstverständlich auch im 17. Jahrhundert der Andersartigkeit poetischer bzw. versifizierter Rede bewusst, welche in Poetiken scharf gegen die niedriger stehende Varietät der Gemeinsprache abgesetzt wird. Stellvertretend erhärtet dies die Poetik August Buchners. Dieser grenzt im zweiten Kapitel seiner >Anleitung Zur Deutschen Poeterey< (1665) die Sprache des Poeten gegenüber der des Redners (>OratorHistoricusgemeinen Art< d e r S p r a c h v e r w e n d u n g a b g e s e t z t . D a b e i ist sie b u c h s t ä b l i c h e r h ö h t ( » u n t e r sich trit«); z u g l e i c h w i r d die Idee der poetischen A b w e i c h u n g theologisch perspektiviert, da B u c h n e r >göttlich scheinende< p o e t i s c h e S p r a c h e u n d G e m e i n s p r a c h e ( e i n s c h l i e ß l i c h der R e d e und Geschichtsschreibung) einander gegenüberstellt.2'3 V o r s i c h t ist i n d e s s e n w i e d e r u m b e i d e r B e t o n u n g d e s s p r a c h
verletzenden
M o m e n t s a n g e b r a c h t . A u c h in d e n S p r a c h t h e o r i e n des 1 7 . J a h r h u n d e r t s ist d i e S p r a c h r e i n h e i t (puritas)
eine d e r G r u n d t u g e n d e n ( v i r t u t e s ) d e r P o e s i e . 2 ' 4 D i e
P e r s i s t e n z s o l c h e r V o r s t e l l u n g e n e r w e i s t s i c h n o c h bei G o t t s c h e d , d e r in e i n e r p r ä g n a n t e n F o r m u l i e r u n g in d e r v i e r t e n A u f l a g e s e i n e r > C r i t i s c h e n D i c h t k u n s t die f e h l e r f r e i e B e h e r r s c h u n g d e r M u t t e r s p r a c h e als G r u n d e i g e n s c h a f t des P o e ten n e n n t : Ich weis nicht, ob ich zum Beschlüsse noch eine gute Eigenschaft eines Dichters beybringen soll: weil es beynahe eine Schande ist, sie namhaft zu machen, da sie sich eigentlich von selbst verstehen sollte. Es ist diese, daß ein guter Dichter auch seine Sprache recht verstehen und nicht nur ohne Fehler, sondern in der größten Vollkommenheit schreiben sollte. Es würde ganz überflüssig seyn, dieses zu erinnern, wenn sich nicht seit einiger Zeit solche Sprachverderber gefunden hätten, die durch ihr Exempel, ja wohl gar durch ausdrückliche Regeln die seltsame Vorschrift geben: Ein Dichter wäre über alle Regeln der Sprachkunst erhoben. Was für ungereimtes Zeug dieser Lehrsatz uns schon hervorgebracht, liegt am T a g e . 2 " A u s g e p r ä g t e s B e w u s s t s e i n f ü r die A n d e r s a r t i g k e i t p o e t i s c h e r S p r a c h v e r w e n d u n g u n d s i c h e r e B e h e r r s c h u n g d e r S p r a c h e s i n d in d e r F r ü h e n N e u z e i t a l s o zusammengedacht.
252
Buchner, Anleitung Z u r Deutschen Poeterey, S. 16. " Insofern ist weltliche Dichtung in der Barockzeit »verborgene Theologie«, wie es Opitz formuliert (Poeterey, S. 12; vgl. dazu Schöne, Verborgene Theologie [2000], S. γί.). V o n hier aus ergeben sich gleichwohl bemerkenswerte Ubergänge bis in den Bereich der »offene[n] Erotik« (Marx, Heilige Seelen-Lust [1998], S. 209). 2 4 ' Sprachreinheit wird im doppelten Sinn verstanden. Einerseits bezieht sich die Forderung auf das Vermeiden von Fremdwörtern, andererseits zielt sie auf die Einhaltung der (grammatischen) Sprachrichtigkeit (im Lateinischen als latinitas gefasst; vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik [ 3 1990], § 463). Im Hintergrund steht der ausgeprägte »Sprachpatriotismus« der Zeit (vgl. zu diesem Komplex die Zusammenfassung von Martus, Sprachtheorien [1999] mit Hinweisen auf die einschlägige Forschung; hier S. 148). 2
25 5
74
Gottsched, Critische Dichtkunst, S. 1 1 7 .
2.3-2 Entwurf des Integrationsmodells poetischer Spielräume Bei der eigentlichen Begriffsbestimmung von >Spielraum< (latitudo) kann von der vermutlich aus der Mechanik entlehnten Bedeutung ausgegangen werden, die ungefähr seit Christian Wolff die Differenz zwischen Geschützkaliber und Geschossdurchmesser bezeichnet. 2 ' 6 Das Bestimmungswort des Determinativkompositums >Spielraum< verdankt sich allein dieser Verwendung in der Handwerkersprache und begegnet heute noch in dem Phraseologismus >Spiel haben^ 2 ' 7 Im übertragenen Sinn bietet ein Spielraum also verschiedene Handlungsmöglichkeiten in vorgegebenen Grenzen (erinnert sei in diesem Zusammenhang an die mehrfach herausgestellte Bedeutung des Begrenzungsaspekts).258 Ein poetischer Spielraum stellt nun eine Bewegungsmöglichkeit innerhalb der Sprache dar, die von sprachlichen Spielräumen anhand von Frickes Kriterien für Poetizität unterschieden werden kann. Deswegen wurde und wird auch im Folgenden von »poetischen« Spielräumen in dem gleichen Sinn gesprochen, in dem Fricke von poetischen Abweichungen spricht. Dies setzt allerdings voraus, Spielräume als spezifischen Raum iürpoetische Abweichungen aufzufassen. Letztere präzisiert Fricke als Verletzungen sprachlicher Normen, die - wie bereits erläutert - eine nachweisbare interne oder externe poetische Funktion erfüllen (>PoetizitätspoetischSpielraumSpiel< in: Wahrig, Deutsches Wörterbuch (2000), S. 1 1 7 8 . D e r mechanische >SpielGeschossbewegung< (vgl. die Redewendung >die Kanonen spielen lassenSpielraumBuch von der Deutschen Poeterey< ( 1624) hat Martin Opitz eine Vielzahl zum Teil übernommener Regeln aufgestellt, die mit Fricke als explizite Quasi-Normen bestimmt werden können. Verstöße gegen innerliterarische Quasi-Normen sind als »sekundäre Abweichungen« präzisiert (ebd., S. 164), weil sie nicht nur von den impliziten Normen der Sprache, sondern zugleich von den innerliterarischen Quasi-Normen der Poetik abweichen. Eine Quasi-Norm unterscheidet sich dabei von einer Norm dadurch, dass die Verletzung einer Quasi-Norm in der Regel keinerlei Sanktion nach sich zieht; stattdessen wird sie oftmals sogar als besonders >poetisch< anerkannt. Sollte ein >Quasi-Norm-Verstoß< dennoch kommunikative Sanktionen zur Folge haben, so würden diese nach Fricke von einem Dichter »kaum jemals akzeptiert werden « (ebd.; Hervorh. i. Orig.). Opitz hat nun für das Sonett unter anderem folgende Quasi-Normen aufgestellt: Ein jeglich Sonnet aber hat viertzehen verse/ und gehen der erste/ vierdte/ fünffte und achte auff eine endung des reimens auß. Es gilt aber gleiche/ ob die ersten vier genandten weibliche termination haben/ und die anderen viere männliche: oder hergegen. 260
In dieser Anweisung wird mit der Formulierung »Es gilt aber gleiche« hinsichtlich der Kadenzen im Vers ausdrücklich ein Spielraum formuliert, so dass zum Beispiel sowohl Paul Flemings Sonett >An sichSpielräumeNormierungslücken< zusammen.263 Zum anderen wird der >AbweichungsAndersartigkeit< (s.o.) - können also entweder als reine »Verletzungen«264 oder aber als Spielarten realisiert sein. Diese beiden Möglichkeiten müssen als zwei grundsätzliche Abweichungstypen unterschieden werden. Eine reine Verletzung oder Übertretung liegt ausgehend von der Opitzschen Sonettdefinition zum Beispiel in Christian Gryphius' bereits erwähntem >Ungereimten SonnettSonett nach Opitz< zu sprechen. Die Schulzugehörigkeit klärt demnach die Grenzen eines Genrespielraums. Textsorten sind demgegenüber systematisch bestimmt. Der systematische >Rahmen< oder Spielraum ist dabei durch eine »Werschränkung von Konjunktion und Alternation, von notwendigen und alternativen Merkmalen« begrenzt (ebd., S. 146; Hervorh. i. Orig.), die zur Herleitung einer Textsortendefinition dienen. Da unten Epigramm und Sonett genauer untersucht werden, sei dieses Verfahren an beiden Textsorten illustriert. Den Versuch einer Textsortendefinition für das Sonett unternimmt Fricke selbst. Gattungskonstituierend für das Sonett als Textsorte sind hiernach folgende Bedingungen: (1) Der Text ist abweichend durch Versgliederung (2) Als interne Funktion der abweichenden Gliederung erfüllen die Verse mindestens eines der folgenden metrischen Schemata: (a) 2 χ 4 + 2 χ 3 Verse (b) 3 χ 4 + 2 Verse (c) 4 χ 3 + 2 Verse (d) 2 χ 4 + 2 χ 3 + ι, 2, 3 oder η χ 3 Verse.270 Eine entsprechende Textsortendefinition, die allerdings weniger von der für solche Demonstrationen besonders geeigneten metrischen Ebene ausgeht, hat für das Epigramm Peter Hess vorgelegt. Gattungskonstituierende Merkmale sind hiernach: (1) Schriftlichkeit (2) Versgliederung (3) Objektbezug (Nichtfiktionalität) (4) Titel 269
170
80
Freilich gelten für Quasi-Normen nicht die >harten< Kriterien des >KonsensesSpielSpielSpielSpielSpielDeutsches Aerarium Poeticum oder Poetische Schatz-Kammer< (167$) verzeichnet zum Beispiel:
279 280 281 282
Vgl. von Wiese, Vom Spielraum des novellistischen Erzählens (1962), S. 14. Barner, Spielräume (2000), S.63. Vgl. Huizinga, H o m o Ludens (1966). Wehrli, Poeta Ludens (1985), S. 193.
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Das alte/ angenehme/ aufrichtige/ begierige/ ergötzliche/ eyfrige/ fröliche/ Geldgierige/ Gewinsüchtige/ gewins-volle/ hadderhaffte/ haddersüchtige/ hündische/ keusche/ kriegrische/ lange/ leichte/ liebliche/ neidische/ räubrische/ reuige/ schertzende/ schertzhafte/ stoltze/ süsse/ thörichte/ übbige/ verdammte/ verhitzte/ Vernunft-lose/ ungeschickte/ unzeitige/ wachsame/ zarte/ Zeitkürtzende/ zornsüchtige/ zugelaßne Spiel. Das leichte Kartenspiel. 2 8 3
Ähnlich versucht Johann Hübner im »vollständigen Reimregister« seiner Poetik >Neu-vermehrtes Poetisches Handbuch< (1696) den >SpielSpielSpielSophonisbe< Lohensteins »als Metatext über die Universalität des homo Indens« in der Barockzeit, 287 dem letztlich alles zur »>spielenden< Disposition« steht (ebd., S. 266). Besonders einschlägig sind zudem die Spieltexte Catharina Reginas von Greiffenberg, deren Sonette auf das teleologisch perspektivierte göttliche Spiel verweisen und den Schöpfer-Gott 28j 284
285
Bergmann, Schatz-Kammer, S. 1208. Hübner, Poetisches H a n d - B u c h , S.484 (die K o m m a t a sind hinzugefügt, im Orig. ist die A u f z ä h l u n g tabellarisch). Matuschek, Literarische Spieltheorie (1998), S. 1 1 8 . D e m assoziativen Potential korrespondiert bei Bergmanns Schatzkammer, dass deren Verzeichnisse »keinerlei logische Steuerung« aufweisen (van Ingen, Strukturierte Intertextualität [1994], S. 292).
286
Wehrli, Poeta Ludens (1985), S. 194. In dieser Schärfe kann der Feststellung Wehrlis allerdings nicht zugestimmt werden. Gerade in den galanten Schulpoetiken der Barockzeit gibt es wichtige Ausnahmen (vgl. in der dritten Teilstudie das Kapitel zur poetologischen Präsenz des >SpielSpielSpielFunktionslust< erscheint, (ebd.) In diesem Präzisierungsversuch klingen zahlreiche >SpielKurzweil< und schafft einen Arbeitsausgleich zur E r h o l u n g (otium), indem es unterhält (vgl. die im 17. Jahrhundert häufig verwendeten S y n o n y m e >SpielScherz< oder >SpaßSpielScherzEbenbild unsers Lebens< von Andreas Gryphius gibt hierfür ein berühmtes Beispiel: Ebenbild unsers Lebens. Auf das gewöhnliche König-Spiel. D E r Mensch das Spil der Zeit/ spilt weil er allhie lebt, Im Schau-Platz diser Welt; er sitzt/ und doch nicht feste. Der steigt und jener fällt/ der suchet die Paläste Vnd der ein schlechtes Dach, der herrscht und jener webt. Was gestern war ist hin/ was itzt das Glück erhebt; Wird morgen untergehn/ die vorhin grünen Äste 293
Text bei Schöne, Das Zeitalter des Barock, S. 1001. Dazu etwa Zeller: »Ich glaube, daß wir hier an einen Grundzug der Literaturauffassung des 17. Jahrhunderts rühren. Literatur, wenn sie belehren wollte, mußte immer unterhalten« (Spiel und Konversation im Barock [1974], S. 127). 2 " Vgl. Satz (2) seines >BedeutungskernsGeschick< fußt wesentlich auf Petrarcas >Glücksbuch< >De remediis utriusque fortunae< (1468). 297 Vgl. zu dieser Zentralmetapher des 17. Jahrhunderts Barner, Barockrhetorik ( 2 2oo2), S. 8 6 - 1 3 1 sowie Karnick, Rollenspiel und Welttheater (1980), S. 16-22 zum metadramatischen Rollenspiel im barocken und modernen Welttheater. 294
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Sind nunmehr dürr und todt/ wir Armen sind nur Gäste Ob den ein scharffes Schwerdt an zarter Seide schwebt. Wir sind zwar gleich am Fleisch/ doch nicht von gleichem Stande Der trägt ein Purpur-Kleid/ und jener gräbt im Sande/ Bis nach entraubtem Schmuck/ der Tod uns gleiche macht. Spilt denn diß ernste Spil [!]: weil es die Zeit noch leidet Vnd lernt: daß wenn man vom Pancket des Lebens scheidet: Krön, Weißheit, Stärck und Gut bleibt ein geborgter Pracht.298 D i e K ö n i g s - bzw. Schachspiel-Allegorie verdeutlicht die Regelgebundenheit dieses >SpielLiebe< und >TodKlinggedichtautopoietische< Züge, als er die Produktionsregeln nicht nur befolgt, sondern sie gleichzeitig enthält.'8 Die Pointe des Sonetts liegt dabei nur vordergründig in den letzten beiden Versen, in denen sich der Sprecher über das unverhoffte Zustandekommen des Textes wundert. Denn die eigentliche Pointierung des Sonetts ergibt sich bereits aus der Überschrift, zu der sich der Text am Schluss gewissermaßen zurückwendet. 19 Sie entlarvt überdeutlich, dass es sich bei dem Text trotz der mustergültigen Regelbe1s
Lange nach Zesen fasst diese grundlegende Einsicht der Dramatiker Ernst Raupach in seinem Lustspiel >Das Sonett* (1833) in die ironische Formulierung: »Ja wenn wir nur erst die Reime beim Schöpf haben, die Gedanken finden sich schon« (Raupach, Das Sonett, S. 17).
16
Text bei Fechner, Das deutsche Sonett, S. 104 (soweit möglich wird wie schon in den vorausgehenden Teilkomplexen dieser Untersuchung bei der Analyse einzelner Epigramme oder Sonette auf die gut zugänglichen und zuverlässig edierten Anthologien von C y s a r z , Fechner, Maché/Meid, Schöne und Wagenknecht zurückgegriffen). V o m T y p u s her vergleichbar ist das spätere >Sonnet im Sonnet< von Gottfried Benjamin Hancke (vgl. Fechner, Das deutsche Sonett, S. 1 1 3 ) .
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Vgl. zu dieser F o r m von literarischer >Autopoiesis< Schwanitz, Systemtheorie und L i teratur (1990), S. 59-66 mit Beispielen aus der modernen Literatur. Die zyklische Komposition bzw. Rückbezüglichkeit des Schlusses zeigt auch die Wiederaufnahme des Anfangsverses im Schlussvers.
folgung gerade nicht um ein Sonett handelt (»Kein Sonnet«). Hier liegt nun die Schlussfolgerang nahe, dass die Gattungszuweisung in der Überschrift zurückgewiesen wird, weil der Text nur den Schreibanlass (»Ich soll geschwind ein rein Sonnetgen sagen«) thematisiert - denkbar wäre etwa eine Schulsituation, in der es üblich war, regelgerechte Texte zur Einübung (exercitatio) des poetischen >Handwerks< zu verfassen. Da nur der Schreibanlass thematisiert wird, fehlt es dem Text an einer echten, durch poetische (Er-)Findung (inventio) gewonnenen materia. Durch das Verwirrspiel zwischen Regelbefolgung im Haupttext und Gattungszurückweisung im Titel richtet Mencke das Augenmerk also offenbar auf den Unterschied zwischen handwerklich-technischer >Pritschmeisterei< und sinnreicher Poesie. Durch die gleichsam doppelte Einlösung der Regeln (in der Dimension des Verses bzw. Reims sowie über die Regelthematisierung in der Dimension des Inhalts) ist der Text bewusst einseitig auf die technische Seite beschränkt. Dabei wird implizit deutlich, dass nur der (hier fehlende) poetische Geist (ingenium) den angemessenen Gegenstand >findetGrabschrifft eines StorchsAufspaltung< Frickes liegt jedoch die Gefahr, die Spielräume zu stark innerhalb solcher Ebenen - eigentlich Teilgebiete der Linguistik - zu verorten, wodurch Vernetzungsaspekte leicht aus dem Blick geraten. Aus diesem Grund werden Spielräume hier nicht nach dem linguistisch vorgeprägten Ebe«ewmodell, sondern in noch näher zu bestimmenden Textdimensionen untersucht. Denn über den >DimensionsDimensionsDimensionStrukturGrundzüge der Literaturwissenschaft» [ 4 200l], S.694). Dimensionen sind geordnet. Als typisches Beispiel sei hier der >DimensionsDimension< in Leser et al., DIERCKE-Wörterbuch der Allgemeinen Geographie 1 ['1993], S. 113). Solchen Dimensionen entsprechend ergeben sich Hierarchisierungsraster biologischer Diversität.
haltliche Dimension in der Hierarchie nach unten. Erst diese Hierarchisierung ermöglicht die ironische Thematisierung des Ungleichgewichts von Form und Inhalt. Dimensionshierarchien erweisen sich also als flexibel, wobei bestimmte Hierarchien persistenter sind als andere. Mit Blick auf die Spielräume der Poesie lässt sich beispielsweise auf das übergeordnete aptum als spielraumbegrenzende Kategorie verweisen. Wie im Abschnitt zur historischen Begrifflichkeit gezeigt wurde, handelt es sich hierbei um eine Leitkategorie, die über Fragen der Gattungswahl, des Gegenstands sowie über Disposition oder poetische Ausschmückung entscheidet. Aus den dargelegten Dimensionsaspekten (Ausdehnungs-, Relations- und Strukturaspekt) ergibt sich als besonderer Vorteil, dass das Dimensionsmodell mit einer analytischen Flexibilität gehandhabt werden kann, die sich im Umgang mit den linguistisch gefestigten >Ebenen< verbietet. Denn ähnlich wie in der Mathematik können Dimensionen vom >Beobachter< festgelegt werden. Es ist zum Beispiel angezeigt, poetische Spielräume in der Dimension des Verses zu untersuchen, die es im linguistischen Ebenenmodell so nicht gibt. Dies sei an einem Spielraum skizziert, der in der Barockzeit hinsichtlich der Lautung offen steht: In Paul Flemings Sonett >An Sich* findet sich der Vers »Weich keinem Glücke nicht. Steh' höher als der Neid«. 2 ' Nach dem von Opitz explizit formulierten poetischen Spielraum »Stehet das h zue anfange eines Wortes/ so kan das e wol geduldet werden [...]. Oder auch aussen bleiben«26 liegt in der Wendung des >Opitzianers< Fleming »Steh' höher« aus metrischen Gründen die apokopierte Spielart vor (metrica nécessitas). Innerhalb des Ebenenmodells kann diese Spielart allerdings nur unzureichend auf der ph onologisch en Ebene verortet werden, da die Apokope aus metrischen Gründen gesetzt ist und eine interne poetische Funktion im Vers erfüllt (vgl. die Einhaltung des Alternationsprinzips). Innerhalb des Dimensionsmodells kann die Spielart daher besser dem Versspielraum zugerechnet werden, der die linguistischen Ebenen der Phonetik bzw. Phonologie und Syntax miteinander verbindet.
I.2.I Gegenstandsspielräume als Gattungskennzeichen: zur Variabilität des Epigramms Im Folgenden wird die besondere Weite des epigrammatischen Gegenstandsspielraum als Gattungskennzeichen erörtert. Das Hauptziel ist dabei, die auffällig weitgehende gattungsinterne Diversität des Epigramms als Gattungsspezifikum aufzuwerten.27 Das Sonett kommt daher vorerst nur kursorisch in den 25 26 17
Text bei Wagenknecht, Gedichte 1600-1700, S. 1 1 1 . Opitz, Poeterey, S. 4Öf. Die Frage der Gegenstandsspielräume wird also nicht umfassend behandelt.
99
Blick. 28 Anschließen lässt sich bei der Erörterung der Gegenstandsspielräume des Epigramms zunächst an den erläuterten Strukturaspekt, da die res-verbaHierarchie in Epigramm und Sonett grundsätzlich unterschiedlich gewichtet ist: Während im hoch normierten Sonett - wie etwa Mencke in seiner Genreparodie >Kein Sonnet< beklagt - die Gegenstände den Formaspekten tendenziell nachgeordnet sind, wendet sich diese Hierarchie im niedrig normierten Epigramm ins Gegenteil. Pointiert formuliert dies in der poetischen Praxis etwa Friedrich von Logau in den Schlussversen seines poetologisch gefärbten Epigramms >Von meinen ReimenDie Schöne Blatternde< verwiesen, das den preziösen Sonettstil parodiert: »Jhr Perlen/ die ihr seyd v o m Eiter-Thau empfangen/ | V o n innerlicher H i t z ' erhöht und ausgekocht! | J h r feuchten Sternen/ w e r von Milch die Strasse sucht/ | Die sonst am H i m m e l glänzt/ find sie auff diesen Wangen.« (Text bei Fechner, Das deutsche Sonett, S. 102).
48
Dies belegen etwa durch die Sammlungen von Blinn, Erotische L y r i k der galanten Zeit (1999) und Kiermeier-Debre/Vogel, Die Entdeckung der Wollust (1995).
49
Dies dokumentiert die Neukirchsche Sammlung, in deren sieben Bänden die Sonettzahl stetig abnimmt, bis schließlich der letzte Teil kein Sonett mehr enthält (vgl. Schlütter, Sonett [1979], S-98f). N e u m a n n , N a c h w o r t ( 1 9 7 1 ) , S. 287 (eig. Hervorh.). Das offene Konzept der >Gattung als Spielraum< wird in der neueren Epigrammforschung wieder vertreten bei Adler, Literarische Formen politischer Philosophie (1998), S. 19. Allerdings wurde diese Gattungskonzeption stark kontrovers diskutiert. Gegen Neumanns offenes G a t tungsverständnis hat sich vor allem Preisendanz gewendet, indem er sich f ü r ein idealtypisches K o n z e p t aussprach, das von einer stabilen Gattungsnorm ausgeht (über die-
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105
1 . 2 . 2 Spielräume der perspektivischen Festlegung d u r c h E p i g r a m m t i t e l M i t d e r k u r s o r i s c h e n A n a l y s e v o n G e g e n s t a n d s s p i e l r ä u m e n des E p i g r a m m s w u r d e eine T e x t d i m e n s i o n erörtert, die als materia-Dimension
bereits im p o e -
tologischen D i s k u r s der B a r o c k z e i t v e r a n k e r t ist. U m das S p e k t r u m der analytischen M ö g l i c h k e i t e n zu erweitern, f o l g e n nun einige B e o b a c h t u n g e n z u r p o e tischen F u n k t i o n a l i s i e r u n g der perspektivischen Spielräume des E p i g r a m m s , die w e d e r in R h e t o r i k e n n o c h P o e t i k e n bestimmten T e x t d i m e n s i o n e n z u g e o r d net w e r d e n . D i e P o e t i k e n der B a r o c k z e i t enthalten keine verbindlichen V o r g a ben z u r Festlegung der Sprechhaltung in E p i g r a m m e n . F ü r das gesamte G a t t u n g s s y s t e m w e r d e n allenfalls D i f f e r e n z i e r u n g e n vorgeschlagen, die auf die Sprechhaltung abzielen u n d die G a t t u n g e n n u r sehr g r o b einteilen. Stellvertretend zeigt dies der Systematisierungsversuch v o n A l b r e c h t C h r i s t i a n R o t t h , der im dritten Teil seiner P o e t i k eine G a t t u n g s z u o r d n u n g ü b e r die Sprechhaltung bei i h m als w e s e n t l i c h e Form< eines G e d i c h t s bezeichnet - vorschlägt: Der wesentlichen Form nach aber (welches nöthiger zu wissen ist [als die Einteilung nach Materien]) werden sie ins gemein eingetheilet in έώαγγελτικά, i.e. ErzehlungsGedichte/ in welchen der Poet nur bloß vor sich etwas erzehlet/ und keine andere redende Personen einführet; und in δραματικά, i.e. Handlungs-Gedichte [...] in welchen gewisse Personen eine Sache abzuhandeln von den Poeten eingefiihret werden/ der Poet aber vor sich selber nichts erzehlet; wie denn auch in μικτά [!] i.e. aus beyderley vermischte Gedichte/ da theils der Poete redt/ theils andere von ihm angeführte Personen ihre Reden anstellen, (ebd.) 5 '
se Diskussion informieren Verweyen/Witting, Das Epigramm [1989], S. i6if.). In diesem Zusammenhang muss der alternative Vorschlag einer funktionsgeschichtlichen Gattungsbestimmung von Verweyen/Witting beachtet werden: Da sich bei der offenen Gattungskonzeption als Spielraum die Frage stellt, ob die Gattung auf Grund der fehlenden Konstanten nur vom Ende her beschrieben werden kann, scheint es zunächst praktikabler, von stabilen Gattungsnormen auszugehen. Damit gerät allerdings gerade das gattungsgeschichtlich relevante Moment der Veränderung aus dem Blick. Verweyen/Witting schlagen daher vor, weniger die strukurellen, als vielmehr die funktionsgeschichtlichen Veränderungen in den Mittelpunkt zu stellen. Im Rahmen dieses Versuchs einer »Funktiongeschichte des Epigramms« (ebd., S. 173) werden im Rückgriff auf Scaligers Gattungsbestimmung zunächst epigramma compositum und epigramma simplex differenziert. Dabei schränken Verweyen/Witting die Bezeichung >Epigramm< auf den ersten T y p ein, während sie den zweiten T y p als >Sinngedicht< bezeichnen. Im Epigramm - verstanden in diesem engeren Sinne - überlagern sich dabei das »Strukturprinzip S P R U C H « und das »Strukturprinzip WITZ« (edb., S. 168; Hervorh. i. Orig.). Auf der Basis dieses >stabilen< Grundmusters, versuchen die Verfassers schließlich die »Vielfalt der textexternen Bezüge« funktionsgeschichtlich zu bestimmen (ebd., S. 169). 51
Rotth, Vollständige Deutsche Poesie 2, S.43. Die Möglichkeit der Gattungseinteilung über die Materien wird bei Rotth verworfen, weil sie aus seiner Sicht nicht aussagekräftig ist und letztlich zu einer unübersehbaren Aufspaltung des Gattungssystems führt: »Der Materie nach könnte man sie in Theologische/ Juristische/ Medicinische/ Philosophische eintheilen/ deren ein jedes denn wiederum gar vielerley Arthen würde
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Dieser Zuordnungsversuch mag zwar holzschnittartig erscheinen, doch zeigt er exemplarisch die seinerzeit noch essentielle Bedeutung der Kategorie des Poeten an,' 2 die bei Rotth noch als der entscheidende Systematisierungsfaktor fungiert. Eine Anwendung dieser Systematik in der Praxis ist nur möglich, wenn in Texten, in denen der Sprecher nicht eindeutig als (erfundenes oder historisches) Rollen-Ich gekennzeichnet ist, selbstverständlich vom artikulierten Ich auf die Person des Poeten zurückgeschlossen werden darf. Abgesehen von den Bedenken, die sich aus heutiger Sicht gegen dieses Verfahren ins Feld führen lassen, ist es insofern bemerkenswert, als Rotth das Problem der poetischen Perspektive oder Sprechhaltung wahrnimmt. Beinahe >modern< scheint sein Versuch, über die Sprechhaltung drei wesentliche Formen< der Poesie zu bestimmen (wenngleich dieser Versuch selbstverständlich noch nicht der klassischen Unterscheidung von drei >Naturformen der Dichtung< äquivalent ist). Eine verbindliche Regelung der Perspektiven, die sich auf einzelne poetische Genres übertragen ließe, ergibt sich aus der Systematisierung Rotths indessen nicht. Auch diese Poetik lässt in der Frage der perspektivischen Festlegung des Epigramms also einen Spielraum offen, der genauer als Normierungslücke einzustufen ist. In einer lockeren Folge von Beispieltexten wird nun umrissen, wie diese Normierungslücke in Epigrammen poetisch funktionalisiert sein kann. Dabei werden nur die einfachen und besonders häufig auftretenden Grundformen der perspektivischen Variation deutlich.53 Da die perspektivischen Spielräume nicht für die gesamte Epigrammdichtung der Barockzeit erörtert werden kann, sei das Untersuchungsfeld auf das Grabepigramm eingeschränkt, dessen spezifische »diversitas« bereits in der Barockzeit hervorgehoben wurde54 und ausreichend Material für die Skizzierung der perspektivischen Hauptformen bietet.55 unter sich haben. Was ist aber nöthig sich in solche Weitläufigkeit einzulassen/ da es ein jedweder entweder leicht anders woher wissen kan/ oder wenn ers nicht weiß/ nicht viel dran gelegen ist?« (ebd.). Darüber hinaus nimmt Rotth in den anschließenden Abschnitten Feindifferenzierungen vor, die schließlich auch die Tragfähigkeit seiner Systematik in Frage stellen, indem sie mit den traditional gefestigten Gattungszuschreibungen konkurrieren. Beispielsweise werden die Satiren sowohl den Handlungs- als auch den Erzählungsgedichten zugeordnet (vgl. ebd., S.44Í.). ' 2 Vgl. in diesem Kontext auch einschlägige poetologische Schriften wie Balthasar Kindermanns >Der deutsche Poet< (1664) oder August Buchners >Poet< (1665), die anders als die Poetiken auf Eigenschaften und Aufgaben des Poeten fixiert sind. 53 Vgl. zu den besonderen methodischen Schwierigkeiten bei der Analyse von Normierungslücken auch die entsprechenden Abschnitte zu den Spielräumen der Poetik unten sowie die detaillierte Modellanalyse der Normierungslücke, die die Barockpoetiken in der Frage der Chorgestaltung im Trauerspiel offen lassen. 54 Vgl. etwa Jacob Masen, Ars Nova Argvtiarum (1640), hier S. 204. 5s Die historische Abgrenzung von Epigramm, Epigraph oder inscriptio ist uneinheitlich (dazu Neukirchen, Inscriptio [1999] und Braungart, Barocke Grabschriften [1997]). Systematisierungsschwierigkeiten ergeben sich vor allem bei der Unterscheidung von
107
Bei der Unterscheidung
der perspektivischen
Grundtypen
ist
zunächst
wichtig, dass die Sprechhaltung in E p i g r a m m e n häufig bereits d u r c h den Titel f e s t g e l e g t w i r d . D e r T i t e l ü b e r n i m m t als e i n » t e x t e i n l e i t e n d e s u n d r e z e p t i o n s lenkendes A n g f a n g s s i g n a l « zentrale poetische T e x t f u n k t i o n e n . ' 6 D a b e i fällt a u f , dass d e r Titel g e r a d e in E p i g r a m m e n die T e x t f u n k t i o n d e r p e r s p e k t i v i s c h e n F e s t l e g u n g erfüllt.57 D e n n o c h w i r d die T i t e l g e b u n g in d e r R e g e l k a u m d u r c h Poetiken festgelegt. D i e recht umfangreiche Auseinandersetzung mit B u c h u n d G e d i c h t t i t e l n bei Scaliger58 w i r d v o n k e i n e r B a r o c k p o e t i k in n e n n e n s w e r tem U m f a n g aufgegriffen.59 A u c h die k n a p p e n A u s f ü h r u n g e n z u r Titelgebung bei S i g m u n d v o n B i r k e n ( 1 6 7 9 ) beziehen sich n u r auf die Schauspiele: Was den Titel o d e r die O b s c h r i f t des Schauspiels betrifft/ muß selbiger e n t w e d e r v o n der H a u p t P e r s o n / o d e r v o n der H a u p t S a c h e / v o m H a u p t Z w e c k oder der H a u p t L e h re abgesehen/ und ganz k u r z in ein/ z w e i o d e r längst drei W ö r t e r gefällt w e r d e n . 6 0 U n d selbst in g e n r e s p e z i f i s c h e n A b h a n d l u n g e n w i e J o h a n n G o t t l i e b M e i s t e r s >Unvorgreiffliche Gedancken Von Teutschen E P I G R A M M A T I B U S
von sich selbst< sprechenden Kindes, das den Betrachter anredet, und zweitens - zunächst weniger nahe liegend - die des >mit sich selbst« sprechenden Kindes. 7 ' Diese beiden Möglichkeiten sind dadurch offen gehalten, dass der Betrachter gerade nicht, wie üblicherweise in >Wanderer-GrabschriftenAn Sich< bekannt geworden ist.72 Eindeutig festgelegt ist die Subjektperspektive dagegen beispielsweise in der >Grabschrifft eines vortrefflichen Redners< aus den >EPIGRAMMATA< von Andreas Gryphius (1663): Grabschrifft eines vortrefflichen Redners. Vorhin als sich der Geist in disen Glidern regt; Hat ieden/ der mich hört/ mein weiser Mund bewegt. Jtzt nun die Zunge fault/ so jage diß Gebein Dir/ der du sterblich bist/ ein ernstes Schrecken ein (ebd., S. 250).
Wiederum spricht auf geisterhafte Weise der Verstorbene von sich selbst, allerdings ohne dass dies im Titel kenntlich gemacht wird. Dabei richtet sich der Text durch den Imperativ und das Personalpronomen in der zweiten Person (»so jage diß Gebein | Dir/ der du sterblich bist«) eindeutig an einen Betrachter. Doch ist der perspektivische Spielraum des Verstorbenen auch in diesem Epigramm auf reizvolle Weise poetisch funktionalisiert. Denn als Redner nimmt der Verstorbene eine widersprüchlich stumme Sprechhaltung ein. Die Dimension des Sprechens wird dabei nicht nur durch den Verweis auf den Redner als Orator, sondern auch durch die ausdrückliche Erwähnung des Hörens (»der mich hört«) und der Sprechwerkzeuge (»Mund«, »Zunge«) herausgehoben. Dem vernehmlichen Sprechen des Orators wird im Epigramm also das stumme 68
69 70 71
72
Vgl. van Ingen, Vanitas und Memento Mori (1966), S. 276-28 5 (auch mit weiteren Beispielen für diese Sprechhaltung in Barocktexten). Dazu Forster, Ein viersprachiger Gedichtzyklus (1957), S. 24. Braungart, Barocke Grabschriften (1997), S. 463. Für die letztere Deutung sprechen die beiden Schlussverse, die dem Text eine selbstversöhnliche Wendung geben. Text bei Wagenknecht, Gedichte 1600-1700, S. i n .
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D i c h t e n des Toten h e r a u s f o r d e r n d gegenübergestellt. E r s t die perspektivische L i z e n z des E p i g r a m m s ö f f n e t den Spielraum, im A k t des (Vor-)Lesens die Stimme des v e r s t o r b e n e n >Redners< gewissermaßen n o c h aus d e m Jenseits h ö r b a r zu machen. M i t h i n e r w ä c h s t das U n h e i m l i c h e des E p i g r a m m s nicht n u r der V o r stellung des toten » G e b e i n s « , s o n d e r n auch der eigentümlichen Perspektive, mit der der Tote auf unheimliche Weise w i e d e r z u m >Reden< gebracht w i r d . Vielsagend soll d e m L e s e r s o m i t - i m m a h n e n d e n Sinne v o n A b s c h r e c k u n g (atrocitas) werden.
- ein »ernstes Schrecken« v o r der eigenen Sterblichkeit eingejagt
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E i n e weitere G r u n d f o r m der perspektivischen Festlegung ü b e r den Titel verdeutlicht ein E p i g r a m m Paul F l e m i n g s : Auff eines Kindes Ableben. Wo ist der Gärten Pracht/ der Blumen Königinn/ der Augen liebe Lust/ die Anemone hin? Die so nur gestern noch in ihrem Purpur-Munde und keuschem Angesicht' allhier zu gegen stunde? Wo ist denn heut' ihr Schmuck? Ihr wollust-volles Häupt? und mit einander Sie? Sie ist schon abgeleibt. Hier steht Ihr grüner Fuß/ der Stengel noch zu schauen/ der schon auch matt und welch. Hier siehst du was zu trauen/ Mensch auff dein Leben ist. Der/ den man itzt begräbt/ das hertzeliebe Kind/ hat neulich noch gelebt. Und itzt/ itzt starb es hin. Es war wie eine Blume/ Wo nur nicht leichter noch/ mit seiner Schönheit Ruhme. Hier liegt sein leerer Leib; Ihr Stengel steht noch hier. Bald wird der keins mehr seyn. Beklagt es doch mit mir. Was hilfft es/ Menschen seyn/ was liebe Blumen küssen/ Wann sie sind schöne zwar/ doch balde nichts seyn müssen! 74 D e r Text thematisiert w i e d e r u m den T o d eines K i n d e s , hier allerdings in der O b j e k t p e r s p e k t i v e als R e f l e x i o n s g e g e n s t a n d ( » A u f f eines K i n d e s A b l e b e n s « ) . D e r Sprecher ist eine dritte P e r s o n , m ö g l i c h e r w e i s e d e r Verfasser, der den B e trachter anredet. A u s d e m spezifischen A n l a s s ( » D e r / den man itzt begräbt«, » H i e r liegt sein leerer L e i b « ) w i r d w i e d e r u m eine allgemeine R e f l e x i o n ü b e r die 7
' Ein perspektivisch vergleichbares Sonett findet sich ebenfalls bei Gryphius, der einen Verstorbenen direkt zu den um das Grab versammelten Freunden sprechen lässt (vgl. das An die vmbstehenden Freunde betitelte 47. Sonett im ersten Buch >SonneteHöllischen Proteus« Erasmus Franciscis bis hin zum auch bei Gryphius vielfach spukenden Theatergeist, bietet ein variationsreiches Spektrum solcher Sprechhaltungen. Sie ist jedoch in der Geisterforschung, die sich im literaturwissenschaftlichen Bereich überwiegend auf das >schauerromantische< und >geisterseherische< 18. und 19. Jahrhundert beschränkt, kaum erforscht und wäre in einer eigenen Studie aufzuarbeiten (s. dazu die Ansätze bei Treppmann, >Besuche aus dem Jenseits
Eines Kochskochverzehrenden< Würmern scherzhaft überformt. Die spielerische Uberformung und der lehrhafte Eingangsvers weisen den Text als seltene Mischform des gnomisch-spielerischen Epigrammtyps aus.77 Die formal identische Uberschrift des Epigramms »Eines Hundts< determiniert die Sprechhaltung ebenso wenig. Da im Haupttext in der ersten Person gesprochen wird, liegt jedoch eindeutig die Subjektperspektive vor. Dabei gibt
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Texte bei Wagenknecht, Gedichte 1600-1700, S. 5 5f. Verkürzte Titel behandelt, ohne auf die die perspektivische Offenheit dieser Titelform einzugehen, auch Braungart, Barocke Grabschriften (1997), S.443. Der Fall, dass der Koch in der dritten Person von sich selbst spricht, sei an dieser Stelle als unwahrscheinlich ausgeschlossen. Im Sinne von Weisz, Das deutsche Epigramm (1979), S. 129.
der Text ein Beispiel für den beliebten Typ der spielerischen Tiergrabschrift. 78 Durch die spielerische Verzerrung der ursprünglichen Funktion von Grabschriften wird häufig ein Artikulationsraum für erotisch-obszönes Sprechen geöffnet. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Tiergrabschriften Hofmannswaldaus - beispielsweise in einer drastisch erotisierten Variante der >Grabschrift eines HundesEiner Fliegen< von Hofmannswaldau an (s. dazu Barner, Spielräume [2000], S.67). Die an römischen Vorbildern orientierten Tiergrabschriften wurden in der Barockzeit ausschließlich spielerisch verwendet, da im 17. Jahrhundert keine Tiergräber existierten (vgl. Braungart, Barocke Grabschriften [1997], S. 454f.). Hofmannswaldau, Poetische Grabschriften, S. 8 57; s. zu obszönen Tierepigramme bei Hofmannswaldau auch Noack, Hofmannswaldau (1999), S. I44Í. Dazu Weisz, Das deutsche Epigramm (1979), S. 29 und Adler, Literarische Formen politischer Philosophie (1998), S. 41 mit weiterführenden Hinweisen. Vgl. die Titelfolge bei Opitz, Teutsche Poëmata, S. 94-96: >Eines Hundts.s >Eines Kochs.Eines Blaßbalckmachers.Eines Bottens, >Eins geilen Weibs.Eins ertrunckenen.Eines andern.< und nochmals >Eines andern.< Offenbar versucht Opitz in dieser Epigrammreihe die »Rezeptionsgewohnheiten zurückzunehmen« (s. Althaus, Epigrammatisches Barock [1996], S.78-81, hier S.78).
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Die kursorische Erörterung perspektivischer Spielräume im Grabepigramm sei an dieser Stelle nicht fortgesetzt; weitere Formen der sprechsituativen Festlegung ließen sich hinzufügen, wenn man z.B. die eingeschränkte Sicht des Grabepigramms verlässt und andere Formen des Epigramms hinzunimmt. Einschlägig wären hier die sentenziösen Titel der >Geistreichen Sinn- und Schlußreimen< Johannes Schefflers oder auch die zahlreichen titellosen Epigramme der Barockzeit, in denen die Perspektive grundsätzlich erst im Haupttext festgelegt wird. 82 Aus spielraumanalytischer Sicht ist zusammenfassend wichtig, dass sich die dargestellten Grundformen der perspektivischen Festlegung über den Titel in der poetischen Praxis schnell ausdifferenzieren. In den Poetiken bleibt dagegen eine persistente Normierungslücke bestehen, die erst sehr spät wahrgenommen wird. Entsprechende Normierungsversuche kommen daher als Reaktion auf die Diversifizierung der Praxis in Gang. Die kursorischen Ausführungen zur perspektivischen Festlegung in Grabschriften geben somit ein Beispiel dafür, dass Poetik und Poesie keineswegs in einem eindimensionalen Ableitungszusammenhang zu denken sind. Denn der präskriptive Anspruch der produktionsästhetisch angelegten Poesielehrbücher scheint an dieser Stelle aufgebrochen, während die Poetik gleichzeitig durch die eigendynamische Variantenbildung in der Praxis in Zugzwang gerät und gewissermaßen nachjustiert werden muss. Dies zeigt stellvertetend der wenig überzeugende Systematisierungsvorschlag aus der Schulpoetik >Teutsche Poesie dieser Zeit< von Gottfried Ludwig (1703). Zur Frage der Titelgebung führt Ludwig aus: Endlich/ da gemeiniglich ein Titul und Lemma gar nöthig über das Epigramma ist/ so kömmt zu wissen vor: ι. Muß der Titul den Kern und Zweck des Epigrammatis in wenig Worten darstellen. 2. Schicken sich hier am besten die 3. Praepositiones in, auf/ de, über/ ad, an/ weil dahin alle Uberschrifften der Epigrammatum mögen gezogen werden. 83
Neben der Forderung, dass der Titel eines Epigramms auf den »Kern und Zweck« hinweisen soll, macht Ludwig hier in der Aufzählung der Präpositionen sogar einige Angaben zur perspektivischen Festlegung. 84 Allerdings bleiben diese vorsichtig und deskriptiv vorgetragenen Merkmale (»Schicken sich
82
Vgl. ergänzend besonders die Beispielanalysen zum »Schema der Grabschriften-Situation und seinefn] Variationen« bei (Segebrecht, Steh, Leser, still! [1978], S-414~447, hier 434). 8 ' Ludwig, Teutsche Poesie dieser Zeit, S. 156f. Vgl. zu diesem Systematisierungsversuch auch Hess, Epigramm (1989), S.45. 84 Hier lassen sich durchaus Parallelen zu Scaliger ziehen. So entspricht die Forderung des >Kerns< der bei Scaliger mehrfach herausgestellten zusammenfassenden Funktion von Titeln (s. vor allem Scaliger, Poetices libri Septem III, S. 216). Auch die schematische Aufzählung der Präpositionen (einschließlich der lateinischen Formen) erinnert an Scaligers Ausführungen zu den Flexionsmöglichkeiten von Titeln (vgl. ebd., S. 222-230).
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hier«; »mögen gezogen werden«) sehr allgemein. Den dargelegten Grundformen lassen sie sich kaum zuordnen. Zwar mag die Präposition >in/auf< der Objektperspektive entsprechen, dagegen kann die Subjektperspektive sowohl der Präposition >de/über< (vgl. etwa das >Das Kindlein von sich selbst< im Sinne von >Das Kindlein über sich selbstad/an< (vgl. >Das Kindlein an sich selbstde/über< häufig auch die Objektperspektive realisiert, wie hier am Beispiel einer Grabschrift Friedrichs von Logau belegt sei: Grabschrifft über ein Brautbette. J N die Lust liegt hier begraben/ Eine Magd mit jhrem Knaben; Die einander gantz ergeben/ Dieser Welt wie mehr nicht leben/ Die mit Armen vmgewunden Wie in einem Sarck gebunden/ Die sich mit sich selbst bedecken/ Die in kurtzem Würmer hecken. 8 '
Und nicht zuletzt deutet auch die Präposition >in/an< keinesfalls zwangsläufig auf die autothematische Form der Selbstansprache hin (vgl. etwa >An sichAn den Leser< aus dem >Poetischen Spazierwäldlein< von Johann Grob (1700): An den Leser. VErwundre dich ja nicht/ dass was ich hier geschrieben/ Nicht zart ist/ sondern hart/ und gleichsam ungerieben/ Des namen eigenschaft liegt meinem dichten ob/ Es bleibet wol darbei/ ich heiß und schreibe grob. 86
Diese Grundform findet sich in zahllosen Epigrammen der Barockzeit, die zumeist ohne die besondere Form der Leseransprache (apostrophe*7) schlicht >An CelerAn Plutum< oder >An die Phillis< betitelt sind.88 So kann die Unterscheidung der Präpositionen bei Ludwig insgesamt sicher nicht als ein praktikabler 85
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Logau, Sinn-Getichte, 1. Tausend, S. 132. Der Titel dieser Grabschrift exponiert die Sprechsituation insofern eindeutig, als über den Gegenstand des Epigramms gesprochen werden soll (»über ein Brautbette«). Das Brautbett ist freilich nicht das begrabene Objekt, sondern das Grab selbst (vgl. Braungart, Barocke Grabschriften [1997], S.457). Text bei Maché/Meid, Gedichte des Barock, S. 260. Das Wortspiel mit dem Namen zeigt an, dass Johann Grob selbst der Sprecher ist. Hier in dem auf die Poesie übertragenen Sinne von Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik ('1994), S.322. Vgl. die Texte in der genannten Reihenfolge bei Schöne, Das Zeitalter des Barock, S.996 und 728, sowie Wagenknecht, Gedichte 1600-1700, S. 336. " J
Anleitungsversuch gewertet werden, der die perspektivische Festlegung über den Titel zu regeln vermag. Fasst man den Untersuchungsabschnitt zusammen, wurden hier einige Ansatzmöglichkeiten der Spielraumanalyse umrissen. Dabei kamen verschiedene Textdimensionen in den Blick (Vers, Reim, Gegenstand, Perspektive usw.), die einen ersten Eindruck davon geben, wie sich die gattungsinterne Vielfalt von Sonett- und Epigrammspielarten der Barockzeit in zum Teil äußerst feindifferenzierten Spielräumen entwickelt. Diese mikrologische Vielfalt ist gerade für die immer auch Grenzen setzenden barocken Textmuster spezifisch. Einem innovationsdynamischen modernen Poesieverständnis freilich ist sie fremd und wird oft nur mühsam wahrnehmbar. Im anschließenden Abschnitt wird diese Vielfalt daher weiter ausgelotet. Im Vordergrund stehen dabei jedoch Variationsmechanismen, die der gattungsinternen Diversifizierung dienen. Als weitere Ansatzmöglichkeit der Spielraumanalyse wird damit skizziert, wie poetische Spielräume in der Praxis fruchtbar werden. Vorausgeschickt seien dazu einige Überlegungen zu neueren Ansätzen der Sonettforschung, die zunächst die Variabilität der Gattung ins Zentrum stellen und schließlich zu den Variationsmechanismen hinführen. 1.3 Die Gattung als >Spiel-RaumSpiel-Raums< und berührt das spielerische Moment bei der Erprobung von Sonettspielräumen. Zudem akzentuiert Joseph Leighton die »Experimentierfreudigkeit« der Barockpoeten. Dabei kann auch dem Experimentiercharakter des Auslotens von Gen-
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Liwerski, Sonett-Ästhetik (1975), S. 2 1 5 . Schlütter, Sonett (1979), S. 83.
respielräumen ein spielerischer Grundzug zugeschrieben werden. 9 ' Allerdings gibt Leighton zu bedenken, dass man sich keinesfalls von der »Vielfalt dieser Formen irreführen lassen« dürfe, da es sich bei den zahlreichen Formexperimenten der Barockzeit eher um »Kuriositäten« handele, die »außerhalb der Poetiken verhältnismäßig selten« anzutreffen seien (ebd., S. 23). Die »normale Form« bleibe das »Alexandrinersonett«, das »wahrscheinlich mindestens 80% der gesamten Sonettproduktion des 17. Jahrhunderts« ausmache (ebd.). Mit dieser Einschätzung bewegt sich Leighton auf der Linie Walter Mönchs, der in seiner komparatistisch ausgreifenden Studie zu F o r m und Geschichte des Sonetts f ü r die Barockzeit gleichfalls vom »Kuriositätenkabinett der frühen deutschen Sonettdichtung« spricht, allerdings anders als Leighton stärker abwertende Akzente setzt und im Grunde alle Spielarten, die von der strengen Sonettform nach Opitz abweichen, als Ausbrüche gewisser schon »aus Italien bekannter sonettistischer Kinderkrankheiten« an den Rand drängt. 92 Die entweder bei Leighton durch formale oder bei Mönch durch ästhetische Argumente gestützte Marginalisierung der Vielfalt barocker Sonettdichtung trägt allerdings widersprüchliche Züge. Z u m einen gehen beide Autoren inkonsequent vor, wenn sie die Diversität der Formen zunächst herunterspielen, in ihren Untersuchungen aber gerade das breite Spektrum von Sonettspielarten umfangreich darstellen. Z u m anderen überzeugen die quantifizierenden oder gar ästhetisierenden Argumente auch deswegen nicht, weil sie an den besonderen Innovationsleistungen vorbeizielen. So kann es nicht überraschen, dass Innovationen in der historischen Praxis grundsätzlich singuläre A k t e sind. Daher kann die Wirkung innovativer Akte nicht statistisch bedacht werden. Denn ein daktylisches Sonett eines Philipps von Zesen hat, obwohl es nicht so viele Nachahmer gefunden hat wie das Opitzsche Alexandrinersonett, im 17. Jahrhundert zweifellos mehr Aufsehen erregt als etwa das absolut regelkonforme Alexandrinersonett eines unbekannten Poetikschülers am Breslauer Elisabethgymnasium. Entsprechend muss die Gattungsgeschichte des Sonetts gerade Innovationsleistungen besonders in den Blick nehmen und kann die Wirkung neuer Muster keinesfalls nur an quantitativen Befunden festmachen. Bewertet man die Ansätze Mönchs und Leightons aus übergeordneter Perspektive, nehmen sie letztlich beide den wissenschaftshistorisch stark vorgeprägten >opitzianistischen< ein,
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Standpunkt
der das Genre >Sonett< möglichst auf ein Idealschema festlegt. 94
Leighton, Deutsche Sonett-Theorie (1973), S. 18. M ö n c h , Das Sonett (1955), S. 149. Vgl. zum >Opitzianismus< in der germanistischen Barockforschung Jaumann, Artikel >BarockGrundmusters< definiert die Gattung also nicht als Idealtypus, sondern als Spielraum. Damit wird die Spielfreiheit oder Offenheit des Sonetts akzentuiert. Programmatisch tritt schließlich Erika Greber f ü r eine neue Gattungskonzeption ein, die Behrmanns Ansatz aufnimmt. 9 7 Sie führt den verbreiteten »Konservatismus der Sonett-Theorie« auf die »Nachwirkung von W. Mönchs normativem Ansatz« zurück (ebd., S. 58). Ausgehend von dem »Befund einer faktischen Inexistenz fester Regeln«, der besonders in der russischen F o r schung in den Vordergrund gestellt wird, betont auch Greber die »grundsätzliche Vielfalt (>raznoobrazieDer Untergang der Welt in der Gaststätte zum Hasenberg< aus dem Gedichtband >Balladen von Samstag auf Sonntag< (1984; S. 80) verwiesen. H i e r sind die Versgrenzen so verschoben, dass die Verse zwar nach gängigem Sonettschema gereimt sind, jedoch ohne entsprechende A n o r d n u n g im Satzspiegel wie in Prosatexten aneinanderschließen. Das Kriterium >abweichend durch Versgliederung< (s.o.) ist daher nicht eindeutig erfüllt.
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Wie bereits im Kontext der Variabilität des Epigramms deutlich wurde, trägt die literaturwissenschaftliche Diskussion um das Gattungsverständnis des Epigramms ähnliche Züge.
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onDekomposition< und >Permutation< entlehnt (vgl. zum Beispiel S. 62). Greber beschreibt dieses Verfahren so: »Es sind die in der ars combinatoria angesiedelten Konzepte von Kombinatorik, Kinetik und Mechanik, die ich der Manufakturmetapher von den Sonetten als >Wortwebstühlen< unterlegen möchte« (ebd., S. 60). Entprechend geht es Greber darum zu zeigen, dass das »Sonett die Variabilität per se« darstellt und eine »genuin kombinatorische Form« ist (ebd., Hervorh. i. Orig.). Wichtig ist dabei, dass sie für diese experimentelle Erprobung des Gattungsspielraums das spielerische Moment unterstreicht: A l s kombinatorische und formbetonte Gattung hat das Sonett prinzipiell den Index des Ludistischen. Die Formspielerei, die Vielfalt experimenteller Variation ist dem Sonett als kombinatorisches Genre inhärent. Sein Ludismus äußert sich auch als affirmierendes oder negierendes Spiel mit N o r m und Kanon, (ebd., S. 62; Hervorh. 1. Orig.)
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich festhalten, dass die Variabilität oder Vielfältigkeit des Sonetts gerade nicht aus einem explizit weite Spielräume gewährenden Regelkanon entsteht - dies ist, wie der Abschnitt zur Variabilität des Epigramms gezeigt hat, besonders für das niedrig normierte Genre charakteristisch. Stattdessen beruht die spezifische Offenheit des Sonetts auf dem spielerischen Umgang mit einem relativ eng gefassten Regelbestand. Auf dieser Basis entfalten die Sonettregeln, geradezu als Spielregeln, eine Produktivität, die auch das hoch normierte Genre als einen äußerst vielfältig ausgestalteten >Spiel-Raum< beschreibbar macht. Obwohl Grebers eigentümliche Verbindung von Webstuhlmetaphorik und Kombinatorik im hohen Grade von den Formaspekten des Sonetts ausgeht und so im Bewusstsein der Sonettdichter des 17. Jahrhundert sicherlich nicht verankert war - dieser Anspruch wird von Greber auch gar nicht erhoben - , ist der Ansatz aus drei Gründen für die Barockforschung wertvoll: Erstens lenkt er den Blick auf den spielerischen Umgang mit dem Sonett als >SpielRaumSpieltechniken< zur Seite zu stellen. Um dies zu erhärten, wird zunächst nach dem historischen Bewusstsein von >mechanistischen< oder f o r m a listischem Vorstellungen in Poetik und Rhetorik gefragt.
1.4 Präzisierung von Diversitätsmechanismen als Unterformen der Variation Die Poetik der Barockzeit basiert wesentlich auf handwerklich-technischen Vorstellungen, die auf ein geschärftes Bewusstsein für Mechanismen zur >Herstellung< poetischer Texte schließen lassen. Stellvertretend sei hierzu eine prägnante Formulierung aus der Poetik >Lehr-mässige Anweisung/ Zu der Teutschen Verß- und Ticht-Kunst< (1702) von Johann Hofmann herangezogen, der zur Etymologie von >Vers< folgende Grundüberlegung anstellt: Sonst hat es [der Vers] seinen Namen her von V E R T E R E , welches so viel heisset/ als umkehren/ umwenden oder umdrehen/ dabei wir erinnert werden/ da/ wann wir wollen einen Verß machen/ so müssen wir ihn so lang herum drehen/ kehren und wenden/ bis wir ihn regelmäßig zu recht bringen/ allerdings wie ein Treher sein Holtz auf der Treh-Bank so lang herum lauffen lasset/ biß es eine ihm wohlgefällige Gestalt gewinnet [...]. 103
Nach diesem Muster wird die Poesie als lehr- und lernbare ars auf Techniken (τέχνη) wie »umkehren«, »umwenden« oder »umdrehen« zurückgeführt. 104 Starke Betonung liegt damit auf der Vorstellung des Poeten als Handwerker (poeta faber), wie besonders der gezogene Vergleich mit dem Tischlerhandwerk sowie die Verwendung entsprechender Fachwörter zeigt. 10 ' Die Begriffe >umkehrenumwenden< und >umdrehen< stehen dabei durchaus in der Nähe der bei Greber und oben im Rahmen des Grundrisses literarischer Diversität bereits näher bestimmten Variationsform der Permutation (>UmstellungUmwenden< auf der Drehbank, sondern ursprünglich das Wenden des Pflugs am Furchenende (Kluge, Artikel >VersSonnet. Vergänglichkeit der Schönheit< - häufig eine volle Ausreizung der Variationsbreite durch fünf verschiedene Endreime festzustellen (a bis e). Andererseits wird die Reimanzahl in zahlreichen Sonetten reduziert. Ein drastisches Beispiel findet sich bei Weckherlin, dessen >Die Lieb ist Leben und TodtotSonett< Simon Dachs: »Daß dich so eine Welt an Kindern, J u n g - und Frawen | U n d Männern, Chur-Fürst, sieht, Z ü r n ja darüber nicht | G o t t k o m m t sonst nimmermehr uns Menschen zu Gesicht, | Wir sind sein Bild in dir " J
gesehen v o m äußerst seltenen E i n z e i l e r - E p i g r a m m , das in d e r Literatur des 1 7 . J a h r h u n d e r t s nicht v o r k o m m t 1 2 1 - in beide R i c h t u n g e n voll ausgeschritten w e r d e n . A u c h hier w i r d also die unterschiedliche Variabilität beider G e n r e s deutlich. S o k a n n die h ä u f i g auftretende vierversige Spielart 1 2 2 z u m z w e i v e r s i gen E p i g r a m m verringert w e r d e n (Detraktion). A u c h diese F o r m , die hier d u r c h ein E p i g r a m m Friedrichs v o n L o g a u e x e m p l i f i z i e r t sei, ist in d e r B a r o c k zeit bekanntlich stark verbreitet: Poeterey Es bringt Poeterey zwar nicht viel Brot ins Haus Das drinnen aber ist/ das wirft sie auch nicht auß. 123 D e r E r w e i t e r u n g s s p i e l r a u m der Versanzahl (Propagation) ist gerade im Fall des E p i g r a m m s extrem weit. Verbreitet sind z u m Beispiel z w ö l f v e r s i g e E p i g r a m m e 1 2 4 , u n d gelegentlich fallen n o c h Texte mit über hundert Versen im 1 7 . J a h r hundert unter die B e z e i c h n u n g >SinngedichtDoppel-Sonett: Auff Silenus Namens-Tag< oder das >Sechzehnzeilige Sonnet an Eben Denselben [i. e. C . G . Birnbaum] von Johann Christian Günther Texte ebd., S. 87 und 110). Über einen Extremfall der Propagation berichtet Johann Rist: »Ja es ist mir einer vorgekommen/ (der aber so klug gewesen/ daß er seinen Nahmen verschwiegen) der hat ein Hochzeit Gedicht lassen trucken/ das nennet er deß vortrefflichen Poeten Heinsij Sonnet. [...] Dieses Carmen aber/ welches der Autor ein Sonnet tauffet/ hat 136. Alexandrinischer Verß/ auß welchen man bald 10. Sonnetten schmeltzen könte« (Rist, Vorrede zur >Musa Teutonica*, A iiijr)· Rist nimmt dieses >Sonett< indessen als Beleg dafür, daß »heut zu Tage so viel elender Poeten vnd Reimemacher gefunden werden/ alldieweil sie vermeynen/ es bestehe die ganze Kunst darinn/ daß man nur einen Verß hinzuschmieren wisse/ da doch eben dieses fast daß aller geringste an einem Poeten ist« (ebd., A vr). Eine kanonisierte Form, die in der Versanzahl erweitert wird, ist das Schweifsonett (sonetto colla coda), bei dem der »sonettus simplex« jedoch »immer als Norm gegenwärtig« bleibt (Schlütter, Sonett [1979], S. 12). 121
Vgl. Hess, Epigramm (1989), S. 10. Bei Opitz als >Quatrain< behandelt (Poeterey, S. 5 jf.)· 123 Text bei Wagenknecht, Gedichte 1600-1700, S. 2 1 1 . Über brevitas- bzw. argutia-ldeal bei Logau informiert Palme, »Bücher haben auch jhr Glücke« (1998), S.4of. 124 Vgl. etwa Julius Wilhelm Zincgrefs »Epigramma. Vom Thum zu Straßburg/ warumb der andere darneben nit auffgebawet worden< (Text bei Maché/Meid, Gedichte des Barock, S. 37). I2 ' Diese >Obergrenze< für die Erweiterung der Versanzahl nennt Hess, Epigramm ( 1989), S. ι o und bezieht sich pauschal auf Epigramme Friedrichs von Logau. Gemeint sind hier vermutlich Texte wie »Glückwunsch. An die Fürstliche Person über geschlossenem Friede< mit beinahe hundert Versen oder die »Beschreibung der Fuchsschwänzerey. Auß Joseph Hallens Charaktere Vitiorum & Virtutem, zum theil übersetzt< mit über hundert Versen (vgl. Logau, >Sinn-GetichteEr sendet einem geliebten Frauenzimmer seine poetische Übersetzung des Hiobs< von Johann Burckhard Mencke als Metrum zugrunde, aus dem stellvertretend die beiden Anfangsverse zitiert seien: Wenn Hiob an dem Kummer naget So zeigt er selbst sein Unglück an. 1 2 7
Ebenfalls viertaktig sind die Anfangsverse Liebe schont der Götter nicht/ Sie kann alles überwinden/ 128
eines unbetitelten Sonetts von Sibylla Schwarz, die allerdings trochäisch alternieren. Auch die nächste Detraktionsstufe mit dreihebigen Versen als Grundmetrum findet sich bereits früh in Paul Flemings petrarkistischem Sonett >An Ambrosien«, das mit den Versen einsetzt: Ambrosie, mein Schatz, mit welcher ich im Lieben so manche Zeit vertrieben, komm mit mir auf den Platz. 129
Die maximale Verkürzung des Metrums auf zweitaktige daktylische Verse weist Daniel Czepkos von Reigersfeld Sonett >IV. Klingel. An Befreyten. Nicht nach den Worten, sondern dem Sinn< auf. Das erste Quartett lautet:
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Schaft« aufgenommenen Logau - tatsächlich noch als Epigramme zu bezeichnen, mag zwar vor dem Hintergrund der Textsortendefinition nach Hess (Epigramm [1989], S. I2Í.) gerechtfertigt sein, ist aus der Sicht der Opitzschen Poetik hingegen gewiss fragwürdig (vgl. zur Frage, ob Logau als strenger »Opitzianer« oder »Opitz-Gegner« einzuordnen ist Palme, »Bücher haben auch jhr Glücke« [1998], S. 61-66; Palme gelangt zu der Uberzeugung, dass die »These von der Gegnerschaft zu oder zumindest Ablösung und Unabhängigkeit von Opitz ad acta« zu legen sei; ebd., S.65). Über die Anpassung der Poetiken, die viele metrische Varianten in ihren Regelbestand aufnehmen orientiert Leighton, Deutsche Sonett-Theorie (1973), S. 20-24. Leighton konstatiert in der Gesamtsicht: »In einem Punkt ist die Sonett-Theorie von Opitz für die Poetiken des 17. Jahrhunderts nicht mehr maßgebend, und zwar in dem des Metrums« (ebd., S. 20). Text bei Fechner, Das deutsche Sonett, S. 105. Text bei Maché/Meid, Gedichte des Barock, S. i8if. Text bei Fechner, Das deutsche Sonett, S. 72.
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Welchen der Wahn Führet in Kethen, Mag ungebethen Meiden die Bahn (ebd., S. 82).
Auch die Erweiterungsspielräume werden im Sonett voll ausgeschöpft. Unter den Propagationsspielarten lässt sich beispielsweise auf Andreas Gryphius' Sonett >Mitternacht< verweisen, das - hier durch den Anfangsvers belegt - aus achttaktigen daktylischen Versen gebaut ist: Schrecken/ vnd stille/ vnd dunckeles grausen/ finstere kälte bedecket das Land/. 1 3 0
Gewissermaßen das >Rekordsonett< ist in dieser Hinsicht Quirinius Kuhlmanns Gedicht >Der XLI. Libes-Kuss. Der Wechsel menschlicher SachenDie Hölle< von Andreas Gryphius.' 33 Wegen der Variation der Verslängen hat man bei diesem Text auch von einer Deformation der Sonettform gesprochen.'34 Betont wird dabei die Übertragung des Zwiespalts zwischen weltlicher Ordnung und höllischem Chaos in die metrische Form. So werde die »Hölle, in der sich die Ordnung des Geschaffenen umkehrt, in der Umkehrung der Sonettproportionen zitiert« (ebd., S. 20). Behrmann sieht außerdem poetologische Implikationen des Sonetts, in welchem Gryphius »auch den Sinn für die Symbolik der Form, nämlich der von gesetzter und zerstörter Ordnung, geschärft haben« soll (ebd., S. 21). Bei solchen Deutungen ist jedoch zu hinterfragen, ob man bei der Akzentuierung der Zerstörung oder Deformation von (Vers-)Ordnung stehen bleiben darf. Denn der Versspielraum des Sonetts wird über die auffällige Variation der Verslängen kei150 IJI 132 135 ,34
Text bei Wagenknecht, Gedichte 1600-1700, S. 192. Dazu Zeman, Die »versus rapportati (1974), S. i47f. Text bei Fechner, Das deutsche Sonett, S.91. Text bei Gryphius, Sonette, S. 91. Vgl. Baßler, Zur Sprache der Gewalt (1997), S. 1 3 1 oder Behrmann, Variationen einer Form (1985), S. 1 8 - 2 1 , der den Text sogar als Beispiel eines Typus< (>deformiertes Sonett