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German Pages 279 [280] Year 2004
Novalis
Poesie und Poetik
Novalis Poesie und Poetik
Herausgegeben von Herbert Uerlings
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Schriften der Internationalen Novalis-Gesellschaft, Bd. 4
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-10858-4 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Gewidmet Hans-Joachim Mähl (3.5.1923 — 31.3.2001)
Inhaltsverzeichnis
Herbert Όerlings Einleitung
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Gerhard Schulz In memoriam Hans-Joachim Mähl 1923-2001
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Herbert Uerlings Einbildungskraft und Poesie bei Novalis
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Ludwig Stockinger »Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt.« Novalis' Poesiebegriff im begriffs- und literaturgeschichtlichen Kontext
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Dennis F. Mahoney >Heinrich von Ofterdingen< oder Die Macht der Musik
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Gerhard Schulz Poesie als Poetik oder Poetik als Poesie? Zur späten Lyrik von Novalis
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Johannes Endres Der Schleier des Novalis
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Dirk von Petersdorff Die Auferstehung Sophie von Kühns in den >Hymnen an die Nacht
Poetisirung d[es] Körpersintermediäre Raum< und die Ästhetisierung der Frau Ayako Nakai Poesie und Poetik bei Novalis und die Signaturenlehre der Naturmystik
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James Hodkinson Novalis und die Poetisierung des Weiblichen
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Silke Horstkotte Die Poetik der Androgynie in Novalis' >Heinrich von Ofterdingen
Poesie und PoetikNovalis - Das Werk und seine Editoren< eröffnet werden konnte. Die von Gabriele Rommel konzipierte Ausstellung entstand in Kooperation der Internationalen Novalis-Gesellschaft und der Forschungsstätte für Frühromantik mit dem Landeshauptarchiv SachsenAnhalt, dem Freien Deutschen Hochstift Frankfurt am Main und der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt (Halle).2 Leider war zu Beginn der Tagung noch eines weiteren verstorbenen Freundes, Kollegen und bedeutenden Novalis-Forschers zu gedenken: Geza von Molnär starb unerwartet im Sommer 2001. Seine letzte, nicht mehr fertiggestellte Veröffentlichung hätte ein Beitrag zur Tagung werden sollen: > »Unendlicher Geheimnisse schweigender Bote« — Sprechen und Schweigen in den >Hymnen an die Nacht< und den >Lehrlingen zu Saisdoppelten< Begriff der Poesie, der im engeren Sinne die Dichtung, im weiteren aber das Ganze des Lebens bzw. jede Art von Praxis oder Tätigkeit umfaßt. Im Beitrag wird der Schwerpunkt auf die philosophischtheoretische sowie die ästhetisch-praktische Begründung des Ästhetischen als Sphäre sui generis gelegt; auf eine weitere Form der Begründung, die Physiologie der Einbildungskraft, wird aufmerksam gemacht. Die Kernthese lautet, daß die Struktur der Einbildungskraft (und damit der Poesie) rückgebunden bleibt an die kritische Philosophie bzw. die Ergebnisse der >Fichte-StudienSelbsterfindungskunst< sei, die um die Rhetorizität 2
V g l . den umfangreichen Katalog: Novalis. Das Werk und seine Editoren. Hrsg. von Gabriele Rommel. Wiederstedt 2 0 0 1 .
Einleitung
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unserer Selbstentwürfe und die Rückkopplung von Natur und Kultur wisse. Das wird ergänzt durch Ausführungen zur >Ethik der Einbildungskraft·«, zur literatur- und kunstgeschichtlichen Stellung dieser Form der (begrenzten) >Abkehr von der Naturnachahmung < und (unter dem Stichwort >Historische ModerneKritik der Urteilskraft und das Verhältnis zu Fichtes >Wissenschaftslehre< sowie auf die Möglichkeiten einer Darstellung kontingenter Erfahrungen im Werk von Novalis. Wie im Eröffnungsbeitrag liegt der Schwerpunkt der späteren Beiträge auf der Poetik und auf der - quer zur Unterscheidung ästhetisch vs. außerästhetisch liegenden — »produktiven Einbildungskraft^ Letzteres verwundert angesichts des frühromantischen Begriffs der >Poesie< natürlich nicht, überraschend war für Veranstalter und Beiträger aber das Ausmaß, in dem es, auch in den Diskussionen, um Fragen der Einbildungskraft und Anthropologie ging. Das dürfte mit der Erforschung der Anthropologie der (Spät-) Aufklärung in den letzten zehn Jahren zusammenhängen, die nun zunehmend auch die Beschäftigung mit der Literatur um 1800 erfaßt. Ludwig Stockinger (Leipzig) hebt in seinem Beitrag >»Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt.« Novalis' Poesiebegriff im begriffsund literaturgeschichtlichen Kontext< wie Uerlings die Verbindung von >Poesie< und >Lebenswelt< bei Hardenberg hervor. Ausgehend von der Analyse einer exemplarischen Textpassage fragt er, wie diese im Kontext der zeitgenössischen Semantik von >Poesie< und >poetisch< verstanden werden bzw. an welche eingespielten Bedeutungen Hardenberg anschließen konnte, um sich verständlich zu machen. Manfred Frank hat in diesem Zusammenhang auf die Rolle der kritischen Auseinandersetzung der Frühromantiker mit den nachkantischen Entwürfen von Reinhold, Fichte und Jacobi hingewiesen, in der der Poesie die Struktur des Verweisens auf das >Sein< zugedacht wird. Stockinger schließt daran an, geht dann aber mit der Frage, welches außerphilosophische Problem die frühromantischen Autoren mit ihrem spezifischen Poesiebegriff eigentlich bearbeitet haben, darüber hinaus. Er legt neben der erkenntnistheoretischen die moralische und gesellschaftliche Bedeutung des hier verwendeten Begriffs von >Poesie< frei: Diese soll auf die Folgen von (unvermeidlichen) >Urteilen< des Verstandes reagieren, die dadurch entstehen, daß ein Mensch unter einem allgemeinen Begriff oder einer Regel als Objekt identifiziert und gleichzeitig entindividualisiert wird. Zentral ist daher die Verbindung der >Poesie
IndividualitätSein< hin offene und gleichzeitig auch raumzeitlich erfahrbare Individuen erscheinen zu lassen. In diesem Zusammenhang dürfte Jacobis Verteidigung des Christentums gegen Materialismus und Idealismus auf ein besonderes Interesse der Frühromantiker gestoßen sein, denn hier wurde die Anschlußfähigkeit ihrer Philosophie an das Christentum gewahrt. — Wie Uerlings akzentuiert auch Stockinger die Bedeutung von Kant, d. h. seiner Deutung des ästhetischen Urteils als prinzipiell unausdeutbarer Formulierung einer Idee, und betont, daß Hardenbergs Poesiebegriff, im Verweis auf das >Sein< und seine mögliche Erfahrung im zeitlich geordneten Prozeß des Lebens, am mimetischen Bezug auf eine Wirklichkeit festhält. Einen Schwerpunkt auf poetische Werke legen Dennis F. Mahoney (Burlington) und Gerhard Schulz (Melbourne). Während Mahoney (>>Heinrich von Ofterdingen< oder Die Macht der MusikPoesie als Poetik oder Poetik als Poesie? Zur späten Lyrik von NovalisMusikalischen< heranziehen, aber mit unterschiedlichen Akzenten: Mahoney verbindet das Musikalische mit dem Orpheus-Mythos, um von der Idee einer vollständigen De-Semantisierung abzurücken zugunsten einer (nicht zuletzt die barocke Affektenlehre modifizierenden) >Macht des GesangsLied der Totem, dem »vollendetsten Werk von Novalis« — darzulegen, daß die späte Lyrik auch noch das metaphorische Christentum und die mittelalterliche Kulisse der früheren Werke hinter sich lasse, um über produktive Assoziationen transzendente Erfahrungen zu ermöglichen. - So ergeben sich weniger inhaltliche als ästhetische Kriterien dafür, von einer Deutung der Werke durch die Herstellung von Bezügen zu seinerzeit aktuellen außerästhetischen Diskursen abzurücken. Darin liegt denn auch die Gemeinsamkeit beider Beiträge: Trotz der Gegensätzlichkeit ihrer Ausgangspunkte demonstrieren beide, daß bei Hardenberg die Transformation außerästhetischer Diskurse in ästhetische eine Sphäre sui generis erzeugt. Johannes Endres (Florenz) zeigt unter dem Titel >Der Schleier des NovalisDie Lehrlinge zu Saislesbare Hieroglyphe< sei. Dies bedeute, daß die Hebung des Schleiers nicht mehr für eine >Entdeckung der Wahrheit< stehe, sondern für eine Inszenierung in Permanenz. - Im Anschluß an den Vortrag wurde nach Bezügen zu Hamanns Poetik gefragt, bei dem die Struktur des Zugleich von Verbergen und Enthüllen schon ausgeprägt sei, sodann danach, ob die bei Novalis zu findende und durch Heinse vorgeprägte Verbindung von Göttlichkeit und Sexualität, die >Realpräsenz des MysteriumsDie Auferstehung Sophie von Kühns in den > Hymnen an die NachtNeuen Mythologie< nach 1800 erkennbar werde. Im Grunde gehe es, wie die fünfte und sechste Hymne zeigten, bereits hier nicht mehr um eine neue Mythologie und um Utopie, sondern um eine Rückbindung an eine >objektive< Institution, eine nicht liberalisierte und wenig säkularisierte Kirche. — Der Vortrag löste, nicht zuletzt wegen seiner polemischen Töne, eine lebhafte und heftige Diskussion aus, die manche Themen der vorangegangenen Debatten wieder aufgriff: Ethik der Einbildungskraft, produktive Einbildungskraft und Privatoffenbarung bzw. Mittlerreligion, Verhältnis von Transzendentalphilosophie bzw. kritischer Philosophie einerseits und Idealismus andererseits, die Rolle Kants für die frühromantische Religiosität und auch die Frage, ob eine solche Polemik nicht hinter den erreichten Stand der Diskussion zur frühromantischen Religiosität zurückfalle.
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Herbert Uerlings
Während der Eröffnungsbeitrag die >disziplinenübergreifende< zentrale Rolle der Einbildungskraft hervorhob, um sich dann auf die Dichtung zu konzentrieren, ging ein Vortrag von Gabriele Rommel (Oberwiederstedt) vom selben Ausgangspunkt aus in eine andere Richtung: die der Naturlehre (>PhysikDie >symbolische Behandlung der Physika Hemsterhuis und Kant in der Poetik von Novalis< einen umfassenden und detaillierten Überblick über die Rolle der produktiven Einbildungskraft in Hardenbergs >PhysikDie Poetik der Aufmerksamkeit bei Novalis< dessen auch als >Besonnenheit< und >geistige Gegenwart< bezeichnete Kategorie, mit deren Hilfe die Einbildungskraft Sinnesreize gestaltbildend verarbeitet. >Wahrnehmung< gelte hier als >aktive Rezeptivität Rehabilitierung der Sinnlichkeit (Kondylis) beteiligt ist. Außerdem ist es so möglich, >Geist< und >Natur< nicht mehr nur entweder unter identitätsphilosophischem Vorzeichen oder als Dualität zu verstehen, sondern - >evolutionär< — als Prozess einer nicht-teleologischen gegenseitigen Hervorbringung. Von daher ergeben sich Berührungspunkte zu dem ansonsten ganz anders orientierten Beitrag von Newman und zur im Eröffnungsbeitrag angesprochenen Rückkopplung von Natur und Kultur.
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Der Beitrag wurde nicht zum Druck eingereicht. Er ist in einer älteren Fassung in englischer Sprache erschienen: Rommel, Gabriele: Imagination in the transcendental poetics of Novalis. In: The Romantic Imagination. Literature and art in England and Germany. Hrsg. von Frederick Burwick. Amsterdam 1 9 9 6 , S. 9 5 - 1 2 2 .
Einleitung
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Nicholas Saul (Liverpool) bricht eine Lanze fur die überfällige Einbeziehung der Historischen Anthropologie in die Novalis-Forschung. Er geht in seinem Beitrag >>Poetisirung d[es] KörpersPlastik< nach. Die Lektürenotizen Hardenbergs zeigen, daß sein Interesse der Kategorie des >Gefiihls< bzw. der Einbildungskraft gilt, der Argumentationszusammenhang aber so verschoben wird, daß nicht die Plastik, sondern die Poesie zur höchsten Kunst wird. Von daher ergeben sich neue Aufschlüsse zum Märchen von Hyazinth und Rosenblüthe (>Die Lehrlinge zu SaisPygmalionmotiv< und zu einer Körperpoetik. — Diskutiert wurde u. a. welche Folgerungen sich daraus ergeben, daß Herders Begriff der >Kraft< von Leibniz stammt, ferner die Frage nach der Poetisierung von Schmerz, Verlusterfahrungen und Tod und schließlich das Verhältnis von Körperlichkeit und Weiblichkeit bei Novalis. Gail Newman (Williamstown) stützt sich in ihrem Beitrag >Das poetische Subjekt, der >intermediäre Raum< und die Ästhetisierung der Frau< auf die Arbeiten des britischen Psychoanalytikers Winnicott und dessen Konzept des >intermediären Raums< und verbindet dies mit den >FichteStudien< Hardenbergs (>dritte SphäreMittelanschauungHeinrich von Ofterdingenrealitätsbezogen< vs. >phantasiebezogenintermediären Raums< rückt gerade die Produktivität des Subjekts in den Mittelpunkt, das zwischen >Außenwelt< und >InnenweltAnderen< und >Selbst< eine eigene Welt erfindet (>SpielSelbsterfmdung< sowie mit der von Apel akzentuierten konstitutiven Rolle der Aufmerksamkeit. Ansprechend erscheint ferner, daß Newman den >intermediären Raum< nicht zum Passepartout erklärt, sondern Kriterien für die Begrenzung bzw. Eröffnung dieses Raums angibt. — Diese waren denn auch der Hauptgegenstand der Diskussion, etwa im Blick auf religiöse und ästhetische Erfahrung. Ayako Nakai (Tokio) hebt in ihrem Beitrag über >Poesie und Poetik bei Novalis und die Signaturenlehre der Naturmystik< hervor, daß Novalis
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Herbert Uerlings
versuche, die seit langem mit dem christlichen Glauben verbundene Naturmystik mit der kritischen Philosophie zu verbinden und in geschichtlicher Hinsicht den Wendepunkt markiere, bis zu dem die Naturmystik noch als eine potentiell ernst zu nehmende Naturlehre gegolten habe. Seit 1 8 0 0 sei sie zum Okkultismus der Moderne geworden. Das Neue bei Novalis lasse sich in der Zeichenlehre fassen. Die zunächst auf erkenntnistheoretischem Feld (>Fichte-Studienklassischen< gender-typing dazu dient, erzähl- und subjekttheoretische Abgründe im >Heinrich von Ofterdingen< zu verdecken, versucht Hodkinson zu demonstrieren, daß man Hardenbergs theoretische Aufzeichnungen (aufschlußreich: die Kommentare zur Befruchtung) und einzelne poetische Texte bzw. Passagen durchaus auch so lesen kann, daß sie sich von damalige Codierungen abheben. Das gelte im Blick auf die damalige Biologie (wobei die Ergebnisse der Studien von Thomas Laqueur und Claudia Honnegger den Rahmen liefern), die Dichtung (etwa im Vergleich zu Schiller) und die populärphilosophischen Geschlechterkonstruktionen (Rousseau). Offenbar komme es auf den jeweiligen Bezugshorizont an; vor allem aber scheine Novalis ein Bewußtsein davon gehabt zu haben, daß es sich um Symbolisierungen handelt, was ihm in anthropologischer Theorie und dichterischer Praxis einen gewissen Spielraum eröffnet habe. — In der Diskussion war nicht der Befund strittig, sondern die Größe dieses Spielraums. In der Diskussion zum Vortrag von Silke Horstkotte wurde u.a. gefragt, ob die scheiternde Selbstdarstellung durch Literatur in der skizzierten Form eigentlich spezifisch für Novalis oder für jede Form schriftlicher Selbstdarstellung sei und ob die Zwei-Geschlechter-Problema-
Einleitung
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tik nicht um Überlegungen zur Funktion des Kindes erweitert werden müßten (mit der Konsequenz, daß nicht die Frau, sondern das Kind paradigmatisch: Fabel und Astralis — die Poesie verkörperten). Eine Untersuchung von Hardenbergs Bezügen zur bildenden Kunst gehört, trotz des Beitrages von Konrad Feilchenfeldt auf der letzten Fachtagung der Gesellschaft, immer noch zu den Desiderata der Novalis-Forschung.4 Das dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß Hardenberg im Unterschied zu einigen seiner frühromantischen Freunde keine kunsthistorische Ausbildung erhalten hat und deshalb, so Silvio Vietta (Hildesheim), über die bildende Kunst in ihr fremden Kategorien geschrieben habe. Vietta vertritt in seinem Beitrag über >Novalis und die moderne Bildästhetik< die These, daß Novalis eben deshalb als ein interessanter Neubegründer der Kunsttheorie zu gelten habe, deren Wege in die Moderne führten. Hardenbergs im Rahmen der Subjektphilosophie entwickelte Kategorien der >Produktivität< und >Freiheit< des Subjekts sowie des >mathematischen Kalküls< und der >KonstruktionMensch< und >Genie< (>Künstlerintellektualen Anschauung< einerseits und Haikus von Basho und poetologischen Überlegungen Zeamis zum Nö-Spiel andererseits die These, daß >deutsche< und >japanische< Dichtung — entgegen zahlreichen anderslautenden, meist motivgeschichtlichen Studien — im Grunde nichts miteinander zu tun hätten. Zwar erkämpften sich Hölderlin und Novalis gegen Fichtes Subjektphilosophie mühsam den Weg vom >Ich< zum >AbsolutenZiel< bei Basho zeigten deutlich, wie wenig Ähnlichkeit oder gar Verwandtschaft im Grunde vorhanden sei.
2. Resümee Der Blick auf die Einbildungskraft, Poetik und Anthropologie bestätigt einen Befund, von dem die neuere Novalis-Forschung auf philosophischem und religionsgeschichtlichem Gebiet schon länger ausgeht: Die Problemstellungen und Lösungsversuche Hardenbergs ergeben sich aus denen der Aufklärung, und man kann sagen, daß die Gemeinsamkeiten zwischen Novalis einerseits und Spätaufklärung, Weimarer Klassik und Transzendentalphilosophie andererseits größer sind als die zwischen dieser zweiten Gruppe und den Vertretern der älteren Aufklärung (und ihrer Fortsetzung in Berlin). Novalis gehört in den Problemzusammenhang der neunziger Jahre, der gedankliche Schnitt liegt eher früher, zwischen einer vorkritischen und einer kritischen Aufklärung, die die Ergebnisse der kantischen Kritik der Vernunft akzeptiert hat.
Einleitung
Trotz einiger >einschlägigen Referate (dazu gehörte bereits eines von Manfred Engel auf der ersten Tagung der Gesellschaft zur aufklärerischen Traum-Theorie und ihrer Rezeption bei Novalis 5 ) bleibt die Klärung des Verhältnisses zur zeitgenössischen Anthropologie und ihren (spät-aufklärerischen Varianten, darin ist Nicholas Saul zuzustimmen, noch ein Desiderat. Die Besonderheit Friedrich von Hardenbergs dürfte zum einen darin bestehen, daß er die zeitgenössische Anthropologie und >Physik< intensiv rezipiert hat, und zwar unter dem Vorzeichen einer >PoetisierungAutorintentionRehabilitierung der Sinnlichk e i t bei Novalis nicht durch seine spezifische Adaption kritischer Philosophie, d. h. die Annahme eines transreflexiven Absoluten, einerseits ermöglicht, andererseits aber auch begrenzt werde. Die Hypothese lautete, daß diese >Rehabilitierung der Sinnlichkeit in Spätaufklärung und Romantik gleichzeitig viele Ängste vor Kontingenz bzw. >losgelassener Natur< freigesetzt habe, die hätten >gebändigt< werden müssen, etwa durch Konzepte vom >Subjekt< (verstanden als universaler logischer bzw. vernünftiger Struktur im Unterschied zum >Individuum< als dem Zufällig-Einzelnen) und vom >GeistÜberwindung< der angestrebten geistig-leiblichen Einheit durch die Funktionalisierung der Natur flir die >Geburt des GeistesPoesieLied der Totenc »Klagen sind nicht mehr zu hören / Keine Wunden mehr zu sehen / Keine Tränen abzuwischen; / Ewig läuft das Stundenglas«. Uns ist dergleichen nicht gegeben, unsere Welt ist endlich, und die Totenklage gehört zu unserem Leben. Heute nun soll sie einem Freunde gelten, einem engen persönlichen Freunde und einem verehrten Freund vieler der im Namen von Novalis hier Versammelten: am 3 1 . März 2001 ist Hans-Joachim Mähl gestorben, der erste Präsident der Internationalen Novalis-Gesellschaft, später ihr Ehrenpräsident, und seit langem unbestrittener Doyen der Novalis-Forschung. Durch Novalis waren Hans-Joachim Mähl und ich vor vierzig Jahren einander nahegekommen, in Briefen zuerst, dann zunehmend auch in Begegnungen und langen Gesprächen, i960 hatte Richard Samuel seinen Namen von einer Deutschlandreise mit nach Melbourne gebracht, die Nachricht von einem sehr tüchtigen und sehr sympathischen jungen Mann in Hamburg, und bald darauf begann dann auch unsere Korrespondenz. Es wurde eine Korrespondenz, der inzwischen sogar der Status des Dokumentarischen verliehen worden ist, indem das Marbacher Deutsche Literaturarchiv ihr Obdach gegeben hat, um sie den an der Geschichte der Germanistik und der Editionsphilologie Interessierten zugänglich zu machen. Wir, die Briefschreiber, haben es mit leichtem Staunen beobachtet als Symptom für einen Prozeß unseres Historisch-Werdens, der indes nur um den Preis des Alterns zu haben ist. Damals in den sechziger Jahren, als wir der historisch-kritischen Novalis-Ausgabe Gestalt gaben, war es Papier um des aktuellen Meinungsaustauschs willen, wobei hinzuzufügen ist, daß das Papier aus der Hand Hans-Joachim Mähls stets makellos, ohne die geringsten Tippfehler beschrieben und mit einem feinen Hauch von Zigarrenduft durchtränkt war, was nicht zuletzt von langer Nachtarbeit zeugte. Die
Gerhard Schulz
Entfernung, also die Reise der Briefe um die Welt, war dabei zugleich die Bedingung dieser Korrespondenz, denn an Telefongespräche war damals der hohen Kosten wegen noch nicht zu denken, und die elektronische Post war noch nicht erfunden. Für mich entstand so, noch ehe ich ihn getroffen hatte, in mir ein Bild von Hans-Joachim Mähl als des genauen, akribischen Wissenschaftlers, den Fleiß, scharfe Intelligenz und klares Denken, vor allem aber die Leidenschaft des Forschens bewegten. Getroffen habe ich Hans-Joachim Mähl erst 1965, im gleichen Jahr, in dem ich auch aus seiner Hand jenes große, großartige, ja stupende Buch über die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis erhielt, das einen Markstein der modernen Novalis-Forschung bildet, und zwar so sehr, daß 1994, also knapp dreißig Jahre später, eine unveränderte Neuauflage erscheinen konnte und sogar mußte, weil es unentbehrlich geworden ist für das Studium seines Gegenstands. Dabei war es eigentlich nichts anderes als eine Dissertation, eine akademische Prüfungsarbeit also, die den Lehrling in den Gesellenstand erheben sollte, während dieses Buch in Wirklichkeit die gestandenen Meister zu Lehrlingen machte. Es ist mir in meiner gesamten Erfahrung mit der deutschen Literaturwissenschaft keine andere Arbeit bekannt geworden, über die sich derartiges ohne Einschränkung sagen ließe. Z u Novalis war Hans-Joachim Mähl auf besondere Weise gekommen. In jenem Alter, da heutzutage junge Menschen, noch unmotiviert oft und ein wenig lax, ihr Universitätsstudium beginnen, wurde er Soldat in einem verheerenden Kriege, der ihn zwar lebend entließ, ihn aber ein ganzes Jahrzehnt seines Lebens kostete; 1950 erst kehrte er aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Dort aber, in irgend einem Lager bei Saporoshje oder Morshansk, war ihm jenes Bändchen mit Gedanken und Gedichten Friedrich von Hardenbergs, genannt Novalis, in die Hände gekommen, das ihm zunächst nur ein wenig geistige Nahrung in einer poesiefernen Welt bot. »Freunde, der Boden ist arm, wir müssen reichlichen Samen ausstreun, daß uns doch nur mäßige Ernten gedeihn«, lautet Novalis' Epigraph für den >BlüthenstaubAllgemeinen Brouillontrocken< mißverstehen darf. Denn trockene Gelehrsamkeit, die nicht mehr nach einem Sinn für die Praxis der Menschen fragt, war seine Sache nicht, und über die Exzesse einer Editionsphilologie, der der sogenannte >Apparat< wichtiger war als der Text, nach dessen Wert und Bedeutung man dann überhaupt nicht mehr fragt, haben wir uns oft amüsiert. Im Januar 2001 hatte ich ihm noch jene >Erinnerungen< fur den Katalog zur Ausstellung über Novalis und seine Editoren geschickt, in denen von meinen eigenen Glückserfahrungen bei der Arbeit des Edierens die Rede ist. »Ach lieber Gerhard«, schrieb er mir darauf, »wie schön ist es, daran zu denken, über diese Glücksmomente in einem Editorenleben, wie man etwas ironisch sagen könnte. Ich denke ζ. B. an einen bestimmten Augenblick in Krakau. Gelegentlich, wenn ich von anderen, auch von meinen Studenten, gefragt werde, wie man Glück definieren könnte und was darunter zu verstehen wäre, dann führe ich dies als Beispiel an.« Und nun berichtete er mir von diesem Augenblick: »Ich ging vom Hotel Krakovia hinüber zur Biblioteka Jagiellonska, ein schöner, breiter Weg mit herbstlich rot gefärbten Blättern an den Bäumen und strahlendem Sonnenschein, etwa 1 0 Minuten Entfernung, und ich freute mich auf den Empfang durch die Leiterin der Handschriftenabteilung und auf die Durchsicht der Novalis-Papiere, denn du mußt dir vorstellen, diese Kartons aus dem
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Gerhard Schulz
Besitz der ehemaligen Staatsbibliothek Berlin waren noch verschnürt, sie waren im gleichen Zustand, wie sie ausgelagert worden waren, und ich war der erste, der nach einem halben Jahrhundert diese Kartons öffnen und Einsicht in die darin liegenden Handschriften nehmen konnte. Und nun dieser Glücksmoment; mein Weg vom Hotel zur Bibliothek in der strahlenden herbstlichen Beleuchtung und meine Vorfreude auf das, was mich im kleinen Lesesaal, den man mir eingeräumt hatte, zu erwarten hätte. Denn das war ja rasch erkennbar, in den Salinenschriften standen durchaus nicht nur Aufzeichnungen, die auf die berufliche Tätigkeit Hardenbergs Bezug nahmen, sondern auch persönliche Notizen, Bücherwünsche usw. Und in dem Augenblick, auf diesem Weg und dann im Lesesaal vor den ausgebreiteten Handschriften und der Lektüre in der Erwartung, etwas Unbekanntes, noch nicht Gelesenes, noch nicht Gedrucktes in Händen zu halten, mit einem mir noch völlig unbekannten Inhalt als erster nach einem halben Jahrhundert von mir wieder aufgefunden, das, so sagte ich meinen Studenten, das war Glück, jedenfalls Glück für einen Wissenschaftler, einen Philologen.« Meine >Erinnerungen< waren es auch, die noch einmal zu Beginn dieses Jahres unsere Korrespondenz aufleben ließen, dank Christa Puchta-Mähls Hilfe, die Diktiertes ins Elektronische des Computers übertrug. Er habe, so schrieb mir Hans-Joachim Mähl im Februar, ein Bewußtsein gewonnen »für die Einmaligkeit unserer Beziehung untereinander. Wie ich aus meiner Arbeit in der DFG weiß, ist das wahrhaftig nicht selbstverständlich. Ich kenne viele große Ausgaben mit ganzen Mitarbeiterstäben, bei denen Streitigkeiten, ja sogar Gerichtsprozesse eher die Regel sind. Wie anders war da unsere Zusammenarbeit.« Man merke, so habe ihm einmal jemand vor ein paar Jahren gesagt, »unserer monumentalen und gerade in diesem Punkt einmaligen Ausgabe diese persönliche Note heute noch als Leser an.« Ich will darüber nicht befinden, aber ich habe mich über diese Worte gefreut. Getragen war unsere gemeinsame Arbeit jedenfalls vom Respekt voreinander, und der gebührte Hans-Joachim Mähl wahrhaftig immer wieder. Es war faszinierend, seine Arbeit an der Umordnung und Aufschlüsselung der Fichte-Studien zu beobachten, denn er war selbst ein philosophischer Kopf, der den riskantesten Abstraktionen bis in die feinsten Verästelungen nachspürte. Und er war ein rastloser, unermüdlicher Arbeiter, ausgestattet immer mit einem weiten Panorama des Wissens und dem Blick für das Wesentliche, denn sonst wäre zum Beispiel sein großer Quellenkommentar zum >Allgemeinen BrouillonHaus< freundschaftlich, freundlich und würdig zugleich zusammenzubringen und in Frieden zu ansehnlicher Gestalt wachsen zu lassen. Dir wird Freundschaft und Hochachtung entgegengebracht, und das wird bleiben, wie Du der erste Präsident dieser Gesellschaft stets bleiben wirst - dem Namen unseres guten Novalis nun auch durch die Praxis der Gegenwart so untrennbar verbunden, wie schon durch Deine große Arbeit. Jetzt werden andere, Jüngere zeigen müssen, was in ihnen steckt«. Es hat ihn beruhigt und glücklich gemacht, daß diese Jüngeren sich gefunden haben. Die letzten Jahre seines gewiß nicht leichten Lebens waren von zunehmender Krankheit gezeichnet. Damals, unmittelbar nach seinem schweren Herzinfarkt, der diese letzte Phase einleitete, habe ich ihn im Kieler Krankenhaus besucht. Er erzählte mir, ein wenig lächelnd, daß er in jener Augustnacht, als das geschah, tatsächlich fiir ganz kurze Zeit schon klinisch tot gewesen sei. Nun war er noch einmal ins Leben zurückgekehrt und er sollte viele Schmerzen und Plagen auszustehen haben. Aber er hat — ich habe es ihm kurz vor seinem Tode noch einmal ausdrücklich gesagt — dieser Krankheit Leistungen abgerungen, die kaum Gesunde zu vollbringen vermögen. Damals, als ich ihn besuchte, hat er mir nahegelegt, mich darum zu kümmern, daß die Novalis-Ausgabe abgeschlossen werde, falls er es nicht mehr könne. Aber dann hat er es doch selbst getan als Kapitän und dazu mit feinem Gespür die rechte Mannschaft gefunden. So ist die Ausgabe ein Monument seines Wissens wie seiner Leidenschaft für das Wissen geworden, und eine Verpflichtung natürlich auch, das noch nicht völlig Abgeschlossene bald zu vollenden. Noch ein ganz persönliches Wort zum Schluß. Erst in den letzten Jahren ist uns beiden, Hans-Joachim Mähl und mir, wirklich bewußt geworden, wie sehr wir einander nahegekommen waren durch gemeinsame Arbeit, durch die Überwindung von Schwierigkeiten aller Art, wie sie
In memoriam Hans-Joachim Mähl
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aufzutauchen pflegen, wenn man einem gemeinsamen Ziel zuarbeitet. Wir erkannten, wie sehr wir einander nahe waren in vielen Urteilen über Menschen und Sachen, wie sehr wir uns aufeinander verlassen konnten und wie sehr da oder dort ein Freundeswort helfen konnte. Aber die Versicherung solcher Gemeinsamkeit haben wir uns dann doch unabsichtlich bis zum Ende aufgehoben. Solche Vertrautheit hat schließlich auch angesichts des Lebensendes, dem wir beide uns nun näherten, zu der Frage gefuhrt, ob dereinst für ein Wiedersehn anderswo unser Glaube die gleiche Stärke haben würde, wie sie unser Novalis besaß. Das haben wir beide nicht zu entscheiden vermocht. Aber dessen Werk, das uns zusammengebracht hat, sollte uns immerhin Begleiter bleiben auf dem Weg, den wir alle allein gehen müssen.
Herbert Uerlings (Trier)
Einbildungskraft und Poesie bei Novalis
»Die Poesie ist durchaus personell und darum unbeschreiblich und indefinissabel. Wer es nicht unmittelbar weiß und fühlt, was Poesie ist, dem läßt sich kein Begrif davon beybringen« (111,685:668). Wenn dem so ist, dann scheint der Versuch, das Verständnis der >Poesie< und >Poetik< bei Novalis 1 begrifflich zu erhellen, ein vergebliches Unterfangen zu sein, das man besser sogleich mit dem Satz beendete, mit dem auch Novalis fortfährt: »Poesie ist Poesie« (ebd.). Aber Novalis räumt in der zitierten Aufzeichnung zugleich die Möglichkeit ein, demjenigen, der es »unmittelbar weiß und fühlt, was Poesie ist«, auch einen »Begrif davon« beizubringen, und liefert auch sogleich eine — inzwischen oft zitierte — Definition: »Die Kunst, auf eine angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend, das ist die romantische Poetik« (ebd.). Darüber hinaus ist die Behauptung der >Unbeschreiblichkeit< der Poesie bekanntlich bereits das erste und wichtigste Definitionsmerkmal der Poesie, wie die Frühromantiker sie konzipieren. Aus der Rhetorik romantischer Konzeptualisierung von Kunst und Literatur (und Leben!) ist deren >Unbeschreiblichkeit< nicht wegzudenken. Die Aufzeichnung von September/Oktober 1800, also aus einer Zeit, in der Novalis auf eigene Dichtungen zurückschauen 1
In der jüngeren Novalis-Forschung haben William A . O'Brien und Ludwig Stockinger mit Recht darauf hingewiesen, daß es gute -
die poetische Struktur der Texte wie den
Verlauf der Rezeptionsgeschichte betreffende - Gründe dafür gibt, in methodischer Hinsicht zwischen dem Autor Friedrich von Hardenberg und der Autorimago >Novalis< zu unterscheiden. Dem soll hier nicht widersprochen werden, wenn im folgenden das Pseudonym und der Name des Verfassers als Synonyme gebraucht werden. Z u m Verhältnis von Autor und Autorimago vgl. auch Verf.: »Die Welt muß romantisiert werden.« Ein Nachwort. In: Novalis (Friedrich von Hardenberg). Gedichte und Prosa. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Herbert Uerlings. Düsseldorf, Zürich 2 0 0 1 (Winkler Weltliteratur), S. 5 1 2 - 5 5 3 , hier S. 5 1 8 - 5 2 1 .
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Herbert Uerlings
konnte, wenn er von der Poesie sprach, ist also keine Absage an die Versuche, über die Poesie mit den Mitteln begrifflicher Rede zu sprechen, sondern eine Aufforderung, dabei die Autonomie des Ästhetischen aus seinem Spannungsverhältnis zum Nicht-Ästhetischen heraus zu verstehen. Unter dieser Voraussetzung gibt es viele Möglichkeiten, plausible Begriffe von der Poesie und Poetik Hardenbergs zu entwickeln. Man kann sie durch den Blick auf die poetische Praxis oder auf die poetologische Theorie gewinnen, man kann aber auch prüfen, welches Bedeutungs- und Anregungspotential in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte freigesetzt wurde, man kann sich auf Einzelnes konzentrieren oder auf Werkgruppen oder Gattungen. Bei einem Autor, der zwar von Jugend an gedichtet hat, seinen eigenen Stil des Schreibens und Denkens aber erst später in Verbindung mit philosophischer Reflexion entwickelt und der über die Voraussetzungen seiner Poesie so umfangreich Auskunft gegeben hat wie Novalis, bietet sich außerdem der Versuch an, seine Konzeption der Poesie von ihren literatur- und philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen her zu verstehen. Dieser Weg, der im folgenden beschritten werden soll, hat den Vorzug, von vornherein die fur den frühromantischen Poesie-Begriff grundlegende Doppelbedeutung des >poieinDarstellungAbkehr von der Naturnachahmung< differenzierter zu verfahren, als dies bislang geschieht (III). Abschließend soll versucht werden, die Stellung der Poetik Hardenbergs am Beginn der historischen Moderne dadurch zu charakterisieren, daß sowohl das historisch Ferne wie das (vielleicht immer noch) in unsere Moderne Weisende benannt wird (IV).
I. Transzendentalpoesie Novalis entwickelt seinen frühromantischen Poesie-Begriff im Rahmen seiner philosophischen Auseinandersetzung insbesondere mit Fichte und Kant, und er tut es auf dem Niveau der Transzendentalphilosophie, hinter deren Vernunft- und Moralkritik seines Erachtens nicht mehr zurückge-
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gangen werden darf. Als grundlegende Neuerung gegenüber der vorkritischen Philosophie und, soweit sie dieser folgt, der Poetik der Aufklärung ergibt sich daraus die Aufwertung der Einbildungskraft: Ihre Produktivität rückt in den Mittelpunkt. Bereits in den >Fichte-Studien< wird bei Novalis die produktive Einbildungskraft zunächst zum Grundvermögen des (theoretischen) Ich. Sie ist jene Kraft, die im Ich und für das Ich alle Gegensätze produziert und synthetisiert. In dieser Tätigkeit der Einbildungskraft, ihrem Schweben zwischen den Gegensätzen, finden für Novalis die fundamentale Freiheit und Einigkeit des Menschen ihren Ausdruck: Freyheit
bezeichnet
den
Zustand
der
schwebenden Einbild[ungs]Kr[aft].
(11,188:249) Alles Seyn, Seyn überhaupt ist nichts als Freyseyn — Schweben zwischen Extremen, die nothwendig zu vereinigen und nothwendig zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunct des Schwebens strömt alle Realität aus - in ihm ist alles enthalten — Obj[ect] und Subject sind durch ihn, nicht er d[urch] sie. Ichheit oder productive Imaginationskraft, das Schweben — bestimmt, producirt die Extreme, das wozwischen geschwebt wird — Dieses ist eine Täuschung, aber nur im Gebiete des gemeinen Verstandes. Sonst ist es etwas durchaus Reales, denn das Schweben, seine Ursache, ist der Quell, die Mater aller Realität, die Realität selbst. ( 1 1 , 2 6 6 : 5 5 5 ; vgl. 1 1 , 1 8 8 : 2 4 9 ; 1 1 , 2 9 2 : 6 5 2 )
In der unbewußten Produktion > macht < die Einbildungskraft die Wirklichkeit, insofern sie Objekt und Subjekt, Nicht-Ich und Ich, Begrenztes und Unbegrenztes aufeinander bezieht und vermittelt zu einer Realität für uns. Nur der >gemeine Verstand^ nicht das transzendentalphilosophische Bewußtsein, täuscht sich und hält die Objekte für an und für sich gegeben. Als produktive, unbewußte Tätigkeit ist die Einbildungskraft, wie es im >Heinrich von Ofterdingen< heißt, die allen Menschen »eigentümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes« (1,287) u n d gleichbedeutend mit der »Poesie« im weiteren Sinne. Aus dieser zunächst vorbewußten Tätigkeit der Einbildungskraft wird schon bei Fichte, der so den Kantischen Vermögenspluralismus überwinden will, das Gesamt der theoretischen Erkenntnis abgeleitet, und auch Novalis will daraus »alle äußern Verm[ögen] und Kr[äfte]« (111,413:746) deduzieren. Die Einbildungskraft soll die (bei Kant ungeklärt gebliebene) Einheit der beiden Stämme unseres Erkenntnisvermögens, Sinnlichkeit und Vernunft, und damit die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft sowie Geist und Natur sichern. Dies geschieht, indem die Grundlage der Selbstbewußtseinsphilosophie neu bestimmt wird.
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Bei Novalis verbindet sich das mit einer auch gegen Fichte gerichteten Kritik der Reflexionsphilosophie und der Einsicht in die Nichthintergehbarkeit einer Dualität von zwei Prinzipien, Gefühl und Reflexion, die in der Einbildungskraft miteinander vermittelt werden: »Es giebt nur Einbildungskraft — Gefühl und Verstand. Anschauung und Vorstellung sind nur die Namen, die man dem Gefühl und d[er] Einbildungskraft und dem Begriff und d[er] Einbild[ungs]Kraft zusammen giebt« (11,167:215). Manfred Frank hat im einzelnen gezeigt, daß und inwiefern hier die Einbildungskraft bei der Lösung der Aporien der Selbstbewußtseinsphilosophie in eine zentrale Rolle rückt. Die Kritik der Reflexionsphilosophie führt auf die Fundierung des Selbstbewußtseins in einem transreflexiven Sein schlechthin. Die Einbildungskraft ist die Sphäre seiner unendlichen Selbstvermittlung in der Zeit. Insofern ist die Einbildungskraft einerseits Ausdruck eines unaufhebbaren Mangels an Sein: Dem Ich ist sein Grund immer schon entzogen, er liegt, zeitlich gesprochen, in seiner Vergangenheit. Andererseits verbindet aber die Einbildungskraft qua Zeit als »gemeinschaftliche Sfäre« (11,189:256) die beiden im Selbstvermittlungsprozeß des Bewußtseins auseinandergetretenen Seiten: Die Identität von Ich und Nicht-Ich, die Dialektik von Sein (Gefühl) und Nichtsein (Reflexion) erscheint im Wechsel der Synthesen der Einbildungskraft, in der Kontinuität des Fließens der Zeit, im >TransitusWechselrepräsentation< (vgl. 111,266:137) 4 dargestellt, durch analogische Wechselrepräsentation von Innen und Außen, Geist und Körper, Einheit und Mannigfaltigkeit. Das Ich >construiert< eine innere Welt, die der äußeren entsprechen muß. Das verbindet sich für Novalis zwanglos mit der Idee der >großen Kette der Wesenmagischen Idealismus«. In: Euphorion 6 3 ( 1 9 6 9 ) , S. 8 8 - 1 1 6 , hier S. 9 4 .
4
In dieser wichtigen Aufzeichnung aus dem »Allgemeinen Brouillon< wird die regulative Idee eines Absoluten m i t der M a g i e , der mystischen Sprachlehre und der Emanationslehre verbunden.
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d'Alembert in der Vorrede zur französischen > Encyclopedic < der Gliederung der Wissenschaften zugrunde gelegt hatte. Hier gilt die Einbildungskraft als nachahmende und nachschaffende Begabung, die dem Verstand untergeordnet ist. Dagegen schreibt Novalis: »Die Einb[ildungs]Kr[aft] ist das würckende Princip — Sie h[eißt] Fantasie indem sie auf das Gedächtniß wirckt — und OtnVkraß indem sie auf den Verstand wirckt. Die Einb[ildungs]Kr[aft] soll (äußrer) directer und (innrer) indirecter Sinn zugleich werden« (111,298:327). An anderer Stelle wird, ebenfalls 1798, Fichte als »Erfinder einer ganz neuen Art zu denken« (11,524:11) gelobt. Novalis fährt jedoch fort: »Es ist aber wahrscheinlich, daß es Menschen giebt und geben wird — die weit besser Fichtisiren werden, als Fichte. Es können wunderbare Kunstwercke hier entstehn — wenn man das Fichtisiren erst artistisch zu treiben beginnt« (11,524:11). Novalis denkt hier zunächst noch an eine neue Art des Philosophierens, aber schon während der >Fichte-Studien< wird mit Blick auf die regulative Idee5 einer absoluten Einheit und die auf sie bezogene produktive Einbildungskraft die Kunst neu begründet. Die poetische Tätigkeit im engeren Sinne erscheint als ausgezeichnete Form der praktischen Vernunft (»Practische Vernunft ist reine Einbildungskraft« (11,258:498)). Die >Auszeichnung< besteht darin, daß die Kunst die Grenzen der philosophischen Reflexion übersteigen kann, indem sie den >Grund< des Ich, die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft, von Natur und Geist, symbolisch vergegenwärtigen kann. Die Kunst überschreitet damit nicht die Grenzen der Transzendentalphilosophie — von einem ästhetischen Absolutismusfuhlen< können. Die Kunst soll dies leisten, indem sie nicht nur die Struktur des ordo inversus nachvollzieht, sondern dies so tut, daß die unendliche Prozessualisierung im Horizont 5
6
Vgl.: »Jede regulative Idee ist von unendlichen Gebrauch — aber sie enthält keine selbstständige Beziehung auf ein Wirckliches - Man kann die Unendlichkeit, man kann ein Sonnenstäubchen in sie legen — Sie bleibt sich immer gleich - denn sie ist ganz außer der Sfäre des Wircklichen — des sich wircklich verhaltenden. Sie ist ein Gesetz der Vorstellung - ein schematischer Begriff« (11,252:466). »Alles Suchen nach der Ersten [i.e. >Thathandlung< - H. U.] ist Unsinn - es ist regulative Idee« (11,254:472). »Begriffe überhaupt sind nichts reales - sie haben nur idealen Gebrauch. So ist auch Ich etc. eine regulative Idee« (11,256:479). Vgl. Lypp, Bernhard: Ästhetischer Absolutismus und praktische Vernunft. Zum Widerstreit von Reflexion und Sittlichkeit im deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 1972. Zu diesem bereits von Carl Schmitt erhobenen Vorwurf vgl. Verf.: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1 9 9 1 , S. i45f.
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eines >Ganzen< erscheint. Durch das »schöne Gantze« (11,282:633), die »Verknüpfung (Verganzung)« des Einzelnen und Bestimmten »zu einem Ganzen« (11,270:566), wird der eigentliche absolute Grund der Freyheit< (vgl. 11,270:566), ein »absolutes Postulat« (ebd.) geltend gemacht. Je mannichfaltiger die Glieder dieses Ganzen sind desto lebhafter wird die absolute Freyheit empfunden — je verknüpfter, je Ganzer es ist, je wircksamer, anschaulicher, erklärter, ist der absolute Grund alles Begründens, die Freyheit, darinn. Die Mannichfaltigkeit bezeugt die Energie, die Lebhaftigkeit der practischen Freyheit — die Verknüpfung — die Thätigkeit der theoretischen Freyheit.
(11,270:566) Insofern — und nur insofern — erhält die Poesie als schöne Kunst gegenüber der Philosophie den Vorrang. Auf den Begriff gebracht — nämlich den der >Transzendentalpoesie< — wird das erst 1798, in den >Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungenc »Die transscendentale Poesie ist aus Philosophie und Poesie gemischt« (11,536:47). Die Transzendentalpoesie ist jene Poesie, die die philosophisch eingesehene Struktur der Vermittlung von Reflexion und Gefühl so realisiert, daß sie anschaulich, erfahrbar wird. »Die Poesie ist der Held der Philosophie. Die Philosophie] erhebt die Poesie zum Grundsatz. Sie lehrt uns den Werth der Poesie kennen. Philosophie] ist die Theorie der Poesie. Sie zeigt uns was die Poesie sey, daß sie Eins und alles sey« (II,590^:280). Die neue, frühromantische Begründung der Poesie i.e.S. von der Einbildungskraft her hat Novalis mehrfach entschieden von älteren Konzeptualisierungen abgehoben. Auch bei ihm müssen in der Kunst Einbildungskraft, Verstand und Vernunft, die drei denkenden Vermögen des Gemüts, zusammenwirken. Das ist Gemeingut des 18. Jahrhunderts, aber dann wird der epochale Umbruch in der Geschichte der Einbildungskraft sehr genau bezeichnet: »Unterschied zwischen Dichten und ein Gedicht machen. Der Verstand ist der Inbegriff der Talente. Die Vernunft sezt, die Fantasie entwirft — der Verstand führt aus. Umgekehrt, wo die Fantasie ausführt — und der Verstand entwirft. / romantische und rhetorische Poesie« (11,544:99). Über die »Kunst des Anekdotisirens« schreibt Novalis: »Eine wahre Anekdote ist an sich selbst schon poetisch - Sie beschäftigt die Einbildungskraft. Ist nicht die Einbildungskraft, oder das höhere Organ, der poetische Sinn überhaupt« (11,568:206). Das wird dann abgesetzt von einer Poetik, die der dichterischen Einbildungskraft eine dienende Funktion für ein rationalistisches Weltbild zumißt: »Es ist nur nicht reine Poesie, wenn die Einbildungskraft um des Verstandes, des Erkenntnißvermögens willen, erregt wird« (11,568:206).
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Die Herausbildung dieses Poesie-Begriffs in den Jahren 1 7 9 6 — 1 7 9 8 , angefangen mit der in den Zusammenhang der >Fichte-Studien< gehörenden Aufzeichnung >Des Dichters R e i c h s über die >Hemsterhuis-< und >Kant-Studien< bis hin zu den >Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungens kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden, ebensowenig ihre philosophische Begründung im kritischen Anschluß an Fichte und Hemsterhuis. Statt dessen soll ein Schlaglicht auf eine in diesem Zusammenhang selten beachtete gedankliche Beziehung geworfen werden. Für die Konzeption einer Transzendentalpoesie als symbolischer Offenbarung dessen, was in der Philosophie nur als regulative Idee gedacht werden kann, scheint, wie bereits die Formulierung, man müsse »weit besser als Fichte fichtisieren«, aber auch chronologische bzw. quellenkritische Gründe nahelegen, nicht Fichte das Vorbild gewesen zu sein, auch wenn er als Anreger nicht ganz auszuschließen ist. 7 Möglicherweise hat aber Kant eine bedeutendere Rolle gespielt als bislang angenommen. Es ist gelegentlich darauf hingewiesen worden, daß es, am Anfang der >Fichte-Studien< und in der >Vermischten Bemerkung< Nr. 22, eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Kants >Kritik der Urteilskraft gibt, 7
Richard Samuel (vgl. 11,510) hat darauf hingewiesen, daß schon aus chronologischen Gründen ein Einfluß durch Fichtes »System der Sittenlehre< (1798) unwahrscheinlich ist, da die >Logologischen Fragmente< und >Poeticismen< bereits am 2 4 . 2 . 1 7 9 8 vorlagen. Bernward Loheide hat dagegen eingewandt, daß die Datierung unsicher sei, und verweist außerdem auf Fichtes Aufsatz >Über Geist und Buchstab in der Philosophie«; vgl. Loheide, Bernward: Fichte und Novalis. Transzendentalphilosophisches Denken im romantischen Diskurs. Amsterdam/Atlanta (GA) 2000 (Fichte-Studien-Supplementa, Bd. 13), S. 2 8 2 286 und S. 77 — 81. Z u bedenken bleibt aber, (1.) daß Novalis im Blick auf das von ihm postulierte Vernehmen des Grundes von einer »höhere[n] W[issenschafts]L[ehre]« (II,52 8f.:2i) spricht und es auch im Blick auf ästhetische Überlegungen i.e.S. neben inhaltlichen Gemeinsamkeiten auch Unterschiede gibt und (2.) daß Novalis schon während der Niederschrift der II. Gruppe der >Fichte-Studien< und im Anschluß daran über das Verhältnis der Dichtkunst zur Philosophie nachdenkt und das Thema bereits im Februar/März 1796 in der Handschrift >Des Dichters Reich« (vgl. V,9f.) zum Gegenstand einer eigenständigen Aufzeichnung wird. Z u deren Interpretation mit Blick auf die >Fichte-Studien< vgl. zuletzt Schmaus, Marion: Die poetische Konstruktion des Selbst. Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault. Tübingen 2000 (Hermaea, Bd. 92), S. 2 7 - 3 1 . Zur o.a. Aufzeichnung Nr. 21 vgl. Frank, Manfred: Das Problem >Zeit< in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und Tiecks Dichtung. München 1972, S. 165^ und Molnär, Geza von: Die Umwertung des moralischen Freiheitsbegriffs im kunsttheoretischen Denken des Novalis. In: Erkennen und Deuten. Essays zur Literatur und Literaturtheorie. Edgar Lohner in memoriam. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Martha Woodmansee und Walter F. W. Lohnes. Berlin 1983, S. 101 —118.
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und zwar im Blick auf das Verhältnis von Genie und Geschmack sowie Genie und Talent. 8 In den >Vermischten Bemerkungen« ( 1 7 9 7 ) hatte Novalis festgehalten, das »Talent darzustellen, genau zu beobachten — zweckmäßig die Beobachtung zu beschreiben« sei eine notwendige Voraussetzung für ein Genie: »Ohne dieses Talent sieht man nur halb — und ist nur ein halbes Genie — man kann genialische Anlage haben, die in Ermangelung jenes Talents nie zur Entwicklung kommt« (11,420:22). Das findet eine genaue Entsprechung in Kants >Kritik der Urteilskraft Kritik der Urteilskraft«, der Paragraph 4 7 , steht jedoch in einem viel weiteren und für Novalis' Poesie-Begriff sehr aufschlußreichen Zusammenhang. Kant legt in den Paragraphen 46— 5 0 das Verhältnis von Einbildungskraft, Verstand und Vernunft auf eine Weise dar, die Novalis sehr entgegengekommen sein muß. Selbst wenn er sie nicht gelesen haben sollte, sind diese Ausführungen geeignet zu zeigen, 8
9
10
Vgl. 1 1 , 1 0 4 : 1 und II,4i8f.:22 sowie die Kommentare von Hans-Joachim Mahl zu der Passage in den >Fichte-Studien< (11,724) und von Hans Jürgen Balmes zu den Vermischten Bemerkungen (Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München, Wien 1987. Bd. III: Hans Jürgen Balmes: Kommentar, S. 325). Bezüge zur »Kritik der Urteilskraft finden sich auch in anderen Passagen des Werkes von Novalis, etwa bei der Rede von der Natur als einer »großen Chiffernschrift« (1,79) am Anfang der »Lehrlinge zu SaisWilhelm-MeisterGemütbelebungskunsterhabeneNaturlehre< ( 1 7 7 0 ) . 1 6 Das Bild solle den Leser, den Segner wie einen »Lehrling« in den »Tempel« der Göttin fuhren wolle, schon vor der Lektüre »mit dem heiligen Schauer« erfüllen, »der das Gemüth zu feierlicher Aufmerksamkeit stimmen soll«. 1 7 Hier berühren sich die kantische >Gemütbelebungskunst< und die romantische >Gemüterregungskunst< nicht nur im Blick auf die sinnliche Vergegenwärtigung regulativer Ideen, sondern auch auf die Initiations- und Geheimnisrhetorik. Nachdem die transzendentalphilosophische Wende die Grenzen der Vernunft bestimmt hat, bietet sich das Modell der Mysterienrede an, um zentrale Denkprinzipien mitteilbar zu machen, ohne das Mitzuteilende auf seine Verstehbarkeit und Mitteilbarkeit (nach alltagsweltlichen oder rationalistischen Maßstäben) zu reduzieren. 18
14
Ebd., S. 3 1 7 .
' ' E b d . , S. 3 1 6 . ,6 Z u m Zusammenhang vgl. die Darstellung bei Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München, Wien 1 9 9 8 , bes. S. 1 7 3 - 2 1 0 (»Der Namenlose und der All-Eine«), Assmann (S. I92ff.) erwähnt auch den Irrtum Kants: Die Vignette zeigt zwar Isis, aber nicht das verschleierte Bild zu Sais. Assmann erinnert außerdem nicht nur daran, daß die >Kritik der Urteilskraft im selben Jahr 1 7 9 0 erschien wie Schillers Aufsatz, sondern vermutet, daß Reinhold dem bewunderten Philosophen die Abhandlung zugesandt habe. 17
Kant (s. Anm. 9), S. 3 1 6 .
18
V g l . Petersdorff, Dirk von: Mysterienrede. Z u m Selbstverständnis romantischer Intellektueller. Tübingen 1 9 9 6 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 1 3 9 ) . Petersdorff gibt eine umfassende Darstellung der historischen und zeitgenössischen Voraussetzungen, wodurch die engen Verflechtungen mit der Aufklärung deutlich werden. Neben den motivgeschichtlichen Bezügen und der Funktion der Mysterienrede für eine Dichtung, die die transzendentalphilosophische Wende reflektieren will, arbeitet Petersdorff vor allem den Widerspruch zwischen Exoterik und Esoterik heraus, in den die Frühromantiker damit geraten. Daraus wird dann eine heftige Attacke gegen den angeblichen elitären romantischen Solipsismus und seine Unverständlichkeit.
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Novalis' Pointe besteht freilich darin, daß er das Bild der Göttin zu Sais zum Sinnbild für eine intellektuale Anschauung werden läßt, deren Möglichkeit von den kantischen Voraussetzungen her noch gar nicht gegeben war, sondern erst mit den >Fichte-Studienwache Träumen< zum Ideal, nicht das bewußtlose Träumen. Es verwirklicht sich im literarischen Traum.
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Zusammenhangs verweist. Als wichtigstes Vorbild für eine solche Weise der Produktion von Sinn und Bedeutung fungiert bei Novalis die Mathematik, mit der die Musik daher häufig verglichen wird. In einer Aufzeichnung über die »Musikalische] Mathem[atik]« werden beide dann zum Modell für eine transzendentalpoetische Ideenkunst: Mit der Musik ist es aus Novalis' Sicht wie mit der Mathematik, genauer gesagt der Kombinatorik und Infinitesimalrechnung: in ihr lassen sich durch die Relationierung endlicher Größen unendliche Größen erzeugen. Betrachtet man die Sprache ebenso, dann gilt: »Die Sprache ist ein musicalisches Ideen Instrument« (111,360:547). Im Musikalischen geht es weder um Mimesis einer in vorkritischer Metaphysik angenommenen Ordnung des Kosmos, noch geht es lediglich um das selbstreferentielle Spiel der Zeichen. Wie die Mathematik, die kombinatorische Analysis< (111,360:547), bezeichnet das >Musikalische< in poetologischen Zusammenhängen Prinzipien jeder Darstellung, jeder »indirecten Construction« (111,463:1044) überhaupt, die sich bei Novalis aus der Bestimmung des Ordo inversus und der Einbildungskraft als Vermögen und Sphäre der Darstellung ergeben. Dabei geht es vor allem um die Unmöglichkeit einer Letztbegründung bzw. die Unhintergehbarkeit zweier ursprünglicher Prinzipien und die damit, »wie in der Musik«, gegebene Möglichkeit »mehrere[r] Auflösungen einer Dissonanz« (111,657:590). Musik und Poesie haben die Struktur eines differentiellen Spiels (»Jedes ist nur das auf seinem Platze, was es durch die andern ist« ( 1 1 , 1 0 9 : 1 1 ) ) , das im Blick auf eine »Auflösung der A n t i n o m i e s (vgl. I I I , 1 7 7 ^ 1 4 und 111,373:603) gespielt wird. Eben darin liegt die Analogie, die Wechselrepräsentation zwischen dem Musikalischen und der Erzeugung von Subjekt und Objekt, von Ich und Natur. Insofern wird im >Musikalischen< anschaubar bzw. erfahrbar, was >Natur< und Wirklichkeit ist: das sich verzeitlichende Absolute, das sich darstellende (absolute) Ich. Nur eine solche nichtrepräsentationistische Sprache ist eine »heilige Schrift«, »ein Accord aus des Weltalls Symphonie« (1,79). Die Paradoxie hervortreibend, könnte man sagen: Nur die nichtrepräsentationistische Kunst ist Naturnachahmung, nämlich Darstellung der Idee der Natur, des Ideellen in der Natur oder der Gleichursprünglichkeit von Ich und Natur und ihrer Wechselrepräsentation. 45 45
Vgl. »Über die allgemeine] η Sprache der Musik. Der Geist wird frey, unbestimmt angeregt - das thut ihm so wohl — das dünkt ihm so bekannt, so vaterländisch - er ist auf diese kurzen Augenblicke in seiner indischen Heymath. Alles Liebe - und Gute, Zukunft und Vergangenheit regt sich in ihm - Hoffnung und Sehnsucht« (111,283:245; dazu verallgemeinernd 111,2 57^:92).
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Die Deutung von Petersen verkennt, daß und wie sehr gerade bei Novalis die >Einbildungskraft< als >Darstellungskraft< gedeutet wird und wie genau er sich damit der Sache wie dem Begriff nach in die zeitgenössischen Debatten einfugt. Dieser Befund bestätigt sich beim Blick auf die im engeren Sinne >poetologische< Fassung der >Darstellung< in den Jahren 1797/98, d.h. in den >Vermischten Bemerkungen (Nr. 26—30) und den »Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen< aus dem Jahre 1798. Hier wird das Konzept der >Darstellung< wieder aufgegriffen und um spezifisch künstlerische Dimensionen erweitert. Dies geschieht, wie im folgenden gezeigt werden soll, im engen Bezug auf die Weimarer Klassik, und zwar im Blick auf jene Texte, die Petersen als paradigmatisch für die vorromantische Abkehr vom Prinzip der Naturnachahmung bezeichnet.4«3 So bezieht sich Novalis in den >Vermischten Bemerkungen< Nr. 26—30 auf die Ablehnung der Nachahmungsästhetik durch die Weimarer Klassik mit den Begriffen >StilManier< und >DarstellungTeutschem Merkur< erschienen war, und zu Schillers >KalliasNachahmung< festzuhalten, ihm aber eine ganz neue Bedeutung zu geben: »Nachahmung ist die formale Ähnlichkeit des materialiter verschiedenen«.48 Daraus ergibt sich für Schiller: »Bei einem Kunstwerk also muß sich der Stoff (die Natur des Nachahmenden) in der Form (des Nachgeahmten), der Körper in der Idee, die Wirklichkeit in der Erschei46
47 48
Hinzuzunehmen wäre noch Kant, auf dessen Nähe zu Novalis schon hingewiesen wurde. Auch im Falle Klopstocks, der begrifflich wie der Sache nach die >Nachahmung< zugunsten der auf die innere Bewegung des Rezipienten zielende >Darstellung< ersetzt und bei dem sich der Begriff der >Täuschung< ändert (vgl. Petersen (s. Anm. 34), S. 2 1 5 — 2 2 0 ) , wäre ein Vergleich mit Novalis lohnend. Hans-Joachim Mähl (vgl. V,6) hat daraufhingewiesen, daß Novalis Schillers 1 7 9 5 in den >Horen< erschienenen Aufsatz >Der sentimentalische Dichter< kannte, in dem Klopstock ein >musikalischer Dichter« genannt wird, dessen Einbildungskraft, anders als in den nachahmenden (>plastischenNachahmungPropyläenÜber Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke< (1798). In diesem Dialog läßt Goethe einen »Anwalt« der Kunst einem »Zuschauer« am Beispiel der Oper deutlich machen, daß Nachahmung der Wirklichkeit und Kunst nichts miteinander zu tun haben. Der Zuschauer muß zugeben, daß die Oper voller Unwahrscheinlichkeiten
49 50
Ebd., S. 324. Z u Novalis' Interesse am Drama als >Gesamtkunstwerk< vgl. den erhellenden Beitrag von Johannes Endres: Szenen der »VerwandlungDarstellungsLaokoon< und meint: »Ohne diesen [...] wird Novalis' Verwendung des >DarstellungsFichte-Studien< entwickelt, sondern von Novalis' »Aufzeichnungen zu seiner Lessing-Lektüre« (ebd.) kann man im Blick auf den >Laokoon< eigentlich nicht sprechen: Es handelt sich bei den Notizen (vgl. 11,379:40) um Aufzeichnungen zu einer Lektüre von Hemsterhuis. Novalis stützt sich auf einen französischen Auszug aus Lessings Schrift innerhalb der Hemsterhuis-Ausgabe; seine Notizen beziehen sich außerdem nicht auf Lessings Forderung nach »täuschender LebendigkeitLaokoonPropyläen< (III,4i2f.).
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steckt und gleichwohl bis zur Selbstvergessenheit den Eindruck von Realität erweckt, und er bringt die neu gewonnene Einsicht auf den Begriff mit den Worten: »Wenn die Oper gut ist, macht sie freilich eine kleine Welt für sich aus, in der alles nach gewissen Gesetzen vorgeht, die nach ihren eigenen Gesetzen beurteilt, nach ihren eigenen Eigenschaften gefühlt sein will.« 5 1 Das entspricht nicht nur den Gedanken von Novalis zur Naturnachahmung, sondern es ist auch gut denkbar, daß sein mutmaßlich zur selben Zeit verfaßter sprachphilosophischer >Monologopernhaftes< Sprachkunstwerk hatte Novalis schon Anfang 1 7 9 8 einen Text gewürdigt, der eine bahnbrechende Bedeutung für seine eigene Dichtung erhalten sollte. Sein Verfasser war wiederum Goethe: »Göthes Märchen ist eine erzählte Oper« (11,535:45). Das war weder Zufall noch ein vereinzeltes Bonmot. Vielmehr bildete »der große Styl der Darstellung, den man, mit Recht, an Göthe, so sehr bewundert« (11,422: 26) für Novalis in den Jahren 1798/99 den zentralen Bezugspunkt der Selbstverständigung. Die Wertschätzung bezieht sich, wie aus dem Ent51
Goethe, Johann Wolfgang von: Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Ein Gespräch. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. 7. Aufl. München 1 9 7 3 , Bd. X I I , S. 6 6 - 7 3 , hier S. 70.
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Da die Handschrift des >Monolog< nicht mehr vorhanden ist, ist die Datierung unsicher. Der Verweis auf die Mathematik legt eine Datierung auf die >Freiberger Studien< ( 1 7 9 8 / 99) nahe, so daß auch eine zeitliche Nähe zu den >Vorarbeiten< gegeben wäre.
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wurf >Über Goethe< hervorgeht, auf den Naturforscher und Dichter: »An ihm kann man die Gabe zu abstrahiren in einem neuen Lichte kennen lernen. Er abstrahirt mit einer seltnen Genauigkeit, aber nie ohne das Object zugleich zu construiren, dem die Abstraction entspricht« (11,641). Was Novalis' Poetik der damit verbundenen Auseinandersetzung mit >Wilhelm Meisters Lehrjahren< und dem >Märchen< verdankt, ist bekannt. Mit dem Hinweis auf solche poetologischen Bezüge sollen nicht die Unterschiede zwischen Weimarer Klassik und Frühromantik verwischt werden. Im Blick auf die >KalliasMonolog< als Fesseln, aber eben auch als Charme der romantischen Ironie entfaltet. Und mit Blick auf Goethe muß man nicht erst auf die spätere >Wilhelm MeisterMythologie< wird dann erläutert als eine »in meinem Sinn, als freye poetische Erfindung, die die Wircklichkeit sehr mannichfach symbolisirt etc.« (ebd.). Symbolisierung der > Wirklichkeit< bedeutet im Bereich historischen Erzählens, daß es eine historiographische Basis haben muß: »Eine gute Gesch[ichte] kann nur aus Quellen entstehn, die auch schon gute Geschichten sind« (111,669: 607). Nicht ohne Grund schreibt Novalis am 2 7 . Februar 1 7 9 9 an Caroline Schlegel über seinen geplanten Roman, dieser werde von Schlegels >Lucinde< »himmelweit verschieden« sein und er »hoffe damit zugleich meine historische und philosophische Sehnsucht zu befriedigen« ( I V , 2 8 1 ) . 5 6 Aus Novalis' Sicht und in seiner Terminologie war der >Heinrich von Ofterdingen< durchaus ein historischer RomanHeinrich von OfterdingenLehrlinge zu SaisLucinde< bzw. den ihm vorliegenden ersten Kapiteln übt Novalis harte Kritik: »Der Traum und die Fantasie sind zum Vergessen - Man darf sich nicht dabey aufhalten — am wenigsten ihn verewigen« (IV,280). Er selbst wünsche sich, auch beim Träumen »heimlich immer zu wachen« (ebd.). Daraus ergeben sich transzendentale Träumereien, in Novalis' Worten: »Ich bin dem Mittage so nahe, daß die Schatten die Größe der Gegenstände haben - und also die Bildungen meiner Fantasie so ziemlich der w i r k lichen Welt entsprechen« (IV,28i). Pointiert setzt er gegen Schlegels >corynthischen Tempelstil« seine »bürgerliche Baukunst« (IV,281). Im selben Jahr 1 7 9 9 verfaßt Novalis seitenlange Aufzeichnungen im Rahmen von Vorstudien zum eigenen Roman (vgl. 1 1 1 , 5 8 i f f . ) und notiert u.a.: »Bergmännische, geognostische und technologische Lektüre« (111,581:202); vgl. dazu bereits: Schulz, Gerhard: Die Poetik des Romans bei Novalis. In: Deutsche Romantheorien. Hrsg. von Reinhold Grimm. Frankfurt a. M. 1 9 7 4 (Fischer Athenäum Taschenbücher Literaturwissenschaft, Bd. 2066/2067), Bd. I, S. 1 2 5 - 1 5 4 , hier S. i 4 i f . Diese Vorstellungen ließen sich im >Lehrlingevormodernen< Auffassungen von den Vorsokratikern bis zur Alchimie. Nur solche Konzepte genügen einem angemessenen Anspruch auf Erkenntnis, so darf man das im Romanzusammenhang verstehen, die Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis als wechselseitige Konstruktion durch eine unendliche symbolische Tätigkeit begreifen. 58 In der >Europa Hymne an die Nacht < und darf zunächst wie diese auf die spätantike Umbruchszeit und das Verschwinden früherer Formen einer Mittlerreligion, d.h. vor allem der Mysterienreligionen, bezogen werden. Die >Europa< läßt aber das systematische Argument deutlicher hervortreten, das sich mit Blick auf die >Vermischte Bemerkung< Nr. 73 folgendermaßen formulieren ließe: Wo immer in der nachantiken Zeit der (antike) Gedanke der >Götter auf ErdenMittlern< werden, verlorenging, schlug der Gewinn des Monotheismus (Entheismus) gegenüber dem Pantheismus in eine Herrschaft der Abstraktion, des Verstandes um. Der Sprecher der >Europa< verweist allerdings nur an dieser Stelle darauf, daß die Ursprünge der Fehlentwicklung bereits im Übergang von der Spätantike zum Christentum zu suchen sind. Ansonsten entwickelt er bekanntlich die These, erst mit dem Auseinandertreten 58
Das bedeutet keineswegs, daß alle in den >Lehrlingen zu Sais< zur Sprache kommenden Positionen gleichwertig seien. Bewertungen durch Ironiesignale sind ebenso offenkundig wie inhaltliche Veränderungen der Sprecheräußerungen zwischen der ersten und der zweiten Gesprächsrunde. Daß es bei der romantischen Naturphilosophie in systematischer Hinsicht um eine Aneignung älterer Konzepte unter den Bedingungen transzendentalphilosophischer >SelbstKenne dich Selbst< programmatisch fest. V g l . dazu jetzt Stockinger, Ludwig: Das »Selbst« und das »selbst«. Zur Deutung von >Kenne dich Selbst< im Lichte der neu aufgefundenen Handschrift. In: Novalis. Das Werk und seine Editoren. Hrsg. von Gabriele Rommel. Wiederstedt 2 0 0 1 , S. 87 —
ΙΟΙ.
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von Wissen und Glauben im Spätmittelalter habe die Durchsetzung eines rationalistischen Naturbegriffs begonnen, wie er dann in dem, was in der Rede polemisch »Aufklärung« genannt wird, triumphiert habe. 59 Freilich seien gerade »jene[] Gelehrten und Philosophen« »die Ersten« gewesen, »die wieder die Heiligkeit der Natur« erkannt hätten und damit »einer höhern, allgemeinern und furchtbarem Gespensterherrschaft, als sie selbst glaubten, ein Ende machten« (111,520). Als »Liturg« (IV,276) dieser neuen Physik galt dem Verfasser der Rede Goethe, in dessen >zarter Empirie< er offenbar eine Bestätigung des eigenen Analogiendenkens und des Verfahrens der »indirekten Construction erkannte. 00 Deshalb kann der Sprecher der >Europa< ausrufen: »Das Höchste in der Physik ist jetzt vorhanden« (III,52i), und die Entwicklung der Naturlehre, nämlich die bereits begonnene Verknüpfung von empirischer Naturwissenschaft und transzendentalphilosophischer Wissenschaftslehre zum Modell erklären fur das »politische Schauspiel unsrer Zeit«, das noch einer glücklichen Auflösung harre, die sich nach demselben Muster, also dem einer »politische[n] Wissenschaftslehre«, durch Bildung eines (auf Ideen gegründeten) »Staat[s] der Staaten« (111,522) vollziehen soll. — Die Abkehr von der Naturnachahmung bedeutet also im Blick auf Geschichte und Natur zumindest für die Gattung des Romans keinen Verzicht auf den Anspruch auf Erkenntnis und deshalb auch keine Absage an die Empirie, die jedoch immer als gedeutete, d.h. auf Ideen bezogene Wirklichkeit erscheint. Das läßt auch den Terminus der Nachahmung bei Novalis nicht ganz unberührt: Die Formel >Abkehr von der Naturnachahmung< trifft nicht nur der Sache nach, sondern auch terminologisch nicht die ganze Wahrheit. Novalis hat durchaus auch einen positiven Begriff von Nachahmung. 01 59
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Angesichts der Orientierung der > Europa < an der Gattung der oratio deliberativa muß man zwischen dem Sprecher der Rede und dem Verfasser unterscheiden, und vielleicht ist auch das eine Erklärung fiir den vorübergehenden Perspektivenwechsel. In seinen Aufzeichnungen und Briefen setzt Novalis in mehrfacher Hinsicht durchaus einen anderen Akzent und betont, daß es in der Geschichte der Naturlehre auch eine Kontinuität des Sinns für »das Höchste< gegeben habe. Sie wird mit den Namen Piaton, Plotin, Spinoza, Leibniz, Hemsterhuis, Schelling, Baader, Ritter und Goethe bezeichnet (vgl. etwa den Brief an Caroline Schlegel vom 20. r. 1799, IV,275f.). Vgl. Stadler, Ulrich: »Ich lehre nicht, ich erzähle«. Über den Analogiegebrauch im Umkreis der Romantik. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 3, 1993, S. 83—105. Bereits bei der Beschäftigung mit Goethes Darstellungsstil im Frühjahr 1798 gibt es einen positiven Begriff von Nachahmung: »Über mimische Nachahmung - mahlenden Ausdruck, vid. Göthes Prosa - Anfang. Verständiger Ausdruck. Seine Kunst zu beschreiben, zu zeigen. Einfaches Auseinanderlegen und Zusammensetzen der Dinge mit Worten« (11,544:96). Vgl. auch den Hinweis auf die »Natur«, der Goethe mit seiner Verknüp-
Einbildungskraft und Poesie bei Novalis
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Eine bemerkenswerte Rolle scheint hier die Malerei, genauer der Besuch in der Dresdner Antiken- und Gemäldegalerie Ende August 1798 gespielt zu haben. August Wilhelm Schlegels >Die Gemähldebeschreibende< Kunst und müsse als solche immer hinter der Natur zurückbleiben, zu widerlegen, führt die Sprecherin Louise Landschaftsgemälde von Salvator Rosa, Claude Lorrain und Ruisdael an, die durch ihre Komposition, das Licht und die Farbgebung ihre eigene Wahrheit hätten und damit »die Sinne bezauber[n]« oder »lebendig zum Geiste rede[n]«. 62 Der Sprecher Reinhold greift das auf und entwickelt eine Apologie des Scheins. Licht, Luft und Farbe — das, wodurch die Gegenstände erst erscheinen, seien nicht Beiwerk, sondern sie gehörten zur Hauptsache. Deshalb soll die Malerei »den Schein idealisiren. [ . . . ] Der Mahler giebt ihm einen Körper, eine selbständige Existenz außer unserm Organ: er macht uns das Medium alles Sichtbaren selbst zum Gegenstande. Wir sollten also bey dem Schein verweilen, und wie kann er das verdienen, wenn er nicht auf das bedeutendste und wohlgefälligste gewählt und dargestellt wird« (S. 64). Solche Darstellung des Scheins wird entschieden gegen den Vorwurf der »Täuschung«, einer bloßen Illusionskunst, in Schutz genommen (vgl. S. 64), und doch zugleich darauf verpflichtet, die Dinge so darzustellen, wie sie »erscheinen«. Nicht die Erscheinung ist eine andere, sondern die Fähigkeit des Künstlers, sie aufzufassen und sie wiederzugeben. Für gewöhnlich werde der »Sinn des Auges« von Kindheit an nach »seiner Brauchbarkeit in der Haushaltung« (S. 62) ausgebildet, d.h. er orientiert fungstechnik einen »artigen Kunstgriff abgemerckt« habe, in der >Vermischten Bemerkung< Nr. 2 7 (11,424:27). Ebenfalls im Frühjahr 1 7 9 8 verdeutlicht Novalis anhand der Schauspielkunst den Unterschied zwischen einer nur »symptomatische[n]« und einer »genetische[n] Nachahmung«: »Die lezte ist allein lebendig. Sie sezt die innigste Vereinigung der Einbildungskraft, und des Verstandes voraus. / Dieses Vermögen eine fremde Individualitaet wahrhaft in sich zu erwecken - nicht blos durch eine oberflächliche Nachahmung zu täuschen - ist noch gänzlich unbekannt - und beruht auf einer höchst wunderbaren Penetration und geistigen Mimik. Der Künstler macht sich zu allem, was er sieht und seyn will.« »Der Mimus vivificirt in sich das Princip einer bestimmten Individualitaet willlkiibrlich« (11,534^41). 62
Schlegel, August Wilhelm: Die Gemähide. Ein Gespräch. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift. Hrsg. von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Reprograph. Nachdruck Darmstadt 1 9 8 3 . Zweiten Bandes Erstes Stück, Berlin 1 7 9 9 , 8 . 3 9 - 1 5 1 , hier S. 6 1 . Die folgenden Zitatnachweise im Text nach dieser Ausgabe.
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sich daran, wie die Dinge »sich greifen und handhaben lassen« (S. 63). Wann sehe man dagegen »einmal um des Sehens willen« (S. 62)? Beim Maler dagegen, dem »Meister im Sehen«, sei die »Einbildungskraft immer auf die Erscheinung gerichtet« (S. 65). Er sieht und zeigt, »wie die Dinge erscheinen«, nicht, wie sie — für den ökonomischen Blick — »sind« (S. 63). Er leiht dem Betrachter »seinen erhöhten Sinn fiir sie, oder vielmehr er stellt den allgemeinen Sinn her, wie er ursprünglich beschaffen ist. Er lehrt uns sehen« (S. 62). — Diese Idealisierung des Scheins impliziert, das Bewußtsein wachzuhalten, daß wir es sind, die den Dingen ihren Schein, und damit ihren Körper und ihre Seele, die unsere eigene ist (vgl. S. 66), geben. Die Kunst solcher Landschaftsmalerei besteht darin, weder »zu willkürlich in die Natur hinein[zu]dichten«, noch den Schein in den »bezeichnete[n] Gegenstände[n]« sich verlieren zu lassen. Letzteres ist die größere Gefahr und entspräche dem Versuch, in dem Gemälde die Landschaft wiederzugeben, statt zu lehren, eine Landschaft wie ein Gemälde zu betrachten (vgl. S. 62). Das korrespondiert mit Novalis' Überlegungen zur Gleichursprünglichkeit und Wechselrepräsentation von Subjekt und Objekt, Ich und Natur. 63 Solche Nachahmung, die sinnliche Anschauung mit »Abstrakzion« (S. 65) vom gewöhnlichen Blick verband, konnte Novalis verbinden mit der in den >Fichte-Studien< entwickelten Dialektik des Scheins, der nicht nur einen Mangel anzeigt, sondern vice versa auch etwas erscheinen läßt. So ließ sich eine Nachahmung von Natur und Geschichte denken, die diese als — zu befördernde — Bewegung zwischen zwei Ewigkeiten, zwischen einer vergangenen und einer kommenden goldenen Zeit darstellte, Zielvorstellungen, fur die jedoch gilt: »Die Geschichte muß immer unvollständig bleiben« (III,668:6o7). 64 Vor diesem Hintergrund darf man dann in der Kunsttheorie durchaus wieder von »Nachahmung« sprechen, freilich nicht mehr im alten Sinne. Novalis las die Ausführungen Schlegels noch vor der Drucklegung. Seine Lektürenotizen enden mit einem Verweis auf diese Kunst des Scheins: Unter der Überschrift »K[unst]L[ehre]. Krit[ik]« notiert er: »Über das
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Friedmar Apel hat das in umfassende Zusammenhänge gestellt und ist dabei auch auf kognitionswissenschaftliche und neurophysiologische Aspekte sowie das Phänomen der biologisch-kulturellen Rückkopplung eingegangen; vgl. Apel, Friedmar: Die romantische Schule des Sehens. In: Romantische Kunstlehre. Poesie und Poetik des Blicks in der deutschen Romantik. Hrsg. von dems. Frankfurt a. M . 1 9 9 2 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 79/Bibliothek der Kunstliteratur, Bd. 4), S. 7 1 3 - 7 6 0 .
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V g l . 1 1 , 2 6 9 : 5 6 5 ; 1 1 , 2 8 8 : 6 4 7 und 1 1 1 , 3 8 4 : 6 3 4 .
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neuere Princip der Nachahmung der Natur. / Realisirung des Scheins. Schl[egel] Sen[ior]./« (111,244:38). Aus dem Zusammenhang von Einbildungskraft und >neuerer Nachahmung der Natur< ergibt sich fxir die Funktionsbestimmung der romantischen Poesie bei Novalis, daß zu ihrer Autonomie der Rückbezug auf die Lebenspraxis gehört. »Die Poesie [...] mischt alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke - der Erhebung des Menschen über sich selbst« (11,535:42), und: »Poesie ist die große Kunst der Construction der transscendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transscendentale Arzt« (11,535:42). Das ist der Sache nach von Hans-Joachim Mähl als Kern einer frühromantischen Universalutopie verständlich gemacht und in Beziehung zum philosophischen Chiliasmus Kants gesetzt worden.65 Mit dem Universalitätsanspruch ist jedoch verbunden, daß die Poesie bzw. die Kunst in der Frühromantik im Unterschied zur Aufklärung die höchste Stelle im System einnimmt. Sie stellt, vereinfacht gesagt, nicht mehr eine zuvor philosophisch erkannte Welt dar, sondern führt über die Grenzen der Philosophie hinaus. Sie ist damit jedoch nicht mehr nur der >Held der Philosophies sondern tritt als symbolische Offenbarung auch an die Stelle der Religion: Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizism gemein. Er ist der Sinn für das Eigenthümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendigzufällige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare etc. [ . . . ] Der Dichter [ . . . ] stellt im eigentlichsten Sinn Subj[ect\ Obj[ect] vor — Gemüth und Welt. Daher die Unendlichkeit eines guten Gedichts, die Ewigkeit. Der Sinn für P[oesie] hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn überhaupt. Der Dichter ordnet, vereinigt, wählt, erfindet - und es ist ihm selbst unbegreiflich, warum gerade so und nicht anders. ( I I I , 6 8 5 ^ : 6 7 1 )
Die Kunst tritt also insofern an die Stelle der Religion, als sie selbst Vergegenwärtigung des Unbedingten in der Phantasie, narrative Konstruktion der Einheit von Immanenz und Transzendenz, Darstellung der Erscheinung des Absoluten in Natur und Geschichte ist. Diese Systemkonkurrenz läßt die etablierten Offenbarungsreligionen nicht unberührt: »Das Xstenthum ist durchaus historische Religion, die aber in die Natürliche der Moral, und die Künstliche der Poesie, oder die Mythologie übergeht« 65
V g l . Mähl, Hans-Joachim: Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Frühromantikern. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Frankfurt a. M. 1 9 8 5 , Bd. III, S. 2 7 3 — 3 0 2 , hier bes. S. 2 7 6 - 2 7 9 .
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(111,6671607). 66 Von Mythologie kann Novalis sprechen, weil es um die Versinnlichung von Ideen geht, von >neuer< Mythologie ist die Rede, insofern Erscheinung und Idee nicht zusammenfallen, sondern so aufeinander bezogen werden, daß die Erscheinungswelt zum Mittler, zum Symbol oder zur Allegorie wird. Das ist gemeint mit der anschaubaren Einheit von Erscheinungswelt und Idee in der stetigen Bewegung der Erscheinungen. Während die dichterischen Texte solche Epiphanien des Absoluten inszenieren, wird in der >Europaausgezeichnete< Mittlerreligion verstehen läßt. Dennoch gilt die selbstbewußte >Vermischte Bemerkung< Nr. 108: »Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel.«
IV. Historische Moderne Novalis hat der dichterischen Einbildungskraft einen Raum eröffnet, der größer kaum sein könnte und der seither zu den Möglichkeiten der Kunst gehört. Er hat dies nicht nur durch die theoretische Begründung der Einbildungskraft und die daraus entwickelte Poetologie getan, sondern ebensosehr durch seine poetische Praxis. In gattungsgeschichtlicher Hinsicht gilt das insbesondere für die Poetik der Fragmentsammlungen, die Poetik des Märchens und seinen Beitrag zur Geschichte der Lyrik, vor allem die >Hymnen an die NachtNeuen Mythologie< langfristig nicht jene Teile ins kollektive Bildgedächtnis aufgenommen wurden, die an die alte — christliche - Mythologie anschlossen, sondern jene originären Schöpfungen, die man eher als Chiffren bezeichnen möchte, als Allegorien, deren Bedeutung nicht festgelegt ist, weil sie immer auch das Entwerfen von Bedeutungen ermöglichen wollen, um so ihrer Funktion als symbolischen Vergegenwärtigungen des Absoluten gerecht zu werden. Was den Ton und den Rhythmus der poetischen Sprache betrifft, so ist charakteristisch das Auf- und Abwogen der Bilderwelten: der Wechsel zwischen Transparenz und Opazität der >Tropen und RätselspracheRomantisierungWut des Verstehens< unauflöslich sind. In diesen Fällen verbindet die Einbildungskraft als Witz und Kombinatorik gerne präzise Wissenschaftlichkeit und Mystizismus, die ältesten Mysterien und das Neueste aus der Chemie, Mathematik, Medizin, Politik oder dem Alltagsleben. Ganze Passagen oder gar Texte entstehen durch die Übertragung von Prinzipien aus dem Infinitesimalkalkül, der Chemie der Mischungen, der Elektrizitätslehre, der Philosophie der Selbstreflexion oder durch die Ineinssetzung von Spiritualität und Erotik. Diese Einbildungskraft bringt dadurch sprachlich Überzeugendes zustande, daß sie
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sich auf die Gegenwart bezieht, sie mit der Vergangenheit, aber auch mit der Zukunft konfrontiert und daß sie aus solchen diskursiven Konstellationen, aus der sekundären Bearbeitung symbolischer Codes, ihre Funken zu schlagen sucht. Zu solcher >RomantisierungPoesieSymbolcharakter< der Darstellung mitbedenkt. Andererseits gibt es aber den Anspruch auf Geschichtsdeutung und Naturerkenntnis sowie die Vorstellung, daß sich die Natur nicht-narzißtisch als >Du< verstehen lasse (>GleichursprünglichkeitPoesie< hier bedeutet, und man scheint auch zu wissen, wie und warum >Poesie< als Medizin bei der Therapie der modernen Verstandeskultur eingesetzt werden kann. Wie sind diese Verheißung und die damit verbundene Hoffnung eigentlich begründet? Der Literaturhistoriker, der seine Tätigkeit nicht vom Interesse der gebildeten Leser abkoppeln, sondern es unterstützen und vertiefen will, hat die Aufgabe, diese Begründung in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu rekonstruieren, um verständlich zu machen, auf welches Problem ein solcher Satz wie der eingangs zitierte eine Antwort geben
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sollte, und w i e er im K o n t e x t der zeitgenössischen S e m a n t i k g e m e i n t war. D i e uns scheinbar vertrauten und verständlichen T e x t e werden unserem E r f a h r u n g s h o r i z o n t dadurch z w a r vorübergehend e n t f r e m d e t , aber dies g e schieht nicht, u m d a m i t die alten T e x t e ins A r c h i v der Literaturgeschichte zu verbannen, sondern u m die T e x t e w i e d e r zu etwas E i g e n s t ä n d i g e m und A n d e r e m zu m a c h e n , das uns zu b e w e g e n v e r m a g . W o w i r so einfache Sätze ohne die H i l f e der Literaturgeschichte zu verstehen g l a u b e n , sind w i r i m m e r in G e f a h r , uns nur i m m e r wieder selbst in den Texten zu s p i e g e l n . 1 M e i n folgender Versuch g e h t von der A n n a h m e aus, daß wir, o b w o h l oder gerade weil die W ö r t e r >Poesie< und >poetisch< bei Friedrich von H a r d e n b e r g in großer H ä u f i g k e i t v e r w e n d e t werden, v o n der B e d e u t u n g dieser W ö r t e r i m semantischen K o n t e x t u m 1 8 0 0 ausgehen müssen. D e r Z u g a n g zur E r l ä u t e r u n g der W o r t v e r w e n d u n g , den ich wähle, ist nicht der einer internen R e k o n s t r u k t i o n der W o r t v e r w e n d u n g aus allen einschläg i g e n Textstellen — das ließe sich in einem V o r t r a g auch nicht machen —; v i e l m e h r w e r d e ich ausgehend von der A n a l y s e einer exemplarischen T e x t passage fragen, w i e i m K o n t e x t der zeitgenössischen S e m a n t i k v o n >Poesie< u n d >poetisch< diese Passagen u m 1 8 0 0 verstanden w e r d e n konnten bzw. an w e l c h e eingespielten B e d e u t u n g e n H a r d e n b e r g sich anschließen konnte, u m sich verständlich zu machen.
1
Vor einigen Jahren habe ich mit Zustimmung der Mitherausgeber diese Einstellung als Programm meines akademischen Lehrers Hans-Joachim Mähl, dessen Gedenken dieser Band gewidmet ist, so formuliert: »Der Ernst und die Gewissenhaftigkeit seines Umgangs mit literarischen Texten zeigen ihn als einen Philologen im ursprünglichen Wortsinn, der nach der Richtschnur von Novalis handelt, daß in gewissem Sinn >jedes ächte Buch Bibel< sei (Blüthenstaub Nr. 102), ideelles Orientierungsangebot mit aktuellem Anspruch auf Geltung, dem man sich mit >Glauben und Liebe< zu stellen hat. Aber diese Haltung fuhrt bei ihm nicht zu oberflächlich aktualisierender Anpassung der Tradition an die eigene Befindlichkeit; vielmehr wird er [...] nie müde in der Vermittlung des Grundsatzes, daß der eigene Standort erst dann verstanden wird, wenn die auf ihn einwirkende Tradition als etwas Fremdes mit eigenständigen historischen Bedingungen bewußt gemacht worden ist. [...] Es ist dies ein >HistorisierenabsoIuten Idealismus« zu bringen. Sie gehörte gar nicht zum Idealismus sensu stricto. Wenn >IdealismusSeinSein< ist aber auch nicht, wie Kants >Ding an sich«, einfach nur das andere zu unserer BewußtseinsWelt: dasjenige, wovon unsere Sinneseindrücke Erscheinungen sind. Der Ausdruck >Sein< steht vielmehr für den Einheitsgrund der physischen und der geistigen Wirklichkeit. Er steht auch für die Einheit, als die wir uns in der ausgezeichneten Erfahrung des Selbstbewußtseins kennen, die wir aber in dem Urteil >Ich=Ich< nicht als solche erfassen können. [...] Und von dieser notwendig vorauszusetzenden, aber nie offenbaren Einheit wird angenommen, daß wir sie eben im Bewußtsein nicht angemessen repräsentieren können. 4 Die Frühromantiker gehen also nach Frank von der Annahme eines vom Bewußtsein unabhängigen >Seins< als Grund des Bewußtseins aus, und sie
2
Frank, Manfred: »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1 9 9 7 .
3
V g l . z.B. Kremer, Detlef: Romantik. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart/Weimar 2 0 0 1 .
4
Frank (s. Anm. 2), S. 2 7 .
Hier wird dieses wichtige Buch nicht einmal im Literaturverzeichnis angeführt!
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verbinden dies mit der Annahme, daß das Bewußtsein von diesem >Sein< kein Wissen haben kann. Das unterscheidet die Frühromantiker einerseits von traditioneller philosophischer Metaphysik und von Theologie, die glauben, von diesem >Sein< ein Wissen formulieren zu können, es unterscheidet sie aber auch von >idealistischen< Positionen, die den Anfang alles Wissens über das Ich und die Welt in das Ich selbst verlegen. Während der Idealismus das Prinzip des Bewußtseins »für epistemisch zugänglich«5 erklärt, ist die Frühromantik überzeugt, daß »Selbstsein einem transzendenten Grunde sich verdankt, der sich nicht in die Immanenz des Bewußtseins auflösen lasse«.6 Diese Position, so Frank, ist in der ersten Hälfte der neunziger Jahre gewachsen in einer kritischen Auseinandersetzung mit den nachkantischen Systemen von Reinhold und Fichte, und sie verdankt wesentliche Impulse Friedrich Heinrich Jacobi, insbesondere der zweiten Auflage seines Buches >Über die Lehre des Spinoza< von 1789. Diese philosophiegeschichtliche Präzisierung des Ortes der Frühromantiker, in deren Konsequenz man viele eingespielte ältere und neuere Meinungen der Literaturwissenschaft auf den Prüfstand stellen müßte, wird von Manfred Frank mit dem Hinweis untermauert, daß in der Gesamtbewegung der Auseinandersetzung mit Kant in den folgenden zwei Generationen nur diese drei Autoren auf die Kunst als Weg, das dem Wissen Unzugängliche zur Sprache zu bringen, verweisen und auch den Versuch machen, selbst poetische Texte zu produzieren.7 Bei Frank bleiben allerdings zwei Fragen offen, die mich interessieren. Zum einen macht er nicht klar, inwiefern es unter den Voraussetzungen 5 Ebd., S. 8 5 9 . 6
Ebd. V g l . auch S. 6 6 3 : » W i r müssen uns [ . . . ] klar machen, daß der N a m e >Sein< in der Frühromantik ein monistisches Erklärungsprogramm impliziert. Er setzt den Gegenstand der kantischen Idee eines übersinnlichen Einheitsgrundes von Theorie und Praxis< als bestehend voraus. Gleichzeitig bestreitet er - anders als die Vertreter des klassischen deutschen Idealismus —, daß wir die Möglichkeit besitzen, uns dieser ontologischen Voraussetzung auch mit unseren Erkenntnismitteln zu versichern. W i r haben hier also zu tun mit einer Kombination von ontologischem Monismus und erkenntnistheoretischem Realismus.«
7
V g l . z.B. ebd., S. 8 1 8 (zu Novalis): » N u r die unausdeutbare Sinnfulle des Kunstwerks kann positiv zeigen, was sich nicht definitiv in Wissen auflösen läßt. So wird das Kunstwerk zur einzig möglichen »Darstellung des Undarstellbaren< [ . . . ] . « S. 7 5 3 (zu Hölderlin): »[. . .] das Licht, in dem Bewußtsein sich hält, fließt nicht aus ihm selbst, sondern einem nichtkausal gedachten Grund, den das Bewußtsein nie ganz ausleuchten kann. Das Dunkel der ästhetischen Darstellung kann ihn als solchen — als reflexiv irrepräsentablen — darstellen; darin besteht die Überlegenheit der künstlerischen vor den spekulativen Ausdrucksmitteln.« Ein Grenzfall, der unter diesen Voraussetzungen neu diskutiert werden müßte, ist die Position der Kunst in Schellings »System des transzendentalen Idealismus Poesie< als Problemlösung in diesem Kontext in Erwägung zu ziehen, und zum andern bleibt seine Rekonstruktion weitgehend immanent philosophiegeschichtlich. Die Frage nach dem >Sitz im LebenUrteil< hier in der einfachen Bedeutung der philosophischen Terminologie einen Behauptungssatz meint, der durch die Verbindung eines Subjekts mit einem Prädikat einem Gegenstand Merkmale zuschreibt und ihn damit als Objekt identifiziert. Der Vorgang des Trennens und Unterscheidens ist dabei in zweifacher Weise zu konstatieren, zum einen in der Trennung von urteilendem Subjekt und Objekt, zum andern in der Isolation eines Objekts von seiner Umgebung, wodurch es überhaupt erst als Gegenstand faßbar wird. Damit wird klar: Die »Wunden«, die der Verstand schlägt, sind unvermeidlich, wenn überhaupt etwas von der Realität erkannt werden und zur Sprache kommen soll. Sie haben noch gar nichts mit der spezifischen Situation der modernen Kultur zu tun, sondern mit den Bedingungen des Wissens überhaupt. >Poesie< kann demnach den >Verstand< nicht ersetzen, sondern nur dessen Folgen kompensieren. In dieser philosophischen Bedeutung als Prädikation, die Subjekt und Objekt trennt und damit die Einheit des >Seins< verfehlt, verwendet auch Hölderlin den Terminus >Urteil< in der viel diskutierten Aufzeichnung, für die sich in der Forschung der Titel »Urteil und Sein« eingebürgert hat: Urteil ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellektualen Anschauung innigst vereinigten Objekts und Subjekts, diejenige Trennung, wodurch erst Objekt und Subjekt möglich wird, die Ur-Teilung.8 Zur Semantik von >Urteil< in diesem Sinn ist auch die Erläuterung des Begriffs der >Urteilskraft< durch Kant in der >Kritik der reinen Vernunft< heranzuziehen, wo er sie als ein Vermögen des Verstandes bezeichnet, »unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel [ . . . ] stehe, oder nicht«. 9 Urteile sind nach Kant deswegen »Subsumptionen eines Gegenstandes unter einen Begriff«. 1 0 In dieser Hinsicht ist die unterscheidende und trennende Tätigkeit des urteilenden Verstandes doppelgesichtig, denn einerseits isoliert sie ein Objekt durch den A k t der Zuschreibung von bestimmten Merkmalen vom Ganzen, da 8
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Hölderlin, Friedrich: [Urteil und Sein], In: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. I. Hrsg. von Günther Mieth. München 1970, S. 84of., hier S. 840. Z u m Kontext der Verwendung von >Urteil< in der damaligen Jenaer Diskussion vgl. Frank (s. Anm. 2), S. 7 2 2 - 7 2 4 . Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft I. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. III. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968, S. 184. Ebd., S. 187.
»Die Poesie heilt die W u n d e n , die der Verstand schlägt.«
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aber andererseits dieser A k t eine Subsumption des einzelnen unter allgemeine Begriffe ist, beraubt das Urteil des Verstandes die Dinge ihrer Individualität. Wenn wir also die zitierte Textpassage Hardenbergs in diesen Kontext stellen, so wird ersichtlich, daß er hier zunächst ein erkenntnistheoretisches Problem anspricht, das ins Zentrum der von Frank dargestellten zeitgenössischen Diskussion verweist - jedes >Urteil< verfehlt unvermeidlicherweise das >SeinVerstand< gehört, dem der Begriff >Poesie< entgegengestellt wird. Ihm ist ja nach Kant die Tätigkeit des Urteilens zugeordnet, und Hardenbergs Beschreibung dieser Tätigkeit als »Trennung des Untheilbaren«, als »Absonderung von der Umgebung« entspricht dieser Begrifflichkeit. Wenn der Autor nun das Ergebnis eines >Urteils< als »Mischung von widriger Wahrheit und beleidigenden Irrthum« bezeichnet, dann spricht er die Doppelgesichtigkeit der Subsumption des Einzelnen unter allgemeine Regeln oder Begriffe an, mit der die Dinge zwar angemessen identifiziert, zugleich aber in ihrer Einzigartigkeit verfehlt werden müssen. >Poesie< ist dann die Bezeichnung für eine Tätigkeit, die den A k t des Trennens wieder aufhebt, ohne aber die Dinge in eine unterschiedslose Einheit zurückzuführen bzw. sie dort zu belassen. Denn offenbar ist auch >Poesie< eine Art von >UrteilSeins< ebenso wie das >Urteil< des Verstandes, freilich nicht mit einem »beleidigenden Irrthum«, sondern mit »angenehmer Täuschung«. Der A k t des >Urteilens< durch den Verstand selbst ist unvermeidlich, denn ohne ihn gibt es überhaupt kein Wissen. Auch >Poesie< in ihrer Mischung von Wahrheit und Täuschung ist kein Schlüssel zur vorgängigen Einheit des >SeinsUrteilen< des >Verstandes< geschieht, läßt sich ex negativo darauf schließen, was >Poesie< leisten sollte. Während der Verstand das Einzelne durch »Absonderung von der Umgebung, der Geschichte, dem Boden, der Natur« verfehlt und »über die Ansicht der einzelnen Erscheinung an sich ihren Werth, als Glied eines großen Ganzen, vergißt«, müßte es die Leistung der >Poesie< sein, das Individuelle so zu erfassen, daß seine Verbindung mit dem Ganzen im Sinne lebendiger natürlicher und geschichtlicher Zusammenhänge bewahrt bleibt. Diese Leistung kann >Poesie< aber nur erbringen, wenn sie zum Mittel »angenehmer Täuschung« greift. Anders gesagt: Damit wird das bei Friedrich von Hardenberg bekannte Ver-
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fahren der Deutung von Geschichte in einer romantischen Geschichtsschreibung formuliert, die sich, um die »erhebende Wahrheit« zu erfassen, der Fiktion bedienen muß. Diese erkenntnistheoretische Bedeutung von >Poesie< läßt sich in vielen Aufzeichnungen Hardenbergs wiederfinden. Als Beispiele seien hier nur einige Passagen aus der ersten Hälfte des Jahres 1 7 9 8 zitiert, die in einem Konvolut von Blättern unter dem Titel >Poesie< zusammengefügt sind, die vor allem den in der vorigen Aufzeichnung nur implizit zu erschließenden Zusammenhang von individualisierender Bestimmung und Verbindung mit dem Ganzen deutlich formulieren. Die Poesie hebt jedes Einzelne durch eine eigenthümliche Verknüpfung mit dem übrigen Ganzen — und wenn die Philosophie durch ihre Gesezgebung die Welt erst zu dem wircksamen Einfluß der Ideen bereitet, so ist gleichsam Poesie der Schlüssel der Philosophie, ihr Zweck und ihre Bedeutung; denn die Poesie bildet die schöne Gesellschaft - die Weltfamilie — die schöne Haushaltung des Universums. W i e die Philosophie durch System und Staat, die Kräfte des Individuums mit den Kräften der Menschheit und des Weltalls verstärckt, das Ganze zum Organ des Individuums, und das Individuum zum Organ des Ganzen macht - So die Poesie, in Ansehung des Lebens. Das Individuum lebt im Ganzen und das Ganze im Individuum. Durch Poesie entsteht die höchste Sympathie und Coactivität, die innigste Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen. ( 1 1 , 5 3 3 : 3 1 )
Wie bei Friedrich von Hardenberg typisch, so wird hier die organische Einheit von Individualität und Ganzheit, die als Prinzip der Ordnung des ganzen Universums bezeichnet wird, mit Metaphern aus dem Bereich des sozialen Lebens unterhalb bzw. außerhalb der staatlichen Ordnung bezeichnet, worauf die Begriffe GesellschaftHaushaltung< und >Familie< verweisen. Das führt uns zurück zu einem nochmaligen Blick auf das Ausgangszitat, um hier neben der erkenntnistheoretischen Bedeutung die moralische und gesellschaftliche Bedeutung des hier verwendeten Begriffs von >Poesie< freizulegen. Es geht bei der Betrachtung der Folgen von >Urteilen< des Verstandes in dieser Textpassage ja um die Anwendung nicht auf Dinge, sondern auf Menschen, um die Haß erregende, »tödtliche« Verwundung, die offenbar daraus entsteht, daß ein Mensch unter einen allgemeinen Begriff oder eine Regel als Objekt subsumiert und gleichzeitig entindividualisiert wird. 1 1 11
Eine vergleichbare Verbindung des philosophischen Themas mit dem Thema der zwischenmenschlichen Kommunikation stellt Hölderlin in einem Brief an den Bruder aus dem Jahr 1 8 0 1 her, wo auch die Rückübersetzung in traditionelle religiöse Sprache und damit auch der Anschluß an die lebensweltlichen religiösen Diskurse gut zu beobachten
»Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt.«
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Es ist im begriffsgeschichtlichen Zusammenhang im Hinblick auf die gesellschaftskritischen Nebenbedeutungen dieser Passagen nicht uninteressant zu bemerken, daß Kant, wo er bei seiner Explikation der Urteilskraft in der >Kritik der reinen Vernunft< die Schwierigkeit der Bildung von Urteilen bespricht, eine nicht erlernbare Intuition voraussetzt und dies am Beispiel von Tätigkeiten in Berufen der modernen Gesellschaft und des modernen Staates erläutert: der Tätigkeit des Arztes, des Richters und Politikers. 1 2 Was nun Hardenberg über die Verwundung durch >Urteile< des Verstandes auf der gesellschaftlichen Ebene sagt, läßt sich mit einem Blick auf diese von Kant angeführten Beispiele verdeutlichen. Der Arzt, wenn er eine Diagnose stellt, und der Richter, wenn er einen besonderen Fall unter ein Gesetz subsumiert, hat es nicht mit leblosen Dingen zu tun, sondern mit Menschen, die das >Urteil< mit ihrem eigenen Selbstbild vergleichen und, wenn sie sich darin nicht wiedererkennen, mit Ablehnung, ja mit Haß reagieren. Der Text sagt nun an keiner Stelle, daß in der Gesellschaft solche >Urteile< vermeidbar sind; es muß in ihr diagnostiziert und Recht gesprochen werden, und dies wird trotz aller »Behutsamkeit« unvermeidbar zu Verletzungen führen. Deswegen hat der Begriff der >Poesie< auch auf dieser Bedeutungsebene nicht die Funktion, in der gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit die >Urteile< zu ersetzen, sondern deren trennende Auswirkungen zu mildern. >Poesie< ist nach dieser Deutung dann nicht eine Therapie, die den Menschen und die Gesellschaft ein für ist: »Es ist nur ein Streit in der Welt, was nämlich mehr sei, das Ganze oder das Einzelne. Und der Streit widerlegt sich in jedem Versuche und Beispiele durch die Tat, indem der, welcher aus dem Ganzen wahrhaft handelt, von selber zum Frieden geweihter und alles Einzelne zu achten darum aufgelegter ist, weil ihn sein Menschensinn, gerade sein Eigenstes, doch immer weniger in reine Allgemeinheit als in Egoismus, oder wie Du's nennen willst, fallen läßt. A Deo principium. Wer dies versteht und hält, ja bei dem Leben des Lebens! der ist frei und kräftig und freudig, und alles Umgekehrte ist Chimäre und zergehet insoferne in Nichts. [...] Wie wir sonst zusammen dachten, denke ich noch, nur angewandter! Alles unendliche Einigkeit, aber in diesem Allem ein vorzüglich Einiges und Einigendes, das, an sich, kein Ich ist, und dieses sei unter uns Gott! [...] Es fehlt nur oft am Mittel, wodurch ein Glied dem andern sich mitteilt, es fehlt sehr oft noch unter uns Menschen an Zeichen und Worten«. Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe (s. Anm. 8). Bd. II, S. 9i9f. 12
Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft I (s. Anm. 9), S. 185: »Ein Arzt [...], ein Richter, oder ein Staatskundiger kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstände) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann [...].«
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alle Mal von den Wunden des Verstandes heilt und zu einem idealen Leben führt, sondern eine Medizin, mit der die chronische Krankheit, die immer neuen Wunden der Trennung und des Verfehlens wahrer Individualität, erträglich gemacht werden. Ohne >Poesie< gäbe es nur zwei Möglichkeiten, entweder die Gewöhnung an den Schmerz der Wunden, oder den Ausbruch des tödlichen Hasses infolge der Ungerechtigkeit der >UrteilePoesie< gemeint, welche Vorstellungen konnte ein gebildeter Leser damit verbinden? Die Textpassage dokumentiert, daß Friedrich von Hardenberg mit einer auffallenden Mehrdeutigkeit des Wortes >Poesie< arbeitet.
III. Ein Blick in die Wörterbücher zeigt, daß in der Semantik des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts eine zweifache Bedeutung schon ausgebildet und etabliert war, zum einen >Poesie< als Bezeichnung eines sprachlichen Textes, eines literarischen Werkes mit bestimmten Merkmalen, die ihn von nichtpoetischen Texten unterscheiden, zum andern als Bezeichnung für ein menschliches Vermögen, >Poesie< im ersten Sinne zu produzieren. Das ergibt sich schon aus den Erläuterungen bei Adelung, wo es unter dem Stichwort >Poesie< heißt: 1. Fertigkeit, ein Gedicht zu verfertigen, oder die schöne Natur durch eine gebundene Rede nachzuahmen; die Dichtkunst, welches jetzt in der anständigem Sprechart üblicher ist. 2. Ein Gedicht, auch nur noch im gemeinen Leben. 1 3
Unter dem Stichwort >Das Gedicht< findet sich folgender Eintrag: 1. Eine Erdichtung, ein in der Einbildung zusammen gesetztes Ding, welches man nicht also empfunden hat, ein Mährchen. 2. Eine vollkommen sinnliche Rede, in den schönen Künsten. 1 4
Im Wörterbuch von Campe ist die Differenzierung von poetischem Text und poetischem Vermögen bzw. poetischer Einstellung aufgenommen. Unter dem Stichwort >Poesie< wird hier vermerkt: 13
14
Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart. Dritter Theil. Leipzig 1 7 7 7 , Sp. i m . Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart. Zweyter Theil. Leipzig 1 7 7 5 , Sp. 460.
» D i e Poesie heilt die W u n d e n , die der Verstand schlägt.«
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1. die Dichtkunst 2. das Dichtungsgefiihl oder die Anlage zum Dichten 3. die Dichtung, das Gedicht, etwas dichterisches. 15
Die Worterläuterungen bei Adelung fassen neben der schon erwähnten zweifachen Bedeutung von poetischem Vermögen und poetischem Werk die wichtigsten Erträge der dichtungstheoretischen Arbeit des 18. Jahrhunderts knapp zusammen, die man als Bedeutungsfeld auch im Wortgebrauch der Frühromantiker in Betracht ziehen muß: das Prinzip der Nachahmung der Natur als einer schönen Natur, 1 6 die »gebundene Rede« als Differenzmerkmal zur Prosa, die Fiktionalität und die Verortung im Bereich der sinnlichen Erfahrung in dem Zitat der Definition des Gedichts als »vollkommen sinnlicher Rede« durch Alexander Gottlieb Baumgarten. 1 7 Dieses letzte Merkmal ist für den Wortgebrauch von >Poesie< im 18. Jahrhundert insofern wichtig, als nur aus ihm die Zuordnung von Dichtung zu einem anderen Bereich der menschlichen Seele als dem des Verstandes und die Qualität von >Poesie< als Verfahren zur Bestimmung von Individualität ableitbar ist. Klar geht aus den Adelungschen Erläuterungen auch die Begrenzung des Begriffsumfangs von >Poesie< auf Werke im Medium der Sprache hervor, wodurch in die Bedeutung von >Poesie< das seit Lessings >Laokoon< geklärte Differenzmerkmal sprachlicher Kunstwerke, die Darstellung von Handlung in zeitlicher Ordnung, indirekt mit eingeschlossen wird. Was in der Begriffserläuterung Adelungs gegenüber dem Stand der Begriffsentwicklung, von dem Novalis und die Frühromantiker ausgehen konnten, aus geschichtlichen Gründen noch fehlt, ist die erst mit Kants bekannter Erläuterung des Begriffs der »ästhetischen Idee« in der >Kritik der Urteilskraft als »Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich
15
C a m p e , J o a c h i m Heinrich: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer
16
D a ß der mimetische Bezug auf eine Wirklichkeit auch in Hardenbergs Poesie-Begriff
Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Z w e i t e r Band. Braunschweig 1 8 0 1 , S. 5 3 3 . nicht aufgegeben ist, das geht klar aus der oben analysierten Textstelle hervor, denn nur dann kann >Poesie< die Urteile des Verstandes heilend kompensieren; auch der Bezug auf die Geschichte ist nur so verständlich. M i t Hilfe von Franks Differenzierung der Frühromantik vom Idealismus im engeren Sinn wird es ohnehin wieder leichter, den mimetischen Anteil des frühromantischen Poesie-Konzepts zu erkennen und anzuerkennen. Diese Texte sind nicht selbstbezüglich, sondern sie wollen auf ein >Sein< verweisen. 17
V g l . Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Halle
1735.
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machen kann«, 18 geklärte Bedeutungskomponente, die eine Funktionalisierung von > Poesie < als Medium ermöglicht, in dem mit den Mitteln der Sprache auf etwas verwiesen wird, das sich in Sprache nicht darstellen läßt, und sie damit auch als Medium der sprachlichen Verständigung über das Problem des vorgängigen >Seins< denkbar macht. Die spe2ifische Entgegensetzung von >Poesie< und >VerstandUrteilen< mit der Bildung von Begriffen arbeitet, ist zwar schon seit Baumgarten vorbereitet, aber erst Kants Erläuterung öffnet diese Opposition zur prinzipiell unausdeutbaren Formulierung einer Idee. Das Problem, das sich dabei ergibt, ist allerdings, daß dann, wenn man an die Gestaltung einer >ästhetischen Idee< in der Sprache denkt, also an >Poesie< im engeren Sinn, ein fur die Frühromantik typischer Widerspruch entsteht. Wie kann in Sprache formuliert werden, was man in keiner Sprache »verständlich machen kann«? 19 Einer zusätzlichen Überlegung wert ist hier noch das Verhältnis des Fremdworts >Poesie< zum deutschen Wort >DichtungPoesie< als zu vermeidendes Fremdwort in sein Lexikon mit aufnimmt und Vorschläge für Eindeutschungen macht, dokumentiert nicht nur, daß sich Adelungs Empfehlung, >Poesie< in der »anständigem Sprechart« durch >Dichtkunst< zu ersetzen, nicht durchgesetzt hat, sondern auch, daß die deutschen Ersetzungen das mit dem Fremdwort Erfaßte nicht in entsprechender Weise abzudecken vermögen. Sie sind zwar eindeutiger und präziser, aber keines erfaßt allein den Bedeutungsumfang von >PoesiePoesie< mag erklären, warum Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schlegel und August Wilhelm Schlegel nicht dem terminologischen Vorbild Schillers folgen, der in seiner Abhandlung >Über naive und sentimentalische Dichtung< >Poesie< durch >Dichtung< ersetzt hat, sondern das Fremdwort in signifikanter Weise bevorzugen. Durch die Unscharfe des weiten Begriffs >Poesie< kommt es nämlich zu den gewollten und charakteristischen Mehrdeutigkeiten, die man schon in den oben zitierten Aufzeichnungen Hardenbergs beobachten kann. Man kann bei der >Poesiepoetische< Haltung, an ein Vermögen des Geistes und an Formen der 18
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Kant: Werkausgabe (s. A n m . 9). Bd. X , S. 2 4 9 ^
19
Daran schließen sich die Überlegungen zur Sprache in der >Poesie< an, die sich bei Hardenberg finden. V g l . z . B . die Nr. 3 2 in dem Konvolut >Poesie< (11,533).
»Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt.«
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Kommunikation denken, die sich nicht notwendig in sprachlichen Kunstwerken im engeren Sinn manifestieren müssen. >Poesie< ist dann auch das Handeln des Arztes, wenn er in seiner Diagnose den Patienten nicht allein unter Krankheitsbegriffe subsumiert, sondern ihn auch als Individuum behandelt. Und die Wendung »die Poesie bildet [...] die schöne Haushaltung des Universums« (11,533:31) meint nicht, daß der ganze Kosmos durch literarische Texte zusammengehalten wird, sondern daß >Poesie< ein sprachlicher Ausdruck für die Auffassung ist, daß man im Universum einen Zusammenhang namens >Poesie< annimmt, eine »Gemeinschaft des Endlichen und Unendlichen« (ebd.). Mit dieser Mehrdeutigkeit, die mit dem Gebrauch des Terminus >Poesie< leichter hergestellt wird als mit >DichtungPoesie< und Individualität, arbeitet auch Friedrich Schlegel 20 in der als Prosahymnus gestalteten Einleitung zum >Gespräch über die PoesieAthenaeum< veröffentlicht worden ist. >Poesie< meint hier (1) Dichtungen im engeren Sinn, also die »künstlichen Werke oder natürlichen Erzeugnisse, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen«, 21 (2) das alle Dinge einigende und Leben hervorbringende Prinzip des Universums, das sich in den Prozessen der Natur und der Geschichte äußert, dem einen »Gedicht der Gottheit, dessen Teil und Blüte auch wir sind«, 22 und (3) das Organ des Menschen, durch das er seine Einheit mit der >Poesie< des Universums erfährt und das ihn befähigt, dieser Erfahrung Ausdruck zu verleihen.23 Mit dieser Bestimmung wird aber auch deutlich, daß der hier vorausgesetzte Begriff von >Poesie< nicht jedes Werk umfaßt, das äußerlich als Werk der Literatur erscheint, denn nicht jede Literatur ist >PoesiePoesie< ermöglicht es den Frühromantikern auch, den Begriff selbst insgesamt für undefinierbar zu erklären und ihn damit offen zu halten für die Verwandlungen, die das Konzept der Verzeitlichung der romantischen Poesie erfordert. Dieser Zusammenhang läßt sich beispielsweise sehr gut in August Wilhelm Schlegels V o r l e sungen über schöne Literatur und Kunst< von 1 8 0 1 / 0 2 belegen, die den Ertrag der frühromantischen Theoriearbeit erstmals in systematischer Form zusammenführen und in der auch das Verhältnis von sprachlich verfaßter > Poesie < und > Poesie < als Vermögen künstlerischer Produktivität begrifflich gefaßt wird: Der Dichter Simonides soll, als ihn der Herrscher von Syrakus befragte, was die Gottheit sey, sich einen Tag Bedenkzeit ausgebeten haben; nach Verlauf dieser Frist zwey Tage, drey Tage und so fort, und endlich, da jener auf einen wirklichen Bescheid drang, gab er zur Antwort: die Sache scheine ihm um so dunkler, je länger er sie erwäge. Die Frage, was Poesie sey? würde ich geneigt seyn, auf ähnliche Weise zu beantworten, und damit sowohl als Simonides in der That etwas gesagt zu haben glauben. Er deutete nämlich dadurch an, die Gottheit sey ein schrankenloser Gedanke, eine Idee. Dies gilt nun zwar von der Kunst überhaupt: ihr Zweck, d. h. die Richtung ihres Strebens kann wohl im allgemeinen angedeutet werden; aber was sie im Laufe der Zeiten realisieren soll und kann, vermag kein Verstandesbegriff zu umfassen, denn es ist unendlich. Bey der Poesie findet es aber in noch höherem Grade Statt; denn die übrigen Künste haben doch nach ihren beschränkten Medien oder Mitteln der Darstellung eine bestimmte Sphäre, die sich einigermaßen ausmessen läßt. Das Medium der Poesie aber ist eben dasselbe, wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt, und seine Vorstellungen zu willkührlicher Verknüpfung und Äußerung in die Gewalt bekömmt: die Sprache. Daher ist sie auch nicht an Gegenstände gebunden, sondern sie schafft sich die ihrigen selbst; sie ist die umfassendste aller Künste, und gleichsam der in ihnen überall gegenwärtige Universal=Geist. Dasjenige, in den Darstellungen der übrigen Künste, was uns über die gewöhnliche Wirklichkeit in eine Welt der Fantasie erhebt, nennt man das Poetische in ihnen; Poesie bezeichnet also in diesem Sinne überhaupt die künstlerische Erfindung, den wunderbaren Akt, wodurch dieselbe die Natur bereichert [...]. Jeder äußern materiellen Darstellung geht eine innere in dem Geiste des Künstlers voraus, bey welcher die Sprache immer als Vermittlerin des Bewußtseyns eintritt, und folglich kann man sagen, daß jene jederzeit aus dem Schooße der Poesie hervorgeht. 24
24
Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Erster Teil ( 1 8 0 1 - 1 8 0 2 ) . Die Kunstlehre. Hrsg. von Jacob Minor. Stuttgart 1 8 8 4 , S. 20of.
» D i e Poesie heilt die W u n d e n , die der Verstand schlägt.«
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August Wilhelm Schlegel verfügt hier zu Beginn des 19. Jahrhunderts über einen schon eingespielten Wortgebrauch, der sich dann wieder als lexikonfähiges Bildungswissen zusammenfassen läßt, um damit die Existenz einer so anspruchsvollen Sache namens >Poesie< in der Realität durch fixierte Redeweisen plausibel zu machen. 25
IV. Die prinzipielle Undefinierbarkeit von >PoesiePoesie< durch die Verbindung von Fiktion und Geschichte zeitlich geordnete Prozesse so darzustellen, daß die Welt und die Menschen nicht als begrifflich bestimmte Objekte, sondern als zum >Sein< hin offene und gleichzeitig auch raumzeitlich erfahrbare Individuen erscheinen, das ist der begriffliche Kontext, mit dem Hardenberg und die Frühromantiker unter Rückgriff auf den Stand der Begriffsentwicklung im späten 18. Jahrhundert arbeiten und sich einem zeitgenössischen Publikum verständlich machen konnten. Auf dieses Bildungswissen greift offenbar auch Friedrich Heinrich J a cobi zurück, wenn er im Vorbericht zur dritten Auflage seines Buches >Uber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn< von 1 8 1 9 den Begriff des >Poetischen< verwendet, um seine 1 7 8 5 in der ersten Auflage vorgestellte Auffassung, das Selbstbewußtsein könne nur in einem gläubigen Gefühl für ein vorgängiges >Sein< begründet werden, noch einmal zu verteidigen: Ich berufe mich auf ein unabweisbares unüberwindliches Gefühl als ersten und unmittelbaren Grund aller Philosophie und Religion; auf ein Gefühl, welches den Menschen gewahren und innewerden läßt: er habe einen Sinn für das Übersinnliche. Diesen Sinn nenne ich Vernunft, zum Unterschiede von den Sinnen für die sichtbare Welt. N u r wo Selbstsein und Persönlichkeit [ . . . ] vorhanden, kann eine solche Berufung und mit ihr Vernunft, sich kund geben. Vorgesichte des Urwahren, des Urschönen, des Urguten, siehet der Mensch in denkendem Geiste, und weiß, weil er diese Gesichte hat, daß ein Geist in ihm lebet und ein Geist über ihm. Niemandem kann zugemutet werden, die poetische Klarheit solcher Vorgesichte durch prosaische Selbstverständigung zu verdunkeln; 25
Dies ließe sich leicht in einer Analyse des Artikels >Poesie< im 7 . Band von Brockhaus' >Conversations-Lexicon< von 1 8 2 4 zeigen.
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allein er wird zugleich denen unverständlich bleiben, welche den Geist nicht kennen, welcher ihn selbst in alle Wahrheit leitet.26 Manfred Frank hat, wie schon eingangs gesagt, mit guten Argumenten die These vertreten, daß dieses Buch in der Fassung der zweiten Auflage von 1 7 8 9 bei der Ausbildung dessen, was er als die spezifisch frühromantische Position bezeichnet, einen großen Einfluß ausgeübt hat. 27 Die philosophiegeschichtlichen Argumente Franks sollen hier nicht weiter diskutiert werden. Es sei nur angemerkt, daß Frank bei der Darstellung von Jacobis Position das außerphilosophische Motiv, von dem aus man überhaupt erst eine Kohärenz seiner Argumente rekonstruieren kann, nämlich die Verteidigung des Christentums gegen Materialismus und Idealismus, kaum anspricht. 28 Es müßte aber gerade darüber diskutiert werden, ob die Attraktivität von Jacobis Position für die Frühromantiker nicht gerade darin begründet sein könnte, daß die Anerkennung eines >SeinsPoesieGefühls< für das >Sein< macht klar, wie gut die Passung der Diskurselemente war. Dies zeigt sich nicht nur dort, wo Jacobi die Begründung des Gefühls für die vorgängige Einheit des >Seins< in der realen Erfahrung von moralischen Entscheidungen, von Liebe und im sinnvollen Handeln in der Geschichte, aber auch im Alltag generell verankert, 29 so daß Cassirer in der Erläuterung dieses Konzepts sagen kann: 26
Jacobi, Friedrich Heinrich: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. A u f der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Darmstadt 2000, S. 30ό.
27
V g l . Frank: Unendliche Annäherung (s. A n m . 2), S.
S. 6 6 4 ^ und S. 688f.
28
V g l . allenfalls den kurzen Hinweis bei Frank: Unendliche Annäherung (s. A n m . 2), S. 6 8 5 .
29
V g l . Jacobi: Spinoza (s. Anm. 26), S. 1 7 8 : »Wie sich alle Menschen Freiheit zuschreiben, und allein in den Besitz derselben ihre Ehre setzen; so schreiben sich auch alle ein Vermögen reiner Liebe, und ein Gefühl der überwiegenden Energie desselben zu, worauf die Möglichkeit der Freiheit beruht. Alle wollen Liebhaber der Tugend selbst, nicht der mit ihr verknüpften Vorteile sein; alle wollen von einem Schönen wissen, welches nicht bloß das Angenehme; von einer Freude, die nicht bloßer Kitzel sei. [ . . . ] Handlungen, welche aus diesem Vermögen wirklich hervorgehen, nennen wir göttliche Handlungen; und ihre Quelle, die Gesinnungen selbst, göttliche Gesinnungen.« V g l . auch die Engfiihrung von Geschichte und Christentum, die sich in ähnlicher Form auch bei Hardenberg finden läßt, S. 1 1 3 - 1 1 5 .
»Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt.«
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Das Glaubensprinzip steht für das Problem des Daseins überhaupt, nicht für die Frage nach diesem oder jenem besonderen Dasein. In ihm erfassen wir, daß selbständige, von unserer Vorstellung und von unserem Denken unabhängige Gegenstände sind, ohne noch eine Bestimmung zu treffen, was sie sind. Insofern ist freilich der gesamte Inhalt des religiösen Bewußtseins in ihm gegründet; aber die Inhalte des gewöhnlichen Bewußtseins, die konkreten sinnfälligen >Dingezu Tisch und Bett< kommen. 30 Die Verbindung von >Tisch und Bett< und >Gott< verweist erkennbar auf die für Hardenberg typische Verankerung der möglichen Erfahrung des >Seins< im zeitlich geordneten Prozeß des individuellen Lebens, in dem »wachsenden Zusammenhang unserer Taten und Annahmen im Lauf eines Handlungs- und Erkenntnislebens«, 31 der im >poetisierten< Alltag erfahrbar wird. >Tisch und BettPoesiePoesie< die vom Verstand verursachten Wunden heilt, einen konkreten Bezug zum realen Leben, auch und gerade zum Leben des Autors.
30
Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band. Die Nachkantischen Systeme. Neudruck Darmstadt 1 9 7 4 , S. 3 i f .
31
Frank: Unendliche Annäherung (s. Anm. 2), S. 8 5 7 ; zu Friedrich Schlegel vgl. ebd., S. 9 2 1 — 9 2 3 .
Dennis F. Mahoney (Burlington)
>Heinrich von Ofterdingen< oder Die Macht der Musik
Wenn eine Tagung über Poesie und Poetik bei Novalis zu einer Zeit stattfindet, in der Menschen weltweit über den Ausbruch menschenverachtender terroristischer Anschläge entsetzt sind und voller Sorge in die Zukunft schauen, lohnt es sich darüber nachzudenken, was eine solche Fachtagung an Einsichten beitragen kann. In diesem Sinne hatte Friedrich Schiller in seinem Brief vom 1 3 . Juli 1 7 9 3 bei der Betrachtung der oft greuelvollen Ereignisse im revolutionären Frankreich seinen Gönner, den Herzog von Augustenberg, gefragt, ob dies die richtige Zeit für einen Briefwechsel über das Schöne sei: Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ew: Durchlaucht verstattet wird, nicht vielleicht einen beßern Gebrauch machen können, als Ihnen meine Ideen von Schönheit und schöner Kunst vorzulegen? Ist es nicht ausser der Zeit, sich um die Bedürfniße der aesthetischen Welt zu bekümmern, wo die Angelegenheiten der politischen ein so viel näheres Interesse darbieten? Ich liebe die Kunst und was mit ihr zusammenhängt über alles, und meine Neigung, ich bekenne es, giebt ihr von jeder andern Beschäftigung des Geistes den Vorzug. Aber es kömmt hier nicht darauf an, was die Kunst mir, sondern wie sie sich gegen den menschlichen Geist überhaupt, und insbesondere gegen die Zeit verhält, in der ich mich zu ihrem Sachwalter aufwerfe. 1
Daß Schiller die Beschäftigung mit Poetik auch in Krisenzeiten nicht für unangemessen hielt, wissen wir aus seinen 1 7 9 4 / 1 7 9 5 veröffentlichten Briefen >Über die ästhetische Erziehung des MenschenHeinrich von Ofterdingeninstrumentaler< Poetik, die einerseits durch sein lebenslanges Interesse an der Musik zu2
3
Als Einfuhrung in Schillers längste und wohl auch komplizierteste Schrift zur Ästhetik vgl. Janz, Rolf-Peter: >Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von BriefenHeinrich von Ofterdingen< oder Die Macht der Musik
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stände kam, aber darüber hinaus die Entwicklung einer wahrhaft romantischen Ästhetik kennzeichnet, die Musik- und Dichtungstheorien des früheren 18. Jahrhunderts verarbeitet und verwandelt. 4 Die innige Verbindung von Poesie und Musik geht auf den Orpheusmythos zurück, der den jungen Friedrich von Hardenberg offensichtlich faszinierte, wie wir seinen Vergilübersetzungen und dem Versuch eines eigenen Epos zum Thema Orpheus und Eurydike entnehmen können (VI. 1 , 3 7 7 383 und 508). Ein anderes frühes Gedicht, >Die Musick Alexander's Feast, or The Power of Music < verweist, in der
4
Z u r Entwicklung eines neuen Begriffs von Poesie und Musik gegen Ende des 1 8 . Jahrhunderts vgl. Neubauer, John: The Emancipation of Music from Language. Departure from Mimesis in Eighteenth-Century Aesthetics. N e w Haven/London 1 9 8 6 ; Naumann, Ursula: »Musikalisches Ideen-Instrument«. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik. Stuttgart 1 9 9 0 .
5
Z u r Affektenlehre in der Musik und Rhetorik vgl. Schmitz, Arnold: Figuren, musikalischrhetorische. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Kassel/Basel 1 9 5 5 , Bd. IV, S. 1 7 6 1 8 3 ; Unger, Hans-Heinrich: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.— 1 8 . Jahrhundert. Würzburg 1 9 4 1 (Neudruck: Hildesheim 1969); Buelow, George J . : Music, Rhetoric, and the Concept of the Affections. A Selective Bibliography. In: Notes 3 0 ( 1 9 7 3 / 1 9 7 4 ) , S. 2 5 0 - 2 5 9 .
6
Martina Eicheldinger übernimmt Samuels Deutung der Anspielung auf Dryden, verweist aber auch auf zahlreiche andere Querverbindungen zwischen Zeilen in diesem Gedicht und Stellen in anderen Gedichten von Hardenberg und seinen dichterischen Vorbildern (VI.2,338-340).
84
Dennis F. Mahoney
der Musiker Timotheus die Gemütsverfassung von Alexander dem Großen manipuliert und sich dadurch als der eigentliche Herrscher derjenigen Leidenschaften und Gefühle erweist, die Hardenbergs Gedicht erwähnt. Karl Wilhelm Ramler, einer von Hardenbergs dichterischen Vorbildern, 7 hat 1 7 6 6 Drydens Ode übersetzt und sie 1 7 7 2 in seine >Lyrische[n] Gedichte< aufgenommen. Ramlers reimlose, aber metrisch korrekte Übersetzung hat auch Wolfgang Amadeus Mozart verwendet, als er im Juni 1 7 9 0 Georg Friedrich Händeis Vertonung von Drydens > Alexander's Feast < neu orchestrierte. 8 Die Erwähnung von Benjamin Franklins Erfindung der Glasharmonika in den Zeilen 39—40 spricht dafür, daß Hardenbergs Gedicht 1 7 9 0 verfaßt worden ist, da Franklin im April dieses Jahres gestorben ist. So ist gar nicht auszuschließen, daß Hardenbergs Lob der Musik die Wirkung einer zeitgenössischen Aufführung des Alexanderfestes verzeichnet, zumal dieses zu Händeis beliebtesten Werken auf dem europäischen Festland im 18. Jahrhundert zählte. 9 Auf jeden Fall schließt der junge Hardenberg seinen »jungen / Und schwach gerufnen Dank« mit dem Versprechen, sein »Donnerruf« werde der Musik ein Lob singen, »wenn einst erst mein Arm sich mächtger fühlet / Und deine Kunst mir Wohlklang schuf« (VI.1,282:232). Eine solche Erwartung findet sinnigerweise ihre Erfüllung in >Heinrich von OfterdingenHeinrich von Ofterdingen< oder Die Macht der Musik
85
Ritzenhoff macht in ihrem Kommentar darauf aufmerksam, daß hier Heinrich, als vollendeter Dichter, bereits zu uns spricht, bevor wir seine Geschichte kennen: »Schon hier, noch vor Handlungsbeginn also, findet sich die Aussage des Novalis, der >Ofterdingen< solle >eine Apotheose der Poesie< [1,322] sein, im Werk bestätigt«. 1 0 Die Wahl des Mittelalters als Schauplatz dieses Romans ermöglicht eine derartige Verbindung von Dichtung und Musik; schließlich soll Heinrich im 2. Teil ein berühmter Minnesänger werden, dessen erstes poetisches Produkt — das Lied >Liebeszähren, Liebesflammen< (I,323f.) — den in den Sonetten beschriebenen Durchbruch zum Dichter darstellt. N i c h t zu vergessen ist, daß die große Mehrzahl der entweder beschriebenen oder auch tatsächlich aufgeführten Gedichte innerhalb dieses Romans Gesänge sind. Im Endeffekt gilt dies auch für die Eingangssonette selber. Im 13. Jahrhundert in Sizilien am Hof des Kaisers Friedrich II. entstanden, begann dort das Sonett als >kleiner Gesang< (sonetto). 11 Insofern leuchtet es auch ein, daß Szenen im geplanten 2. Teil des Romans am kaiserlichen Hof spielen sollten. Wenn man bedenkt, daß Friedrich von Hardenberg seine Antwort auf Goethes >Wilhelm Meisters Lehrjahre< beim selben Verleger und im selben typographischen Format wie Goethes Roman verlegen wollte, ist es nicht unwahrscheinlich, daß er seinen Roman auch mit beigefügten musikalischen Darbietungen der Lieder versehen wollte. Nach dem Schluß der Arbeit am I . T e i l des >Ofterdingen< fuhr Hardenberg mit Ludwig Tieck im Juni 1800 nach Giebichenstein bei Halle, um Tiecks Schwager Johann Friedrich Reichardt zu besuchen, der auch der erste Verfasser von Liedern aus den >Lehrjahren< war. O b w o h l >Heinrich von Ofterdingen< im Endeffekt weder bei Unger in Berlin noch mit musikalischen Fassungen seiner Lieder erschien, war Reichardt einer der ersten Komponisten, der Texte von Novalis vertonte. 1804 erschien Reichardts Fassung von Klingsohrs >Weinlied< aus dem 6. Kapitel des Romans. 1 2 10
11
12
Ritzenhoff, Ursula: Erläuterungen und Dokumente. Novalis (Friedrich von Hardenberg): »Heinrich von OfterdingenHeinrich von Ofterdingen< zu einer Zeit, in der sich sowohl Musik als auch Dichtung von der Theorie und Praxis des früheren 18. Jahrhunderts verabschiedeten. Während sich die Instrumentalmusik der Wiener Klassik vom Text emanzipierte und man in den Formen der Sonata und Symphonie eine >Handlung< in rein musikalischer Art erzählte, versuchten umgekehrt Friedrich von Hardenberg und andere Zeitgenossen, das Musikalische innerhalb der menschlichen Sprache zu untersuchen und zu vertiefen. »Entsprechend ist Lyrik nun als Tönen bestimmt«, stellt Alexander von Bormann fest: »sie ist weder nur aus Worten noch nur aus Bildern gemacht — dem Formmoment fällt eine Bedeutung zu, die mit dem different angesetzten Subjektbegriff dieses (romantischmodernen) Lyrikkonzepts zusammenhängt«. 13 Kein Wunder also, daß der Jüngling im Atlantis-Märchen die strenge Form der Stanze verwendet, die der junge Friedrich von Hardenberg durch Wielands Versepen und seine eigene Ariost- und Tasso-Lektüre kennengelernt hat. Irene Bark hat in minutiöser Arbeit nicht nur den naturphilosophischen Hintergrund der Gesteinsmotivik bei Novalis erhellt, sondern auch gezeigt, wie Inhalt und Struktur dieses Gedichts den Fund eines von der Prinzessin vermißten Steins »zu einer Schlüsselfigur des gesamten Romans« 14 machen. Liebe und Poesie, Mann und Frau, Mensch und Natur werden in diesem achtzeiligen Gedicht durch Bild, Klang und Metrik in einer Art und Weise miteinander in Beziehung gebracht, die die Novalissehe Auffassung von Poesie als »Gemütherregungskunst« mustergültig exemplifiziert. Der Inhalt dieses Gedichts mag seinen Lesern zunächst so »räthselhaft« sein wie das Zeichen, das der Jüngling im aufgefundenen Stein eingegraben wahrnimmt und das ihn zu seinem ersten Gedicht inspiriert: »Er wußte selbst nicht genau, was er sich bey den Worten dachte, die er hinschrieb« (1,218). Andererseits gilt bereits hier, was die Kaufleute in ihrem Dichterlob hervorgehoben haben: »Man hört fremde Worte und weiß doch, was sie bedeuten sollen. Eine magische Gewalt üben die Sprülings. Tübingen 2 0 0 0 (Schriften der Internationalen Novalis-Gesellschaft, Bd. 3), S. 2 3 1 2 6 6 , hier S. 2 3 6 — 2 4 6 . 13
Bormann, Alexander von: Der Töne Licht. Z u m frühromantischen Programm der Wortmusik. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hrsg. von Ernst Behler und Jochen Hörisch. Paderborn 1 9 8 7 , S. 1 9 1 - 2 0 7 , hier S. 2 0 3 . Z u m Klangcharakter der romantischen Lyrik vgl. weiterhin Stefano, Giovanni di: Der ferne Klang. Musik als poetisches Ideal in der deutschen Romantik. In: Musik und Literatur. Hrsg. von Albert Gier und Gerold W . Gruber. Frankfurt a . M . 1 9 9 5 , S. 1 2 1 - 1 4 3 .
14
Bark, Irene: >Steine in PotenzenHeinrich von Ofterdingen< oder Die Macht der Musik
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che des Dichters aus; auch die gewöhnlichen Worte kommen in reizenden Klängen vor, und berauschten [sie!] die festgebannten Zuhörer« (1,210). Eine solche Aussage entspricht einer Überlegung zum Verfahren des Dichters, die in unmittelbarer Nähe zu Hardenbergs Beschreibung von Poesie als der »Kunst der Construction der transscendentalen Gesundheit« (II, 535:42) steht: »Seine Worte sind nicht allgemeine Zeichen - Töne sind es — Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen« (11,533:32). In ihrer jüngst erschienenen Monographie zum Astralis-Gedicht findet Sophia Vietor das >Moderne< bei Novalis daher nicht in der Auflösung von Sinnbezügen: »Statt die rationale Seite der Sprache abzulehnen, wird sie in den Dichtungen von Novalis auf ihre vorbewußten Bedingungen zurückgeführt und durch die sprachliche Selbstreflexion überboten«. 15 In dieser Hinsicht findet Friedrich von Hardenbergs Beschäftigung mit einer »Theorie des Zeichens« (II, 106:2) am Beginn der >Fichte-Studien< in >Heinrich von Ofterdingen< ihre konsequente Ausführung und Vollendung. Das soll nicht heißen, daß es keine Überreste der barocken »Affektenlehre« im >Heinrich von Ofterdingen< gibt. Die Erzählungen der Kaufleute mögen sich im sprachlichen Ausdruck von Hardenbergs jugendlichen literarischen Versuchen vorteilhaft unterscheiden, aber ihre Aussage ist ähnlich: der Dichter ist als Musiker in der Lage, die Gefühle von menschlichen und nicht-menschlichen Zuhörern zu erweichen und umzustimmen. Diese Behauptung wird am Beispiel vom namenlosen »Tonkünstler« ( 1 , 2 1 1 ) exemplifziert, dessen Gesang ihn vor den habgierigen Matrosen rettet und aus dem »Unthier« einen Freund macht, der ihn aufs Land bringt und ihm später seine geraubten Schätze zurückbringt. Während die Matrosen sich weigern, auf das Lied zu hören, und deshalb ihrer mörderischen Habsucht zum Opfer fallen, 1 6 wird der König in der darauffolgenden Atlantis-Erzählung dazu gebracht, das Liebesverhältnis zwischen seiner Tochter und dem nichtadligen Jüngling zu akzeptieren durch das Lied, das dieser ihm vorsingt. Wie bei >Alexander's Feast< vermag es der geschickte Musiker, nicht nur die Gefühle, sondern auch die Taten seines königlichen Zuhörers zu lenken — vorausgesetzt, daß dieser bereit ist zuzuhören. 17 15
Vietor, Sophia. >Astralis< von Novalis. Handschrift -
Text — Werk. Würzburg 2 0 0 1 ,
S. 3 8 7 . ,6
Z u diesem Thema vgl. Stadler, Ulrich: Die theuren Dinge. Studien zu Bunyan, J u n g Stilling und Novalis. Bern 1 9 8 0 , S. 1 3 0 - 1 4 2 .
17
Z u m Sieg von Peitho — die Göttin der Überredung, die laut Shaftesbury die Mutter der Poesie, der Rhetorik und der Musik sei -
am Ende von Drydens >Alexanderfest< vgl.
Hollander, John: The Untuning of the Sky. Ideas of Music in English Poetry
1500-
1 7 0 0 . Princeton 1 9 6 1 , S. 4 2 1 . Zur Legitimierung einer problematischen Poesie in den
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Dennis F. Mahoney
Eine bedeutende Abweichung von barocker Affektenlehre findet allerdings im 4. Kapitel des >Ofterdingen< statt, obwohl der Leser dies erst nachträglich merkt. Das Werbelied der Kreuzfahrer im 4. Kapitel des Romans scheint zunächst einen neuen Rekruten in Heinrich gewonnen zu haben, der bei der Erzählung ihrer Kriegsabenteuer in Palästina aufmerksam zugehört hat. Da sowohl diese Szene als auch Drydens >Alexander's Feast< während eines Gelages stattfinden, das martialische Siege feiert und bei dem Wein, Weib und Gesang als die Belohnung tapferer Helden dargestellt werden - »None but the brave deserve the fair«, heißt es bei Dryden, bzw. »Nur unser Held verdient die Braut« in Ramlers Übersetzung 1 8 — ist es aufschlußreich, wie >die Macht der Musik< in beiden Werken zu diametral entgegengesetzten Resultaten fuhrt. Im 1. Teil von Drydens Ode gewinnt Timotheus zunächst die wohlwollende Aufmerksamkeit von Alexander, indem er dessen angeblich göttliche Herkunft besingt. Nachdem Alexanders in der Antike berüchtigte Trinksucht durch ein Loblied auf Bacchus, den Weingott, erweckt wird, besänftigt ihn Timotheus mit dem Hinweis auf den Fall seines Gegners: Darius, König der Perser, wurde nach Alexanders Sieg von seinem eigenen Gefolge ermordet. An die Vergänglichkeit von Macht und Ruhm erinnert, wird Alexander dazu ermuntert, das Geschenk der Götter (d. h. Thais, seine Geliebte) gleich zu genießen. Im 2. Teil seiner musikalischen Darbietung von >Alexanders Feast< erweckt Händel, als moderner Timotheus, den Fürsten aus seinem Wein- und Liebesrausch durch Pauke, Trompete und vierstimmigen Chor 1 9 - vor allem aber durch die Rachearie »Revenge, revenge, Timotheus cries«. Statt daß der Baß diese Arie in üblicher da-capo-Art und Weise wiederholt, läßt Händel zunächst die Alt- und dann die Tenorstimmen der gefallenen griechischen Soldaten auf dem Schlachtfeld gedenken. Timotheus beschreibt ferner, wie diese mit Fackeln in den Händen die persischen Städte und Tempel bedrohen. Dieses Lied hat eine buchstäblich
Geschichten der Kaufleute vgl. O'Brien, W m . Arctander: Novalis. Signs of Revolution. Durham/London 1 9 9 5 , S. 2 9 0 — 3 0 2 . 18
John Dryden. Hrsg. von Keith Walker. Oxford/New York 1 9 8 7 , S. 5 4 5 ; Ramler, Karl Wilhelm: Lyrische Gedichte. Berlin 1 7 7 2 , S. 304. Danken möchte ich an dieser Stelle Arnd Böhm, der mir eine Fotokopie von Ramlers Dryden-Übersetzung verschaffte.
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Zur musikalischen Analyse des Chors »Break his bands of sleep asunder« vgl. Fleischhauer, Günter: Zur Verwendung einiger musikalisch-rhetorischer Figuren in Händeis >Alexander's Feast or the Power of MusickHeinrich von Ofterdingen< oder Die Macht der Musik
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zündende Wirkung, zumal Thais, die Geliebte Alexanders, dessen zerstörerische Gelüste anfeuert: The princes applaud with a furious joy, And the king seized a flambeau With zeal to destroy. Thai's led the way, To light him to his prey, And, like another Helen, she fired another Troy! 20
In >Heinrich von Ofterdingen< verfolgt dagegen der Held den für ihn vorgezeichneten W e g nicht, und zwar zum großen Teil wegen des sarazenischen Mädchens Zulima, die als Antitypus zu Thais bzw. als Nachfolgerin der neuzeitlichen heiligen Cäcilia Heinrich über die niedrigen Motive vieler sogenannter Pilger nach Jerusalem aufklärt und seine kriegerische Begeisterung abdämpft. 2 1 Schon bevor Heinrich Zulima begegnet oder sogar erblickt, wirkt »ein zarter eindringender Gesang einer weiblichen Stimme von wunderbaren Tönen begleitet« (1,234) mächtig auf ihn. 22 Diese Töne werden von Zulimas Laute erzeugt — dem Instrument, von dem Heinrich im AtlantisMärchen erfahren hat. Ironischerweise erzeugt ausgerechnet der Kreuzgesang, der »mit lauter Stimme« (1,231) vorgetragen wird, in Heinrich eine Prädisposition für Zulimas Botschaft, daß verschiedene Glaubensauffassungen zum friedlichen Dialog unter Völkern führen könnten: »Unsere Fürsten ehrten andachtsvoll das Grab eures Heiligen, den auch wir für einen göttlichen Profeten halten; und wie schön hätte sein heiliges Grab die Wiege eines glücklichen Einverständnisses, der Anlaß ewiger wohlthätiger Bündnisse werden können« (1,237). Das Bild des heiligen Grabes in Heinrichs Seele am Ende des Kreuzfahrerliedes gibt zu erkennen, daß es nicht die Sarazenen sind, sondern die Kreuzritter, die das Grab entweiht haben: 20
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Dryden (s. Anm. 18), S. 549. Bei Ramlers Übersetzung (s. Anm. 18) heißt es: »Es jauchzen die Fürsten voll trunkner W u t , / Und der Held hat zum Unglück die Fak- / kel entbrannt. / Thais führt ihn an / Und leuchtet zum Verderb. / Durch Thais und Helenen / Entbrennt ein Ilion« (S. 314). V g l . in dieser Hinsicht Verf.: Stages of Enlightenment. Lessing's >Nathan der Weise< und Novalis's >Heinrich von OfterdingenRomantisierung< des Krieges im 8. Kapitel des Romans nennt Klingsohr wohl des23
Bus, Antonius Johannes: Der Mythus der Musik in Novalis' >Heinrich von OfterdingenHeinrich von Ofterdingen< oder Die Macht der Musik
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halb »die wahren Helden [ . . . ] unwillkührlich von Poesie durchdrungene Weltkräfte N e u e W e l t t h e i l e sollen entstehen, neue G e s c h l e c h t e r sollen aus der großen A u f l ö s u n g anschießen. D e r w a h r e K r i e g ist der R e l i g i o n s k r i e g ; der g e h t g e r a d e zu a u f U n t e r g a n g , u n d der W a h n s i n n der M e n s c h e n erscheint in seiner v ö l l i g e n G e s t a l t . V i e l e K r i e g e , besonders d i e v o m N a t i o n a l h a ß e n t s p r i n g e n , gehören in diese K l a s s e m i t , u n d sie sind ächte D i c h t u n g e n . ( 1 , 2 8 5 )
Anstatt diese Worte als Verherrlichung und Preisung des Krieges aufzufassen, sind sie wohl eher im Kontext von Zulimas Deutung der zerstörerischen Impulse der Kreuzritter zu sehen, und stellen eigentlich einen Trieb nach »der alten Heymath ihres Geschlechts« (1,237) dar. Es käme also darauf an, solche kriegerischen Triebe poetisch-reizmedizinisch zu behandeln. Wie Heinrichs eigene Morgenlandreise im 2. Teil des Romans geschildert werden sollte, ist aus den Berliner Papieren nicht im Detail zu erkennen; da er jedoch bereits im i . T e i l , und zwar im Buch des Einsiedlers, sein Ebenbild »in freundlichen Gesprächen mit Sarazenen und Mohren« (1,265) erblickt, ist anzunehmen, daß dieser Abschnitt die geplante »Aussöhnung der köstlichen Relig[ion] mit der heydnischen« vorbereiten sollte, die am Schluß des Romans zur »Poetisirung der Welt« (111,677:631) gehört. 25 Bevor dies geschieht, muß jedoch Heinrich, als neuer Orpheus, zuerst »den Sinn des Todes fassen« lernen (1,354); s o heißt es in der Schlußstrophe jenes mystischen Totengesangs, der zu den letzten Dichtungen Friedrich von Hardenbergs zählt. Mit Krankheit und Tod hatte der Verfasser des >Heinrich von Ofterdingen< mehr als genug Erfahrung in seinem kurzen Leben. Die christliche Botschaft, daß der leibliche Tod nicht das Ende des Lebens, sondern überhaupt ein Neuanfang sei, kannte er vom Elternhaus her. Nun galt es, diese Überzeugung mit neuen dichterischen Mitteln darzustellen. Im Gesang »Liebeszähren, Liebesflammen« wird Mathilde, Heinrichs Geliebte, daher nicht nur erblickt, sondern mit »Gottes Mutter und Geliebte[r]« in Verbindung gebracht: 20 25
Im ähnlichen Sinn soll am Schluß der >Europa-Rede< eine »heilige Musik« die in Krieg verwickelten europäischen Nationen heilend besänftigen, damit »ein großes Liebesmahl, als Friedensfest, auf den rauchenden Wahlstätten mit heißen Thränen gefeiert wird« (111,523). Eine solche Stelle erinnert daran, daß das poetische Mittelalter im >Heinrich von Ofterdingen< sehr viel mit der Gegenwart des Dichters zu tun hatte. Zur Deutung der >Europa-Rede< und des Romans >Heinrich von Ofterdingen< im Kontext der Historiographie des ausgehenden 1 8 . Jahrhunderts vgl. Kasperowski, Ira: Mittelalterrezeption im Werk des Novalis. Tübingen 1 9 9 4 .
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Z u Hardenbergs freiem Umgang mit sowohl orphisch-antiken als auch überlieferten christlichen Elementen am Anfang des 2. Teils des >Heinrich von Ofterdingen < vgl. Heftrich, Eckhard: Novalis. Vom Logos der Poesie. Frankfurt a . M . 1 9 6 9 , S. 1 0 6 - 1 0 9 . V g l .
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Unvergeßlich sey die Stelle, Wo des Lichtes heiige Quelle Weggespült den Traum der Schmerzen. (1,324) Der Ausdruck »Traum der Schmerzen« klingt wie aus einem Barockgedicht. Das intertextuelle Netz im >Heinrich von Ofterdingen< ist allerdings noch dichter verwoben, denn dieses Zitat stammt nicht etwa von Andreas Gryphius, sondern von der kleinen Fabel, die am Schluß des Klingsohr-Märchens gesungen hatte: »Vorüber ging der lange Traum der Schmerzen, / Sophie ist ewig Priesterin der Herzen« (1,315). Was romanintern zunächst >bloß< ein Märchen ist, wird bald durch die Macht der Musik zur dichterischen Wahrheit. So nehmen die Gedichte und Lieder im >Ofterdingen< an der »Herstellung der Märchenwelt« (111,677:631) wesentlichen Anteil. Ob Dichtungen wie >Heinrich von Ofterdingen< in den zweihundert Jahren nach dem Tod Friedrich von Hardenbergs zur »Erhebung des Menschen über sich selbst« beigetragen haben, ist wohl eine Frage, die jeder für sich beantworten müßte. Daß sie solche Fragen anregen können, ist ein Zeichen ihrer »geheimen Macht«. 2 7
dagegen die orthodox-christliche Deutung dieses Liedes in Stopp, Elisabeth: »Übergang vom Roman zur Mythologiec Formal Aspects of the Opening Chapter of Hardenbergs »Heinrich von OfterdingenOfterdingenDer Himmel war umzogen< in eine umfassende Anthologie deutscher Lyrik Aufnahme gefunden. 1 Es ist nicht meine Absicht, hier eine Neuinterpretation dieser Gedichte insgesamt oder auch nur im einzelnen zu versuchen. Es soll lediglich die Frage gestellt werden nach ihrem Verhältnis zum Gesamtwerk von Novalis, also auch dem theoretischen, was nun allerdings zugleich zur Frage nach ihrer literarischen Qualität führen muß. Beachtenswert ist auf jeden Fall, daß die genannten Gedichte parallel zu Novalis' letzten Studien zur Poesie und speziell zu einer >romantischen Poetik< entstanden sind. Insgesamt werden die Gedichte vom theoretischem Werk der >Fragmente und Studien 1 7 9 9 - 1 8 0 C K begleitet. 2 Mit dieser Beobachtung nun wird bereits so etwas wie eine Verbindung zwischen Literatur und Theorie impliziert, die in Wirklichkeit nicht bestehen mag. Es gehört zu Novalis' Besonderheiten in der Geschichte der deutschen Literatur um 1800, daß er im Unterschied zu den meisten anderen Autorinnen und Autoren seiner Zeit mit großer Sicherheit über einen theoretischen wie einen literarischen Diskurs, eine jeweils besondere Aussageweise für seine Denkprozesse verfugte. In seinem literarischen Werk hat er nicht schlechterdings theoretische Überlegungen in die Bildersprache einer Dichtung umgesetzt und Philosophie illustriert, mithin letztlich immer nur um der Philosophie willen geschrieben; da war er, um es ein wenig altmodisch zu sagen, viel zu sehr Dichter. Ebensowenig aber war es die Absicht seiner vielfältigen theoretischen Überlegungen, seine literarische Produktion vorzubereiten oder zu kommentieren. Als Philosoph philosophierte er um der Philosophie willen. U m jedoch Mißverständnissen vorzubeugen: der Einheit oder besser Ganzheit seines Denkens ist diese Dualität der Diskurse nicht abträglich — im Gegenteil: der besondere Reiz 1
Deutsche Gedichte. Hrsg. von Hans-Joachim Simm. Frankfurt a. M./Leipzig 2000, S. 4 3 8 — 440. Nach diesem Gedicht folgt dort auch noch >Wenn nicht mehr Zahlen und FigurenNovalis und Fichte< liest zum Beispiel die Verse >Alle Menschen seh ich leben< aus dem Herbst 1800, also das vermutlich vorletzte Gedicht, das Novalis geschrieben hat, als »poetisches Dokument der tiefen, lebenslangen Verbundenheit des Romantikers mit der [Fichteschen] Wissenschaftslehre«, basierend auf dem Gedanken der Sittlichkeit und des »unendlichen Handelns«,3 Überlegungen, die zu diesem Zeitpunkt sicherlich auch mit seinem sich rasch verschlechternden Gesundheitszustand in Verbindung gebracht werden können. In der älteren Novalis-Forschung dominierte nun zumeist dieser biographische Bezug; zu den eben genannten Versen bestehen tatsächlich gedankliche Verbindungen in einer Tagebuchnotiz vom 6. September 1800 (IV,56f.). Biographische Motivation ist überdies naheliegend dort, wo Gedichte an Personen gerichtet sind und sich deutlich auf Hardenbergs Lebenssituation beziehen, also etwa auf die bevorstehende Ehe mit Julie von Charpentier. Wenn allerdings >Das Gedicht< als Schilderung der Feier des 50. Geburtstages von Frau von Hardenberg in Weißenfels angesehen wird, auf der Tieck angeblich lebende Bilder mit Blumen- und Feenszenen arrangiert haben soll, dann dürfte etwas zu viel des Biographischen hineingedeutet worden zu sein. Weitgehend unerschlossen ist noch der kontextuelle Bezug dieser Gedichte, also ihre mögliche Funktion als Gedichteinlagen, denn vieles von Novalis' reifer Lyrik war tatsächlich für einen narrativen Kontext gedacht. Gehört zum Beispiel >Das GedichtLehrlinge zu Sa'is