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German Pages 482 [484] Year 2004
Sandra Pott Poetiken
Sandra Pott
Poetiken Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017760-9 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort ‚Ars poetica‘ – so hieß das Wissensgebiet der Poetik in der Antike, im Mittelalter und in der Frühneuzeit. Es umfaßte Theorien über Texte, vor allem über literarische. Der Bereich der Dichtungskritik gehörte ebenso dazu wie die Lehre vom Umgang mit schriftlichen Zeichen, mit Metrum, Vers, Trope, Figur und Stil. Gleichberechtigt stand die Poetik neben den anderen ‚artes‘ – als ein Gebiet, das es unter den Aspekten von Technik und Gelehrsamkeit gleichermaßen ernstzunehmen galt. Im 19. Jahrhundert blieb es im Prinzip erhalten und empfing Impulse aus zahlreichen anderen Wissensgebieten, aus Mythologie, Theologie, Philosophie, Medizin und bildender Kunst beispielsweise. Es verengte seinen Bezugsbereich aber zugleich auf die Kanones der Nationalliteraturen, auf das Wissen für den Literatur-Experten. Im Ausgang aus Klassik und Romantik verabschiedete er sich nach und nach vom Ideal des ‚poeta doctus‘, vom Ideal des umfassend Gelehrten, der mehr als ‚nur‘ die Künste des Verseschmiedens und der poetischen Darstellung beherrschte. Diese Untersuchung will das Wissensgebiet der Poetik wieder- oder besser: neu entdecken – für das ‚lange 19. Jahrhundert‘ (1790–1920). Denn hier gewinnt Poetik eine besondere Dynamik: als ein Wissensgebiet, das seinem Gegenstand, der Literatur, erstaunlicherweise Mitspracherechte für seine wissenschaftliche Beschreibung einräumt. Poetologische Literatur – Literatur, die sich selbst mit Fragen der Poetik befaßt – spielt dabei eine herausragende Rolle: Nicht selten überbietet sie die wissenschaftliche Darstellung, weil Literatur ihre eigene Poetik veranschaulichen und den Anspruch erheben kann, über Literatur selbst ‚wahr‘, nämlich authentisch zu sprechen. Sie reagiert auf theoretische Poetiken und Ästhetiken, und diese reagieren wiederum auf sie. Um dieses Wechselspiel von Literatur, Wissen und Wissenschaft zu ermitteln, beginnt die Untersuchung mit der Romantik: mit jener Epoche, die sich vorgenommen hatte, das überlieferte System der Normpoetik aus der Literatur heraus gründlich aufzurütteln und Welt poetisch zu verklären. Ihr ‚natürliches‘ Ende findet die Darstellung in den
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Vorwort
1920er Jahren: in der Lyrik Rainer Maria Rilkes, die einer schöpferischen All-Einheit zustrebt und poetologische Reflexionen als omnipräsent betrachtet. Im Ergebnis dieser Studie steht eine Vielfalt von Poetiken, von Texttheorien im gelehrten, wissenschaftlichen, didaktischen und literarischen Text, die im Blick auf ihre Leistungen für das Wissensgebiet der Poetik interpretiert werden. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den kognitiven Erträgen von Literatur: auf den Leistungen, die Literatur für ihre Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung – also für ihre Poetik – sowie für die Wahrnehmung und Darstellung von Welt erbringt. Es geht insofern um textwissenschaftliche Grundlagenforschung. Die Untersuchung will die bewährten Verfahren und Beschreibungsvorhaben der Literaturwissenschaft zu diesem Zweck im Sinne einer vergleichenden, denk-, wissens- und mediengeschichtlich orientierten, international und interdisziplinär interessierten Textwissenschaft erweitern, die Literatur einerseits als eine besonders konzentrierte und eigenständige Ausdrucksform betrachtet, andererseits aber auch im Blick auf ihre Bedeutung für nicht-literarische Wissens- und Handlungsgebiete beschreibt und beurteilt. Mein herzlicher Dank gilt all denen, die es mir ermöglichten, einige der zahlreichen verschlungenen Pfade der Poetik auf der weitläufigen Landkarte des Wissens zu vermessen: in erster Linie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Projekt „Poetologische Reflexion. Historische Untersuchungen in systematischer Absicht: Poetik und poetologische Lyrik im Kontext ästhetischer Reflexion“, dem diese Untersuchung entstammt, seit Oktober 2001 im Rahmen des Emmy Noether-Programms fördert. Jörg Schönert unterstützte die Studie durch stetige Diskussion und wohlwollende Kritik von Beginn an. Hans-Harald Müller und Peter Hühn danke ich für die Diskussion von Thema und Gegenstand der Untersuchung, für Anregungen und konstruktive Kritik. Rüdiger Görner gab mir nicht nur immer wieder Gelegenheit, meine Überlegungen am Institute of Germanic Studies (School of Advanced Study, University of London) auf die Probe zu stellen, sondern beförderte sie seinerseits durch vielfältige Diskussionen. Michel Espagne und der Arbeitsgruppe „Transferts culturels – Pays germaniques“ am Centre national de la recherche scientifique/École normale supérieure (Paris) danke ich für wertvolle Anregungen und rege Diskussionen. Dem Institute of Germanic Studies (School of Advanced Study, University of London) und dem Centre national de la recherche scientifique/École
Vorwort
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normale supérieure (Paris) danke ich für hervorragende Arbeitsmöglichkeiten. Ohne Lutz Danneberg, Wiebke Freytag, Frank-Rutger Hausmann, Roland Kany und Simone Winko-Jannidis wäre die Arbeit nicht geworden, was sie ist. Wilhelm Kühlmann danke ich für einen nachdrücklichen Hinweis auf Annette von Droste-Hülshoff. John Flood, Katrin Kohl und Susanne Schmid zeigten sich stets als interessierte und kritische Gesprächspartner. Die regen Auseinandersetzungen mit Projekt 6 („Zur Theorie und Methodologie narratologischer Analyse von Lyrik: Untersuchungen aus anglistischer und germanistischer Perspektive“) der Forschergruppe Narratologie (Hamburg, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft) halfen, terminologische und theoretische Fragen zu beantworten. Hella Sieber-Rilke (Rilke-Archiv, Gernsbach) gilt mein ganz besonderer Dank: für ihre Hilfe bei der Suche nach Lesespuren in Büchern Rilkes und für einen ungemein erhellenden Archiv-Aufenthalt. Renate Moering (Freies Deutsches Hochstift) möchte ich für ein informatives Gespräch über die Arnim-Philologie danken. Dem Deutschen Literaturarchiv Marbach verdanke ich einen produktiven Aufenthalt. Für Auskünfte danke ich Stephan Fölske (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Viola Geyersbach, Evelyn Liepsch (Stiftung Weimarer Klassik; Goethe- und Schiller-Archiv), Ernst Schulin (Freiburg) und Peter White (ProQuest Information and Learning, zuvor Chadwyck-Healey Ltd). Dem hervorragenden Service und den reichen Beständen der British Library, der Bibliothèque Nationale de France, der Deutschen Bibliothek sowie der Staats- und Universitätsbibliothek Frankfurt/M. ist es zu verdanken, daß die Arbeit mit dem historischen Material zügig voranging. Für freundschaftliche Begleitung danke ich Eva Jost und Bianca Unverhau; sie beobachteten die Entstehung der Untersuchung von Anfang an. Im Sommersemester 2003 wurde der vorliegende Text als Habilitationsschrift am Fachbereich „Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft“ der Universität Hamburg angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. Der bewährten Zusammenarbeit mit Heiko Hartmann ist es zu verdanken, daß er in dieser Form erscheinen konnte. Sandra Pott Paris, im Juli 2003
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Poetiken und der ‚poetic turn‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Poetik – Ästhetik – Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 3. Poetologische Reflexion als Merkmal poetologischer Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Novalis: orphischer Gesang und Gefühlspoetik . . . . . . . . . a) Vergil Georgica, Buch IV (ca. 36–29 v. Chr.): Umdeuten durch Übersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Orpheus (ca. 1789): romantisierender Gegenentwurf von Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Friedrich Hölderlin: ambivalente Poetik des Idealischen a) Dichterberuf (1800/1801): Poesie der gemäßigten Vereinigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der „poëtische Geist“ im „Widerstreit“: ‚harmonisch-entgegengesetzter‘ „Mittelzustande“ oder Einsamkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Achim von Arnim: polyperspektivische und multi-mediale Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Heymars Dichterschule (1804) und der „Zweifelsprophet“ Ariel: poetische Läuterung – geselliger Dichterspaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ixion, der an seinen Studien verzweifelte Dichter (1808): „Glaubt ich mich Gott!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik: Reflexion als Problem in der Epoche der „Reflexionsbildung“ . . . . . . . . . 105 1. Schwäbische Dichterkreise: Poetik des ‚ganzen Menschen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Magnetismus, Sängerkult und meta-reflexive Poesie: Justinus Kerner, Ludwig Uhland und Eduard Mörike im Urteil von David Friedrich Strauß und Friedrich Theodor Vischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) David Friedrich Strauß, Friedrich Theodor Vischer und Friedrich Gundolf über Eduard Mörike: Modell des naiven und humanen Dichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Exkurs. David Friedrich Strauß über die Poetik der Wissenschaftspoesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. David Friedrich Strauß Ästhetische Grillen (1847): sechzehn Thesen gegen die „Poesie der Poesie“, vor allem gegen Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Systembildung im Ausgang aus der spekulativen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Georg Wilhelm Friedrich Hegel Vorlesungen über die Ästhetik (in der Edition Heinrich Gustav Hothos 1835/1842): Lyrik – reflexive Subjektivität . . . . . . . . . . 159 b) Friedrich Theodor Vischer Aesthetik (1846–1857): die ‚rezeptionsästhetische‘ Lösung des Reflexionsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden . . . . . . 173 1. „Weltpoesie allein ist Weltversöhnung“: Weltliteratur als Prozeß oder als Ensemble nationaler Textkanones? . . . . . 178 a) Emphatische Vorstellungen und Ironie: Friedrich Rückert Weltpoesie (1832) und Ludolf Wienbarg Goethe und die Weltliteratur (1835) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Ablehnende und gemäßigte Vorstellungen: Theodor Mundts Begriff der „Unmittelbarkeit“ (1845), Georg Brandes’ vergleichende Literaturbetrachtung (1872) und Berthold Auerbachs vermittelnde Lösung (1881) 194
Inhalt
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2. Britische und deutsche Lyrik: Metaphysik-Kritik, unpolitische Rezeption und Trivialisierung der Übersetzungspoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 a) Ferdinand Freiligrath The Rose, Thistle and Shamrock (1853): poetologische Lyrik in der erfolgreichsten Anthologie für die deutsche Rezeption britischer Dichtung im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 b) Alfred Lord Tennyson The Poet’s Song (1842): die Vision des ‚poeta vates‘ – in der deutschen Rezeption seit Ferdinand Freiligrath (1846) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3. Französische und deutsche Lyrik: Sozialkritik und die hohe Schule der Übersetzungspoetik. Léon Halévy La Poésie in Übertragungen von Heinrich Leuthold, Heinrich Nitschmann und Theodor Vulpinus . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Exkurs. Weibliche Poetik – Andere Reflexion? Die Physiko-Poetik der Annette von Droste-Hülshoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 1. An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich (1844): weder Hirtinnen noch Hetären, sondern irdische Heilige. Heroisierende Reflexion über das Dichterinnenamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2. Poesie (1844): ‚Physiko-Poetik‘. Spielerische und unkonventionelle Reflexion über das Verhältnis von Edelstein und Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3. Dichters Naturgefühl (1844): Keuchen, Stelzen, Stapfen – mit Gummischuhen und Mückenstich gegen die Naturlyrik. Anti-konventionelle und subjektiv-empirische Reflexion über das Dichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Von der subjektiven Reflexion zur Selbstreflexion. Gottfried Kellers Poetik zwischen Fortschrittsoptimismus und prophetischer Selbstbescheidung: Erwiderung auf Justinus Kerner’s Lied Unter dem Himmel, Subjektives Dichten, Dichter und Denker (alle 1846) . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
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Inhalt
2. Im Ausgang aus dem Naturalismus: Ende der Lyrik oder bloß ein Vermittlungsproblem? Protestkult der „Charaktere“ und Otto Julius Bierbaum Ein Gespräch (1895) . . . 277 3. Mystifikation der Poesie. John Keats: der ‚reine Dichter‘ als Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 a) Rainer Maria Rilkes Gedichte (1914) zu der Zeichnung Keats on his death-bed (1821) nach Joseph Severn: Anbetung einer Ikone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 b) Rudolf Kassner Die Mystik, die Künstler und das Leben (1900): John Keats als ‚größter‘ englischer Dichter und als Philosoph des Dichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Exkurs. Über die Legende vom Zusammenhang der „poetry of sensation“ mit der psychologischen Ästhetik um 1900 und über ihren wahren Kern: die Entstehung der ‚reinen Poesie‘ aus Physiologie und Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus (1922): kosmogonische Poetik. ‚Poietische‘ Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 1. „Diktat“, „Orkan“, „Ergriffenwerden“: Funktionen der Inspirationspoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 2. Orientierungshilfen und Lebensreform: Zivilisationskritik, Weltanschauung, Populär- und Geheimwissenschaft im Umfeld von Oswald Spengler Der Untergang des Abendlandes (I, 1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Walther Rathenau Von kommenden Dingen (1917): Zeitdiagnose „an der Schöpfungsgrenze“ . . . . . . . . . . . . 346 b) Rudolf Kassner Der indische Gedanke (1913): Plädoyer für das Prinzip der Individuation . . . . . . . . . . . . . 351 c) Hermann Keyserling (3 1920) vs. Carl Vogl (1917): Unsterblichkeit – Entpersonalisierung und Kollektivismus oder Geheimlehre der Seele? . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 d) Alfred Schulers anti-christliche und anti-semitische Kosmogonie (1915–1922): Ich-Auflösung im All-Einen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 3. Im Ausgang aus der „poésie pure“: Rilkes lebensreformerischer Neuentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
Inhalt
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a) Vorbild. Paul Valéry Orphée (1896): dunkler Hymnus und Berufsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 b) Vorläufer. Iwan Goll Die Unterwelt (1919): expressionistischer Totentanz und Hoffnung auf Erlösung . . . 377
VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 1. Poetologische Leistungen poetologischer Lyrik . . . . . . . . . 382 2. Kontinuität und Wandel der Poetiken im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
VIII. Abbildungs- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 1. Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ungedruckte Quellen und Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . b) Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX. Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
I. Einleitung Noch im 19. Jahrhundert verbergen sich unter dem Namen der Poetik Texttheorien: historische wie aktuelle, normative und deskriptive Theorien – Theorien vor allem, aber nicht nur über literarische Texte. Texttheorien werden in voraussetzungs- und gedankenreiche Schriften dargeboten. Nicht selten handelt es sich um Texte mit einer bestimmten politischen Tendenz. Aber auch die Literatur hält Poetiken bereit – das zumindest will diese Untersuchung behaupten und belegen. Diese ‚Poetiken in der Literatur‘ teilen beinahe alle Merkmale ihrer gelehrten, wissenschaftlichen und didaktischen Gegenstücke: Auch sie erweisen sich als voraussetzungs- und gedankenreich, gelegentlich als tendenziös, mitunter sogar als gänzlich unverständlich, als hermetisch. Sie vermitteln (dennoch) Wissen über Literatur, also in gewisser Weise über sich selbst – und mit sich selbst kennen sie sich so gut aus, daß sie dieses Wissen bereits spielerisch in Frage stellen können.1 Unter dem Deckmantel des Literarischen erscheinen sie einerseits als einfacher, andererseits als komplizierter, vergleicht man sie mit gelehrten, wissenschaftlichen und didaktischen Poetiken. Poetologische Literatur ist sich selbst Exempel, spricht ‚authentisch‘ über sich (1. Teil). Will man sich verläßlich über die poetologischen Leistungen von Literatur informieren, dann bedarf diese Vielschichtigkeit der Poetiken einer systematischen, vergleichenden, denk- und wissensgeschichtlichen – von Fall zu Fall sogar mediengeschichtlichen Betrachtung. Denn Poetiken siedeln im Grenzgebiet zwischen Literatur und Wissenschaft: Poetiken nutzen, was die Denk- oder Wissensgeschichte bereitstellt, um ihren komplexen Gegenstand zu beschreiben (2. Teil). 1 Unter Wissen verstehe ich kognitive Bestände aller Art, also sowohl kurz- als auch mittel- und langfristige Erträge von Gedächtnistätigkeit. Dazu gehören nicht nur die „Aussagen/Proposition, die die Mitglieder eines räumlich und zeitlich begrenzten soziokulturellen Systems [...] für wahr halten“ (Richter, Schönert u. Titzmann 1997, S. 12, Hervorhebungen im Original; vgl. auch Titzmann 1989), sondern auch solche, die sie als falsch erachten. Wissen über Poesie und Poetik zählt ebenso dazu wie Wissen über Einstellungen und Normen, die das Wissensgebiet der Poetik erzeugt.
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I. Einleitung
Auch das läßt sich ohne Unterschied der Gattung feststellen, also unabhängig davon, ob es sich um Literatur oder um ausgewiesene Texttheorie handelt. Es gilt selbst für eine literarische Gattung, die seit ihren Ursprüngen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert als ein Ausdruck von Subjektivität betrachtet wird, d. h. als eine Gattung, die sich dem Denken, dem Wissen, dem Ojektiven, der Reflexion verweigert. Gemeint ist die Lyrik. Auf dieses historische Verständnis von Lyrik zielt diese Untersuchung nicht nur, weil es besonders wirkungsmächtig war und ist, sondern auch, weil es die These von den Poetiken in der Literatur entschieden herausfordert. Es erlaubt, sie gründlich zu prüfen – zumal Lyrik selbst das anti-reflexive Verständnis ‚von sich‘ mitprägte oder ihm zu entsprechen suchte. Das gilt gerade auch für solche Lyrik, die sich ausdrücklich mit Poesie oder Literatur befaßt: für poetologische Lyrik, die im engen Sinne über Lyrik und im weiten Sinne über Literatur handelt.2 Sie gerät deshalb in den Verdacht, sich selbst zu widersprechen: Poetologische Lyrik, die sich dem Subjektiven verschreibt, steht zugleich für das Gegenteil, für Reflexion über ihren eigenen Begriff. Dieser Widerspruch läßt sich jedoch auflösen – im Blick auf den Reflexionsdruck, den das Reflexionsdenken der Romantik auch der Lyrik auferlegte. Poetologische Lyrik stellt sich der Anforderung, sich selbst zu reflektieren, Poetologisches zu Papier zu bringen – und entlastet sich sogleich, indem sie sich als subjektiv bestimmt. Trotz dieser eingeschränkten Selbstbestimmung versprechen ihre Reflexionen Literaturkritisches und Programmatisches – im Gewand des versifizierten Texts, das sich immer wieder neu drapieren läßt. Mitunter wendet sie sich dabei direkt gegen ihre Beschreibung durch Gelehrsamkeit, Wissenschaft und Didaxe. Gelegentlich will sie aber auch dazu beitragen – oder sie 2 Ich gebrauche den Begriff poetologische Lyrik in Anlehnung an Alfred Weber (1971) und Armin Paul Frank (1977). Sie beschreiben poetologische Lyrik als Lyrik, die Themen der Poetik behandelt. – Bedauerlicherweise verwendet Weber später für denselben Sachverhalt einen – ihm zu diesem Zeitpunkt wohl als zeitgemäßer erscheinenden – Begriff, nämlich denjenigen der „self-reflexive poetry“: Weber 1997. Bei diesem Beitrag handelt es sich aber um eine Übersetzung des geringfügig veränderten Texts aus dem Jahr 1971. Weil Weber es dementsprechend auch bei seiner alten Definition beläßt und dafür nur einen neuen Begriff wählt, bleibe ich bei dem alten, der mir eindeutiger erscheint. – Mit diesem Versuch der Wiederbelebung des alten Begriffs poetologische Lyrik steht vorliegende Untersuchung nicht allein. Für seinen Studienband zum Thema, der nach Abschluß dieser Untersuchung erschien und dessen Ergebnisse hier nachgetragen sind, gebraucht Olaf Hildebrand (2003; ders. 2003 a) denselben Terminus in gleicher Weise.
1. Poetiken und der ‚poetic turn‘
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wirkt auf diese Fremd-Beschreibungen, ohne es vorhersehen zu können.3 Eine Vielfalt von Poetiken, die sich rege und über die Gattungsgrenzen miteinander austauschen, ist das Ergebnis. Deshalb entwirft diese Untersuchung ein Gegenbild zu einer literaturwissenschaftlichen Forschung, die der gelehrten, wissenschaftlichen und didaktischen Texttheorie des 19. Jahrhunderts bislang vorwarf, sich ganz von innovativer zeitgenössischer Literatur abzukoppeln, um einen ‚goethezeitlichen‘, subjektiven und nicht-innovativen Lyrik-Begriff ‚undialektisch‘ festzuschreiben.4 Hier geht es demgegenüber darum, das Wechselspiel von lyrischem und gelehrtem, wissenschaftlichen oder didaktischem Text für das Wissensgebiet der Poetik darzustellen (3. Teil).
1. Poetiken und der ‚poetic turn‘ Die Frage nach diesem Wechselspiel empfängt Impulse von den gegenwärtigen Debatten über Poetik, die ich als ‚poetic turn‘ bezeichnen will.5 Sie gehen von (mindestens) drei ganz unterschiedlichen interund transdisziplinären Bewegungen aus: erstens von kultur- und medienwissenschaftlichen Bestrebungen, die auf eine allgemeine Poetik der Kultur zielen. Solche Vorhaben nehmen mentale Phänomene wie die Erinnerung,6 psycho-physische Zustände wie den Drogen3 Diese Untersuchung will deshalb zu den Debatten über die Frage beitragen, wie Wissen in Literatur eingeht, will die Fragestellung aber auch umkehren: im Blick darauf, was Literatur selbst für Wissen und Wissenschaft leistet. Fragen wie diese verbinden sich mit Beschreibungsformeln wie „Dichtung als Form der Erkenntnis“ (Gellhaus 1995, S. 11) oder „sinnliche Erkenntnis“ (Lorenz 1996). 4 Almut Todorow (1981) formulierte diese Position paradigmatisch und mit kanonisierender Wirkung. Ihre Kritik an der Theoriebildung (Friedrich Theodor Vischers, Moriz Carrieres und Rudolf Gottschalls) bezieht sie aber ausschließlich aus einer Position, die sie für die Lyrik des 19. Jahrhunderts als die innovativste erachtet: aus der Lyrik Heinrich Heines (ebd., S. 243 u. 249), die nicht nur in der Theorie, sondern gerade auch unter den Dichtern der Epoche umstritten war. 5 Pessimisten mögen dafür von einer inflationären Verwendung des Poetik-Begriffs sprechen. Durchforstet man nämlich nur die CD-Rom-Fassung des EppelsheimerKöttelwesch (1990–2001), dann finden sich unter dem Stichwort Poetik ca. 1300 Einträge – zu ganz unterschiedlichen Themen und mit großer methodischer Varianz. 6 Wollte ich hier alle Einträge aus dem Eppelsheimer-Köttelwesch anführen, dann wäre die Liste zu lang für eine Anmerkung. Ich beschränke mich deshalb auf Begemann 1999. Ein solcher Gebrauch des Poetik-Begriffs entstammt nicht selten Auseinandersetzungen mit Konzepten des Poststrukturalismus, mit der These von der ‚prinzipiellen Reflexivität‘ der (literarischen) Zeichen; kritisch darüber Sparr 1993.
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I. Einleitung
rausch,7 mediale Objekte8 und – nicht zuletzt – fachwissenschaftliche Praktiken in den Blick: die ‚Poetik des Geschichtsdenkens und -schreibens‘ beispielsweise.9 Eine zweite Verwendungsweise von Poetik läßt sich auf die Erzähltheorie zurückführen.10 Zahlreiche Narratologen erblicken in der Poetik den historischen und kontextbezogenen Fluchtpunkt für die erzähltheoretische Analyse; der Begriff der Poetik schillert hier aber ebenso stark wie im Fall der Kulturpoetiken.11 Die dritte Verwendungsweise erweist sich demgegenüber als vergleichsweise traditionell: Sie fahndet nach den Poetiken bestimmter Gattungen oder nach Autorpoetiken. Eine erhebliche Weiterung erfährt sie durch die gewagte Gleichsetzung von ‚poetics‘ mit Schreiben überhaupt.12 Nimmt man den ersten und den erweiterten dritten Gebrauch von Poetik in den Blick, dann scheint es, als habe der Literaturbegriff ausgedient. Der Begriff Poetik erweist sich als deutungsoffener und verheißungsvoller als der Verweis auf Buchstabe, Wort und Satz: ‚Poetik der Sinne‘ beispielsweise klingt nicht nur anders als ‚Literatur über die Phänomene sinnlicher Wahrnehmung‘, sondern verspricht auch eine eingängige und vollständige Darbietung eben jener Phänomene. Hinzu kommt die Bedeutungsweite des doppelten Genitivs, der sowohl eine Motivation (‚durch etwas veranlaßt‘) als auch ein Besitzverhältnis anzeigen kann. Ansätze, die sich der Poetik verschreiben, betonen das Schöpferische, das Gemachte. Ihr Poetik-Begriff lebt nicht selten vom Nimbus des Schönen, vom Schein des harmonisch Systematisierten und der allumfassenden Erklärung. 7 Söring 1993. 8 Beispielsweise die Behandlung „nasser Medien“ bei Bickenbach u. Maye 1999. 9 Fulda 1999. Wenn Fulda nach der „Poetik modernen historischen Denkens“ fragt, dann untersucht er Textmodelle, die diesem Denken zugrunde liegen und stellt dafür – mehr oder minder in der Tradition Haydn Whites – die Verwendung literarischer Muster fest. Als eine besondere Variante dieses Poetik-Ansatzes erweist sich der New Historicism mit seinen zahlreichen Filiationen und Rezeptionen. Er nimmt historische Dokumente wie literarische Texte wahr, fahndet nach einer Poetik auch des Nicht-Literarischen; Baßler 1995; kritisch bereits Harth 1990. 10 Mischformen, die sich des Analyseinstrumentariums sowohl der Narratologie als auch der Psychologie zu bedienen wissen, sind selten. Zu den Ausnahmen zählt Winko 2003. 11 Vgl. beispielsweise in der programmatischen Untersuchung von Bal 2000, die – vor dem Hintergrund des „visual turn“ der letzten Jahre – für „visual poetics“ plädiert. 12 Kritisch darüber Earl Miner: „Poetics“, in: Preminger u. Brogan 1993, S. 929–938, bes. S. 929 f.
1. Poetiken und der ‚poetic turn‘
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Um diesen so inspirierenden wie verwirrenden Assoziationsreichtum zu einem schlüssigen Begriffsbündel zu verschnüren, will ich mich mit einer thematischen Bestimmung bescheiden. Als Poetiken bezeichne ich Theorien (im Sinne von ‚Anschauungen‘) über literarische und nicht-literarische Texte, und zwar unabhängig von den Gattungen und Genres,13 in denen sie niedergelegt sind: unabhängig davon, ob sie sich in Rhetorik, Ästhetik, gelehrter, wissenschaftlicher und didaktischer Poetik, Stilistik, Essayistik, in Rezensionen, in Briefen oder in literarischen Gattungen wie der Lyrik finden.14 Dabei öffnet der vage Ausdruck ‚Theorie‘ zwar ein Einfallstor für unkontrollierte Zuschreiben, aber er ist unvermeidbar für einen Begriff von Poetik, der historisch und gattungssystematisch variabel einsetzbar sein soll, der normative, aber auch analytische und deskriptive Ansprüche der Darstellung umfaßt.15 Aus dieser Erklärung von Poetik folgt jedoch nicht, daß sich Texttheorie in gleicher Weise und zu vergleichbaren Anteilen auf die angesprochenen Gattungen und Genres verteilt. Im Gegenteil: Eine der Hauptaufgaben dieser Untersuchung soll es sein, die jeweiligen Grade von Texttheorie am Beispiel literarischer und nicht-literarischer Einzeltexte zu bestimmen, auf historische Gattungs- und Genre-Eigenschaften rückzuschließen, um die Chancen und Grenzen der Beschreibung von Poetik als einem gattungsübergreifenden Wissensgebiet zu ermitteln. 13 Von Gattung spreche ich, insofern die überlieferte Trias von Lyrik – Prosa – Drama gemeint ist; siehe dazu auch die Diskussion über den Begriff der Lyrik in Anm. 27. Den Begriff des Genres hingegen gebrauche ich, um Textgruppen auszuzeichnen, die sich den Gattungen unterordnen lassen. Es handelt sich um Textgruppen, die mit Hilfe eines thematischen und / oder formalen Kriteriums klassifizierbar sind, und die auf seiten von Produzenten und Rezipienten bestimmte kognitive Schemata ausbilden (vgl. S. J. Schmidt 1994, S. 164–201); siehe dazu auch die Diskussion von poetologischer Lyrik als Genre (Anm. 38). – Ich halte also an den etablierten Gattungsbegriffen fest, versuche aber, diese historisch und systematisch voraussetzungsreichen Begriffe zu differenzieren. 14 Insofern Poetiken über die Gattungsgrenzen hinweg verfolgt werden, werden Anregungen für eine „Poetologie“ oder für „Poetologien des Wissens“ aufgenommen; siehe Joseph Vogl 1997 u. 1999. Meine Untersuchung der Poetiken unterscheidet sich von Vogl aber in zweierlei Hinsicht: erstens teilt sie die Vernunftkritik nicht, die der Untersuchung von „Poetologien“ als Wertprämisse zugrunde liegt (Vogl 1997, S. 117). Zweitens blickt sie zwar – wie die „Poetologien“ – auf Schöpfungsordnungen schlechthin und widmet sich Prozessen der „Verfertigung“ (ebd.). Aber sie will nicht jedwedes Wissensgebiet im Blick auf diese Schaffensprozesse untersuchen, sondern sich auf das Wissensgebiet der Texttheorie beschränken. Daher lautet ihr Titel „Poetiken“ und nicht „Poetologien“. 15 Vgl. auch Hildebrand 2003 a, S. 6.
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I. Einleitung
2. Poetik – Ästhetik – Lyrik Zu diesem Zweck will ich in einem knappen Überblick erörtern, welche Wissensanteile dem Wissensgebiet der Poetik angehören. Es umschließt – kommunikationstheoretisch betrachtet – Wissen darüber, wer (Produktionsästhetik: Autor/Autorenkollektiv) in einem Text zu wem in welcher Absicht (Rezeptionsästhetik: Leser/Rezipient) wie (Darbietungsform: Rhetorik, Stilistik, Gattungstheorie/Generik, Prosodik, Rhythmik, Metrik, Tropen, Figuren) über was (Begriff des Schönen, Erhabenen, Häßlichen, Text- bzw. Literaturbegriff, Textwissen, Kanon) spricht. Ein Schema soll veranschaulichen, welche Wissensanteile das Wissensgebiet der Poetik im 19. Jahrhundert umfaßt und mit welchen nicht-primär ästhetischen Wissensgebieten es sich verbindet. Noch im 19. Jahrhundert variieren die Wissensanteile der Poetik erheblich: Beispielsweise ist die Mythologie einmal Teil der Poetik, ein ander Mal entfällt sie. Im Schema sind unter ‚Poetik‘ deshalb nur die Wissensanteile angesprochen, die zum Kernbestand des Wissensgebiets gehören. Vergleichbares gilt für die Verbindungen, die das Wissensgebiet der Poetik im 19. Jahrhundert mit anderen Wissensgebieten eingeht. Diese Verbindungen reichen von direktem Einfluß bis zur bloßen Ähnlichkeit der Wissensbestände, von der Koevolution von Wissen, d. h. der nahezu gleichzeitigen Entwicklung von Wissen in unterschiedlichen Gattungs- und Wissenssystemen, bis hin zur wechselseitigen Ignoranz.16 Verbindungen wie diese sind abhängig vom jeweiligen Wissenskontext; sie werden deshalb in den Einzelstudien untersucht und im Schlußkapitel – soweit als möglich – mit Blick auf die denkgeschichtlichen Entwicklungen des Zeitalters zusammengefaßt.17 Um einen ersten Überblick zu ermöglichen, will ich nur wenige Bemerkungen voranstellen: Ästhetik, Rhetorik und Literaturgeschichte beziehen sich zumeist auch auf die Poetik; ihre Wissensanteile sind teilweise identisch. Musik(wissenschaft) und Kunst(wissenschaft) hingegen werden der Poetik Quelle, Vorbild und Vergleichsbereich. Anders verhält es sich mit den nicht – oder allenfalls am Rande – über Ästhetisches handelnden Wissensgebieten (Jurisprudenz, Naturforschung etc.). Diese können aber gleichwohl Grundlagenreflexionen
16 Für die Beschreibungsbegriffe siehe Pethes 2003. 17 Siehe Kapitel VII. Abschnitt 2.
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2. Poetik – Ästhetik – Lyrik ÄSTHETIK (Theorie des Schönen, Erhabenen, Häßlichen und der Künste) MUSIK(WISSENSCHAFT) Begriff des Schönen Erhabenen, Häßlichen
Autor/Autorenkollektiv Leser/Rezipient Text- bzw. Literaturbegriff LITERATURGESCHICHTE (ab ca. 1830)18
Textwissen, Kanon
Gattungslehre/Generik
Prosodik und Rhythmik Metrik (Reim, Vers, Strophe)
KUNST(WISSENSCHAFT) Mythologie Religion u. Theologie Metaphysik Erkenntnislehre Anthropologie Morallehre/Ethik/ Bildungspädagogik (Neuhumanismus) Geschichtsphilosophie Jurisprudenz Soziologie (und politisches sowie wirtschaftliches Wissen) Naturforschung Medizin, bes. Physiologie Magnetismus Psychologie
Tropen und Figuren Technik STILISTIK POETIK (Texttheorie) RHETORIK19 (Theorie der Rede) 18 Literaturgeschichte und Rhetorik, denen im Schema ein beträchtlicher Einfluß auf die Poetik zugewiesen ist, kommen in den historischen Studien nicht ausführlich zum Tragen (vgl. statt dessen Batts 1993; Schlott 1998): Der Grund dafür liegt im Schwerpunkt der historischen Untersuchungen, die sich auf das Verhältnis von Poetik und Ästhetik konzentrieren. Diesem Schwerpunkt ist auch die Art und Weise der Schematisierung geschuldet: Es wäre auch denkbar, das Schema von einem Wissensbestand der Poetik ausgehend ganz anders anzulegen. Als Beispiele gelten mir Prosodik und Rhythmik. Hier wären enge Beziehungen nur nicht zur Psychologie, sondern auch zur Musik zu beschreiben. 19 Vgl. vorhergehende Anm.
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I. Einleitung
über einen Wissensanteil der Poetik anregen. Auf eine Phase der Auseinandersetzung mit diesen Wissensgebieten folgt dabei zumeist die topische Aufnahme nicht-primär ästhetischen Wissens in das Wissensgebiet der Poetik. Nicht-primär ästhetisches Wissen geht durch die Selbstthematisierung von Poetik in die Wissensanteile derselben ein, wird poetologisch reformuliert, d. h. an die Anforderungen der Poetik angepaßt. Diese Bestimmung des Wissensgebiets Poetik erweist sich zum einen als innovativ, weil sie Poetik aus ihrem dynamischen Zusammenspiel mit anderen Wissensgebieten und im Blick auf die Gattungen erfaßt, die Poetik ausdrücken. Zum anderen erlaubt es diese Bestimmung, mit einer – vergleichsweise – klaren Vorstellung von Poetik nach ihrem Vorkommen sowie nach ihrer Entwicklung in gelehrter, wissenschaftlicher und didaktischer Texttheorie und im literarischem Text zu fragen. Bislang wurde diese Frage nur für ausgesuchte Beispiele gestellt: für die Zeit um 1900 etwa. Hier gehen Autorpoetik und Literatur nicht selten ineinander über. Im Blick auf die Zeit von 1825/30 bis 1890 handelte man demgegenüber entweder über die Gattung der Ästhetik, die sich als Theorie des Schönen, Erhabenen, Häßlichen und der Künste dem Text als einem Gegenstand unter anderen widmet,20 über Poetiken in der Literatur selbst,21 nur andeutungsweise aber über poetologische Literatur im Kontext von Ästhetik und Poetik.22 Zum Zweck der Darstellung solcher Wechselverhältnisse fehlt eine historisch angemessene und systematisch befriedigende Darstellung der gelehrten Poetik, die sich bis ca. 1870 als normative Wissenschaft verstand,23 der wissenschaftlichen Poetik, die sich ab 1870 mit analytisch-deskriptivem Anspruch aus der experimentellen Ästhetik entfaltete, und der didaktischen Poetik (bis ca. 1950), die im 19. Jahrhundert 20 Strube 2000; siehe auch Michael Titzmann (1978). Carsten Zelle (1995) erläuterte darüber hinaus die dichotomische Ordnung der Ästhetik: die Behandlung des Schönen einerseits, des Häßlichen andererseits. Im Blick auf die problematische Rezeption der Ästhetik in Frankreich Décultot 2002 a. 21 Für die Literatur selbst wird dabei nach Theorie in der Literatur gefragt; für den Komplex der poetologischen Lyrik bereits A. P. Frank 1977; siehe auch Esterhammer (2000) und Larsen (2000) im 27. Band des „Neohelicon“. 22 Ausnahmen bestätigen die Regel. Die neu gegründeten Zeitschriften „Scientia Poetica“ (seit 1997) und „KulturPoetik“ (seit 2001) gehören ebenso dazu wie Dieter Burdorfs Untersuchung über die „Poetik der Form“ (2001). 23 Ihre Denk- und Darstellungsmuster bleiben – trotz der Neuordnungen durch die Ästhetiken des Idealismus – im Prinzip erhalten. Sie werden erst durch Poetiken abgelöst, die mit (geistes- oder natur-)wissenschaftlichem Anspruch zu Werke gehen.
2. Poetik – Ästhetik – Lyrik
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der literarischen Bildung des Schülers und Studenten diente.24 Diese Untersuchung will dazu betragen, diesen Mangel zu beseitigen. Sie konzentriert sich deshalb auf die Poetiken vor allem lyrischer Texte und blickt von dort ausgehend auf nicht-literarische Poetiken, um das Wissensgebiet der Poetik für einzelne Ausschnitte aus der Literaturund Denkgeschichte des 19. Jahrhunderts darzustellen.25 Dabei erweist sich nicht nur der Poetik-, sondern auch der LyrikBegriff als Herausforderung. Was Lyrik sei, erscheint nämlich als deutungsoffen, nimmt man jene Forschungsposition ernst, die die Gattung Lyrik als ein bloßes ‚Diskursphänomen‘ des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts erachtet.26 Mitterweile hat sie sich als ‚opinio communis‘ entpuppt: Sie bezweifelt, daß sich Lyrik überhaupt systematisch begründen läßt und faßt sie als ein Bündel unterschiedlicher Merkmale auf.27 Ich will an diese Position anküpfen und Lyrik sowohl gattungshistorisch als auch pragmatisch als die Summe der als Lyrik ausgezeichneten Texte begreifen.28 Wie Literatur überhaupt befaßt sich Lyrik seit jeher u. a. mit ‚sich selbst‘, mit dem Poeten, mit seinem Werk und seinem Leser.29 Aber nicht jede Lyrik wäre deshalb 24 Partielle Darstellungen der Poetik des 19. Jahrhunderts finden sich in Markwardt 1959–1967; Markwardt 1977; Todorow 1981; Weimar 1989; Dolezel ˇ 1990. – Das letzte große literaturgeschichtliche Unternehmen, nämlich „Hansers Sozialgeschichte der Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ (hg. v. Rolf Grimminger) verzichtet – abgesehen von Renate Werners umfangreichen Beitrag über die Poetik des Münchner Dichterkreises – auf Beiträge über die Poetik des 19. Jahrhunderts. 25 Die Untersuchung läßt sich dafür von aktuellen Debatten über das Verhältnis von literarischer Theorie und Gegenwartsliteratur anregen. Hier scheint diese Frage nämlich auf der Hand zu liegen – möglicherweise, weil anspruchsvolle Gegenwartsliteratur nicht selten ‚theorielastig‘ ist. Vgl. die Ergebnisse des 34. Autorprojektes der „Alten Schmiede“ (Wien) in: Eder u. Steinbacher 2000; vgl. die Ergebnisse eines Seminars der Universität Pennsylvania Wayne 2000. 26 Schon Behrens 1940, S. 180–201; für die Phase von 1830 bis 1860 Ruprecht 1987; in einer historisch kundigeren und genaueren Fassung des Unternehmens von Behrens Trappen 2001, S. 198–269. 27 Das „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ bestimmt Lyrik nurmehr ex negativo: als „Ordnungsbegriff der Gattungstheorie für Verstexte, die nicht episch oder dramatisch sind.“ Fricke u. Stocker 2000, S. 498. Müller-Zettelmann (2000) sowie Hühn u. Schönert (2003) bemühen sich um Kriterienkataloge für lyrische Texte, die aber bloß pragmatisch als solche ausgewiesen werden können. 28 Vgl. vorhergehende Anm. 29 Als ein Beleg dienen mir, weil ein vergleichbares Arbeitsmittel für deutsche Lyrik fehlt, Stichwort-Suchen mit der digitalen Datenbank „The English Poetry Complete“ (Full Text Database. 1995 Chadwyck Healey Ltd. Software Version 4.0; für ein Anwendungsbeispiel siehe auch Schmid 1999). Sie erfaßt lyrische Texte von insge-
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I. Einleitung
schon poetologisch. Sie nimmt unter Umständen bloß poetologische Aspekte auf.
3. Poetologische Reflexion als Merkmal poetologischer Lyrik Poetologische Lyrik, wie sie in dieser Untersuchung verstanden werden soll, zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß sie sich ausdrücklich einem poetologischen Thema widmet,30 es möglicherweise schon im Titel ankündigt, und zwar unmittelbar oder metaphorisch: Weben beispielsweise kann als ein Sprachbild für Dichten stehen.31 Mit Hilfe lyrischer Bilder und Topoi formuliert poetologische Lyrik, was im gelehrten, wissenschaftlichen und didaktischen Text ausführlicher Satzgebilde und Argumentationsketten bedarf. Sie bündelt Aussagen, neigt in ihren poetologischen Reflexionen zu normativen Vorstellunsamt 1350 Dichtern im Zeitraum von 600 bis 1905 n. Chr. Für die Suche wähle ich den Zeitraum von 1603 bis 1900 sowie die Stichworte „poet“, „poetry“ und „poesy“. Es ergibt sich folgende Verteilung (Stichwort pro Gedicht): 1603–1660 1660–1700 1700–1750 1750–1800 1800–1835 1835–1870 1870–1900
„poet“ 4,93 % 9,29 % 16,64 % 18,40 % 12,65 % 11,46 % 7,33 %
„poetry“ 1,47 % 4,14 % 4,13 % 3,07 % 2,50 % 2,22 % 0,82 %
„poesy“ 0,01 % 0,03 % 0,03 % 1,30 % 2,33 % 1,63 % 0,05 %
Das Ergebnis bestätigt die Ausgangsüberlegung: daß Literatur immer ein Thema für Literatur – in diesem Fall für Lyrik – war. Aber es lassen sich auch historische Konjunkturen für einzelne Themen nachweisen: Die Thematisierung poetologischer Begriffe erreicht zwischen 1660 und 1870 ihren Höhepunkt – in der Zeit also, in der sich die alphabetisierte Bevölkerungsschicht nach und nach vergrößert, in der die Kommunikationsstandards der ‚respublica litteraria‘ auf dem Prüfstand stehen, und in der sich (zwischen 1750 und 1800) der Beruf des Belletristen entwickelt. Vorstellungen vom Poeten beispielsweise finden – hier entspricht die quantitative Untersuchung ganz den ‚qualitativen‘ Darstellungen der Literaturgeschichte – in den Jahren von 1750 bis 1800 besondere Berücksichtigung. 30 Das Attribut ‚ausdrücklich‘ bleibt interpretationsabhängig; er kann nicht mehr als Grade von expliziten und impliziten Verweisen bezeichnen; vgl. auch Hildebrand 2003 a, S. 4. 31 Über poetologische Metaphern und ihre Theoretisierung am Beispiel des Textilen Greber 2002, S. 1–43.
3. Poetologische Reflexion als Merkmal poetologischer Lyrik
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gen von ihrem Gegenstand, kann sich aber auch auf Deskriptives beschränken.32 Unter ‚poetologische Reflexion‘ fällt dabei zweierlei:33 (1) (kritisches) Nachdenken über poetologische Fragen und Lehren im allgemeinen, (2) Selbstbespiegelung als ein poetologisches Phänomen, Besinnen auf die ‚eigenen‘ poetologischen Grundlagen, um vor dem Hintergrund dessen über sich selbst als poetologisches Phänomen nachzudenken.34 Die erste Reflexionsvariante kann in Lyrik, in gelehrter, wissenschaftlicher und didaktischer Poetik sowie in der Ästhetik auftauchen; nur in Ausnahmefällen – in Schriften vom Typus der Ars poetica des Horaz beispielsweise – betrachtet sich gelehrte Poetik selbst als ein poetologisches Phänomen (zweite Variante von Reflexion).35 Doch erweist sich gerade die zweite Variante von Reflexion als komplexer; sie schließt die erste ein und ergänzt eine weitere Ebene, nämlich den (kritischen) Selbstbezug.36 32 Vgl. Hildebrand 2003 a, S. 6. 33 Der Begriff der Reflexion hat Konjunktur; durch die Theoriebildung von Strukturalismus, Poststrukturalismus und Systemtheorie wurde er vielfach unterschiedlich besetzt. Darüber hinaus gilt Reflexion als Kennzeichen der Moderne und damit auch der modernen Literatur. – Eine bestechend klare Diskussion des Begriffs (und des parallelen Begriffs der Selbstreferenz sowie der Frage, ob Dichtung per se selbstreflexiv sei) legte Michael Scheffel (1997, bes. S. 55) vor. So einsichtig Scheffels Erklärung auch ist – ich kann den Begriff der Reflexion hier nicht in seinem Sinne einsetzen, sondern den Begriff nur typologisch und für die historische Interpretation gebrauchen. Zu diesem Zweck ist es notwendig, ihn für seine jeweilige begriffsgeschichtliche Verwendung offenzuhalten. Scheffels narratologische Klassifikation wäre dafür zu eng (siehe nachstehende Anm.). 34 Scheffel bestimmt das „Sich-Selbst-Bespiegeln“ im Blick auf eine „Wiederholungsbeziehung“. Danach liegt eine „Spiegelung in einem Erzähltext“ dann vor, wenn sich ein Teil der Erzählung infolge eines Ebenenwechsels auf einen vorhergehenden bezieht; ders. 1997, S. 71. – Der Aspekt der Wiederholungsbeziehung im Text muß hier wegfallen, weil dieser Gebrauch von Selbstbespiegelung für die begriffsgeschichtliche Verwendung nicht zutrifft. 35 A. P. Frank 1977; Weber 1979, S. 68. 36 Dieser Selbstbezug ist nicht mit dem gleichzusetzen, was zahlreiche Ansätze als Reflexivität oder Selbstreflexion des Ich beschreiben: Dorothy Zayatz Baker (dies.: Introduction, in: dies. 1997, S. 1–7, hier S. 1 f.) und Gerhard Kaiser (1996) geht es nämlich vor allem um solche Lyrik-Texte, in denen sich ein Ich als Mensch bedenkt. Entwürfe wie diese entfalten sich vor dem Hintergrund der These von der zunehmenden Individualisierung des Menschen im ausgehenden 18. Jahrhundert und der Zerstörung von Individualität im Gang des 19. (siehe Kaiser 1996, I, S. 325–352). In dieser Untersuchung steht demgegenüber das Ich nur insofern im Vordergrund, als es sich als Dichter beschreibt und sich Fragen der Poetik widmet.
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I. Einleitung
Im folgenden ist deshalb auch von reflexiver Lyrik und von MetaLyrik die Rede.37 Weil diese Erklärung aber noch zu allgemein bleibt – eine Einschränkung. Hier interessiert nicht jedwede, sondern vor allem die lyrische Meta-Literatur, also eine thematische Variante der Gattung Lyrik und eine (wesentlich) fiktionale Variante der Gattung Poetik, genauer: ein thematisch zuzuordnendes, nämlich meta-literarisches ‚Zwittergenre‘ von Lyrik und Poetik, das bestimmte Produktions- und Rezeptionserwartungen ausprägt38 – lyrische Poetik oder poetologische Lyrik. Bedingt durch seine Form und durch den Umstand, daß dieses ‚Zwittergenre‘ an Entwicklungen der allgemeinen Lyrik-Geschichte teilhat und Texttheorie aus der Sicht und im Rahmen der Kommunikationsbedingungen von Lyrik thematisiert, ist es allerdings in erster Linie dieser Gattung zuzuordnen.39 Deshalb vermeide ich die Rede von lyrischer Poetik und spreche von poetologischer Lyrik. Die intensionale Erklärung von poetologischer Lyrik folgt aus diesen Vorüberlegungen: Poetologische Lyrik bezieht sich auf sich zurück, indem sie Texttheoretisches anspricht und auf sich selbst anwen37 Vgl. Baker: Introduction (wie Anm. 36). 38 Wenn es sich bei Lyrik etwa seit Beginn des 19. Jahrhunderts um eine eigenständige Gattung handelt, dann kann poetologische Lyrik als eine ihr untergeordnete Gruppe von Texten gelten. Diese Gruppe von Texten ist thematisch – nicht jedoch formal – durch das Wissensgebiet der Poetik verbunden und läßt sich im Blick auf diese ‚differentia specifica‘ als thematisch bestimmtes Genre auszeichnen. Ich folge darin Weber, der von einem „distinct genre“ der poetologischen Lyrik spricht; ders. 1997, S. 9. Günther Ahrends bezweifelte diese Zuordnung – und vergleicht die angesprochenen Texte mit etablierten lyrischen Genres wie der politischen Lyrik oder der Liebeslyrik. Ahrends 1987, S. 77: „Obwohl das Gedicht schon seit Theokrit der Ort der Reflexion über die Dichtung ist, sind die poetologischen Gedichte nie als eigene Gattung innerhalb der Lyrik in Erscheinung getreten.“ Ahrends kategorisches „nie“ läßt sich aber widerlegen. Denn es findet sich – erstens – sogar eine kanonisierungsfreudige Anthologie, die poetologische Lyrik nicht nur als eigenständige Abteilung („Poesy and the Poets“), sondern auch an erster Stelle des Buchs anführt, sie also für besonders wichtig und – unter thematischen Aspekt – als eigenständige Textgruppe erachtet. Bei der Anthologie handelt es sich um Ferdinand Freiligrath 1853, siehe Abschnitt IV. 2. a) dieser Untersuchung. Blickt man – zweitens – auf den breiten Markt der Lyrik-Rezeption, dann läßt sich beispielsweise für das 19. und 20. Jahrhundert ein Texttypus des Genres poetologischer Lyrik beschreiben, der die Schreib- und Lese-Erwartungen von Lyrik-Produzenten wie -Rezipienten kontinuierlich steuerte: das Dichtergedicht. 39 Ich vernachlässige die Form-Geschichte des Genres aus kognitiven Gründen; im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wissensgebiet der Poetik interessieren in erster Linie die ‚materialen‘ Probleme, die das Genre verarbeitet. Sofern die formale Selbstthematisierung aber für diese materialen Probleme bedeutsam wird, nehmen die nachstehenden Interpretationen sie auf.
3. Poetologische Reflexion als Merkmal poetologischer Lyrik
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det.40 Aufgrund dieses Merkmals unterscheidet sich poetologische Lyrik – Ausnahmen bestätigen die Regel – von der gelehrten, wissenschaftlichen und didaktischen Poetik sowie von der Ästhetik. Für das Wissensgebiet der Poetik besteht die besondere Leistung poetologischer Lyrik in poetologischen Reflexion im zweiten Sinne: Sie beschreibt sich durch einen Bezug auf sich selbst, der ihr nur als literarisches Genre möglich ist, und der sie als literarisches Genre auszeichnet. Dieser Selbstbezug trennt sie auch von einem Genre, das gleichfalls zwischen Literatur und Poetik siedelt: von der Autorpoetik, die sich in der Regel mit meta-literarischem Anspruch darstellt. Poetologische Lyrik erweist sich zwar auch als eine Elementarform der Autorpoetik: als ein Typus der Autorpoetik, der auf eine bestimmte literarische Gattung (auf Lyrik) festgelegt ist, sich aber – wie nur wenige Autorpoetiken – reflexiv auf die eigene Form beziehen kann. Denn die meisten Autorpoetiken sind in den Formen von Essay und Programmschrift verfaßt; ihnen geht es vor allem um Propositionen, um Aussagen über Literatur. Für poetologische Lyrik hingegen läßt sich zumeist nur vermittelt über propositionale Gehalte sprechen. Sie erschließen sich über die Funktionen, die der Selbstbezug in poetologischer Lyrik erfüllt, die sich einerseits bloß historisch ermitteln, sich aber andererseits idealtypisch einzelnen Erscheinungsformen poetologischer Lyrik zuordnen lassen. Poetologische Lyrik ist nämlich – wie nahezu alle Ordnungsmuster von Gattung und Genre – ein durch das Prinzip der Familienähnlichkeit zusammengehaltener Bündelbegriff.41 Seine Extension erklärt sich durch die Erscheinungsformen von Lyrik, die ausdrücklich über Lyrik, Poesie oder Literatur handeln. Dazu zählen – erstens – die vielfach untersuchte Gruppe der Dichtergedichte sowie die Gruppe der poetologischen Widmungsge-
40 Weber formuliert dies ähnlich, schränkt seine Untersuchung aber auf im engeren Sinne literarische Kontexte ein; ders. 1971, S. 181: „[...] alle Gedichte, die sich entweder mit dem Dichter (seiner Aufgabe und Funktion), mit dem Dichten (dem schöpferischen Prozeß und seinen Wegen) und mit dem Werk der Dichtung (seiner Form und seinen sprachlichen Mitteln) befassen.“ – Elaborierte Modelle betrachten reflexive Formen in der Lyrik darüber hinaus auf der Ebene der Kommunikation im Text. Siehe Hühn 1995, I, S. 13 f.; ders. 1998; funktionsanalytisch Müller-Zettelmann 2000. Beide Sichtweisen will ich nicht ausblenden, aber gleichwohl dem thematischen Zugang folgen. 41 Über Gattungen und Genres als Bündelbegriffe und die Zweckmäßigkeit des Prinzips der Familienähnlichkeit für ihre Erklärung Strube 1993, S. 34.
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dichte.42 Beide Textgruppen wenden sich vor allem der Produktionsseite von Dichtung zu, beschreiben die Fragen, Nöte und Bedürfnisse des Dichters, nehmen poetologische Fragen – explizit und implizit – im Kontext der allgemeinen Lyrik- und Poetik-Geschichte auf. Während poetologische Widmungsgedichte aber der Ansprache einer bestimmten Person dienen, eines Gönners beispielsweise, und zu diesem Zweck Fragen der Poetik an ihrem Beispiel erörtern, setzen sich Dichtergedichte vor allem mit typischen Problemen des Dichters auseinander. Sie behandeln seine Rolle und lassen sich demzufolge als Rollengedichte bestimmen. Gedichte über Dichtung (auch über Vers- und Strophenformen) hingegen beschäftigen sich – zweitens – mit dem dichterischen Produkt, mit Dichtung, Poesie, Lyrik oder dem literarischen Programm, das ihrer Verfertigung zugrunde liegt.43 Zu diesem Zweck nutzen sie beispielsweise den antiken Topos des Musenanrufs. Gedichte wie diese gehören zur zweiten Text-Gruppe, die unter den Bündelbegriff poetologische Lyrik fällt. Eine dritte Gruppe poetologischer Lyrik befaßt sich mit dem Adressaten oder Rezipienten von Literatur. ‚An den Leser‘ – so lautet der Titel solcher Texte gewöhnlich. Sie finden sich zumeist in Vor- oder Nachworten und anderen Paratexten, formulieren Hypothesen über Leser-Erwartungen, um ein Publikum für sich zu gewinnen. Was an dieser Stelle einer ersten Bestimmung und Unterscheidung von Typen poetologischer Lyrik dient, entwickelt das Ergebnis-Kapitel aus den Textbeispielen selbst – mit Blick auf das Wechselverhältnis von poetologischer Reflexion in poetologischem Gedicht, in gelehrter, wissenschaftlicher und didaktischer Poetik und Ästhetik. Poetologische Reflexionen, so die These, die diese Beispiele verbindet, kommen besonders angesichts von wissensbezogenen Umbrüchen zum Tragen, und die Arten und Weisen der Thematisierung von Wissen über Literatur, Poesie oder Lyrik in poetologischer Lyrik wandeln sich dem Wissensmuster folgend, das diese Umbrüche hervorruft.
42 Bereits Muschg (1957, 1. Aufl. 1948) und Rehm (1972, 1. Aufl. 1950) fragten nach dem Bild des Dichters, wie es die Literatur vermittelte. Schlaffer 1966 legte für das 19. Jahrhundert eine erste und umfassende Untersuchung von Dichtergedichten vor; später folgten Hinck 1994 u. Selbmann 1994; auch die Beiträge in G. Grimm (1992) berühren das Dichtergedicht, wenn auch nur mittelbar. 43 Vgl. dazu im Gang der Untersuchung; ausführliche Darstellungen der Dichtung über Dichtung fehlen ganz.
3. Poetologische Reflexion als Merkmal poetologischer Lyrik
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Im Blick auf bildende Kunst und Anthropologie setzen romantische Poetiken Muster der Abgrenzung gegen das Normwissen der Aufklärungspoetik in Gang. Sie besinnen sich auf sich selbst: auf das „Wissen des Wissens“, auf die „Poesie der Poesie“ (Friedrich Schlegel), auf ihre Fähigkeit zur Reflexion (Kapitel II.).44 Solche Strategien der Abgrenzung und Selbstbestimmung haben Tradition. Sie finden ihren Ahnherrn in Klopstock und weisen auf die Genie-Poetiken des Sturm und Drang zurück.45 Aber während diese ‚Vorläufer‘ noch mit der Entdeckung des poetischen Ich befaßt waren, thematisiert die romantische Bewegung des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts diese Entdeckung bereits selbst: Sie reflektiert die Reflexion und schlägt damit – aus dem wissens-, denk- und poetik-geschichtlichen Blickwinkel dieser Studie – ein neues Kapitel poetologischen Denkens auf. Poetologische Lyrik – und besonders das Dichtergedicht – wird nicht umsonst vor allem im Ausgang aus der Romantik als ein eigenständiges Genre wahrgenommen.46 Zwar wurden der Dichter und seine Rolle (als ‚poeta doctus‘ der Frühneuzeit sowie als professioneller Verfasser ‚schöner Literatur‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert),47 Poesie selbst ebenso wie die Situation des Rezipienten von ‚schöner Literatur‘ auch zuvor eindringlich thematisiert.48 Aber ein entscheidender Unterschied liegt in der nicht-literarischen Zweckbindung dichterischer Selbstreflexion, die die Literatur der Frühneuzeit im Gegensatz zu derjenigen des ausgehenden 18. Jahrhunderts charakterisiert: Selbstreflexive Strukturen dienten im versgebundenen Schriftttum der Frühneuzeit vor allem der didaktischen Darstellung und der Selbstbesinnung – beispielsweise, um Krankheitserfahrung zu verarbeiten oder um den historischen Ort der eigenen dichterischen Tätigkeit zu bestimmen.49 Im ausgehenden 18. Jahrhundert entfallen diese Zweckbindungen weitgehend – allerdings nur vorläufig. 44 Die Periodisierung für den Reflexionsgedanken folgt der Argumentation von Richard Brinkmann (1958), der die Epochengrenze für die Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zwischen Schiller und Schlegel zieht (ebd., S. 369 u. passim); vgl. auch Menninghaus 1987. Ich komme in Kapitel II. darauf zurück. 45 Darüber Kaiser 1996, I, S. 20 u. passim; Sorg 1999, S. 47–75; Kemper 1987 ff., IX–XI. 46 Siehe Anm. 38. 47 Mit der Autonomisierung des Sozialsystems Literatur wandelt sich auch seine Selbstbeschreibung; vgl. S. J. Schmidt 1989. 48 Auch das Mittelalter kennt Reflexionstexte; vgl. Obermaier 1999, die die Poetik des Minnesangs mit derjenigehn der Sangspruchdichtung kontrastiert. 49 Für die Bewältigung der Pest-Erfahrung im Medium der Humanistenlyrik Kühlmann 1992; im Blick auf die ‚selbstbewußte‘ Rezeption des literarischen Vorbilds der
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In der Folge vor allem der romantischen Begeisterung für Reflexionsdenken und Reflexionsdichtung entspinnt sich nämlich eine Kontroverse über das Reflexionsdenken des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Literarische Strömungen der 1820er/25er bis 1840/50er Jahre (u. a. das ideenpolitische Junge Deutschland, ästhetisch-philosophische Orientierungen im Ausgang aus Klassik und Romantik und pädagogisch-didaktische Orientierungen in der Nachfolge der Aufklärung)50 ebenso wie der (Proto-)Realismus (ca. 1840er/50er Jahre bis in die 1880er Jahre)51 nehmen Reflexionsdenken und Reflexionsdichtung als Probleme wahr. Hegels Diktum von der „Reflexionsbildung“ des Zeitalters befaßt die Zeitgenossen – und wirkt ein ganzes Jahrhundert hindurch nicht nur auf Poetik und Ästhetik, sondern auch auf die poetologische Lyrik selbst. Dabei gilt Lyrik – geschichtsphilosophisch begründet – als Hort des Anti-Reflexiven, als Fluchtpunkt von Subjektivität.52 Allen Abweichungen in Rhetoriken, Poetiken, Ästhetiken und anderen theoretischen Schriften des 19. Jahrhunderts zum Trotz: Die Festlegung von Lyrik auf Subjektivität wird zum Topos der Poetiken. In dieser Hinsicht erweisen sich die poetologischen Theorien von Ästhetik und Poetik als erstaunlich gleichförmig, allerdings nicht als unbeweglich. Denn die Festlegung von Lyrik auf Subjektivität wird im LauAntike durch Konrad Celtis Jaumann 1999; vgl. über Selbstbeschreibungsmuster im versgebundenen Schrifttum der Frühneuzeit auch Pott 2004a. 50 Schönert (2002, S. 345) verdeutlicht diese unterschiedlichen Strömungen, die sich wiederum vielfach binnendifferenzieren ließen, in einem Schaubild. – Epochenbegriffe wie ‚Goethezeit‘, ‚Biedermeier‘ und ‚Gründerzeit‘ vermeide ich, weil sie sich als unklar erwiesen haben; zur Kritik siehe Titzmann 2002 a. Ich greife statt dessen – zum einen – den Vorschlag von Michael Titzmann auf, Fragen der Periodisierung für die Literaturgeschichte mit Hilfe von Daten zu lösen, die zwar nur „sehr approximative Grenzziehung[en]“ darstellen, aber von den vielfältigen Assoziationen unbelastet sind, die die angesprochenen Epochenbegriffe wecken (ebd., S. 3). Zum anderen benenne ich die jeweiligen literarischen Strömungen (u. a.: Klassik, Romantik, Junges Deutschland, Proto-Realismus und Realismus, Naturalismus), die sich regional oder gruppenspezifisch entfalten, und gebrauche ‚Lyrik um 1900‘ (oder: Fin de siècle) als Sammelbegriff für wiederum unterschiedlichen Strömungen. 51 Für den Begriff des Proto-Realismus Schönert 2002. 52 Gerhard Kaisers Lyrik-Geschichte stellt ein spätes, aber paradigmatisches Beispiel für dieses Lyrik-Verständnis dar; ders. 1996. Mit Hilfe der Subjektivierungsthese gelingt es ihm einerseits, die Geschichte der Lyrik-Entwicklung von Goethe bis in die Gegenwart am Beispiel von Veränderungen der (Selbst-)Beschreibungen des ‚lyrischen Ich‘ festzuhalten. Andererseits mißlingt es ihm, jene Schwierigkeiten auszumachen, die mit der These verbunden sind, daß Lyrik authentischer Ausdruck des Ich sei; siehe dazu die Diskussion über den Begriff der Lyrik (Anm. 27).
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fe des 19. Jahrhunderts wieder und wieder variiert, und zwar mit Hilfe des jeweiligen Vorverständnisses von Ästhetik. Um diese Bewegungen und Variationen aus der kontroversen Aufnahme romantischer „Poesie der Poesie“ nachzuzeichnen, legen die folgenden Darstellungen ihren Schwerpunkt auf die 1820er/25er bis 1840er/50er Jahre. Sie stellen die vielschichtigen und voraussetzungsreichen Epochenzuweisungen zugunsten der genaueren wissens- und denkgeschichtlichen Beschreibung zurück. Ihr geht es vor allem darum, die vielfältigen konkurrierenden poetologischen Strömungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erschließen und auf die Wissensbezüge zurückzuführen, die sie jeweils bearbeiten. Nacheinander werden deshalb drei parallele Strömungen der Lyrikund Poetik-Geschichte dargestellt: erstens die Debatten schwäbischer Dichter und Denker, also ein regional-, gruppen- und personenspezifisches Gespräch über die Poetik (Kapitel III.). Zweitens geraten Reflexionen der Dichter und Theoretiker des Jungen Deutschland in den Blick – Reflexionen nicht nur über die Lyrik anderer Länder, sondern besonders über eine Weltpoesie, die die Völker vereinigen soll. Weltpoesie bekennt sich zu ihrer Subjektivität. Sie empfängt aber auch aus sozialen und politischen Veränderungen Anregungen, erklärt sich zur Bannerträgerin der Republik und sträubt sich gegen Theorie überhaupt (Kapitel IV.). Eine dritte parallele Strömung im Feld der nach-romantischen Verarbeitung von Poetik betrifft die Lyrik von Frauen – für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts noch immer ein relativ unentdecktes Gebiet. Weil sich Poesie-Reflexionen der Dichterinnen nicht ohne weiteres in die gängigen Muster der Lyrik- und Poetik-Geschichte einreihen lassen, bedarf es hier eines Exkurses. Veränderungen im jeweiligen Poetik-Verständnis verdanken sich, so zeigt sich im Blick auf diese Parallelbewegungen, zum einen Entwicklungen in nicht-poetologischen Wissensgebieten, zum anderen der Lyrik selbst, besonders des Dichtergedichts. Ungezählte gelehrte, wissenschaftliche oder didaktische Poetiken leiten ihren Lyrik-Begriff nämlich beispielsweise aus Johann Wolfgang von Goethes Der Sänger her: „Ich singe wie der Vogel singt, / der in den Zweigen wohnet, / das Lied, das aus der Kehle dringt, / ist Lohn, der reichlich lohnet.“53 Goethes poetologisches Gedicht belegt und stiftet die ontologische Auffassung, 53 Zit. n. Carriere 1873, II, S. 569 (siehe auch Werner 1996, S. 325); übernommen von Borinski 1895, § 62: Der Dichter selbst als Held des lyrischen Gedichts, S. 99; ohne Verweis auf Carriere: Kleinpaul 1873, S. 13; Beyer 1882, I, S. 10–12 u. bes. S. 142.
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daß der Dichter in seiner ‚ganzen Subjektivität‘ selbst „Held des lyrischen Gedichts“ sei.54 Poetologische Lyrik gibt Poetik und Ästhetik die Stichworte über ‚sich selbst‘ vor, wenn sie es selbst auch anders meint, als die Sekundärliteratur es ihr in den Mund legt. Dringen die Poetiken poetologischer Lyrik in gelehrte und wissenschaftliche Texttheorie ein, dann entfalten sie dort ein problematisches und langfristiges Wirken.55 Erstaunlicherweise tun sie dies zu einem Zeitpunkt, als Lyrik ‚im höchsten Sinne‘ verloren gegeben wird. Wenn poetologische Lyrik in den 1840er Jahren beschreibt, was dem subjektiven Poeten zusteht, Lösungen für die eigene Existenz sowie für das Problem der Reflexion in sich selbst, in heimischen Gefilden, aber auch im Fremden, in der Lyrik und in den Kulturen der ‚Welt‘ sucht, dann kehren bestimmte Muster immer wieder. Noch in den 1840er Jahren erscheint Lyrik deshalb als von jenem „Strudel“ der schnell aufeinander folgenden literarischen Bewegungen unberührt,56 in dem Lawrence Marsden Price das 19. Jahrhundert überhaupt versinken sah. Aber bereits in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre verändert sich das Bild. Was die Vorzeit feierte, gerät in Verruf. Poetologische Lyrik nimmt diese Veränderungen, die Mechanisierung und Technisierung des ‚Abendlands‘, frühzeitig wahr; Poetik und Ästhetik bemerken sie erst viel später. Zugleich verdächtigt poetologische Lyrik Grundannahmen etablierter Poetik, nicht mehr zeitgemäß zu sein. Neue Muster der Reflexion bilden sich aus. Wenn sich für die Zeit nach 1850 auch von einer „Ästhetisierung der Welt“ durch Lyrik sprechen läßt, die sich im „Ausschluß von Reflexion“ äußere,57 dann wirkt diese Phase der Lyrik-Entwicklung nur wie ein Intermezzo. Neue ‚Revolutionen‘, neue ‚Modernen‘, neue Reflexionen (der ‚über54 Borinski 1895, S. 99, vgl. auch Carriere 1873, II, S. 569. 55 Nur wenige der zeitgenössischen wissenschaftlichen oder didaktischen Poetiken erweisen sich dafür als sensibel. Zu den Ausnahmen zählt Eugen Wolff (1899, S. 18 f.), der – erstens – feststellt, daß neuere Poetiken bei lyrischen „Selbstgeständnisse[n]“ der Dichter Rat für die Lösung poetologischer Probleme suchten. Zweitens warnt er davor, diese „Selbstgeständnisse“ für bare poetologische Münze zu nehmen: Sie seien nicht „objektiv beweiskräftig“, „immer bis zu einem gewissen Grade reflexionslos“, hätten „gelegentlichen Charakter“ und „erstrecken sich bald auf diese, bald auf jene zufällige Einzelheit.“ Für diese Kritik legt Wolff allerdings den üblichen und subjektivistisch gefärbten Begriff von Lyrik auf solche „Selbstgeständnisse“ an. Er schlägt das Phänomen poetologischer Lyrik deshalb poetologisch unter Wert, setzt sich auch mit keinem der fraglichen Gedichte (Justinus Kerner „Poesie“, Anastasius Grün „Der letzte Mensch“) mehr als bloß polemisch auseinander. 56 Price 1962, S. 307. 57 Fohrmann 1996, S. 421 [Hervorhebungen im Original].
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kommenen‘ Reflexionen) folgen rasch aufeinander: Nicht erst Friedrich Nietzsche bricht (ab 1890) mit dieser „Verflachung“,58 sondern bereits der frühe Naturalismus wertet um, was der neuhumanistischen Dichterethik heilig war: Der Dichter erscheint nicht mehr als ‚ganzer Mensch‘, sondern als Volksheld, als Übermensch und als Kritiker einer ‚verbürgerlichten‘ Moral (Kapitel V.). Einer derart ‚innovationsgeplagten‘ poetologischen Lyrik steht eine relativ topische gelehrte und didaktische Poetik gegenüber. Die Ästhetik hingegen nimmt (seit den 1870er Jahren) in rascher Folge Anregungen von seiten der ‚empirischen Wissenschaften‘ auf. Diese Anregungen gehen zum einen in wissenschaftliche Poetik (mit Beginn der späten 70er Jahre des 19. Jahrhunderts), zum anderen – vermittelt über die populären Essays literarischer Zeitschriften – um 1900 in poetologische Lyrik und in Autorpoetiken ein. Sie prägen ‚neue‘ Bilder vom Dichter und von der Dichtung, wie sie für Lyrik um 1900 typisch werden: die Bilder vom ‚poeta magus‘ und vom ‚poeta vates‘, die aus der Romantik bekannt sind und das ganze 19. Jahrhundert hindurch wach gehalten werden. In der zivilisationskritischen, populär-, geheimwissenschaftlich und lebensreformerisch inspirierten (Re-)Mystifikation von Poesie aber drückt sich vor allem die geistige und poetologische Obdachlosigkeit der Zeit aus. Der ‚vates‘ hat sich gegen Anfeindungen einer ‚mechanisierten‘ Welt zur Wehr zu setzen. Lyrik erscheint hier als so hermetisch und selbstreferentiell, daß sie einerseits immer – wenn auch in einem sehr eingeschränkten Sinne – meta-lyrisch und poetologisch zu lesen ist.59 Ihre ‚poietischen‘ (frei gestaltenden, neu schöpfenden) Reflexionen lösen Reflexion aber andererseits auf, denn es ist nicht mehr deutlich, über was reflektiert wird. Im Ergebnis kennt die Geschichte der Poetiken im 19. Jahrhundert mehrere Phasen der Innovation, die sich aus der Entdeckung neuer Wissensgebiete speisen. Sie fallen – nicht zufällig – mit bekannten literarischen Entwicklungen zusammen: mit der Romantik, die bildende Kunst und Anthropologie für sich gewinnt, mit der schwäbischen Gruppenkultur, die sich – vom Systemdenken Hegels herkommend – einem neuhumanistischen Bildungsideal zuwendet, mit dem 58 Der Blick auf Nietzsche gehört zu den üblichen Zäsuren, die die Lyrik- und Denkgeschichte für ein ‚spießiges‘ 19. Jahrhundert annimmt, wenn sie die 1880er Jahre des 19. Jahrhunderts nur vage beschreibt. Vgl. kritisch über reduktive Darstellungen wie diese John A. McCarthy 2000, S. 197. 59 Friedrich 1985 (1. Aufl. Hamburg 1958), S. 15; kritisch zu Friedrich Rey 1978.
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Jungen Deutschland, das sich in den 1830er Jahren politisch interessiert und auf eine ‚Weltliteratur‘ zielt, mit dem (Proto-)Realismus, der sich bereits mit den neuen technischen Entdeckungen auseinandersetzt, mit dem Naturalismus, der – weitaus radikaler und mit der Absicht der Umwertung akzeptierter Werte – daran anknüpft und schließlich mit der Lyrik um und nach 1900, die poetologische Reflexionen als poetologische Prophetie betreibt. Im Fall Rilkes mündet sie in eine kosmogonischen Poetik, die Reflexion durch Inspiration ersetzt und sich als ein besonders ‚konsequentes‘ poetologisches Modell von Lyrik in den 1910er und 20er Jahren herausstellt (Kapitel VI.). Hier geht es darum, diese Prozesse von Wandel und Kontinuität aus der poetologischen Lyrik nachzuzeichnen, um ihre spezifischen Leistungen für das Wissensgebiet der Poetik in einem schwierigen und vielschichtigen 19. Jahrhundert zu entdecken, das mehr ist als eine reflexionsfeindliche Phase zwischen Romantik und Jahrhundertwende.60 Ein solches Unternehmen erfordert einen Mut zur Lücke, der sich nur im Blick auf das umfangreichere Forschungsprojekt rechtfertigen kann, dem dieser Beitrag entstammt:61 Nachstehende Untersuchungen bieten weder eine vollständige Geschichte poetologischer Lyrik noch eine umfassende Poetik- oder Ästhetik-Geschichte. Vielmehr zeigen sie an ausgewählten Beispielen, wo sich diese Wissens- und Darstellungsgebiete verbinden und wo sie einander widersprechen.62 Darüber hinaus wollen sie die regionale und internationale Viefalt der Poetiken erschließen, blicken zu diesem Zweck von der deutschen Lyrik und Poetik auf den internationalen Markt der Anthologien und Übersetzungen, bemühen sich aber für das Beispiel Großbritanniens auch um den umgekehrten Blick – von der britischen Lyrik und Poetik zurück auf den deutschen Markt der Dichtungen.63 Inner- und außerhalb der
60 Darüber die Beiträge der vierten Sektion in: Graevenitz 1999. 61 Das angesprochene Projekt über „Poetologische Reflexion. Historische Untersuchungen in systematischer Absicht: Poetik und poetologische Lyrik im Kontext ästhetischer Reflexion“ (siehe Vorwort) wird einiges von dem aufnehmen bzw. einlösen, was in dieser Untersuchung zu kurz kommt. 62 Gängige Lyrik-Geschichten (z. B. Kaiser 1996; Sorg 1999) beschreiben die LyrikEntwicklung demgegenüber aus der Literatur selbst heraus, blicken aber für die Einzelinterpretation auf ganz unterschiedliche Kontexte. 63 Weil hier – bei aller Internationalität – die deutsche Literatur im Mittelpunkt steht, behält die Darstellung die Periodisierungsvorschläge für die Epochen oder „Literatursysteme“ (siehe Titzmann 2002 a) der deutschen Literatur bei, beschreibt aber am Einzelfall, was die jeweiligen Literaturentwicklungen unterscheidet. Siehe über die
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deutschen Lyrik- und Poetik-Geschichte setzen sie auf den Textvergleich: auf den Vergleich von deutschen und nicht-deutschen Lyrikund Poetik-Texten ebenso wie auf den Vergleich der ‚hohen Literatur‘ mit dem literarischen ‚mainstream‘ der Lyrik-Anthologien und der literarischen Zeitschriften.64 Um dabei nicht zu viel Bekanntes zu wiederholen, sparen sie eine Reihe oft behandelter Texte und Autoren aus. Es fehlen, um nur einige Beispiele zu geben, Ausführungen über Joseph von Eichendorffs naturlyrische Dichtungsdichtungen sowie Darstellungen des Exempels Heinrich Heine, an dessen poetologischer Entwicklung vom ironischen und subjektiven Buch der Lieder (1827) zum politisch engagierten Dichter sich die Lyrik-Entwicklung bis in die 1850er Jahre ablesen und kontrovers diskutieren ließ.65 Auch setze ich mich nicht ausführlich mit Emanuel Geibel und mit der Poetik des Münchner Dichterkreises auseinander,66 verweile nicht bei Theodor Storms kritischen Bemerkungen über eben diesen Dichterkreis und über die Reflexionspoesie,67 nehme Conrad Ferdinand Meyers Lyrik nicht auf, weil sie bloß eine implizite Poetik aufweist,68 reserviere das Beispiel des DichterPoetikers Rudolf Gottschall für eine spätere Untersuchung im Rahmen des angesprochenen Forschungsprojekts,69 berücksichtige die Gebrü-
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Fragen einer komparativen Beschreibung literarischer Epochen die Beiträge in Esterhammer 2002. Die Untersuchung weicht mit beiden Festlegungen von den Lyrik-Geschichten ab, wie Kaiser (1996) und Sorg (1999) sie im Blick auf kanonische Beispiele ‚hoher‘ und beinahe ausnahmslos deutscher Gedichte schreiben (sieht man von Kaisers Bezügen auf den gleichfalls kanonischen Baudelaire ab). Sie bemüht sich aber, die Lyrik- und Poetik-Geschichte für das 19. fortzusetzen, wie Fohrmann (1996) sie im Blick auf das ‚weite Feld‘ auch der populären Lyrik schreibt und wie Renate Werner (1996) sie aus der Lektüre von Briefen, Essays, Vorworten und Lyrik-Anthologien exemplarisch für die Poetik des Münchner Dichterkreises entwirft. So beispielsweise Kaiser 1996, I, S.25 f. u. passim, ebd., II, S. 21 u. passim; für das Beispiel Heines zuletzt Winkler 2003. Die Poetik des Kreises ist ausführlich behandelt und dargestellt in: Werner 1996; speziell zur Übersetzungspoetik Giroday 1978; für die poetologische Lyrik Geibels Fohrmann 1996, S. 443–446. Ich komme darauf am Beginn des Abschnitts über Gottfried Keller zu sprechen; siehe Kapitel V. 1. dieser Untersuchung. Siehe die Beiträge in Zeller 2000. Das Teilprojekt „Historische Texttheorie. Poetik als Typus wissenschaftlicher Reflexion über Poesie. 1830–1950“ soll sich im Rahmen des angesprochenen Dachprojekts (wie Anm. 61) u. a. mit Autoren befassen, die in Personalunion Schriftsteller und Theoretiker waren. Ziel ist es, die spezifische Leistung der jeweiligen Gattung für das Wissensgebiet der Poetik am Beispiel solcher Personen zu ermitteln.
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der Hart als Initiatoren des deutschen Naturalismus nur am Rande und widme mich statt dessen einer naturalistischen Anthologie, die Programm und Praktik naturalistischer Lyrik ‚in actu‘ vorführt.70 Vor diesem Hintergrund konzentriere ich mich auf den frühen Arno Holz (und nicht auf den späten des vielbeachteten Phantasus, 1898),71 stelle Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief sowie Stefan Georges Gedichte über den Dichter zurück und erwähne auch den Expressionismus nur knapp.72 Wenn diese Untersuchung gleichwohl mit einem kanonischen Text – mit Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie – beginnt, dann erklärt sich dieser Umstand aus der These, die der Untersuchung die denk- und wissensgeschichtliche Linie gibt: aus dem Bezug auf das Reflexionsdenken der Romantik. Ich will es im Sinne eines Denkmusters, das eine „longue durée“ von begeisterter Zustimmung (Romantik um 1800), Ablehnung (Jean Paul, neuhumanistische Orientierung, Junges Deutschland, Proto-Realismus und Realismus), Trivialisierung (Poetiken nach 1860) und Wiederbelebung (Lyrik um 1900 und in den 1910er/20er Jahren) aufweist, durch die Geschichte der Poetiken in poetologischer Lyrik, wissenschaftlicher und didaktischer Poetik, Autorpoetik und Ästhetik verfolgen.
70 Über die Gebrüder Hart und ihre Bedeutung für den Naturalismus T. Meyer 2000; siehe auch die Bezüge auf die „Kritischen Waffengänge“ der Brüder in Kapitel V. 2. dieser Untersuchung. 71 Die Poetik des späten Holz, die die Ermittlung des ‚Kunstgesetzes‘ („Kunst = Natur – x“) aus der Verallgemeinerung und Umdeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse – all das ist bekannt und wurde vielfach diskutiert; zusammenfassend Wende 1994; Winko 1994, S. 181–183. Gleichwohl fehlen ebenso Darstellungen über die ‚Schaffenskrise‘, die Holz in den 1880er Jahren durchlebte, wie Interpretationen von satirischen Texten, etwa der der „Blechschmiede“. Ich will dies in einem Teilprojekt über „Poetik der satirischen Lyrik“ nachholen, das für den Fortgang des angesprochenen Dachprojekts (wie Anm. 61) konzipiert ist. Es soll sich mit dem poetologischen Ertrag satirischer Lyrik befassen. 72 Für Hofmannsthals Poetik Hildebrand 2003 b; im Blick auf ikonographische Einflüsse Wiethölter 1990; wissenschaftshistorisch König 2001; für Georges Dichtergedichte Beßlich 2003.
II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen Es ist nicht nötig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernünftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern möchte. Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewächsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang, und alles voll ward von Wesen, die sich fröhlich vermehrten; so blüht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwärmende Strahl der göttlichen Sonne sie trifft und befruchtet. Nur Gestalt und Farbe können es nachbildend ausdrücken, wie der Mensch gebildet ist; und so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.1
Poesie könne, so Friedrich Schlegel, auf zweierlei Weise erfaßt werden, nämlich theoretisch und poetisch. In seinem Gespräch über die Poesie (1800) scheint es, als konkurrierten beide Formen. Jedenfalls schlägt sich Schlegel mit einer gewaltigen rhetorischen Energie auf die Seite der poetischen Rede über Poesie: „Poesie der Poesie“ gilt ihm als beste aller möglichen Formen der Verständigung über Poesie.2 Mehr noch: „Die Ansicht eines jeden von ihr ist wahr und gut, in so fern sie selbst Poesie ist.“3 „Poesie der Poesie“ – und nur sie – rechtfertige sich aus sich selbst heraus; nur sie dürfe und solle sich selbst ‚bespiegeln‘, reflektieren, kritisieren.4 Denn über Poesie lasse sich nur poetisch authentisch und 1 2 3 4
F. Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: ders. 1967, S. 284–362, hier S. 285. F. Schlegel: Fragmente [Athenäum], in: ders. 1967, S. 165–255, hier [238] S. 204. F. Schlegel: Gespräch (wie Anm. II., 1), S. 285. F. Schlegel: Kritische Fragmente [Lyceum], in: ders. 1967, S. 147–163, hier [117] S. 162: „Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden.“ Später, im 238. AthenäumsFragment, das in der Forschung als grundlegend für diese Auffassung von einer transzendentalen und reflexiven Poesie gilt, notiert Schlegel allerdings zurückhaltender, nämlich im Konjunktiv: „[...] so sollte wohl auch jene Poesie die in modernen Dichtern nicht selten transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung [...] vereinigen, und in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit
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wahr schreiben, so lautet Schlegels ‚revolutionäre‘ Annahme. Infolgedessen beurteilt er theoretische Auseinandersetzungen mit Poesie nicht nur als überflüssig, sondern auch als unangemessen, als anti-poetisch. Der Teufel aber steckt im Detail, nämlich im „auch eigentlich“. Es verweist bereits darauf, daß nicht-poetische Rede über Poesie möglich bleibt – zumal sich Schlegel ihrer selbst bedient. Denn er äußert sich nicht in Poesie über diese, sondern in einem Gespräch,5 traditionell einer rhetorischen und erst vor dem Hintergrund der romantischen Texttheorie auch als literarisch zu verstehenden Gattung.6 Den überlieferten Poetiken kündigt er ausgesprochen gewitzt und mehr spielerisch als ernst den Kampf an.7 Er steigert jene Versuche, Poesie neu zu verstehen, wie sie Friedrich Schiller schon im Ausgang des 18. Jahrhunderts unter dem Vorzeichen der Autonomieästhetik unternahm.8 Galt Poesie den Schülern von Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff noch als gelehrte Tätigkeit, die festgelegten Normen, dem ‚mimesis‘ – oder besser: dem ‚imitatio‘-Gebot und dem ‚prodesse et delectare‘ zu folgen und der Moraldidaxe zu dienen hatte, so setzt Schlegel einen progressiven und transzendentalen Begriff von einer Poesie dagegen,9 die der Theorie oder der Wissenschaft nicht bedarf, sondern
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darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.“ F. Schlegel: Fragmente [Athenäum] (wie Anm. II., 2), [238] S. 204. Schlegels Bemühungen im „Gespräch über die Poesie“ und in seinen sympoetischen Fragmenten sowie in seinen Aphorismen gehen zu Lasten des alten, als ‚bloß rhetorisch‘ begriffenen Poesie-Verständnisses. Gleichwohl verzichtet Schlegel nicht auf die persuasive Rede der Rhetorik, um sein Poesie-Verständnis wirksam zu entfalten. Weil dieser Rückgriff aber „wenig konkret“ bleibt, verständigte sich die SchlegelForschung darauf, die frühromantischen Schriften als „poetische Wirkungsmetaphysik“ (Hinrich C. Seeba) zu kennzeichnen; Krause 1999, S. 17. Dazu – mit Blick auf die Plato-Rezeption und auf Wielands Dialoge – Kurz 2002; siehe auch Schnyder 1999; Matuschek 2002; Krause 2002; M. Mayer 2003. Siehe Barth 2001. Mit Schiller wäre bereits eine erste programmatische Zäsur zur Poetik der Frühneuzeit zu setzen, aber Schlegels Programmatik grenzt sich noch entschiedener, nämlich reflexionspoetisch von der metaphysischen und normativen Poetik des 18. Jahrhunderts ab; siehe Brinkmann 1958. Aus diesem Grund beginne ich hier mit Schlegels Forderung nach einer „Poesie der Poesie“. Gleichwohl ist Vorsicht geboten. Es gilt, solche Positionen zu berücksichtigen, die die „Inszenierung der Epochenschwelle“ durch die Romantiker herausarbeiten; Schmitz 1995. Ich komme im Gang der Darstellung darauf zurück und bemühe mich um eine differenzierte Sicht von romantischer Selbstinszenierung und tatsächlichem Neuentwurf. Vgl. die beiden zentralen Athenäums-Fragmente; F. Schlegel: Fragmente [Athenäum] (wie Anm. II., 2), [116] S. 182; ebd., [238] S. 204; zur Deutung des 116. Fragments Hans Eichner: Einleitung, in: F. Schlegel 1967, S. IX–CXX, hier S. LIX–LXIV.
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sich selbst reflektiert.10 Als Universalpoesie nimmt sie alles Weltgeschehen in sich auf; als Reflexionspoesie spiegelt sie dieses in ‚sich selbst‘, um ‚sich selbst‘ zu spiegeln: Sie schildert nicht einfach etwas außerhalb ihrer selbst, sondern informiert sich immer auch über ihren eigenen poetologischen Standpunkt, über ihre Form und ihren Inhalt. Oder – mit einem knappen Neologismus: Als ‚reflexive Universalpoesie‘ ist sie sich Thema und Kommunikationspartner zugleich; sie reflektiert Welt und empfielt sich dieser als eine zweckfreie, unabschließbare und fortschrittliche Kommunikationsform.11 Dieses doppelte Verständnis von Reflexion soll hier interessieren,12 und zwar im Blick auf seine Herkunft, seinen poetologischen Stellenwert und seine Darstellung. Schlegel gestaltet seine Vorstellungen von einer „Poesie der Poesie“ nämlich nicht nur im Roman, der unter diesem Aspekt als fruchtbarste Gattung gilt, sondern auch in jener poetologischen Lyrik, die er im Zusammenhang mit seinem Gespräch über die Poesie veröffentlicht. Von der Dichtkunst berichtet diese poetologische Lyrik aber erstaunlicherweise ganz topisch, daß sie in den höchsten Regionen des „Geist[es]“ siedele,13 von denen der Dichter nicht zurückkehren will oder kann. Er flieht vor der Welt, führt ein Leben im Verborgenen, „verhüllt in sich die heiligsten Gefühle“ und müßte der Welt dafür Tribut zollen: Das Gedichtete soll er bloß „zum Scheine scherzend“ der Welt zurückgeben;14 er gilt als „Seher“, der sich „göttlich“ berauscht und „Sinnbilder“ schaut.15 Dabei korrespondiert der Raumsemantik eine Semantik der Zeit (vor und nach der Initiation in den Dichterstand): Der alte Dichter weiht den jungen in die Kunst ein,16 „[d]ie alte Schönheit, eh sie ganz 10 Vgl. F. Schlegel: Gespräch (wie Anm. II., 1), S. 96–105. Siehe dazu auch zahlreiche Fragmente, etwa ders.: Kritische Fragmente [Lyceum] (wie Anm. II., 4), [61], S. 154: „Streng genommen ist der Begriff eines wissenschaftlichen Gedichts wohl so widersinnig, wie der einer dichterischen Wissenschaft.“ Ders.: Fragmente [Athenäum] (wie Anm. II., 2), [9] S. 166: „Zum Glück wartet die Poesie eben so wenig auf die Theorie, als die Tugend auf die Moral, sonst hätten wir fürs erste keine Hoffnung zu einem Gedicht.“ 11 Vgl. Menninghaus 1987. 12 Kremer 2001, S. 90–92. 13 F. Schlegel: An die Dichterin [1801], in: ders. 1962, S. 172, V. 1; ders.: An die Dichter [1828], in: ders. 1962, S. 297, V. 7: „Treu dienend nun erklimmt der Dichtkunst Höhen, [...].“ 14 F. Schlegel: An die Dichterin (wie Anm. II., 13), V. 4, 14. 15 F. Schlegel: Weise des Dichters [1800/1801], in: ders. 1962, S. 151, V. 8, 12. 16 F. Schlegel: Weihe des Alten. An einen jungen Dichter, in: ders. 1962, S. 307–310.
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verschwunden, / zu retten, fern von allen Eitelkeiten [...].“17 Er richte sich dabei nicht nach dem Werturteil des (theoretisch vorbelasteten) „Kenner[s]“,18 sondern höre ganz auf sich: auf den „Schmerz“, der ihn erst zum Dichten veranlasse.19 Trotz der Reflexionsgewinne in der poetologischen Lyrik des jüngeren Schlegel ist von der Ironie eines spielerischen und universalreflexiven Neuanfangs im Zeichen einer „Poesie der Poesie“ nichts zu spüren. Zwar geht es Friedrich Schlegels poetologischer Lyrik nicht mehr nur – wie derjenigen des älteren Bruders August Wilhelm – um den Gegensatz von guter und schlechter Poesie, sondern vielmehr auch um das (Selbst-)Gefühl des Dichters.20 Aber Friedrich Schlegels Sprecher prägen neue Topoi und verklammern sie durch eine strenge Raum- und Zeitsemantik. Am Beispiel seiner poetologischen Lyrik läßt sich deshalb zeigen, wie sehr poetologisches Denken von der Gattung abhängt, in der es dargeboten wird. In der Lyrik erfüllt es jene Erwartung nicht, wie Schlegel sie in seinem theoretisierend-poetisierenden Gespräch über die Poesie weckt. Will man ein umfassendes Bild poetologischen Den17 Ebd., V. 12–14. 18 F. Schlegel: Das Ideal, in: ders. 1962, S. 317, V. 13. 19 F. Schlegel: Abschied von der Poesie [1829], in: ders. 1962, S. 502 f., hier S. 503, V. 30 [Hervorhebung im Original]. 20 August Wilhelm Schlegel greift Topoi über die besondere Rolle der „Poesie“ und – vor allem – über die besondere Rolle des Poeten auf: Weil sich die zarte und ‚süßreimende‘ Poesie der rhetorischen Sophistik entziehe, könnten ihr manche Dichter nicht genügen. Es gelte, den Unterschied zwischen echten und falschen Dichtern zu befestigen (A.W. Schlegel: Dichterlinge und Dichter, in: ders. 1846/47, Zweiter Theil, II, S.12). Schlegel legt aber nicht fest, wen oder was er für ‚echt‘ oder für ‚falsch‘ hält, betont nur immer wieder, daß der wahre Dichter, der ‚poeta vates‘, ein „hohes Amt“ erfüllt, daß er nicht um die Lorbeerkrone des ‚poeta doctus‘ wirbt, sondern sich allein an seinem Werk erfreut, das sich selbst Zweck ist (A.W. Schlegel: Dichtersinn [1788], in: ebd., Erster Theil, I, Erstes Buch, S. 7). Von dieser ‚hohen‘ und huldigenden Dichtungslyrik hebt sich die satirische Dichtungslyrik desselben Schlegel ab: Er gibt Satirisches über den Dichter in epigrammatischer Form zum Besten („Der berittene Dichter“, „Der Satiriker“, „Der heutige Hofpoet“) und schreibt sogar eine Satire auf den Buchmarkt, nämlich einen versifizierten „Bettelbrief“ an seine Subskribenten (A.W. Schlegel: Ankündigung der sämmtlichen Werke, in: ders. 1846/47, Zweiter Theil, II, S. 208). – Auch sein Bruder Friedrich spöttelt über eine der ‚höchsten‘ Ausdrucksweisen der ‚vergangenen‘ Poesie; in seinen „Proben der neuesten Poesie“ (1808) persifliert er den griechischen Göttersang. Darüber hinaus wagt er sich an eine besondere Form der „Poesie der Poesie“: Er schreibt ‚der Dichtkunst‘ einen heiteren Prolog über Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ (F. Schlegel: Prolog zu Lessings Nathan. Die Dichtkunst [...], in: F. Schlegel 1962, S. 286–288).
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kens – gerade auch für die Romantik – erhalten, dann ist es erforderlich, ‚hinter‘ die (vergleichsweise) theoretischen Gattungen zurückzugehen: Poetologisches Denken der Romantik entwickelt sich nicht nur aus der Autonomieästhetik Immanuel Kants (bzw. ihrer Neugestaltung durch Schiller) und aus der Reflexionsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes,21 sondern auch aus der Literatur selbst. Jene Vielfalt der Selbst- und Fremdvorstellungen, der Gedanken und (Selbst-)Reflexionen, die die philosophische Ästhetik im Ausgang aus dem Systemdenken zu beschreiben begann,22 gehört zwar prinzipiell zu den Merkmalen von Literatur. Die poetologische Reflexionstheorie der Romantik aber verstärkt, was im literarischen Text schon angelegt ist. Poetologische Reflexion findet ab jetzt auf ‚höherer Stufe‘ statt, weil sich die Zeitgenossen ihrer ‚selbst‘ bewußt werden. Emphatisch entdecken sie ihre poetisch-poetologische Tätigkeit als Lösung für poetologische und anthropologische Fragen. Diese ‚Entdeckung‘ will ich prüfen, und zwar – erstens – im Blick auf die poetologische Lyrik im Vorfeld der „Poesie der Poesie“ und – zweitens – im Blick auf die Weiterführung romantischer Poetiken im Ausklang der Frühromantik. Es soll um poetologische Texte gehen, die sich um ein Verständnis von Poesie im Sinne der doppelten Reflexion bemühen. Ich möchte zeigen, wie sich doppelte Reflexion langsam, aus den überlieferten gelehrten Praktiken der Dichtungsübersetzung und aus dem Wechselspiel von eigenständigem Schaffen und Nachahmung entwickelt.23 Als Beispiele dafür gelten mir die frühen Texte des Novalis, die sich mit Orpheus, dem Urbild des Dichters befassen. Sie entwikkeln in der Lyrik eine eigene programmatisch-erneuernde Gefühlspoetik. Dabei meint Gefühlspoetik – in Analogie zur Mitleidspoetik der Aufklärung und in gewisser Weise sogar in ihrer Tradition – solche Anschauungen von Poesie, die im Gefühl die Motivation für das Dichten erblicken. Trotz dieser weitreichenden und prägenden poetologischen Vorstellungen wurden diese frühen Texte des Novalis von der Forschung beinahe übersehen.24
21 Dieser Komplex ist gut erforscht; vgl. M. Frank 1989; über den Bezug auf Fichte Radrizzani 1997; Waibel 2000. 22 Vgl. M. Frank 1989, S. 297 u. passim. 23 Darüber am Beispiel von Winckelmann und F. Schlegel Zelle 1995, S. 220 f.; am Beispiel von Winckelmanns Exzerpten Décultot 2002, bes. S. 48 f. 24 Siehe auch Knittel (1996, S. 53), die es aber bei wenigen Bemerkungen zu den fraglichen Texten beläßt. Siehe auch Margantin (1999, S. 5 f.), der das frühe Orpheus-Ge-
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Gerade die Interpretation dieser Texte hilft aber, den Übergang von der Aufklärungspoetik zu derjenigen der Romantik zu verstehen. Die Poetik der frühen Poesie des Novalis erweist sich bereits als hochgradig reflexiv und bedient sich zweier Handlungstypen, nämlich sowohl der ‚imitatio‘ der ‚Alten‘ als auch des eigenständigen Neu-Schaffens im Sinne der Genie-Poetik und im Sinne von Autonomie-Vorstellungen von Literatur.25 Hier leistet der literarische Text Beträchtliches für die (Selbst-)Erkenntnis:26 für die Wiedergewinnung der ‚heidnischen‘ Antike im Sinne der eigenen Wirklichkeitswahrnehmung und Selbstreflexion. Dementsprechend trägt auch die bekannte Zuordnung der Dichtertypen, der Gegensatz von ‚poeta magus‘ und ‚poeta doctus‘, nicht. Der ‚Orpheus‘ des Novalis der ausgehenden 1780er Jahre ist noch nicht mit jenem allmächtigen Magier identisch, der alle Geschöpfe anspricht, die Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft setzt und den ‚gefallenen Menschen‘ erlöst.27 Orpheus entpuppt sich zunächst vielmehr als ein ‚poeta doctus‘, der allerdings – mit Blick auf ein bestimmtes OrpheusBild – Verschiebungen im Gefüge der Poetik vornimmt (1. Teil). Als Höhepunkte einer Reflexionsdichtung, die sich ihres gelehrten Erbes bewußt ist, gelten Friedrich Hölderlins Dichtergedichte. Sie prägen ein Modell von Poesie aus, das auf die „universale Vermittlungsleistung“ des Dichters setzt28 – und den dichtenden Menschen damit bereits überfordert. Mit diesem anspruchsvollen Poesie-Modell steht Hölderlin in der Tradition der erhabenen Dichtung, folgt dem „dichterische[n] Habitus“29 Klopstocks und steigert diesen Habitus – im Gang durch die idealistische Ästhetik Schellings und des frühen Hegel, durch die ‚scientia intuitiva‘ Baruch de Spinozas und durch den Pan(en)theis-
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dicht des Novalis zwar erwähnt und kurz einführt, es aber als ein Fragment abtut, das noch unter dem Einfluß bukolischer Poesie steht. Für die Trennung der Epochen (Frühe Neuzeit vs. Sturm und Drang) im Blick auf die Ablösung von der ‚imitatio‘ und auf die nachdrückliche Aktivierung der ‚poiesis‘ Kemper 1987 ff., VI/II, S. 4 f. Zur kognitiven Leistung romantischer Poesie – aus der Sicht von Philosophie und Texttheorie – M. Frank 1989. Mit dem Begriff ‚kognitiv‘ beschreibt Frank eine emphatische Sicht des romantischen Poesie-Verständnisses, das in Poesie per se eine eigenständige und besondere Form des Gedanken- und Gefühlsausdrucks erblickt. Hier soll die kognitive Leistung von Poesie aber vor allem im Blick auf die tatsächlichen poetologischen Leistungen romantischer Literatur untersucht werden. Die Ergebnisse weichen schon deshalb von den Darstellungen Franks ab. Über die späteren Orpheus-Konzeptionen des Novalis Knittel 1996; Valk 2003. Schmidt 1980–81, S. 112. Ebd., S. 100 [Hervorhebung im Original].
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mus – idealisch.30 Hölderlins ambivalente Poetik des Idealischen zeigt nicht nur, wie das Dichter-Ich die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit von Welt und Selbst entdeckt, sondern auch, wie es sich zunehmend unbehaust fühlt, wie es sich von einer optimistischen, systembildenden und moralischen Tradition der Poetik abgrenzt.31 Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, daß Reflexionsdichtung auf dem Höhepunkt der Reflexion weniger reflexiv und selbst-distanziert wirkt als diejenige des Novalis oder gar diejenige Ludwig Achim von Arnims. Vielmehr korrespondieren die theoretischen Bemühungen Hölderlins seiner Lyrik: Sie enden unabgeschlossen. Der ‚ganze Mensch‘, dessen Ideal Hölderlin anthropologisch wie poetologisch vertritt, kann nicht hinter seine Selbst- und Fremdsicht zurück. Er ist zugleich Ausgangspunkt und Grenze von Hölderlins idealischer und universalreflexiver Poetik, wie sich in der Zusammenschau seiner theoretischen und lyrischen Texte zeigt (2. Teil).32 Arnim weiß um die Schwierigkeiten dieser Poetik, wenn er sie auch nicht unmittelbar auf Hölderlin bezieht. Seine frühe poetologische Lyrik setzt sich nämlich mit den Anforderungen idealischen Dichtens auseinander. Arnim geht es um das Spannungsverhältnis zwischen dem heroisch oder quasi-religiös verstandenen Dienst an einer universalreflexiven Poesie einerseits und um die Bedürfnisse des geselligen, begehrenden, spielerisch veranlagten Menschen andererseits. Universalreflexives und idealisches Dichten scheitert im Fall Arnims an genau dieser Spannung. Er erprobt die Chancen und Grenzen idealischen Dichtens im Rahmen einer polyperspektivischen und multi-medialen Poetik. Sie spielt mit Rollenerwartungen, die eine trivialisierte Form der idealischen Poetik an den Dichter richtet. Zu diesem Zweck verbindet Arnim Aspekte der historischen Wirklichkeit mit solchen der Mythologie, der Dichtung, der philosophischen Theorie und der Naturforschung, nimmt alle denkbaren Kunstformen in Text, Bild und Ton auf, 30 Der Zusammenhang zwischen der Spinoza-Rezeption und Hölderlins Dichterverständnis ist bestens untersucht; ebd. u. passim; vgl. für den weiteren philosophischen Zusammenhang im Ausgang aus dem Pantheismus-Streit Wollgast 1998. 31 Vgl. zu den vergleichbaren Entwicklungen in der Ästhetik M. Frank 1989, S. 297. 32 Siehe vor allem Gaier 1992. Für Hölderlins Texte erweist sich diese Sichtweise nicht als neu. Wenn bislang aber Detailanalysen der ausgesprochen komplexen theoretischen Fragmente oder der poetologischen Gedichte dominierten, dann soll hier demgegenüber versucht werden, Hölderlins theoretische und lyrische Texte zusammenzuführen, um den Stellenwert der einzelnen Ausdrucksform für seine idealische Poetik zu ermitteln.
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bezeugt die eigenen poetologischen Auffassungen im öffentlich-privaten Brief. Diese ungemein assoziationsreichen Darbietungen könnten dazu verleiten, Arnims poetische Praktiken als Umsetzungen eines Programms zu verstehen, das Thomas Sternberg als „spontanes Sprechen in Versen“33 und als Praktik eines „genialische[n] Künstlertum[s]“ beschrieb.34 So einfach ist es nicht. Die variantenreichen Selbsterklärungen Arnims bedürfen der genauen Deutung aus ihrem Textumfeld heraus: Im Blick auf das Text-Bild-Kunstwerk Ariel’s Offenbarungen läßt sich zeigen, wie komplex seine Teile komponiert und wie kunstvoll sie zusammengefügt sind. Durch seine Technik der polyperspektivischen Reflexion hält Arnim dabei die Spannung zwischen der Orientierung auf ein Ideal einerseits, auf Mensch und Wirklichkeit andererseits aufrecht. Dieser Umstand erlaubt es, Ariel’s Offenbarungen und das rhythmische Gedicht Ixion nicht nur der Romantik, sondern auch einem bekannten Literaturmodell der Spätaufklärung zuzuordnen, das sich zwischen schwärmerischer, realistisch-kynischer und ironischer Weltwahrnehmung entfaltet (3. Teil). Die Beispiele des frühen Novalis und des frühen Arnim belegen, daß die universalreflexive Poesie der Romantik der spätaufklärerischen Literatur zahlreiche Impulse verdankt, die aber in charakteristischer Weise gesteigert, nämlich reflexiv überboten werden. Darüber hinaus erschließen die Beispiele Hölderlins und des frühen Arnim, daß die universalreflexive Poesie im spielerisch-schlegelschen und im idealischen Gewand schon in der Frühromantik strittig war. Zu diesem Zeitpunkt geht es poetologischer Lyrik immer wieder um die Grenzen eines expansiven Verständnisses von Poesie, das einerseits als innovativ, geistig rege und offen, andererseits aber als zu anspruchsvoll erschien. Um diese Grenzen zu ermitteln, nutzt poetologische Lyrik nicht-poetologische Wissensgebiete wie Mythologie, Identitätsphilosophie, Medizin und Anthropologie. Im Falle des frühen Arnim explodieren diese Bezüge förmlich. Sie führen den Reiz, aber auch die Überforderung durch eine universalreflexive und idealische Poesie vor. Einer Forschung, die sich dem Verständnis von Reflexionspoesie bloß emphatisch widmete, blieb dieser Grenzgang fremd. Die folgenden Untersuchungen zeigen demgegenüber, daß das Bild von einem unendlichen romantischen Universum der Poesie der Korrektur bedarf. 33 Sternberg 1986; siehe auch das themengleiche Kapitel in: ders. 1983, S. 69–81. 34 Sternberg 1986, S. 86.
1. Novalis: orphischer Gesang und Gefühlspoetik
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1. Novalis: orphischer Gesang und Gefühlspoetik In den 1780er Jahren steht eine solche universalreflexive Poesie noch nicht zur Debatte. Der „Jüngling“ Novalis läßt sich vielmehr von Christoph Martin Wieland und Gottfried August Bürger an die Dichtkunst heranführen.35 Mit der Dichtkunst verbindet er – vor diesem Hintergrund – zweierlei: die Wertschätzung der ‚Alten‘, besonders des Vergil und des Horaz, und „die Gefühle“, die er mit seinen Gedichten auszudrücken sucht.36 Er wendet sich deshalb nicht den großen heroischen oder religiösen Stoffen, sondern der Orpheus-Legende zu: dem Mythos über den Dichter und Sänger, der sich in den Hades wagt, um die verstorbene Gattin zu retten. In seinem populären Mythologischen Lexicon (1766) weiß Benjamin Hederich über Orpheus zu berichten, was den jungen Novalis sogleich angezogen haben wird: Orpheus gilt Hederich als erster Dichter, als erster Musiker sowie als Erfinder des Gesangs, der mit seiner Leier Ungeheures bewirkt habe.37 Die Tiere, die Bäume, die Felsen, sogar die Winde seien ihm nachgefolgt.38 Hederich erwähnt dabei zwar, daß die Identität des Orpheus nicht klar sei, daß er einmal als ägyptischer „Hexenmeister“,39 ein ander Mal als griechischer Erfinder und Lehrer gelte,40 der die Bakchosdienste in seinem Land eingeführt habe und später zu den Argonauten ‚konvertiert‘ sei,41 aber er geht dennoch von einer einzigen ganz und gar kreativen, kenntnisreichen und begabten Person aus. Im Zentrum dieser Darstellung steht der Orpheus- und Euridice35 Novalis: An Gottfried August Bürger in Langendorf. Weißenfels, am 18. Mai 1789, in: ders. 1954, S. 35 f., hier S. 35. 36 Ebd. Novalis gibt dem Dichterlob in der Tradition Klopstocks nicht nur eine emotionale, sondern auch erotische und private Komponenten, nimmt die Heiligung der Dichtung also zurück. So wird die Dichtkunst bereits in dem frühen Text „An die Dichtkunst“ als „Gespielinn“ personifiziert. Novalis: An die Dichtkunst, in: ders. 1960/1977, 32., S. 485 f., hier S. 485, V. 1. Durch ihre Reize sporne sie den jungen Dichter an, belohne ihn mit „Lust“, nicht mit „Reichtum“. Ebd., V. 7. Diesen erwirbt sich der Dichter vermutlich durch eine andere Tätigkeit – durch einen Brotberuf, auf den die Akten und Protokolle der dritten Strophe des Gedichts verweisen. Danach wird das ‚Spiel‘ mit der Angebeteten in die Freizeit verlegt; es erscheint als zweckfreies Vergnügen. 37 Benjamin Hederich: „Orpheus“, in: ders. 1967, Sp. 1809–1820, hier Sp. 1811. 38 Ebd. 39 Ebd., Sp. 1812. 40 Ebd., Sp. 1810 f. 41 Ebd., Sp. 1811 f.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
Mythos, den – im 18. Jahrhundert – nicht nur zahlreiche Poeten überliefern, sondern der auch bereits zum Opernstoff geworden ist. Als ein ‚poeta doctus‘ beginnt Novalis vor diesem Hintergrund mit der ‚imitatio‘ des Vergil (Abschnitt a),42 um sich – als ein ‚poeta magus‘ oder ‚vates‘ – einen eigenen romantischen Orpheus zu erfinden (Abschnitt b).
a) Vergil Georgica, Buch IV (ca. 36–29 v. Chr.): Umdeuten durch Übersetzen Nur wenige antike Texte schildern den Orpheus-Mythos so eindrucksvoll wie Vergils Georgica (Buch IV, 454–558): Orpheus verliert seine Gattin Euridice durch den Biß einer Schlange. Er versucht, die Götter der Unterwelt mit seinem Gesang zu erweichen. Sie sollen ihm die Gattin zurückgeben:43 Ipse cava solans aegrum testitudine amorem, Te[,] dulcis conjunx, te solo in littore secum, Te veniente die, te decedente canebat. Taenaris etiam fauces, alta ostia Ditis, Et caligantem nigra formidine lucum Ingressus, manesque adiit,44 regemque tremendum[.] Nesciaque humanis precibus mansuescere corda. At cantu commotae Erebi de sedibus imis Umbrae ibant tenues, simulacraque luce carentum[.]45 Quam multa in [silvis] avium se millia condunt,46 Vesper ubi[,] aut hibernus agit de montibus imber, Matres[,] atque viri[,] defunctaque corpora vita Magnanimum hero[r]um, pueri[,] innuptaeque puellae, Impositique rogis iuvenes ante ora parentum, Quos circum limus niger et deformis [h]arundo Cocyti[,] tardaque palus in[am]abilis unda Alligat, et novies Styx interfusa coercet.47
42 Es ist unklar, ob es sich dabei um eine Schulaufgabe handelte; Knittel 1996, S. 53. 43 Das nachstehende Zitat folgt einer Ausgabe, die Novalis selbst genutzt haben könnte; Vergil 1760, S. 161 f. Um den Textbestand zu prüfen, vergleiche ich diese Ausgabe mit der modernen Edition Vergil 2001, V. 464–480. Neuerungen in der Schreibweise (‚i‘ statt ‚j‘ oder ‚y‘, ‚et‘ statt ‚&‘) werden dabei nicht eigens angemerkt, sondern im Zitat übernommen. 44 Fairclough notiert „Manisque“; Vergil 2001, S. 252, V. 569. 45 Statt des Punkts setzt Fairclough ein Komma; ebd., V. 472. 46 Fairclough schreibt nicht „silvis“, sondern „foliis“, ebd., V. 473.
1. Novalis: orphischer Gesang und Gefühlspoetik
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Trauer motiviert den Gesang des Orpheus. Zugleich beflügelt ihn das – aussichtslose – Ziel, die Gattin zurückzugewinnen. Er geht durch das tänarische Vorgebirge in die Hölle. Die letzten Verse des VergilTexts deuten an, daß er sich wider Erwarten erfolgreich um Euridice bemüht und die Unterwelt mit seinem Klagegesang gnädig stimmen kann. Novalis übersetzt den Text nur bis zu dieser Stelle. In drei verschiedenen Versionen – vermutlich aus dem Jahr 1789 – vollzieht er die Verse 464 bis 480 des vierten Buchs der Georgica nach, und zwar relativ eng am Original, also ganz im Sinne traditionell gelehrter Übersetzung.48 Im Gang durch die einzelnen Varianten derselben tauscht er nur einzelne Worte aus, und keine der drei Varianten ist als besonders gelungen ausgezeichnet. Im Vergleich zeigt sich aber, daß die dritte Variante (c) durch die Wahl des Blankverses statt des Hexameters und daß die zweite Variante (b) durch die Wortwahl von der ersten Variante (a) abweichen. Von poetologischer Bedeutung ist dabei vor allem die zweite Variante; sie betont die Gefühle: Im ersten Vers spricht Novalis – originalgetreu – von „Liebe“, im fünften Vers von einem unerschütterlichen, heldenhaften Orpheus, im zwölften Vers vom „hohen Mut“ der gefallenen Helden, in Vers vierzehn von „neidischen Flammen“, die 474849 Mädchen und Jünglinge verschlingen.49 Novalis’ Übersetzungen des Vergil-Texts stehen im ausgehenden 18. Jahrhundert zwar nicht allein, erweisen sich aber als außergewöhn-
47 „Er selbst, auf der hohlen Schildkröte [besser: Laute. Die ältere Lyra, von den Römern ‚Testudo‘ genannt, bestand aus einem mit Ochsenhaut bespannten Schildkrötenpanzer; im 15. Jahrhundert ging der Name ‚Testudo‘ auf die Laute über.] seine kranke Liebe tröstend, sang dir, süße Gemahlin, dir am einsamen Strand für sich, dir sein Lied wenn ein Tag aufging, sein Lied, wenn er wieder hinwegschied. Er zog sogar hin zum Abgrund des Taenarum, zur hohen Pforte des Dis, und trat in den Hain, von schwarzer Angst umdüstert, hin vor die Manen und ihren schaudereinjagenden König, vor Herzen, die für menschliches Flehen kein Mitleid kennen. Aber da ziehen, vom Gesang gerührt, die dünnen Schatten und Gespensterbilder der aus dem Leben Hingeschiedenen von des Erebus tiefstem Sitz herbei, wie viele tausend Vögel, die der Abendstern oder ein winterlicher Regen aus den Bergen herabtreibt, sich in den Zweigen hinterm Laub verbergen, Mütter und Männer, Leichname hochgemuter Helden, die ihr Leben bestanden haben, Knaben und unvermählte Mädchen und Jünglinge, die man vor Augen ihrer Eltern hat auf den Scheiterhaufen legen müssen; und rundherum hält sie nur schwarzes Moor, nur das verwilderte Schilf des Cocytus und der lieblose Sumpf mit seiner trägen Wallung gebunden und die neunfach dazwischengeflossene Styx sperrt sie zusammen.“ Vergil 1985, S. 149. 48 Novalis: Freie Übersetzungsversuche, 1. Orpheus, in: Novalis 1960/77, S. 552 f.; siehe über das vermutete Entstehungsjahr den Kommentar, in: ebd., S. 752. 49 Ebd., Variante (b), S. 552.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
lich, wie der Blick auf gängige Übertragungen zeigt. Bereits im Jahr 1760 erscheint nämlich eine Edition des Originaltexts mit einem deutschen Kommentar. Der anonyme Kommentator erläutert die mythischen Bezüge der angesprochenen Verse, übersetzt aber nur den ersten Vers: „Er selbst Orpheus vertrieb sich den Kummer mit einer Laute.“50 Wo Novalis von „Liebe“ spricht, läßt der Kommentator nur „Kummer“ gelten. Ähnlich zurückhaltend klingt die Übertragung Orpheus und Eurydice (Nach Vergil), die Friedrich Leopold Graf zu Stolberg im Jahr 1778 veröffentlicht. Gleichwohl folgt Novalis Stolberg in gewisser Hinsicht, denn schon dieser beginnt seine Übersetzung mit dem 464. Vers des vierten Buches: Orpheus tröstete mit der gewölbten Leier sein Sehnen; Dich, du süsses Weib, dich sang er am einsamen Ufer, Dich mit dem kommenden, dich mit dem niedersinkenden Tage! Durch die Tänarischen Schlünde durch die Pforten des Pluto Ging er, hin zu den Manen, hin zu dem schrecklichen König, Herzen, nimmer vordem durch menschliches Flehen erweichet! Sieh es erregte sein Lied des Erebus nichtige Schatten, Daß sich von ihren Sizen die dunklen Gestalten erhoben, Zahllos, wie der Vögel Tausende, welche der Abend, Oder ein Ungewitter, von Bergen in Büsche verscheuchet. Weiber und Männer erschienen, und abgeschiedene Seelen Edler Helden, noch unverlobter Jungfraun und Knaben, Und der Jünglinge, die dereinst, vor den Augen der Eltern Auf dem Scheiterhaufen die Flamme hatte verzehret, Welche nun alle schwarzer Schlamm und scheusliches Schilfrohr, Und der menschenfeindliche träge Sumpf der Kocytus Einschleust, und der Styx neunmal umhergossen.51
Stolberg ahmt das Original aber beinahe Wort für Wort im HexameterMaß nach – mit weniger emotionaler Neigung als Novalis. Dieser erborgt dementsprechend nur wenige Begriffe von seinem Vorgänger.52 Ganz wesentlich unterscheidet beide außerdem der Umstand, daß Stol50 Vergil 1760, S. 161, l. IV., V. 464. 51 Vergil 1778, S. 450 f., V. 464–480. 52 In Version (a) entlehnt er: ‚Pforten des Pluto‘, ‚Flehen‘, ‚dunkle Gestalten‘, ‚Scheiterhaufen‘; in (b): ‚süßes Weib‘, ‚einsames Ufer‘, ‚Pforte[n] des Pluto‘, ‚Flehen‘, ‚nichtige Schatten‘, ‚Berge‘, ‚Gebüsch‘, ‚schwarzer Schlamm‘; in (c): ‚süßes Weib‘, ‚nichtge Schatten‘, ‚schwarzer Schlamm‘, ‚scheußliches Schilfrohr‘. Rein quantitativ setzen sich ‚süßes Weib‘, ‚Pforte[n] des Pluto‘, ‚nichtge Schatten‘ und ‚schwarzer Schlamm‘ bei Novalis durch.
1. Novalis: orphischer Gesang und Gefühlspoetik
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berg die Georgica nicht nur bis Vers 480, sondern bis Vers 527 überträgt. Denn ab Vers 485 endet schrecklich, was hoffnungvoll begann: Orpheus durfte sich, so wollte es Proserpina, nicht nach Euridice umsehen, und er tat es doch. Deshalb verliert er sie zum zweiten Mal – endgültig: Die Leidenschaft des liebenden Gatten siegte über die Vernunft. An keiner Stelle erwähnt Novalis den zweiten Verlust der Euridice; seine frühe Übertragung des Vergil prägt die nachfolgende Orpheus-Dichtung damit entscheidend vor.53 Sein Orpheus erscheint als der liebende Sänger, der die Wesen der Unterwelt durch seinen Gesang zu einer ungewöhnlichen Tat bewegt. Novalis kappt die ‚düstere‘ Seite des Mythos, wonach die Liebe des Sängers keine äußeren Bedingungen mehr kennt. Bei Vergil überwiegt aber gerade diese ‚düstere‘ Seite: ‚als den unbedacht Liebenden plötzliches Rasen ergriff, verzeihlich zwar, wenn nur die Manen zu verzeihen verstünden[]‘ („cum subita incautum dementia cepit amantem / ignoscenda quidem, scirent ignoscere manes[]“),54 so kommentiert Vergils Sprecher den Blick des Orpheus, der Euridice in die Unterwelt zurückverbannte. Die Euridice-Figur selbst spricht vom „furor“, der Orpheus erfaßt habe und klagt über den unvorsichtigen Gatten.55 Dieser ist ihr verfallen; er handelt ganz ohne Rücksicht auf die Außenwelt und das eigene Wohlergehen.56 Es verwundert deshalb nicht, daß Vergil den Orpheus und Euridice-Mythos einem furchterregenden, mit den Augen rollenden Seher in den Mund legt.57 Der Blick auf den historischen Kontext des Lehrgedichts bestätigt die negative Wertung der Orpheus-Figur durch Vergil.58 Sein Text erwuchs auch aus politischen und ‚sozialreformerischen‘ Absichten: 53 54 55 56 57 58
Vgl. Knittel 1996, S. 53. Vergil 1985, S. 148 f., V. 488 f. Ebd., V. 494 f. Ebd., S. 150 f., V. 516. Ebd., S. 147, V. 450–453. Dem Bildungsbürger des ausgehenden 18. Jahrhunderts müßten diese negativen Wertungen übrigens auch aus Claudio Monteverdis „L’Orfeo“ (Libretto von Alessandro Striggio, Uraufführung 1607) bekannt sein. Striggio erzählt – im typisch barocken Dramenschema – vom Aufstieg des Sängers, auf den der Fall notwendig folgte. Orpheus erscheint als junger und ganz der Leidenschaft hingegebener Mann, der zu bezaubern, sich aber nicht vernünftig-gemäßigt zu verhalten vermag. Leichtsinnig verspielt er die ‚Gnade‘ („grazia“) der Hölle, und Apoll schilt ihn dafür, daß er sein Schicksal beklagt: „Perchè a lo sdegno ed al dolor in preda / Così ti doni, o figlio? / Non è, non è consiglio / Di generoso petto / Servir al proprio affetto [...].“/‚Warum ergibst du dich / Der Verzweiflung und dem Schmerz, mein Sohn? / Es ist kein Zeichen / Von großem Herzen, / Der [eigenen] Leidenschaft zu dienen.‘ (Striggio 1992, S. 90 u. 96).
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
Nach zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzung kehrte das antike Italien wieder zum Frieden zurück. Vergils Georgica sollte dem Volk eine erstrebenswerte Zukunft weisen und es zum persönlichen Engagement für die Landwirtschaft anregen.59 Deshalb förderten die Konsuln, die mit der Landzuweisung in Gallien beauftragt waren, den Autor. Ein politisches Ereignis kam hinzu: der Sieg Cäsars über Antonius und Cleopatra (31. v. Chr.). Vergil soll Cäsar die Georgica im Jahr 29 v. Chr. vorgelesen haben, nachdem dieser aus dem Osten, nämlich von jener siegreichen Schlacht zurückgekehrt war.60 Aufgrund dessen läßt sich vermuten, daß Vergil den Orpheus und Euridice-Mythos auf Antonius und Cleopatra überträgt: Antonius konnte dem zeitgenössischen Publikum als Orpheus erscheinen, für den nur die eigene Leidenschaft zählte; Cleopatra fand in Euridice ihre literarische Gestaltung.61 Vergil deutet den Mythos vernunft-ethisch und politisch – ganz anders als Novalis.62 Durch seine Übersetzung kehrt Novalis die Deutung des Orpheus und Euridice-Mythos durch Vergil um. Novalis kann sich dafür auf ein bekanntes Text-, Bild- und Musik-Kunstwerk stützen: auf Christoph Willibald Glucks Oper Orfeo ed Euridice (Pariser Erstaufführung im Jahr 1774). Raniero de’ Calzabigi, der das Libretto verfaßte, zeigt nicht nur erstmals die Dynamik zwischen den Liebenden, sondern er läßt das Drama auch gut enden: Euridice fürchtet, Orpheus liebe sie nicht mehr, weil er sie nicht anschaut und will ihm nicht aus dem Hades ans Licht folgen; Orpheus dreht sich daraufhin um, und Euridice stirbt. Weil Orpheus zu verzweifeln droht, greift Amor rettend ein: Er habe nur die Treue des Orpheus prüfen wollen, sagt der Liebesgott, und schenkt der verloren geglaubten Gattin das Leben wieder.63 Das Paar kehrt wohlbehalten in die Menschenwelt zurück. Trotz dieser positiven Darstellung des Orpheus finden sich in den Übertragungen des Novalis aber keine direkten Spuren der Gluckschen Oper. Der Vergleich und der Ausblick auf das eigene Orpheus-Gedicht des Novalis zeigen vielmehr, daß er die positive Sicht Glucks bzw. Calzabigis auf Orpheus noch steigert, indem er ihn als „zärtliche[n]“ Sänger vorstellt. 59 60 61 62
Vgl. Erren 1985, S. 17. Ebd., S. 10. Ebd., S. 22. Die vernunft-ethische Deutung ist vermutlich der Grund dafür, daß Vergil in der Romantik nicht sehr beliebt war; siehe über die Vergil-Rezeption Ziolkowski 1993, S. 77–80. 63 Calzabigi 1993, S. 113.
1. Novalis: orphischer Gesang und Gefühlspoetik
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Ein zweiter Vergleich belegt diese Interpretation: Zeitgleich mit Novalis’ Übersetzungen der Verse aus den Georgica veröffentlicht Johann Heinrich Voß unter dem Titel Landbau eine Übertragung des gesamten Texts.64 Für die Verse 454 bis 558 verwendet er teilweise dieselben Begriffe wie Novalis.65 Dies allerdings mag nur auf die relative Richtigkeit der Übersetzungsversuche von Novalis schließen lassen und nicht darauf, daß Voß diese kannte. Denn während Voß sich bemüht, den gesamten Vergil-Texts angemessen zu erfassen, konzentriert sich Novalis nicht nur – mit Stolberg – auf die Orpheus und Euridice-Geschichte, sondern dichtet einen eigenen und neuen Orpheus. Novalis erfüllt damit bereits jenes Kriterium, das – folgt man den Blüthenstaub-Fragmenten (1798) – den wahren Übersetzer auszeichnet: Er übersetzt als Künstler, als „des Dichters Dichter“.66 Aus der gelehrten Übung, aus der ‚translatio‘ und ‚imitatio‘ des antiken Vorbilds entsteht zugleich – mehr oder minder in der DeutungsTradition der Gluckschen Oper – eine poetologische Figur, ein Symbol für ein ‚zärtliches‘ Dichtungsverständnis, das von antiken Traditionen, vernunft-ethischen Überzeugungen und politischen Zielen abgetrennt wird. Im Rahmen eines eigenen Orpheus-Gedichts entwirft Novalis einen Dichter-Typus, mit dem er nurmehr vage an Vergil anschließt. Novalis deutet den Orpheus der Antike zu diesem Zweck emotional – zu64 Die Georgica-Übertragung von Voß (Vergil 1789) wird in kurzer Zeit bekannt und sehr gelobt; vgl. Art. I, in: The German Museum 2 (1800), S. 551–555. 65 Aus arbeitspragmatischen Gründen werden die oben diskutierten Verse nach einer späten Auflage zitiert. Vergil 1926, S. 114: „Er nun stillte des Grams Sehnsucht mit gewölbter Leier, / Dich holdseliges Weib, dich bang’ am einsamen Ufer, / Dich mit kommendem Tag’ und dich mit scheidendem singend. / Selbst in des Tänarus Schlund tiefab zu den Pforten des Pluto, / Und in den düsteren Hain voll schwarz anstarrenden Grauens / Wagt’ er den Gang, die Manen zu schaun, und den furchtbaren König, / und durch menschliches Flehn noch nie gemilderte Herzen. / Aber es schwebten, gerührt vom Gesang, aus Erebus’ Tiefen / Luftige Schatten daher und dem Leben entschwundne Gestalten, / Zahllos, so wie im Laube sich Tausende bergen der Vögel, / Nachtet es, oder verscheucht vom Gebirge sie winternder Regen: / Mütter zugleich, und Männer, und einst großherziger Helden. / Herrliche Riesengestalt, und Knaben, und bräutliche Jungfrau’n / Jüngling’ ach, auf die Scheiter gestreckt vor den Augen der Eltern, / Die dort schwarzer Morast und scheußliches Rohr des Coctys / Ringsumher und des trägen Gesümpfs unfreundliche Wasser / Fesseln und neunfältig die Styx umströmend verkehrt.“ – Auch Novalis spricht vom „Hain“ (Versionen a und c), vom „furchtbaren König“ (Version b, in gewisser Hinsicht auch a und c), von „Gesang“ (Versionen a, b), vor allem aber von „luftige[n] Schatten“ (Version a), von „Mütter[n]“ (Versionen a, b, c), „Männer[n]“ (Version b) und „Helden“ (Version b) und vom ‚Rohr des Coctys‘ (alle Versionen). 66 Pfefferkorn 1988, S. 48–51, hier S. 49.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
gunsten eines positiven Bildes vom Dichter und seiner Tätigkeit. Im folgenden will ich zeigen, daß Novalis aus der Vergil-Übertragung in seinem eigenen Orpheus-Text eine – teilweise – neue Konzeption von Poesie gewinnt, die auf ‚starke Gefühle‘ setzt: Orpheus, der liebende Mensch, kämpft nunmehr im Zwischenreich um die Geliebte; seine stärkste Waffe ist die Poesie, die ihn zwischen Welt und Hades wandeln läßt.
b) Orpheus (ca. 1789): romantisierender Gegenentwurf von Poesie In einem ersten Abschnitt des Orpheus-Gedichts (V. 1–35) mustert der Sprecher poetologische Positionen der Vergangenheit, um seine Vorstellung von Poesie davon abzugrenzen. Er spricht über die frühe Kriegsdichtung und die wenigen Sieger in Krieg und Lied, über Homers „unerreichbare[] Lieder“ und Vergils „sanfteren Ton“.67 Auf Vergil läßt er wiederum die kriegerische Dichtung folgen; sie beginnt – nach Novalis – mit Tasso, entwickelt sich in Lodovico Ariostos Orlando Furioso (1515) und Richard Glovers Leonidas (1737) weiter. Selbst die „Heilige Poesie“ John Miltons und Klopstocks paßt in dieses Bild: Ihr Held, der Messias, stirbt als Erlöser für „den sündigen Menschen“;68 die Heroen der Kriegsdichtung lassen ihr Leben für das Vaterland – „[...] mit Ruhm und Wunden bedecket.“69 Ganz anders der Sprecher des Novalis. Er assoziiert „Vaterland“ mit dem „Vater“, der bei der Geburt des Sohnes „lächelt[]“, der nicht „erhaben[]“ schaut, sondern das Kind „mit lächelndem Scherze / Und den sanfteren Grazien“ weiht.70 Aus diesem harten Kontrast von Kriegsdichtung, „Heiliger Poesie“ und Familien- oder Liebesdichtung im weitesten Sinne gewinnt der Sprecher das eigene Verständnis von Poesie. Fünf Verse fassen das poetologische Programm zusammen, das Novalis an seinen Orpheus knüpft: Sieh drum wählte ich mir auch zu singen den sanfteren Orpheus Welcher die Leyer zuerst mit zärtlichen Tönen begabet Und mit harmonischen Liedern die Sitten der Hirten gebildet 67 68 69 70
Novalis: Orpheus, in: Novalis 1960/77, S. 547–551, hier S. 548, V. 9 und 11. Ebd., V. 17–20. Ebd., V. 24. Ebd., V. 25–27.
1. Novalis: orphischer Gesang und Gefühlspoetik
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Singend zum schrecklichen Orkus hinabstieg, welchen noch niemals Sterbliche Füsse berührt, von klagender Liebe getrieben [...].71
Das Attribut „sanfter[]“, das Orpheus hier zugesprochen wird, weist auf Vergil und die Grazien zurück. Vergils Ton wird selbst als „sanfter[]“ beschrieben, für die Grazien und Orpheus gelte dieselbe Eigenschaft; die Töne des Orpheus aber seien auch „zärtlich“,72 seine Lieder wirkten „harmonisch[]“. Anders als Vergil, der als berühmter Dichter der ‚Alten‘ abstrakt bleibt, schildert der Sprecher Orpheus als empfindendes Individuum, trifft Aussagen über seinen Charakter. Bezeichnenderweise ist aber selbst in bezug auf ihn immer nur von „sanfteren“ die Rede; der Sprecher wählt den Komparativ. Orpheus steht als Chiffre für die erstrebte neue Dichterrolle, gegen die etablierten Traditionen der Heldendichtung und der ‚Heiligen Poesie‘. Gegen diese will sich der Sprecher des Novalis wenden, um – mit Orpheus – für ein irdisches Fühlen und Leben in der Tradition der anakreontischen Liebeslyrik zu plädieren: Orpheus’ Gesang für Euridice ist „von klagender Liebe“ getrieben – von einem konkreten Gefühl für einen einzigen Menschen, nicht von abstrakten Idealen. Während Orpheus aber Euridice besingt, singt das Ich über Orpheus. Novalis steigert die Konstellationen der Darstellung reflexiv: Der Sprecher, selbst ein Dichter, dichtet über einen Dichter, der für jenes poetologische Konzept steht, das er selbst vertreten will. Doch Novalis beläßt es nicht nur bei dieser reflexiven Steigerung, sondern überbietet sie noch, indem er ‚Ich‘ und Orpheus in einem Vers vorübergehend identisch werden läßt. Dort geht es um „[...] die Lieder die ich jetzt singe der rosigen Freundinn.“73 Gleich im nächsten Vers treten Ich und Orpheus auseinander. Der zweite Abschnitt von Orpheus beginnt als eine auktoriale Erzählung in Versen (V. 36–127). Sie handelt von Orpheus’ und Euridices Flucht aus Tessalien, von Euridices Tod durch den Schlangenbiß, vor allem aber von den Gefühlen des Orpheus für die (verstorbene) Gattin. Die „Schrecken des Todes“ lähmen ihn;74 er steht in „stummer Verzweiflung“ und trauert75 – bis ihm Venus im Traum erscheint und ihn auffor71 Ebd. S. 548, V. 28–32. 72 Dies verweist auf die Übersetzungsvariante (a), V. 1 zurück. 73 Novalis: Orpheus (wie Anm. II., 67), V. 35, S. 550, V. 98. Unklar bleibt dabei, ob es sich bei der „Freundinn“ um Euridice handelt, wofür das Attribut „rosig[]“ sprechen würde, das für Euridice, aber auch für Venus verwendet wird (ebd., V. 38). 74 Ebd., S. 549, V. 66. 75 Ebd., V. 79, S. 550, V. 93.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
dert, in den Orkus zu steigen, um Pluto mit seinen Klageliedern zu erweichen. Zugleich verschmelzen die Göttin der Liebe und die geliebte Gattin aufgrund der Farbattribute (‚goldene Locken‘, ‚rosig Haut‘) zu einer Figur. Diese Doppelfigur der Liebe fordert Orpheus zu einem mutigen Gang auf. Anders als die Helden des Homer wird ihm der Erfolg nicht durch Waffen und Kampf, anders als den Helden Miltons und Klopstocks nicht durch Glauben und Opferbereitschaft gewährt; Orpheus siegt durch seine Klagelieder, durch den poetischen Ausdruck seines Gefühls. Er greift zur „Leyer“ – und an dieser Stelle integriert Novalis jenen Abschnitt aus Vergils Georgica, den er übersetzte. Doch deutet Novalis ihn um: Orpheus begräbt die Gattin; in den Hades geht er nicht.76 Vielmehr singt er – anders als Vergils Orpheus, aber vergleichbar dem Orpheus Ovids – „ein Lied des Todes der Gattin“.77 Es handelt von Euridice, von ihrem Tod durch den „Neide“ der Unterwelt,78 von einem Plan, sich in die Unterwelt zu wagen. Zu seinen Adressaten zählen die Musen auf dem Parnaß, Luna und die „Nympfen des Haynes“79 – nicht aber Pluto und die Gestalten der Unterwelt.80 „Und vom Mitleid versank ihr himmlisches Schimmern in Dämmrung,“81 so heißt es über die erlesenen Zuhörer der Dichtung des Orpheus. Anders als Vergils Georgica endet Novalis’ Orpheus offen. Einerseits romantisiert Novalis den Orpheus-Mythos, wie er ihn bei Vergil vorfindet: Er versetzt ihn in den Wald, unter die mythischen Lichtgestalten, blendet nicht nur den neuerlichen Verlust der Euridice und den Tod des Orpheus aus, sondern auch den Hades-Gang selbst. Andererseits greift er zu diesem Zweck auf den poetologischen Mitleidstopos der christlichen und moralischen Aufklärung zurück.82 Ob die „zärtli76 Ebd., Einschub, S. 550 f., hier S. 551, 7, V. 25. 77 Ebd., S. 550, V. 122. – Vergil und Ovid weichen in ihrer Orpheus-Darstellung voneinander ab, denn Ovids Orpheus singt. Vgl. dazu Putnam 1979, S. 294 u. 301. 78 Novalis: Orpheus (wie Anm. II., 67), Einschub, S. 551, 5, V. 12; die Anspielung auf den „Neid“ der Unterwelt ist aus der Übersetzungsvariante (b), V. 14 bekannt. 79 Novalis: Orpheus (wie Anm. II., 67), S. 551, V. 128–130. 80 Schon deshalb stimmt die knappe Interpretation des „Orpheus“-Gedichts von Walter A. Strauss nicht; vgl. ders. 1971, S. 17 u. passim. Vor einem weiten ideengeschichtlichen Kontext versucht Strauss zu zeigen, daß Novalis einen (gnosischen) Dualismus von ‚hell‘ und ‚dunkel‘, von einem Reich des Lichts und einem Reich der Finsternis als zentral erachtet. Novalis stellt jedoch weniger einen solchen Gegensatz (von Hades und Erdenleben) heraus; vielmehr ‚schickt‘ er die orphischen Gesänge auf den Parnaß. 81 Novalis: Orpheus (wie Anm. II., 67), V. 131. 82 Dazu Schings 1980.
1. Novalis: orphischer Gesang und Gefühlspoetik
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chen Töne“ des Orpheus siegen, bleibt dabei offen. Im Blick auf die Wirkung des neuen, „zärtlichen“ und „sanfteren“ poetologischen Programms bleibt es beim Alten: Hier wird die Mitleidspoetik reformuliert. Novalis’ Orpheus gelangt unter wirklungspoetologischem Aspekt nicht über den bloßen Versuch hinaus, mit Orpheus eine neue poetologische und poetische Richtung anzukündigen.83 Dies gilt jedoch nicht für die Darstellung seiner Erlebnisse und Taten. Ein tragisches Ereignis, der Verlust der Geliebten, löst den Gesang des Dichters aus. Den orphischen Gesang motivieren weder Mitleid noch Nächstenliebe; er entspringt der (geschlechtlichen) Liebe und der Verlusterfahrung. Anders als in der Mythologie verbleibt der Dichter dabei auf Erden, im Hain und wirkt auf den Parnaß. Darüber hinaus erzählt nicht der Dichter Orpheus selbst, sondern ein Sprecher dichtet im lyrischen Text über die Dichtung des Orpheus. Er berichtet Überliefertes und reflektiert es in der eigenen Poesie-Auffassung. Der Ursprung menschlicher und zärtlicher Dichtung ist also nicht mehr zugänglich, sondern speist sich aus den mythisch gestützten Phantasien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Was Novalis dem Poesie-Verständnis seiner Zeit wünscht, deutet er in ein Poesie-Verständnis und in eine Dichterrolle hinein, die er mit ‚Orpheus‘ überschreibt. Orpheus wird Novalis zum poetischen Messias,84 zum Sänger der Musen, zum Propheten einer Poetik, die im Zeichen von Magie und Gefühl steht.85 Sie widmet sich der „Darstellung 83 Mit gutem Grund formuliert W. A. Strauss seine Überlegung, daß die typisch apollinische Sicht auf den Hellenismus in der Romantik von einer orphisch-dionysischen ersetzt worden sei, mit Vorsicht; ders. 1971, S. 9. Zwar gab es Stimmen, die sich – wie Wilhelm Heinse – ‚der dionysischen Seite‘ zuwandten, aber im Fall von Novalis „Orpheus“ wäre es nicht nur sehr gewagt, sondern im Kern falsch, von einem ‚orphisch-dionysischen‘ Blick zu sprechen. Novalis schreibt das Orpheus-Thema vielmehr romantisch um – und verklärt dabei den ‚dionysischen‘ Mythos des Sängers, der sich tapfer in die Unterwelt wagt, um gegen die Mächte des Bösen für seine Geliebte zu streiten. 84 Siehe Valk 2003. 85 Dabei wird vor allem das Attribut ‚zart‘ die Poetik des Novalis weiterhin auszeichnen; es findet sich schließlich auch in „Heinrich von Ofterdingen“, und zwar in Zusammenhang mit einem Vergleich, der die besonderen Eigenschaften von Sprache verdeutlichen soll (H.-G. Pott 1987, S. 72). Im Blick auf das Attribut ‚zart‘ begründet Novalis hier eine Auffassung von einer autonomen Sprache – mit Vokabeln, die auch Schiller nutzt, um seinen „ästhetischen Staat“ zu beschreiben (Schiller 1962, XX, 27. Brief, S. 404–412, hier S. 410 [Hervorhebung im Original]). Bei Novalis spielt die Sprache mit sich selbst, löst sich auf diese Weise von allen äußerlichen Bestimmungen und wird als freies Element der Natur zu einem ‚zarten‘ Maßstab aller Dinge.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
des Gemüthes“, der „Äußerung eines inneren Zustandes“.86 Orpheus, das Gedicht über den „zärtlichere[n]“ Dichter, erscheint nicht nur als Vorläufer, sondern bereits als Dokument solcher Auffassungen. Was sich beim frühen Novalis dabei noch aus den Poetiken und Praktiken der Aufklärung, aus der ‚imitatio‘ des antiken Texts und aus der Mitleidspoetik speist, das entwickelt der Novalis der späten 1790er Jahre weiter.87 Mit Friedrich Schlegel wird er seine Dichtung darüber hinaus als Meta-Theorie begreifen, weil sie Theorie erst umsetzt und fühlbar macht.88 „Poesie der Poesie“ ist in den Formen des Novalis sowie in denjenigen der Brüder Schlegel im Ausgang aus der Literatur und aus der Normpoetik der Aufklärung ‚en vogue‘. Als Beispiele für vergleichbare Reflexionsformen gelten mir die Poetik-Entwürfe ehemaliger Studenten des Tübinger Wilhelmsstifts: Hegel, Schelling und Hölderlin schreiben der Poesie einen ‚höchsten‘ Zweck zu. Im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796 oder 1797) erweist sich die Poesie – anders als die Philosophie – als „Lehrerin der Menschheit“, als der Weg zu einer „neue[n] Mythologie“.89 Poesie verbindet, was die Reflexionsphilosophie Kants trennt: Hölderlin interpretiert das Begreifen der Systemphilosophien – später gegen Hegel – als ein Beherrschen, als Unterwerfung des Objekts unter das Subjekt.90 Dichtung hingegen soll vereinigen, so Hölderlin, und zwar durch Schönheit, Liebe und Religion.91 Poetologische Reflexion meint hier also Synthese. ‚Hölderlin‘ wurde – als Person wie als Autor – zur Ikone dieser idealischen und synthetischen Poesie-Auffassung, zur „Allegorie der Poesie“.92
86 87 88 89 90 91 92
Das poetologische Schlagwort vom ‚zärtlicheren Singen‘ aus „Orpheus“ ist im „Heinrich“ sprachpoetologisch zu verstehen: Bezieht sich das ‚zärtlichere Singen‘ aus „Orpheus“ noch auf den sehnsüchtigen Trauergesang des Liebenden, so kennzeichnet ‚zart‘ hier die Eigenschaft einer vollkommen zu sich gekommenen Sprache. An einer solchen Sprache muß sich die Welt messen lassen. Für Nachweise und Interpretation siehe M. Frank 1989, S. 271 f. u. 278 f. Für „Heinrich von Ofterdingen“, besonders für Klingsohrs Weinlied: Hartmann 1996, bes. S. 55 f. Hörisch 1976, S. 108; Schmaus 2000, S. 45. Hegel 1986, I, S. 235 f. [Hervorhebungen im Original]; über die Versuche, den oder die Autoren des „Systemprogramms“ zu ermitteln, Franz 1975–77. Kurz 1975, S. 13. Ebd. Bothe 1992, S. 28.
2. Friedrich Hölderlin: ambivalente Poetik des Idealischen
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2. Friedrich Hölderlin: ambivalente Poetik des Idealischen Aber auch unabhängig von solch biographisch-psychologisierenden Deutungen gilt Hölderlin als der Dichter, dessen Werk wie kein zweites „aus dieser spezifischen Idealität [lebt], die sich mit dem Pathos des Erhabenen und Feierlichen umkleidet[.]“93 Mit der folgenden Interpretation der alkäischen Ode Dichterberuf (1800/1801, gedruckt 1802)94 soll demgegenüber gezeigt werden, daß sich Hölderlin kritisch mit der Idealisierung von Dichtung auseinandersetzt (Abschnitt a). Der Weg dorthin führt über seine ambivalente Deutung des Topos von der Einsamkeit des Dichters. Hölderlins poetologische Lyrik und seine theoretischen Auseinandersetzungen mit Dichtung erhellen sich in diesem Punkt wechselseitig. Doch gehen die poetologischen Gedichte über die theoretischen Überlegungen hinaus: Sie reflektieren diese und bilden ab, wo erhebliche Schwierigkeiten im Dichtungsverständnis Hölderlins liegen. Die Interpretation von Dichterberuf im Blick auf die anthropologischen und poetologischen Fragmente Reflexionen und Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes erschließt, in welche Schwierigkeiten der Dichter geriet, der sich seiner selbst bewußt wurde, der dem Reflexionsgebot und dem eigenen Dichtungs- und Dichterverständnis gehorchte: Es findet am Menschen seine Grenze. Anthropologie und Poetik ergänzen sich im Fall Hölderlins also bloß vordergründig; sie stehen in letzter Konsequenz gegeneinander (Abschnitt b).
93 Schmidt 1980–81, S. 100. 94 Hölderlin 1992–94, I, Kommentar, S. 778. Anhand der Interpretationen von „Dichterberuf“ ließe sich eine Methodengeschichte der Literaturwissenschaft schreiben. Um einige Eckdaten aus dieser Geschichte zu nennen: rein formalanalytisch untersuchte Beißner (1951) „Dichterberuf“; Schmidlin (1958) legte eine geistesgeschichtliche Deutung vor, die auf die Deutung des Dichters als ‚Seher‘ abstellt; gegen solche Versuche wendet sich Müller-Seidel (1983) mit einer sozialgeschichtlichen Kontextualisierung des Texts. Er erscheint hier als Dokument der Revolutionskriege; siehe auch Kaiser 1996, I, S. 477–488. Gegenwärtige Bemühungen um „Dichterberuf“ interessieren sich vor allem für seine ästhetische und poetologische Dimension, zumeist im Blick auf ein ausgreifendes philosophisches oder literaturgeschichtliches Tableau (Vieillard-Baron 1992; Selbmann 1994). Interpretationen wie diese förderten eine Fülle von text-immanenten und möglichen text-externen Bezügen zu Tage, aber eine Deutung des Texts vor seinem unmittelbaren poetologischen Kontext liegt noch nicht vor.
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a) Dichterberuf (1800/1801): Poesie der gemäßigten Vereinigung? Gleich im Eingang von Dichterberuf, der erweiterten und veränderten Fassung der Kurzode An unsre großen Dichter (1798),95 ist von zwei entgegengesetzten Mächten die Rede: von Bakchos und von einem „Meister“, von Apoll, der mit dem Dichter verbunden wird.96 Gleichwohl bleibt diese Verbindung vage;97 deutlich ist nur, daß beide Götter, Bakchos und Apoll, für die Dichtkunst stehen. Bakchos kommt – der Mythologie entsprechend – aus dem fernen Indien und führt „heilge[n] Weine“ mit sich.98 Von Apoll – oder dem Dichter, „des Tages Engel“ – hingegen fordert der Sprecher, daß er die Gesetze bringe, mehr noch: daß er „siege[n]“ solle.99 Letzteres legt eine Parteinahme für den Sonnengott (und damit für den Dichter) nahe, für den Tag, für das Gesetz, für das Klare, für das Helle und Regelbare. Der „heilge[] Wein“ des Bakchos erscheint als bedrohlich, obwohl sich Bakchos und Apoll in ähnlicher Weise legitimieren können: Beiden kommt „der Eroberung Recht“ zu,100 aber nur Bakchos macht bereits davon Gebrauch. Doch 95 Als vollkommen identisch erweisen sich nur die jeweils ersten Strophen der beiden Gedichte. Die zweite Strophe von „Dichterberuf“ weicht entscheidend von dem vorhergehenden Text ab. Ich komme später darauf zurück. Für die Formanalyse von „Dichterberuf“ siehe Beißner 1951. 96 Hölderlin 1992–94, I, Kommentar, S. 779. 97 Über die vielfältigen Entgegensetzungen, aber auch über die Verbindungen der beiden Götter durch Hölderlin vgl. Pfotenhauer 1988–89, bes. S. 53; Behre 1990–91. 98 Hölderlin: Dichterberuf, in: ders. 1992–94, I, S. 305–307, hier S. 305, V. 4 f. Es liegt nahe, hier an den Prolog des Dionysos und an das Einzugslied der Bakchen aus Euripides’ gleichnamigem Drama zu denken; Hölderlin übersetzte die ersten Verse des Euripides-Texts im Jahr 1799; Schmidlin 1958, S. 31. Vgl. zur Herkunft des Bakchos Schmidt 1970, S. 31. 99 Hölderlin: Dichterberuf (wie Anm. II., 98), V. 5–8. 100 Ebd., V. 8. Müller-Seidel deutet diese Worte rechtspolitisch, nämlich im Blick auf die Revolutionskriege und im Blick auf die Frage, ob diese zu Eroberungsfeldzügen umgedeutet werden dürften. Er beschreibt zu diesem Zweck, wie sich die politischen Einstellungen Hölderlins wandelten: aus der Begeisterung für die Revolution wurde Enttäuschung. Müller-Seidel 1983, S. 196–198. Entsprechend folgert Müller-Seidel, daß die Kurzode „An unsre großen Dichter“ das Recht auf Eroberung begründe; für „Dichterberuf“ hingegen stellt er fest, daß die politische dort in eine religiöse Dimension umgewidmet werde, daß etwa an die Stelle der Heroen der Meister trete usf.; ebd., S. 198 f. Diese Deutung widerspricht der poetologischen nicht – im Gegenteil: Sie regt an, den zeithistorischen Kontext für die poetologische Interpretation mitzubedenken, selbst wenn die Bezüge auf die Revolutionskriege bloß an einige wenige Vokabeln geknüpft werden können.
2. Friedrich Hölderlin: ambivalente Poetik des Idealischen
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auch Apoll soll erobern, die „Völker“ vom „Schlafe“ nicht nur – wie Bakchos – „wecke[n]“,101 sondern sie „erweck[en]“.102 Bakchos und Apoll bleiben nicht die einzigen Figuren in Dichterberuf. Der Dichter, „der Mann“, „der Gott“, „der Vater“, der schöpferische und göttliche „Genius“, die „Himmlischen“ und die belebte Natur kommen hinzu. Dabei rahmen die Erwähnungen des Mannes und des Gottes, rein quantitativ betrachtet, erhebliche Teile des Texts. In der letzten Strophe verbleiben nur sie; die übrigen Figuren sind verschwunden. Mann und Gott bedeuten demzufolge Besonderes. Will der Interpret aber der Frage nachgehen, was genau sie bedeuten, dann stößt er auf Grenzen des Interpretierbaren. Diese Grenzen ergeben sich, weil sich in Dichterberuf – erstens – Figuren ununterscheidbar überlagern und weil sich deshalb – zweitens – die Frage, wer zu wem spricht, nicht immer beantworten läßt. Sie muß für jede Strophe neu geprüft werden: In der ersten Strophe gibt ein auktorialer Erzähler über das Geschehen am Ganges Auskunft (Bakchos erobert und weckt). In Strophe drei, dann aber erst zum Abschluß des Gedichts (Strophen fünfzehn und sechzehn) greift wiederum der auktoriale Erzähler ein. Seine Aussagen und Wertungen rahmen das Auftauchen ‚des Mannes‘. Die Strophen zwei und vier bis vierzehn sind demgegenüber in direkter Rede gehalten: Es spricht ein ganz unterschiedlich besetztes ‚Wir‘, das sich an verschiedene Du- und IhrFiguren wendet. Das ‚Du‘ bezieht sich ebenso auf den Dichter wie auf „de[n] Höchsten“.103 Mit ‚ihr‘ hingegen werden die „Himmlischen“ und die „Quellen“, die „Ufer und Hain’ und Höhn“, die „ruhelosen Taten in weiter Welt“ und die „Schicksalstag’“ angerufen.104 Auf diese Weise vermittelt der Text den Eindruck, als sehe sich der Autor um, als mustere er sowohl die wirkliche und belebte als auch die erdichtete und die mythische Welt. Eine dreifach gestufte Fragebewegung, die Jochen Schmidt bereits erschöpfend beschrieb, steht im Kern dieser Umschau: Sie geht von der Feststellung aus, daß die Dichter dem Höchsten geeignet sind, thematisiert den Mißbrauch der Dichtung, nimmt aber auch eine ‚eigentliche‘ Aufgabe von Dichtung in den Blick.105 Ge101 Hölderlin: Dichterberuf (wie Anm. II., 98), V. 4. 102 Ebd., V. 5. 103 Für den Bezug auf den Dichter ebd., S. 306, V. 34; für den Bezug auf „de[n] Höchsten“ Hölderlin 1992–94, I, Kommentar, S. 780. 104 Hölderlin: Dichterberuf (wie Anm. II., 98), S. 305, V. 17 f., S. 306, V. 25 f. 105 Hölderlin 1992–94, I, Kommentar, S. 779 f.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
meint ist – vorläufig – der poetische Ausdruck des Göttlichen. Jochen Schmidt zufolge erweist sich Dichterberuf deshalb als ein Gedicht über den heldenhaften Dichter, der sich – schon entmenscht – als Sprachrohr des Göttlichen zu betrachten hätte, weil im Ausgang des Gedichts, nämlich mit dem Auftreten des Mannes in der letzten Strophe, „das Heroische des Dichters in seiner Einsamkeit pointiert“ werde.106 Doch das Bild des Mannes, das Hölderlin entwirft, steht der Vereinigung von Mann und Dichter entgegen. Vielmehr rückt es den Mann in die Nähe der „Völker“, die Bakchos und Apoll (er)wecken sollen. Denn der Mann teilt das Geschick des primitiven Menschen, der zwar „edler [] denn das Wild“,107 doch nicht – wie der Dichter – zum Höchsten berufen ist. Der Mann bleibt „furchtlos“, „einsam“, aber auch rein bzw. einfältig.108 Mehr noch: Die Einfalt schütze ihn vor Gott;109 er verharre in der „heilge[n] Nacht“, mit der ihm „der Vater“ die Augen zudecke.110 Der Mann ist blind; er kann – wie ein Vergleich mit mit der vermutlich kurz nach Dichterberuf entstandenen Ode Der blinde Sänger (1801) zeigt – nicht dichten. Galt die Blindheit an anderer Stelle als positives Attribut des Sehers,111 so fehlt ihm hier das Licht (möglicherweise übersetzbar mit Idealismus oder Aufklärung)112 – und mit dem Licht verliert er die Sprache.113 Während der Mann also im Vorsprachlichen verharrt, verbindet sich der Dichter graduell mit Apoll. Hier liegt eine gestaffelte Redesituation vor: Über den Dichter und Apoll geben nur diejenen Strophen Auskunft, die nicht auktorial vermittelt sind. Auktorial wird bloß über ‚den Mann‘ gesprochen; über Apoll und den Dichter aber berichtet die Figurenrede ganz unmittelbar im ‚Wir‘.114 Dichterberuf, das zeigen schon diese narrativen Verfahren von Einschluß und Abgrenzung, begreift den Poeten nicht länger als Helden.
106 107 108 109 110 111 112
Ebd., S. 783. Hölderlin: Dichterberuf (wie Anm. II., 98), S. 305, V. 11. Ebd., S. 307, V. 61 f. Ebd. Ebd., V. 53 f. Vgl. Kurz 1992, S. 131. Schmidt setzt ‚Licht‘ – im Blick auf Schellings Vorlesungen über die „Philosophie der Kunst“ – mit Idealismus gleich. Hölderlin 1992–94, I, Kommentar, S. 787. 113 Hölderlin: Der blinde Sänger, in: Hölderlin 1992–94, I, S. 307–309, hier S. 309, V. 41–52; Hölderlin 1992–94, I, Kommentar, S. 784–787. 114 Eine handschriftliche Fassung der Ode sah noch Anderes vor: Sie schilderte einen idealen Zustand der Harmonie zwischen Dichter, Natur und Gott; Hinck 1994, S. 111.
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Ein Vergleich mit An unsre großen Dichter bestätigt diese These:115 Dort gibt nicht – wie in Dichterberuf – der immer auch als bedrohlich empfundene „Meister“ Apoll, die Gesetze,116 sondern die Dichter erweisen sich selbst als Gesetzgeber. Sie „weck[en]“ „die Völker“: „[...] gebt / Uns Leben, siegt, Heroën!“, so klingt es weiter.117 Der Ausdruck „Heroën“ entfällt in der zweiten Strophe von Dichterberuf. Auch wird nur noch dem „Meister“ „der Eroberung Recht“ zugesprochen.118 Für das poetologischen Denken Hölderlins kurz vor seiner psychischen Zerrüttung (spätestens seit 1802)119 läßt sich aus diesem Gedichtvergleich also – trotz der erwähnten Grenzen des interpretatorischen Zugriffs – auf einen skeptischen Wandel schließen:120 Der ‚Dichterberuf‘ ist nunmehr weniger groß und heilig. Zwar steht der Dichter in Kontakt mit den Göttern, ist Engel und Götterbote, verbindet sich mit Apoll, aber er bewegt sich vom Göttlichen weg. Im Ergebnis erscheint Hölderlins Dichter nicht als der große Einsame, als der von der göttlichen Natur eingesetzte Held auf Erden, sondern als eine Existenz zwischen dem ‚gewöhnlichen Volk‘ und den Göttern. Als eine solche Existenz fürchtet er die Extreme beider Seiten: die vorsprachliche Eingebundenheit in die primitive Natur und die Überforderung durch das Helle, Lichte, Göttliche. Letzteres ist gleichwohl positiv besetzt, wie es die Nähe zu Apoll zeigt. Aber sein Licht kann blenden. Im Blick auf diese Konstellation läge die Vermutung nahe, daß ‚das apollinische Prinzip‘ einen Gegenpol, ‚das bakchische Prinzip‘, benötigte. Doch dies wäre bloß spekulativ und ließe sich am Text nur unzureichend belegen, nämlich allenfalls über die Nähe, die zwischen Apoll 115 Müller-Seidel kommt zu einem vergleichbaren Ergebnis, entwickelt es allerdings nur teilweise aus der Abfolge der Dichter-Oden und stärker aus einem sozialgeschichtlichen Verständnis von Leben und Werk Hölderlins überhaupt. Ihm gilt Hölderlin im Prinzip als geselliger Dichter, wenn er das eigene Dichteramt auch immer mehr einsam erfahre. Müller-Seidel 1983, S. 194. Er schließt deshalb: „Sie [die Ode ‚Dichterberuf‘] hat nicht mehr viel zu tun mit jenem ‚modernen‘ Klassizismus, der im Bild von Dichter als Führer, Seher und Verkünder kulminiert, der über seine Zeit hinausschaut, die Zukunft verkündet und heraufbeschwört.“ Ebd., S. 208. 116 Kurz 1992, S. 125. 117 Hölderlin: An unsre großen Dichter, in: Hölderlin 1992–94, S. 206, V. 5–7. 118 Ob dies, wie Müller-Seidel (1983, S. 196–198) nahelegt, politische Gründe hat, bleibt allerdings fraglich. 119 Vgl. Burdorf 1993, S. 84–121. 120 Dieser Auffassung sind bereits zahlreiche Interpreten: noch vorsichtig „vielleicht war es die Überschattung durch den Dämon des Zweifels“ Pongs 1966, S. 92; entschlossen Hinck 1994, S. 105; Selbmann 1994, S. 69; Kaiser 1996, I, S. 479 f.
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und dem Dichter einerseits, zwischen Bakchos und den Völkern andererseits besteht: Der Erzähler berichtet zunächst über Bakchos, der ‚die Völker weckt‘; er gibt später auch über den einsamen Mann Auskunft. Im Gegensatz dazu verbinden sich Dichter, Apoll und ‚wir‘. Zwei Figurengruppen stehen einander gegenüber, allerdings besetzen sie nicht einfach zwei Pole. Vielmehr teilen sich beide Götter die Aufgaben – und der Dichter steht dazwischen. Andere Texte, vor allem die zweite und ungefähr zeitgleich mit Dichterberuf entstandene Fassung von Dichtermut (ca. 1801),121 ruhen nicht auf einer derart doppelt angelegten Götterwelt. In Dichtermut bekennt sich das ‚Wir‘ zum „Sonnengott“,122 zu Apoll. Der Sprecher beschreibt ihn als Ahnen der „Sänger des Volks“.123 In der ersten, wohl um die Jahrhundertwende entstandenen Fassung der Ode ist sogar ‚ketzerisch‘ davon die Rede, daß die Dichter „jedem den eignen Gott“ singen.124 Apoll taucht dort gar nicht auf. Für die erste Fassung des Gedichts ist der Titel von Dichtermut Programm: Der Dichter erscheint als Held, der „freudig starb“, und über den „die Einsamen“ klagen.125 Zitate wie diese entstammen der vorletzten Strophe der ersten Fassung von Dichtermut; für die zweite Fassung ist sie vollständig geändert: Dort „kömmt“ „die Stunde“; der Dichter erscheint als passiv, als seinem Schicksal hilflos ausgeliefert.126 Noch mehr gilt dies für Dichterberuf, in dem Apoll jene tragende Rolle übernimmt, die schon in der zweiten Fassung von Dichtermut angekündigt ist. Der Titel von Dichterberuf klingt nicht zufällig verhaltener, ernster. Auch singt der Dichter nicht einfach jedem ‚den eigenen Gott‘, sondern geht einem ‚Beruf‘ nach, folgt einer ‚Berufung‘, die eng an den „Meister“ Apoll geknüpft ist. Dichterberuf überführt den Todesmut des Dichters aus Dichtermut in ein ambivalentes und passives Verhältnis des ‚Wir‘ zur ‚idealischen Poesie‘. ‚Wir‘, der Dichter und der Mann erscheinen als den göttlichen Mächten ausgeliefert. Hölderlin setzt sich in Dichterberuf in ungewöhnlich kritischer Weise mit der antikisch-heiligenden Dichtung auseinander. Dabei schlägt 121 Hölderlin 1992–94, I, Kommentar, S. 768. 122 Hölderlin: Dichtermut. Zweite Fassung, in: Hölderlin 1992–94, I, S.303 f., hier S. 304, V. 16. 123 Ebd., V. 13. 124 Hölderlin: Dichtermut. Erste Fassung, in: Hölderlin 1992–94, I, S. 302 f., hier S. 303, V. 16. 125 Ebd., S. 303, V. 21. 126 Hölderlin: Dichtermut. Zweite Fassung (wie Anm. II., 122), S. 304, V. 21.
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die Distanz zur Götterwelt in Passivität und in den bloßen Wunsch nach Distanz um. Im Ergebnis steht die Ambivalenz der idealischen Poesie. Der Dichter in Dichterberuf sehnt sich nach dem Heiligen und weiß doch, daß es ihm nicht zugänglich ist. Es gelingt ihm nicht, jene Nüchternheit zu praktizieren, die Hölderlin – mit Longin – als ‚sobria ebrietas‘ beschreibt und die Schiller von ihm forderte.127 In Dichterberuf mißlingt die „heilignüchterne[]“128 Vereinigung von Gott und Volk, von ‚Ich‘ und ‚Wir‘.129 Auf die Frage, warum die Vereinigung nicht glückt, kennen die theoretischen Dichtungsfragmente Hölderlins die Antwort. Sie veranschaulichen eine poetologische und anthropologische Ethik, die sich um die Vereinigung der Extreme, um die Vereinigung von Fremdem und Eigenem, von Einzelheit und Vielheit bemüht. Vor dem Hintergrund dieser Fragmente zeigt sich, daß Dichterberuf am eigenen Beispiel reflexiv vorführt, wie das Bemühen um eine gemäßigte Vereinigung scheitert. Der Forschung über Dichterberuf ebenso wie derjenigen über die theoretischen Fragmente ist dies bisher entgangen; sie war – verständlicherweise – mit Interpretationen der komplexen Einzeltexte beschäftigt.130
b) Der „poëtische Geist“ im „Widerstreit“: ‚harmonisch-entgegengesetzter‘ „Mittelzustande“ oder Einsamkeit? Zwar läßt sich für Hölderlin nicht von einer systematischen Dichtungstheorie sprechen, aber er hinterließ eine Fülle von poetologischen (und anthropologischen) Fragmenten. Sie sind um 1799 – also kurz vor Dichterberuf – entstanden, doch im einzelnen schwer datierbar.131 Zu ihren Quellen zählen platonische, naturrechtliche und idealistische 127 Schmidt 1982/83. 128 Über das Oxymoron „heilignüchtern“ Kopetzki 1994/95. 129 Diese Konstellation setzt sich in den späten Gedichtfragmenten Hölderlins fort, wie Dieter Burdorfs eindrucksvolle Darstellung derselben zeigt; Burdorf 1993, S. 553. 130 Für die theoretischen Schriften Hölderlins sind die exzellenten Untersuchungen von Lönker (1989) und Waibel (2000, bes. S. 287–353) hervorzuheben, die die philosophischen Kontexte des schwierigsten Fragments, nämlich der „Verfahrungsweise“ in mühevoller Kleinbarbeit erschließen. Vorliegende Darstellung hat das Privileg, sich auf beide Untersuchungen stützen zu können. 131 Hölderlin 1992–94, II, Kommentar, S. 1205.
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Traditionen des Denkens,132 vor allem aber die Reflexionsphilosophie Fichtes.133 Hölderlins Fragmente verbinden anthropologisches und poetologisches Wissen. Das eine geht – für eine „Poetik einer Ganzheit der Menschen und ihrer Lebenssphären“134 – in das andere über. Dieser Umstand fällt besonders im Blick auf das Problem der Einsamkeit auf, das sich wie ein roter Faden durch die Fragmente zieht. Es kehrt in Dichterberuf sowie in Der blinde Sänger wieder, und das Bild von einem ‚harmonisch-entgegengesetzten‘ „Mittelzustand“ steht ihm entgegen. Einsamkeit und Mittelzustand – diese beiden Einstellungen stellen die Extreme dar, zwischen denen sich Hölderlins anthropologische Poetik bewegt. Ein Abschnitt aus Reflexionen erschließt die Bedeutung des Problems der Einsamkeit: Es kommt alles darauf an, daß die Vortrefflichen das Inferieure, die Schönern das Barbarische nicht zu sehr von sich ausschließen, sich aber auch nicht zu sehr damit vermischen, daß sie die Distanz, die zwischen ihnen und den andern ist, bestimmt und leidenschaftslos erkennen, und aus dieser Erkenntnis wirken, und dulden. Isolieren sie sich zu sehr, so ist die Wirksamkeit verloren, und sie gehen in ihrer Einsamkeit unter. Vermischen sie sich zu sehr, so ist auch wieder keine rechte Wirksamkeit möglich [...].135
Hölderlin fordert die „Vortrefflichen“ und die „Schönern“ auf, ihr Gegenstück nicht zu weit von sich zu weisen, sich diesem vielmehr zu nähern, ohne aber darin aufzugehen. Zwar solle der besondere Mensch zwischen den Extremen vermitteln, sich aber nicht – distanzlos – vermischen. Er stehe auf der Seite des ‚Vortrefflichen‘ und ‚Schönen‘, kenne gleichwohl dessen Gegenüber, eigne es sich sogar bis zu einem gewißen Grad an. Anders gesagt: Er suche seine Mitte.136 Hölderlin begründet diese Forderung doppelt. Um seiner Forderung Gewicht zu verleihen, beschwört er einerseits den Topos der ‚constantia‘, der neo-stoischen Tugend schlechthin. Diese erläutert er aber andererseits mit Hilfe des angesprochenen Nutzenkalküls: Wirken könne die besondere Persönlichkeit nur, wenn sie gerade nicht die idealische Einsamkeit, sondern das weniger Vortreffliche, ja „das Barbarische“ in den Blick nehme und zu ertragen lerne, das weniger Vollkommene dul132 133 134 135
Gaier 1992. Für die „Verfahrungsweise“ Waibel 2000, S. 287–353. Gaier 1992, S. 746. Friedrich Hölderlin: Reflexionen, in: Hölderlin 1992–94, II, S. 519–522, hier S. 522 [Hervorhebungen im Original]. 136 Görner 1993.
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de. Im anderen Fall drohe dem ‚Vortrefflichen‘ eine furchtbare und ganz unidealische Einsamkeit. Auch der Dichter zählt zu diesen besonderen Menschen. Aus Über die Verfahrungsweise erschließt sich deshalb, wie sich die Vermittlung zwischen den Extremen von Einsamkeit und Mittelzustand denken lassen könnte. Sie wird als „Widerstreit“ und in der Form eines umfangreichen Konditionals beschrieben:137 Im ‚Wenn-Satz‘ dieses Konditionals stehen Aspekte, die der Dichter ‚eingesehen‘ haben soll.138 Die Folgerung, die mit „so“ eingeleitet wird,139 enthält eine knappe dichtungstheoretische Anweisung, welche die Eigenschaften des poetischen Stoffes betrifft.140 Für die Frage nach der Vermittlung von Besonderem und Schönerem mit dem Inferioren und Barbarischen interessiert aber vor allem ein einzelnes Moment des ‚Wenn-Satzes‘, nämlich der „Widerstreit“ zwischen Geist und Fortstreben.141 Der ideale Dichter vollzieht – folgt man nur dem Anfang des Konditionals – ganz unterschiedliche Bewegungen: Er bemächtigt sich des „Geistes“ und fühlt die „gemeinschaftliche Seele“, hält sie fest und versichert sich ihrer. Zugleich hat er aber an Geist und Seele immer schon Anteil, denn beide sind in unterschiedlichen Hinsichten „allem gemein und jedem eigen“. Trotz dieser (monistischen) Grundannahme erweisen sich „Geist“ und „gemeinschaftliche Seele“ nicht als identisch. Vielmehr stellt sich die „gemeinschaftliche Seele“ als eine Erscheinungsform des „Geistes“ dar, und zwar als eine solche, die sich nicht erkennen, sondern nur fühlen läßt.142 Diese Vermutung wird durch eine Forderung an den Dichter unterstützt: Er soll sich einer anderen Hinsicht des „Geistes“ gewiß werden, der „freien Bewegung, des harmonischen Wechsels und Fortstrebens“, der Neigung des „Geistes“ zur Reproduktion seiner selbst.143 Hier wird
137 Friedrich Hölderlin: Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes, in: Hölderlin 1992–94, II, S. 527–547, hier S. 527–529. 138 Das Konditional beginnt gleich im ersten Satz des Texts; ebd., S. 527, Z. 3. Aufgrund der komplizierten syntaktischen Struktur galt „Über die Verfahrungsweise“ als nahezu nicht interpretierbar; vgl. Lönker 1989, S. 17 u. passim. 139 Hölderlin: Über die Verfahrungsweise (wie Anm. II., 137), S. 529, Z. 20. 140 Dieser Stoff nämlich soll besonders „rezeptiv“ sein, um Idealisches auszudrücken: vgl. ebd. 141 Ebd., S. 527. 142 Vgl. Lönker 1989, S. 33 f. 143 Zur strukturellen Analogie, die diese Denkfigur mit Fichtes Theorie des Geistes aufweist, Waibel 2000, S. 291–300 u. passim.
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etwas geschaffen, und zwar aus dem „Geist“ heraus – und zugleich liegt es nicht im „Geist“ allein; vielmehr ist diese progressive und poetische Seite des „Geistes“ in seinem Ideal gegründet, also in etwas, was noch über dem „Geist“ steht. Der „Geist“ (und sein Ideal) aber umfassen alles, auch die Natur des Menschen – und dazu gehört der „Widerstreit“. Denn „der Mensch“ lebt in seinem „Alleinsein“ beständig im „Widerspruch“ mit sich selbst, in einem sich „widersprechenden Mittelzustande.“144 Mensch und Dichter haben an zwei entgegengesetzten Welten Anteil, nämlich an einer natürlichen Welt, der sie qua Natur und ohne Rücksicht auf seinen Willen angehören, und an einer gleichfalls natürlichen, aber frei gewählten Welt. Hölderlins Lebensregel lautet daher: Setze dich mit freier Wahl in harmonische Entgegensetzung mit einer äußeren Sphäre, so wie du in dir selber in harmonischer Entgegensetzung bist [...].145
So sehr diese Regel und Hölderlins Denken auf Gegensätzen ruhen, so sehr sucht er diese miteinander zu verbinden – allerdings in einer Weise, daß keine vollendete Verbindung, keine Vermischung, keine in sich geschlossene und für die Außenwelt verschlossene Monade entsteht. Der Mensch hat also – streng genommen – keine Wahl; so lange er existiert, wird er sich im Kampf mit seiner Doppelnatur befinden. Der besondere Mensch gewinnt diesen Kampf, wenn er – zugunsten der ‚höheren‘, nicht zugunsten der natürlichen Welt – auf ‚die Menge‘ wirkt. Zu diesem Zweck muß er sich selbst – mehr als der gewöhnliche Mensch – disziplinieren: Er muß seinen Geselligkeitstrieb zügeln. Zugleich darf er sich aber auch nicht isolieren. Er lebt den Konflikt eines jeden Menschen in besonderer Weise vor, in einem Wechselspiel zwischen „Mittelzustande“ und Einsamkeit – geleitet durch eine anthropologische und poetologische Forderung, die der geselligen Natur des Menschen zuwiderläuft, wie sie die Morallehre des 18. Jahrhunderts beschrieb.146 In anderen poetologischen Texten Hölderlins findet sich dieser zentrale Konflikt des (besonderen) Menschen immer wieder: in Reflexionen, in Über die Verfahrungsweise, aber auch in den fast zeitgleich entstandenen poetologischen Gedichten. Nimmt man Hölderlins anthropologischen Bemerkungen ernst, übersetzt sie in Poetik und überträgt 144 Hölderlin: Über die Verfahrungsweise (wie Anm. II., 137), S. 542 [Hervorhebungen im Original]. 145 Ebd., S. 543 [Hervorhebungen im Original]. 146 Siehe Vollhardt 2001.
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sie auf den Dichter, dann können sowohl An unsre Dichter, Dichterberuf als auch Der blinde Sänger als Umsetzungen der Fragment gebliebenen poetologischen Theorie Hölderlins gelten. Allerdings bedient er sich in seinen Gedichten nicht der theoretischen Sprache von Geist und Widerstreit, sondern lyrischer Bilder. Er spricht von Apoll und Bakchos, von zwei Göttern, die ganz verschieden sind, sich aber mindestens in ihren göttlichen Eigenschaften ähneln, also Teil desselben Prinzips ebenso wie des „Geistes“ sind, um den monistischen Anspruch von Über die Verfahrungsweise auf Dichterberuf anzuwenden. In Dichterberuf tendiert der Dichter zwar – in diesem Sinne – zur Seite Apolls, in Richtung auf das Helle und Idealische, doch ist er zugleich von ihm unterschieden. Er verfehlt – zwischenzeitlich – sogar seine Bestimmung. Das Volk hingegen läßt sich von Bakchos mit Wein ‚wecken‘, verhält sich also primitiver. Jener Mann aber, der im Eingang und Ausgang des Gedichts auftaucht und in der Interpretation auf die Seite des Volkes gestellt wurde, ist einsam. Im Blick auf Reflexionen, ist er auf die Seite des ‚Höheren‘, also auf die Seite des Dichters zu versetzen, weil dort nur der Besondere als von Einsamkeit bedroht beschrieben wird: Der Mann erscheint als Dichter, dem das verträgliche Maß einer Distanz zum Volk abhanden gekommen, der ganz auf sich, auf seinen natürlichen Zustand zurückgeworfen ist. Er kann nicht mehr wirken, seine höhere Bestimmung nicht mehr ausführen. Den „Widerstreit“ beendet er in einer Weise, daß er mit sich vereinigt, aber nicht mehr ‚harmonisch-entgegengesetzt‘ ist. Auf diese Weise entfernt er sich vom Göttlichen, Schönen und Heiligen und verliert den Status des besonderen Menschen, des Dichters. Wie die Verfahrungsweise Fragment bleibt, so scheitert der Dichter in Dichterberuf am eigenen poetologischen Anspruch. Er ruht auf einer – oft beschriebenen – Vorstellung von der Annäherung an ‚das Höchste‘, ‚Göttliche‘, die allerdings weniger heroisch als vielmehr in einem übermenschlichen Maß sozial-disziplinierend wirkt. Der einzelne ist notwendigerweise im eigenen „Widerspruch“ zerrissen; er wird zum Märtyrer seiner Natur. Ein Entkommen aus diesem „Widerspruch“ ist nicht gestattet. Vergleicht man Dichterberuf mit An unsre großen Dichter, dann fällt auf, daß sich der Sprecher des früheren Texts nicht so entschieden vom Göttlichen löste. Nach dem Bemühen um den dichtungstheoretischen Entwurf von Über die Verfahrungsweise wandelten sich Hölderlins Einstellungen: möglicherweise aufgrund theorie-immanenter Probleme, wahrscheinlich aber auch aufgrund der Einsicht in die Überforde-
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rung des Menschen durch den Anspruch der Poetik. Dichterberuf erweist sich als Kehrseite dieser Poetik; sie erlaubt einen skeptischen Blick auf das so quälend und unmenschlich wirkende, auf das märtyrerhafte Menschen- und Dichterbild. Die idealische Poesie, die Hölderlin in seinen theoretischen Schriften preist, erscheint in seiner poetologischen Lyrik des beginnenden 19. Jahrhunderts als problematisch. Er setzt sich dort kritisch mit ihr auseinander, gerät in „Widerstreit“ mit den eigenen Forderungen; die Mittlerrolle im Zeichen der ‚sobria ebrietas‘ wird ihm zum Problem. Hölderlins autobiographische Schriften dokumentieren vergleichbare Konflikte und erlauben es, die These von einer aufkommenden Skepsis im Blick auf das Menschen- und Dichterbild Hölderlins zu bestärken. In einem Brief an die Mutter vom Januar 1799 spricht er von seiner „vielleicht unglückliche[n] Neigung zur Poësie“, die ihm jeden Brotberuf verleide, ihm sogar die Beschäftigung mit der Philosophie erschwere.147 Mehr noch (aus einem Brief an den Bruder): Brotberuf und Außenwelt erscheinen dem Dichter als feindlich; er sieht sich von „Barbaren“ umgeben.148 Infolgedessen sucht er die Gemeinschaft der ‚besonderen Geister‘ gegen „das Rohe, Schiefe, Ungestalte“ zugunsten der von eben jenen Barbaren bedrohten „besten Kräfte“.149 Selbstaussagen wie diese veranschaulichen die biographische und theoretische Ausweglosigkeit, in die Hölderlin nicht zuletzt sein eigenes Dichtungs- und Dichterverständnis trieb. Der Umstand, daß die Näherung an die idealische Welt (der Götter) im lyrischen Text in Passivität des Sprechers umschlägt, erweist sich als Gegenstück zu diesen Selbstaussagen. Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, so ließe sich die ‚Schizophrenie‘ oder die ‚Schizophase‘ Hölderlins nicht nur psychologisch-biographisch oder politisch erklären,150 sondern auch mit seinen poetologischen Überlegungen in theoretischen Fragmenten und in der Lyrik zwischen 1799 und 1801 parallelisieren, wenn nicht deuten.151 Der 147 Hölderlin, Friedrich: 174. An die Mutter, Homburg. im Jan. 1799, in: Hölderlin 1992–94, III, S. 335–342, hier S. 338. 148 Hölderlin: 180. An den Bruder, Homburg. d. 4. Jun. 1799, in: Hölderlin 1992–94, III, S. 354–360, hier S. 355. 149 Ebd. 150 Zur Erklärung von ‚Hölderlins Umnachtung‘ aus dem komplizierten Mutter-SohnVerhältnis und der Unterdrückung des Familienmitglieds ‚Hölderlin‘ Franz 1980–81; zur Erklärung aus den zeitgeschichtlichen Ereignissen, aber auch aus dem Zerwürfnis mit seinem Freund Sinclair Dietrich Uffhausen 1984–85, bes. S. 313 f. 151 Solche Versuche liegen vor, und zwar in bezug auf Hölderlins ‚ursprüngliches‘ Ver-
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ewige „Widerstreit“ reizt und überfordert den Autor und die Person Hölderlin zugleich: den Dichter als Menschen und den Menschen als Dichter. Auch Achim von Arnims frühe poetologische Lyrik behandelt diese Ambivalenz der idealischen Poesie. Es verwundert deshalb nicht, daß er und Bettina von Arnim zu den ersten Autoren gehören, die sich intensiv mit Hölderlin befassen. Arnim versetzt den Poeten aber selbst schon auf den Olymp: Sein Dichter glaubt sich Gott – und scheitert kläglich, wenn auch spielerischer als Hölderlins Sprecher. Dafür ist aber nicht allein das Menschsein von Arnims Dichter die Ursache; er geht auch an den sozialen Verhältnisse von ‚Himmel und Erde‘ zugrunde: am Gegensatz von eingespielter Rollenerwartung und menschlichem Bedürfnis.
3. Achim von Arnim: polyperspektivische und multi-mediale Poetik Nur wenige nicht-poetische Schriften geben Aufschluß über Arnims spielerische und doch erstaunlich moralische Poetik. Zu den raren Ausnahmen zählt die Rede über Das Wandern der Künste und Wissenschaften (1798). Dort entfaltet Arnim ein Modell der Läuterung für die „Menschheit“.152 Es ruht auf der starken geschichtsphilosophischen Annahme, die „Menschheit“ schreite zu ihrem „erhabensten Ziele“, zur „Vervollkommnung“ fort.153 Der Redner zeichnet eine aufsteigende Linie für eine Moralisierung der Menschheit – von der „Zerstörung“ der Antike bis in die jüngste Geschichte.154 Als wichtigstes Mittel der Moralisierung gilt ihm die Poesie.155 Mit ihrem „Stoff“, ihrem „Ge-
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ständnis des Tragischen und in bezug auf den Begriff des Zorns; siehe Schmidt 1967/68; Schadewaldt 1957; Müller-Seidel 1981. Achim von Arnim: Das Wandern der Künste und Wissenschaften. Rede, gehalten den 28ten März 1798 im Hörsaal des Königl. Joach: Gymna: von Lund: [...], in: ders. 1989–94, VI, S. 20–36, bes. S. 24: „[...] so läuterte Wechsel und Veränderung endlich wohltätig die Menschheit[.]“ Ebd., S. 23. Ebd., S. 22 [Hervorhebungen im Original]: „Wahrlich, wir wandern auf einer Welt der Zerstörung, unser Fuß tritt menschlicher Weisheit Denkmale, die Denkmale ganzer Menschenalter, die auch des glücklichsten Erfolgs sich rühmen; der Rausch entfliehet, der Nebel fällt, wir blicken umher und finden Vernichtung nicht bloß in den Erschütterungen unsrer Zeiten, unsrer Staaten, Vernichtungen schon in Griechenland wie in Indien.“ Ebd., S. 34.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
schmack“, ihrem „kritischen“ „Originalgeist“ wende sie sich gegen die „Nachahmungssucht“, gegen die „Feindin“ der Dichtkunst.156 Dabei orientiere sich die wohlverstandene Poesie an den Mustern der Alten – jedoch nicht bloß, um es diesen gleich zu tun, sondern um diese für Neues zu gewinnen. Arnim hebt sich also nicht radikal gegen die ‚Anciens‘ ab, sondern er versucht, Altes und Neues zu verbinden. Romantische Poesie-Reflexion kommt hier vergleichweise traditionell daher. Mehr noch: Sie ruft neo-stoische Topoi auf. Wie im Fall des Novalis führen nur graduelle Verschiebungen in den dichterischen Praktiken von der Spätaufklärung zur Romantik. Denn der ‚wahre Schriftsteller‘ mäßige, schreibt Arnim, seine Begierden zugunsten höherer Ziele.157 Er ist der ideale Bürger – oder gar der ideale „Weltbürger“.158 Anders als der Kosmopolit Christoph Martin Wielands glaubt Arnims „Weltbürger“-Poet allerdings an einen „Übergang“ zu ewiger Wahrheit oder Weisheit. Sein geschichtsphilosophisches Läuterungsmodell kennt dafür zwei Wege: einen moralisch-ethischen, der auf die Bildung des Selbst zielt, um Welt als eine „Werkstätte der Kunst“ zu verstehen,159 und einen heldischen, der – im Zweifel durch Blutvergießen – auf die Vernichtung des Unwesentlichen oder Verdorbenen setzt. Dieses doppelte moralisch-aufklärerische und geschichtsphilosophisch-romantische Läuterungsmodell wirkt in der frühen poetologischen Lyrik Arnims nach. Im Jahr 1802 beginnt Arnim mit einem umfangreichen literarischen Projekt, für das er sich einen „Zweifelsprophet[en]“ erfindet: Ariel Wunderkind’s Offenbarungen, so heißt es vorläufig.160 Es trägt den Namen des „zärtliche[n]“ Luftgeistes, der aus Shakespeares The Tempest (1611)/Der Sturm (deutsche Aufführung von Wieland im Jahr 1761) bekannt ist.161 Dort spukt Ariel als „Diener des Schiksals“ so erfolgreich für seinen Gebieter Prospero,162 daß dieser ihm die Freiheit schenkt. Auf seinen Reisen durch Europa verfertigt der junge Arnim 156 Ebd., S. 34 f. 157 Ebd., S. 25 u. 33. Arnim gelten Genie, Charakter und Manier bloß als liebenswert. Vgl. den satirischen Aufsatz Achim v. Arnim: Ueber Manier und Charakter [entstanden um 1801], in: ders. 1989–94, VI, S. 115–118. 158 Arnim: Das Wandern (wie Anm. II., 152), S. 36. 159 Ebd., S. 23 f. 160 Achim v. Arnim an Clemens Brentano, Zürich den 9 July 1802, in: Arnim u. Brentano 1998, Brief 9, S. 16–23, hier S. 16 f. 161 Shakespeare 1993, I,3, S. 24; vgl. Sternberg 1983, S. 129. 162 Shakespeare 1993, III,4, S. 82.
3. Achim von Arnim: polyperspektivische und multi-mediale Poetik
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Beiträge für ein Buchprojekt, das er dem treuen Luftgeist widmet. Ariel’s Offenbarungen (1804), so nennt er es für die Publikation; sich selbst führt er als Herausgeber an (Abschnitt a).163 Dabei erinnert der Begriff „Offenbarungen“ an das Läuterungsmodell für die „Menschheit“ aus Arnims Rede. Offenbart der „Zweifelsprophet“ oder das „Wunderkind“ die Lehren der Rede in literarischer Form? Prophezeit er künftige Zustände auf der Erde oder zweifelt er vielmehr daran? Schon der paradoxe Titel „Zweifelsprophet“ gibt Rätsel auf und führt von Ariel’s Offenbarungen zu einem anderen poetologischen Text, zu Arnims Gedicht über Ixion, dem ‚verzweifelnden‘ Dichter (Abschnitt b).
a) Heymars Dichterschule (1804) und der „Zweifelsprophet“ Ariel: poetische Läuterung – geselliger Dichterspaß Um die poetologischen ‚Offenbarungen‘ Ariels zu ermitteln, konzentriere ich mich auf den zweiten Teil des Gesamttexts, auf die Dichterschule des geheimnisvollen mythischen Helden Heymar.164 Er wird als Lehrer zahlreicher Dichterschüler eingeführt, zu denen auch eine Figur namens Ariel gehört. Heymars Dichterschule besteht ihrerseits aus zwei Teilen bzw. aus zwei Gesängen.165 Heymar, der Meisterdichter, verantwortet den ersten Gesang, den „Unterricht nach Gemählden und Erzählungen“; im zweiten Gesang nehmen die Schüler seine Lehren ganz eigenständig auf, wenn der Titel auch nur von „Anwendungen“ 163 Der genaue Titel lautet: Achim v. Arnim (Hg.): Ariel’s Offenbarungen. Roman. Erstes Buch (siehe Arnim 1912). Ein zweites Buch ist nicht erschienen. 164 Der Lehrer, so schreibt ‚Schüler Ariel‘ in seinen nachgelassenen Schriften über Heymar, habe nach dem Tod des Odingeschlechtes das einzige aus diesem Geschlecht verbliebene Kind Aslauga in der Zither gerettet und ein neues Zeitalter der Kunst eingeleitet. Arnim spielt mit seiner Legende über das Odingeschlecht auf die „Saga von Ragnard Lodbrock und seinen Söhnen“ an, eine Übersetzung französischer Texte über einen ‚isländischen Mythos‘; Karl Viktor von Bonstetten 2000; siehe Arnim 1912, Kommentar, S. 315. Die Thematik erinnert auch an eine berühmte Fälschung, nämlich an die Gesänge des vermeintlichen gälischen Dichters Ossian, die James Macpherson erfand, und die auch in Deutschland mit Begeisterung aufgenommen wurden; siehe ebd. „The War of Caros“ etwa beginnt mit folgender Szenerie; Macpherson 1783, Vol. II, S. 15: „Bring daughter Toscar, bring the harp; the light of the song rises in Ossian’s soul. It is like the field, when darkness covers the hills around, and the shadow grows slowly on the plain of the sun.“ Aber die Ähnlichkeiten zwischen beiden Texten bleiben vage. 165 Ricklefs 1990, S. 52.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
spricht. Im Blick auf beide Textteile ergibt sich folgendes Kommunikationsmodell: Heymars Dichterschule 1. Ebene. Herausgeberfiktion: ‚Achim von Arnim‘ 2. Ebene. Prophet/Autor zweiter Ordnung:166 Ariel 3. Ebene. Quellen: Bilder, Mythen und Geschichten Erster Gesang 4. Ebene. Autor dritter Ordnung: Heymar Zweiter Gesang 5. Ebene. Autoren vierter Ordnung: Dichterschüler – u. a. Ariel 2 6. Ebene. Autoren fünfter Ordnung: die Malerin Kryoline (teils nach Hinterlassenschaften von Ariel 2)
Beide Texttteile schließen eng aneinander an und sind durch intertextuelle Bezüge verknüpft. Entsprechend bauen ihre Kommunikationsebenen so aufeinander auf, daß sich ein Schichtenmodell ergibt. Dieses kann aber nicht einfach hierarchisch gelesen werden; vielmehr entsteht ein polyperspektivisch vermitteltes lyrisches Drama;167 die arabischen Ziffern geben über die Reihenfolge seiner Texte Auskunft: Erster Gesang Unterricht nach Gemählden und Erzählungen Zueignung an die Sänger der Nacht. Die Dichter (I.) Die beyden Lautenspieler aus der italienischen Malerschule 1. Von Anton Caracci. 2. Von Prete Genoese (II.) 3. Der Sackpfeifer von Franz Mieris d. J. 4. Dichterglück und Unglück [Erzählung von Louis Camoëns]
Zweiter Gesang. Anwendungen zu Gemählden und Erzählungen von seinen Schülern Zueignung. Die Dichterschüler an Heymar. [Verf. Treubold]
1. Dichterglück und Unglück. Die zweyte Hochzeit. [I. Ausgang: Verf. Ariel] [II. Ausgang: Verf. Adolf]
166 Bei den Autoren höherer Ordnung handelt es sich im Prinzip um Figuren. Im Text fungieren sie aber als Autoren, d. h. sie zeichnen mit ihrem Namen für bestimmte Abschnitte, für einzelne Gedichte oder Textfragmente verantwortlich. 167 Die hilfreiche Beschreibung ‚lyrisches Drama‘ führte Roger Paulin ein; ders. 1986, S. 112–119.
3. Achim von Arnim: polyperspektivische und multi-mediale Poetik
5. Dichterleben Herkules beym Spinnen von den Weibern ausgelacht. (Gemählde von Dominichino [...].) 6. Dichterwohnung. Der Klarenberg an den Wanderer. (Zeichnung eines Ungenannten.) 7. Dichterwahn. Drei Gemählde von Augustin Caracci. 8. Dichterruhe. Archimedes und der römische Soldat. Gemählde von Grätsch. 9. Dichterschmerz. Achilles. (Gemählde von Füger, [...].) 10. Dichterliebe. Io von Correzzio. 11. Dichterlohn. Ganymed von Correzzio.
Dichteraussicht 12. Das Paradies der Erde. (Gemählde von Breughel [...].) 13. Das Paradies des Himmels. (Ein heiliges Haus, Gemählde von Carl Maratti [...].) 14. Wahre und falsche Sänger. Eunom und Arist. 15. Dichtertod. Phaeton.
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4. Dichterleben [Verf. Der Jude Rabuni]
5. Dichterruhe. Der Dichter als Geschäftsmann. Das Pflugmesser. [Verf. Treubold] 6. Dichterschmerz. Der Dichter in der Fremde. [Verf. Der Grieche Iliades] 9. Dichterliebe. [Vogelgedicht III] [Verf. Adolf] Dichterlohn. 7. Die Sängerinn und ihre kleinen Lieder. Die kleinen Nachtigallen im Nest. 8. Die Sängerinn, die Nachtigallen. [Verf. Pauline] 10. Dichteraussicht. Der alte Dichter. [Verf. Der Grieche Iliades]
11. Wahre und falsche Sänger. Pendellied. [Verf. Ariel] 3. Dichtertod. Der Ertrunkene bei Mölk. [Verf. Adolf] 2. Das Schicksal als Dichter. [Verf. Der Jude Rabuni] [Brief der Kryoline an Kyane mit einem Auszug aus den Schriften des Ariel und Nachschriften] Das Sängerfest auf Wartburg.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
Der erste Teil von Heymars Dichterschule enthält fünfzehn Gedichte; ihnen stehen im zweiten Teil elf Gedichte entgegen. Zehn (also fast alle) Gedichte des zweiten Teils tragen dieselben Titel wie Gedichte des ersten Teils; sie bilden kleine Zyklen, die sich über beide Gesänge erstrekken und inter- und transtextuelle Gebilde darstellen. Dabei referieren drei Gedichte des ersten Teils auf geschriebene Geschichte: auf den portugiesischen Dichter Louis Camões (1524–1579), auf die Mythen über Eunom und Arist sowie über Phaëton. Doch bei der größten Zahl der Gedichte des ersten Teils handelt es sich um Bildgedichte,168 und zwar ausnahmslos um Gedichte auf Gemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Ulfert Ricklefs machte darauf aufmerksam, daß diese Gedichte „ein Panorama der Dichterexistenz“ bieten, ein Panorama einer „neuartigen assoziativ allegorisierenden Art“.169 Ich will mich diesen komplexen Text-Bild-Verknüpfungen widmen, die bisher nur in Ausschnitten erschlossen sind. Es wird sich zeigen, daß es sich bei diesen Gebilden – erstens – um Rollengedichte handelt, die nicht nur über die Dichterexistenz, sondern auch über Kunst, über den künstlerischen Schöpfungsprozeß und über seine Grenzen Auskunft geben, daß die Schüler – zweitens – heftig von Heymar und seinen Rollenzuweisungen für den Dichter abweichen und daß – drittens – die Position des Autors (erster Ordnung) nur im Gang durch diese Abweichungen und Verschiebungen zu ermitteln ist.170 Arnim erhebt, so meine These, Kunst und Dichtung zu den Existenzformen schlechthin, steht demzufolge noch in der romantischen Tradition einer reflexiven Universalpoesie, nimmt diese aber insofern zurück, als er bewußt nach den Grenzen dieser alles umgreifenden Poesie fahndet. Er wird diese Grenzen, wie ich zu zeigen versuche, dort setzen, wo Poesie den Dichter als Menschen überfordert. Arnims Zyklus steht damit – wie schon für Das Wandern in den Künsten und Wissenschaften angedeutet – in einer Traditionslinie der Poetik, die sich weniger auf idealische als vielmehr auf spätaufklärerische Muster berufen kann. In Ariel’s Offenbarungen geht es Arnim – so viel läßt sich vorwegnehmen – einerseits um ein Modell für Poesie, das er dem christlichen Denkmuster einer Läuterung des Menschen aus Das Wan168 Über die besondere Bedeutung des Bildgedichts in der Romantik Pestalozzi 1995. 169 Ricklefs 1990, S. 52. 170 Sternberg betont, wie brüchig der Zusammenhalt von „Ariel’s Offenbarungen“ sei, bemüht sich aber auch nicht, diese Brüche genau zu erläutern oder die Bruchstücke interpretatorisch zusammenzufügen; vgl. ders. 1983, S. 46 f.
3. Achim von Arnim: polyperspektivische und multi-mediale Poetik
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dern der Künste und Wissenschaften entlehnt und auf die Kunst überträgt. Andererseits führt er – im zweiten Teil der Dichterschule – ein freudvolles Beisammensein in einer Gesellschaft von Dichterfreunden vor, die sich wahllos mit all den Wissensbereichen vertraut machen, die dem gebildeten Individuum im Ausgang des 18. Jahrhunderts zu Gebote stehen und das poetologische Läuterungsmodell herausfordern. Berücksichtigt man das Läuterungsmodell, dann ist es kein Zufall, daß Arnim für den – tendenziell idealischeren – ersten Teil der Dichterschule vierzehn Bilder angibt, auf die sich seine Gedichte beziehen: Bild und Text ahmen nicht nur die vierzehn Stationen eines Kreuzwegs nach, sondern gehen im Ausgang des ersten Teils der Dichterschule sogar in die christliche Thematik über. Die Stationen des Dichters bilden seinen ‚Dienst an der Kunst‘ ab und fordern von ihm, sich und sein (ohnehin nur illusionäres) Leben für die Kunst zu opfern. Konsequenterweise stirbt der idealische Dichter Heymars am Schluß seines Martyriums einen ruhmvollen Tod. Seine geselligen Schüler wehren sich gegen diese unmenschliche Lehre – spielerisch und mit Argumenten, die den Arnim der Rede Das Wandern der Künste und Wissenschaften beeindruckt haben müßten. Doch schließt der zweite Teil nicht mit einem Gegenstück zu Dichtertod, sondern mit dem karnevalesken Sängerfest auf Wartburg. Das Ergebnis bleibt offen; Arnims Poetik läßt sich weder als christlich noch als moralisch beschreiben. Handelt es sich bei den ‚Offenbarungen‘ des Ariel also tatsächlich um Arnims „poetologisches Glaubensbekenntnis“?171 Die Antwort auf diese Frage liegt in den komplexen Text-Bild-Verbindungen des ersten Gesangs, die die Themen für den zweiten Gesang vorgeben: Heymar dichtet über Rollenbilder für den Dichter, weniger über das Bild oder die Erzählung, von dem das jeweilige Gedicht ausgeht. Seine Gedichte erweisen sich gleichwohl nicht als bloß assoziativ, sondern vielmehr als sorgsam konzipiert. Sie sind auf den Zusammenhang von Heymars Dichterschule hin angelegt. Aus dem Wechselspiel von Text und Bild entwickeln sich die Aussagen, die Heymar veranschaulichen will. Seine Text-Bild-Verbindungen wirken intermedial, erfüllen damit eine der Forderungen romantischer Kunsttheorie, wie sie von August Wilhelm und Friedrich Schlegel her bekannt ist:172 Sie tragen zur Erinnerung und Wiederherstellung der ‚Ursprache‘ bei, die ein Neben- und Miteinander aller Zeichensysteme gekannt habe und 171 Den Begriff entlehne ich R. Paulin 1986, S. 114. 172 Zusammenfassend Becker 1998, S. 191.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
empfehlen sich durch diese Gattungsmischung für den romantischen Kanon ‚hoher Kunst‘.173 Vor dem Hintergrund dieser mythischen Vorstellungen über das Zusammenwirken und Zusammenfallen unterschiedlicher Kunstformen nutzt und unterwandert Arnim das ‚ut pictura poesis‘-Gebot, das sich als eine moralische Interpretation aus der Ars poetica des Horaz entwickelt hatte.174 Der Horaz-Rezeption zufolge galten Malerei und Dichtung als Schwesternkünste, wobei die Poesie der Malerei zu folgen hatte. Es lag deshalb – auch – an diesem Gebot, daß die Malerei der Frühneuzeit wesentlich allegorisch und daß Dichtkunst vor allem Beschreibungsliteratur war. Embleme hatten Hochkonjunktur. Arnim hingegen kehrt die Emblem-Struktur um: Zwar weisen die Gedichte aus dem ersten Teil von Heymars Dichterschule die klassische Dreiteilung des Emblems in lemma, pictura und subscriptio auf.175 Aber Arnim bedient sich der Malerei, präsentiert sie als integralen Bestandteil seiner Bildgedichte, deutet sie – in einem Verfahren der doppelten Allegorese – seinerseits allegorisch: Alle Gemälde bezieht er auf poetologische Themen, über die sie nur mittelbar Auskunft geben. Im besten Fall sprechen sie über Arten und Weisen der Schöpfung in einem weiten Sinne. Der junge Dichter, der die Galerien und Museen seiner Reiseorte besuchte, betrachtet das Museum in der Tat als einen „Tempel der Kunst“:176 als einen Tempel, in dem er einen ausgesprochen eigenwilligen Gottesdienst feiert. Mittelpunkt desselben ist eine poetologische Grundfrage, nämlich diejenige nach der Orientierung des Dichters entweder auf ein Ideal oder auf Wirklichkeit. 173 F. Schlegel: Fragmente [Athenäum] (wie Anm. II., 2), [372] S. 233: „In den Werken der grössten Dichter atmet nicht selten der Geist einer andern Kunst. Sollte dies nicht auch bei Malern der Fall sein; malt nicht Michelangelo in gewissem Sinn wie ein Bildhauer, Raffael wie ein Architekt, Correggio wie ein Musiker? Und gewiss würden sie darum nicht weniger Maler sein als Tizian, weil dieser bloss Maler war.“ 174 In der „Ars poetica“ leiten die Worte „ut pictura poesis“ bloß Überlegungen über die Rezeption von Kunst ein; ein Gebot läßt sich dem Text nicht entnehmen. Vgl. Horaz 1972, V. 361–365: „[...] eine Dichtung ist wie ein Gemälde: es gibt solche, die dich, wenn du näher stehst, mehr fesseln, und solche, wenn du weiter entfernt stehst, dieses liebt das Dunkel, dies will bei Lichte beschaut sein und fürchtet nicht den Scharfsinn des Richters; dieses hat einmal gefallen, doch dieses wird, noch zehnmal betrachtet, gefallen.“ Siehe auch Arburg 1998. 175 Auf die emblematische Struktur wies schon Nienhaus (2000, S. 185 u. 188) hin – allerdings dergestalt, daß er in ihr ein Verfahren „religiöser Reflexionspoesie“ und einen Ausdruck quasi-barocken Lebensgefühls erblickt (ebd., S. 188). – Ich komme später auf die religiöse Deutung von Nienhaus zurück. 176 Vgl. Ziolkowski 1992, S. 417.
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Diese Grundfrage wird bereits im ersten Teil der Dichterschule eingeführt: Unter dem Titel Die Dichter versammelt Heymar drei Gedichte.177 Es handelt sich um die einzigen Bildgedichte ohne Entsprechungen in Teil zwei.178 Denn die Dichter, allesamt Musiker,179 widerlegen und kommentieren sich nicht nur wechselseitig, sondern prägen auch jene Vielfalt der Positionen aus, wie sie sich im Zusammenspiel beider Teile der Dichterschule ergeben: Heymars erster Lautenspieler steht für den heldenhaften Sänger heiliger Poesie, der zweite stellt einen Liebesdichter dar. Demgegenüber erweist sich der Sackpfeifer als schlechter und erfolgloser Sänger. Sein Schicksal überführt die idealischen Dichtungsauffassungen des Heldendichters und des Liebesdichters in ihr Gegenteil. Zusammengenommen repräsentieren die drei Poeten die ‚Urformen‘ oder die Grundtypen des Dichters, von denen Arnims Text handelt. Antonio Carraccis (1583–1618) Lautenspieler dient als Vorlage für das erste Dichter-Gedicht und damit für den ersten Dichter-Typus. Das Bild zeigt einen aufmerksam schauenden, dunkel gekleideten Sänger mit Bart, Mütze und Knickhalslaute. Mit der linken Hand greift er einen komplizierten Akkord, einen Barréegriff, der seine Kunstfertigkeit demonstriert. Carracci hält den Hintergrund des Bildes sehr schlicht; bloß der Schatten des Meistersängers ist zu erkennen, denn das Licht fällt von vorn auf sein Gesicht, um ihn zu erleuchten. Sein Bild ist sparsam, aber eindrucksvoll gestaltet. Heymars Sonett fängt die puristische Vorlage einerseits ein, andererseits begabt er seinen Sprecher mit mehr Emphase, als sie dem Sänger Carraccis zuzutrauen wäre. Gleich das erste Quartett versetzt seine Vorlage in Bewegung: „Die Laute tönt, mit vollen Segeln rauscht Ge177 Arnims Dichtungen werden zitiert nach ders. 1912 und ders. 1989–94, V; textkritisch zu Ricklefs Edition (Arnim 1989–94, V) Moering 1995. – Die historisch-kritische Ludwig Achim von Arnim-Ausgabe (Weimarer Arnim-Ausgabe) sieht eine NeuEdition der Gedichte vor, die in Kürze erscheinen wird, hier aber noch nicht genutzt werden konnte. 178 In Arnim 1912 sind die Bezugsbilder aus der „k.k. Galerie“ genau nachgewiesen. Als Quelle dient Rosa 1796. Joseph Rosas Katalog der Galerie enthält knappe Bildbeschreibungen und -bewertungen, von denen sich Arnim während seiner Besichtung der Galerie möglicherweise zwar leiten läßt, die er aber mit keinem Wort übernimmt. – Den Titel des Katalogs (und andere Nachweise) erfragte der Herausgeber Jacob Minor bei Th. v. Frimmel, einem Kenner der Wiener Galerien; vgl. Arnim 1912, Kommentar, S. 307. 179 Mit dem „Sängerfest auf Wartburg“ im zweiten Teil schließt sich der Themenkreis von Musik und Poesie.
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Antonio Carracci Lautenspieler. Kunsthistorisches Museum, Wien, Inv. Nr. GG 269; Rosa 1796, I, S. 173, 10.
sang.“180 Das Bild der Seefahrt und sein Gebrauch in den folgenden Versen legen den Text auf ein ernstes Thema fest: auf den Existenzkampf im bedrohlichen Element. Es geht um einen „Sinn“, den das bloße Wort nicht erfassen kann, und der erst im „tiefen Melodienklang“ zu 180 Arnim: Der Dichter, in: ders. 1912, S. 152, 1. Strophe.
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Tage tritt.181 Musik gestaltet, was Poesie nicht auszudrücken vermag. Die zweite Strophe enthüllt den religiösen Hintergrund dieser Sinnsuche, und die Bildlichkeit des Sonetts wandelt sich. Das Sänger-Ich spricht von seiner „Andacht Strömung“, die anschwillt und „brausend“ einen „kühnen Plan“ ‚gebirt‘.182 Es will das heilige Grab retten: „Der Himmel hat zum Ritter mich erkoren, / Das Heidenthum soll untergehen, / Ein Engel wird an meiner Seite stehen.“183 Der Sänger hört seine religiöse Berufung, in die er sich jedoch selbst ‚hineinsang‘. Er schwört, bis zum Untergang zu kämpfen – und weiß sich seines Nachruhms sicher. Sein Kreuzweg beginnt mit der Erwählung. Auf diese Weise prägt die Rolle des Heldendichters der Dichterschule ihre Wahrnehmungs- und Deutungsmuster auf. An dieser Rolle müssen sich Lehrer und Schüler messen lassen. Aber schon Heymars Auffassungen erweisen sich nie als ganz mit der jeweiligen Rolle identisch, die er schildert. Er sucht immer auch nach ihrem Gegenstück – obwohl er, wie sich zeigen wird, die Dichter- und Dichtungsauffassung von Carraccis Sänger bevorzugt. Wenn Heymars Gedicht auf Bernardo Strozzis (gen. Prete Genovese, 1581– 1644) Lautenspieler nicht minder temperamentvoll klingt als dasjenige auf Carraccis Barden, dann relativiert es dieses aber gleichwohl. Denn Strozzis Sänger weiht sich einem anderen Kult. Der junge Mann trägt edle Kleidung: ein weißes Hemd, blaue und braune Gewänder sowie einen roten Hut, in den zwei weiße und eine schwarze Feder gesteckt sind. Das Rot des Huts stimmt mit dem auffälligen Rot-Ton des vollen Gesichts überein. Möglicherweise spielt der Lautenist schon lange und angestrengt; jedenfalls stimmt er sein Instrument gerade (nach). Heymar deutet die Aufregung von Strozzis Lautenspieler als „Liebesgluth“.184 Um diese in Worte zu fassen, weicht er aber erstaunlicherweise von der Sonett-Form ab, die doch als typisches Genre für amouröse Themen gilt. Er wählt eine offene Form, die vor allem durch die Struktur des Endreims auffällt (a a a a b b / c c c c d d / e e e e f g g f h h). Auf diese Weise verleiht er dem Text Tempo, und das ist auch schon sein wesentlicher Inhalt: Der ‚Liebeswütige‘ rast. „Im Rausche schweigen Gefahren“, notiert der Sprecher kritisch, und das Leben ‚verbren181 182 183 184
Ebd. Ebd., 2. Strophe. Ebd., 3. Strophe. Arnim: Der Dichter, in: ders. 1912, S. 153, 1. Strophe.
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Bernardo Strozzi Lautenspieler. Kunsthistorisches Museum, Wien; Inv. Nr. GG 1612; Rosa 1796, I, S. 183. 25.
ne‘ „rasch“.185 Heymar interpretiert Strozzis Lautenspieler als wagemutigen Liebesdichter und distanziert sich von dieser Dichterrolle. 185 Ebd. u. 2. Strophe.
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Denn für den Liebesdichter zähle allein die Gegenwart; er denke nicht an die Zukunft oder – wie der Heldendichter – an eine höhere Berufung.186 Daß beide Dichterrollen Probleme hervorrufen, zeigt Heymars Versifikation des „Sackpfeifers von Franz Mieris dem Jüngeren“, einem Gemälde, das Arnim noch in der „k. k. Galerie“ besichtigen konnte,187 das aber mittlerweile verschollen ist. Nur die Beschreibung aus dem Katalog Joseph Rosas ist noch erhalten: Ein Sackpfeifer, der sein Instrument in einer lachenden Mine mit beyden Händen hält. Ueber dem Tische ist ein Krug, ein Gefäß mit Feuerkohlen, und eine Tobackspfeife zu sehen. Im Kleinen; auf Holz.188
Rosa schildert einen burschikosen Handwerker-Sänger in entsprechender Umgebung. Heymar nimmt das Bild ganz anders wahr: „Ein recht gemeines Lied durchkreischt mit eklem Grinsen [...]“,189 schreibt er – von Volksnähe und Verehrung des Handwerks keine Spur. Der Sackpfeifer wird ihm zum Exempel des schlechten Dichters, der mit blauen Lippen, freudlos, heiser und mit „Begeistrung ohne Geist“ singt.190 Ihm ist der Weg zur Liebesdichtung ebenso verwehrt wie derjenige zur religiös inspirierten Heldendichtung. Als Poet scheitert er an inneren Grenzen, an mangelndem Talent. Diese Grenzen werden zum Generalbaß der Dichterschule. Er zeigt an, daß die Rollen des Dichters brüchig sind. In diesem Sinne steht der portugiesische Dichter und Seefahrer Camões wiederum für einen Heldendichter. Anders als der erste Lautenspieler geht er an äußeren Existenzbedingungen zugrunde, zerbricht an der gesellschaftlichen Hierarchie und stirbt in Armut.191 Camões war, schreibt Heymar in Dichterglück und Unglück, ein „Krieger“, der „für uns verdarb.“192 „Doch trauert nicht, die Dichtung gab ihm Schätze,“193 besänftigt er und verdeutlicht ein weiteres Mal sein idealisches Bild 186 Ebd., 3. Strophe: „Drum laut ihr Saiten erklinget, / Bis ihr noch tönend zerspringet, / Rauscht Feuerlieder hin, in Wechselmelodie, / Lebt in der Gegenwart, die Zukunft sah ich nie.“ 187 Ebd., S. 154. 188 Rosa 1796, II, S. 141, 34. 189 Arnim: Der Dichter (wie Anm. II, 184), S. 154. 190 Ebd. 191 Vgl. R. Paulin 1986. 192 Arnim: Dichterglück und Unglück, in: ders. 1912, S. 155. 193 Ebd.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
vom Heldendichter, dem der historische Camões entsprach: Wegen seiner Liebe zu einer Dame des Palastes wurde er verbannt, verfaßte in einer Grotte ein Heldengedicht; als er nach Portugal zurückkehren durfte, sank sein Schiff. Er rettete sein Werk.194 Um die besondere Leistung des Camões zu betonen, kehrt Heymar die Allegorie von des Dichters Seefahrt um: Heymars Dichter leitet keine Ausfahrt in das Land der Seligen – wie der Dichter aus Dantes „Paradiso“ (Göttliche Komödie) –,195 sondern er erleidet Schiffbruch. Heymar stilisiert den Portugiesen zum verunglückten Dichterhelden, aber die Schüler korrigieren Heymar, indem sie den Minnedienst des Camões würdigen: In der zweiten Fassung von Dichterglück und Unglück. Die zweyte Hochzeit preist ein optimistischer Ariel 2 die Liebe,196 die keine Standesschranken kennt197 – ein Thema, das in Heymars Dichterlohn (nach Ganymed von Correggio) wiederkehrt und die Grenzen der Heldendichtung aus einer anderen Perspektive vorführt. Der menschliche Dichterheld versagt an der Liebe zum ‚Höheren‘, am Unerreichbaren, am idealischen Götterhimmel. Erster und zweiter Gesang reagieren also aufeinander: einmal betont der eine, ein ander Mal der andere die Grenzen der Poesie. Dabei liegen die Positionen über Dichter und Dichtung zu den beiden Teilen der Dichterschule quer. Sie spielen die Chancen und Grenzen der Dichterrollen wechselseitig durch, wie ich an ausgewählten Beispielen veranschaulichen will. Dichterleben nimmt das Thema vom Scheitern an der Poesie auf, und zwar als ein Scheitern sowohl an den inneren als auch äußeren Bedingungen der poetischen Existenz. Es wird auf ein Bild bezogen, das „Herkules beim Spinnen von den Weibern ausgelacht. Gemälde von Dominichino in der Sammlung zu München“ betitelt ist. Von Domenico Zampieri (gen. Domenichino, 1581–1641) läßt sich in der Tat ein Gemälde ermitteln, das diese Episode des Herkules-Mythos thematisiert.198 Aber es ist nicht mehr aufzufinden.199 Bleibt nur der Mythos von 194 Rosenkranz 1855, S. 618 f.; siehe auch R. Paulin 1986. 195 Vgl. über die vielschichtige poetologische Allegorie der Dichter-Schiffahrt Drux 1979; Häfner 2002. 196 Ariel taucht hier als eine Figur im Text auf; ich nenne ihn deshalb Ariel 2. 197 Adolf, ein Mitschüler, widerspricht Ariel 2 aber in seiner Version von „Dichterglück und Unglück. Die zweyte Hochzeit“; das Mißtrauen gegenüber der Liebesdichtung drücken auch die Vogelliedern und Heymars „Dichterliebe“ (nach „Jo“ von Correggio) aus. 198 Darüber hinaus werden ein Kupferstich und eine Schabung des Gemäldes erwähnt. Der Kupferstich stammt von Carlo Faucci (1729–um 1784), die Schabung von Jo-
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Herkules bei Omphale. Danach tötete Herkules einen kleinen Jungen, schien infolgedessen geistig umnachtet und erhielt von der Priesterin des Delphischen Orakels den Rat, sich in Sklaverei zu begeben. Hermes verkaufte Herkules an Omphale, für die er nicht nur spinnen und Frauenkleider tragen mußte, sondern auch viele Heldentaten vollbrachte, nämlich u. a. ihre Feinde, die Itoner, vernichtete. Als er Omphale verließ, war er geheilt. Für sein Sonett konzentriert sich Heymar auf die Empfindungen des spinnenden Herkules, also auf die Empfindungen des wahnsinnigen Helden im Heilungsprozeß. Die beiden Quartette deuten diese Empfindungen aus: „Der hohe Geist“ der besonderen Existenz fühlt sich auf Erden oft aus unbekannten Gründen unwohl.200 Er wird melancholisch, klagt selbst über so „leichte[] Müh’“ wie diejenige des Spinnens. Größere Auseinandersetzungen gewohnt, darf er „in der Erbärmlichkeit sich nicht zu zeigen wagen.“201 Das einfache Leben muß er zugunsten seiner Berufung fliehen. Heymar schafft eine ganz neue Konstellation für die Legende ‚Herkules und Omphale‘: aus Herkules wird Orpheus, aus Omphale eine Parze, möglicherweise die Schicksalgöttin Klotho, die Spinnerin, die den Schicksalfaden flicht und daraus den Text des Gedichts webt.202 Der „Orphische[] Gesang“ aber lenkt sie von ihrem Handwerk ab: Herkules gewinnt ewiges Leben,203 das Hauptthema des Gedichts. Bilder von Helligkeit, Glut, Strom und Feuer bekräftigen die besondere Bedeutung dieses hohen Ziels.
199
200 201 202 203
hann Peter Pichler (1765–1807); Pigler 1974, II, zu dem vielbearbeiteten Thema „Herkules und Omphale“ ebd., S. 119–124, hier S. 120. Hier irrt Ricklefs, der das Bild in der Alten Pinakothek München vermutet; vgl. Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1060. Zwar verfügt die Pinakothek über ein Bild, das Herkules beim Spinnen zeigt. Es handelt sich aber um Charles Antoine Coypels (1694–1752) monumentales Gemälde „Herkules und Omphale“ (1731) (München, Alte Pinakothek, [Blauel/Gnamm] Bildnr. 4572, Inv. Nr. 1168; Pl. Nr. 78/22; Öl/ Lwd. 180 x 133 cm.). Coypels Schriftzug ist auf dem Bild so deutlich zu erkennen, daß Arnim es nicht für ein Gemälde Domenichinos gehalten haben kann. Darüber hinaus weichen der Inhalt von Heymars Gedicht und das Gemälde Coypels stark voneinander ab. Beispielsweise spricht Heymar davon, daß Herkules „von den Weibern ausgelacht“ werde; Coypel zeigt aber nur Omphale im intimen Blick-Kontakt mit Herkules und bildet keine weiteren Frauen ab. Es bleibt bei der Themengleichheit, nämlich bei der Legende über Herkules und Omphale. Arnim: Dichterleben, in: Arnim 1989–94, V, S. 45, V. 1 u. 3: „Er fühlet schwere Weh’n, und weiß es nicht zu sagen[.]“ Ebd., V. 8. Vgl. über das Weben als Dichtungsmetapher Graevenitz 1992; Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1060; Greber 2002. Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1060.
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II. „Poesie der Poesie“: reflexive Universalpoesie und ihre Grenzen
Demnach erweist sich die Aussage von Dichterleben als eindeutig: Der besonders Begabte, der „hohe“, aber dem Wahn anheimgefallene Geist leidet am einfachen Leben, wird ausgelacht (so der Untertitel) und sucht sich von diesem Leid durch sein Schaffen zu befreien. Nähert er sich auf diese Weise dem Transzendenten und Idealen, so erreicht er ewiges Leben; er wird unsterblich. ‚Per aspera ad astra‘ – so könnte das Motto von Dichterleben lauten. Heymar hält für seine Schüler eine harte Lehre bereit. Danach muß der Dichter nicht nur ‚herkulische‘ Taten im Sinne eines menschenverachtenden Geistes vollbringen, sondern auch Spott ertragen können, an sich und am Leben selbst zugrunde gehen – oder, um es mit der Legende zu sagen: am Leben ‚wahnsinnig‘ werden.204 Daß die Lehre Heymars aber nur ein Extrem für die Poetik von Heymars Dichterschule darstellen kann, zeigt der Blick auf das zweite Dichterleben-Gedicht. Hier reagiert ein Schüler, „der Jude Rabuni“, ausgesprochen nüchtern und ablehnend auf die idealischen Vorstellungen des Lehrers. Rabuni wendet sich entschlossen dem gegenteiligen Extrem zu: Was zählt und sich als schwierig und herausfordernd erweist, sind Taten, nicht Worte oder Gesang. Der letzte Vers zeigt die traurige Folge dieser Auffassung vom ‚Dichterleben‘. Nimmt man sie ernst und denkt sie zuende, so kann nur das Sterben als höchste und einmalige Tat des Menschen gelten.205 Entsprechend kurz und schlicht ist das Elaborat des Schülers. Es muß sich an dem ausgefeilten Sonett Heymars messen lassen – und wirkt vergleichsweise kläglich. Vermutlich soll Rabuni also nur eine – schwache – Stimme im Lehrer-Schüler-Polylog darstellen. Er vertritt eine Dichtungs-Auffassung, die unter den Dichter-Figuren Arnims nicht üblich ist; sie kann vielmehr als eine Parodie romantizistischer Positionen aufgefaßt werden, wie sie im Zuge des WertherFiebers aufkamen. Es verwundert deshalb nicht, daß Heymars Dichterwohnung, die im zweiten Teil der Dichterschule wiederum kein Gegenstück hat, das Anliegen Rabunis poetologisch aufgreift und es didaktisch wendet: Der Todestrieb, den Rabuni dem Dichter zuschreibt, stellt sich hier als Abkehr von der „eitelen“ Welt dar.206 Heymars Dichter gibt sich dem 204 Die Widmung „An L.“ unterstützt diese Interpretation. Denn gemeint ist Louise Caroline Gräfin Schlitz (1773–1832), Arnims Tante, von der es heißt, sie sei gebildet aber langweilig, voll ‚falscher Imagination‘ (ebd., S. 1060 f.). Arnim mag sie vor Augen gehabt haben, als er die Figur des Heymar über das irdische Weh des Dichters schreiben ließ. 205 Arnim: Dichterleben, in: Arnim 1912, S. 190. 206 „Zueignung an die Sänger der Nacht“, in: Arnim 1912, S. 145–151, hier S. 157.
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„schönern Leben / Der ewigen Natur“ hin.207 Er entflieht der Stadt und zieht – wie Arnim im Jahr 1802 – auf den Kahlenberg bei Wien (als Briefadresse „Klarenberg“ genannt).208 Für Heymar ist der „Klarenberg“ ganz und gar positiv besetzt; er steht für ein harmonisches Leben in der Natur, in dem nur die Naturschönheit zählt. Der Text erinnert an die Zueignung von Heymars Dichterschule: Und singt ihr [die Sänger der Nacht] auch nicht kunstreich, so singt ihr doch wie der Vogel im Morgenglanz. [...] O warum waren es nur Augenblick, dieses leichte, herrliche Leben, wo alles erfreuet und nichts störet [...].209
Die anonyme Zueignung an die Sänger der Nacht, die dem Autor Ariel und den Positionen des Schülers Ariel 2 entsprechen könnte, umklammert die idealische Dichtung Heymars und versieht sie mit naturästhetischem Vorzeichen. Naturschönheit allerdings ist vergänglich, und mit ihr stirbt auch das „Lebensglück“.210 Deshalb wendet sich Heymars Dichter der Ewigkeit zu, deren Vorschein und Abglanz die irdische Welt (im Abendrot) darstellt. Erwartungsgemäß kehrt Dichterwahn, der nachstehende Text, das Natur-Ideal wieder ins Negative. Hier findet Poesie an unerlaubten Gefühlen ihre Grenze. Heymar bezieht diese Aussage wie in einem Kommentar auf drei ‚anstößige‘ Gemälde von Agostino Carracci,211 die nicht mehr aufgefunden werden können. Aus diesem Grund wird die Auswertung von Dichterwahn hier ebenso zurückgestellt wie diejenige der Gedichte von Dichterruhe und Dichterschmerz. So viel nur sei gesagt: All diese Texte sind durch das Thema des leidenden Dichters (Dichterruhe; zuvor: Dichterglück und Unglück, Dichterleben),212 der 207 Ebd. 208 Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1061. Die Zeichnung „Der Klarenberg an den Wanderer“, auf die Arnim anspielt, erweist sich als Fiktion, um die Reihe der Bildgedichte zu vervollständigen; vgl. ebd. 209 Zueignung an die Sänger der Nacht (wie Anm. II., 206), S. 146. 210 Ebd., S. 150. 211 Rosa 1796, I, S. 168, 2.3.: „Zwey Gemälde dieses vortrefflichen Künstlers, die aber um der unanständigen Vorstellungen willen gedeckt sind. Die Kupferstiche davon, von Augustin selbst verfertigt, kann man in der k. k. Hofbibliothek nachsehen.“ Ebd., S. 184, 26.[27.]: „Zwey Gemälde, die jenen N. 2. und 3. ähnlich, und als Gegenstücke derselben anzusehen sind; gleichfalls von ihm selbst als Kupfer gestochen.“ 212 Arnim: Dichterruhe, in: ders. 1912, S. 159: „Der Künstler labt der Sphären schöne Weise, / Leicht kann er alles Pöbels Spott ertragen, / Für heil’ge Kunst so Glück als Leben wagen“, so lautet die Kernaussage des Texts, die schon aus den vorhergehenden Gedichten Heymars bekannt ist. Er entwickelt den Text im Blick auf „Archimedes und der römische Soldat“, ein Gemälde des klassizistischen Zeichenlehrers
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unerfüllten und unerlaubten Gefühle (Dichterschmerz) mit anderen Texten aus Heymars Dichterschule verbunden.213 Das erste Dichterliebe-Gedicht führt das Thema der unerlaubten Gefühle, die der Poesie eine Grenze setzen, in differenzierter Weise weiter, und zwar am heiklen Beispiel der Liebe des Menschen zu den Göttern. Dichterliebe ermöglicht prinzipiell zwei Sichtweisen auf ihren Gegenstand: erstens kann der Dichter mit ‚den Menschen‘, zweitens – als ‚alter deus‘ – mit ‚den Göttern‘ identifiziert werden. Wie sich im Blick auf das zugehörige Bild erschließen wird, wäre er im ersten Fall der Verführte,214 im zweiten Fall der Verführer: Er wäre Jo oder Jupiter (Zeus), denn Arnim widmet sich Correggios (d. i. Antonio Allegri, 1489–1534) Gemälde Jupiter und Jo (ca. 1531–1534). Es zeigt die nackte Jo, die jungfräuliche Hera-Priesterin, wie sie von einer übermächtigen und sehr bewegten grau-blauen Wolke umfangen wird, aus der ein Männergesicht hervorscheint: das Gesicht des Zeus. Die HeraPriesterin, so wird deutlich, gibt sich dem Gatten ihrer Göttin hin, der eigentümlich verborgen bleibt, der sich ihr – wirklich oder bloß als eine Täuschung – in der Wolke vorstellt. Correggio entwarf sein Bild für einen Zyklus der Liebschaften des Zeus.215 Heymar wird es Anlaß zu einem Gedicht über verbotene Liebe. Der lyrische Text geht deshalb zeitlich wie räumlich weit über die Momentaufnahme des Bildes hinaus. Das erste Quartett führt in das J. Grätsch, der an der Berliner Akademie tätig war und die Berliner Akademie Ausstellung in den Jahren 1789 bis 1804 mit Historienbildern beschickte. „Archimedes und der römische Soldat“ konnte jedoch nicht gefunden werden. 213 Auch Heinrich Friedrich Fügers (1751–1818) Gemälde „Achilles an der Leiche des Patroklus“ war nicht zu ermitteln. Vgl. eines der raren Dokumente über Füger, nämlich den Ausstellungskatalog (Füger 1968), der ein ausführliches Bilderverzeichnis enthält. Arnim sah das Bild nach eigenen Angaben in der Sammlung der Malerakademie zu Prag; Arnim 1912, S. 160. Th. v. Frimmel zufolge kann es sich bei diesem Bild nur um eine Schabung von Vincenz Georg Kininger (1767–1851) handeln, der seit 1802 nach den Bildern Fügers arbeitete; Arnim 1912, Kommentar [von Frimmel], S. 309. Auch die Schabung ist nicht aufzufinden. – Mit Füger zeichnet Heymar ein Bild der Ilias, das Leidenschaften, Leiden, Freundschaft, aber auch Haß und Verblendung ahnen läßt. Die Kampfeslust des ‚viehischen‘ Kämpfers Achill wird dabei – wiederum ‚psychologisch‘ – aus einem unglücklichen Schicksal abgeleitet: Liebe und Freundschaft waren ihm nicht vergönnt; ihm blieb nur das Schlachtfeld. Sein Handeln erscheint vor diesem Hintergrund als verstehbar; Heymar gilt Achill sogar als Dichter-Held, als Vorbild für seine Schüler. 214 Ricklefs interpretiert in dieser Weise; Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1062 f. 215 Vgl. Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1062 f.: Der Auftraggeber war Herzog Federico Gonzaga, der Kaiser Karl V. den Zyklus schenken wollte.
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Corrreggio (d. i. Antonio Allegri) Jupiter und Jo (ca. 1531–1534) Kunsthistorisches Museum, Wien; Inv. Nr. GG 274, Lwd. 163,5 x 74 cm; 1601 in der Kunstkammer Kaiser Rudolphs II.; Rosa 1796, I, S. 170 f., 7.
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Thema ein: „Muß Liebe sich in Traumgestalt verhüllen, / Wenn Schranken süße Gegenliebe trennen“216 – diese Verse verweisen auf äußere Bedingungen, die den Partnern eine offene Liebe versagen, sie zu Heimlichkeiten nötigen. Gerade das Verbot facht die Liebe aber noch heftiger an als die gewöhnliche, so Heymar, und er setzt diese Ansicht mit Bildern von „Feuer“ und „Glut“ in Szene.217 Doch bedenkt er die Früchte dieser Liebe. Im zweiten Quartett löst er die innige Verbindung abrupt und stellt Jo gegen Jupiter. Erwacht sie, so wird sie „Verrat des Traumes Bilder“ nennen,218 sich betrogen fühlen. Das nachfolgende Terzett veranschaulicht die Trauer der Jo, die jedoch im abschließenden Quintett von der Sehnsucht eines „Wir“ überboten wird: Es lechzt umsonst nach Jo, die zu einem idealischen Bild erstarrt ist.219 Aufgrund der Kommunikationssituation liegt es nahe, das ‚Wir‘ in die Nähe des Zeus zu rücken. Zwar kann es nicht mit ihm identifiziert werden, denn Zeus hat seinen ‚Durst‘ an Jo schon gestillt. Aber das ‚Wir‘ begehrt Jo – wie zuvor Zeus. Wie Zeus, wenn auch aus anderen Gründen, erreicht es Jo nicht: Es ‚verarmt‘ „in der eig’nen Lust“.220 Steht das ‚Wir‘ für den Dichter oder die Dichter, dann verbindet es sich mit Zeus. Die Dichterliebe ist göttlicher Natur. Auch sie greift nach verbotenen Früchten, stärkt die eigene Liebe daran – und wird enttäuscht. ‚Dichterliebe‘ spielt Illusionen vor, verführt den Menschen, den Leser, die Angebetete. Dennoch fällt eine letztgültige Aussage über Dichterliebe schwer – zumal Arnim das Gedicht erst nachträglich so nennt und in den Zyklus der Bildgedichte aus Heymars Dichterschule einfügt.221 Denn den vollständigen Text des Gedichts schickte er Clemens Brentano bereits am 17. April 1802. Ursprünglich heißt es – wie der spätere Untertitel – Io von Corregio: Zum Schluß muß ich dir noch eine hiesige lustige Produktion von mir mittheilen, wenn du die verbalia auf io in der Grammatick ansiehest, so findest du auch pollutio, wenn du hier in der Gemäldegalerie in das sechste Zimmer kommst, so findest du ein wunderschönes Bild von Corregio, Io wie Jupiter sie in der Gestalt einer Wolke umarmt [...].222 216 217 218 219 220 221 222
Arnim: Dichterliebe, in: ders. 1912, S. 47, V. 1 f. Ebd., V. 3 f. Ebd., V. 5 u. 8. Ebd., V. 12 f. Ebd., V. 17. Bereits erwähnt in: Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1063. Achim v. Arnim an Clemens Brentano, Kahlenberg bey Wien den 17. April 1802, in: Arnim u. Brentano 1998, Bd. I, Brief 6, S. 9–11, hier S. 9 f.
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Io von Corregio gilt ihm also zunächst nur als eine „lustige Produktion“, als amüsanter Zeitvertreib ohne tieferen Sinn. Das Sprachspiel von Io und „pollutio“ (Besudelung, Verunreinigung) deutet aber die polemische Absicht an. Arnim wendet sich gegen ein moralisches Urteil über die ‚heidnische‘ Antike, und er zielt damit nicht zuletzt auf seinen unmittelbaren Vorläufer unter den Bilderdichtern: auf August Wilhelm Schlegel, der das Genre des Bildgedichts in den 1790er Jahren neu belebte. Wenige Jahre vor Arnim veröffentlichte auch er ein Sonett über Io von Correggio. Wenn Brentano die Bildgedichte Schlegels in Godwi (1801/1802) persiflierte223 und Arnim selbst Mißfallen über die poetischen Werke des literarischen „Bilderstürmer[s]“ Schlegel äußerte,224 dann begleitete Schlegels Io Arnim aber möglicherweise gerade deshalb bei seinem ‚Spaziergang‘ durch die Gemäldegalerie des Wiener Belvedere. Während Heymar das Thema der verbotenen Liebe sogleich vorgibt, beschreibt Schlegels Sprecher in den ersten beiden Quartetten bloß das Bild.225 Er dichtet die Momentaufnahme des Aktes zu einer Liebesgeschichte um.226 Erst die beiden Terzette deuten das Bildgeschehen, und im letzten Terzett heißt es:227 „Doch Io’s Reiz hat andern Trug gelehret / Dass eine Wolk’ in liebendem Verlangen, / Und in der Wolk’ ein Gott sie muss umarmen.“228 Das ‚muß‘ des Schlußverses klingt im ersten Vers Heymars noch nach. Bei Schlegel deutet es auf die Anziehungskraft hin, die von einer attraktiven Frau ausgeht. Heymar aber geht weiter: Für ihn ist es die verbotene Liebe, die Jo und Zeus zusammenführt. Entsprechend erweist sich Heymars Dichterliebe als Gegenstück zu Schle223 Vgl. – das allerdings tendenziöse und ausgesprochen romantik-kritische – Urteil von Hellmut Rosenfeld (1935, S. 151). 224 Arnim: August Wilhelm Schlegel’s Poetische Werke [1811]. Erster u. zweyter Theil. Heidelberg, bey Mohr und Zimmer, 1811, in: ders. 1989–94, VI, S. 388–398, hier S. 391. Das Bilderstürmer-Zitat entstammt Achim v. Arnim: Friedrich Schlegels Gedichte [1810]. Berlin, bey Julius Eduard Hitzig, 1809. Der sämtlichen Werke erster Band, in: ders. 1989–94, VI, S.301–309, hier S. 301: Die Schlegels sind „Bilderstürmer, die nichts geringeres als eine Revolution in der Literatur anstiften wollten.“ 225 Für den Vergleich der Schlegelschen Bildgedichte mit denjenigen Arnims siehe S. Pott 2004: Arnim bezieht zahlreiche Impulse aus Schlegels „Leda von Michelangelo“, dem ersten poetologischen Bildgedicht der deutschen Romantiker, und spitzt das Schlegelsche Verfahren allegorisch zu. 226 A.W. Schlegel: Io von Correggio, in: ders. 1846/47, I, Buch 3, S. 330, 1. Quartett, bes. V. 1. 227 Auf das vorletzte komme ich erst in dem Kapitel über Arnims „Ixion“ zu sprechen. 228 Schlegel: Io von Correggio (wie Anm. II., 226), 2. Terzett.
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gels Sonett. Wo dieser von „liebende[m] Verlangen“ spricht, sagt Heymar brennende „Liebe“. Beschreibt Schlegels Sprecher den „Trug“ des Zeus, so wählt Heymar den härteren Begriff „Verrat“. Bleibt Schlegel ‚Dolmetscher‘ des Bildes,229 so wendet Heymar seine Interpretation reflexiv: auf der Ebene der Kommunikation im Gedicht, indem er die WirForm nutzt, sich selbst in das Bild hineinversetzt und das Bild mit einem neuen Titel versieht. Heymar spiegelt ‚den Dichter‘ im Bild, in seinen Figuren, in seiner Handlung und in seinem Thema. Das Bildgedicht erweist sich als poetologisches Gedicht und als Rollengedicht zugleich. Das zweite Dichterliebe-Gedicht – es entstammt der Schule Heymars – entwickelt dieses negative Urteil über die Liebe unter Ungleichen weiter.230 Erst Dichterlohn zeichnet für diese Liebe ein optimistischeres Bild. Danach nähern sich Menschen- und Götterwelt an. Um diese Annäherung zu veranschaulichen, bezieht sich Arnim auf ein Correggio-Gemälde aus der Serie der Jupiter-Liebschaften, diesmal auf die Entführung des Ganymed (ca. 1531–1534): Die Götter raubten den schönen Jüngling Ganymed, den Sohn des Gründers von Troja, damit er unter ihnen lebte und Zeus als Mundschenk diente. Correggio zeigt, wie ein Adler, vermutlich Zeus selbst, den Knaben emporhebt. 229 Über Schlegels Verständnis der Bilddichtkunst als eines „Dolmetschens“ von der Bild- in die Schriftsprache Pestalozzi 1995, bes. S. 591. 230 Es zählt – neben „Dichterlohn“/„Die Sängerin und ihre kleinen Lieder“/„Die kleinen Nachtigallen im Nest, Die Sängerin, die Nachtigallen“, „Der Vogelmord am Josephstage“ – zu den Gedichten über Vögel, die sich einer Überlegung zum Verhältnis von Poesie und Musik verdanken; Arnim an Brentano, Zürich den 9 July 1802, Brief 9, in: Arnim u. Brentano 1998, S. 16–23, hier S. 22 f.: „Dichtkunst und Musick sind die beiden allgemeinsten, genau auf einander gepfropften Reiser des Poetischen Baumes, er trägt hier in der Dichtkunst rothe Rosen mit vielen Rosenkönigen, in der Musick weiße Rosen. Unsere Arbeit sey diese Rosen zu erziehen, Kotzebuischen Mehltau und Lafontainischen Honigthau von ihnen abzuhalten, ebenso sorgfältig die kalte Schlegelsche Kritikluft und den warmen brennenden Samumwind aus Böhme’s Morgenröthe. Die Sprache der Worte, die Sprache der Noten stärker und wohlgefälliger zu machen um dem Dichter und dem Musiker die innere Sprache der Natur verständliger und hörbarer zu machen, dies ist klar als erster Standpunkt unsrer Bemühungen anzusehen. Also eine Sprache und eine Singschule der Poesie.“ Arnim notiert diese Gedanken in jenem Brief an Brentano, in den er auch das zweite Dichterliebe-Gedicht aufnimmt (ebd., S. 18). Der Vogel aus „Dichterliebe“ repräsentiert danach zweierlei, nämlich die Natur, um deren „innere Sprache“ es Arnim (und Brentano) geht, und die Musik, den Gesang selbst. Doch stirbt dieser Vogel von der Hand des Knaben, seines wohlmeinenden Befreiers. Richtet die Liebe zu Zeus und die Begierde des Zeus Jo zugrunde, so tötet die Liebe des Knaben den Vogel. Im Sinne Ariels allegorisch gedeutet: Die Liebe zum ‚Höheren‘ oder die durch den ‚Höheren‘ erwiesene Liebe zerstört den Dichter; er kann ihr – als Mensch – nicht standhalten.
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Correggio Ganymed (ca. 1531–1534). Kunsthistorisches Museum, Wien; Inv. Nr. GG 276, Lwd. 163,5 x 70,5 cm; 1603/04 in der Kunstkammer Kaiser Rudolph II.; Rosa 1796, I, S. 169, 5.
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Mit seinen Schwingen ist das dunkle Tier gerade so groß wie Ganymed selbst; es ergreift den Knaben mit den Krallen, und der Knabe hält sich an dem Adler fest. Ganymed lächelt leicht und furchtlos; noch schaut er seinem Hund, dem treuen irdischen Gefährten, nach. Heymar knüpft an Correggios positive Darstellung des lächelnden Ganymed an und erklärt den Jüngling zum Vorbild für den Dichter bzw. den Künstler. Ganymed versinnbildlicht Heymars Auffassung, daß der Dichter nicht auf irdischen Lohn, sondern auf ‚Göttliches‘ aus sein soll.231 Denn dann „[...] wird [der Dichter] zünden“, produktiv schaffen und nicht am Göttlichen zugrunde gehen.232 Correggios Ganymed steht für den Dichter-Helden, der nur seiner Kunst lebt. Ihm setzt selbst die verbotene Liebe keine Grenzen – im Gegenteil: Sie gibt seiner Dichtung wertvolle Impulse. Der zweite Gesang widerspricht und spitzt die Lehrer-Schüler-Kontroversen zu. Mit zwei Gedichten über den Dichterlohn, über die Nachtigall („Die Sängerinn“) und ihre Jungen verdeutlicht die Dichterschülerin Pauline die Schattenseiten einer idealischen Dichtungs- und Dichtervorstellung, die Heymar mit Ganymed verbindet. Ganymed, der Dichter, dem das Irdische nichts bedeutet, verursacht Leid: Seine Kinder klagen über starke Hungergefühle und fordern ihre Vogel-Mutter deshalb auf, sie zu töten.233 Die Mutter ihrerseits bereut ihr Tun: „Ach hätt’ ich nie geliebet, / Ach hätt’ ich nie gebrütet!“234 Nur an wenigen Stellen weichen die Auffassungen Heymars und seiner Schüler so weit voneinander ab wie hier. Dabei vertreten die Schüler gegen ihren Lehrer eine moralische Position; sie konzentrieren sich auf das Leid in der Wirklichkeit. Ihnen geht es um die materiellen und physischen Grenzen idealischer Poesie. Die idealische Kunst- und Götterwelt gilt ihnen weniger als das irdische Wohlergehen. Es liegt in der Logik der Dichterschule, daß auf die Empörung der Schüler zwei Gedichte folgen, die die strittigen Konstellationen von Ideal und Wirklichkeit, Mensch, Gesellschaft und Dichter ganz auflösen. In Dichteraussicht 1. Das Paradies der Erde und Dichteraussicht 2. Das Paradies des Himmels geht es dabei bezeichnenderweise nicht 231 Arnim: Dichterlohn. Ganymed von Correzzio, in: Arnim 1912, S. 162, V. 8 u. 13. 232 Ebd., letztes Terzett. 233 Arnim: Dichterlohn. Die Sängerinn und ihre kleinen Lieder. Die kleinen Nachtigallen im Nest, in: Arnim 1912, S. 192 f., V. 11 f.: „Ach Mutter! Drücke uns doch todt, / Denn Klage ward der Lebensgruß.“ 234 Ebd., S. 193 f., hier S. 194, Refrain, V. 1 f. u. 16 f.
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mehr um die griechische Mythologie, sondern um die christliche, um das Paradies, den Sündenfall und um Christi Geburt: um „Das Paradies der Erde“ von „Breughel“, das Arnim in der Sammlung des Diplomaten François Louis de Pesme, Seigneur de Saint-Saphorin (Wien) gesehen haben will, und um „Das Paradies des Himmels“ von Carlo Maratta „in derselben Sammlung“.235 Bestandskataloge der Sammlung Saphorin sind nicht aufzufinden, so daß fraglich bleibt, welche Bilder Arnim genau betrachten konnte. Im Falle Brueghels ist zu vermuten, daß Arnim jenes Gemälde sah, das zwischen 1795 und 1815 im Louvre ausgestellt war, nämlich Das irdische Paradies mit dem Sündenfall von Adam und Eva, gemalt um 1615, und zwar als eine Gemeinschaftsarbeit von Jan Brueghel d. Ä. (1568–1625) und Peter Paul Rubens (1577–1640).236 Marattas Gemälde aber läßt sich nicht identifizieren.237 Für beide Dichteraussicht-Gedichte ebenso wie für das dritte Dichteraussicht-Gedicht liegt bereits eine ausführliche Interpretation von Stefan Nienhaus vor.238 Nienhaus zufolge versenke sich Arnim so sehr und so distanzlos in seine Bildvorlagen, daß er mit seinen Gedichten eine „christliche[] Glaubenshaltung“ ausspreche, die auch der Obertitel Dichteraussicht „nicht zu einer kunstreligiösen säkularisieren kann.“239 Demgegenüber meine ich, daß die drei Dichteraussicht-Gedichte christliche Topoi ebenso wie die griechische Mythologie zwar ernstnehmen, sie aber in erster Linie nutzen, um der Heymar-Figur Aspekte eines Evangeliums der Schönheit in den Mund zu legen, das als eine der möglichen idealischen Dichter-Positionen gilt. Nienhaus’ In235 Arnim: Dichteraussicht, in: ders. 1912, S. 163 f. 236 Für den Standortnachweis Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1063; Broos 1993, S. 88. 237 Ricklefs und Nienhaus nehmen an, daß sich Arnim auf ein Bild Marattas bezieht, das sie als „Ein heiliges Haus“ betiteln, und das sich in der kleinen Kirche S. Giuseppe dei Falegnami (am Forum Romanum, unterhalb des Capitolinischen Hügels) befinden soll. Für den Standortnachweis Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1063; siehe auch die Deutung von Nienhaus 2000, S.187. In S. Giuseppe hängt in der Tat ein Maratta, nämlich „Presepe. Opera prima 1650“. Es handelt sich um ein Bild auf einem Seitenaltar, das fest in die Ordnung desselben eingefügt ist und aufgrund seiner Form nicht transportabel gewesen sein kann. Es erweist demnach als unwahrscheinlich, daß Arnim dieses Bild in der Sammlung Saphorin gesehen hat. Nienhaus’ Beschreibung weist darüber hinaus auf starke Abweichung von Gedicht und Bild hin (ders. 2000, S. 187). Bleibt man in S. Giuseppe, dann hätte allenfalls die „Sacra Famiglia“ Giuseppe Ghezzis (16. Jahrhundert) als Vorbild dienen könne, die den gegenüberliegenden Altar ziert. Sie ist motivgleich und zeigt jenen blauen Himmel, der bei Maratta fehlt. 238 Nienhaus 2000. 239 Ebd., S. 188.
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terpretation läßt sich mit dieser Überlegung verbinden, denn er geht – trotz seines Votums gegen ein kunstreligiöses Verständnis der ArnimTexte – davon aus, daß Arnim sein „Ausgangsmaterial[]“ konzentriert neu-komponiert und nicht einfach in Worte übersetzt.240 Wie dies im einzelnen geschieht, soll im folgenden gezeigt werden. Der gelehrten Welt ist Das Paradies der Erde von Brueghel und Rubens bereits durch den bibliophilen Ratsherren Zacharias Conrad von Uffenbach (1683–1734) bekannt, der es im Jahr 1711 im Haus des Leidener Tuchhändlers Pieter de la Court van der Voort betrachten konnte.241 Uffenbach war begeistert; sollte Arnim dasselbe Gemälde gesehen haben, so war er es vermutlich nicht minder. Denn in seiner ungeheuren Vielfalt hält es nicht nur – vor allem auf der rechten Bildhälfte – das noch intakte Paradiesleben, sondern zugleich schon – auf der linken Hälfte – den Sündenfall fest. Es bildet also die Ursünde ab, und zwar in einer besonders pikanten Interpretation. Ihr zufolge ist Adam am Sündenfall nicht unschuldig.242 Nienhaus weist darauf hin, daß sich Arnim von seiner Vorlage entfernt: So ist auf dem Brueghel-Rubens-Bild weder ein „Ar“, im Gedicht eine Metapher für den Dichter, zu sehen noch ‚bäumen‘ sich ihm Rosse ‚wiehernd‘ zu.243 Vielmehr finden sich zahlreiche seltene Tiere, 240 Ebd. 241 Beaujan 1996. 242 Anders als in der Heiligen Schrift hält Eva hier in jeder Hand einen Apfel. Die Schlange windet sich um einen Ast des Baumes der verbotenen Früchte; der Blick eines Pfaus kommentiert Evas Handeln symbolisch als lasterhaft. Adam aber ähnelt den barocken Satyr-Darstellungen: Er hat einen Buckel, Hörner, spitz zulaufende Ohren, zwar keinen Pferdefuß, aber dafür steht hinter ihm ein Pferd mit schwarzer Mähne, dessen Fell braun-schwarz schimmert. Sollte es tatsächlich ein Rappe sein, so läßt sich in ihm der Teufel selbst erkennen; Rubens, der (nicht nur) für die Figuren des Gemäldes verantwortlich zeichnete, arbeitete also mit einer doppelten Symbolik des Bösen, die aber nicht auf seiten Evas, sondern auf seiten Adams angesiedelt ist. Zwei weitere Tiersymbole bestätigen diese Interpretation: zu Adam Füßen sitzt ein Hase – in der Profanikonographie ein Symbol der Unkeuschheit (‚luxuria‘), in der christlichen Ikonographie das Symbol der Heiden und Sünder. Demgegenüber steht ein junger Hirsch versetzt hinter Eva. In Paradiesbildern gilt er als der Überwältiger der Schlange, als Christus selbst, der die große Schlange (den Teufel) mit himmlischen Wassern tötet. Außerdem sitzt Adam lasziv auf einem Erdwall oder einem bewachsenen Felsen, und es ist nicht deutlich, ob er den Apfel aus Evas Hand empfängt oder als ob er ihn ihr reicht. 243 Nienhaus 2000, S. 186. – Möglicherweise hat Arnim mehrere Paradies-Darstellung gesehen und über diese aus der Erinnerung geschrieben. Beispielsweise bildet Roelant Savery (1575–1639) in seinem „Paradies“ (1618; um 1800 Slg. Nostitz, Prag; heute Nationalgalerie Prag) einen mächtigen und ungelenk wirkenden Aar ab. Seine Pa-
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Jan Brueghel d. Ä. u. Peter Paul Rubens Das irdische Paradies mit dem Sündenfall von Adam und Eva (um 1615). Mauritshuis, Den Haag, Inv. Nr. 253, Lwd. 74,3 x 114,7 cm.
wie sie in den Menagerien der Zeit gehalten und von den Malern dort eifrig ‚conterfayet‘ wurden: Papageien, Enten, ein Kranich, ein Löwe, ein Tiger, ein Leopard, Dromedare, ein Strauß (Sinnbild der Heuchler; Symbol der Gleichgültigkeit; Klagelieder Jeremia 4,3), Fische im Wasser (Sinnbild des Neophyten, der in der Taufgnade verharrt) usw. Heymar läßt sich von dem Gemälde bloß inspirieren, wobei unklar bleibt, welchen Stellenwert er dem Sündenfall zuerkennt. Denn gleich in den beiden ersten Versen des Gedichts spricht er von „neugebor’nen Räumen“, in denen die Erde „urkräftig treibt“, und von „neuer Sonne Strahlen“.244 Bezieht sich das Attribut ‚neu‘ auf das Paradies vor dem Sündenfall? Wenn ja, was besagt das, wenn der Mensch schon im Begriff ist, diesen zeitlosen Raum zu verlassen?245 radiesdarstellung folgt ansonsten dem Vorbild Jan Brueghel d. Ä.; vgl. Härting 2000, Katalog, S. 182 f. Andere, Jan Brueghel d. Ä. „Paradiso terrestre e peccato original“ (Galleria Doria Pamphilj) und Peter Wenzel „Adamo ed Eva nel Paradiso Terrestre“ (Musei Vaticani), nehmen die Darstellungen von Flora und Fauna aus Brueghel und Rubens’ Gemälde auf, stellen den Sündenfall aber konventionell dar. 244 Arnim: Dichteraussicht 1. Das Paradies der Erde, in: ders. 1989–94, V, S. 48, V. 1 f. 245 Über die Zeitlosigkeit in Arnims Gedicht Nienhaus 2000, S. 186.
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Heymars Botschaft im letzten Terzett klärt die Verhältnisse von Zeit und Raum, wenn auch nicht endgültig: Das Paradies ist verloren; „unter Mühen“ wird die Frau nun Kinder gebären (1. Mose, 3,16), der Mensch ist „Erde“ und soll „zu Erde werden“ (1. Mose, 3,19).246 Von der Sehnsucht, das Paradies zurückzugewinnen läßt sich das „wir“ leiten – und möglicherweise zu diesem Gedicht motivieren. Doch was verspricht es sich von einer Rückkehr in dieses Paradies? Heymar deutet zwei Themenbereiche an: Geburt und Tod. Das Todes-Thema taucht in seinen Dichtergedichten wieder und wieder auf, und zwar als Furcht vor dem Sterben. Anders verhält es sich mit dem ‚Gebären‘. Die Geburt könnte eine Metapher für die Schöpfung überhaupt sein, die, so wünscht es sich das „wir“, von Schmerz und Angst frei sein soll. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß sich Arnim – wie in Io von Coreggio – auf eine Frau konzentriert, die im Gedicht zum ‚Weib‘ schlechthin wird. Läßt sich die Eva des Gemäldes – so sie sich noch im Paradies befindet und Gottes Willen gehorcht – als Gegenbild zu Jo deuten? Bezeichnenderweise kappt Heymar die zweite Hälfte des Titels von Brueghel und Rubens: Es heißt – nach Heymar – nurmehr Das Paradies der Erde; [...] mit dem Sündenfall von Adam und Eva entfällt ebenso wie der Name Rubens’, der ja laut Bildsignatur für die prekäre Figurendarstellung des Sündenfalls verantwortlich zeichnete.247 Mißfiel Heymar die Darstellung eines teuflischen Adam? Oder teilte er Friedrich Schlegels Abneigung gegen die ‚trägen und verschwommenen‘ Rubens-Figuren?248 Hatte Arnim für Dichteraussicht 1. das Gemälde von Brueghel und Rubens vor Augen, so verengt er die Sicht auf das Gemälde jedenfalls erheblich. Heymars ‚Dichteraussicht‘ kann vielmehr als ureigene ‚Dichteransicht‘ beschrieben werden, setzt man die Auffassung des „wir“ mit derjenigen Arnims gleich. Verglichen mit der hochkomplexen Bildvorlage wäre Arnims Interpretation derselben in diesem Fall in 246 Arnim: Dichteraussicht 1. Das Paradies der Erde (wie Anm. II., 244), V. 12–14: „O könnten wir dies Paradies gewinnen, / Wo frei von Schmerz und Angst das Weib gebärt / Und keine Zeiten uns zum Tode tragen!“ 247 Nienhaus bemerkt ebenfalls, daß die Sündenfall-Darstellung in Arnims Gedicht keinen Platz findet; ders. 2000, S. 187. 248 F. Schlegel: Fragmente [Athenäum] (wie Anm. II., 2), [181] S. 193: „Rubens’ Anordnung ist oft dithyrambisch, während die Gestalten träge und auseinander geschwommen bleiben. Das Feuer seines Geistes kämpft mit der klimatischen Schwerfälligkeit. Wenn in seinen Gemälden mehr innre Harmonie sein sollte, müßte er weniger Schwungkraft haben, oder kein Flamänder sein.“
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einem naiven Sinne sehnsüchtig und weniger christlich zu nennen. Er blendet nämlich nicht nur erhebliche Bestandteile des Bildes aus, sondern nimmt darüber hinaus nur selektiv auf jene Debatten Bezug, die zum historischen Kontext des Brueghel-Rubens-Bildes gehören. Als ein Beispiel für eine solche Rezeption gilt mir die Konzeption vom Garten als ‚locus amoenus‘ – ein heiß umkämpftes Thema der humanistischen Debatte in den südlichen Niederlanden (Flandern). Sie reagierte auf die Bestrebungen der Höfe und der wohlhabenden Bürger, reich ausgestattete Gärten anzulegen.249 Rubens’ Lehrer beispielsweise, der neo-stoische Rechtsgelehrte Justus Lipsius (1574–1606), hätte die Darstellung seines ehemaligen Zöglings mit Argwohn betrachten müssen. Denn Lipsius galt der Garten als Erholungsort für Geist und Seele, als „Rückzugsort“ für die „Muße“, als Stätte einer „gemäßigten Lust“, nicht als Ort von Laster und Sünde.250 „In den Gärten sollt ihr Poeten auf Dauer eure Lieder dichten“,251 so läßt er seinen Freund Karl Langius in De Constantia/Von der Standhaftigkeit (1584) sagen. Arnim übernimmt die neo-stoische Ansicht vom Garten, wie Langius sie äußerte. Den Garten hatte Arnim zum Ort der Muße für den seelenvollen Dichter auserkoren – zu einem Ort, in dem es kein körperliches Leid gibt, sondern in dem das Gemüt Ruhe finden soll.252 Das Paradies des Himmels bestätigt diese kontemplative Einstellung, verweist aber bereits darauf, daß vollkommene Ruhe und Erlösung erst im Jenseits möglich sind. Heymars Schüler aber, „de[r] Grieche[] Iliades“, macht diese Hoffnung auf Erlösung ganz zunichte. Sein Dichteraussicht-Gedicht aus dem zweiten Teil der Dichterschule schildert einen alten Dichter, der melancholisch auf seine früheren Fähigkeiten zurückschaut.253 Er hadert mit seinem irdischen Schicksal. Von Erleuch249 Vgl. dazu die Beiträge in Härting 2000. Die Darstellung des Paradiesgartens ist, ganz typisch für Jan Brueghel d. Ä., offen, denn er bricht mit der mittelalterlichen Tradition des ‚hortus conclusus‘, des von Mauern oder Zäunen eingefriedeten irdischen Paradieses. Der Betrachter des „Irdischen Paradieses“ erkennt keine Grenzen desselben, vielmehr kann er bis zum Horizont schauen. 250 Lipsius 1998, II. Buch, 3. Kap., S. 187; vgl. auch Seifertova 2000, S. 28 f. 251 Lipsius 1998, II. Buch, 3. Kap., S. 191. 252 In diesem Sinne Thomas Sternberg (1983, S. 260, Anm. 21) über Arnims Auffassung des Gartens. 253 Arnim: Dichteraussicht. Der alte Dichter, in: Arnim 1912, S. 196, V. 8: „Mein Blut ist eingedickt.“, dürfte für Melancholie stehen. Einstmals konnte er über das Meer fliegen, doch nun ist sein Schiff kaputt (ebd., V. 13–16.): „Es spotten mein die Wellen, / Es spottet mein der Wind, / Ich muß mich ruhig stellen, / Doch wein’ ich wie ein Kind.“
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tung oder Erweckung ist er weit entfernt. Vielmehr trauert er seinen innerweltlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten nach. Ein christliches Bekentnnis läßt sich aus dieser Kombination der Dichteraussicht-Texte – anders als Nienhaus meint – nicht entnehmen. Wieder stehen in Heymars Dichterschule Positionen gegeneinander – in Gestalt der christlichen Antike und der ‚heidnischen‘ Weltauffassung des ‚Griechen Iliades‘. Auch Dichteraussicht läßt sich deshalb nur im Kontext der Rollenspiele und in der Abfolge der Text-Bildwerke von Heymars Dichterschule verstehen: Der christliche Dichter findet im gescheiterten Heldendichter der Antike sein Gegenstück. Beide heben sich gegenseitig auf; sie finden nicht zu einer gemeinsamen Lösung, sondern nur zu Modellen für eine Dichterexistenz, die sich all dieser Rollenentwürfe bewußt ist. Vor diesem Hintergrund stellt Eunom aus Wahre und falsche Sänger. Eunom und Arist eine weitere Variation des Themas dar. Es handelt sich bei Eunom um jenen Knaben, der Herkules mit Wein befleckte, und den der ‚Held‘ deshalb tötete. Aber anders als im Mythos weiht Heymar das Mordopfer der „Sängerkunst“:254 Der Sänger Eunom erinnert an Ganymed, der zu den Göttern aufsteigt; die Wahren und falschen Sänger nehmen das Thema von Dichterlohn auf. Durch seine reine Kunstliebe gelangt der Dichter aber hier nicht nur in den Himmel, sondern „verkündet“ „als Gott“ den Weg dorthin.255 Einerseits treibt Heymar die Apotheose des Dichters weiter. Andererseits scheint der Kreuzweg an sein Ende gekommen zu sein. Dichtertod. Phaeton beschließt den Gesang des Heymar; hier geht es um den (unbeabsichtigen) Selbstmord des Dichters, der zu viel riskierte. Phaëton, dem Mythos nach der Sohn des Sonnengottes, darf für einen Tag den Sonnenwagen über den Himmel lenken. Indem der Dichter – wie Phaëton – Gott spielt, bringt er nicht nur die gesamte Schöpfung in Gefahr, sondern schöpft auch selbst neu. Die Milchstraße nämlich gilt als Ergebnis seiner zerstörerischen Fahrt mit dem Wagen, für die Zeus den Jüngling umbringt. Heymar nutzt die PhaëtonGeschichte in diesem Sinne als ein Vehikel, um das Schicksal des Dichters zu demonstrieren, der am Göttlichen teilhaben will.256 Er steht als Konsequenz aus den Gedichten über die Lautenspieler, über 254 Arnim: Wahre und falsche Sänger. Eunom und Arist, in: Arnim 1912, S.165–167, hier S. 165, 1. u. 2. 255 Ebd. 256 Arnim: Dichtertod. Phaeton, in: Arnim 1912, S. 169–174, hier S. 171, 7.
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Camões, über Herkules, über Archimedes, über Achill und über Ganymed: So mag des Dichters Hoffnung ihn betrügen, Das Leben hin zur dunklen Erde ziehen, Die heil’ge Ahndung, Phantasie ihm lügen, Was ihn erhebt, wird nicht im Tode fliehen: Ein Hochzeitskleid war ihm sein Erdenleben, Das Brautbett wird der Todestraum ihm weben.257
Der idealische Dichter des Heymar hat zu viel gewagt, aber genau dies war seine Berufung. Heymar baut die Phaëton-Geschichte deshalb in seine Märtyrerlegende ein, die er den Schülern als Lehre auf den Weg gibt: Erst der Tod stellt das „Brautbett“ des Dichters dar; erst im Tod vervollkommnet er seine Existenz. Heymars Dichtertod. Phaeton steht damit sinnbildlich für Arnims Ansicht aus Das Wandern der Künste und Wissenschaften, Zerstörung sei notwendig, um Kunst zu schaffen und um zur Vervollkommnung zu gelangen. Phaëton schuf, was die Schöpfung zerstörte und ließ dafür sein Leben. Der Dichter Heymars hat sein Marytrium durchlitten, doch seine Dichterschüler zeigen – mit unterschiedlichen Schwerpunkten und in Abstufungen – wie schwer es ihnen fällt, dieses idealische und märtyrerhafte Ideal für die eigene poetische Praxis zu akzeptieren. Dabei markiert Rabuni einen Extrempol. In Das Schicksal als Dichter zeichnet er ein zynisches Bild der Dichterexistenz; in Dichterleben fordert er den Tod als letzte Konsequenz dichterischen Schaffens. Seine Sichtweise wird von den drei wirklichkeitskritischen Mitschülern Adolf, Pauline und Iliades gemildert. Treubold hingegen – nomen est omen – müht sich, es dem Lehrer nachzutun, verteidigt aber das eigene Scheitern an Heymars Ideal (Zueignung. Die Dichterschüler an Heymar, Dichterruhe II). Viel komplizierter steht es um den Dichterschüler Ariel2, der sich gleichermaßen idealisch, melancholisch und lebensbejahend gibt (Wahre und falsche Sänger). Erst die paratextuellen Einschübe im Ausgang des zweiten Gesangs der Dichterschule geben vergleichsweise verbindlich über diesen eigensinnigen Schüler Auskunft. Sie handeln von den Vorhaben eines ehemaligen Mieters auf dem Kahlenberg. Kryoline, eine Malerin und Zeichnerin, bewohnte dasselbe Etablissement wie der angesprochene Mieter, der dichtende Tänzer Ariel 2, der sich mit „lustigen Trinkbrü257 Ebd., 15.
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dern“ umgebe.258 In einem Brief und mehreren Nachschriften an ihre Freundin Kyane beklagt die Malerin das Verschwinden Ariels 2 und sendet zugleich einige nachgelassene Schriften des Tänzers. Ariel2 war Kryolinens „Genius“ und „Dämon“; allein die Stimme ihres ehemaligen Obermieters inspirierte sie so sehr, daß sie – nunmehr ohne ihn – „an den Sinnen krank“ sei.259 Ariel 2 erscheint ihr als der „Zweifelsprophet“, der den Offenbarungen den Titel gibt,260 als immaterieller „Geist“,261 der sich zweifelnd um die Menschen sorgt und dennoch mit den Kameraden scherzt, dessen Stimme „so rein, so wechselnd, so tief, so hell“ zugleich ist.262 Dabei springt die Inspiration aber von einer Figur auf die andere über, denn Ariels 2 hinterlassene Gedichte auf Gemählde sind nach Zeichnungen von mir, die ich in meiner Mappe führte, mir sind sie wahr! Der zweyte Gesang ist von mehreren Händen geschrieben, von seinen Freunden[,]263
erläutert Kryoline. Ariel 2 sei durch eine offene Seitentür in das Zimmer der Malerin gekommen und habe dort ihre Bilder erblickt. Danach handelte es sich bei Heymars Dichterschule in der Tat um ‚Offenbarungen‘ des Ariel 2, allerdings um solche, die er den Zeichnungen seiner Mit-Mieterin verdankt. Sie wären Anlaß und Ursache seiner Äußerungen. Heymars idealisches Dichter-Verständnis und die zahlreichen Dichterrollen, für die die Mitschüler einstehen, müßten sich auf das zurückführen lassen, was Ariel 2 aus den Zeichnungen ‚empfing‘. Nimmt man die Figurenrede ernst, die wie ein Paratext an die Dichterschule an258 [Brief der Kryoline an Kyane; mit Einschüben Ariels und Nachschriften Kryolinens], in: Arnim 1912, S. 198–217, hier S. 199. 259 Ebd., S. 198. 260 Ariel und Ariel 2 werden hier also identisch, schenkt man der Figurenrede Glauben. 261 Ebd., S. 200: „[...], er ist ganz Idee und wunderschön, sein dunkles Haar in ringelnden Locken, er scheint ein leichter Geist, der über das Schicksal des Menschen zweifelnd besorgt ist. Wenn er anders aussähe, als ich ihn gemahlt, könnte ich ihn nicht lieben, aber er sieht sicher eben so aus [...].“ 262 [Brief der Kryoline] (wie Anm. II., 258), S. 201. 263 Ebd., S. 205. Die Arnim-Forschung vermutete, daß diese Aussage der Figur Kryoline autobiographisch auf Arnim zu übertragen sei. Danach hätte der Autor seine Bildgedichte nach eigenen Zeichnungen angefertigt, vgl. Arnim 1989–94, V, Kommentar, S. 1059; Nienhaus 2000, S. 183. Zwar hat Arnim auch gezeichnet, aber es läßt sich nicht belegen, daß er nach eigenen Kopien gedichtet hätte. In den Arnim-Archivalien jedenfalls sind keine Zeichnungen erhalten, die als Vorlagen zu den Gedichten hätten dienen können (freundliche Information von Renate Moering, Freies Deutsches Hochstift; Evelyn Liepsch, Goethe- und Schiller-Archiv; Viola Geyersbach, Stiftung Weimarer Klassik).
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gehängt ist, dann muß die dritte Kommunikationsebene für Heymars Dichterschule noch einmal verändert werden: Quelle wären in erster Linie Kryolines Bilder (3. Ebene [a]), dann erst wäre auf jene Bilder, Mythen und Geschichten zu verweisen, die im ersten Teil derselben angeführt werden (3. Ebene [b]). Aber nicht nur das: Um zu zeigen, „daß der leichte Tänzer auch einige derbe Gelehrsamkeit sich angeschafft hatte,“ schickt Kryoline Kyane einige hinterlassene Blätter des Ariel.264 Die naive Kryoline glaubt an die Gelehrsamkeit des Tänzers. Ariels 2 ‚Kommentar‘ auf seine eigenen Gedichte aber persifliert bloß die Tradition und die Gattung des gelehrten Dichterkommentars; er hilft nicht, seine ‚Offenbarungen‘ zu erklären oder sie auf bestimmte Quellen zurückzuführen. Außerdem schreibt Ariel 2 über allerlei Projekte, Interessen und poetologische Ansichten, die nicht unmittelbar mit der Dichterschule zu tun haben. Beispielsweise wollen er und die „Gesellschaft der Alethurgen“ „vaterländische[] Papierschätze“ herausgeben, um über die Geschichte und die „Sitten“ und die Poesie der vaterländischen Urbewohner Freya und Herrmann forschen.265 Form und Gefühl, so seine ironisch-distanzierte Überlegung, entwickelten sich in ihrem Fall zugleich: Eins dem andern wilkührlich vorsetzen, würde eben so sicher beyde vernichten, wie jene Frage über Gall’s Schedellehre: Ob der Witz seine Hirnknochen, oder die Hirnknochen den Witz bilden?266
Am Beginn des 19. Jahrhunderts verdächtigte man den Hirnforscher Franz Joseph Gall (1758–1828) der Scharlatanerie und Pseudowissenschaft. Der Grund dafür lag in einem Teil seines wissenschaftlichen Programms, das er in Wielands Teutschem Merkur veröffentlichte, in der sogenannten Phrenologie.267 Hier sollte aus dem Bau des Gehirns auf die Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen ge264 [Brief der Kryoline] (wie Anm. II., 258), S. 205. 265 Aus „Unwissenheit“ konnte man damals Laster begehen, so notiert Ariel2 fasziniertironisch über dieselben Ureinwohner, und solche Sitten seien heute nurmehr „bey den Bewohnern der Bayerischen Hochlande wieder zu finden.“ Ebd., S.206 f. Er fingiert zum Beweis einen Brief des Heiligen Bonifaz: „Die meisten Geistlichen haben von Jugend auf in Ehebruch und Unzucht gelebt und setzen es fort. Doch lesen sie das Evangelium und werden endlich Erzbischöfe.“ – Es wundert nicht, daß Minor diese Passage in keinem Brief des Bonifaz auffinden konnte; vgl. Arnim 1912, Kommentar, S. 316 f.; vgl. auch R. Paulin 1986, S. 115. 266 Ariel: [Nachgelassene Schriften], in: Arnim 1912, S. 211–215, hier S. 211. 267 Über Gall, sein Programm, die Abwertung desselben und die Vorläuferschaft zur Lokalisationstheorie des Gehirns siehe Hagner 1997, S. 89–124 u. passim.
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schlossen werden – ganz ähnlich, wie es Lavater in seiner Physiognomik für das Gesicht erdachte. Mit dem (übrigens ausgesprochen frühen) Verweis auf die Phrenologie nimmt Ariel 2 ironisch von einer Auffassung Abstand, die die Forschung erstaunlicherweise als Beleg für Arnims subjektives und spontanes Dichtungsverständnis gedeutet hat.268 Darüber hinaus plädiert derselbe Ariel 2 für die Einhaltung der Form: Silbenmaß und Reim sind nicht bloß für das Ohr, sie sind die nothwendigen Begränzungen, die Pole, ohne welche alle Rede der Empfindung ins Unbestimmte, oder in Stummheit sich verliert; ich glaube keinen zur Darstellung berechtigt, der sich nicht gezwungen fühlt, jedes in seiner gewissen, bestimmten Form mitzutheilen.269
Schon Ariel 2 pendelt immer wieder zwischen verschiedenen Poetiken: zwischen einer subjektiven und einer formal-versierten. Doch damit nicht genug: Der „Zweifelsprophet“ setzt auf einen höheren „Plan“, der auch die Malerin Kryoline ergreifen soll.270 Ariel 2 spricht dunkel und zitiert aus der Offenbarung des Johannes.271 Von der Prophetie des Johannes inspiriert sucht er nach einem Ort, wo Kunst und Natur, Vergangenheit, Zukunft und Unendlichkeit zusammenfallen.272 Er nennt diese Fiktion einen „ewigen blauen Tempel“, zu dem er strebt.273 Kryoline beeindrucken diese romantische Visionen Ariels 2 so sehr, daß sie ihn ihrerseits suchen will. Sie teilt das Schicksal all der Frauen und Männer, die sich mit Göttern oder Göttinnen eingelassen haben; ihr Name wird in üblen Nachreden untergehen – und mit Blick auf Jo 268 Siehe beispielsweise die unkritische Deutung von Sternberg 1986, S. 71 f. 269 Ariel: [Nachgelassene Schriften] (wie Anm. II., 266), S. 211 f. 270 Ebd., S. 214: „[...] ich finde mein Daseyn wieder, wenn ich dich [die Malerin Kryoline] wieder finde und dich sehen kann, die ich jetzt nur höre, und hören kann, den ich jetzt nur sehe, den Geist deiner Schöpfungen; dann sehen wir, dann hören wir wie Johannes in seinen Offenbarungen: Und ich sah einen Engel in der Sonne stehen, der schrie mit großer Stimme und sprach zu allen Vögeln, die mitten durch den Himmel flogen: Kommet und versammelt euch zu dem großen Abendmahle, denn ich kenne euren Glauben und eure Liebe.“ 271 Offenbarung Joh. 19.,18. – Minor bemerkt, daß der letzte Halbsatz in Luthers Bibel fehlt. Arnim 1912, Kommentar, S. 321. 272 Ariel: [Nachgelassene Schriften] (wie Anm. II., 266), S. 215: „[...] und wo die Kunst eine einige Natur wird, da ist mein Reich, da treibe ich Wurzeln bis in die Unendlichkeit, in die Vergangenheit bis zum Ursprunge, in die Zukunft bis zur Erneuerung der Welt, da ist mein Vaterland, da reichen ruhig einander die Steine zu dem ewigen blauen Tempel alle die wechselnden Geschlechter der Erde [...].“ 273 Ebd.
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schließt sich auch dieser Bild-Text-Komplex, und zwar mit einer Kritik an der romantischen Kunstreligion.274 Heymars Dichterschule endet mit dem karnevalesken Maskenspiel Sängerfest auf Wartburg, teilweise einer Persiflage auf Oper und Popularliteratur, auf Mozarts Zauberflöte (Uraufführung 1791) und auf August von Kotzebues Menschenhaß und Reue (1789).275 Was einstmals ein ernster Wettbewerb um die Meisterschaft im Gesang und um Liebe war, gerät Arnim hier zur Komödie des Dichters „Guckuk“ und seiner reisenden Vogelgilde. Der Liederwettstreit auf der Wartburg hat mit dem Ausgang des zweiten Gesangs nichts zu tun. Er komplettiert nur die doppelte, sich selbst aufhebende Ordnung von Heymars Dichterschule, denn er dient als Gegenstück zu den Briefen der Kryoline und den hinterlassenen Schriften Ariels 2. Der Liederwettstreit wendet sich gegen die ‚hohen‘, inspirierten und – seitens der Kryoline – naiven Einstellungen über Ariel 2 und die Dichtkunst. „Poesie der Poesie“ vollzieht sich nurmehr als eine Persiflage von Poesie-Typen. Intertextuelle und mediale Bezüge verbinden sich in derart vielfältiger Weise, daß es überhaupt schwerfällt, ihnen ein spezifisches Kunstverständnis zu unterlegen. Es bleibt bei einer polyperspektivischen Bestandsaufnahme und Kritik vorliegender Poetiken. Heymars Dichterschule bewegt sich deshalb nicht „zwischen den Polen von prophetischer Erfüllung und selbstopfernder Entbehrung“,276 sondern vielmehr zwischen den Polen von poetischem Martyrium und farcenhaftem Unfug. Während der erste Gesang noch durch die zu poetologischem Zweck säkularisierte Kreuzweg-Motivik zusammengehalten ist, eine klare und differenzierende Aussage zugunsten eines idealischen Dichterbildes formuliert, zerfällt der zweite Gesang in nüchterne und wirklichkeits-orientierte Aperçues der kritischen Dichterschüler einerseits, in geselligen Spaß und überzogene Persiflage andererseits. Die Dichterschüler halten Gegenmittel für die Lehre Heymars bereit und argumentieren menschlich, poesie- und sozialkritisch, was dem Arnim der Rede Das Wandern der Künste und Wissenschaften entgegenkommen müßte. Aber sie gelangen nicht zu einer eigenen Lehre; in der Kunst suchen sie ‚Wahrheit‘. Nur zu oft geben sich die „Trinkbrüder“ dabei mit dem Scherz zufrieden.
274 Kryoline: [Nachschriften], in: Arnim 1912, S. 216. 275 Arnim 1912, Kommentar, S. 322–324. 276 R. Paulin 1986, S. 117.
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Bei Heymars Dichterschule handelt es sich deshalb weder um Stoff für das Volk noch um eine neue Mythologie.277 Es ist aber auch kein spontaner Text, der das Dichten aus gesteigertem Gefühl feierte und einige „willkürliche[] und subjektive[]“ Bildgedichte einstreute.278 Vielmehr zelebriert Arnim das Dichten und die Kunst schlechthin – als experimentelle Praktiken einer intimen Gesellschaft junger Dichter, die um eine eigene durchaus idealische und formenreiche, aber zugleich moralische, wirklichkeitsnahe, spielerische und natürliche Poetik ringen. Sie tasten die Grenzen der „Poesie der Poesie“ ab. Es liegt in der Logik dieses Poesie-Modells, daß Heymar mit seinen Emblemen Sinn stiftet und daß die Schüler diesen durch zahllose und teilweise sinn-entleerte Assoziationen in Frage stellen. Vergegenwärtigt man sich aber die Kommunikationsebenen von Ariel’s Offenbarungen, dann ist darüber hinaus nach einer ‚Ariel-Instanz‘ zu suchen, die die Lehrer- und Schüler-Perspektiven gleichermaßen umschließt: Ganz wie Ariel in The Tempest für Prospero zaubert, so müßte diese Instanz, der Prophet Ariel, für Arnim dichten. Zu fragen wäre, inwiefern diese Ariel-Instanz Arnims Auffassungen vertreten könnte, nimmt man Das Wandern der Künste und Wissenschaften – also Arnims erweitertes Verständnis von einer reflexiven und moralischen ‚imitatio‘ bekannter poetischer Muster – zum Maßstab. Heymars poetologisch-idealische ‚Schwärmerey‘ und die ‚realistische‘ Poetik seiner Schüler repräsentieren – folgt man dem Kommunikationsmodell am Beginn dieses Kapitels – nur Aspekte der Poetik Ariels. Die enge Verbindung einzelner Bilder und Gedichte (über die beiden Gesänge hinweg) unterstützt diese These: Arnims „Zweifelsprophet“ webt ein komplexes und engmaschiges Netz von Text-, Bildund Lied-Verbindungen, das sich aber gleichwohl nicht in sich verfängt, sondern – wie durch Zauberhand – in eine Richtung führt: in Richtung auf eine wirklichkeitsnahe Poetik, die sich unaufhörlich mit idealischen Vorstellungen vom Dichter und von der Dichtung auseinandersetzt, weil sie diese nicht aufgeben will. Ihre Lehre besteht im Ge277 Ich wende mich hier gegen R. Paulin 1986, S. 119. 278 So noch Rosenfeld 1935, S. 153. In seiner quellenreichen Pionierarbeit über das Bildgedicht geht er vor der Annahme aus, daß jedes Bild eine „Bildobjektivität“ ausweist, die der Dichter ‚abbilden‘ kann. Arnim hält sich nicht an diese – überaus schlichte und gerade für die komplexen Gemälde der Frühneuzeit unzutreffende – Wertprämisse. Weil Arnim derart von der eigenen Setzung abweicht, bevorzugt Rosenfeld die „ernster[en]“ Bildgedichte August Wilhelm Schlegels oder Sophie Mereaus.
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gensatz, genauer: im Lernen aus Gegensätzen, die keine Synthese kennen. Arnims bzw. Ariels Poesie-Modell erinnert damit nicht nur an das Reflexionspostulat Schlegels, sondern auch an Wielands Romane: an die Texte des spätaufklärerischen Autors, der Shakespeares The Tempest übersetzte und selbst über einen Luftgeist (Oberon) dichtete. Wie Wielands Romane zeichnen sich Ariel’s Offenbarungen – erstens – durch ein polyperspektivisches,279 aber im Prinzip (und mit graduellen Abstufungen) dualistisch zugespitztes Poesie-Modell aus. Im Falle Wielands entfaltet es sich zwischen ‚Schwärmerey‘ und ‚Kynismus‘,280 im Falle Arnims – zweitens – zwischen idealischen und ‚realistischen‘ Poesie-Vorstellungen. Schon deshalb sind beide Modelle nicht vollends deckungsgleich. Sie unterscheiden sich aber auch in zwei anderen Hinsichten: erstens erweitern Ariel’s Offenbarungen die spätaufklärerische Poetik Wielands multi-medial im Sinne eines Bild-Text-Kunstwerks. Kann Wielands Goldner Spiegel (1772) bereits nicht-linear und als polyperspektivisches Wechselspiel gelesen werden, so steigert Arnim diese Kommunikationssituation: Zyklen zu einzelnen poetologischen Themen (Dichterrolle, Liebe und Dichtung, Leben und Dichtung, Entlohnung des Dichters, Tod des Dichters, Begriff von Kunst, besonders von Poesie) verweisen ebenso aufeinander wie die Mythen und Bilder, auf die sie sich beziehen. Zweitens deutet Arnim Wielands Textmodell in Das Wandern der Künste und Wissenschaften geschichtsphilosophisch – im Blick auf die stetige ‚Besserung‘ der Menschheit durch Poesie.281 Ariel’s Offenbarungen allerdings machen diese Hoffnung zunichte und belassen es in gewisser Weise bei Wielands Entgegensetzung der Perspektiven. Das später entstandene Ixion-Gedicht Arnims hilft, Adaptation und Veränderung des spätaufklärerischen Roman-Modells durch das lyrische Drama Ariel’s Offenbarungen zu verdeutlichen. Ixion variiert die Themen des „Zweifelsprophet[en]“, vor allem hinsichtlich des Zweifels, zugunsten der düsteren Seiten aus Heymars Dichterschule und stellt die moralischen und optimistischen Ziele, wie sie Arnim in Das Wandern der Künste und Wissenschaften vertrat, entschieden in Frage.
279 Schönert 1970; J.-D. Müller 1971; vgl. auch Budde 2000. 280 S. Pott 2002 a, Kap.V. 281 Damit geht Arnim über Wieland hinaus, der sich der Geschichtsphilosophie verweigert.
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b) Ixion, der an seinen Studien verzweifelte Dichter (1808): „Glaubt ich mich Gott!“ Mit dem Ixion-Thema nimmt Arnim zahlreiche poetologische Fäden auf, die sich durch Ariel’s Offenbarungen ziehen: Es geht um Liebe, Täuschung und nicht zuletzt um das Verhältnis von Gott, Mythos, Mensch, Wirklichkeit und Poesie. Ixion entwirrt diese Fäden: Anders als in ‚Heymars‘ Dichter-Gedichten, die den Poeten idealisch und göttlich darstellen, klagt Ixion die Götter an. Das späte Dichtergedicht adaptiert den brutalen Ixion-Stoff nicht nur satirisch, sondern ahmt liedhaft nach, was Ixion wiederfährt, läßt dessen Handlungen nachvollziehbar werden und bringt dem Leser so die Verzweiflung ‚des Dichters‘ Ixion nahe.282 Worum geht es im Ixion-Mythos? Hederich informiert in knappen Worten und urteilt hart über die mythische Figur: Ixion, König und Gemahl der Dia, habe dem Schwiegervater die Brautgeschenke verweigert und ihn in eine Grube mit glühenden Kohlen gestürzt.283 Mehr noch: Er habe sich nicht mit Dia begnügt, sondern auch Juno (Hera) begehrt – ein Frevel, den Jupiter (Zeus) bitter zu rächen wußte. Er bildete Hera als Wolke nach, täuschte Ixion und überführte ihn des Ehebruchs. Mit der vermeintlichen Hera zeugte Ixion die Kentauren, die Wesen zwischen Gott und Mensch; zur Strafe für seine Begierde wurde er von Zeus auf ein Rad gebunden. Es laufe im Hades unaufhörlich mit ihm fort. Für Hederich war die Schuld Ixions bewiesen; sein Fehlverhalten ließ sich allegorisch auf die Zeitgenossen übertragen: auf die, die „nach nichtiger Ehre streben“, auf Undankbare, auf „Großsprecher“ und Ehebrecher.284 Ganz anders Arnim. Ihm werden die Erlebnisse des Ixion zu Studien – zu Studien über eine ganz und gar verderbte Götterwelt, der der Dichter-Mensch hilflos ausgeliefert ist. Sein Ixion-Gedicht besteht aus einer einzigen Strophe, einer Suada aus 176 Versen, die den Gang des Rades imitiert. Der Form nach wird sie nur durch die Interpunktion und durch 282 Bezeichnenderweise handelt es sich bei „Ixion“ um eines der spätesten Dichter-Gedichte Arnims; es erscheint in der „Zeitung für Einsiedler“ (1808), findet sich aber bereits in einem Brief an Clemens Brentano aus dem Jahr 1804. Dort trägt es noch den Untertitel „[...] der verzweifelte Academicus.“ Arnim an Brentano, [London, Ende März bis Mitte April 1804], in: Arnim u. Brentano 1998, Brief 38, S. 224–229, hier S. 227 f. 283 Vgl. Hederich 1967, Sp. 1145 f., hier Sp. 1145. 284 Ebd., Sp. 1146.
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den Refrain „Glaubt ich mich Gott!“,285 durch den leitmotivischen Verweis auf das „Rad[e] der Zeiten“,286 auf den Dichter, den „gemeinen Kerrel [Kerl]“,287 und auf das „Göttliche“ strukturiert.288 Ixion schildert sein Leiden auf dem Folterinstrument, schilt seine eigene Dummheit und die hinterlistigen Götter. Er blickt kritisch zurück und analysiert, was ihm widerfahren ist. Dabei behandelt der erste Abschnitt des Texts Ixions Schicksal auf dem Rad (V. 1–11),289 der zweite deutet seine ‚Untaten‘ an (V. 12–46), der dritte beschreibt die Verlockungen durch die Götter und Ixions Annäherung an die Wolke Juno (V. 47–85), der vierte stellt seine Bestrafung durch die Götter dar (V. 86–139) und der letzte nimmt auf die Sehnsucht der irdischen „Gespielen“ nach dem ‚Göttlichen‘ Bezug, das er selbst so bitter schmeckte (V. 140–176). Hier interessiert vor allem die Technik der (Selbst-)Analyse. Wie Novalis wendet sich Arnim der – im Mythos nicht in dieser Weise vorgeführten – ‚Psychologie‘ antiker Figuren zu. Novalis allerdings hatte es mit der Figur des Orpheus leichter als Arnim mit Ixion: Orpheus erweckt (trotz der negativen Deutung Vergils) Sympathie (vor allem diejenige der Romantiker) – Ixion hingegen nicht. Arnim muß deshalb erläutern, weshalb Ixion nicht einfach zu verdammen ist. Er löst dies Problem, indem er Ixion klagen läßt. Arnims Ixion beschreibt zweierlei: zum einen die eigenen Dispositionen, die ihn nach „Genuß“ und „Besitz [...] ewiger Schönheit“ im Reich der Götter streben ließen,290 zum anderen die Götter, die dieses Streben schamlos ausnutzten, um ihr Spiel mit dem Menschen zu treiben. Er wirft sich vor, der eigenen Hybris erlegen zu sein, die Brosamen der Götter gierig aufgesogen und – vor allem – sich ihnen ebenbürtig gefühlt zu haben („Glaubt ich mich Gott!“). Eine besondere Rolle spielte dabei der göttliche Nektar, der physisch und mental beflügelnd wirkte, und dem Ixion in hohem Maße zusprach.291 Auf diese Weise habe er, Ixi285 Arnim: Ixion, der an seinen Studien verzweifelte Dichter, in: Arnim 1989–94, V, S. 577–581, hier V. 23, 28. 286 Ebd., V. 2, 144. 287 Ebd., V. 12 f., 136 f. 288 Ebd., V. 14, 28, 40. 289 Alle Abschnitte enden mit einem Punkt; Apostrophen kennzeichnen, was besonders betont werden soll, und Gedankenstriche kündigen in der Regel die Selbstanalyse an. 290 Arnim: Ixion (wie Anm. II., 285), V. 17 f. 291 Vgl. ebd., V. 24: „Als mir der Nektar / Kitzelt die Nase, / Enget den Hals und / Flügelt das Blut, [...].“, V. 48–51.
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on, die Selbst- und Fremdwahrnehmung verloren, gar nicht gemerkt, wie er zum Spielball der Götter wurde, wie sie sich über ihn lustig machten und ihn schließlich hinters Licht führten.292 Sie spotteten über den Erdensohn und verbannten ihn aus ihren Gefilden, nachdem sie sich an seiner menschlichen Schwäche ergötzt hatten.293 Ixion wird ebenso schnell fallengelassen, wie man ihn in den Himmel gehoben hatte. Die Götter spielen „Glücksspiel[e]“ mit den „sterblichen Menschen“.294 Ixion, der Dichter, versuchte, ins „Rad der Zeiten“ zu greifen – und wurde dafür bestraft. Er selbst leidet nun an eben jenem Rad, und ihm steht der Sinn nicht mehr nach ‚Göttlichem‘: Habe nach Ewgem / Nimmer Gelüsten / Kannst du nicht greifen ins / Rad der Zeiten, es / Halten im Sinken, / Tragen das Endende / Gleichen Gemüts und / Freundlicher Seele! – 295
Dem Dichter bleibt der Eingriff in den Gang der Welt verwehrt. Ohnmächtig ist er auf sein Rad gebunden; verständnislos schaut er nunmehr dem irdischen Treiben zu. Dort streben die naiven Menschen noch immer danach, von den Göttern erhört zu werden. Diese Menschen haben nicht erkannt, daß sich das „Rad der Zeiten“ weiter drehen wird, daß es keine Veränderung gibt, daß sie ihr Schicksal ebenso ertragen müssen wie er selbst. Ixion schließt mit einer lakonischen Inversion, mit einem Verweis auf die ‚ewige Wiederkehr des Unbeeinflußbaren‘: „Treibt sie die Zeit / Nennen sie’s Zeitvertreib.“296 Ixion teilt die Welt in zwei Sphären. Im Himmel führen die Götter ein paradiesisches Leben und spielen bloß mit den Sterblichen, die ‚unten‘ auf ihre Erwählung, auf die „Blicke Kroniens“ hoffen und naiv meinen, sie selbst könnten ihr Schicksal beeinflussen.297 Der ‚an seinen Studien verzweifelte‘ Dichter Ixion entfaltet ein statisches Geschichtsund Weltbild, das er selbst wagemutig zu dynamisieren suchte. Als Dichter erprobte er nämlich genau das, was von ihm – dem Typus des Orpheus folgend – erwartet wurde: das Wandern zwischen beiden Welten. Doch ‚glaubte er sich bloß Gott‘; er hält die ‚orphische‘ Dichter292 Ebd., V. 59–63: „Stille einander / winkten die Götter / (Wie ich erfahren / Als es zu spät.) [...].“ 293 Ebd., V. 80–85: „Schon mich erweckte / Schluchzend Begehren / Donnergerassel, / Lachen und Grinsen / Aller der andern / Lieblinge Jupiters.“ 294 Ebd., V. 125 f. 295 Ebd., V. 141–148. 296 Ebd., V. 175 f. [Hervorhebungen im Original]. 297 Ebd., V. 158.
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rolle, die ihn in letzter Konsequenz auf das Rad trieb, nunmehr für naiv, verzweifelt aber zugleich an dieser Erkenntnis. Ganz anders als in der Mythologie wird Ixion bei Arnim zum Dichter-Menschen, der an eine herrliche idealische Götterwelt ebenso wie an das orphische Dichter-Ideal glaubte und dafür exemplarisch angeprangert wird. Ixions Analyse seines eigenen Schicksals zerstört sowohl die Legitimität der göttlichen Willkürherrschaft als auch das orphische Dichter- und Dichtungsideal. Doch Ixion kann die Menschen nicht von ihrem Glauben an Orpheus und an den idealischen Götter-Himmel erlösen; er ist an sein Rad gebunden. Es liegt in der Hand Arnims und der zeitgenössischen Leser, Konsequenzen aus ‚dem Fall Ixion‘ zu ziehen. Arnim kehrt mit seinem Ixion nicht nur den Mythos um, sondern schreibt auch gegen ein Antikebild an, wie es wenige Jahrzehnte zuvor herrschte. Wie ist eine so radikale Umdeutung möglich? Was waren Arnims Quellen? Novalis schildert die Götterwelt begeistert. Hölderlin hingegen läßt bereits dunkle Seiten erahnen, bemüht sich aber, zwischen Göttern und Welt zu vermitteln. Ihm war das Schicksal Ixions bekannt – und er parallelisierte es mit demjenigen Christi.298 Für seine Ixion-Rezeption bezieht er sich in erster Linie auf Pindar, den Vertreter der „Tradition des Traditionsbruch“299 und des „zarte[n] Styl[s]“,300 und zwar auf dessen zweite Pythische Ode. Sie ist einer der wenigen Texte, der ausführlich über das Schicksal Ixions Auskunft gibt; Hölderlin übersetzte die zweite Pythie vermutlich in der ersten Hälfte des Jahres 1800.301 Seine Übersetzung kommt dem Original sehr nahe,302 das Ixions Handeln beinahe schon psychologisch erklärt: Er [Ixion] lernte es deutlich. Bei den wohlgesinnten / Nämlich den Kroniden / Süss empfangend ein Leben, / Den weiten konnt er nicht tragen den Reichtum, / Mit rasendem Sinne / Hera weil er liebte, die Jupiters Betten / Empfangen haben, die vielerfreuten. / Aber ihn der Übermut zu Irre überschwenglicher / Ausnehmende Müh empfing. [...]303 298 Dem Leben Ixions unter den Göttern entspricht die menschliche Teilhabe an der Gegenwart Christi, der Hybris Ixion „das Wilde“ und „Freche“ am „heiligen Ort“. Ixion symbolisiert die Entfernung vom Göttlichen, möglicherweise aber auch die Sehnsucht, sie zu überwinden; vgl. Seifert 1982, S. 579 f. 299 Schmidt 1980–81, S. 109. 300 F. Schlegel: Fragmente [Athenäum] (wie Anm. II., 2), [193] S. 195. 301 Hölderlin 1992–94, III, Kommentar, S. 1288 f. 302 Vgl. für das Verhältnis von Original und Übertragung Friedrich Hölderlin: Zweite Pythische Ode, in: ders. 1988, S. 152–167, hier S. 156 f. 303 Pindar: Zweite Pythische Ode, in: Hölderlin 1992–94, III, S. 719–724, hier V. 44–53.
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Den „Heros“ Ixion, der ‚menschliches Blut‘ und ‚Götterblut‘ vermischen wollte,304 plagt der „Übermut“; er ‚rast‘ und droht ‚irre‘ zu werden. Ihm steht Jupiter gegenüber – nicht gerade ein Vertreter der Tugend, was Pindar hintersinnig anmerkt: Er spricht – wie Hölderlin kongenial übersetzt – von den „vielerfreuten“ („polugaqée~“) Betten des Jupiter.305 Die zweite Pythie aber zeichnet – in der Übersetzung Hölderlins – ein vergleichsweise differenziertes Ixion-Bild. Ixion wird nicht abgeurteilt, sondern vielmehr als Mensch behandelt, der im Götterhimmel notwendig der Hybris verfällt. Pindars Ode läßt – wie Arnims Ixion – darauf schließen, daß die Götter an Ixions Schicksal nicht unschuldig waren. Pindar deutet dies nur an – und Hölderlin spitzt die Andeutung in seiner Übersetzung zu. Allerdings ist ungewiß, ob Arnim die Hölderlin-Übersetzungen kannte. Ixion weist keine Spuren davon auf.306 Mit Hölderlins Werk kam Arnim außerdem erst ab 1805 in Berührung – um Hölderlin (mit dem Gestus Heymars) als einen ‚herrlichen‘, an einer ‚entfremdeten‘ Wirklichkeit leidenden Geist zu verehren.307 Ein bekanntes Thema kehrt dabei wieder: das Problem des ‚reinen‘ und ‚vergeistigten‘ Dichters, dem die Bedingungen des täglichen Lebens (Erwerbsarbeit etc.) Seelenpein bereiten (wie in Herkules und Omphale). Ixion aber steht noch für anderes, nämlich für die kritische Auseinandersetzung des Dichter mit dem ‚Idealischen‘ selbst, mit dem Höchsten und ‚Göttlichen‘, mit jener Sphäre, auf die sich die ‚reine Seele‘ des Dichters so erwartungsfroh richtet. Hölderlin bezieht sich – gerade in seinem Spätwerk und nach Dichterberuf – immer wieder auf diese Sphäre; er setzt dafür auf Mittlerfiguren zwischen Gott und Mensch: auf die Titanen und auf die Kentauren,308 die Ixion mit der Wolke zeugte.309 Arnims Ixion hingegen entlarvt die Götterwelt und ihre Mittlerfiguren, Kronien etwa. Arnims Sprecher gilt der Götterhimmel als verderbt. Für sei304 Ebd., V. 56 f. 305 Ebd., V. 51. 306 Arnim wählt ganz andere Vokabeln als Hölderlin. So spricht er – anders als der Pindar-Übersetzer – nicht von einem „rasende[n] Sinne“, von der Vermischung des „Blut[es]“, von „Lüge“ oder von „Trug“. 307 Über den Kontakt Arnims mit Hölderlins Texten Kaspers 1990–91, S. 161. 308 Siehe dazu Bennholdt-Thomsen 1986–87, bes. S. 253 f. 309 Dem Kentauren Chiron widmet Hölderlin eine eigene Ode; Hölderlin: Chiron [1803, veröffentlicht 1805], in: ders., 1992–94, I, S. 314 f.; vgl. dazu ausführlich ebd., Kommentar, S. 795–818. Chiron lehrt den Achill die Musik und die Dichtkunst, ist also zugleich einer der ersten Dichter; Pindar: Das Belebende, in: Hölderlin 1992–94, III, S. 772 f., hier S. 773.
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ne Darstellung des Ixion kann sich Arnim zwar auf Pindar beziehen: auf Pindars doppelte Beschreibung des Geschehens um Ixion, in der Pindar einmal die problematische Götterwelt, ein ander Mal den in der Natur des Menschen Ixion selbst angelegten dramatischen Fall der Figur darstellt. Aber dennoch bleibt dieser Bezug vage. Es befriedigt nicht, Arnims Ixion mit der Pindar-Hölderlin-Tradition zu verbinden – zumal eine andere Ixion-Darstellung damit konkurriert. Sie war – durch zahlreiche Übersetzungen bekannt gemacht – im ausgehenden 18. und im beginnenden 19. Jahrhunderts ‚en vogue‘. Gemeint sind die Ixion-Bezüge des Lukian von Samosata, des Spötters unter den ‚Alten‘, der die griechische Mythologie energisch kritisierte.310 Lukians satirische Morallehre wurde im Laufe der Aufklärung populär; schon Johann Christoph Gottsched veröffentlichte eine LukianÜbertragung (1745), und Johann Heinrich Waser übersetzte eine Vielzahl lukianischer Schriften (1769 ff.).311 Johann Christoph Bremer gab Lukians Göttergespräche im Jahr 1790 in einer kritischen Edition heraus; Christoph Martin Wieland publizierte seine Übersetzung der Sämtlichen Werke Lukians im Jahr 1788/1789.312 Im Blick auf diese rege Rezeptionstätigkeit im Zeichen einer moralisch verstandenen Aufklärung will ich der idealischen Pindar-Hölderlin-Linie eine satirische Lukian-Wieland-Linie für Arnims Ixion entgegenstellen. Ixion taucht in zahlreichen Dialogen und Essays Lukians auf. Sein Schicksal gilt Lukian – wie Arnim – als exemplarisch. Auf der Oberfläche liest sich das ‚Exempel Ixion‘ ganz einfach: Ein Mensch wagte sich in den Götterhimmel, benahm sich dort schlecht und wird seitdem von den Göttern gequält. Diese treffen eine für die Menschen bedauerliche, wenn auch verständliche Entscheidung: „[...] seitdem [seit Ixions Fehlverhalten] ist der Himmel dem Menschengeschlechte verschlossen und verbothen.“313
310 Das Ixion-Thema erfreute sich übrigens auch in der Renaissance großer Beliebtheit. Pietro Bembo und Pontus de Tyard beispielsweise sind bestens damit vertraut; siehe Marek 1999. Belege für eine Rezeption dieses Umgangs mit Ixion durch Arnim gibt es aber nicht. – Irmgard Osols-Wehden danke ich für den Hinweis auf Marek. 311 Vgl. darüber, daß die Aufklärung das Interesse an Lukian wiederbelebte, nachdem er im 17. Jahrhundert beinah in Vergessenheit geraten war; Baumbach 2002, S. 65–98. 312 Zu dieser Übersetzung Baumbach 2002, S. 99–113. 313 Lukian: Von den Opfern, in: Lukian 1813, S. 201–229, hier S. 210. Wieland übersetzt den Text hier – wie auch sonst – vergleichsweise genau; vgl. Lukian: On Sacrifices [PERI QUEION], in: ders. 1995, III., S. 153–171, hier S. 165 [9]: „Ábato~ dè tŒ qnhtŒ génei kaì @pórrhto~ ô oÿranó~.“
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Auch in der fiktiven Korrespondenz des Kronos [Saturn] mit den Reichen nimmt Lukian auf das Ixion-Beispiel Bezug. Kronos erscheint dort als Anwalt der Armen. Er fordert die Reichen auf, seine ‚Mandanten‘ an ihren Tisch zu lassen. Die Reichen, die in der Korrespondenz übrigens das letzte Wort haben, lehnen gelangweilt ab. Kronos wisse doch – wie Zeus –, daß sich die Armen nicht angemessen verhalten könnten. Kaum biete man ihnen Alkohol an, seien sie schon betrunken: Nicht zufrieden, sich den Wanst so voll zu stopfen, bis nichts mehr hinein wollte, schämten sie sich nicht, so bald sie über die Gebühr getrunken hatten, bald einem schönen Knaben, der ihnen den Becher, reichte, die Hand zu streicheln, bald sich mit der Geliebten oder auch wohl gar mit der Gemahlinn des Herrn vom Hause Freyheiten herauszunehmen; und wenn sie dann zuletzt den Speisesaal vollgespien hatten, zogen sie noch den folgenden Tag über uns los, und erzählten, wie sie an unserer Tafel hätten hungern und dürsten müssen. Solltest du etwa glauben, daß wir ihnen dieß zur ungebühr nachsagen; so erinnere dich nur euers ehemaligen Parasiten Ixion, den die Ehre an eurer Tafel zu sitzen auf gleichem Fuße mit euch zu seyn, so übermütig machte, daß der saubere Gast sich in trunknem Munde sogar an der Juno [Hera] selbst vergreifen wollte.314
Die Reichen vergleichen sich nicht nur mir den Göttern, sie bestimmen längst unabhängig von göttlichem Willen, was sie zu tun und zu lassen wünschen. ‚Göttlicher Idealismus‘ ist ihnen ebenso fremd wie den Göttern selbst – den menschenfreundlichen Kronos möglicherweise ausgenommen. Die Reichen achten – so legt es der Dialog nahe – erfolgreich nur auf eines, nämlich auf ihren Besitzstand. Daß sie und die Götter strategisch handeln, bloß ihre Eitelkeiten befriedigt wissen wollen, enthüllen Lukians Dialoge zwischen Hera und Zeus. Sie erhellen das Schicksal des leidenden Ixion. In den Göttergesprächen läßt es sich aus zwei ineinander verwobenen Eifersuchtsgeschichten erklären:315 Seit Zeus den Knaben Ganymed in den Himmel erhoben hat, fühlt sich Hera nicht mehr hinreichend beachtet. Sie gewinnt die Aufmerksamkeit des Gatten durch ihre Erzählungen über Ixion zurück.316 Dieser 314 Lukian: Saturnalische Verhandlungen, in: Lukian 1813, S. 5–45, bes. „Saturn an die Reichen“, S. 36–42 u. „Die Reichen an Saturn“, S. 42–45, hier S. 44, vgl. auch Lukian: Saturnalia, in: ders. 1990, IV, [OI PAOUEIOI], S. 87–140, hier S. 134–139, bes. 139 [38]. 315 Siehe Lukian: Sechs und zwanzig Göttergespräche, in: Lukian 1813, V. Ein ehelicher Wortwechsel zwischen Jupiter und seiner Gemahlinn, S.45–48. u. VI. Ixion, S. 48–52. 316 Das betreffende sechste Göttergespräch ist in der Wieland-Übersetzung sogar mit „Ixion“ überschrieben.
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werbe um sie, weiß Hera zu berichten. Zeus reagiert prompt, und zwar verständnisvoll: Ey, der verruchte Kerl! Was! Mich selbst anzutasten, und auf der empfindlichsten Seite! Ist’s möglich, daß ihn der Nektar bis auf diesen Grad trunken machen konnte? – Aber freylich sind wir selbst schuld daran, und treiben die Menschenliebe offenbar zu weit, da wir sie mit uns essen und trinken lassen. Wahrlich, es ist ihnen zu verzeihen, wenn sie bey einem Weine, wie der unsrige, über dem Anschauen himmlischer Schönheiten, dergleichen ihnen auf der Erde nie vorgekommen sind, vor Liebe den Verstand verlieren, und ihrer zu genießen begehren. Denn Amor ist ein gewaltthätiger Tirann, der nicht nur über die Menschen, sondern zuweilen über uns Götter selbst den Meister spielt.317
Hera kommentiert nüchtern: „Von dir ist er [Amor] in der That unumschränkter Herr [...]“318 – und erinnert Zeus an seine Liaison mit Ixions Gattin Dia, unterstellt ihm also heimliche ‚Kumpanei‘ mit dem Erdensohn. Um seine Ehre zu retten, schlägt Zeus vor, Hera als Wolke nachzubilden. Der Nebenbuhler soll überführt werden. Doch damit nicht genug. Hera fordert, Ixion dürfe nicht auf die Erde zurückkehren, wo er Schändliches über sie und den Himmel verbreiten könnte: Gleichwohl, wie die Menschen undelicate Geschöpfe sind,319 ist er [Ixion] im Stande, wenn er wieder auf die Erde kommt, sich groß damit zu machen, und allen Leuten zu erzählen, er habe bey der Juno geschlafen [...].320
Lukian spricht aus, was bei Pindar (Hölderlin) vorsichtig anklingt: Die Götter erscheinen als verderbt, heimtückisch und eigensüchtig; selbst der Herrscher auf dem Olymp betrügt seine Gattin. Anders als Ixion sind sie mächtig genug, all ihre Egoismen zu befriedigen – und Ixion wird ihr Opfer. Aus Rache, vor allem aber, um sich selbst von Heras Vorwurf der Komplizenschaft reinzuwaschen, führt Zeus Ixion vor. Indem er Ixion auf das Rad knüpft, beweist er, daß er sich selbst von der ‚Buhlerei‘ lossagt. Anders als Lukian, der Hera als geheime Drahtzieherin hinter dem vermutet, was ihr Gatte schließlich ausführt, motiviert Arnim die Tat aber nicht aus der Eifersucht der Göttin. In Ixion schildert er vielmehr die Herrschaftsstrukturen des Himmels: Die 317 Lukian: Ixion (wie Anm. II., 315), S. 50; vgl. Lukian: Dialogues of the Gods [QEON DIALOGOI], in: ders. 1998, VII, S. 239–353, hier S. 216–219 [6]. 318 Ebd. 319 Lukian läßt Hera hier von den „Ánqropoi @peirókaloí“, von den ‚rohen‘ oder ‚geschmacklosen Menschen‘ sprechen; ebd., S. 219 [6]. 320 Lukian: Ixion (wie Anm. II., 315), S. 51.
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Lieblinge des Jupiter begrüßen Ixions Fall; für ihn teilt sich die Welt in eingeweihte Götter und unterlegene Menschen. Aber wie Lukian dreht Arnim die Mythologie entschlossen um: Der Mensch erscheint als den Göttern strukturell unterlegen; er sieht sich ihrer Willkür und ihren Egoismen ausgesetzt. Wie Lukian nimmt Arnim das Ixion-Thema satirisch auf; auch ihm gilt das Schicksal Ixions als exemplarisch. Doch nicht nur als Mensch wagt sich der Ixion Arnims in die Götterwelt; für Arnim unternimmt er dort als Dichter Studien und verzweifelt. Eine so satirisch gefärbte Klage, wie Arnim sie über den verzweifelten Dichter Ixion schreibt, kann sich also auf die Vorlagen Lukians stützen.321 Für Lukian wie für Arnim geht es dabei vor allem darum, daß die Götter den Menschen nach Belieben täuschen und mißhandeln können. Arnim setzt sich immer wieder mit diesem Thema auseinander;322 es ist schon durch das erste Dichterliebe-Gedicht bekannt: Jo erging es im Prinzip nicht anders als Ixion. Sie wurde Opfer von Hera und Zeus. Untersucht man jedoch den eingangs erwähnten Brief Arnims an Brentano, dann erschließt sich eine etwas andere Deutung nicht nur des Ixion, sondern auch der Io. Denn Arnim begleitet seine Abschrift des Ixion für den Freund mit folgenden Worten: Ich komme mir zuweilen vor wie ein gemeiner Kerl, ich kann so vieles nicht was ich will und will auch nicht immer was ich kann. Umkehren will und kann ich nicht, aber ich scheue es auch nicht am Schlusse des Ariel zu sagen, wie einer der Weltkinder ohne besondere Anlage oder Studium blos weil er frey die Welt ansah, Wunder in seinem Gemüthe that. Wunder ist Uebergang, jeder Uebergang ist ein Wunder wie er sey vom Hellen zum Dunkel vom Dunkel zum Hellen. Denn was das höchste der Liebe ist Das läst sich nur einmal fühlen, Und was das Höchste des Lebens ist, Nur gegen das Höchste verspielen. Das ist das Wesen der Schönheit daß sie dem Auge verschwindet um dem Geist gegenwärtig zu bleiben.323
321 Arnim fehlt in Manuel Baumbachs umfangreicher Studie über die Lukian-Rezeption; Vgl. Baumbach 2002. Dieser Umstand verwundert nicht. Arnim wurde zu sehr als ein enthusiastischer Sammler von Volksliedern wahrgenommen, als daß man Spuren der lukianschen Schriften in seinen Texten vermuten würde. 322 Über die Täuschung vgl. Arnim 1989–94, Kommentar, V, S. 1361. 323 Arnim an Brentano, in: Arnim u. Brentano 1998, Brief 38, S. 229 [Hervorhebung im Original].
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Beziehen sich diese Sätze auf Ixion, dann zeigen sie erstens, daß Arnim mit dem Gedicht Zweifel an seinem eigenen Wollen und Können veranschaulicht. Diese Zweifel tauchen auch an anderer Stelle auf: Sein Ariel gilt Arnim als „Zweifelsprophet“.324 Auf seinen Reisen – und nicht zuletzt durch die Trennung von Brentano – will Arnim die „Gewohnheit“ zu arbeiten verloren haben.325 Brentano erging es – nach eigenem Bekunden – ebenso.326 Ixion steht also auch für eine einsame, unproduktive und zweiflerische Zeit. Zweitens geben die Sätze Arnims über seine Wahrnehmung des eigenen – möglicherweise ganz unbegabten, aber freien – Tuns Aufschluß: darauf, daß er es als „Wunder in seinem Gemüthe“ ansehe, also als etwas, das ausschließlich auf die eigenen Empfindungen zielt und es mit einem geheimnisvollen „Uebergang“ zu tun hat. Er verbindet diesen Aspekt – drittens – mit Aussagen über Liebe und Schönheit. In all diesen Fällen geht es um Grenzerfahrungen: Liebe erscheint als einmalig; das „Höchste des Lebens“ läßt sich nur dem ‚Höchsten‘ abringen – und die Schönheit scheint diese beiden Erfahrungen zu umschließen. Im Schriftbild des Briefs ist die abschließende Bemerkung über die Schönheit gegen die beiden vorhergehenden abgesetzt – so als handele es sich um eine Bilanz: Als „Wesen der Schönheit“ erweise sich zum einen, daß sie nicht mehr gesehen, also mit dem Auge wahrgenommen werde; zum anderen, daß nur noch der „Geist“ sie vergegenwärtige. Schönheit muß verschwinden, um als solche zu gelten. Die Gedichte über Ixion und Jo erscheinen gleichermaßen in einem neuen Licht, nimmt man diese Selbstaussage als poetologische Äußerung ernst. Ixion jagt – motiviert durch Liebe, gereizt durch den Glauben, er sei Gott – der göttlichen Schönheit nach, die sich aber nicht fassen läßt. Umgekehrt hat Zeus ein Auge auf Jo geworfen, der er sich aber – wie Ixion der Hera – nicht nähern darf. Im Blick auf diese gedoppelte Konstellation erscheint die Götterwelt in Ixion doch nicht so negativ wie beschrieben. Denn Arnim verbindet Mensch und Gott unter einem Aspekt: Die Schönheit erhaschen sie gleichermaßen nicht; sie steht sowohl über den Göttern als auch über den Menschen. Schönheit
324 Arnim an Brentano, Zürich den 9 July 1802, in: Arnim u. Brentano 1998, Brief 9, S. 16–23, hier S. 16 f. 325 Arnim an Brentano, [London (?), Mitte April 1912], in: Arnim u. Brentano 1998, Brief 39, S. 229–232, hier S. 230. 326 Brentano an Arnim, Marb[urg] 3 April 1804, in: Arnim u. Brentano 1998, Brief 37, S. 220–223, hier S. 221.
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bleibt notwendigerweise unerreicht. Daß sie allerdings in den poetologischen (Rollen-)Gedichten verschwindet, liegt nicht an ihrem ‚Wesen‘, sondern an der unüberwindlichen Grenze zwischen Götter- und Menschenwelt. Einerseits kritisiert Arnim also die (poetologische) Annahme von den zwei Welten, von einer idealisch-himmlischen und einer irdischen Sphäre aus anthropologischer und moralischer Sicht; andererseits betrachtet er die Geschichte des Ixion (ebenso wie diejenige der Jo) als Allegorie der Schönheit. Vermittelt durch Wieland konnte sich Arnim mit einer ganz und gar vom Menschen ausgehenden Kritik des Götterhimmels vertraut machen, die das privilegierte Leben höherer Wesen anzweifelt. Damit steht Arnim aber noch sehr viel unmittelbarer als mit Ariel’s Offenbarungen in jener Tradition spätaufklärerischer Poetik, wie sie im Ausgang des 18. Jahrhunderts durch Wieland veranschaulicht wurde. In Ixion geht es – mit Lukian – um die satirische und moralische Anklage der Mächtigen: der Götter wie ‚der Reichen‘, zugleich aber auch darum, ein umfassendes Bild vom Menschen und vom Dichter zu entwikkeln, das Tugenden und Laster gleichermaßen berücksichtigt. Mit seinem Ixion verändert Arnim die polyperspektivische Form Lukians bzw. Wielands zugunsten der Perspektive des Dichters Ixion. Die rhythmisierte Gedichtform veranschaulicht die Leiden des Dichter-Individuums und stellt das Geschehen im Götterhimmel bzw. im Hades einprägsam dar. Was bei Wieland und Lukian distanziert klingt, überführt Arnim hier in eine ‚unmittelbare‘ Form; er entscheidet sich zugunsten Ixions. Den Leser läßt er mit dem verzweifelten Dichter leiden, der zu viel wagte, der Sklave seiner Hybris wurde. Damit stellt er noch einmal das Thema Phaëtons heraus, wendet es aber skeptisch: Ixion weist kein Komplementärgedicht auf; es steht allein und zeigt den an Götterhimmel und Menschenerde gescheiterten Dichter. Arnims lukianische Ixion-Sicht findet noch im Ausgang des 19. Jahrhunderts einen Nachahmer, nämlich Oscar Linke, der Ixion naturalistisch umdeutet und sich formal an Arnims Gedicht anlehnt: Linkes Ixion aber erscheint nunmehr als Held, Hera als die betrogene Gattin des Zeus, die der titanenhafte ‚Dichter-Charakter‘ liebt und begehrt.327 Diese ungebrochene und heldische Sicht Ixions erlaubt sich Arnim nicht. Gleichwohl weist sein Ixion heldenhafte Züge auf: Er riskiert etwas. Anders als Hölderlin, dessen Dichter in seinen 1800/1801 entstandenen Texten noch zwischen Wirklichkeit und Götterwelt schwankt; 327 Siehe dazu Kapitel V. 2. dieser Untersuchung.
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anders als der Orpheus des Novalis, der sich nicht in die Unterwelt, sondern nur in den Musentempel wagt, stürmt der dichtende Mensch Arnims den Götterhimmel. Arnims Ixion trotzt der Gefühlspoetik des Novalis ebenso wie dem orphischen Bild vom Dichter, der zwischen den Welten wandelt: Sein Ixion aber droht am eigenen Mut zugrunde zu gehen. Zahlreiche Impulse empfängt Arnim zu diesem Zweck zwar von Schlegels reflexiver Universalpoetik, aber immer wieder führt er die Grenzen poetologischer Reflexion vor. Arnims polyperspektivisches Poesie-Modell geht davon aus, daß der Dichter zwischen verschiedenen Rollen wählen muß und die eigene Reflexionsfähigkeit nicht überschätzen darf. Glauben und Handeln des Dichters sollten um die Grenzen des Poetischen wissen, denn das Reich der Poesie erstreckt sich nicht unendlich. In den Texten des frühen Arnim findet die reflexive Universalpoetik deshalb einerseits ihre Umsetzung, andererseits aber auch ihr Gegenstück; sie wird ad absurdum geführt. In seinen poetologischen Gedichten greift Arnim ganz unterschiedliche Poetiken auf: Poetiken der Antike, der Aufklärung und der Romantik. Entnimmt er letzteren den Problemhorizont für seine Texte, so erweist sich die Art und Weise der Reflexion über diese Poetiken als traditionell, vergleicht man sie mit den romantischen Dichtungslehren der Jenaer und Berliner Kreise. Arnim spielt Ideal und Wirklichkeit gegeneinander aus und kommt zu einer spannungsvollen Lösung im Sinne des spätaufklärerischen Romans:328 Er gestaltet in Figuren, Positionen und Bild-Text-Spielen, was ihm die überlieferten Poetiken und Ästhetiken überantworten. Wenn er auch mit seiner Rede über Das Wandern der Künste und Wissenschaften Neigungen zu einem religiös gefärbten geschichtsphilosophischen Poesie-Modell erkennen ließ, dann formuliert er doch keine neue poetologische Lehre. Vielmehr eröffnet er dem Leser Perspektiven auf unterschiedliche Poetiken. Arnim stößt ihn dabei immer wieder auf einen zentralen Konflikt: auf den Gegensatz zwischen idealischer oder ‚schwärmerischer‘ und ‚realistischer‘ oder kritischer Poetik. Wie Wieland variiert er diesen Dualismus, indem er ihn am Beispiel der unterschiedlichen Rollen des Dichters darbietet und an dem mißt, was er für ‚menschlich‘ hält. Poetik ist hier nach wie vor zu einem erheblichen Teil Anthropologie; im Falle des Novalis und Hölderlins war sie es auch, wenn auch unter den Vorzeichen von Gefühl und Ideal. Von Grenzen der Poesie ließ Novalis, der den normativen Poesie-Begriff der Aufklärung überhaupt erst erweiterte, noch nichts 328 Siehe dazu die Schlußbemerkungen im vorherigen Abschnitt.
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ahnen; Hölderlin hingegen steht nach seiner ‚skeptischen Wende‘ bereits für die Grenzen einer „Poesie der Poesie“ ein. Arnim treibt diese noch weiter, spielt Poesie so lange universalreflexiv durch, bis sie sinnlos wird. Seine frühe romantische Lyrik erweist sich deshalb erstaunlicherweise auch als anti-romantisch. Die schwäbische Romantik teilt zahlreiche Vorlieben mit der eigensinnigen und vielschichtigen Poetik Arnims: diejenige für eine natürliche und diejenige für eine wirklichkeitsnahe Poetik beispielsweise. Am Beginn des 19. Jahrhunderts setzt sie diese noch vergleichsweise traditionell um; im Laufe der 1820er und 30er Jahre wird ihr erst recht zum Problem, was in den Jenaer, Berliner und anderen romantischen Dichterkreisen angelegt ist: Die Reflexion befriedigt nicht mehr. Ihre Erklärungs- und Spiegelungsleistungen dienen zwar der Selbst- und Fremdkritik, der Wahrheit und dem historischen Verstehen, aber Reflexion allein vermittelt keine Orientierung. Sie wirkt unproduktiv – als verhindere ausgerechnet sie jene ‚humane‘ Poesie, nach der sich die Zeitgenossen sehnten.
III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik: Reflexion als Problem in der Epoche der „Reflexionsbildung“ Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späteren Mittelalters sind vorüber. Die Reflexionsbildung unseres heutigen Lebens macht es uns, sowohl in Beziehung auf den Willen als auch auf das Urteil, zum Bedürfnis, allgemeine Gesichtspunkte festzuhalten und danach das Besondere zu regeln, so daß allgemeine Formen, Gesetze, Pflichten Rechte, Maximen als Bestimmungsgründe gelten und das hauptsächlich Regierende sind. Für das Kunstinteresse aber wie für die Kunstproduktion fordern wir im allgemeinen mehr eine Lebendigkeit, in welcher das Allgemeine nicht als Gesetz und Maxime vorhanden sei, sondern als mit dem Gemüte und der Empfindung identisch wirke, wie auch in der Phantasie das Allgemeine und Vernünftige als mit einer konkreten sinnlichen Erscheinung in Einheit gebracht enthalten ist. Deshalb ist unsere Gegenwart ihrem allgemeinen Zustande nach der Kunst nicht günstig. [...] In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.1
Hegel beginnt seine Vorlesungen über die Ästhetik (1817/18–1828/29) – in der stark bearbeiteten Druckfassung von Heinrich Gustav Hotho (1835/1842)2 – mit einem harten Urteil: Ihm gilt die Kunst der Epoche als minderwertig. Sie entspreche ihrer „höchsten Bestimmung“ nicht 1 Hegel 1986, XIII, I., S. 25. 2 In ihrer Edition der Nachschrift, die der Hegel-Editor Hotho von Hegels Berliner Ästhetik-Vorlesung (1823) anfertigte, zeigte Annemarie Gethmann-Siefert, daß Hotho die Ästhetik Hegels stark verändert, dem streckenweise unsystematischen und undogmatischen Vortrag jene systematische Ordnung erst verleiht, die ihn im Urteil der Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts auszeichnet; dies.: Einleitung, in: Hegel 1998, S. XV–CCXXIV, bes. S. XC f. Weil es mir hier weniger auf Hegels Aussagen selbst, als vielmehr auf ihre Rezeption ankommt, die sich an der Hothoschen Ausgabe orientiert, zitiere ich nach der Edition Hothos, vergleiche den Text aber an systematisch wichtigen Stellen mit der Nachschrift. – Für die Zitate aus der HothoEdition wäre korrekter von einem Autor- und Editor-Duo Hegel-Hotho zu sprechen; ich unterlasse dieses um der besseren Lesbarkeit des Texts willen und spreche schlicht von Hegel.
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mehr, reiche nicht an die ‚wahre‘ Kunst der Griechen und des späten Mittelalters heran. Denn diese habe im sinnlichen Ausdruck noch das Allgemeine (Formen, Gesetze, Pflichten, Rechte, Maximen) mit dem Besonderen (Empfindung) verbunden. Kunstproduktion und -rezeption erwiesen sich aber nunmehr als gehemmt; sie neigten zu sehr dem Allgemeinen zu, mehr noch: Sie erschienen als durch Formeln und Gesetze beherrscht, weil sie ihren Ursprung verloren hätten. Weil der Kunstbetrachter deshalb nicht mehr bloß genießen könne, was ihm dargeboten werde, sondern es immer zugleich beurteilen wolle, folgert Hegel, daß die ‚neue‘ Kunst in besonderer Weise der Wissenschaft bedürfe, und zwar der philosophischen Ästhetik. Nur sie werde dieser Kunst und der neuen Form der Kunstbetrachtung gerecht, weil erst sie die Bedeutung der Reflexionskunst erkennen könne. Das harte Urteil Hegels erfüllt gleich zwei Aufgaben: einerseits benennt es ein epochales Problem der Kunst, nämlich dasjenige der „Reflexionsbildung“. Andererseits dient es dazu, Ästhetik selbst geschichtsphilosophisch zu begründen. Schon deshalb wäre es falsch zu behaupten, Hegel hätte mit seinem Urteil die These vom Ende der Kunst vorweggenommen.3 Vielmehr beschreibt er einen Verlust, den Verlust der Kunst „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung“ und will mit seiner Ästhetik auf genau diesen Verlust reagieren, um Kunstproduktion und -rezeption im Zeitalter der „Reflexionsbildung“ ins rechte Licht zu setzen. Aus diesem Grund ergänzt er seine Diagnose um genaue Beobachtungen im Detail. Unter „Reflexion“ versteht er dabei „die allgemeine Gewohnheit des Meinens und Urteilens über die Kunst“,4 die Kunsterfahrung und Kunstproduktion belasteten. Selbst der Künstler könne sich von dieser Reflexion nicht befreien und zu einem vorreflexiven Zustand zurückkehren; er laufe deshalb Gefahr, „mehr Gedanken“ in sein Werk „hineinzubringen“ als diesem gut täte.5 Hegels Urteil über den Zustand der Kunst bewegt schwäbische Dichter und Denker, die in den 1830er und 40er Jahren seine Schriften studieren, durch Hegel ihre philosophische Erweckung erleben und die 3 Über die These, am Beginn der Moderne sei die Kunst an ihr Ende gekommen und über seine Rezeption Gethmann-Siefert: Einleitung (wie Anm. III., 2), S. XXII f. Gethmann-Siefert zeigt, daß es sich dabei nicht um eine Erfindung Hothos handelt, sondern daß Hegel diese Auffassungen in seiner Vorlesung von 1823 selbst formuliert. Über das Fortleben der These als ‚Gerücht‘ in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts Geulen 2002. 4 Hegel 1986, XIII, I., S. 25. 5 Ebd.
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Dialektik als einzig wahre Denkmethode betrachten. Im Schwaben dieser Jahre treffen Welten aufeinander: der spekulative Gedankenhorizont der Hegelianer, der schwäbische Protestantismus einer erstarrten Orthodoxie, der Zweifel am Christentum und der Verlust des eigenen Glaubens, mystische Lehren in der Nachfolge Jacob Böhmes, die politischen Forderungen des ‚Jungen Deutschland‘ und – nicht zuletzt – eine Poesie, die das Unmögliche versucht, die ‚hinter‘ die Reflexion (im Sinne Hegels) zurückgehen will. In einer derartigen geistigen wie politischen Gemengelage wird die mentale Orientierung des Individuums zur existentiellen Frage. Es muß sich zwischen überkommenen Traditionen und neuen Orientierungen zurechtfinden, die Zündstoff bergen und die eigene bürgerliche Existenz gefährden könnten. Die Briefe und Schriften Eduard Mörikes (1804–1875), Friedrich Theodor Vischers (1807–1887) und David Friedrich Straußens (1808–1874) bezeugen es. Alle drei werden in Ludwigsburg geboren, kennen sich seit Kindertagen, studieren gemeinsam in Blaubeuren und Tübingen Theologie, u. a. bei dem „erste[n] quellenmäßig und methodisch arbeitenden Religionsgeschichtler seiner Zeit“, bei Ferdinand Christian Baur (1792–1860).6 Man pflegt nicht nur die Freundschaft, feiert Goethes und Hegels Geburtstag, ‚kneipt‘ gern und reichlich, sondern schickt sich auch Texte, wissenschaftliche ebenso wie literarische, kritisiert und rezensiert sich wechselseitig, stiftet Kontakte. Dies rege ‚commercium litterarium‘ ruht aber nicht nur auf Freundschaft; vielmehr wissen sich Mörike, Vischer und Strauß durch eine gemeinsame – anti-orthodoxe – Überzeugung verbunden: Ihnen kommt es – im Sinne des ‚liberalen‘ Vorbilds Schiller – auf den ‚ganzen Menschen‘ an. Philosophie, Theologie, Ästhetik und Literatur sollen nunmehr dazu dienen, die Bedürfnisse des Menschen besser zu erfassen, zu beschreiben und historisch zu ordnen. Anders gesagt: Die Reflexion hat – im Prinzip – vor ‚dem Menschen‘ zurückzustehen. Er gilt als das Maß aller Dinge. In der Poetik der drei finden sich diese Überzeugungen wieder – mit erheblichen Unterschieden allerdings, was ihre genaue Ausgestaltung anbelangt. Auch wandeln sich die Anschauungen der Freunde im Laufe der Zeit: Wenn sie den Menschen am Beginn ihrer Laufbahnen als ein schon vollkommenes Wesen preisen, wie Jungdeutsche in den 1830er Jahren mit dem Zweifel am Religiösen ebenso wie an der Gesellschaft kämpfen, dann setzen sie im Ausgang dieser Kämpfe immer mehr auf
6 Das Zitat stammt von Ernst Barnikol; Scholder 1980, S. 354.
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ein neuhumanistisches Bildungskonzept, das sich im Ausgang von Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt entwickelt. Es besteht – in zahlreichen Varianten des 19. Jahrhunderts – aus zwei Grundmerkmalen:7 erstens verfolgt es als höchsten Wert und Zweck die Bildung des Individuums, des ‚ganzen Menschen‘. Ihn gilt es, zu Autonomie (nicht zu „gemeiner Brodkenntnis“)8 und zur (politischen) Teilhabe an der ‚societas‘ zu erziehen. Zweitens betrachtet dieses Bildungskonzept das Studium vor allem der griechischen Antike als Weg dorthin, weil sie dieses Bildungsideal bereits verwirklicht, Wahres, Gutes und Schönes in „classische[r] Form“ ausgebildet habe.9 Im Mythos von der Wahlverwandtschaft der deutschen und der griechischen Nation erklärt sich der Neuhumanismus darüber hinaus zum nationalen Bildungsauftrag. Das Vertrauen auf den künstlerisch-unmittelbaren oder sogar „naiven“ (im Sinne von ‚ursprünglichen‘) Ausdruck,10 der mehr gilt als der reflektierte und theoretisch vermittelte, ist das erste entscheidende poetologische Ergebnis dieses Neuhumanismus. Das zweite betrifft jene Literaturvorstellungen, die sich am ‚Klassischen‘ orientieren und eine ästhetische Orientierung von Literatur befördern. Vor dem Hintergrund und mit Hilfe des neuhumanistischen Bildungskonzepts (besonders seiner poetologischen Aspekte) lernen reflexionsgeplagte Gelehrte wie Vischer und Strauß nach und nach, mit ihren Zweifeln umzugehen. Im Ausgang aus dem mühevollen Lernprozeß kehren Hegels Schüler sein Urteil über die „Reflexionsbildung“ ‚in praxi‘ um: Die geläuterten schwäbischen Meisterdenker bekennen, selbst am liebsten Dichter oder – im Falle Vischers – auch Maler geworden zu sein. Aber als Dichter fühlen sie sich dem Genius Mörikes unterlegen. Er erscheint ihnen als der ‚wahre Dichter‘, als der ‚menschliche Poet‘, als der ‚poetische‘ bzw. ‚poetisierende Mensch‘ – eine Sichtweise, die im Jahr 1930 erstaunlicherweise durch Friedrich Gundolf neue Aufmerksamkeit erfährt (1. Teil). Aufgrund ihres Mißtrauens gegenüber der Reflexion und aufgrund ihres neuhumanistischen Dichter-Bilds sehen sich die Schwaben in ent-
7 Die Darstellung folgt Landfester 2000, S. 93–95; siehe auch Cancik 1998. 8 So formuliert es der einflußreiche Schulpolitiker Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) in seinem bildungspädadogischen Programm aus dem Jahr 1808; Cancik 1998, S. 321. 9 Ebd. 10 Vischer spricht vom „naiven“ Dichter Mörike; ders. 1975, S. 7 u. passim.
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schlossener Gegnerschaft zur Jenaer und Berliner Romantik, aber auch zu Aspekten der Romantik im schwäbischen Umfeld. Unter Romantik verstehen sie dabei vielerlei: einen Hang zum Phantastischen und Subjektiven, aber auch eine unproduktive Neigung zur Selbstbespiegelung des Künstlers (Reflexion im zweiten Sinne).11 Eine derartige, eine bloß sich selbst bespiegelnde Kunst, wie Friedrich Schlegel sie verhieß, vollbringt – nach Strauß, Vischer und Mörike – keine menschlich wertvollen Taten, sondern verherrlicht sich bloß selbst (2. Teil). Gegnerschaften wie diese gehen aber nur in differenzierter Weise in das ästhetische Denken ‚nach Hegel‘ ein: Nicht jede Form der Reflexion erweist sich – nach Vischer – als problematisch. Auf Reflexion – im Sinne von Meinen und Urteilen – läßt sich in der Literatur also doch nicht verzichten. Vischer sieht sich deshalb genötigt, „Reflexionsbildung“ und künstlerische Naivität in Einklang zu bringen (3. Teil). Vorliegender Versuch, das poetologischen Denken des schwäbischen ‚Triumvirats‘ Mörike, Strauß und Vischer vor dem Hintergrund der Schlegel- und der Hegel-Rezeption zu ermitteln, kann sich auf zahlreiche Studien stützen: Strauß und Vischer sind als Jung-Hegelianer so berühmt wie berüchtigt.12 Wenn sie Hegels Grundgedanken weiterspinnen, dann lösen sie sich allerdings von ihrem Meister. Sie suchen nach Lösungen – nicht zuletzt für das Problem der „Reflexionsbildung“. Für Mörike wurde der Bezug auf dieses Problem bislang nicht wahrgenommen. Ein Einfluß Hegels läßt sich für Mörike auch nur mittelbar nachweisen, nämlich über Vischer, dem Mörike sein Interesse an Hegels System bekundet und von dem sich Mörike darüber unterrichten läßt. Zwar stellte man für Mörikes Lyrik eine Tendenz zur Subjektivierung fest und sah in ihr den Beginn des Denkmusters einer Subjektivierung der Lyrik, das sich durch das 19. Jahrhundert (bis hin zu Liliencron) ziehe.13 Aber es ließ sich bislang nicht erklären, weshalb diese Tendenz der Subjektivierung ausgerechnet bei Mörike einsetzte. Der Blick auf die Hegel-Rezeption hilft hier weiter. Denn erstens kann Mörike Hegels Kritik an der „Reflexionsbildung“ aufnehmen und sich 11 Über diese begriffliche Unterscheidung Abschnitt I. 3. dieser Untersuchung. 12 Der kritische Bezug auf Hegel wurde für Vischer wie für Strauß oft herausgestellt. Für letzteren siehe Sandberger 1972 und Graf 1982; für Vischer: Glockner 1931, S. 72–110; Oelmüller 1959, S. 183–213; Göbel 1983, S. 50–77. Sofern Vischers „Aesthetik“ mit der hegelschen verglichen wird, steht in der Forschung die Metaphysik im Vordergrund. Poetologische Fragen im engeren Sinne werden nicht behandelt; zur Gattungspoetik nur Willems 1981. 13 Schlaffer 1984.
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zweitens von Vischer darüber informieren lassen, daß Lyrik – mit Hegel – Subjektivität ausdrückt. Dieser poetologische Zusammenhang von Reflexionskritik, emphatischer Subjektivität und der Ablehnung einer bloß sich selbst bespiegelnden Romantik wurde bisher übersehen und wird hier erstmals nachgezeichnet.14 Doch ist es nicht allein die Hegel-Rezeption, die Mörike, Vischer und Strauß beeinflußt, sondern auch die Poesie selbst: Wie bedeutsam die Auseinandersetzung mit der ersten schwäbischen Dichter- und Denkergeneration, mit Ludwig Uhland und dem Magnetiseur Justinus Kerner für die Poetik der ‚späteren Schwaben‘ ist – all das deuten nur wenige Studien an.15 Die nachstehende Untersuchung hingegen beginnt mit Kerner und erblickt in ihm einen wirkungsmächtigen Poetiker des frühen 19. Jahrhunderts, begnügt sich aber zunächst mit einem kontroversen Aspekt der Lyrik Kerners und kommt an anderer Stelle auf seine Texte zurück.16 Darüber hinaus hebt sie einen unentdeckten poetologischen Schatz: das poetologische Denken von David Friedrich Strauß. Es verwundert nicht, daß die germanistische Wissenschaftsgeschichte von dessen Existenz bislang nichts ahnte: Die Nachwelt sah in Strauß einen ‚frühreifen‘ Religionskritiker, der das Neue Testament in Geschichten zerlegte und damit an den Grundfesten des Glaubens rüttelte. Hier wird er erstmals als ein Poetiker entdeckt, der dem populären anti-romantischen Urteil Vorschub leistete – und zwar durch seine Kritik an der Reflexionspoesie Friedrich Schlegels und Ludwig Tiecks. Gemeinsam mit Vischer und Mörike sucht Strauß nach dem verlorenen Ursprung, nach Naivität und Harmonie – nach Gegenbildern zu einer erstarrten Sebstbespiegelung, zu einem strengen Systemdenken und zu einer religiös wie politisch ausgesprochen kontroversen Zeit.
14 Todorow hat diesen Zusammenhang im Prinzip erkannt, aber sie verschenkt das denk- und wissensgeschichtliche Potential, das in ihm liegt, indem sie die Theoriebildung der Ästhetiken und Poetiken künstlich von der Lyrik trennt und gegeneinanderstellt; dies. 1981, S. 242 f. 15 Vorbildlich ist hier der Marbacher Katalog über Kerner, Uhland und Mörike; Bergold, Salchow u. Scheffler 1992. 16 Siehe Abschnitt V. 1.
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1. Schwäbische Dichterkreise: Poetik des ‚ganzen Menschen‘ Der schwäbische Dichterstande treibt gern dreiblättrig. Uhland, Kerner, Schwab in älterer, Mörike, Waiblinger und unser Ludwig Bauer [...] in jüngerer Generation.17
Zur ersten Generation schwäbischer Dichter, die gemeinsam in Tübingen studiert und sich gegen die Romantik der Schlegels und Tiecks absetzen will, gehören – nach dem Bonmot von Strauß – der dichtende ‚Zwangsjurist‘ Ludwig Uhland (1787–1862), Politiker und Germanist in Personalunion,18 Justinus Kerner (1786–1862), Physiologe, Nervenarzt und ‚Geisterseher‘ aus Weinsberg, und Gustav Schwab (1792– 1850).19 Vischer, Strauß und Mörike spotten über ihn als bloßes Anhängsel Uhlands. Die zweite Dichtergeneration (die „Orplid-Gruppe“) umfaßt Mörike selbst, Wilhelm Waiblinger (1804–1830) und Ludwig Bauer (1803–1846).20 Erstaunlicherweise verschweigt Strauß in seiner Aufzählung des schwäbischen Dichterstands aber, daß er und Vischer gleichfalls dichteten und somit in gewisser Weise zur zweiten PoetenGruppe zählten. Daß Strauß die Literatur der Gelehrten nicht viel galt, belegt aber bereits, wie sehr er als ein Vertreter des Jung-Hegelianismus versuchte, Reflexion und Kunstschaffen nicht nur zu trennen, sondern die Reflexion zugunsten ‚unverfälschten‘ Ausdrucks aus dem Kunstschaffen auszublenden. Strauß konnte diese Sehnsucht nach einem unmittelbaren Ausdruck der poetologischen Lyrik Kerners, Uhlands und Mörikes entnehmen: der Begeisterung für die Natur, dem Sängerkult und der poetische Meta-Reflexion (Abschnitt a). Seit den Standardwerken von Heinz Schlaffer (1966), Renate von Heydebrand (1972) und Gerhart von Graevenitz (1978) gelten Mörikes Gedichte nicht mehr nur als biedermeierliche Zeugnisse eines harmonischen Lebens, sondern als Zeugnisse für eine 17 D. F. Strauß 1847 a, S. 489. 18 Uhland nahm an der sog. ersten Germanisten-Versammlung im Jahr 1846 teil und widmete sich vor allem der Mittelalterphilologie; siehe dazu Schweikle 1988, bes. S. 149. – Er gab seine Professur an der Universität Tübingen aber bereits im Jahr 1833 auf und lehnte seine Einsetzung als Honorarprofessor im Jahr 1848 ab; Meves 1999, S. 102, Anm. 84. 19 Seit Heinz Otto Burger (1928) wird dieser Kreis auch als „schwäbische Romantik“ beschrieben; Borst 1988, S. 39 f. 20 Siehe über die literarische Gruppenbildung der zweiten schwäbischen Dichtergeneration Graevenitz 1978, S. 87–151.
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lebensnahe Autonomieästhetik,21 als Produkte eines ebenso subjektiven wie geselligen und politischen Dichtens,22 das sich bis zu den Klopstockschen Gruppenbildungen zurückverfolgen läßt.23 Aber eines sparten diese Mörike-Interpretationen weitgehend aus: den Kontext der Romantik. Hier wird er als Anschauungsbereich für den zentralen poetologischen Konflikt dichtender und denkender Zeitgenossen der 1830er und 40er Jahren aufgefaßt – als Anschauungsbereich für das Problem der „Reflexionsbildung“, das ein ‚ursprüngliches‘ Dichten in dem Sinne, wie Hegel es für die Antike und das späte Mittelalter beschreibt, unmöglich macht. Dabei sind Jenaer, Berliner und schwäbische Romantik streng zu unterscheiden: erstere erweist sich – nach Mörike, Vischer und Strauß – als bloßes Symptom der historischen Problemlage. Letztere hingegen ist nicht nur Teil der Regionalkultur, sondern bildet ihre Landeskinder, indem sie ihnen den Stempel der Reflexionskritik aufprägt. In der Folge dieser Kritik schließen Mörikes Gedichte an poetologische Tendenzen an, wie sie im ersten schwäbischen Dichterkreis angelegt sind. Sie suchen nach Lösungen für das Problem der „Reflexionsbildung“ (Abschnitt b).
a) Magnetismus, Sängerkult und meta-reflexive Poesie: Justinus Kerner, Ludwig Uhland und Eduard Mörike im Urteil von David Friedrich Strauß und Friedrich Theodor Vischer „[...] ihr Meister heißt – Natur!“, so formuliert Kerners Sprecher im letzten Vers seines Gedichts Die schwäbische Dichterschule emphatisch über diesen Poetenkreis.24 Er greift damit aber nicht einfach das überlieferte ‚mimesis‘-Gebot auf, sondern überbietet es bereits: Die schwäbische Dichterschule ahmt nicht nur Natur nach, sondern will Poesie ganz in ihr aufgehen lassen. Dieser Kult des Natürlichen, der mit der Novalis-Verehrung Uhlands und Kerners einhergeht und sich der Naturphilosophie Schellings sowie (im Falle Kerners) der Rezeption Jacob Böhmes verdankt,25 kennzeichnet aber nur einen Aspekt der reichen 21 Heydebrand 1972. 22 Über den politischen Mörike F. Meyer 2001. 23 Für das subjektive Dichten Schlaffer 1984, S. 17–70; für das gesellige Graevenitz 1978. 24 Kerner: Die schwäbische Dichterschule, in: Kerner 1914, S. 22. 25 Vgl. Borst 1988, S. 48 u. passim.
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poetologischen Programmatik schwäbischer Dichter, und zwar denjenigen, der unter ihnen unstrittig ist. Von einem Gedicht, das Die schwäbische Dichterschule betitelt ist, läßt sich auch kaum anderes erwarten. Hier geht es um den kleinsten gemeinsamen Nenner.26 Ganz anders verhält es sich mit dem poetisch-poetologischen Denken einer geheimnisvollen und dunklen Innerlichkeit. Sein poetologisches Gedicht Poesie drückt es aus: Poesie ist tiefes Schmerzen, Und es kommt das echte Lied Einzig aus dem Menschenherzen, Das ein tiefes Leid durchglüht. Doch die höchsten Poesien Schweigen wie der höchste Schmerz, Nur wie Geisterschatten ziehen Stumm sie durchs gebrochne Herz.27
Poesie taucht in zahlreichen Übersetzungsanthologien des 19. Jahrhunderts auf, und zwar beinah genauso oft wie Goethes Der Sänger.28 Darüber hinaus wird Poesie zum Aphorismus über ihren Gegenstand geadelt.29 Diese ungewöhnliche Karriere der acht Verse erklärt sich aus ihrer Schlichtheit. Was Poesie sei, das erschließt sich hier ohne angestrengtes Nachdenken: Poesie ist „Schmerzen“ – ein Schmerzen, das der Dichter selbst „tief[]“ empfindet und festhält.30 Als „echte[s] Lied“ entsteht sie nur aus Leid. Aber diese Auffassung kennt noch eine Steigerung: „Höchste[] Poesie[]“ und „höchste[r] Schmerz“ schweigen. Es ist kein Zufall, daß hier nicht mehr von ‚echter‘, sondern von ‚höchster‘ 26 Zur Natur-Bildlichkeit in Kerners Lyrik Klenner 2002, S. 81 f. 27 Justinus Kerner: Poesie, in: ders. 1914, S. 23. 28 In Übersetzungsanthologien (vgl. Abschnitt IV. 2.) kommt „Der Sänger“ insgesamt neunmal, „Poesie“ immerhin sechsmal vor. Hoch im Kurs stehen außerdem Anastasius Grün „Der letzte Dichter“ (fünf Erwähnungen), Schiller „Das Ideal“ (vier Erwähnungen) und Uhland „Des Sängers Fluch“ (drei Erwähnungen). Das ist das Ergebnis der Auswertung von: Baskerville 1845; Beresford u. Mellich 1822; Bernays 1829; Broicher 1912; Brooks 1846; Buchheim 1875; Burt 1856; Galletly 1897; Hatfield 1901; Mac Donald 1897; Mangan 1845; Oppen 1866. 29 In diesem Sinne zitieren Eugen Wolff (1899, S. 18 f.) und Richard Zoozmann (1915, S. 954) die ersten vier Verse des Gedichts. Während Wolff die Verse Kerners bloß polemisch gebraucht, um auf den begrenzten Wert dichterischer „Selbstgeständnisse“ hinzuweisen, nimmt Zoozmann sie kommentarlos auf. 30 Die poetologische Begeisterung für den Schmerz kommt bereits aus Friedrich Schlegels Gedichten bekannt vor; siehe die Einleitung zu Kapitel II. dieser Untersuchung.
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Poesie die Rede ist. Kerner zielt mit Poesie nämlich zum einen auf eine Bestimmung von Poesie. Zum anderen stellt er sich einer kontroversen poetologischen Frage: Er läßt seinen Sprecher die Grenzen zwischen poetischem Genie und Wahn erkunden.31 Der ‚Patient Hölderlin‘ begleitet ihn dabei. Kerner betreute den Dichter der ‚höchsten Poesie‘ in Autenrieths Klinikum, erfand in seinen Reiseschatten (1811) einen wahnsinnigen Dichter namens „Holder“ und besuchte Hölderlin kurz nach seiner Entlassung aus dem Klinikum (4. Mai 1807) im Tübinger Turm.32 Hölderlin muß den Mediziner-Dichter Kerner beeindruckt haben; offenkundig bestimmte seine Person Kerners poetologische Lyrik – wenn auch nicht in Hölderlins hochreflektiertem und hochreflexivem Sinne. Denn Kerner spielt in Poesie mit keinem Wort auf einen Hölderlin-Text an; die Form von Poesie kann allenfalls als Gegenstück zu Hölderlins komplexen Hymnen und Oden gesehen werden, als Antwort auf eine formal und inhaltlich potenzierte Dichtung, die sich jedem einfachen Verständnis verweigert. Während sie an ihren eigenen Anforderungen scheitert und – wie die „höchsten Poesien“ – zu verstummen riskiert, verhilft Kerners Sprecher seiner Diagnose – betont kunstlos – im schlichten Kreuzreim zu Klang und Sprache. Kerner spitzt die eigene Wahrnehmung der Person Hölderlins zu zwei schlichten Sätzen zu. Sie handeln über ‚echte‘ (leb- und schreibbare) und ‚höchste‘ (gebrochene, nicht leb- und schreibbare) Poesie; die Diagnose des Sprechers von Poesie läßt keinen Interpretationsspielraum zu, was die Bewertung beider Typen von Poesie betrifft. Allerdings irritiert das Attribut ‚höchste‘, das er der nicht leb- und schreibbaren Poesie verleiht. Schätzt er ‚höchste‘ Poesie tatsächlich als besonders ein, oder soll der Begriff bloß eine extreme Existenz beschreiben? Für den genialischen Patienten jedenfalls, der sich für die „höchsten Poesien“ ‚entschied‘, hält Kerners Sprecher kein Rezept bereit.33 31 In seiner Interpretation von „Poesie“ vernachlässigt Andreas Klenner (2001, S.87 f.) den Kontext des Magnetismus vollständig. Ihm erscheint der Text daher als trivial, theorielos und als Ausdruck von Kerners ‚Hypersensibilität‘. 32 Uffhausen 1984–85, S. 357 u. passim. Widerwillig half Kerner Leutnant Heinrich Diest, der Kerner auf Anraten von Achim von Arnim schrieb, die erste Sammlung von Hölderlins Gedichten zu verfertigen. Denn Diest und Arnim galten ihm als „Ausländer“, die sich der heimischen Dichtung bemächtigten; Scheuffelen 1990, S. 71. 33 Waiblinger spinnt das Thema des genialischen Wahns in einem Roman fort: „Phaëton“ (1823), so heißt er in Anspielung auf den tollkühnen Sohn des Sonnengottes. Er
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Als Arzt und Magnetiseur widmet sich Kerner in der Seherin von Prevorst (1829) psychogenen Erkrankungen, Somnambulie, Seherinnen, kurz: magnetischen Phänomenen.34 Unter poetologischem Aspekt geht es ihm dabei um das „innere[] Leben[]“ des Menschen, um den „magnetischen Schlaf“, im eigentlichen Sinne kein Schlaf, sondern „eine Empfindung unmittelbarer Gewißheit, eine Ansicht des wahrhaftesten, eigensten Lebens und der Natur“, die den Menschen in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt und dem kreativen Individuum zu Poesie verhilft.35 Kerner schildert den „magnetischen Schlaf“ mit mystischen Begriffen: als besonders helles Licht und als Wachzustand, der aber inhaltsleer bleibt.36 Der Weinsberger Magnetiseur bemüht sich um ein Wissensgebiet zwischen Mystik, Magie und Medizin, das im Ausgang aus der Physiologie der Aufklärung, aus der romantischen Naturphilosophie und aus dem Mesmerismus populär war,37 und vertritt eine passivische Mystik, die das Individuum seiner inneren Natur anheimgibt.38 Ihn fasziniert das besondere, das magnetische Individuum, das sich qua Naturanlage auf sich selbst, auf das eigene dunkle, unerkennbare und ‚ursprüngliche‘ Ich beziehen muß. Gleichwohl bleibt die genaue poetologische Bedeutung des Magnetismus im Dunkeln und gibt Anlaß zu Spekulationen. Der Redakteur Wolfgang Menzel (*1798) nimmt die Gelegenheit dazu wahr. Er vertritt
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handelt von ‚einem Hölderlin‘, der durch das Streben nach den Göttern und nach Göttlichkeit verrückt wird. Vgl. dazu Abschnitt 3. b) über Arnims „Phaëton“-Gedicht. Über Waiblingers „Phaëton“ Graevenitz 1978, S. 53–84; über das Verhältnis der „Orplid-Gruppe“ – und speziell Waiblingers – zu Hölderlin ebd., S. 145. Vgl. über den Komplex des Magnetismus im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Fara 1996; über Kerner in diesem Zusammenhang Gruber 2000. Kerner 1958, S. 21 f.; vgl. auch Kerner 1831. Strauß schildert diesen Zustand kritisch – und übrigens poetologisch; ders.: Justinus Kerner [I], in: Strauß 1876–1878, I, S. 119–174, hier S. 148: „Das vom Dichter ersehnte Jenseits ist an sich ein Leeres; es bekommt Inhalt nur durch die Gestalten des Diesseits, welche in dasselbe verflüchtigt werden, ein Inhalt, der, indem er nur im Verschwinden entsteht, ein sich selbst aufhebender ist, im leeren Unendlichen ist aber so wenig als im Endlichen Befriedigung [...].“ Vgl. dazu Strautmann 1928; Grüsser 1987, bes. Kap.XII; vgl. – wenn auch ohne Verweis auf Kerner – Dürbeck 1998, S. 139 f. u. 240–252. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß der christliche und gemäßigte Arnim der 1820er und 1830er Jahre mit Kerner in einen Streit über den „Geist der Menschen“ gerät: Kerner betrachtet den „Geist der Menschen“ als mystisch durch die Natur bewegt; Arnim hält dagegen, daß erst der menschliche Geist der Natur „Leben & Sprache“ verleihe. Arnim, Ludwig Achim v. an Kerner, Justinus 1820–1830, 4 Bl., Bl. 2 f.
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die Position, daß ‚Geistersehen‘ und Dichten prinzipiell und auch im Fall Kerners nichts miteinander zu tun hätten. Denn je achtbarer ihm der Dichter Kerner erscheint desto weniger schätzt er den ‚Geisterkundler‘.39 Indem sich Kerner gegen den Kritiker des Magnetismus verteidigt, stimmt er ihm erstaunlicherweise selbst zu. Denn im Vorwort zu Eine Erscheinung aus dem Nachtgebiet der Natur (1836) zieht Kerner selbst eine scharfe Trennlinie zwischen der Tätigkeit des Poeten und derjenigen des Naturforschers: Sind sie [die ‚Geister‘] nun auch ganz gegen meine eigene Phantasie und Natur (was sie wirklich sind, und was ja auch Herr Dr. Menzel mit bezeugt), so kann ich sie nicht anders machen: denn der Naturforscher darf kein Dichter sein, er muß das Geschaffene in treuer Reinheit berichten [...]. Die Natur hat unsäglich viele Gestaltungen, die unserm Geschmack nicht zusagen, aus denen wir kein Lied und keine Idylle machen können, sie ändert deßwegen dieselben nicht.40
Auf der einen Seite steht das von der Natur „Geschaffene“, auf der anderen das Reich der Poesie, das von „lyrischer Phantasie“ und von „Geschmack“ gesteuert wird.41 Das Gebiet des „magnetischen Schlafs“, die Gelenkstelle zwischen ‚Geisterseherei‘ und Poesie, berücksichtigt er an dieser Stelle jedoch ebensowenig wie sein Gedicht Poesie, das jene „Gestaltungen“ der Natur thematisiert, aus denen sich – folgt man Kerners Selbstaussage – „kein Lied und keine Idylle“ gewinnen lassen dürfte. Mehr noch: Er vergleicht „höchste[] Poesien“ sogar mit „Geisterschatten“. Diese „höchsten Poesien“ bleiben stumm, schweigen, erscheinen nur noch als Ausdruck negativer seelischer Regung. Reflexion im Sinne von Nachdenken und Urteilen kommt in „höchsten Poesien“ nicht vor; „höchste[] Poesien“ versetzen das Ich in einen ganz und gar vorreflexiven Zustand. Der „Poesie“ selbst ergeht es aber kaum anders. Poesie beschreibt den Unterschied von Wahn und Kreativität nämlich bloß graduell: Wenn Poesie Schmerzempfinden „ist“, dann weicht der problematische Poesie-Typus der „höchsten Poesien“ davon nur durch die Steigerung dieser negativen Empfindungen ab. Im Ergebnis rücken Wahn und Poesie eng zusammen. Mit seiner einerseits poetologischen, andererseits wissenschaftlichen Selbsterklärung gegen Menzel riskiert Kerner also, der Aussage des eigenen lyrischen Texts und den Überlegungen aus der Seherin von Prevorst zu widersprechen. 39 Siehe Kerner 1836, S. XXVI f. 40 Ebd., S. XXVIII. 41 Ebd.
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Mit der graduellen Differenzierung der „Poesien“ steht Poesie für ein poetologisches Extrem im Kreis der schwäbischen Romantik, nämlich für ihre ‚Nacht- oder Schattenseite‘. Im Blick auf diese Position ist es kein Zufall, daß Vischer Uhland immer wieder gegen Kerner ausspielt. Erwartungsgemäß fällt Kerner gegen Uhland ab: Während letzterer für Vischers Dichtungsideal steht, ‚kernig‘ und volksnah schreibt, flieht ersterer aus Vischers Sicht vor Welt und Wirklichkeit ins Phantastische, Somnambule, ins „Geister- und Märchenhafte“, nähert Poesie und Geisterglaube einander an.42 Uhland und Kerner verkörpern danach in der Tat zwei Extreme der schwäbischen Romantik. Straußens Einschätzung von Kerner deckt sich mit derjenigen Vischers. Er treibt die Sicht des Freundes aber noch weiter, und zwar im Sinne einer Gegenposition zu Menzel. In seinem Nekrolog auf Kerner berichtet Strauß, wie er Kerner – gemeinsam mit den Freunden Vischer und Mörike – in seinem Weinsberger Haus aufsuchte und verehrte, sich sein mystisches Denken sogar zu eigen machte. Vor dem Hintergrund dessen konzentriert sich Strauß auf den Zusammenhang von Wahn, Denken und Dichten in Kerners Leben und Werk. „Der Magnetiseur und Geisterfreund“, so lautet die These Straußens, sei „nur aus dem Dichter zu begreifen.“43 Dichten und Geisterkunde, hängen, so Strauß ganz anders als Menzel (und der Kerner von Eine Erscheinung), eng zusammen.44 Das eine empfange Impulse aus dem anderen und sei ohne sein Gegenüber nicht denkbar.45 42 Vischer 1975, S. 8. 43 D. F. Strauß: Justinus Kerner [I] (wie Anm. III., 36), S. 135. 44 Vgl. zum Zusammenhang von Geistersehen und Literatur, allerdings ohne Hinweis auf Kerner; Weissberg 1990. 45 Strauß vertritt außerdem eine Sonderthese: In Kerners ‚Hellseherei‘ will er die Grundfesten jener Poetik erblicken, die dem ersten schwäbischen Dichterkreis gemein war – Kerner ebenso wie Uhland und Schwab. In diesem Sinne dienen Kerners ‚Geisterseherinnen‘ Strauß als Beleg für „die Verachtung der Aufklärung, die Vorliebe für den Glauben und selbst Aberglauben des Volks als dem Träger tieferer Wahrheit, die Erhebung des Gefühls über den Verstand“ – für die Ansichten also, die Strauß dem ersten schwäbischen Dichterkreis zuschreibt und in denen er die Grundlagen für die Poetik des Kreises erblickt. Diese starke These verantwortet Strauß aber ganz allein. Mit Vischers Einschätzungen deckt sie sich nicht; auch in der Forschung sucht man sie vergeblich. Wenn sie stimmte, dann ließe sich Vischers Gegenüberstellung von Uhland und Kerner jedenfalls nicht mehr nachvollziehen; beide näherten sich einander vielmehr an. Denn Strauß zufolge gehen beide im Prinzip von demselben Geisterglauben aus und gründen ihre Poesie und ihre Poetiken darin (D. F. Strauß: Literarische Denkwürdigkeiten 1866–1872, in: Strauß 1876–1878, I, S. 1–170, hier S.164). So weitreichend Straußens These ist, so wenig läßt sie sich prüfen: Uhland
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Als Dichter gilt Kerner Strauß jedoch bloß als ein schwärmerischer Dilettant.46 Dem Strauß der späten 1830er Jahre sagt Kerners ‚magnetische Poetik‘ ebensowenig zu wie sein ‚poetischer Magnetismus‘.47 Deshalb beschreibt Strauß Kerners Poetik mit Befremden; er spricht von ihrem „durchaus eigenthümlichen Charakter“ und radikalisiert noch, was Vischer als geister- und märchenhaft abtut:48 Denn der „eigenthümliche[] Charakter“ von Kerners Lyrik (und Poetik) liegt für Strauß in einer poetischen Melancholie, oder härter gesagt: in einem poetischen Masochismus, also in einer Einstellung, die von Qual, nicht von Glück, Freude und Lust bestimmt ist. Poesie kann in gewisser Weise als Beleg für diese Einschätzung dienen: Hier wird Poesie auf den Ausdruck von Schmerz festgelegt. Nimmt man Kerner Beschreibungen aus der Seherin von Prevorst hinzu, so läßt sich schließen, daß sich der Dichter in einen Mittler des Anderen, Unergründlichen, aber im Prinzip ‚Leeren‘ verwandelt. Er schläft einen „magnetischen Schlaf“ und nähert sich so weit als möglich einem vorreflexiven Zustand an. Im Blick darauf zeigt sich aber auch, daß Straußens KernerNekrolog über sein Ziel hinausschießt: Magnetismus und Poesie erweisen sich zwar als ursprungsgleich, nicht jedoch als identisch. Vielmehr entwickeln sie sich auseinander: Das Privileg des Poeten aus Poesie ist es, negative Empfindungen dichterisch zu verarbeiten und den „magnetischen Schlaf“ als Quelle von Kreativität und ‚tiefer‘ Empfindung zu betrachten. Trotz oder besser: wegen der problematischen Poetik von Poesie gelten Kerners Gedichte (1826) – nach Uhlands Texten – als bedeutendste Zeugnisse für die schwäbische Dichterschule. „Uhland’s Gabe ist, sich in bestimmte, menschliche Zustände hinein-, Kerner’s, sich über sie hinauszuempfinden“,49 so vergleicht Strauß die beiden Dichter scherzhaft, aber wiederum treffend. Dabei bezeichnet er Uhlands Texte als
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hat sich nicht über den Geisterglauben geäußert; es bleibt zu vermuten, daß er seine volksmythischen Neigungen doch in den ‚alten Schriften‘ wurzeln. Vermutlich behält Vischer mit seiner Gegenüberstellung der zwei schwäbischen Poeten also Recht. D. F. Strauß: Literarische Denkwürdigkeiten (wie Anm. III., 45), S. 53. D. F. Strauß: Justinus Kerner [I] (wie Anm. III., 36), S. 164. Vergleichbares ahnte schon Kerner selbst und notierte es in seinem autobiographischen Gedicht „Prognostikon“; Strauß bestätigt also in gewisser Weise Kerners Sicht auf die Nachwelt: „Flüchtig leb’ ich durch’s Gedicht, / Durch des Arztes Kunst nur flüchtig; / Nur wenn man von Geistern spricht, / Denkt man mein noch und schimpft tüchtig.“ Ebd., S. 143. Ebd., S. 137.
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„verständig, plastisch“ und „classisch“; er lehre, im Endlichen das Unendliche zu empfinden. Ganz anders Kerners Gedichte, die „empfindend und phantastisch“ zur „romantischen“ Seite neigten und in einer „trüben, schlaffen Stimmung“ auf das Jenseits zielten.50 Indem sich die nachfolgende Dichter- und Denkergeneration nach und nach von Kerner distanziert, verabschiedet sie sich auch von der dunklen Seite der schwäbischen Romantik, von den Parallelisierungen von Genie und Wahn, von einem ‚leeren‘ und schmerzhaften Jenseitsbezug. Vermutlich eröffnet Arnold Ruge seine revolutionären Hallischen Jahrbücher (1838–1841) deshalb mit Straußens Kerner-Nekrolog. Denn Strauß benennt dort deutlich, was der späteren schwäbischen Generation als nicht mehr nachvollziehbar erscheint – zu deutlich, wie Strauß in einer Selbstkritik vermerkt: Mit meinem „Justinus Kerner“ bin ich, seit ich ihn im Druck gelesen, nur noch sehr zum Teil zufrieden. Das Erste, mich betreffende, ist richtig; auch der Übergang von Poesie zur Geisterei nicht übel nachgewiesen; aber indem ich in seiner Poesie einseitig diesem Faden nachging, ist sie nicht in ihrer ganzen Breite aufgefaßt worden; namentlich der Humor nicht. Zu sagen: dies ist der Grundton, neben dem aber noch manche andere Töne herspielen – ist eine Begrifflosigkeit, die ich mir nicht zugetraut hätte. Ich schickte es, von [Arnold] Ruge gedrängt, zu schnell ab, sonst hätte ich das vorher bemerkt.51
Strauß nimmt die eigene Darstellung Kerners als zu einseitig wahr. In der Tat erweisen sich die Gräben zwischen den beiden schwäbischen Dichtergenerationen und zwischen ihren Mitgliedern nicht als so tief, wie Strauß sie in seinem Nekrolog schildert und wie Vischer sie darstellt. Kerners Humor beispielsweise, von Strauß verschwiegen, findet sich bei Mörike wieder; gleiches gilt – wenn auch in anderer Weise – für die Neigung zum Mystischen. Beispielsweise wird Mörike noch von der „Tag- und Nachtsphäre“ menschlichen Lebens, nämlich von einer „doppelten Seelentätigkeit“ sprechen, wonach die „Nacht- oder Traumseite“ in das „wahre Bewußtsein“ hinüberwirkt.52 Schon diese Äußerungen erinnern an Kerners Beschreibungen des Magnetismus. Aber Mörike beerbt nicht nur sie, sondern auch Uhlands so wirklichkeitsnahes wie mythisches Dichten; Mörike verbindet Innerliches, Wirkliches und Mythisches. 50 Ebd., S. 147. 51 Strauß an Vischer, Stuttgart, 8. Februar 1838, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 47 f., hier S. 48. 52 Eduard Mörike: Doppelte Seelentätigkeit, in: Mörike 1964, S.1238–1240, hier S. 1239.
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Um diese Thesen über das ‚schwäbische Erbe‘ zu verdeutlichen, ist ein Blick auf Uhland erforderlich – auf das poetische Gegenstück Kerners: zum einen steht es überhaupt noch aus, Uhlands poetologische Schriften zu sichten. Sie lassen sich unmittelbar auf Hegel zurückführen, und zwar auf den Hegel, wie er vor der Edition Hothos bekannt war. Zum anderen fehlt eine differenzierende Darstellung von Uhlands poetologischer Lyrik, denn diese – widersprüchlichen – Texte Uhlands wurden von der Forschung bislang bloß stiefmütterlich behandelt.53 Freie Kunst (1812), ein achtstrophiges Volkslied mit Kreuzreim, nimmt einen Aspekt der Poetik Uhlands beispielhaft auf:54 Jeder Deutsche erscheint hier als potentieller Sänger, dem eine unbegrenzte und natürliche Schaffenskraft eignet.55 Es handelt sich insofern um ein naturbezogenes und volksnahes Gedicht, das den Interessen des späteren Mittelalterphilologen vorgreift.56 Als Ziele dieser patriotisch-natürlichen Dichtung gelten „Freude“, „Leben“ und Eigenständigkeit. Der Dichter soll sein gesamtes Gefühlsleben („des vollen Herzens Triebe“) offenbaren, die Meisterdichter zwar ehren, sich aber an keine Autorität und an keine Formel binden: „Fahret wohl, geheime Kunden, / Nekromantik, Alchymie! / Formel hält uns nicht gebunden, / Unsre Kunst heißt Poesie.“57 Mit diesen Versen kritisiert Uhlands Sprecher nicht zuletzt den eigenen Parteigänger. Gemeint ist Kerner, der an mystische Geheimlehren glaubt und seine Poetik auch aus lebensfernen und freudlosen Überzeugungen gewinnt. Eine weitere Distanzierung kommt hinzu, nämlich diejenige von einer unkritischen Antike-Adaptation, der Uhland selbst 53 Uhlands poetologische Lyrik findet nur selten Beachtung, wird aber selbst in den wenigen Fällen nur knapp angesprochen. Siehe beispielsweise Froeschle 1973, S. 68: „Auch ernsthaft befaßt sich Uhland mit dem Problem der Dichtung [...].“ Auch die Darstellung Klenners (2001, S. 94–162) trägt nur wenig dazu bei, diesen Mangel zu beheben; sie konzentriert sich auf das Volkslied. 54 Ludwig Uhland: Freie Kunst [24.5.1812, publiziert in „Deutscher Dichterwald“ 1815], in: Uhland 1980, I, S. 34 f., hier S. 34: „Singe, wem Gesang gegeben, / In dem deutschen Dichterwald! / Das ist Freude, das ist Leben, / Wenn’s von allen Zweigen schallt.“ 55 Vgl. dazu auch die zweite Strophe des Gedichts; ebd.: „Nicht an wenig stolze Namen / Ist die Liederkunst gebannt; / Ausgestreuet ist der Samen / Über alles deutsche Land.“ 56 Günther Schweikle vergleicht Uhland aufgrunddessen mit den Brüdern Grimm; Schweikle 1988, S. 177: „Mit ihnen verbanden Uhland dieselben methodischen Ansätze, derselbe organologische Literaturbegriff, dieselben Anschauungen zur Volkspoesie, dieselbe nationalen Aspekte der Literaturvermittlung.“ 57 Uhland: Freie Kunst (wie Anm. III., 54), 6. Strophe.
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in früheren Jahren noch anhing:58 „Nicht in kalten Marmorsteinen, / Nicht in Tempeln, dumpf und tot: / In den frischen Eichenhainen / Webt und rauscht der deutsche Gott.“59 Uhlands Sprecher stellt dieser Antike-Adaptation zum einen den patriotischen Gesang entgegen. Zum anderen führt er die Wirklichkeit gegen die tote und antikisierende Poesie ins Feld, und zwar besonders die düstere und böse Wirklichkeit. Denn auch er entdeckt die ‚Schatten- und Nachtseiten‘ des Daseins: Bitte Ich bitt’ euch, teure Sänger, Die ihr so geistlich singt, Führt diesen Ton nicht länger, So fromm er euch gelingt! Will einer merken lassen, Daß er mit Gott es hält, So muß er keck erfassen Die arge, böse Welt.60
Bitte fordert den „Sänger“ dazu auf, Wirklichkeit genau wahrzunehmen und darzustellen. Folgt er dieser Aufforderung, so beweist er, daß er den ‚wahren Gott‘, den ‚deutschen Gott‘ aus Freie Kunst verehrt. Offen bleibt allerdings, welche Wirklichkeit gemeint ist und wie weit diese Forderung geht. Der frühe Text Mein Gesang (1805) handelt beispielsweise von einem Mann, der seine Liebste verlor. Die ‚böse Welt‘ zeigt sich hier als ein Ereignis der Außenwelt (Tod der Geliebten) und zugleich als Gefühl, als Schmerz:61 Weil die Geliebte verstarb, zieht sich der Sprecher ganz in sich zurück. Ihm steht nur noch ein lyrisches Genre zu Gebote, nämlich das Klagelied. Leben und Gesang erweisen sich dabei als deckungsgleich; die Gefühlswelt des Dichters und der Inhalt seiner Lieder weichen nicht voneinander ab. Lebt der Dichter als Per58 Vgl. dazu Uhland: Des Dichters Abendgang [8./9.2.1808; publiziert in: „Dichterwald“], in: Uhland 1980, I, S. 9, 1. Strophe, V. 5–8: „In hoher Feier schwebt dein Geist, / Du schauest in des Tempels Hallen, / Wo alles Heil’ge sich erschleußt / Und himmlische Gebilde wallen.“ 59 Ebd., 8. u. letzte Strophe. 60 Uhland: Bitte [18.6.1816; publiziert in „Gedichte“, 1820], in: Uhland 1980, I, S. 35: „Du schiedest hin, die Welt ward öde, / Ich stieg hinab in meine Brust; / Der Lieder sanfte Klagerede / Ist all mein Trost und meine Lust. / Was bleibt mir, als in Trauertönen / Zu singen die Vergangenheit? / Und als mich schmerzlich hinzusehnen / In neue, goldne Liebeszeit?“ 61 Uhland: Mein Gesang [15.11.1805, erschienen im „Musenalmanach für das Jahr 1807“], in: Uhland 1980, I, S. 18 f.
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son in der Vergangenheit und sehnt sich nach einer unwahrscheinlichen Zukunft, nach „neue[r], goldne[r] Liebeszeit“, so tut es auch der Sprecher-Sänger des Gedichts. Das traurige Ereignis der Außenwelt spiegelt sich im erlebenden und dichtenden Sänger, allerdings nur topisch: als gefühlte Wirklichkeit, die schon in die Begriffe und Bilder der Dichtung gegossen ist, und nicht als melancholischer Selbstbezug eines magnetischen Sehers, der für den (leeren) Ursprung allen Seins spricht. Aber Uhland begnügt sich nicht mit den Topoi, die auf eine literarisch gefilterte Wirklichkeit verweisen: In Auf einen verhungerten Dichter (1816) berichtet der Sprecher über das Leben eines armen Poeten, der schon bei seiner Geburt zum Dichter geweiht, der bereits auf Erden zum „Geist“ „verkläret“ wurde und nunmehr dorthin heimkehrt, „Wo man Ambrosia speist“.62 Schon der Titel Auf einen verhungerten Dichter zeigt an, daß es sich bei diesem Text nicht um eine Totenklage handelt, sondern um ein Rollengedicht.63 Der Sprecher Uhlands berichtet demzufolge auch nicht neutral über den Toten; vielmehr preist er den armen Dichter (oder besser: den Typus des armen Dichters) als Helden der Armut und der Kunst: „So war es dir bescheret, / Du lebtest kummervoll, / Du hast dich aufgezehret, / Recht wie ein Dichter soll.“64 Der Sprecher idealisiert das entbehrungsreiche Leben des verhungerten Dichters als wahren Ausdruck von Kunst. Zu diesem Zweck nutzt er jene poetischen und poetologischen Topoi, die Arnim Heymar in den Mund legte:65 Der Dichter opfert sich, sein Glück und sogar sein Leben für die Poesie. Entsprechend erscheint Uhlands verhungerter Dichter als Gegenstück zu dem Knaben Ganymed, den die Götter entführten. Während die Entführung dem Knaben aber ein schönes Leben bescherte, gelangt der verhungerte Dichter Uhlands erst durch den Tod in den Götterhimmel. Erstaunlicherweise gebraucht Uhland hier jene antikisierend-heiligenden Darstellungsmuster, derer er sich in Freie Kunst entledigen wollte. Er verherrlicht den Opfertod des Dichters mit Hilfe antikisierender Formeln. In dieser Hinsicht widersprechen sich Uhlands poetologische Gedichte. Uhland schafft sich nämlich eine neue ‚Wirklichkeit‘, diesmal keine antikisierende, sondern eine mittelalterliche Stoffwelt. Seine Bal62 Uhland: Auf einen verhungerten Dichter [17.10.1816, erschienen in „Sonstige Orte“ 1818], in: Uhland 1980, I, S. 35 f. 63 Über Uhlands Rollenlyrik vgl. Klenner 2002, S. 125. 64 Uhland: Auf einen verhungerten Dichter (wie Anm. III., 62), 1. Strophe. 65 Siehe Kapitel II. 3. a) dieser Untersuchung.
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laden und Romanzen führen einen kämpferischen, mit einer geheimnisvollen Zauberkraft begabten, patriotischen und freiheitlich gesinnten Dichter-Helden vor; dem Mediaevisten gilt Walther von der Vogelweide als Exempel für eine solche liberale Rollenpoetik des ritterlichen Heldendichters.66 Im Feld bewährt sich der Dichter-Held für Volk und Vaterland; am heimischen Hofe pflegt er die Minne. Doch wirken beide Themen bloß illustrativ; im Zentrum der Sänger-Thematik steht vielmehr das Sterben. Endet Der Königsohn (1806–1812) mit dem weihevollen Tod des alten, blinden Sängers, der sich selbst sein „Schwanenlied“ singt,67 so kündet Des Sängers Wiederkehr (1815) von der Unsterblichkeit der Dichtung, die den Sänger mittelbar weiterleben läßt.68 Nur er vermag, „die Vorwelt“ wachzuhalten oder auszulöschen. Des Sängers Fluch (1814), aus Übersetzungsanthologien des 19. Jahrhunderts eines der fünf bekanntesten deutschen poetologischen Gedichte,69 in der Forschung vielfach diskutiert,70 veranschaulicht diesen Gedanken. Es handelt von zwei Sängern, einem Greis und einem Jüngling, die sich am Hof eines reichen Königs vorstellen. Ihr Gesang gefällt Volk und Königin – so sehr, daß der König eifersüchtig wird. Er ermordet den Jüngling, und der Greis verflucht den Mörder: „Des Königs Na66 Über die politische Deutung Walthers durch Uhland siehe Schweikle 1988, S. 171–177. Schweikle betrachtet Uhland als ersten ‚eigentlichen‘ Walther-Philologen und damit auch als Antagonisten Karl Lachmanns, der aufgrund seiner kritischen Edition der Walther-Texte als Begründer der Walther-Forschung gilt. Anders als Lachmann, der, so Schweikle, sein Verfahren der Textkritik zum Dogma erhebe und allein auf den gläubigen Adepten seiner Vorgaben vertraue, wende sich Uhland dem Leser zu und konzentriere sich auf die außer- und vorliterarische Volkspoesie. Darüber, daß Lachmanns Bemühungen der Wissenschaft gleichwohl zuträglich waren – Meves 2000. 67 Uhland: Der Königsohn [ab 1806, endgültige Fassung 30./31.1.1812, erschienen „Deutscher Dichterwald“ 1813], in: Uhland 1980, I, S. 247–252, hier S. 252. 68 Uhland: Das Sängers Wiederkehr [10.3.1815, erschienen „Gedichte von L. U.“ 18120], in: Uhland 1980, I, S. 145 f., hier S. 146: „Doch wie der Frühling wiederkehret / Mit frischer Kraft und Regsamkeit, / So wandelt jetzt, verjüngt, verkläret, / Der Sänger in der neuen Zeit. / Er ist den Lebenden vereinet, / Vom Hauch des Grabes keine Spur! / Die Vorwelt, die ihn tot gemeinet, / Lebt selbst in seinem Liede nur.“ 69 Vgl. Anm. III., 28. 70 Ein Überblick dazu findet sich in Martini 1990; spätere Untersuchungen zu „Des Sängers Fluch“ liegen nicht vor. Martini muß noch für seine allegorische Interpretation des Uhland-Texts werben und sich gegen biographische Interpretationen absetzen. Im Blick auf Martinis Darstellung, der bereits auf die besondere Rolle des Dichters „im Spannungsfeld von Macht und Gesang“ zielt (ebd., S. 64), kann ich das Gedicht sogleich als poetologisches interpretieren: als eines, das vor allem Aussagen über den Dichter und das Dichten treffen will.
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men meldet kein Lied, kein Heldenbuch; / Versunken und vergessen! das ist des Sängers Fluch.“71 Uhlands Sänger erweist sich als eigensinniger und mächtiger Historiograph, als subjektiver Dichter. Aber er kann die Früchte seiner Macht nicht ernten, denn er erkauft sie durch eine ohnmächtige Existenz im Diesseits. Er preist die Taten anderer, verleiht ihnen Schönheit und Glanz, muß sein eigenes Streben aber dafür zurückstellen. Dem Sänger Uhlands ist die Reflexion zwar erlaubt, aber er darf sie nicht zu seinen innerweltlichen Gunsten einsetzen. Sie dient ausschließlich dem Höheren und der Nachwelt. Gefühl und Individualität spielen hier – anders als in Uhlands freudvollen und patriotischen Texten – keine Rolle. Wenn im Fall Kerners ein leeres Schmerzempfinden die Reflexion ersetzt, dann geht sie hier in Sängerkult über: Reflexion meint Auswählen und Festhalten vergänglicher Ereignisse und den Versuch, verlorene Traditionen wiederzubeleben. Spürt Kerner dem inneren Ursprung von Poesie nach, so fahndet Uhland nach einem mythischen. Sein Vorhaben ist aber – wie Kerners Poesie – davon motiviert, den Grad von Reflexion im Kunstwerk zu mindern, möglichst authentisch und kunstlos zu schreiben – mit anderen Worten: das zu versuchen, was Hegel als unmöglich ansieht, nämlich hinter die Reflexion zurückzugehen,72 ohne sie jedoch – wie Kerner – mit nicht-reflexiven, magnetischen Zuständen zu vergleichen. Zwar prägen diese Versuche, Reflexion zu unterlaufen, auch die zweite schwäbische Dichter- und Denkergeneration, aber sie erscheinen ihr aus unterschiedlichen Gründen als inkonsequent. Uhlands idealisches und jenseitsfixiertes Dichten beispielsweise, das Wirklichkeit allenfalls als mythische Bildwelt gelten läßt, wird für Vischer zum Stein des Anstoßes. Im Juni 1837 berichtet Vischer Mörike von einem Streitgespräch mit Uhland, das dieses Thema behandelte. Es sei dabei vor allem um das Menschenbild der Dichtung gegangen: [...] ist er [der Mensch in der Dichtung] ein kämpfendes, dem Zweifel, der jetzt aus dem Vorrecht des Geistes, keine Katze im Sack zu kaufen, Ernst macht, sich öffnendes, der einfach stillen Pietät und Objektivität naiver Zeiten absagendes Wesen?73 71 Uhland: Des Sängers Fluch [3./4.12.1814, erschienen „Gedichte von L.U.“ 1815], in: Uhland 1980, I, S. 252–254, hier S. 254. 72 Über das literarische Prinzip der Authentizität Schlich 2002. 73 Vischer an Mörike, Tübingen, 20. Juni 1837, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 132–135, hier S. 134.
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Während Vischer energisch – und ganz im Sinne der Jungdeutschen – dafür plädiert, den zweifelnden und um geistige Orientierung ringenden Gegenwartsmenschen darzustellen,74 streitet Uhland für das Gegenteil, für idealisierende Dichtung im mythischen Gewand, für die Romantik im Sinne einer „hohe[n], ewige[n] Poesie, die im Bilde darstellt, was Worte dürftig oder nimmer aussprechen[.]“75 Er beschreibt diese Romantik als „Buch voll seltsamer Zauberbilder“ und wendet sich als „Schwärmer“ dem „Wunderreich“ zu.76 Uhland und Vischer können sich verständlicherweise nicht einigen. Bezeichnenderweise rätselt Vischer noch in den 1860er Jahren über die Verfassung seines zeitgenössischen Lieblingsdichters77 und vermerkt in seiner Aesthetik (1846–1857) über Uhland nur zurückhaltend: Man hat unsern in diesen Formen [Ballade, Romanze] so reichen Uhland als den Klassiker der Romantik bezeichnet; am Marke des Volkslieds genährt, eine gediegene, einfach körnige Natur, die sich doch mit offener Seele den verschiedenen Stimmungen der nord- und südfranzösischen, spanischen Romantik, des klassischen Altertums, wie der dunkleren, härteren biderben altdeutschen Welt öffnet, führt er überall einen scharfen Meißel, der jedem Gesteine klar bestimmte, reine Gestalt gibt.78
Trotz der Differenzen mit Uhland überrascht Vischers distanzierte Rede über den verehrten Dichter an dieser Stelle. Denn ausgerechnet in seiner Aesthetik hätte er problemlos an Uhland anküpfen können. Uhland äußert sich auf diesem Gebiet klar, entschieden und ganz in Vi74 Der frühe und ‚vor-ästhetische‘ Vischer teilt diese Orientierungsnot mit den Jungdeutschen. Für den ganz frühen Vischer muß deshalb die Vermutung der Forschung korrigiert werden, der Tübinger Gelehrte stimme „allenfalls äußerlich“ mit den Jungdeutschen überein; Albrecht 2001, S. 34. Auch der frühe Vischer gehört in jene „suchende Generation“, wie Michael Huesmann sie (freilich ohne Bezug auf Vischer) beschreibt; vgl. Huesmann 2001. – Ich werde im Blick auf die Briefwechsel von Mörike, Vischer und Strauß noch einmal darauf zurückkommen. 75 Uhland: Über Das Romantische [Februar 1807], in: Uhland 1983, II, S.8–11, hier S.11. 76 Ebd. 77 Vischer an Strauß, Zürich, 29. Juni 1863, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, II, S. 181–183, hier S. 182: „Es fehlt mir immer noch eine gewisse Klarheit über den Hauptpunkt [des Essays ‚Ludwig Uhland‘]: wie kommt es, daß hier ein korrekter Philister doch ein Dichter ist? Der Mann war namentlich auch als Mensch viel zu solid.“ Die Philisterhaftigkeit aber mag den Charme des vielseitigen Dichters ausgemacht haben, der allen Parteien und Parteiungen des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts gleichermaßen lieb und wert war. Er gilt aus diesem Grund als eine „Institution“ – nicht nur für Deutschland, sondern für zahlreiche Leser Mitteleuropas; siehe Jens 1987, S. 9. 78 Vischer 1922/1923, VI, § 893, S. 251.
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schers Sinne. Schon der frühe Uhland fragt nämlich nach der besonderen Innerlichkeit des Dichters; er kommt zu optimistischen, neuhumanistischen und klassizistischen Ergebnissen. Während Kerner die Dichterseele als melancholisch und weltentrückt darstellt, geht Uhland – weltzugewandt – von „empfangenden“ und „wirkenden Kräften“ aus, die den Dichter zur Vervollkommnung bewegen.79 Später, nämlich als Professor im Tübingen der frühen 1830er Jahre, entdeckt Uhland außerdem das (hegelsche) Problem der „Reflexionsbildung“. Uhland bestimmt Poesie vor diesem Hintergrund griffig als einen „Ersatz für die verlorene Naturanschauung“.80 Vischer wird in diesem Sinne davon sprechen, daß zeitgenössischen Dichtern die „Naivität“ abhanden gekommen sei.81 Beide behandeln das Hegel-Problem aber anders und gemäßigter als Hegel: Zuerst wird die alte Kunst überhaupt der neuern gegenüber als eine unbewußte, unbefangen lebendige, diese neuere selbst aber als eine bewußt wissenschaftlich reflektierende bezeichnet. Dieser Gegensatz wird dann für richtig gestellt anzuerkennen sein, wenn er soviel besagt, daß im neueren Kunstgebiet zu dem künstlerischen Schaffen die reflektierende Betrachtung hinzugetreten sei und selbst manche Kunsterzeugnisse aus der Reflexion hervorgehen. Das aber wird, wenn der neueren Zeit überhaupt noch eine Kunst zugestanden werden soll, nicht behauptet werden können, daß die Produktion selbst eine bewußte sei, daß wahrhafte, lebenskräftige Kunstwerke nicht auch jetzt, wie in der alten Zeit, aus derselben unmittelbaren Kraft des künstlerischen Schaffens zutage treten. Der Künstler kann allerdings heutzutage zugleich Theoretiker sein, aber der Moment der Produktion, wenn er sich wirklich einer solchen rühmen darf, wird gleichwohl in ihm von der theoretischen Erwägung verschieden bleiben.82
79 Uhland: Über objektive und subjektive Dichtung [22.2.1806], in: Uhland 1983, II, S. 7 f., hier S. 7: „Die Seele, darein Mutter Natur in der reichsten Fülle die Kräfte des Empfangens und des Wirkens gelegt hat, das ist die Dichterseele. Vermöge der empfangenden Kräfte hat sie die feine Berührbarkeit, die sie das zarteste [...] der äußeren und inneren Welt fühlen läßt, und das leise Ohr, das ihr die geheimsten Ahndungen zu vernehmen gibt; durch die wirkenden Kräfte gibt sie dem Dunkeln Klarheit, lernt ihre Bestimmung erkennen und strebt schwungvoll ihrer Vollkommenheit entgegen.“ Siehe auch Uhland: Das Wesen der Poesie [vermutlich knapp nach dem Romantik-Aufsatz entstanden, also ca. 1807], in: Uhland 1983, II, S. 12 f., hier S. 13: „Der idealisierende Darsteller der inneren und äußeren Welt ist der Dichter. Poesie ist die Bearbeitung der Materie durch Materie.“ 80 Uhland: Aus dem „Stilistikum“ [5.8.1830/H 28 f./R 130 f.], in: Uhland 1983, II, S. 16. 81 Vischer 1975. 82 Uhland: Aus dem „Stilistikum“ [23.9.1830/H 30 f./R 101 f.], in: Uhland 1983, II, S. 16–19, hier S. 16 f.
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Uhland widerspricht Hegels These, daß Kunst ihrer ‚höchsten Bestimmung nach‘ im Zeitalter der „Reflexionsbildung“ unmöglich sei. Zu diesem Zweck beschreibt er – anders als Hegel – keinen Gegensatz von Reflexion und Kunst, sondern einen neuen Typus von Kunst: eine „bewußt wissenschaftlich reflektierende“ Kunst, die sich von der ‚alten‘ Kunst, der „unbewußte[n], unbefangen[en] und lebendige[n]“ abgrenze. Diese Unterteilung der Kunsttypen erlaubt es ihm, gegenwärtige Kunst als ihrer Zeit angemessen und als im besten Sinne künstlerisch darzustellen. Denn sie wäre nicht Kunst, wenn sie nicht aus der „unmittelbaren Kraft des künstlerischer Schaffens“ entstünde. In diesem Punkt sind sich Hegel und Uhland demnach einig; beide knüpfen den Begriff der Kunst an einen vorreflexiven Entstehungsakt. Ihre Argumentation unterscheidet sich aber im Blick auf das zeitliche Vorfeld der Kunstproduktion und im Blick auf die Rezeption des Produkts. Aus der Erfahrung des Schreibens selbst wendet sich Uhland dagegen, literarische Reflexion als problematisch zu betrachten. Reflexion störe weder die Kunstproduktion noch ihre Rezeption. Vielmehr erlaube es Literatur, den eigenen Darstellungs- und Wahrnehmungstypus als Problem zu erkennen – und wiederum reflexiv zu bearbeiten. Im Ergebnis erweist sich die Epoche der „Reflexionsbildung“ Uhland zufolge zwar nicht unbedingt als förderlich für die Literatur, aber auch nicht als gefährdend. Das gilt auch für die Lyrik. Zwar versteht Uhland Lyrik – mit anderen Hegel-Adepten – als Ausdruck der „eigenen, subjektiven Stimmung“ des Dichters und dichtet im Verständnis desjenigen,83 der ganz ursprüngliche Geschichten, Bilder- und Motivwelten zurückerobern will. Aber dieses Verständnis und diese Praktiken schließen – so will es zumindest Uhlands theoretische Poetik – nicht aus, daß Lyrik nicht auch andere, reflexive Gehalte aufnehmen könnte. In diesem Fall knüpfen sich Bedingungen an die Art und Weise der Übertragung von Reflexion in Poesie: Wenn Poesie „ein Schaffen, im Gegensatze des philosophischen Erkennens“ ist, dann muß die Idee, „welche zur dichterischen Ausführung gelangen soll, selbst eine poetische sei[n], eine solche, welche den Keim des Schaffens in sich trägt [...].“84 Diese Anforderung läßt allerdings erahnen, daß Uhlands Einspruch gegen Hegel Folgeprobleme hervorruft. Wenn eine Idee zugleich der Reflexion entstammen, aber auch ‚autopoietisch‘ (im Sinne von selbst-schaffend) sein soll, dann fragt sich, welche Idee diese hohen Anforderungen er83 Ebd., [19.7.1832/H 93/-], S. 22 f., hier S. 23. 84 Ebd., [23.9.1830/H 30 f./R 101 f.], in: Uhland 1983, II, S. 19.
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füllen kann. Uhland jedenfalls nennt kein Beispiel. Er bedenkt das Problem der „Reflexionsbildung“, aber er löst es nicht. Gleichwohl weist er den Weg zu einer Lösung, die die Auswirkungen von Hegels starkem Urteil zu mindern hilft: Poesie ist prinzipiell nicht so reflexionsfern, wie Hegel annimmt. Uhlands theoretische Äußerungen über Poesie folgen historisch auf seine eigene Schreibpraxis. Schon aufgrund der Chronologie wäre es also falsch danach zu fragen, ob er seine Auseinandersetzung mit Hegel im Gedicht gestaltete. Vielmehr ist davon auszugehen, daß er in seine Schriften über Poesie aufnimmt, was ihn die eigene poetische Tätigkeit lehrte: daß Reflexion und dichterisches Schaffen notwendigerweise miteinander verbunden sein müssen, soll ein passables Werk entstehen, das nicht nur dem unmittelbaren Gefühl huldigt, sondern objektiv Bestand hat. Für den Dichter Uhland meint Reflexion dabei – auch gegen Kerner – den Umgang mit volksmythischen und literarischen Traditionen. Für den Theoretiker Uhland läßt sich nurmehr von einer Fallhöhe sprechen, die sich zwischen dem Reflexionspostulat für die Dichtung und seiner Umsetzung ergibt; Uhland läßt offen, was er genau mit den Reflexionsgraden meint, die in der Dichtung selbst zum Tragen kommen. Vischer wird diesen Gedankengang aufgreifen. Mörike und Strauß aber äußern sich skeptischer, was die Vermittlung von Reflexion und Poesie betrifft; sie stehen – aller Abgrenzung zum Trotz – eher in der poetologischen Tradition Kerners. Kaum ein zweiter Dichter hält sich deshalb mit poetologischen Reflexionen so sehr zurück wie Mörike. Er gilt als das Oberhaupt der zweiten schwäbischen Dichterschule: als der innerlichste und „intensivste“ im Gegensatz zu Bauer, dem „receptivste[n]“, und zu Waiblinger, dem „expansivste[n]“.85 Wie Kerner und wie Waiblinger pflegt Mörike auch zeitweise den Kontakt zu Hölderlin; er verehrt ihn, will aber weder seine Dichtung nachahmen noch sein Schicksal teilen. Mörike verweigert sich der idealischen Poesie.86 Äußert sich Mörike in seiner Lyrik überhaupt programmatisch über Dichtung, so führt er diese Äußerungen immer wieder auf einzelne Lebenssituationen, Empfindungen und Dinge zurück, wie die frühen Gedichte Der junge Dichter (September 1823), Die erzürnten Dichter (1828) und An einen Liebesdichter (1829) zeigen. Nicht anders als die schwäbischen Kollegen im Dichteramt wendet er sich polemisch gegen 85 D. F. Strauß 1847 a. 86 Für den Vergleich mit Hölderlin siehe Hötzer 1984–1985, S. 188.
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die ironischen Reflexionspoeten der Romantik, gegen Friedrich Schlegel und gegen Tieck.87 Was der junge Mörike dagegenzusetzen hat, versteckt sich in den 1820er Jahren noch hinter – wenn auch leiser – Ironie: etwa der distanzierten Betrachtung des Liebesdichters, der, so Mörikes Sprecher, bloß um des Ruhmes willen dichte.88 Seinen ‚jungen Dichter‘ befaßt demgegenüber anderes. Im Angesicht der Geliebten schwinden ihm alle poetologischen Gedanken. Er muß sich seines dichterischen Könnens wieder und wieder versichern, bemüht sich, die „flüchtige Erscheinung“ Schönheit in Worten festzuhalten und flieht – verzweifelt ob des eigenen Dilettantismus – in die Arme der wirklichen Schönheit, in die Arme der Geliebten:89 O du Liebliche, du lächelst, Schüttelst, küssend mich, das Köpfchen Und begreifst nicht, was ich meine. Möchte ich selber es nicht wissen, Wissen nur, daß du mich liebest, Daß ich in dem Flug der Zeit Deine kleinen Hände halte!90
Der junge Dichter veranschaulicht einen Zwiespalt zwischen wirklicher und poetischer Welt, nimmt damit das Thema Uhlands auf, verzichtet aber auf die mythische Gestaltung dieser Wirklichkeit. Mörike, ‚der junge Dichter‘, sieht sich vor die Aufgabe gestellt, Wirklichkeit in einen poetischen Text umzuwandeln und scheitert schon an diesem Programm. Infolgedessen vermag er nur die ganz unmittelbaren Lebensumstände und sein Scheitern am eigenen Vorhaben darzustellen. Dichterische Selbstreflexion hüllt sich hier in das Gewand der Gelegenheitsdichtung, und zwar dergestalt, daß „fiktive Realität“, Empfindung und Ideal gegeneinander ausgespielt werden, um „erkenntnisfördernd[]“ zu wirken.91 In Der junge Dichter treibt Mörike also auseinander, was er später in harmonischer Weise verbindet:92 Innerhalb der vergleichsweise ‚auto87 Eduard Mörike: Die erzürnten Dichter, in: Mörike 1964, S. 295. 88 Mörike: An einen Liebesdichter, in: Mörike 1964, S. 233: „Von Liebe singt so mancher Mann, / Damit er auch von Liebe singe, / Und hebt ein mechtig Klage an; / Der Ruhm ist groß, die Pein geringe.“ 89 Mörike: Der junge Dichter, in: Mörike 1964, S. 14 f., hier S. 14. 90 Ebd., S. 15. 91 Heydebrand 1972, S. 314; Labaye 1988, S. 359 f. 92 Vgl. Heydebrand 1972, S. 315.
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nomen‘ Gedichte würdigt er die niedere und zweckgebundene Alltagswelt; in Gelegenheitsgedichten spricht er autonome Gehalte an.93 Als paradigmatisch dafür erweist sich An eine Äolsharfe (1837).94 Ihm steht als Motto ein Horaz-Zitat voran: „Tu semper urges flebilibus modis / Mystem ademptum: nec tibi Vespero / Surgente decedunt amores, / Nec rapidum fugiente Solem.“95 Die Verse des Horaz, die ein Klagelied erwarten lassen, behandeln die Trauer als solche, und Georg Braungart zeigte, daß sie für das Mörike-Gedicht eine doppelte Fährte legen: eine biographische, die als „Trauerarbeit“ für den verstorbenen Bruder August betrachtet werden kann, und eine poetologische Fährte, die auf die Selbstreflexion des Dichters verweist.96 Mörikes Verse überführen die Trauer nämlich in ein harmonisches Wechselspiel von imaginärem Harfenklang und von ebenso imaginärer Naturbewegung. Sie vergegenständlichen Töne („einer luftgebornen Muse / Geheimnisvolles Saitenspiel“), indem sie die Harfe in ein materiell-konkretes Umfeld versetzen. Mörike spielt auf die Semantik hoher Dichtung an; seine Harfe findet sich aber – wie ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs – „Angelehnt an die Efeuwand / Dieser alten Terrasse“.97 Natur erscheint dabei sowohl als abstrakte Vorstellung als auch als sinnlich-konkrete Wahrnehmungswelt: Ihr kommet, Winde, fern herüber, Ach! von des Knaben, Der mir so lieb war, Frisch grünendem Hügel. Und Frühlingsblüten unterwegs streifend, Übersättigt mit Wohlgerüchen,
93 Ebd., S. 314. 94 Dieter Liewerscheidt (1995, S. 1 f.); gibt einen Forschungsüberblick über die Diskussion von „An eine Äolsharfe“ und schlägt eine poetologische Interpretation des Gedichts vor, an die ich – ebenso wie an Braungarts (1999) kontextreiche Deutung – anküpfe, und auf die ich im Ausgang meiner Beschreibung zurückkomme; für eine knappe poetologische Darstellung vgl. auch Burdorf 2001, S. 205. Liewerscheidts und Braungarts Darstellungen sind darüber hinaus um die sehr anregende und genaue formanalytische Interpretation von Hötzer zu ergänzen, die im Jahr 1998 erschienen ist. 95 Horaz, Oden, Buch 2, Nr. 9, V. 9 ff., in: Mörike 1964, Anmerkungen, S. 1450 (Übersetzung J. H. Voß): „Du trauerst endlos durch Melodien des Grams / Um Mystes Abschied, weder wenn Hesperus / Aufsteigt, räumt dein Geist die Sehnsucht, / Noch, wenn der Sonne Gewalt er fliehet.“ 96 Braungart 1999, S. 109. 97 Mörike: An eine Äolsharfe, in: Mörike 1964, S. 35.
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Wie süß bedrängt ihr dies Herz! Und säuselt in die Saiten, Angezogen von wohllautender Wehmut, Wachsens im Zug meiner Sehnsucht, Und hinsterbend wieder.98
Die ersten Verse der zweiten Strophe führen das Erbe der antiken Dichtung vor, nehmen es aber sogleich in die Innensicht des SprecherIch hinein. „Winde“, die den Harfenklang tragen, wirken deshalb nicht nur von außen auf das Herz des Sprechers, sondern erscheinen auch als von diesem selbst verursacht; sie ‚wachsen‘ und ‚sterben‘ mit seiner „Sehnsucht“. Einmal lenkt das Herz des Sprechers Winde und Gesang, ein ander Mal erscheint es als von diesen geleitet. Es bewegt und wird bewegt: Aber auf einmal, wie der Wind heftiger herstößt, Ein holder Schrei der Harfe Wiederholt, mir zu süßem Erschrecken, Meiner Seele plötzliche Regung; Und hier – die volle Rose streut, geschüttelt, All ihre Blätter vor meine Füsse!99
Reflexion geschieht hier auf drei Ebenen: erstens als Introspektion, als Blick in den exemplarisch empfindenden Sprecher; er spiegelt sich im Harfenklang, also im Medium der Musik wieder.100 Zweitens nimmt Mörike zahlreiche poetische Motive auf und deutet diese eigensinnig neu. Die anakreontische Lyrik beispielsweise geht mit einem ihrer bekanntesten Textbilder in Mörikes Gedicht ein, nämlich mit dem Bild der Rose. In den beiden anakreontischen Liedern, die Mörike selbst übersetzt, in Auf die Rose und Lob der Rose, erscheint die Rose als die schönste Blume, als die Blume des Eros, des Bakchos, der Aphrodite, der Musen und – nicht zuletzt – des Dichters: „Sag, was möchte wohl den Sänger / Freuen, wenn die Rose fehlte?“101 Die Rose gilt als ewig junge Blume, die Toten den Verwesungsgeruch nimmt und die Kranken 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Eine berühmte und vielbeschriebene Windharfe stand übrigens in Kerners Weinsberger Garten; G. Rückert 1970, S. 103. Ausführlich zum Motiv der Äolsharfe, nicht zuletzt zu seiner spiritistischen Bedeutung bei Kerner Braungart 1999, S. 111–116 u. 122 f. 101 Anakreontische Lieder, Lob der Rose, in: Mörike 1964, S. 1420 f., hier 1420.
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heilt.102 In An eine Äolsharfe bleibt es nicht beim abstrakten Lobpreis der schönsten Blume durch die Götter- und Musenwelt; Mörikes Sprecher setzt das Wissen um die hervorragenden Eigenschaften der Rose vielmehr voraus und nutzt es für das eigene Gedicht. Hier wird die Rose als irdisches Gewächs sinnlich wahrnehmbar, und zwar durch den Sprecher, dem sie zu Füssen fällt. Die schönste aller Blumen adelt den Mörike-Text und seine Poetik: die Verbindung von alltäglicher und autonomer Dichtung, von antiker Bildlichkeit und irdischer Seelenwelt.103 Die dritte Reflexionsbewegung stützt diese Interpretation; sie betrifft die Form. „Form schafft Bedeutung“, sagte Ulrich Hötzer über An eine Äolsharfe und erläuterte, wie Mörike das odisch ansingende HorazMotto in freien Rhythmen neu gestaltete.104 Erst im Gang durch diese drei Reflexionsebenen des Mörike-Gedichts zeigt sich, daß es seine unmittelbare Motivation aus der Klage empfängt – aus dem „tiefe[n] Schmerzen“, das Kerner zur Ursache aller Dichtung erhebt.105 In der Form eines neugestalteten Musenanrufs aber feiert sich diese klagende Poesie.106 Beglaubigt wird sie durch die „absolut[e] Erlebnisgegenwart“107 auf der Terrasse; sie läßt die Blumenmotive der Anakreontik wirklich und unmittelbar nachvollziehbar werden. Im Alltäglichen wird das Alte wiederbelebt. Dabei ist die Reflexion des Alten nie Selbstzweck, bloß spielerische oder universalreflexive „Poesie der Poesie“ oder gar ein früher Ausdruck des „l’art pour l’art“.108 Vielmehr prüft Mörike die Dichtungsreflexion meta-reflexiv an der natürlichen und menschlichen Wirklichkeit. Ihr ordnet er die Dichtungsreflexion unter; an ihr bewährt sie sich. In An eine Äolsharfe nimmt Mörike poetische Bilder (wie die Äolsharfe) in die ‚eigene‘ Umwelt hinein.109 102 Vgl. ebd., S. 1421. 103 Braungart legte hier – im Blick auf die Schrift „Die Äolsharfe. Ein allegorischer Traum“ von Johann Friedrich Hugo von Dalberg – eine andere, gleichfalls plausible Deutung des Rosenmotivs vor. Danach versinnbildlichen die Rosen die Stimmen der Toten, hier diejenige des Bruders, die sich am Schluß selbst zerstört (ders., 1999, S. 106–108 u. 124). Im Blick auf den Werkkontext der anakreontischen Gedichte bzw. ihrer Übersetzung erweist sich diese Deutung jedoch nicht als zwingend. 104 Siehe auch die Analyse von G. Rückert 1970, S. 105–109; Hötzer 1998, S. 220–226, bes. S. 226. 105 Siehe schon Braungart 1999, S. 125. 106 Liewerscheidt 1995, S. 4; vgl. Jennings 1990. 107 Hart Nibbrig 1973, S. 277; Liewerscheidt 1995, S. 3. 108 Ich wende mich hier gegen Liewerscheidts Einordnung, ders. 1995, S. 6. 109 Hier haben sie – mit Braungart – Bewältigungsfunktion. Mörike, so Braungart, verarbeitete in „An eine Äolsharfe“ nämlich den Tod des Bruders; ders. 1999, S.125–128.
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Anders als Uhland stellt er bildliche und kulturelle Traditionen wie diese nicht bloß abstrakt und (rollen-)typisch dar, sondern gewinnt sie für eine eigene poetische Wirklichkeit. Er greift zu diesem Zweck auf Kerners Erkundungen des ‚inneren Lebens‘ zurück, beläßt es aber nicht bei dessen Gleichsetzung von Poesie und Schmerz. Vielmehr folgt Mörike den Mustern einer lebensbezogenen Dichtung,110 die sich der eigenen Kreativität, Herkunft und Tradition besinnt. Gleichwohl weiß er um die ‚Vermitteltheit‘ dieser Dichtung, nimmt sie als vorgeprägtes Muster wahr, das bestimmte Themen, Motive und Bearbeitungsformen kennt. Seine Lyrik erweist sich dabei als meta-reflexiv, weil sie sich sowohl gegen die Reflexionspoesie romantischer Herkunft als auch gegen eine philosophische und als kunstfeindlich empfundene Poesie-Reflexion abgrenzt: Die Dichtung Mörikes betont schlichte Wahrnehmungsund Darstellungsformen, überhöht diese aber zugleich mit Hilfe antiker Symbole, weist also bereits darauf hin, daß sie Erleben und Empfindung im Gedicht als ‚gemacht‘ betrachtet, ohne bei dieser Erkenntnis stehen zu bleiben: Mörike bemächtigt sich solcher Artefakte wie der Äolsharfe, indem er sie in neue Kontexte stellt,111 in den eigenen (dichterischen) Lebensraum hineinversetzt. Eine solche meta-reflexive Lyrik gründet im christlichen Glauben, aber auch in neuhumanistischen Überzeugungen. Mörikes Briefwechsel mit dem Jugendfreund Vischer erhellt die neuhumanistischen Hintergründe nicht nur für Mörikes lyrische Meta-Reflexion, sondern auch für Vischers Aesthetik. Bei diesem Briefwechsel handelt sich um den warmherzigen und lebhaften Austausch eines an Gelehrsamkeit und Wissenschaft interessierten Dichters mit einem Philosophen, der gerne Dichter oder Maler geworden wäre. Die Freunde streiten sich trefflich über dies und das, vor allem aber über Poesie und über den Zweifel am Leben und an der Religion. Ein Brief Vischers aus dem Jahr 1831 nimmt wesentliche Themen für die Auseinandersetzungen auf; er behandelt Vischers skeptische Erzählung Ein Traum (ca. 1830) und erlaubt überraschende Einsichten in die Selbsteinschätzungen der Freunde: Du [angesprochen ist Mörike] gehörst zu denen, die die höchste Wahrheit in der Tiefe des Gemüts fest und sicher besitzen. Du kannst deswegen den 110 Heydebrand 1972, S. 315. 111 Für Platen und Mörike beschreibt Horst Thomé (2002a, S. 34 f.), wie beide Ästhetisches historisch rekonstruieren, wie sie es noch in bestimmte Kontexte einbetten. Für Conrad Ferdinand Meyer sieht er bereits eine gegenläufige Tendenz, eine „radikale Entkontextualisierung“ am Werk (ebd., S. 35); vgl. auch Henel 1966.
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kranken Zustand des Skeptikers mehr nur als curiosum betrachten. Aber mir, dessen Grundeigenschaft eine Welt und Gott, Schönheit und Wahrheit, Gemeines und Heiliges wie Scheidewasser durchfressende Skepsis ist, die aber nie eine naturalistische oder rationalistische Tendenz hatte, war der Inhalt [der von Mörike argwöhnisch betrachteten frühen Vischer-Erzählung Ein Traum, die über einen Selbstmörder handelt] großer und tiefer Ernst.112
Vischer betrachtet sich als gefährdet, die Welt als zerrissen und will seine Empfindungen ganz subjektiv in seiner Erzählung darstellen.113 Doch Mörike kritisiert den Text; er sei zu realistisch und nicht künstlerisch genug. Vischer reagiert gekränkt. Er will die Kritik des Freundes nicht verstehen und erklärt sie sich – schon im neuhumanistischen Muster – aus den besonderen Charaktereigenschaften, die das Individuum Mörike vom Individuum Vischer trennten. Danach stehen sich in den beiden Freunden zwei Charaktertypen gegenüber: der ‚Gemütsmensch‘ (Mörike), der von einer naiven, also unmittelbaren und ungebrochenen Einsicht in die Dinge lebe, und der ‚Zerrissene‘, Vischer selbst.114 Vischers Typus vollendet sich in Strauß: In den Jahren 1835 und 1836 erscheint Das Leben Jesu. Darin kennzeichnet Strauß das Neue Testament als eine Sammlung von Erzählungen und zweifelt auf diese Weise ihre Wahrheit an.115 Verglichen mit Strauß erscheint Vischer als moralischer Denker und als jemand, der sich bereits in das bürgerliche Leben 112 Vischer an Mörike, Horrheim, 28. Januar 1831, in: Mörike u. Vischer 1926 Vischer 1926, S. 28–34, hier S. 30. 113 Vischer an Mörike, Horrheim, 20. April 1831, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 38–41, hier S. 39 [Hervorhebung im Original]: „Dadurch [durch eine objektivere Darstellung] wäre derselbe ein interessantes Phänomen geworden, eine psychologische Merkwürdigkeit, in deren Genesis jedes Rindvieh hineinsähe. So objektiv soll es aber den Leuten nicht werden. Sie sollen die Köpfe recht verbockeln. Ferner das vom Humor verstehe ich auch nicht; ohne Gemeinheit, ohne gründliche Auffassung des Pudelgemeinen gibt es keinen Humor. Hat er denn noch nichts von Falstaff gelesen? Die Art, womit meine Katze entschuldigt wird, nehme ich nicht an. Der Leser soll immerhin die kecksten sinnlichen Vorstellungen damit verbinden: aber er soll sich auch das Sinnlichste rein denken können. Dem Reinen ist alles rein.“ 114 Will man den ‚Geist der Zeit‘ verstehen, dann hilft es nicht weiter, die Novelle als Ergebnis „jugendliche[n] Brütens“ abzutun, wie Hermann Glockner (1931, S. 73, Anm. 1) es versucht. 115 Allerdings äußert sich Strauß nie in gleicher Weise radikal wie Ludwig Feuerbach, der die Religion in seinen „Grundsätzen der Philosophie der Zukunft“ (1843) ganz in Anthropologie auflöst. D. F. Strauß: Literarische Denkwürdigkeiten (wie Anm. III., 45), S. 14. – Die Religionskritik der Junghegelianer wird in der Forschung in der Regel als homogen beschrieben, was nicht angemessen ist, blickt man in die Quellen: Zwischen Strauß und Feuerbach verläuft ein tiefer Graben.
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eingefunden hat: Er redet dem suizidgeneigten Freund ins Gewissen,116 der, so Vischers Kritik in den 1840er Jahren, sich aus seinen Launen eine anti-soziale und individualistische Ethik bastele.117 Im Jahr 1848 kandidieren beide – auch im politischen Sinne Neuhumanisten – für die liberale Partei, engagieren sich gegen die Kirche und für die Republik. Sie leiden heftig unter den politische Durchsetzungskämpfen und entsagen dem republikanischen Ideal schließlich.118 In den 1870er Jahren bekennt sich Strauß sogar zu Bismarck und Moltke.119 Mörike ergreift von vornherein Partei gegen die Skepsis, die Vischer und Strauß in Krisen stürzt, aber auch zu Engagement veranlaßt. Der Pfarrer aus Cleversulzbach wendet sich vor allem gegen Strauß, sieht den Glauben seiner Gemeinde durch Das Leben Jesu gefährdet und versucht, Vischer auf seine Seite zu ziehen. Mörikes Engagement wirkt auf den ‚Gespaltenen‘; Vischer nimmt den Dichterfreund als stabilisierendes Moment wahr: Du hast Gefühl und Phantasie reiner und kräftiger ausgebildt. Hier bin ich mehr spekulativer Art, mein Beruf hat, da er mich durch einen harten Kampf führt, Gemüt und Phantasie mit einer gewissen Roheit infiziert, woraus sie sich, aber eben durch diese Philosophie wieder begossen und genährt, seit einiger Zeit wieder heraushelfen. Die Philosophie, zu der ich mich bekenne, ist 116 Vischer an Strauß, 11. November 1841, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 102– 104, hier S. 103: „Keine Moral erlaubt Dir, ein Leichnam bei lebendigem Leib zu werden.“ 117 Ebd.: „Und so muß ich denn sagen, daß ich Deine Lebensphilosophie für Wahnsinn halte. Du systematisierst Deine Launen, erhebst, was zu den Krankheiten des Individuums gehört, zu Notwendigkeiten; Du willst Dir eine rein individuelle Ethik konstruieren, die es in diesem Sinne nicht geben darf. Es gibt eine, aber keine, die ohne stattfindende mechanische Nötigung eine Absonderung von der Gesellschaft, ein freiwilliges Klosterleben erlaubt. Ich bin z. B. fest überzeugt, Du unterläßt das Dir so notwendige Reisen eigentlich bloß aus einer Scheue, die Deine Klostererziehung, Deine lange Einsamkeit, das unpraktische, was wir haben, unsere Schüchternheit erzeugte; dann legst Du erst in diese Scheue eine tiefere, Deinem tieferen Schicksal entnommene Philosophie hinein und machst so künstlich ein sehr einfaches natürliches Hindernis zu einem absolut moralischen. Glücklich sein wie naive ungebrochene Naturen kannst Du natürlich nicht mehr.“ 118 Was Vischer betrifft, so legt ein Brief an Kerner davon beredt Zeugnis ab. Vischer verfaßte ihn während der Wahlvorbereitungen im Kreis Reutlingen. Er gewann die Wahl und zog für Reutlingen in das Frankfurter Parlament ein. Über die Wirren im Vorfeld der Wahl, über die mühsamen Versuche, Unterstützer zu finden, heißt es in dem eilig geschriebenen Brief: „Es liegt eine moralische Verletzung darin, eine schwere Abkühlung nach großen begeisternden Stunden!“ Vischer an Kerner, Reutlingen, den 21. April 1848. 119 Kritisch über Straußens Ideologie der Bürgerlichkeit Lübbe 1963, S. 99–102.
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eine außerordentliche Nährerin der Phantasie und des Humors; aber gewiß aus guten Gründen hat mir ein guter Genius Deine feurigere und edlere Natur zugeführt, daß ich daran erstarke.120
Diese Selbst- und Fremdsicht bildet Vischer in einem Brief aus dem Jahr 1833 sogar zu einer Theorie. Danach betrachtet er sich als in ein universelles, nämlich wissenschaftliches und im Kern ungläubiges, und als in ein individuelles, ein poetisches und phantastisches Ich gespalten.121 Diese Selbstdeutung entspricht – sofern sie die zweiflerische Seite betrifft – dem Typus des Jungdeutschen, der am neuhumanistischen Ideal des ‚ganzen Menschen‘ versagt.122 Mörike aber drängt den Freund immer wieder dazu, sich dem poetischen Ich anzunähern und das zweiflerische Ich mit der Welt zu versöhnen. Dabei zeigt sich erstens Mörikes ‚individualpsychologischer‘ Neuhumanismus, zweitens Mörikes Abneigung gegen die theoretisch-abstrakte „Reflexion“ (in der Dichtung),123 drittens aber auch sein Interesse an Fragen der Poetik und Ästhetik. Er ist es, der Vischer Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771–1774) empfiehlt: „Es enthält neben viel Falschem, Obsoletem, Halbem und Trivialem doch zuweilen lehrreiche, sogar feine Bemerkungen.“124 Im Jahr 1832 – also zur Zeit der Niederschrift der umstrittenen Novelle – hatte sich Vischer aber noch überhaupt nicht mit der Ästhetik befaßt;125 erst der Dichterfreund bewegt ihn dazu.126 Mörike beeinflußt Vischer danach nicht nur maßgeblich, sondern stößt ihn erst auf das Gebiet der Ästhetik und facht sein Interesse an literarischen Texten immer wieder an – allerdings meistens ex negativo: aus der Klage über das moderne Dichtungsunwesen, über „Kränklichkeit und Schmerzenprahlerei“.127 120 Ebd., S. 32. 121 Vischer reserviert diese Selbstbeschreibung nicht für den Austausch mit Mörike, sondern wendet sich in vergleichbarer Weise an Strauß; siehe Vischer an Strauß, Tübingen, 5. Januar 1839, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 75–77, hier S. 76. 122 Vgl. Huesmann 2001. 123 Mörike an Vischer, Ochsenwang bei Kirchheim, 26. Februar 1832, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 48–57, hier S. 49. 124 Ebd., S. 56. 125 Vischer an Mörike, Maulbronn, 27. März 1832, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 59–64, hier S. 62: „Sobald ich Zeit haben, muß ich auch eine Ästhetik lesen. Ich habe über das ästhetische Fach noch gar zu wenig wissenschaftliche Rechenschaft gegeben.“ 126 Mörike an Vischer, Ochsenwang, 14. Mai 1832, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 65–69, hier S. 69. 127 Mörike an Vischer, Ochsenwang, 5. Oktober 1833, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 99–103, hier S. 102 f.
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Mörikes Briefpoetik läßt auf einen Autor schließen, dessen poetologische Meta-Reflexion die eigene Tätigkeit absolut setzt. Reflexion erscheint ihm zwar nicht als etwas per se Schlechtes, aber es gilt, sie im Griff zu behalten, um dem neuhumanistischen Menschen- und Bildungsideal zu entsprechen, das er verinnerlicht hat: Im Übermaß ausgeübt spalten Theorie und Begriffsbildung den ‚ganzen Menschen‘, zerstören seine natürliche Kreativität und seine empfindliche Seele. Die Literatur gilt Mörike deshalb mehr als Theorie; das Ich soll sich lebensnah und unakademisch ausdrücken. Mörike sehnt sich selbst nach der wahren, schönen und guten Form, nach einem klassischen, einem „gesunden idealen Stoffe“.128 Er überträgt – passend zu seinem Neuhumanismus – antike Lyrik:129 Vorbilder für An eine Äolsharfe. All diese Bekenntnisse und Bemühungen helfen Mörike nicht. Sobald sich Vischer auf ästhetischem Gebiet von Mörike emanzipiert, gilt er ihm dennoch als ein viel zu romantischer Poet und eben nicht als ein klassischer Dichter des Wahren, Schönen und Guten. Aus dieser Einschätzung entzündet sich ein Streit, der Mörikes Freundschaft zu Vischer ernsthaft in Frage stellt. Im Jahr 1837 erhält Vischer das Extraordinariat für Ästhetik und deutsche Literatur in Tübingen. Aber nicht nur dieser Karrieresprung verändert das Verhältnis der beiden Freunde: Den Professor stört der Umstand, daß Mörike Märchen schreibt. Er nimmt sein Unbehagen daran zum Anlaß für eine so grundsätzliche Diskussion, wie sie in allen vorausgegangenen Briefen nicht vorkommt. Sie handelt wieder über die ästhetische Grundfrage, über die Vischer mit Uhland und schließlich auch mit Mörike stritt, nämlich über die dichterische Vorliebe entweder für das Ideal oder für die ‚gespaltene‘ Wirklichkeit von Mensch und Welt. Doch jetzt kehren sich die Verhältnisse um: Vischer zufolge widmen sich Romantiker in erster Linie dem Ideal und entrücken es in die Welt des Phantastischen, Wunderbaren oder Märchenhaften. Goethe, Schiller und andere „gediegenere[] Geister[]“ aber wollten nur „das Wirkliche in seiner festen Ordnung, in klarem, gesetzmäßigen Verlaufe“ darstellen und diese Wirklichkeit „im Feuer der Phantasie zum Träger höherer Ideen läutern“.130 Mörike, so Vischer, neige seit seiner Jugend zur Romantik, verkenne seinen Genius, der „zur Klassizität, zum reinen Ideale hin128 Ebd. 129 Vgl. Mörike 1960. 130 Vischer an Mörike, Tübingen, 1. April 1838, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 146–150, hier S. 147 f.
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drängt.“131 Mit anderen Worten: Mörike versage am eigenen neuhumanistischen Ideal. Mörike reagiert gekränkt, verfertigt sogar einige Verse An Friedrich Vischer, Professor der Ästhetik etc. (1838),132 in denen er seine Verblüffung über den Angriff des Freundes ausdrückt. Er fühlt sich als Dichter ebenso wie als Mensch verletzt.133 In der Tat hat Vischer Wesentliches getroffen, wertet man Mörikes poetisch-poetologische Reaktion als Indiz dafür. Vischer jedenfalls spricht noch beinahe zehn Jahre später über diesen Konflikt. Er hadert mit den eigenen neuhumanistischen Grundsätzen, die ausgerechnet an Mörike scheitern: Mit dem Dichter Mörike streitet er um die ‚wahre‘, nämlich um die klassische Poesie; den Menschen Mörike aber will er dennoch lieben.134 Mensch und Dichter treten auseinander, obwohl doch Talent, Temperament und Tätigkeit den ‚ganzen Menschen‘ bestimmen, die moderne Trennung der Handlungsrollen zugunsten des autonomen Individuums rückgängig machen sollten. Hier steht die Reflexion – genauer: die poetologische Reflexion – gegen dieses sittliche Prinzip. Vischers literatur- und stilgeschichtliche Einordnung Mörikes in die Romantik erweist sich als kontrovers. Sie greift die Grundfesten der Verständigung im Triumvirat Mörike, Vischer und Strauß an und zerstört die freundschaftliche Kommunikation bis zu einem gewissen Grad. Der Neuhumanismus, der die Verständigung und die Poetiken der Freunde anleitete, findet an der Poetik seine Grenze. Wieder ging der wesentliche Impuls dafür aber nicht von Vischer aus, sondern von Strauß.
131 Ebd., S. 148. 132 Es beginnt mit den Versen: „Oft hat mich der Freund verteidigt, / Oft sogar gelobt, doch nun?“ Mörike 1964, S. 111. 133 Der berufliche Tadel kommt, so zeigt es die Reaktion Mörikes, dem persönlichen gleich. Arbeitsform und Charakter scheinen für ihn eng zusammenzuhängen. Vergleichbare Strukturen weist das Berufsethos der Germanisten im 19. Jahrhundert auf; siehe darüber Kolk 1989. 134 Vischer an Mörike, Tübingen, 21. Dezember 1847, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 179–185, hier S. 182: „Zwar glaube ich jetzt – ich muß ganz offen sein –, daß zum Teil auch jenes Prinzip der Romantik es ist, das Dich größeren, männlichen Stoffen entfremdet. Hab ich recht, hab ich unrecht? Das sollte ja unserer Freundschaft nichts verschlagen. Wir könnten wohl über Prinzipien zanken und uns lieben.“
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b) David Friedrich Strauß, Friedrich Theodor Vischer und Friedrich Gundolf über Eduard Mörike: Modell des naiven und humanen Dichters Bezeichnenderweise rivalisierten Mörike und Strauß schon immer um die ‚wahre‘ Sicht auf Welt und Wissen – nicht nur in bezug auf die religiöse Skepsis. Dabei gilt Strauß Mörike seit jeher als unpoetisch und als unsinnlich, in mancher Hinsicht sogar als unsympathisch.135 Noch im Jahr 1832 bestätigt Vischer Mörikes Abneigung: Ich glaube fest, daß er [Strauß] gegenwärtig auf die Poesie herabsieht. Es liegt zwar im System, daß sie eine niedrigere Erscheinungsform des Geistes ist, als die Philosophie, allein wie unsinnig es ist, sie deswegen auf dem Standpunkte des wirklichen Lebens gleichsam nicht als notwendiges Glied gelten zu lassen und vornehm anzusehen, dies würde Strauß vielleicht besser erkennen, wenn nicht ein Mangel seiner Natur ihn daran hinderte, nämlich der Mangel an Sinnlichkeit, welche Dichter und Leser gleich notwendig brauchen. Wenn ich nicht mit Strauß zerfallen wäre, würde ich sagen, es komme dazu sein Hochmut. Da ich es aber nun doch gesagt habe, so kann ich nicht mehr helfen. Ich kann mich deswegen nicht versöhnen, weil seine Freundschaft Gnade ist und er die Natur des Freundes wie aus der Vogelperspektive unter sich zu haben meint. Ich brauche nicht zu sagen wie sehr ich ihn schätze, aber zehn Schritte vom Leib.136
In den späten 1830er Jahren schilt Strauß Mörike, wenn auch in bester Absicht. Er ist es, der den folgenschweren Konflikt zwischen Vischer und Strauß anzettelt: Ich hatte noch gestern ein Gespräch mit Köstlin137 über Mörike; wir kamen überein, daß er das specificum, was den Dichter macht, in einem Maße, wie nur wenige, z. B. in höherem, als etwa Schiller selbst, besitze: und doch werde er nie ein großer Dichter werden. Wie nun das, was ihm hiezu fehle, zu 135 Mörike an Vischer, Ochsenwang, 4. August 1832, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 86–91, hier S. 90 f.: „An Strauß kann und mag ich mich nicht wenden. Auf seinem gegenwärtigen Standpunkte müßte ihm so ein gemächte der Phantasie als etwas sehr Geringfügiges vorkommen. Er hat mir kurz vor Antritt seiner Berliner Reise seine Denkungsart über das ganze Feld der Poesie zu deutlich verraten; auch habe ich inzwischen und zwar ganz neuerdings durch Andere ähnliche Begriffe von ihm erhalten. Er ist mir respektabel in jedem Betracht, aber um über gewisse Seiten des Gemüts mit Wärme reden zu können, müßte er nicht Strauß sein.“ 136 Vischer an Mörike, Maulbronn, 28. August 1832, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 91–93, hier S. 92 f. 137 Gemeint ist der Dichter und Jurist Reinhold Köstlin; siehe Kommentar, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, Anm. 47, S. 291.
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nennen sei, darüber konnten wir uns nicht vereinigen. Da er ein leibhafter Poet ist: ist denn das, was ihm zum großen Poeten fehlt, auch etwas Poetisches, oder etwas Anderes? Anschließung ans Objektive ist jedenfalls etwas davon; denn so wirklich auch seine Gestalten sind, so bleibt ihre Wirklichkeit doch eine subjektive: sie sind z. B. außerhalb aller Bedingungen der Zeit, könnten in allen Jahrhunderten gelebt haben.138
Von den Talenten Mörikes spricht Strauß mit Hochachtung; der Freund gilt ihm als ein Dichter wie nur wenige – selbst verglichen mit den bekanntesten Poeten. Aber zugleich ist er unzufrieden mit dem Aspiranten auf das höchste Dichteramt. Er schreibe zu subjektiv und zu ahistorisch, bemängelt Strauß. Vischer überträgt diese geschichtsphilosophisch inspirierte Klage in die Terminologie des Professors für Ästhetik. Am 11. März notiert er in einem Brief an Strauß: Daß Mörike in der Romantik stecken bleibt, in dem Willkürlichen und Phantastischen, sehe ich ebenfalls mit Mißfallen und will ihn doch mit gehöriger Behutsamkeit auch an das Epische der vernunftgemäßen Wirklichkeit, und das Dramatische, in meinem nächsten Briefe weisen. Ich habe mir dieses zurückbleiben bisher nur historisch erklärt, nämlich daß er sich in seiner Jugend durch Gesellschaft etc. für die Romantik so entschied, daß er seine Seele, wie es zu gehen pflegt, diesem jetzt von der Zeit zurückgelegten Prinzip verschrieb. Das muß es aber freilich in ihm selbst seinen Grund haben, und wenn man seinen genius familiaris betrachtet, hiezu sein verfehltes, anschauungs- und erfahrungsloses Leben nimmt, so ergibt sich freilich, daß die Phantasie in ihm nur fragmentarisch das reine Ideal, d.h. eine Gestalt, welche das Leben verklärt, ohne seine Gesetzmäßigkeit zu alterieren, hervorbringt, sondern vorherrschend als ein die reinen Gesetze trübender, für das Wunderbare entschiedener relativer Wahnsinn zum Vorschein kommt. Man sollte ihn nötigen, Geschichte zu studieren und die Klassiker.139
Vischer formuliert eine anti-romantische und psychologische Erklärung des Phänomens Mörike. Er äußert sich dabei hart gegen den Freund, der schon seit seiner Jugend der Romantik verfallen sei, und der ein „verfehltes“ Leben führe. Aus einem solchen Leben könne eben nichts Klassisches erwachsen, so Vischer. Hier scheinen sich die Dinge gewendet zu haben: Wenn Mörike Vischer vormals Unterstützung gewährte, dann bedarf er, so will es Vischer, nun selbst der Unterstüt138 Strauß an Vischer, Stuttgart, 28. Februar 1838, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 49–51, hier S. 50. 139 Vischer an Strauß, Tübingen, 11. März 1838, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 51–54, hier S. 52. Otto Borst bezieht sich ebenfalls auf diesen Brief, gibt ihn und die Debatten zwischen Strauß und Vischer jedoch nicht ganz richtig wieder; vgl. Borst 1988, S. 59 f.
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zung. Demjenigen, der Vischer erst auf das Wissensgebiet der Ästhetik hinwies und der ihn von der skeptischen Subjektivität seiner frühen Novelle wegführte, demjenigen weist Vischer nun den schwächeren Part in der poetologischen Auseinandersetzung zu. Am 1. April sendet er Mörike eine entschärfte Fassung des Briefs, den er Strauß schrieb. Während Vischer die Freunschaft mit Mörike riskiert, hält Strauß sich offiziell zurück. Aber ausgerechnet er wird später für ein Urteil über Mörike, das „Muttersöhnchen der Muse“,140 verantwortlich zeichnen, das diesen zum wahrhaft humanen (oder besser: humanistischen) Dichter erhebt. Jahre später, als die Wogen zwischen Vischer und Mörike leidlich geglättet sind, lobt Strauß Mörike nämlich überschwänglich: [...] das aber wußte man, fast noch ohne seine Gedichte zu kennen, daß hier ein Dichter sei. Ja, Mörike ist für uns alle, die sein Wesen unmittelbar oder mittelbar berührt hat, das Modell dessen geworden, was wir uns unter einem Dichter denken. [...] Ihm verdanken wir es, daß man keinem von uns jemals wird Rhetorik für Dichtung verkaufen können; daß wir allem Tendenzmäßigen in der Poesie den Rücken kehren; daß wir Gestalten verlangen, nicht über Begriffsgerippe künstlich hergezogen, sondern so wie sie leiben und leben, mit Einem Blick vom Dichter erschaut und in’s Dasein gerufen. Ja, Mörike ist Dichter, jeder Zoll ein Dichter und nur Dichter.141
Mörike gilt Strauß nun als das Modell des ‚wahren‘ Dichters, und darunter stellt er sich vor, was Mörike – Straußens Ansicht nach – lehre: daß Rhetorik keine Poesie und daß Tendenzpoesie schlecht sei, daß der Dichter demgegenüber seine Gestalten schauen und „in’s Dasein“ rufen müsse. Kurzum: In Mörike wird die poetische Intuition Mensch. Strauß äußert sich unkritischer über Mörike als Vischer. Zwar preist Vischer den Freund in seinem Aufsatz Gedichte von Eduard Mörike (1839) als „ächten“ Dichter, ja sogar als die ‚wahre‘ Dichterpersönlichkeit seiner Zeit, aber er spart dabei nicht mit Kritik: Mörike steht der märchenhaften Poesie Kerners, Arnims und Brentanos zu nahe, als daß ihm sein Platz auf dem poetischen Olymp (neben Goethe und Uhland) schon sicher wäre. Wenn Mörike auch bereits – in einem positiven Verständnis von naiv (im Sinne von ‚ursprünglich‘, ‚authentisch‘) – als bester Gegenwartsdichter gilt, dann droht er doch an der Reflexion zu scheitern. Vischer nimmt hier auf, was Strauß in seiner Mörike-Lauda140 Strauß an Vischer, Ludwigsburg, 29. Oktober 1838, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 70. 141 D. F. Strauß 1847 a, S. 491 f.
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tio ausblendet: die „Reflexionsbildung“ des Zeitalters und die sittliche Lehre, die damit zusammenhängt. Denn aus Vischers Sicht muß sich das Dichtergemüt den „Schmerzen“, „Leiden“ und „Disharmonie[n]“ des modernen Lebens stellen, die von der „Reflexionsbildung“ verursacht sind, um sich in den „Dienste einer concreten sittlichen Idee“ zu begeben.142 Mörike scheint auf dem besten Weg dorthin – aber eben nur auf dem Weg. Sein meta-reflexives Dichten bezieht sich zwar bereits kritisch auf die „Reflexionsbildung“. Aber die Schlußfolgerungen, die er daraus zieht, schätzt Vischer als unzureichend ein. Wenn Mörike auch dem ‚ganzen Menschen‘ zur Sprache verhilft, dann bleibt das humanistische Moment in seiner Dichtung – nach Vischer – doch hinter dem ‚innerlichen‘ zurück. Mit anderen Worten: Mörikes Poesie nimmt einen zu geringen „Grad[] der Reflexion“ auf, erweist sich als zu romantisch und als zu wenig klassisch, als zu nah bei Kerner und als zu fern von Uhland.143 Während Strauß in Mörike schon den wahrhaft humanen Dichter erblickt, gibt Mörike für Vischer nur das Modell für ein solches Dichterideal ab. Mörike genügt den neuhumanistischen Anforderungen des Professors für Ästhetik nicht. Im Jahr 1930 erscheint ein Beitrag, der Mörike demgegenüber nicht nur in einem – etwas anderen – neuhumanistischen Sinne als einen poetischen Genius preist, sondern dabei erstaunlicherweise auch auf Strauß und Vischer Bezug nimmt. Sein Autor heißt Friedrich Gundolf, und er publiziert seinen Text in einer der international führenden Literaturzeitschriften: in The Criterion (1922–1939) von Thomas Stearns Eliot.144 Gundolf, der Wissenschaftspoet, der bis zum Jahr 1925 dem George-Zirkel angehörte, deutet seinen Gegenstand für die Leser von The Criterion erheblich um.145 Diese Umdeutung betrifft vor allem zwei Aspekte: erstens schätzt Gundolf die Romantik – gegen Vischer und Strauß – überhaupt positiv ein. Zweitens betrachtet er Mörike als einen Vorläufers der Lyrik um bzw. nach 1900. Die erste Umdeutung dient Gundolf dazu, Mörike als einen typisch deutschen Dichter vorzustellen, denn er verkörpert für ihn genau das, 142 Vischer 1975, S. 14 u. S. 21. 143 Ebd., bes. S. 9. 144 Gundolfs deutschsprachiger Beitrag über Mörike weicht von dem „Criterion“-Text ab. Vgl. F. Gundolf 1931; über die Konstellationen im George-Kreis Osterkamp 2000, S. 173. 145 Wenn Gundolf dem Zirkel zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Beitrages auch nicht mehr angehörte, so weist der Text doch erhebliche Spuren von den Vorstellungen des Zirkels auf.
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was mit der Romantik begonnen habe: das Schreiben „against all the stress of our material existence“.146 „In Germany since the Romantic Movement, we call it Poesy.“147 Gundolf wählt einen sehr einlinigen Begriff von Poesie, der demjenigen von Vischer und Strauß widerspricht; Gundolf legt Poesie darauf fest, den Menschen vom Ballast des Materiellen zu entlasten, formuliert eine ‚Kompensationstheorie‘ für Poesie. Vor diesem Hintergrund erscheint Mörike – mit Eichendorff – als ein Vertreter höchster Dichtkunst, der sich ohne weiteres an die Seite von Homer, Dante, Shakespeare, Goethe, Pindar, Hölderlin, George, Racine, Voltaire, Manzoni, Scott, Balzac, Dickens, Tolstoi, Dostojewski, Keller und Hamsun (in dieser Reihenfolge) stellen lasse.148 Zum Beleg zitiert Gundolf Strauß: Mörike need but touch a thing and it gives forth melody. As his friend, David Friedrich Strauß, declared: when Mörike took up a handful of dust, a little bird would arise from it.149
Mörike verfügt nach Strauß (und Gundolf) über jene Gaben, die den Dichter auszeichnen. Aber Gundolf deutet diese Gaben schon mit Blick auf die ‚décadence‘: Yet throughout his life he skirted the fringes of these greater vicissitudes and lesser imperfections with his delicate sensibility, his alterness, his venturesome timidity (if the expression be pardoned), which in German poetry, at any rate was unknown before the day of Nietzsche. Mörike, rightly lauded nowadays as the hearty songster of his native soil, a model for the propounders of contentment, is yet a kinsman of the so called Decadents and coeval not only with Schiller and Hölderlin, but also with Baudelaire and Pope.150
Das Phänomen Mörike gewährleistet also in einem gewissen Sinne auch die Kontinuität hoher deutscher Dichtung – zumal Mörike aus einem ‚typisch‘ deutschen Umfeld kommt. Gundolf begnügt sich aber nicht damit, das Phänomen Mörike aus der Idylle des Schwabenlands zu erklären. Vielmehr stellt er diese Umgebung und ihr Produkt, die Poesie Mörikes als „friendlier, sturdier, healthier“ dar – im Vergleich zu 146 147 148 149
F. Gundolf 1930, S. 682. Ebd. Ebd., S. 683 – in dieser Reihenfolge. Ebd.; das Originalzitat lautet: „Er nimmt eine Handvoll Erde, drückt sie ein wenig – und alsbald fliegt ein Vögelchen davon.“ Mörike 1964, S. 1437. 150 F. Gundolf 1930, S. 684 f.
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jener Dichtung, die den Großstädten Paris und Boston entstamme.151 Mörike, so Gundolf, nehme noch den eigenartigsten Stoff in seine poetische Idylle auf und umgebe ihn mit einer „homely intimacy“,152 mit einer besonderen Art von „glamour“, der intim und sublim zugleich wirke.153 Als einer der letzten Physikotheologen, als einer der verbliebenen „Priester der Natur“ dichte er vor allem über die kleinen Dinge; er überführe diese allerdings – anders als die Physikotheologen des frühen 18. Jahrhunderts – in ein ganz und gar pantheistisches DichterUniversum.154 Gundolf verkürzt Mörikes Poesie beinahe vollständig auf ihre ästhetische Wirkung. Es verwundert nicht, daß er von allen denkbaren Dichtergaben Mörike nur eine „faculty of imparting poetic glamour“ zuschreibt.155 Aus der meta-reflexiven Dichtung Mörikes wird durch Gundolfs Brille ein reflexiver Ästhetizismus, ein Ästhetizismus, der sich bewußt auf Heim und Garten beschränkt und sich der großen Welt zugunsten einer gesunden und lieblichen Natur verweigert: l’art pour l’art in Cleversulzbach. Für Gundolf beginnt das Fin de siècle mit dem poetisierenden Blick eines schwäbischen Pfarrer-Pantheisten durch das biedermeierliche Butzenfenster. Die Zuschreibungen, die Gundolf für diesen Blick bereithält, nehmen den meta-reflexiven Zug der Lyrik Mörikes nicht auf, sondern überführen diese in einen zeitlosen Raum selbstreflexiver und ‚reiner‘ Kunst, die sich dem Druck der materiellen Existenz entzieht und sich weder kritisch mit sich selbst noch mit ihren eigenen Entstehungsbedingungen auseinandersetzt. Trotz dieser ahistorischen Mörike-Deutung ruft Gundolf Vischer und Strauß als Zeugen für seine Sichtweise auf. Daß diese Zeugenschaft durch Unkenntnis erkauft ist, zeigt schon Gundolfs emphatischer Verweis auf die Briefe der Freunde: „Even D. F. Strauss and F. T. Vischer, gifted plodders or staid geniuses both, grow almost lyrical when they 151 152 153 154
Ebd., S. 685. Ebd., S. 687. Ebd., S. 698 f. Der Vergleich mit der Physikotheologie lohnte das Weiterdenken, wenn Mörikes Naturlyrik auch nicht in erster Linie der Verherrlichung der Schöpfung dient, wie die umfangreichen Vers-Darbietungen von Barthold Heinrich Brockes und Daniel Wilhelm Triller. Gundolfs Ansichten über einen vermeintlichen Pantheismus Mörikes allerdings finden in den Briefzeugnissen des Pfarrers und Autors keine Entsprechung. Zwar mag es sein, daß er sich auch in einem nicht-christlichen Sinn naturtheologisch äußerte, aber im Prinzip gab er den christlichen Glauben nicht auf. 155 F. Gundolf 1930, S. 698 f.
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speak of him or to him.“156 Ausgerechnet in ihren Briefen, in ihren direkten Äußerungen über oder an Mörike, kritisieren Strauß und Vischer den Dichter-Freund aber in scharfen Tönen. Strauß, Vischer und Gundolf stimmen in ihrer Einschätzung Mörikes nur insofern überein, als sie den Dichter für ausgesprochen begabt, weniger aber als einen „master of all that European humanism could offer“ betrachten.157 Verbanden Vischer und Strauß mit diesem Humanismus noch Schillers berufsspezifische Anthropologie, nach der erst der Dichter ein „ganze[r] Mensch“ wäre,158 so meinte Gundolf demgegenüber die einzigartige ‚Gestalt‘ des Dichters: den Genius, der nicht erst ‚werden‘ muß, sondern qua Natur für poetische Qualität bürgt. Aber es gibt eine weitere Ähnlichkeit. Sie betrifft nur Gundolf und Strauß, genauer: ihre weniger systematische, als vielmehr emphatische Art und Weise, mit dem Phänomen Mörike umzugehen. Strauß und Gundolf erklären sich nämlich selbst zu Wissenschaftspoeten, um sich der anschaulichen Darstellung ihres Gegenstands zu widmen – mit der Konsequenz, aus den universitär versorgten Berufsständen ausgeschlossen zu werden. Die Art und Weise, wie sich ihre Mörike-Begeisterung artikuliert, verdankt sich diesen Selbstbestimmungen, so sehr diese auch im Detail voneinander abweichen: Gundolf beispielsweise versteht unter dem Wissenschaftspoeten einen gebildeten Ästheten, der sich der wissenschaftlichen Methodik – im Namen seines Gegenstands – verweigerte.159 Ganz anders Strauß: Immer wieder versichert er sich seiner Quellen und nennt diese auch; von der Poesie erborgt er sich bloß Sprachbilder und die erzählerische Absicht. Aus seiner Sicht vermittelt Poesie nicht per se wissenschaftliche Erkenntnis; sie hilft bloß, diese ‚schön‘ und populär zu gestalten.
156 Ebd., S. 686. 157 Ebd., S. 683. 158 So zumindest sieht es Strauß; Strauß an Vischer, Heilbronn, 3. Juni 1846, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 172 f., hier S. 172. Vischer ist nicht ganz zufrieden und versucht, den anthropologischen Wert des Philosophen argumentativ zu verbessern. Vischer an Strauß, 7. Juni 1846, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 173–175, hier S. 174: „Gut, aber kann man nicht etwa so sagen: Philosophie ist mehr als Kunst, aber der Philosoph weniger (Mensch) als der Künstler? Es ist kein Widerspruch, denn wer das Ganze in seiner Allgemeinheit treibt, der kommt als Phänomen zu kurz, und der Lebenswürdigere ist der, welcher schließlich auch mehr Irrtum hat.“ 159 Über Gundolfs Wissenschaftspoesie Osterkamp 2000, S. 166–173.
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Exkurs. David Friedrich Strauß über die Poetik der Wissenschaftspoesie Wie Vischer hält sich Strauß für einen verhinderten Künstler, für einen verkappten Poeten, dem aber wichtige Voraussetzungen für die Poesie fehlten.160 Von den vier Gaben, die – nach Strauß – einen guten Poeten auszeichneten, besäße er genau genommen nur eine: das Gefühl oder die Einfühlung. Es mangele ihm, dem scheuen Gelehrten mit der schwachen Sehkraft, aber – erstens – an „sinnliche[r] Receptivität“, an der Gabe, Stoffe und Ereignisse aufzunehmen.161 Zweitens ersetze ihm ein „vacuum“ die Phantasie, die der Dichter so dringend benötige.162 Strauß spricht sich selbst allenfalls die „Gabe der Metapher“ zu, die Gabe, sprachliche Bilder zu erfinden.163 Auch um das Talent, dem Erfundenen eine Form zu verleihen, stünde es bei ihm nur mäßig. Zwar liege ihm die Prosa, nicht aber das Verseschmieden. Kurzum: Strauß wäre nicht der Poet geworden, den er sich vorstellte, und er begnügte sich mit einem Dasein als gelehrter Schriftsteller. Ex negativo läßt sich dieser Selbstbeschreibung entnehmen, was den guten Dichter nach Strauß auszeichnet: Einfühlungsvermögen, sinnliche Aufnahmefähigkeit, Phantasie und Form-Empfinden. Dieser Dichter hat einen Namen: Mörike. Weil Strauß an so vielen Anforderungen scheiterte, denen Mörike genügte, ernennt er sich zu einem Poeten zweiter Klasse, zum Wissenschaftspoeten. Es handelt sich dabei um ein berufliches Zwitterwesen: um eine Kreuzung aus Poet und Wissenschaftler. Das Zwitterwesen trägt poetische und wissenschaftliche ‚Gene‘ in sich, bleibt aber in beiden Bereichen Dilettant. Er unterscheidet sich damit vom ‚poeta doctus‘, der beansprucht, Gelehrtes ohne Bedeutungsverlust bloß schön, nämlich in Versform auszudrücken. Strauß verzichtet sowohl auf die Versform – er wählt die ungebundene Rede – als auch auf den Wissensanspruch des gelehrten Poeten. Er beschreibt seine Tätigkeit und ihr Ergebnis vielmehr als populär, als Angebot an einen Leser, der in erster Linie unterhalten und erst in zweiter Linie informiert sein will.
160 D. F. Strauß: Literarische Denkwürdigkeiten (wie Anm. III., 45), S. 8: „So viel ist gewiß, wie ich 18 Jahre alt war, wenn ich damals das Zeug in mir gefunden hätte zu einem Dichter, so hätten Philosophie und Theologie vor mir große Ruhe gehabt.“ 161 Ebd., S. 10. 162 Ebd. 163 Ebd.
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Sofern das Gebiet der Ästhetik betroffen ist, wird Strauß jenen Dilettantismus, dessen er sich selbst bezichtigt und der ihn übrigens auch von Vischer unterscheidet,164 stets bedauern.165 Was er der ästhetischen Gelehrsamkeit Vischers entgegenzusetzen hat, beschränkt sich auf die schöne Gestaltung. Wissenschaftspoesie, die dilettantische und ungelehrte Wissenschafts-Prosa, beruhe zwar auf der Kenntnis des „Materials“, soll aber wesentlich „Stimmung, [...] Phantasie, [...] Intuition“ des Verfassers stimulieren,166 um einen komplexen dialektischen Verschmelzungsprozeß in Gang zu setzen.167 Im Ergebnis steht eine Wissenschaftspoesie, die sich besonders in der historischen Biographie ausdrückt, dem „Roman, wie [er, Strauß] ihn schreiben konnte.“168 Zum Zweck der historischen Biographie wählt er sich solche Gelehrte, Dichter oder Politiker, die ihm in der ein oder anderen Hinsicht ähneln,169 in die er sich also ohne Schwierigkeiten hineinversetzen und die er aus unmittelbarer (Selbst-)Anschauung schildern kann. Er schreibt über Justinus Kerner, Ludwig Bauer, Nicodemus Frischlin,170 August Wilhelm Schlegel, Karl Immermann, 164 Gleichwohl weisen auch Vischers Kenntnisse Lücken auf; in die Notenlehre beispielsweise arbeitet sich Vischer nur mit großer Mühe ein. Vischer an Mörike, Tübingen, 13. Juli 1854, in: Mörike u. Vischer 1926, S. 201–203, hier S. 202 f. [Hervorhebung im Original]: „Jetzt such ich mich in die Musik einzubohren und werde von dem Noten- und Zahlenwesen ganz dumm bis zum Kopfweh. Eine dumme Geschichte! Am Ende ist die Musik doch die bloßgelegt Seele aller Kunst, daher alles und nichts, die Idee des Körpers ohne den Körper. Nun ist sie reines Verhältniswesen. Wenn sie nun die Seele aller Kunst, der ausgesprochene Rhythmus in allem ist, ist nicht alles Schöne am Ende ein reines Verhältniswesen, das so beschaffen ist, daß ein nachmeßbarer und nachrechenbarer Proportions-Kanon sich in der einen Kunst mehr, in der andern weniger, in einem Stil mehr, im andern weniger, in Unendlichkeiten verliert, die auch noch Maß- und Zahlverhältnisse haben, nur nicht mehr verfolgt werden können? Wenn nun aber ein armer Teufel nicht messen, nicht rechnen kann, keine Noten versteht, bei fis und gis, fes und ges usw. schon Kopfweh kriegt und zum Simpel wird, was für Beruf hat er zur Ästhetik? Antwort? Das ist die Antwort, daß ich etwas anderes hätte werden sollen, nämlich abwechselnd Soldat, Maler und Schauspieler.“ 165 D. F. Strauß: Literarische Denkwürdigkeiten (wie Anm. III., 45), S. 60 f. 166 Ebd., S. 7. 167 Ebd., S. 12. – Über die Dialektik sagt Strauß außerdem, sie diene ihm als „Surrogat“ für seine „schöpferische Phantasie“ und bringe sein „gespaltenes Wese zur Einheit“. Ebd. 168 Ebd., S. 35. 169 Strauß spricht dafür von einer „Verwandtschaft der Natur“; ebd., S. 30. 170 Straußens „Frischlin“ begeistert Vischer. Vischer an Strauß, Zürich, 13. Dezember 1855, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, II, S. 98–100, hier S. 99: „Du bist Historiker, historischer Künstler geworden.“
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Barthold Heinrich Brockes, Hermann Samuel Reimarus, Ulrich von Hutten, Christoph Friedrich Daniel Schubart, Friedrich Gottlieb Klopstock, Christian Märklin, Voltaire und Friedrich I. Immer wieder versucht Strauß dabei, das Werk aus dem besonderen Verfasser-Individuum zu ergründen: Ein neuhumanistisches und liberales Interesse leitet alle diese Schriften, vor allem diejenige über den verehrten Hutten.171 Das Beispiel des Wissenschaftspoeten Strauß ist daher gleich unter zweierlei Aspekt bedeutsam: Es handelt sich erstens um einen Gelehrten, der immer wieder auf die Poesie schaut und in ihr ein unerreichbares Vorbild für seine ‚Schriftstellerei‘ erblickt. Zweitens steht Strauß wie nur wenige Gelehrte für die Forderung nach Unmittelbarkeit ein. Denn die Auswahl seiner Gegenstände und sein schriftstellerischer ‚Verschmelzungsprozeß‘ zielen genau darauf. Konsequenterweise polemisiert er gegen eine solche Poesie, die bloß sich selbst bespiegelt, die sich nicht – wie der ideale Poet und der ideale Wissenschaftspoet – den Menschen, dem Leben, den Ereignissen widmet und diese phantasievoll gestaltet, sondern die ‚bei sich‘ bleibt.
2. David Friedrich Strauß Ästhetische Grillen (1847): sechzehn Thesen gegen die „Poesie der Poesie“, vor allem gegen Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck Kaum ein zweiter Text des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts befaßt sich deshalb so explizit – oder vielmehr: so polemisch mit dem Thema der künstlerischen Selbstbespiegelung wie die Streitschrift Ästhetische Grillen (1847) von Strauß.172 In sechzehn Thesen beklagt er den Verfall der zeitgenössischen Kunst. Schuld an der Misere sei vor allem eines, nämlich die „sich selbst bespiegelnde Subjectivität der Romantik.“173 Wie Vischer gibt Strauß ihr die Schuld an all dem, was er als 171 D. F. Strauß: Literarische Denkwürdigkeiten (wie Anm. III., 45), S. 31: „Er [der potentielle Held einer Biographie] mußte geistige Interessen zeigen, geistige Thaten aufzuweisen haben, und zwar in einer Richtung, die der meinigen verwandt war; er mußte dem Licht, der Freiheit zugekehrt, ein Feind der Despoten und der Pfaffen sein.“ 172 Schon deshalb erstaunt die Tatsache, daß sich der Text nicht in der Strauß-Werkausgabe findet. Im folgenden wird deshalb nach dem ersten und meines Wissens einzigen Druck zitiert: D. F. Strauß 1847. 173 Ebd., S. 385, 16.
2. David Friedrich Strauß Ästhetische Grillen
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ästhetisches Übel begreift. Um diese Schuldzuweisung zu begründen, kehrt er die Spiegelmetapher um, die das Verhältnis von Kunst und Welt versinnbildlicht: Man hat die Kunst einen Spiegel der Welt genannt; ein Spiegel ist sie noch immer, in welchem aber der Künstler jetzt häufig mehr sich selbst als die Welt zu sehen und sehen zu lassen trachtet.174
Einstmals besang die Dichtung nicht nur die Helden, sondern auch „Lust und Leid der Menschenbrust“.175 Nunmehr, so die Diagnose von Strauß, die Jean Paul schon zuvor in vergleichbarer Weise formulierte und polemisch gegen Novalis richtete,176 begnüge sich die Poesie damit, sich selbst zu betrachten; der Dichter dichte am liebsten über den Dichter – sowie der Maler den Maler male.177 Was den Lyriker besonders auszeichnet, daß er nämlich „von sich“ reden sollte,178 wird ihm nunmehr zum Problem. Denn gegenwärtige Lyriker handelten nicht mehr über sich als Menschen, wie es ihrem Amt gebühre, sondern über sich als Dichter: [...] will er [der Lyriker] mehr als nur der beredte Mund des Menschen sein, sehen wir ihn ganze Sammlungen hindurch sich den poetischen Schnurrbart streichen und in den schwarzen Dichterlocken wühlen: dann auf die Putztische geniesüchtiger Damen mit ihm, aber fort aus den Büchersammlungen der Männer, aus den Händen des Volks!179
Strauß beschimpft solche Dichter des Dichters nicht nur als eitel, sondern auch als feige. Sie sind es, die „Fortschrittsideen“ predigen – aber bloß über Taten singen, statt sie zu vollbringen.180 Hier mischt sich zweierlei: die Gegnerschaft zur Romantik und diejenige zum ‚Jungen Deutschland‘. Eine solche Mischung erweist sich allerdings als proble174 Ebd., S. 379, 1. 175 Ebd., 2. 176 Jean Paul 1996, 1. Programm, § 2, S. 33 f. Jünglinge, so will es Jean Paul, empfänden das Nachahmen der Natur gemeinhin als eine mißliche Aufgabe: „Daher suchen dichtende Jünglinge, [...], z. B. eben Novalis oder auch Kunst-Romanschreiber, sich gern einen Dichter oder Maler oder anderen Künstler zum darzustellenden Helden aus, weil sie in dessen weiten, alle Darstellungen umfassenden Künstlerbusen und Künstlerraum alles, ihr eignes Herz, jede eigne Ansicht und Empfindung kunstgerecht niederlegen können; sie liefern daher lieber einen Dichter als ein Gedicht.“ 177 D. F. Strauß 1847: „[...] und die Zeit wird kommen und ist schon da, wo der Componist, statt seine Empfindungen und Gedanken, Componisten componirt.“ 178 Ebd., S. 381, 8. 179 Ebd. 180 Ebd., S. 383, 13.
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matisch, denn selbst Jungdeutsche wie Ludolf Wienbarg, der ‚Erfinder‘ des ‚Jungen Deutschland‘, hatten ein gebrochenes Verhältnis zur romantischen Reflexionspoetik.181 Wienbargs Polemik gegen Tieck ist derjenigen von Strauß vergleichbar: [...] weil in ihnen [in Tiecks „Dichterleben“ und „Tod des Dichters“] jeder wahre Sohn der Gegenwart ächte Producte der Romantik erkennt, dieser Poesie der Poesie, die zeugungsunfähig, mit sich selber buhlt, die, eigenen prophetischen Geistes bar, der gewesenen Propheten marklose Schatten durch täuschende Künste für einen Augenblick heraufbeschwört[.]182
Wie Wienbarg nennt Strauß Ludwig Tieck als Hauptgegner.183 Möglicherweise trifft der Löwenanteil der Kritik aber Friedrich Schlegel, weil Strauß Tieck trotz aller Gegnerschaft verehrt und persönlich schätzt.184 Außerdem war es Schlegel, der die „Poesie der Poesie“ in die Welt setzte und ästhetisch begründete. Vergleicht man Straußens Polemik mit dem 116. und dem 238. Athenäumsfragment, dann zeigt sich, daß Strauß Schlegel direkt angreift. Denn Schlegel meint, die „romantische Poesie“ – und mit ihr alle Poesie – solle romantisch sein, [...] zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.185
Was Schlegel als Potenzieren der Reflexion und als Sich-Selbst-Vervielfachen preist, kritisiert Strauß als ‚mit sich selbst buhlen‘, aus dem nichts ‚Wahres‘ entstünde. Darüber hinaus fordert Schlegel von der „Poesie der Poesie“, daß sie 181 Vgl. Kapitel IV. 1. a) dieser Untersuchung. 182 D. F. Strauß 1847, S. 382, 10. 183 Vgl. David Friedrich Strauß: August Wilhelm Schlegel, in: D. F. Strauß 1976, II, S. 121–158, hier S. 137 f.: „Dem Fichte’schen ‚Wissen vom Wissen‘ stellte sich die ‚Poesie der Poesie‘ zur Seite, die aber in der That auch nur auf ein Wissen um die echte Poesie, ohne das praktische Vermögen sie hervorzubringen, hinauslief. Dies war nun auch der wesentliche Unterschied zwischen der jetzigen und der frühern Starkgeisterei, daß diese die gewaltige Productivität eines Goethe hinter sich hatte, während die neue Schule sich hauptsächlich auf fremde Schöpfungen zur Erhärtung ihrer Lehrsätze berufen mußte. Tieck war es bekanntlich vorzugsweise, welcher ihren Dichter vorstellen sollte.“ 184 Tieck und Strauß kennen sich seit einer Reise im Jahr 1832, und noch im März 1839 gibt Strauß einem jungen Theologen, Heinrich Kern, ein an Tieck adressiertes Empfehlungsschreiben mit auf den Weg; Strauß an Ludwig Tieck, Stuttgart, 21.3.1839. 185 F. Schlegel: Fragmente [Athenäum] (wie Anm. II., 2), [116] S. 182 f.
2. David Friedrich Strauß Ästhetische Grillen
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[...] die in modernen Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung, die sich im Pindar, den lyrischen Fragmenten der Griechen, und der alten Elegie, unter den Neuern aber in Goethe findet, vereinig[t], und in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstell[t] [...].186
Strauß setzt dagegen, daß eine solche Poesie bloß „gewesenen Propheten marklose Schatten“ beschwört,187 daß sie täusche, weil sie selbst nichts Prophetisches schaffen könne. „Poesie der Poesie“ gilt ihm als ein poetischer Inzest. Falls überhaupt, so zeuge sie Mißratenes, Falsches und Verderbtes. Wenn schon Hegel im Denken und Schreiben Friedrich Schlegels die Subjektivität auf die Spitze getrieben sieht,188 dann reproduziert Strauß nicht einfach die Meinungen des Lehrers, sondern begründet seine Ablehnung der Schlegelschen Romantik eigenständig, nämlich im Blick auf das Dichtergedicht und auf die „Poesie der Poesie“. Sie erscheint ihm als leere, als fehlgeleitete, kurz: als falsche Reflexion.189 Strauß argumentiert dabei umsichtig – nicht als wissenschaftspoetischer Polemiker, sondern als selbstkritischer Biograph: Gegen seine eigenen Argumente findet er nämlich sogleich vier Einwände: erstens könnte es „aufrichtiger“ erscheinen, wenn der Poet sich eingestünde, daß es ihm an Phantasie fehle.190 Strauß selbst hatte sich auch aufgrund dieses Mangels gegen den ‚Dichterberuf‘ entschieden. Das zweite Argument wiegt noch schwerer und bezieht sich sowohl auf das ‚Wesen‘ der Poesie als auch auf die poetische Tradition: Wenn Poesie ihren Stoff aus allen „Reichen der Welt“ schöpfen dürfe, warum nicht auch aus sich selbst – zumal schon die Helden Homers den „hohen Gesang“ auf die Dichter anstimmten und Goethes Tasso „als mächtiges Bollwerk für die angegriffenen Dichtersdichter“ aufzufassen sei.191 Dieser Einwand verbindet sich mit dem dritten Argument, daß der Dichter „Vorbilder in der Wirklichkeit“ brauche.192 Im Blick auf diese Argumente mäßigt Strauß seine Polemik gegen die „Poesie der Poesie“. Nicht jede Reflexion gilt also als schlecht und als inzestuös, sondern nur eine solche, die 186 187 188 189 190 191 192
Ebd, [238] S. 204. Strauß 1847, S. 137 f. Pöggeler 1999, S. 126–145. Siehe Abschnitt I. 3. dieser Untersuchung. D. F. Strauß 1847, S. 380, 4. Ebd., S. 382, 9. Ebd., S. 385, 16.
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
ein eitles und idealisches Bild von sich selbst zeichnet, das sie nie erreichen kann: [...] das seid Ihr [die schlechten Dichtersdichter] selbst, wie ihr gern sein und betrachtet sein möchtet, und es verdrießt uns, daß Ihr nach so gewaltigem Anlauf doch von Euch selbst, Eurem Stand und Treiben, wohl auch von Eurer Industrie und Euren Coterien, nicht loskommen könnet.193
Der späte Goethe steht für die schon vollbrachte Tat, für den vollendeten Dichter des Menschen. Es kommt also auf die Art und Weise der Reflexion und auf den richtigen Zeitpunkt an. Der produktive Dichterfürst – mit diesem Argument versucht Strauß, Schlegels Bezug auf Goethe zu relativieren – darf sich im Ausgang seines Schaffens ruhen, eigenen und fremden Lorbeer genießen und jungen Poeten als Vorbild dienen.194 Allerdings bleiben auch seine Reflexionen „in letzter Beziehung sie selbst.“195 Strauß gelingt es nicht, seine Abneigung gegen eine bestimmte „Poesie der Poesie“ und seine Neigung zu den Reflexionen Goethes systematisch zu begründen. Mit dem vierten Einwand nimmt sich der Verfasser der Polemik aber – durchaus reflexiv – selbst in den Blick. In einem fingierten Polylog versetzt er sich in die Rolle der „Bestrittenen“, also in die Rolle der Vertreter einer „Poesie der Poesie“.196 Sie könnten ihm vorwerfen, selbst einer der größten Verehrer und Verherrlicher der Dichter, ein Anhänger des „Cultus des Genius“ zu sein: Und gerade das Persönliche und Biographische an Euren Lieblingen, dessen künstlerische Wiedererweckung Ihr uns zum Vorwurfe machet, ist es, worein Ihr ungerechten Tadler [gemeint ist D. F. Strauß] selbst Euch mit besonderem Behagen zu vertiefen pflegt. Sagt selbst, die Hand auf’s Herz, ob Ihr etwa die Evangelien mit derselben Erbauung leset, wie Wahrheit und Dichtung? ob euch Pauli und Jacobi Episteln so anziehen, wie der Briefwechsel zwischen Schiller und Göthe? Und arbeiten wir also nicht ganz in Eurem Sinn und in Eurer Richtung, wenn wir Euch diese hochverehrten Persönlichkeiten, die Gegenstände Eures ästhetischen Cultus, [...] nun auch im Mittel unserer Kunst [...] vor Augen führen?197
Strauß bleibt die Antwort auf diesen fingierten Einwand nicht schuldig. Er teilt die Aufgaben von Künstler und Wissenschaftspoet strikt: 193 194 195 196 197
Ebd., S. 383, 13. Ebd., S. 382, 11. Ebd., S. 385, 15. Ebd., S. 384, 14. Ebd., S. 384, 15.
2. David Friedrich Strauß Ästhetische Grillen
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Dem Künstler gebühre es zu schaffen, dem Wissenschaftspoeten „zu genießen, zu bewundern, und demgemäß wohl auch die Schöpfer dankbar und anhänglich zu verehren.“198 Aus dem verhinderten Poeten und Theologen Strauß, der die Ästhetik zuvor nur zur Erholung betrieb,199 ist der ästhetisch interessierte Wissenschaftspoet geworden, den er sich vorstellte. Eine Kunstreligion vermag ihm die christliche – vorläufig – zu ersetzen. Aber nicht nur deshalb fordert er von seinem Kultgegenstand, er möge den Verehrenden nicht bloß mit dem eigenen Rollen-Selbst des Dichters langweilen, sondern sich über Wirkliches und Erlebtes äußern. Vielmehr sucht Strauß – nicht zuletzt zum Zweck der Selbsttherapie – das Wesentliche, Uneitle und Verehrungswürdige im ‚ganzen Menschen‘: Was ich vor Allem von einem Menschen verlangte, wenn er mir das rechte biographische Interesse einflößen sollte, war Fleisch und Blut. Ich wollte warme, lebensvolle Persönlichkeiten haben, die mir die menschliche Natur als solche, unverstümmelt und unverkünstelt zur Anschauung brachten.200
Seine neuhumanistische Poetik der Wissenschaftspoesie verlangt nicht so sehr nach dem Lebensnahen und Wirklichen als nach der exemplarischen Persönlichkeit. Hinter diese tritt das dichterische Werk zurück. Es wird durch das biographische Interesse verdrängt, das in ihm bloß den Ausdruck der besonderen Persönlichkeit sieht. Jede menschenferne Selbstbespiegelung widerspräche dieser Poetik: Sie würde die Reflexion als Maß auf den Menschen anlegen. Inkonsequenterweise fahndet aber ausgerechnet der Biograph Strauß nach solchen programmatischen Selbstausdrücken, wie er sie für Schlegel und Tieck kritisiert. Als ein Beispiel gilt mir Straußens Beitrag über August Wilhelm Schlegel. Hier bezieht sich Strauß immer wieder auf Schlegels lyrische Selbstbespiegelungen als auf Formen des authentischen Selbstausdrucks. Strauß mag poetologische Lyrik als Äußerungsform der „Poesie der Poesie“ zwar ablehnen, aber er nutzt gerade sie, um das „Wesen“ seines Gegenstands aus diesem selbst herauszukristallisieren.201 In diesem Sinne vergleicht Strauß Schlegels Arion mit Schillers Kranichen des Ibycus: 198 199 200 201
D. F. Strauß 1847, S. 384, 15. Vgl. D. F. Strauß: Literarische Denkwürdigkeiten (wie Anm. III., 45), S. 18. Ebd., S. 30. Dieses Interesse und dieses Vorgehen erweist sich – über Strauß hinaus – als typisch nicht nur für den literaturkritischen Essay, sondern gerade auch für systematische Ästhetiken und Poetiken. Sie entnehmen der poetologischen Lyrik jene Stichworte,
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
War Ibycus der Götterfreund – des Gesanges Gabe Der Lieder süßen Mund Apoll Schenkte, so war Arion – der Töne Meister. Die Cither lebt’ in seiner Hand, Damit ergeht’ er alle Geister, und gern empfing ihn jedes Land. Wandert jener – am leichten Stabe Nach Rhegium, des Gottes voll: so schifft dieser – goldbeladen Jetzt von Tarents Gestaden, Zum schönen Hellas hingewandert. Beidemal ein Sänger, der auf der Reise mörderisch angefallen, wunderbar, der eine gerettet, der andere gerächt wird. Daß der Arion dabei an Wirkung weit hinter den Kranichen des Ibycus zurückbleibt, liegt theils an der Fabel selbst, theils an der Schlegel’schen Behandlung, die auch hier mehr Pracht und Zierlichkeit als Kraft und Größe hat.202
Die eigenwillig eingesetzte Parallelstellenmethode führt Strauß zu einem klaren Urteil: Schiller ist der bessere Dichter. Schlegels Stärken lägen im Epigramm und im Scherzgedicht; hier kämen die Tugenden eines angenehmen und sympathischen Menschen zum Tragen, der mit den bloß formverliebten Spielen der Romantik im Grunde nichts anfangen könne.203 Aber in der Lyrik reichten weder Schiller noch Schlegel an Goethe heran.204 Goethe steht für ein freies Dichterleben, das sich – allerdings in ganz unterschiedlicher Weise – in seinen Gedichten ausdrückt: einmal als Erlebnislyrik, die das Subjektive zum Objektiven erhebt,205 ein ander Mal als balladesker Gesang (Der Sänger), der sich
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mit denen sie nicht nur die Poetiken der Dichter benennen, sondern diese auch als authentisch beglaubigen. Siehe die Einleitung zu dieser Untersuchung. Ebd., S. 154. Ebd., S. 156: „Ein schreckliches Dokument“ aber sei das Sonett, in welchem Schlegel die Summe seines Werks zog und sich selbst als „Besieger, Muster, Meister im Sonette“ bezeichnete; es erwecke den „Eindruck des Verrückten“. Diesen Ausfällen stünden die sehr klaren und gegenstandsnahen Bildgedichte als positive Beispiele der Selbstreflexion gegenüber. In seiner Goethe-Lektüre bezieht sich Strauß eng auf Vischer. Vgl. Strauß an Vischer, Charfreitag morgen, [nämlich 1857, also 10. April,] in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, II, S. 114 f., hier S. 115. David Friedrich Strauß: Goethe als Lyriker, in: D. F. Strauß 1876–1878, VI, 92.,
2. David Friedrich Strauß Ästhetische Grillen
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ganz in den Dienst seines Fürsten stellt.206 Den Dichter August Wilhelm Schlegel aber rettet nur der glaubwürdige Auftritt der Person: seine ‚echte Persönlichkeit‘. Sie veranlaßt ihn, der poetischen Selbstbespiegelung zu widerstehen, wie sie der jüngere Bruder preist. Mit seinen Urteilen über Goethe, Schiller und die Schlegels nimmt Strauß auf, was er immer wieder mit Vischer diskutieren kann, ja er wendet Vischers ästhetisch-systematische Sichtweisen populär, schreibt sie für ein Publikum um, das sich mehr für den Menschen als für den poetischen Text interessierte. Straußens hartem Urteil über die Selbstbespiegelung aber entspricht keine systematische Überlegung bei Vischer. Strauß kann seine Überlegungen diesmal vielmehr aus einer anderen Quelle beziehen. Ein geheimnisvoller Dr. Mises nämlich publiziert im 1838er-Jahrgang des jungdeutschen Freihafens einen Aufsatz, und zwar über Deutsche Lyrik und Wilhelm Müller. Strauß selbst hatte für denselben Jahrgang der Zeitschrift einen Beitrag verfaßt; der polemische Einwurf Dr. Mises wird ihm schon deshalb kaum entgangen sein: Eines der schlechtesten Objecte der Poesie ist jedenfalls ihr Subject, der Dichter selbst in seinem Thun und Treiben, auch sogar wenn er in der Natur S. 206–208, hier S. 206 f.: „[...] als Lyriker ist er vielleicht der größte Dichter aller Zeiten. Es kommt wohl daher, daß, wie er selbst bekennt, seine Dichtungen vor allen natürlichen die lyrischen, lauter Gelegenheitsgedichte sind, nur Selbsterlebtes schildern, das er aber zugleich so in die Höhe des allgemein Menschlichen, des Idealen und typischen zu entrücken weiß, daß demselben alle Erdenschwere abgethan ist, und die Gedichte als reine Genien uns umschweben.“ 206 Ebd., S. 207: „Auf der anderen Seite scheint z. B. unter den Balladen Der Sänger ganz aus idealen Vorstellungen der alten Ritterzeiten gebildet; da er doch in der That vielmehr durchaus den persönlichen Verhältnissen des Dichters entnommen ist. Der Sänger, der die vom König gebotene goldne Kette ablehnt, ist Goethe selbst, den sein Herzog vertrauend mit den Kanzel-Lasten und Ehren beladen hat, die er zwar dem Fürsten und dem Lande zu lieb auf sich nimmt, und auch für seine Dichtung fruchtbar zu machen weiß, während er sich doch immer wieder in das seiner innersten Natur allein gemäße freie Dichterleben zurücksehnt.“ – Die besondere Bedeutung, die Strauß dem Goethe-Gedicht „Der Sänger“ zubilligt, erinnert an Carriere. Carriere, der Strauß für „Das Leben Jesu“ sehr bewunderte und ihm eigens dafür einen Gedichtband widmen wollte, entwickelt seinen Lyrik-Begriff nämlich aus dem ‚Sänger‘ (siehe Kapitel I. 2. dieser Untersuchung). Dem jungen Carriere jedenfalls riet Strauß von dem Vorhaben einer Widmung ab. Mancher werde in den unverdächtigen Texten „Unrat“ erblicken, fände er seinen Namen – und, was schwerer wiegt: „[...] ist es überhaupt passend, Poesien, welche zunächst ihren Zweck nur in sich selbst haben sollen, von vorn herein mit einer wissenschaftlichen Tendenz in Verbindung zu bringen?“ David Friedrich Strauß an Moriz Carriere, Stuttgart, den 28. Juli 1837, in: Sandberger 1972, S. 229–230, hier S. 230.
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
herumgeht oder herumsitzt und die schönsten Sträuße aus Blumen, Sonnen und Wonnen flicht, Die Dichtkunst will Gestalten von anschaulicher Lebendigkeit und Eigenthümlichkeit, des Dichters Leben ist aber nicht an ihm, sondern in ihm spürbar, er erscheint äußerlich nur als ein fauler Müßiggänger mit Frack wie andere Stadtleute. Ein Bänkelsänger ist daher viel poetischer, als ein Dichter, weil in ihm die Lebendigkeit mehr äußerlich zu Tage liegt. Aber das Innere des Dichters, diese lebendige Natur in der Natur, worin es quillt und wogt und strebt und blitzt, vermag sich gar wohl poetisch herauszustellen; ich kanns nicht besser beweisen als durch folgenden Anfang eines Rückertschen Gedichts: ‚Es ist kein Stand auf Erden, Er reizt des Dichters Neid: [...].‘207
Der ominöse Doktor wendet sich gegen das Dichtergedicht und wettert zugleich gegen die melancholische Lyrik der Schwaben, namentlich gegen diejenige Uhlands und Kerners. Sie erklärt sich für ihn aus psychologisch bedingten und national verfestigten Schwierigkeiten der Rezeption: „Was nicht melancholisch und tiefsinnig ist, ist ihnen [den deutschen Lesern] nicht recht, wenigstens muß etwas Melancholie und Tiefsinn dabei sein.“208 Dieser Angriff mußte abgewehrt werden: Strauß deutet Dr. Mises Kritik an der ‚ersten schwäbischen Dichterschule‘ in Ästhetische Grillen zu einem Angriff auf die Selbstbespiegelung einer „Poesie der Poesie“ schlegelscher Provenienz um. Erwartungsgemäß begrüßt Mörike das Unternehmen des unpoetischen Wissenschaftspoeten Strauß. Noch im Jahr 1855 nimmt er dessen Urteil auf. An Paul Heyse schreibt Mörike: Es gibt bei den Neuern, vornehmlich bei den Lyrikern, eine falsche Manier von sich selber zu reden, oder auch Jemandem Dinge in den Mund zu legen, die nur ein Anderer und oft selbst dieser nicht gerade so, von ihm aussagen dürfte, indem ein Schein des selbstgefälligen, ein unästhetischer, entsteht.209
Die Kritik an der Selbstbespiegelung im Dichtergedicht eint ganz unterschiedliche poetologische Fraktionen. Bei dem geheimnisvollen Dr. Mises handelt es sich nämlich um keinen geringeren als um Gustav Theodor Fechner, seit 1834 Ordinarius für Physik an der Universität Leipzig und seit den 1870er Jahren Vertreter einer psychologischen 207 [Dr. Mises] 1838, S. 48. – Aus den gängigen Rückert-Ausgaben ließ sich die Herkunft des Zitats nicht ermitteln. 208 [Dr. Mises] 1838, S. 48. 209 Eduard Mörike an Paul Heyse, Stuttgart, 208.1855, in: Mörike u. Heyse 1997, S. 23–25, hier S. 25. Mörike wendet diese Kritik – wie Strauß – wiederum reflexiv auf sich selbst an, namentlich auf seinen „Maler Nolten“.
2. David Friedrich Strauß Ästhetische Grillen
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oder „experimentalen Ästhetik“.210 Vischer, der historische bzw. geschichtsphilosophische Ästhetiker, konnte mit der Ästhetik Fechners vorerst wenig anfangen, obwohl er die Einfühlungsästhetik in gewisser Weise mitbegründete.211 Im Plädoyer für die „Anschaulichkeit“ und Wirklichkeit der Empfindungen hätten sich beide, Vischer und Fechner, nahekommen kommen; Vischers ‚Geistesverwandter‘ Strauß jedenfalls stimmt in Fechners Klage ein, und Mörike übernimmt die modifizierte Kritik am Dichtergedicht und an der Selbstbespiegelung. Sie fügt sich bruchlos in sein subjektives, lebensnahes, meta-reflexives – kurz: in sein neuhumanistisch inspiriertes Verständnis von Poesie. Gleichwohl erhebt Strauß seine, Fechners und Mörikes Sichtweise nicht zum Dogma. Am Lebensende dichtet er selbst, und zwar durchaus reflexiv; er beschließt sein Leben beinahe mit einem poetologischen Gedicht. Es heißt Die Muse im Krankenzimmer (12. November 1873), ist in schlichten Paarreimen gestaltet und schildert so humorvoll wie melancholisch, was den Schriftsteller am Ende des Lebens bewegt. Um Rechenschaft über die eigene Tätigkeit abzulegen, um sich für das gelegentliche „Versedrehen“ zu entschuldigen und um für die letzten Stunden Beistand, Aufheiterung und „geisteshelle Stunden“ zu erbitten, ruft sein Sprecher die Muse an.212 Bestimmten Vorstellung von Poesie bleibt Strauß aber dennoch treu: Die Muse im Krankenzimmer entsteht aus einer besonderen biographischen Situation. Wie Mörike verbindet Strauß hier das stilisierte individuelle Erleben mit den Topoi hoher Dichtung. Dabei ordnet er die Musenkünste den eigenen Bedürfnissen unter: Der nahende Tod rechtfertigt ihn darin. Im Angesicht der existentiellen Bedrohung verabschiedet er allzu strenge Vorstellungen von Poesie und erlaubt sich das Verseschmieden ein letztes Mal: poetologische Lyrik als geistige Henkersmahlzeit. Der Wissenschaftspoet Strauß gibt der poetologischen Diskussion Impulse, polemisiert und verbindet in der Sache, im Blick auf das Dichtergedicht und die Selbstbespiegelung, was einander auf dem Feld der Ästhetik fremd blieb. Seine poetologischen Schriften entsprechen der 210 Über Fechner Borgard 1999, S. 165–230; die Beiträge in Fix 2003. 211 Allesch 1987, S. 252 f.; Fick 1993, S. 37–44; Braungart 1995, S. 194 f. 212 David Friedrich Strauß: Die Muse im Krankenzimmer [1873], in: D. F. Strauß 1876–1878, XII, S. 212 f., hier S. 212: Er schreibt, daß er sich „um Prosa bemüht“ habe, die anderen „Schwestern“ der Musen aber nicht traktieren wollte, weil ihre Künste nicht in seinen „Gaben“ angelegt seien. Aber „– das Versedrehen / war mir fast ein Müßiggehen. / Solche, ruft ihr, wie die deinen! / Und ihr mögt nicht irrig meinen.“
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
eigenen Poetik für die Wissenschaftspoesie: einer Schwundstufe von Poesie, die auf seiten des Verfassers bloß die Gabe voraussetzt, seinen Gegenstand intuitiv zu erfassen, sprachliche Bilder zu finden, schön und unterhaltsam vor allem über Wissenschaftler und Dichter, weniger aber über Wissenschaft und Dichtung zu schreiben. Dieser erklärtermaßen dilettantischen Wissenschaftspoesie in ungebundener Rede geht es um die verehrungswürde Person, um den exemplarisch ‚ganzen Menschen‘, um das Vorbild, um den liberalen und sympathischen Denker und Dichter, um ein Schicksal, das sich im Rahmen der historischen Biographie darstellen läßt. Straußens Interesse beschränkt sich dabei weitgehend auf die ideale Lebensgeschichte. Er verbindet sie punktuell mit den Schriften der jeweiligen Person, um zu zeigen, wie Individualethik und Werk miteinander einhergehen, wie eines das andere bedingt und zum bewunderungswürdigen Beispiel für die Praktiken und Anschauungen des Neuhumanismus wird. Als Ästhetiker setzt Vischer umgekehrt an. Ihn interessiert der Mensch nur insofern, als er sich als möglichst sittliches Wesen in literarischen Texten spiegeln soll, und diese untersucht er – ästhetisch-systematisierend und mit Hilfe eines neuhumanistisch inspirierten Wertekatalogs. In dieser Weise gestaltet er auch das Thema der Reflexion. Jene „Poesie der Poesie“, die Strauß kritisiert, gilt Vischer deshalb als bloß rhetorisch und nicht einmal als besonders reflexiv.213 Was Reflexion zu heißen hatte, das bestimmt sich für ihn demgegenüber aus der Exegese und Neugestaltung des Hegel-Hothoschen Systems.214
3. Systembildung im Ausgang aus der spekulativen Philosophie Kein Ästhetiker vor Hegel geht so entschlossen wie dieser mit dem Begriff der „Reflexionsbildung“ um. Kein Ästhetiker vor Hegel legt seinen Begriff von Lyrik so deutlich auf die versifizierte Darstellung von 213 Vischer an Strauß, Tübingen, 28. Januar 1842, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 109 f., hier S. 109: „Auch hat jede große poetische Zeit den Geist ihres Jahrhunderts zum Inhalte ihres Gedichts gemacht. Der Unterschied ist nur, daß wir Jetzigen, es gern auf bewußte, daher nicht poetische, sondern rhetorische Art tun.“ 214 Über die Ähnlichkeiten von Vischers und Hegels Ästhetik Titzmann 1978, S. 52 f.; Allesch 1987, S. 29 f.; über die Auswirkungen der philosophischen Systematik, genauer: des geschichtsphilosophischen Dreischritts auf die Gattungstheorie Willems 1981, S. 189; Trappen 2001, S. 258 f.
3. Systembildung im Ausgang aus der spekulativen Philosophie
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Subjektivität fest (Abschnitt a).215 Vischer kämpft mit diesem doppelten Erbe. Einerseits steht er noch in der hegelschen Tradition, löst sich aber auf allen denkbaren Gebieten der Ästhetik davon. Nicht umsonst gilt er als Vorläufer des neuen ästhetischen ‚Paradigmas‘, nämlich der Einfühlungsästhetik, wie Fechner sie vertreten wird.216 Doch nicht nur dieses theoretische Bemühen um neue ästhetische Orientierungen bedingt, daß Vischer den Begriff der Lyrik und den Begriff der Reflexion anders versteht als der spekulative Meisterdenker: Nicht minder wichtig ist der Umstand, daß Vischer sich immer wieder mit Lyrik befaßt, daß er durch die Auseinandersetzung vor allem mit Mörike und durch die Lektüre Goethes und Uhlands auf eine bestimmte Vorstellung von Lyrik eingeschworen ist: auf die Liedlyrik, die jedoch – anders als es die Vischer-Forschung bislang unternimmt217 – nicht unumwunden als klassizistisches Ideal identifiziert werden sollte (Abschnitt b).
a) Georg Wilhelm Friedrich Hegel Vorlesungen über die Ästhetik (in der Edition Heinrich Gustav Hothos 1835/1842): Lyrik – reflexive Subjektivität Hegel legt die lyrische Dichtung auf Subjektivität fest, und Subjektivität läßt sich mit Innerlichkeit übersetzen: Die Innerlichkeit als solche [...] ist teils die ganze formelle Einheit des Subjekts mit sich, teils zersplittert und zerstreut sie sich zur buntesten Besonderung und verschiedenartigsten Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, Gefühle, Eindrücke, Anschauungen usf., deren Verknüpfungen nur darin besteht, daß ein und dasselbe Ich sie als bloßes Gefäß gleichsam in sich trägt.218
Hegels Begriff der Innerlichkeit umfaßt einerseits eine formale Einheit, die das Subjekt gewährleistet. Andererseits verweist Hegel auf die Vielfalt („Besonderungen“) in dieser Einheit, anders gesagt: auf den unein215 Dieser Umstand ist bestens bekannt, aber welche Subjektivität Hegel damit meinte – das geriet in Vergessenheit geraten und wurde von der Hegel-Adaptation verdeckt. Es lohnt sich deshalb, Hegel noch einmal gründlich zu lesen, um von dort aus auf seine Rezeption zu blicken; so schon Todorow (1981, S. 241), deren Überlegung ich hier aufgreife und ausführe. 216 Allesch 1987, S. 326 f., der in diesem Zusammenhang vor allem die einfühlungspsychologischen Leistungen von Vischers Sohn Robert hervorhebt; dazu Braungart 1995, S. 195–198; Schneider 2001. 217 Ich wende mich hierin gegen Todorow 1981, S. 243; Willems 1981, S. 189 u. passim. 218 Hegel 1986, XV, 3. Kap. II., 2., b., S. 443.
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
heitlichen Inhalt dieser Innerlichkeit, das sind „Vorstellungen, Gefühle, Eindrücke, Anschauungen“. Die Innerlichkeit des Subjekts enthält also all das, was sich ein Subjekt vorstellen, was es fühlen, wahrnehmen, denken und glauben kann. Diesen Begriff von Innerlichkeit überträgt Hegel in zwei Hinsichten auf Lyrik: Innerlichkeit gilt ihm nicht nur als einheitsstiftendes „Element“ der Lyrik,219 sondern auch als ihr „Quell“.220 „Quell“ der Lyrik ist sie, weil Lyrik aus dem „Bedürfnis“ entstehe, „sich auszusprechen und das Gemüt in der Äußerung seiner selbst zu vernehmen.“221 Der lyrische Dichter ziele deshalb darauf, „den Geist nicht von der Empfindung, sondern in derselben zu befreien.“222 Nimmt man diese Aussagen zusammen, so gibt der lyrische Dichter nicht blinde Leidenschaften und ungefilterte Affekte wi(e)der, sondern thematisiert seine „innerliche Anschauung“,223 indem er sie künstlerisch darstellt. Dabei entledigt er sich der jeweils gefühlten oder gedachten Innerlichkeit nicht, sondern gestaltet sie, um sie zu verstehen und sie seinem Publikum zugänglich zu machen. Deshalb erweist sich „die Innerlichkeit nämlich der Stimmung oder Reflexion, die sich in sich selber ergeht, sich in der Außenwelt wiederspiegelt, sich schildert, beschreibt“ als wichtigstes „Element“ der lyrischen Dichtung.224 Hier aber gebraucht Hegel den Begriff der Innerlichkeit anders, nämlich im Sinne von reflexiver Subjektivität (Innerlichkeit 2), im Sinne einer Innerlichkeit, die schon ‚gespiegelt‘ und bedacht ist, dabei aber möglicherweise neu angelegt wurde. Diese reflexive Subjektivität (Innerlichkeit 2) läßt sich genauer beschreiben, nimmt man die Produktionsseite, also den Dichter in den Blick: Denn der eigentlich lyrischer Dichter lebt in sich, faßt die Verhältnisse nach seiner poetischen Individualität auf und gibt nun, wie mannigfaltig er auch sein Inneres mit der vorhandenen Welt und ihren Zuständen, Verwicklungen und Schicksalen verschmilzt, dennoch in der Darstellung dieses Stoffes nur die eigene selbständige Lebendigkeit seiner Empfindungen und Betrachtungen kund.225
219 220 221 222 223 224 225
Ebd., S. 415. Ebd. 1., c., 429. Ebd., 1., S. 418 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 417 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 415 [Hervorhebung im Original]. Ebd., 1., b., S. 421. Ebd., 1., b., S. 425.
3. Systembildung im Ausgang aus der spekulativen Philosophie
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Als „Element“ der Lyrik ist reflexive Subjektivität Ergebnis eines Verschmelzungsprozesses. Der Dichter verknüpft Äußeres und Inneres – allerdings dergestalt, daß er nur äußert, was er bereits reflexiv in die eigene Innerlichkeit eingefügt hat. Hier hilft es, das Beispiel zu betrachten, mit dem Hegel diese Überlegungen veranschaulicht. Er bezieht sich nämlich auf Pindars Siegesoden, also auf Gedichte, die einen direkten äußeren Anlaß haben. Pindar, so Hegel, „bemächtigt[]“ sich seines Gegenstandes in einer Weise, daß er im Ergebnis nicht einfach den Sieger besingt, sondern Gegenstand und Thema neu und eigenständig aus sich selbst heraus hervorbringt.226 Im Prinzip bedürfe der Dichter deshalb „keiner äußeren Anregung“, sondern schöpfe „die Anregung wie den Inhalt in sich selber [...].“227 Mehr noch: „Als der Mittelpunkt und eigentliche Inhalt der lyrischen Poesie hat sich daher das poetische konkrete Subjekt, der Dichter, hinzustellen [...].“228 Dieser Satz steigert die Bedeutung der Dichterpersönlichkeit – möglicherweise, um daraus Anforderungen an den Dichter selbst abzuleiten. Denn dieser müsse sich an seiner „innere[n] Größe“ messen lassen229 – und nur wenige Dichter hätten dies erfaßt und umgesetzt. Ihre Aufgabe wäre es vor allem, auf die Wirkung der eigenen Werke zu achten, um „die ähnliche Richtung der Reflexion im Zuhörer zu erregen und wach zu erhalten [...].“230 Klopstock etwa gehört für Hegel zu diesen lobenswerten Ausnahmen; bezeichnenderweise vereinnahmten Buchhändler und Verleger aber sogleich dessen Dichter-Ich und mißbrauchten es zu Werbezwecken.231 Hegel also gilt der Dichter selbst als „Mittelpunkt und eigentliche[r] Inhalt“ der Dichtung; ein Gedicht aber entstehe als „Produkt subjektiver Phantasie“.232 Daß sich der Poet in seiner Lyrik selbst ausdrücke, sollte demnach bildlich – und nicht ontologisch – verstanden werden: 226 227 228 229 230 231
Ebd. Ebd., S. 427 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., 2., a., S. 439 [Hervorhebung im Original]. Ebd., 2., b., S. 440. Ebd., 2., a., S. 439. Ebd., S. 441 [Hervorhebungen im Original]: „Dennoch geschah es, daß nun gerade ihn zuerst der Buchhändler als seinen Poeten ansah. Klopstocks Verleger in Halle bezahlte ihm für den Bogen der Messiade einen oder zwei Taler, glaub ich; darüber hinaus aber ließ er ihm eine Weste und Hose machen und führte ihn so ausstaffiert in Gesellschaften umher und ließ ihn in der Weste und Hose sehen, um bemerkbar zu machen, daß er sie ihm angeschafft habe.“ 232 Ebd., 2., S. 438.
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
Allgemeines und Besonderes sind in der Lyrik zwar subjektiv verknüpft, aber das Subjekt kann nicht selbst die Ebene wechseln; es kann nicht selbst in all seinen körperlichen und unkörperlichen Hinsichten Bestandteil der Gedichts werden. Dies lehren auch Hegels Ausführungen über die lyrischen Genres: Die epischen Genres (z.B. Heldenlieder, Romanzen, Balladen) nehmen – im Gegensatz zu den lyrischen (z. B. Gelegenheitsgedicht) – das Objektive und nicht in erster Linie das Subjektive in den Blick; im Volkslied tritt der Dichter sogar als „bloßes Organ“ zugunsten „reflexionslose[r] Frische“ zurück.233 Der Dichter und seine Innerlichkeit kommen nur dann ins Spiel, wenn nach ‚ein wenig Reflexion‘ gefragt ist, wenn es um das innerliche Spiegeln des Äußerlichen und der eigenen Innerlichkeit geht. Als paradigmatisch dafür erweisen sich – nach Hegel – nicht nur die Oden Pindars, sondern auch die Gedichte Schillers: Was sie [Schillers Gedichte] auszeichnet, ist besonders der großartige Grundgedanke ihres Inhalts, von welchem der Dichter jedoch weder dithyrambisch fortgerissen erscheint noch im Drange der Begeisterung mit der Größe seines Gegenstandes kämpft, sondern desselben vollkommen Meister bleibt und ihn mit eigener poetischer Reflexion, in ebenso schwungreicher Empfindung als umfassender Weite der Betrachtung mit hinreißender Gewalt in den prächtigsten, volltönendsten Worten und Bildern, doch meist ganz einfachen, aber schlagenden Rhythmen und Reimen nach allen Seiten sich vollständig expliziert.234
Schiller eigne eine besondere „poetische[] Reflexion“, eine besondere Art und Weise, Äußeres und Inneres innerlich zu spiegeln und zu verbinden. Aus diesem Grund schätzt Hegel den Dichter und vergleicht Schillers Lyrik emphatisch mit dem, was er in Das Lied von der Glocke über die Glocke sagt: Sie verläßt das „niedere Erdenleben“, nähert sich Schöpfer und „Sternenwelt“, um sich „nur den ewigen und ernsten Dingen“ zu weihen.235 Hegels Ästhetik eröffnet demnach einen vielschichtigen Befund über das Thema der Reflexion: Reflexion im Sinne von Selbstbespiegelung (Reflexion im zweiten Sinne) erweist sich als notwendig für das Gedicht schlechthin; sie ähnelt Hegels Begriff der Subjektivität. Reflexion im Sinne von Urteilen aber kommt in der Lyrik – nach Hegel – nur insofern ein Ort zu, als sie für die Selbstbespiegelung unausweichlich ist. 233 Ebd., 1., c., S. 433. 234 Ebd., 2., c., S. 461 u. passim. 235 Zit. n. ebd.
3. Systembildung im Ausgang aus der spekulativen Philosophie
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Blickt man also auf Hegels systematisierende Beschreibung von Lyrik, dann führt der Befund zu einer Revision seines harten Urteils über die „Reflexionsbildung“ der Epoche: Reflexion ist für Kunst im Prinzip immer unausweichlich; es kommt deshalb darauf an, ihre „Grade“ zu ermitteln. Uhland und Vischer denken Hegel hier also konstruktiv und im Sinne des Lyrik-Kapitels aus Hegels Ästhetik weiter. Auch für seinen Lyrik-Begriff knüpft Vischer im Prinzip an Hegel an. Aber er deutet Hegels Vorgaben entschlossen um, indem er der Lyrik eine Schwesternkunst an die Seite stellt, nämlich die Musik. Aus diesem Vergleich ergibt sich ein veränderter Lyrik-Begriff, der auf das Gefühl und auf die unmittelbare Vermittlung desselben im Gesang abstellt:236 Musik erscheint Vischer, der sich einstmals so sehr mit der Notenlehre plagte und in der Musik bloß die reine Abstraktion des künstlerischen Gedankens erkennen wollte,237 in seiner Aesthetik plötzlich als „die schlechthin subjektive Kunst des Gefühls“.238 Wie die Musik stelle sich die Lyrik auf den „Standpunkt der empfindenden“ Phantasie,239 unterscheide sich dabei aber schon von der Musik: [...] das Gefühl kann in der Dichtkunst nur durch Anküpfung an das Bewußtsein als Organ und Inhalt einer Kunstform auftreten; das Subjekt spricht zwar nur sich, seine Stimmung aus, vermag dies aber bloß dadurch, daß es teils Elemente der epischen Anschauung, direkte und indirekte Bilder, teils eigentliche Gedanken (gnomische Elemente) und Willensbewegungen in die Stimmungsatmosphäre überträgt.240
Anders als die Musik bedarf die Lyrik also der sprachlichen, bewußten und gedanklichen Vermittlung, um „Stimmung“ zu übertragen. Lyrik wendet sich der Seite der Objektivität zu, um diese – soweit der Hegelianismus in Vischers Definition – mit dem Subjektiven zu verbinden: „Die bestimmte Art des Zusammenfühlens der Individualität und der Welt verleiht dem Gedicht seinen Duft.“241 Daß Vischer die Lyrik von seiten der Musik, der ‚Gefühlskunst‘ her denkt, liegt erstens an den Beispielen, auf die er dabei vor allem blickt. Gemeint sind Goethe, Uhland 236 Der Hegel aus Hothos Vorlesungsnachschrift von 1823 legt seinen Lyrik-Begriff übrigens in ganz vergleichbarer Weise an; er zielt ebenfalls auf das Lied: Hegel 1998, III, III., III, S. 283 f. u. passim. 237 Siehe Anm. III., 164. 238 Vischer 1922/1923, VI, § 885, S. 201. Siehe auch ebd., § 888, S. 217: Der Ton ist ihm die „Sprache des Gefühls.“ 239 Ebd., § 884, S. 197 [Hervorhebung im Original]. 240 Ebd., § 885, S. 200. 241 Ebd., § 886, S. 208.
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
und Mörike. Sie stehen der hegelschen Vorliebe für Schiller entgegen. Zweitens gehört die Lyrik seiner Ansicht nach ‚in den Gesang‘, wie er Strauß erklärt: Gesteh, Lyrik, gelesene Lyrik, ist langweilig. Überhaupt verhoffe ich, nächsten den Satz durchzuführen: alle Poesie, bloß gelesen, ist langweilig. Epos gehört in den Mund des Rhapsoden, auf die Straße, an den molo, in mitten frischer Bursche, Lyrik in das Element des Gesangs, Drama auf die Bühne. Die Poesie ist die geistigste Kunst und bedarf ebendaher dieses Naturbands doppelt. Lügen wir uns nicht länger an. Entweder wird die Poesie wieder so leben, oder sie ist für immer halbtot, und wer ehrlich ist, gesteht sich, daß er bei ihr gähnt.242
Wie läßt sich dieses weniger klassizistische als vielmehr emphatische, volksnahe, vitalistische und musikalische Verständnis von Lyrik, das Uhland und Mörike nurmehr in einer Schwundform wachhalten, noch mit dem Begriff der Reflexion verbinden, wie er im Gang der hegelschen Argumentation und der Hegel-Rezeption aufkommt?
b) Friedrich Theodor Vischer Aesthetik (1846–1857): die ‚rezeptionsästhetische‘ Lösung des Reflexionsproblems Im Register zu Vischers Aesthetik ist nur ein Begriff von Reflexion verzeichnet, nämlich die „Reflexion im Kunstgenuß“.243 Jene Reflexionsbegriffe, die zuvor angesprochen wurden, tauchen aber ebenfalls auf. Meine These lautet, daß sie sich ausnahmslos auf Hegels Vorlesungen über die Ästhetik zurückführen lassen, von Vischer aber systematisch, unter Verzicht auf den geschichtsphilosophischen Rahmen der Vorlesungen, mit Blick auf die Kunst und auf ihre Wahrnehmung selbst weiterentwickelt werden. Zu diesem Zweck unterscheidet Vischer zwischen einer Reflexion auf seiten der Kunstproduktion und einer Reflexion auf seiten der Kunstrezeption. Auf der Ebene der Kunstproduktion geht es Vischer um das, was Hegel „Reflexionsbildung unseres heutigen Lebens“ nennt und bereits selbst auf die „Kunstproduktion“ bezieht.244 Um diese „Reflexionsbildung“ zu beschreiben, läßt sich Vischer – mehr noch als Hegel – auf den 242 Vischer an Strauß, Tübingen, 30. Oktober 1847, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 201 f., hier S. 202. 243 Vischer 1922/1923, VI, S. 438. 244 Hegel 1986, XIII, S. 24. Vgl. die Bemerkungen zu Beginn dieses Kapitels.
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Kontext der Kunstproduktion ein. Er führt idealtypische Schaffensprozesse an. Unter Reflexion versteht er dabei zweierlei: „die philosophisch kritische Bildung der Gegenwart“, also die Inhalte der Reflexion, und die „Praxis der Bildung“, die Art und Weise, Reflexion auszuüben.245 Beidem könne sich der Künstler nicht entziehen, so Vischer: „Die ursprüngliche Stoffwelt ist durch unzählige Kenntnisse, Beobachtungen, Studien zu einer ungeheuern Masse angewachsen [...].“246 Diese „Masse“ sei den Griechen, dem Mittelalter und noch Shakespeare unbekannt gewesen; aus dieser Unkenntnis, aus der ‚Gnade der frühen Geburt‘ erkläre sich ihr naives und natürliches Schreiben. Erst „der jetzige Künstler“, der Maler wie der Dichter, müsse der „Verführung“ widerstehen, zu viel von diesem Reflexionsgut aufzunehmen, das der „eigentlichen Aufgabe schadet.“247 Gelingt ihm dies nicht, so läßt sich jeder Fehlschlag verzeihen, denn der Künstler der Gegenwart drohe zu Recht an dem Überangebot von Reflexionen „irre“ zu werden.248 Dabei geht es Vischer jedoch nicht darum, Reflexion restlos zu tilgen: „Grade[] der Reflexion“ bleiben immer erhalten, so sehr sich der Künstler auch müht, sie ganz zu beseitigen.249 Vischer treibt diese Konstellation noch weiter. Er überführt sie in ein Dilemma, das den Künstler – seiner Ansicht nach – unausweichlich plagen muß. Denn ignoriert er die Fülle des Stoffs und folgt nur seinem „Genius“, „so fährt die Kritik über ihn her, steckt ihn nachträglich an, nimmt ihm die Freude.“250 Das Zeitalter der „Reflexionsbildung“ läßt dem Künstler die Wahl zwischen Skylla und Charybdis: zwischen dem Verlust der Phantasie und der Hingabe an die Reflexion oder dem Verlust der Freude an der schöpferischen Tätigkeit. In der Tat scheint zu stimmen, was die frühe Vischer-Forschung mit gehörigem geisteswissenschaftlichem Pathos formulierte: Auch Vischer gelinge es nicht, Kunst und Leben in der Moderne wieder ästhetisch miteinander zu versöhnen.251 Das moderne Dilemma der Reflexion löst Vischer aber doch, indem er es auf die Rezeptionsseite verlagert. Er bedient sich damit des Struk245 246 247 248
Vischer 1922/1923, II, § 482, S. 621. Ebd. Ebd. Ebd., S. 622: „Es ist zu viel, überall zu viel, die Phantasie muß das Gleichgewicht verlieren, muß im dichten Walde den Weg verfehlen.“ 249 Vischer 1975, S. 9. 250 Vischer 1922/1923, II, S. 622. 251 Oelmüller 1959, S. 184.
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turmodells, wie es die Popularästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts – Sulzer beispielsweise – kennt. Aber Vischer geht – vor dem Hintergrund des neuhumanistischen Menschenbildes – darüber hinaus. Er spricht den Leser, den Hörer, den Betrachter als ‚ganzen Menschen‘ an. Der Rezipient nämlich soll sich um „Reflexion im Kunstgenuß“ bemühen – eine anthropologische Forderung neuhumanistischer Herkunft. Vischer erläutert sie, indem er einen Scheinwiderspruch entlarvt. Die zwei Sätze, daß das Schöne „ganz unmittelbar“ genossen werden solle und Bildung voraussetze, widersprechen sich danach nicht.252 Schließlich müsse sich der Mensch erst zu dem entwickeln, der er sei und gelange nur durch eine solche (Selbst-)Bildung zu „seiner wahren Natur“, „zur wahren Einfachheit“:253 Humanität ist erst die späte Frucht der Bildung, die zur Natur zurückkehren darf, weil sie sie nicht mehr zu fürchten hat, und hier erst blüht der Sinn des Schönen auf. Ist ihm nun der Boden geebnet, so braucht es, obwohl er, verglichen mit den gegensätzlichen Tätigkeiten, ganz unmittelbar ist, eine Vermittlung innerhalb seiner selbst, eine Bildung des Formsinns. In diesem liegt nun allerdings auch ein Denken. Ohne tiefes Sinnen, ohne Reflexion über die Verhältnisse der Komposition ist kein Kunstwerk zu genießen, und dazu muß erst die Übung des Auges und Ohres für Form, Farbe, Ton, Rhythmus usw. treten.254
Vischers Kunst-Anthropologie umfaßt also einen komplexen und metaphysisch voraussetzungsreichen Bildungsprozeß.255 In einem ersten Schritt bildet sich das ‚rohe Individuum‘ zu Humanität. Diese soll in einem zweiten Schritt „zur Natur“ zurückkehren; hier entsteht in einem dritten Schritt der „Sinn des Schönen“. Er aber orientiert sich – obwohl „unmittelbar“ – nicht von selbst auf das Schöne, sondern bedarf – in einem vierten Schritt – des „Formsinns“. Der „Formsinn[]“ erweist sich als schillernd, als analytisch und synthetisch zugleich. Es handelt sich dabei „auch“ um ein „Denken“, das einer synthetisierenden Wesenschau ähnelt, aber gleichwohl analytisch angelegt 252 253 254 255
Vischer 1922/1923, I, § 80, S. 223. Ebd. Ebd., S. 224. Wolfgang Albrecht führt den so angelegten Bildungsprozeß noch auf den Perfektibilitätsgedanken des 18. Jahrhunderts zurück; Albrecht 2001, S. 34. Im Blick auf geistige Entwicklung einer „longue durée“ leuchtet diese Verbindung ein, doch fällt es schwer, Vischers Überlegungen mit einer bestimmten Variante des Vervollkommnungs- oder Vollkommenheits-Denkens zu verbinden. Vischer hatte vermutlich vor allem die geschichtsphilosophischen Verheißungen Hegels vor Augen.
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ist. Beide Aspekt des „Formsinns“ erlauben eine spezifischen „Kunstgenuß“: [...] der Gegenstand wird aufgehoben und wieder zusammengesetzt, wird bildend innerlich nachgeschaffen, die Linien fließen, sie sind nicht tot, die Farben atmen, Schatten und Licht durchschneiden sich hier und verschweben dort: dies Alles ist ein Reflektieren, aber kein abstraktes, ein Reflektieren, ein Denken in Formen.256
Vischer empfiehlt dem Rezipienten nicht nur ein gegenstandsnahes „Denken in Formen“, sondern auch ein imitierendes Nachempfinden des Kunstwerks. Dabei soll es das Ziel sein, „das innerste Gefühl mit Wonne zu durchdringen“ – offen bleibt, ob schon das Selbstgefühl des Rezipienten gemeint ist oder ob Vischer von einem „innerste[n] Gefühl“ des Werkes selbst ausgeht, das sich reflexiv ermitteln lassen soll.257 Deutlich ist aber, daß der Begriff der Reflexion, sofern er auf die Rezeptionsseite angewandt wird, eine besonders gebildete Art des Denkens und Empfindens anspricht. Sie soll helfen, Kunstwerke angemessen wahrzunehmen und das Reflexionsproblem zu lösen. Uhland entfaltete diesen Gedanken bereits für die Seite der Produktion.258 Was Vischer für den Gedanken der Reflexion leistet, entpuppt sich als eine – von Uhland beeinflußte – neuhumanistische Weiterentwicklung der hegelschen Ästhetik, die mit den bekannten Argumentationsmustern aufklärerischer Popularästhetik verbunden wird: Hegel erachtet die wahre, die nicht-verbildete Kunst als verloren; der Künstler solle nicht versuchen, sie in „Einsamkeit“ zu „erkünsteln“.259 Damit setzt er aber voraus, daß jener Widerspruch gilt, den Vischer als bloß scheinbaren zu entlarven suchte. Mit seinem Modell der Kunstrezeption und -produktion wendet sich Vischer also gegen diese Schwarz-WeißZeichnung des philosophischen Vorbilds. Anders als Vischer verbindet Hegel Kunstproduktion und -rezeption aber schon selbst, um zu erläutern, wie er sich ideale Kommunikation über Kunst vorstellt. Hegel betont, daß die gegenwärtige Kunst – durch die „Reflexionsbildung“ – nicht nur den „unmittelbaren Genuß“, sondern „zugleich unser Urteil“ erwecke.260 Das Kunstwerk müsse nun immer auch der „denkenden Betrachtung“ (Reflexion im er256 257 258 259 260
Vischer 1922/1923, I, § 80, S. 223. Ebd. Siehe Abschnitt III. 1. a) dieser Untersuchung. Hegel 1986, XIII, S. 25. Ebd.
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
sten Sinne) unterworfen werden, „und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.“261 Der denkende – und nur nebenbei genießende – Kunstbetrachter Hegels vermag also nicht mehr, die Kunst nachzuempfinden, sondern sie nur noch nach wissenschaftlichen Kriterien wahrzunehmen, einzuordnen, zu analysieren. Hier zeigt sich, daß Vischer Hegels System weiterführen will, indem er hinter dessen Differenzierung in „denkende Betrachtung“ und Kunstgenuß zurückgeht und einen Begriff von Reflexion vorschlägt, der beides umfaßt. Diese ‚rezeptionsästhetische‘ Lösung humanisiert das System Hegels, indem sie das Problem der „Reflexionsbildung“ ernst nimmt: als ein Problem modernen Lebens, das sich nicht dadurch lösen läßt, daß man der Wissenschaft die alleinige Beschreibungskompetenz für ästhetische Fragen anvertraut. Die Forschung hat Vischers neuhumanistische und ‚rezeptionsästhetische‘ Lösung des Reflexionsproblems bislang erstaunlicherweise übersehen. Ihr ist auch entgangen, daß Vischer sie in einem Gedicht auf den Punkt bringt, nämlich in Gedicht und Sinn (entstanden vermutlich in den 1870er Jahren). Es liest sich einfach, was schon an der schlichten Struktur liegt: Je sechs Verse bilden eine Strophe und enden immer im Paarreim. Vischer will einen einfachen Inhalt vermitteln, und die schlichte Form kommt ihm dabei entgegen. Sein Text spricht ein imaginäres Du an, das sich der Dichtung zuwendet: Du hoffst von der Dichtung Lust und Behagen Und pflegst nach dem Sinn erst lange zu fragen? Laß dem innern Auge das Bild sich zeigen, So wird auch der Sinn von selber dir eigen; Erspar dir, Guter, die Mühe; der Sinn, Er ist nicht dahinter, er ist darin.262
Anders als das Du weiß sich der Sprecher des Gedichts mit verschiedenen Kunstformen und Textsorten vertraut. Er lehrt seinen Adressaten, wie er mit ihnen umgehen solle. Dabei enthält schon die erste – hier zitierte Strophe – alle Hinweise auf das, was der Sprecher dem Du nahebringen möchte. Die ersten beiden Verse schildern jenen Widerspruch, den Vischer in der Aesthetik als bloß scheinbaren entlarven wollte: den Gegensatz zwischen Kunstgenuß und der Suche nach dem tieferen Sinn 261 Ebd. 262 Vischer: Gedicht und Sinn, in: ders. 1917, III, S. 157 f., hier S. 157, 1. Strophe.
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eines Kunstwerks. Demgegenüber rät der Sprecher – wie Vischer in der Aesthetik – dazu, den Gegenstand innerlich nachzuschaffen, ihn auf sich wirken zu lassen und in sich zu spiegeln. Die zweite Strophe hingegen dient der Illustration und vollzieht satirisch nach, was der Sprecher als Fehlrezeption auffaßt: Was würde der unkundige Leser eines Gedichts denken, vergliche man ihn mit jenem Kunstfreund, der den Sinn eines Bildes noch auf seiner Rückwand vermutete? In der dritten Strophe jedoch wird der Text wieder ernster. Hier geht es um die Frage, ob der Adressat überhaupt geeignet ist, Dichtung und Kunst zu betrachten, ob er nicht bloß nach „Begriff und Wesen“ fahndet,263 also mit einer anderen Art von Büchern besser bedient wäre. Wer es nur auf den „Geistgewinn“ abgesehen habe, für den gelte: „Kannst du nicht schauen, so ist die Kunst, / Gesteh es nur immer, dir eitel Dunst.“264 Wie Vischer in jenem Kapitel der Aesthetik, so preist der Sprecher hier die innerliche Kunst- und Dichtungsschau. Noch mehr als in Vischers theoretischer Systematik erscheint der Akt der Rezeption im Gedicht aber als intuitiv, was auch durch den Gattungswechsel bedingt ist: Selbstverständlich kann und soll ein einzelnes kurzes Lehrgedicht nicht den gesamten Gehalt eines Kapitels der Aesthetik erfassen. Es kann nur einen Punkt hervorheben, der dem Dichter-Theoretiker Vischer besonders wichtig ist, nämlich denjenigen des Sich-Versenkens in ein künstlerisches Werk. Liest man Gedicht und Sinn als poetologisches Dokument, als poetologische Aussage in Versform, dann steigert es die Überlegungen der Aesthetik einseitig – zugunsten einer intuitiven Innerlichkeit. Vischer liefe damit Gefahr, dem eigenen Poesie-Begriff zu widersprechen, den er in seinen theoretischen Schriften und auch in seinem frühen Beitrag über Gedichte von Eduard Mörike entfaltet hatte. Das Gedicht kann schon deshalb nicht Eins-zu-Eins als poetologisches Dokument gelesen werden. Ihm gebührt ein eigener Stellenwert. Es bleibt Programm, formuliert griffig und veranschaulicht überspitzt, was die Analyse der Aesthetik nüchtern, aber umfassend darbietet. Erstaunlicherweise schreibt die Aesthetik ihren Lyrik-Begriff mit Blick auf Mörike fest: mit Blick auf die Musikalität und auf die ‚Lebendigkeit‘ des Gedichts. Die Ballade und die mythische ‚Wirklichkeit‘ Uhlands geraten ins Hintertreffen. Vischers Überzeugungen haben sich offenkundig zugunsten des Dichter-Freunds Mörike verschoben. 263 Ebd., S. 158, 3. Strophe. 264 Ebd.
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
Vischer reformuliert jene Meta-Reflexion theoretisch, um die sich Mörike in seinen poetologischen Gedichten müht. Beide ringen dabei auf ihre Weise mit dem Problem der „Reflexionsbildung“: Mörike, indem er es im Gedicht mit Sprachbildern einzufangen sucht, und Vischer, indem er es begrifflich erfaßt, für das Problem um Verständnis wirbt und eine sittliche Lösung vorschlägt, eine neuhumanistische Ethik des Schreibens, Lesens und Betrachtens, eine neuhumanistische Ethik der Kunstproduktion und -rezeption. Ziel beider ist es, Reflexion (im Sinne von Urteilen) für Literaturproduktion und -rezeption zurückzudrängen, um Selbstreflexion zu ermöglichen – Selbstreflexion verstanden als dichterische Reflexion auf den Menschen, nicht auf den Dichter, wie Strauß betonte. Dieses neuhumanistische Poesie-Verständnis meint Vischer anderen Ästhetikern, Poetikern und Philologen voraus zu haben: den HegelSchülern,265 der formalistischen Ästhetik in der Kant-Nachfolge (Johann Friedrich Herbart, Robert Zimmermann),266 der jungdeutschen Ästhetik (Theodor Mundt), dem Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus, der „nicht gerade ein besonders feines ästhetisches Sensorium“ verfüge,267 und dem modernen ‚Scholastiker‘ Karl Rosenkranz.268 Wenn Vischer dennoch am Wert des eigenen Unternehmens, besonders an der „Metaphysik des Schönen“ zweifelt,269 dann verweist ihn Strauß immer wieder auf die Stärke seiner Aesthetik, auf das Vorhaben, von der Poesie selbst auszugehen. Aus seiner Sicht verhält es sich so, [...] daß Dir [Vischer] immer eine Arbeit, die dem konkreten Gegenstande näher steht, besser gelingen wird, als die Seite des abstrakten Gedankens liegt. Aber sei darüber froh; das macht Dich eben zum geborenen Ästhetiker. Wenn man auf diesen das Wort anwenden will: das Eine tun und das Andere nicht lassen, so wird unter’s Tun die Anschauung und Empfindung des Einzelnen, unter’s Nichtlassen die Erkenntnis des Allgemeinen zu stellen sein. 265 Vgl. zu Vischers Solger-Rezeption Baillot 2002. 266 Zimmermann kritisiert Vischer als Substantialisten und bringt ihn damit in Argumentationsnot. Vischer an Strauß, Zürich, 30. Juli 1858, Bd. 2, S. 147–149, hier S. 148. Vischer aber wird sich mit der ihm eigenen deftigen Ironie zur Wehr setzen; vgl. Allesch 1987, S. 257; siehe auch Henckmann 2001. Lothar Schneider beschreibt diese Kontroverse als „poetologische Leitdifferenz“ des 19. Jahrhunderts; ders. 2001. 267 Strauß an Vischer, Stuttgart, 7. Februar 1842, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 111 f., hier S. 111. 268 Strauß an Vischer, München, den 19. Februar 1851, D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 278–280, hier S. 279. 269 Vischer an Strauß, 7. Juni 1846, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 173–175, hier S. 174.
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Eben weil es sich bei Rötschel, Hotho etc. umgekehrt verhält, sind sie keine rechten Ästhetiker.270
Vischers Aesthetik bewährt sich für Strauß schon deshalb, weil er Vischer als „Ästhetikernatur“, als einen genauen Beobachter und als einen Bewunderer der Poesie einschätzt, der ihr aber theoretisch am besten zu dienen vermag.271 Auch auf das Gebiet der Ästhetik wendet Strauß die neuhumanistische Einstellung vom ‚ganzen Menschen‘ reflexiv an. Er muß bloß das richtige Betätigungsfeld für seine Talente finden, um sie zum Wohl der gebildeten Gesellschaft zu entfalten. In einer politisch und geistig ausgesprochen schwierigen Zeit suchen Vischer und Strauß nach (Selbst-)Orientierung und entwickeln sich dabei nach und nach zu gesetzten Vertretern des Neuhumanismus. Weil ihnen der christliche Glaube dabei verloren ging, nehmen sie ihre Zweifel zum Anlaß, sich auf das unmittelbar Menschliche zu konzentrieren: Bet’ nun für mich, daß es leidlich bleibt; ich will’s für Dich tun. Der Gott, zu dem wir beten, wird es uns, so Gott will, nicht nachtragen, daß wir bewiesen haben, daß er nicht existiert.272
Im Blick darauf fällt es schwer, in Strauß und Vischer jene „Bildungsphilister“ zu erblicken, zu denen Friedrich Nietzsche sie mit großer Geste abstempelte.273 Vischer und Strauß bemühen sich um eine Humanisierung der Systemphilosophie Hegels (in der Hothoschen Färbung) und können sich dafür an den (lyrischen) Poetiken Uhlands und Mörikes – weniger an denjenigen Kerners – schulen: an der gesteigerten Naturnachahmung, am traditionsbewußten und wirklichkeitsnahen Dichten, das die Reflexion im Sinne eines poetologisch gedeuteten Neuhumanismus zu mindern sucht. Parallel dazu entfalten sich andere Formen des Umgang mit dem Problem der „Reflexionsbildung“. Wenn Mörike, Vischer und Strauß im Selbst, im eigenen Umfeld, in den poetologischen Traditionen Schwabens, Weimars und der Antike nach der verlorenen Ursprüng270 Strauß an Vischer, Heilbronn, 9. Juni 1846, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 175–177, hier S. 175. 271 Ebd., S. 176. 272 Vischer an Strauß, Zürich, [o. D.] vermutlich vom 18. Oktober 1856, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, II, S. 109 f., hier S. 110. 273 Vgl. Nietzsche 1954; siehe auch Schmidt 1985, S.155–159. Nietzsche zufolge verhindern Bildungsphilister wie Strauß (und Vischer) ‚starke‘ Gefühle, verabsolutierten sich selbst zu idealen Kulturmenschen und verachteten diejenigen, die diesem Ideal nicht entsprechen.
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III. Wege zu einer neuhumanistischen Poetik
lichkeit fahnden, dann verlegen die jungdeutschen Zeitgenossen diese Suche auf das Fremde: auf die anderen Literaturen Europas oder sogar auf die Literaturen anderer Kontinente.274 Zwischen den 1820er/25er und 1840er/50er Jahren konkurrieren unterschiedliche Modelle, mit dem Problem der Reflexion umzugehen: die regional orientierten und gruppenspezifisch ausgeprägten Modelle neuhumanistischer Dichter und Denker wie Mörike, Vischer und Strauß beispielsweise stehen der internationalen Orientierung jungdeutscher Ideenpolitik entgegen, die sich als ein komplexes Amalgam von Poetik, Politik und Ideologie in der Debatte über Weltpoesie und aus der Kritik an der „Poesie der Poesie“ entwickelt. Weil es im folgenden jedoch nicht darum gehen kann, alle Ausprägungen dieses komplexen Amalgams nachzuvollziehen und bis in den (Proto-)Realismus und Naturalismus hinein zu verfolgen, widmet sich die Darstellung zum einen den programmatischen Haupttexten der Weltpoesie-Debatte. Zum anderen untersucht sie den ‚mainstream‘ der Lyrik-Anthologien, der sich im Ausgang aus diesen Programmatiken entwickelt, diese in Vorworten populär reformuliert und – nach und nach – andere poetologische Schwerpunkte setzt.
274 Selbstkritisch und international interessiert lassen sich Vischer und Strauß aber auch von anderen, nicht-schwäbischen Schriftstellern anregen, die ähnliche Positionen beziehen wie sie selbst. Als „Das Leben Jesu“ in englischer Sprache erscheint, beginnt Strauß beispielsweise, englische Journale (besonders das „Athenaeum“) zu lesen. Vischer an Strauß, Tübingen, 23. Februar 1852, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, II, S. 28 f., hier S. 29. Vischer wie Strauß begegnen der Literaturproduktion der anderen Länder aufgeschlossen und begeistern sich ganz besonders für die Romane George Sands. Vischer an Strauß, [Tübingen, 21. Januar 1846], in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 169 f., hier S. 170: „Ich bewundere diese Frau, die so fest, so energisch zeichnet, wie Raphael in den Tapeten und Stanzen.“ Strauß entgegnet nur; Strauß an Vischer, Heilbronn, 16. Juli 1844, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, I, S. 142 f., hier S. 142.: „[...] wir sollten an sie schreiben.“
IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden Die Humanisten träumen immer noch Den Traum von einer Weltlitteratur. Ein Schönes soll’s nur geben überhaupt, Für jedes Volk ein und dasselbe stets In jeder Sprache, jedem Himmelstrich, Als wäre geistig Leben und Cultur Bei allen Völkern auf der Erde gleich.1
Mit diesen wenigen Versen erklärt August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens Die Weltlitteratur (23. November 1871) „den Traum von einer Weltlitteratur“ für nichtig. Die Weltlitteratur steht damit symptomatisch für nationale Vorstellungen von Literatur im Ausgang aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/1871.2 Im Grunde geht es dem Text nicht einmal mehr um Weltliteratur. Sie gibt nur den Anlaß ab, um nationale Literatur literarisch anzupreisen. Deshalb handelt die erste (oben zitierte) Strophe bloß polemisch von ihrem sogenannten Gegenstand. Ihre Aufgabe ist es, die Idee der Weltliteratur in Mißkredit zu bringen. Weltliteratur wird als Nachtmahr entlarvt, den ein humanistischer Allmachtsanspruch geboren habe. Demgegenüber entfaltet die zweite Strophe eine positive Vorstellung von der nationalen Literatur. Sie ruht auf der Annahme, daß Dichtung „nur aus des Volkes Eigenthümlichkeit“ entspringe.3 „Eigenthümlichkeit“ erweist sich als Kampfbegriff: Hoffmann von Fallerslebens Sprecher wendet sich in ihrem Namen gegen die „Gleichmacherei“, wie ein humanistischer und abstrakter Begriff der Schönheit sie befördere.4 Ein solcher Begriff unter1 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Die Weltlitteratur, in: Hoffmann v. Fallersleben 1891, V, S. 310 f., hier S. 310, 1. Str. Für den Hinweis auf diesen Text Koppen 1984, S. 821. 2 Hoffmann von Fallerslebens ‚Franzosenphobie‘ allerdings ist älter; sie geht bereits auf die 1840er Jahre zurück. Dazu Rémi 1996, S. 192–197. 3 Hoffmann v. Fallersleben: Die Weltlitteratur (wie Anm. IV., 1), 2. Str., S. 310. 4 Ebd., S. 311: „Gleichmacherei die hat nicht Der gewollt, / Der uns zur Mannichfaltigkeit erschuf.“
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IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden
joche die unterschiedlichen Literaturen durch ein Ideal, das ihnen fremd sei und künstlich wirke. Mit ihrer Polemik bilden Hoffmann von Fallerslebens Verse zwei zentrale Positionen der Weltpoesie-Diskussion ab: die erste versteht Weltliteratur als Prozeß, der die Völker im Medium der Literatur zu einer einzigen literarisch verfaßten Kulturgemeinschaft vereinigen soll. Impulse bezieht diese Position in der Tat aus einem kulturpolitischen Neuhumanismus. Die zweite Position der Weltliteratur-Diskussion versteht unter ihrem Gegenstand die Literaturen der Welt: ein vielfältiges Ensemble nationaler Textkanones, das sich nicht ohne Differenzierungsverluste aufeinander abbilden oder miteinander verknüpfen läßt. Die Weltlitteratur vertritt die zweite Position; ihre nationale Sichtweise stellt sich also überraschenderweise als eine pluralistische Position dar. Möglicherweise findet diese Sichtweise deshalb bereits zahlreiche Vorläufer in jenem Lager, das sich eher auf seiten der erstgenannten Position vermuten ließe: im Lager der Jungdeutschen, die sich (ab ca. 1835) einmal einem emphatisch kosmopolitischen, ein ander Mal einem emphatisch nationalen Verständnis von Literatur verschreiben (1. Teil), aber immer und aus politischen Gründen auf eine unmittelbare und volksnahe Literatur drängen.5 Der Breslauer Professor Hoffmann von Fallersleben zählt – und insofern bestätigt Die Weltlitteratur dieses Bild – zu der zweiten Gruppe, zu den national orientierten Jungdeutschen.6 Beiden Positionen, so meine These, dient ‚das Fremde‘ aber im besten Fall als Kontrastfolie für ‚das Eigene‘. Die Kultur, von der das Interesse am Neuen, Anderen und Unbekannten ausgeht, reflektiert sich in ihrer Zielliteratur. Im Fremden sucht sie (mit Hegel und gegen Schlegel sowie gegen Tieck), was das ‚Eigene‘ nicht gewährt: ein ganzheitliches und mit sich selbst versöhntes Leben, das von modernen Reflexionserfahrungen unbelastet ist. Darüber hinaus geht es den Debatten über Weltpoesie um die Verbindung der nationalen Literaturen. Poetiken der Weltpoesie versprechen sich davon ein ‚Höheres‘, nämlich eine Literatur, die die Völker vereint, indem sie die übermäßige Selbstreflexion nationaler Literatur beendet und gemeinsame politische und poetologische Reflexionen erzeugt. Poetik der Weltpoesie meint deshalb immer eine Gemengelage von Poetologischem, Politischem und Ideo5 Über den programmatischen Wandel des Literaturverständnisses um 1830 Vogt 2001. 6 Siehe Pape 1993, S. 141 f.
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logischem. Sie entfaltet sich in mehr oder minder systematischen Ästhetiken, in Vorworten von Lyrik-Anthologien, in Essays und in der poetologischen Lyrik selbst. Das Ergebnis der Bemühungen um eine Weltpoesie aber ernüchtert: Weit davon entfernt, die begehrte gemeinsame Literatur zu finden, tatsächlich zu einer Weltliteratur vorzudringen oder eine solche zu entwickeln, werden Wertvorstellungen und literarische Kanones der Herkunftskultur auf andere Literaturen übertragen und angewandt. Poetiken der Weltpoesie schreiben der deutschen Nation in diesem Sinne besondere Fähigkeiten für die weltpoetische Literatur zu. Nach August Wilhelm Schlegel beispielsweise stellen Kosmopolitismus und Universalität Kennzeichen des ‚deutschen Charakters‘ dar.7 Als ein weiteres Beispiel für dieses Verständigungsmuster der Selbstreflexion im Fremden dient mir wiederum Die Weltlitteratur. Sie spricht von einem „groß[en] Verdienst“ des deutschen Volks: Daß es gerecht ist gegen jedes Volk Und gerne strebt sich einzuleben auch In jede fremde Eigenthümlichkeit, Um so zu theilen mit dem fremden Volk’ Die Freud an jedem schönen Dichterwerk.8
Fremdreflexion bedeutet danach Einleben, also ein ausgesprochen ganzheitliches Sich-Hineinfinden in ein fremdes Volk, um sich an seiner Literatur mitzufreuen. Bezeichnenderweise geht die Literatur aber ‚dem Volk‘ nach, und dem deutschen Volk wird sogleich die Eigenschaft zugesprochen, besonders dafür begabt zu sein, sich in ein anderes Volk ‚einzuleben‘. Die Weltlitteratur äußert sich in ihren Reflexionen über fremde Verständigungsformen über die besondere Wertigkeit der eigenen Kultur. Sie überformt die fremde. Gerade für Literaturübersetzer zeigt sich in der Arbeit am fremdsprachlichen Text, wie mühsam und kompliziert sich dieses Einleben in die fremde Literatur oder gar das Unterfangen einer Weltpoesie gestaltet. Übersetzungen und Übersetzungsanthologien weisen deshalb oft eine eigene Poetik auf,9 die sich von der Debatte über Weltliteratur zwar anregen, aber nur in wenigen Fällen, in denjenigen der Weltlitera7 Diese Sichtweise findet ihre Fortsetzung in Georg Gottfried Gervinus’ Ansicht, die deutsche Bereitschaft zur Aufnahme fremder Literatur mache schon ihre Universalität aus. Siehe Ansel 1990, S. 183; Beil 1996, S. 269–271. 8 Hoffmann v. Fallersleben: Die Weltlitteratur (wie Anm. IV., 1), 2. Str., S. 310. 9 Vgl. A. P. Frank 1994.
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IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden
tur-Anthologien,10 auch davon anleiten läßt. Am Beispiel von LyrikÜbersetzungen läßt sich deshalb zeigen, wie brüchig und heterogen literarische Versuche internationaler Kommunikation im Ausgang aus der Weltliteratur-Debatte waren. Weicht der Übersetzer nicht-deutscher Literatur vom Original ab, flüchtet er sich nicht selten in (nationale) Stereotype, um den Eigenwert der fremden Literatur vor dem Hintergrund des eigenen literarischen Wertekanons hervorzuheben. Diese Verfahren stehen in einem schroffen Gegensatz zu der ‚welt-versöhnenden‘ Diskussion über die Weltpoesie, sind aber mehr als bloß ihre Kehrseite: Sie prägen diese Diskussion selbst und eröffnen erste Möglichkeiten für eine Wahrnehmung des Fremden; sie stellen vereinfachtes Wissen über dieses Fremde zur Verfügung.11 Es handelt sich dabei um Reflexionen von geringer Qualität oder formelhaft: je mehr Reflexion, desto weniger Stereotypisierung und umgekehrt. Lyrik-Übersetzungen und -Anthologien lassen die Debatte über die Poetik der Weltpoesie deshalb auch als sinnvoll und notwendig erscheinen: Sie zettelte doch immerhin Verständigung darüber an, was nach dem Ende der lateinisch-sprachigen ‚res publica litteraria‘ außerhalb der eigenen Landes- und Sprachgrenzen geschah. Um die Vielfalt dieser Reflexionen und Rezeptionen darzustellen, will ich im folgenden einen literarischen Austausch betrachten, den die Rezeptionsforschung als von nationalen Vorurteilen relativ frei einschätzt.12 Gemeint ist der Austausch britischer und deutscher Literatur. Hier wird sich für die Rezeption poetologischen Denkens zeigen lassen, daß sie mitnichten so unproblematisch und vorurteilsfrei verlief, wie es Rezeptions- und Übersetzungsforschung beschreibt. Vielmehr bildeten sich früh – im Blick auf den deutschen Idealismus einerseits, auf den britischen Utilitarismus und Pragmatismus andererseits – Grenzen wechselseitigen Verstehens aus. Außerdem läßt sich für die Rezeption poetologischer Gedichte zeigen, daß – wiederum anders als die Forschung vermutet – das Vorbild der politisch oder wirtschaftlich liberalen Kultur Großbritanniens hier keine Rolle spielt: In der poetologischen Lyrik preist man erstaunlicherweise ein unpolitisches Dichterideal (2. Teil). Frankreich gilt der Rezeptions- und Übersetzungsforschung demgegenüber als ein komplizierteres Beispiel für die wechselseitige literari10 Vgl. Bödeker 1996; Bödeker u. Leupold 1996. – Ich komme an späterer Stelle darauf zurück. 11 Über Stereotype als vereinfachende Wissensbestände die Beiträge in Florack 2000. 12 So Bödeker u. Rohde-Gaur 1996.
IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden
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sche Wahrnehmung.13 Diese Einschätzung verwundert aus zwei Gründen: erstens wies die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts eine lange ‚frankophone‘ Tradition auf, die nicht nur der Dichtung der Pléiade oder dem Drama Racines und Corneilles entstammte, sondern sich vor allem der vermittelnden Tätigkeit der sogenannten Hugenotten verdankte, der französisch-reformierten Gläubigen, die seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts in den Ländern des Heiligen Römischen Reichs Aufnahme fanden.14 In den regionalen ‚Refuges‘ entstanden schon im Ausgang des 17. Jahrhunderts zahlreiche Periodica, die der wechselseitigen Literaturvermittlung dienten.15 Zweitens konnte das französische Mutterland nahtlos an solche Bemühungen anknüpfen: Im Blick auf das 19. Jahrhundert läßt sich für die Archives Littéraires de l’Europe (1804–1808),16 für L’Europe Littéraire (1833–1834)17 und für die Revue des deux mondes (1829 ff.) von einer europäischen Literaturkritik sprechen.18 Sofern die deutsche Literaturkritik und die anthologische Praxis französische poetologische Lyrik wahrnimmt, legt sie ihr Augenmerk immer wieder auf sozialkritische Muster: auf den Topos des armen Poeten, der als Chansonnier auftritt, und auf die Poesie, die als frei und als unabhängig von den Ränke- und Machtspielen der Menschen gezeigt wird. La Poésie, ein Gedicht des gelehrten Saint-Simonisten Léon Halévy, steht paradigmatisch dafür. Es findet zwar Eingang in die Lyrik und Poetik des Münchner Dichterkreises, der unter poetologischem Aspekt im Deutschland des mittleren 19. Jahrhunderts den Ton angibt,19 aber es sprengt ihren Rahmen, wird ihr zum Problem. Dieser seltene Fall zeigt, daß die Fremdreflexion die Selbstreflexion gefährden kann (3. Teil). Selbstreflexionen über Dichtung finden bis in die 1880er Jahre hinein noch immer im Rahmen eines klassizistischen Normenkanons statt.20 13 14 15 16 17 18 19 20
Rohde-Gauer 1996; Keck 1996. Haase 1954; Pott 2002 a. Dazu die tabellarische Übersicht in Jaumann 2003. Vgl. Mortier 1957. Vgl. Palfrey 1927. Vgl. Marino 1980, S. 190 f. Siehe Fohrmann 1996; Werner 1996. Siehe Beil 1996, S. 270 f. – Jürgen Fohrmann beschrieb dies für die deutsche Literaturgeschichte als Denkmuster einer ‚nationalen Entelechie‘. Danach umfaßt Literaturgeschichte weniger Entwicklungen als vielmehr ‚Auswicklungen‘: Sie wählt die Weimarer Klassik als Endpunkt einer sich vollendenden Literatur und deutet alles übrige als ihre Vorgeschichte; Fohrmann 1991, S. 209 f.; Beil 1996, S. 270 f.
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IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden
Doch gilt es, diesen Reflexionstypus nicht als einen ‚deutschen Sonderweg‘ der Weltpoesie-Diskussion zu überschätzen:21 Jede Literatur kennt Epochen der literarischen ‚Blüte‘, die sie als Maßstab für andere Literaturen anlegt.22 Für das Rezeptionsbeispiel Großbritannien-Deutschland will ich deshalb immer auch den umgekehrten Blick riskieren, also den Blick von Großbritannien nach Deutschland. In beiden Ländern walten, wie sich zeigen wird, vergleichbare Selbst- und Fremddarstellungen. Am Beginn der Debatte über eine Poesie der Völker war dafür kaum ein zweiter Denker so sensibel wie Johann Gottfried Herder.
1. „Weltpoesie allein ist Weltversöhnung“: Weltliteratur als Prozeß oder als Ensemble nationaler Textkanones? Herders Volkslieder-Sammlung (1778/1779) und seine Briefe zur Beförderung der Humanität (1793–1796) gelten als Gründungsdokumente weltpoetischen Bestrebens.23 Aber Herder spricht in ganz unterschiedlicher Weise von der Verbreitung und Wirkung von Poesie – und nicht von Weltpoesie: erstens geht es ihm um einen Patriotismus geselliger Zirkel, deren Mitglieder sich über ihr eigenes moralisches und soziales Verhalten verständigen. Dieses läßt sich in besonderer Weise an Poesie ablesen bzw. durch Poesie beeinflussen. Denn sie wirkt auf den „innern Sinn“ des Menschen, auf das „Gemüth[]“ oder das „Land der 21 Siehe Koppen 1984. Das Bemühen, die Germanistik zum nationalen Anliegen und zu ‚der‘ nationalen Geisteswissenschaft zu machen, gilt Susanne Schröder (1979) in diesem Sinne als ein Grund dafür, daß die ‚Komparatistik‘ im Deutschland des Wilhelminischen Zeitalters – anders als in den übrigen Ländern Mitteleuropas – nicht als eigenständige Wissenschaft institutionalisiert wurde. Hier klingt die Sonderweg-These an; vgl. dazu Kindt u. Müller 2003 a. 22 Für England ist nicht nur Shakespeare, sondern auch die Romantik zu nennen. In Frankreich erhebt man – je nach Literaturanschauung – entweder die Klassik oder die „lumières“ auf den Schild. 23 Bödeker 1996, S. 183 f. Für Konzepte der Weltliteratur zieht Birgit Bödeker eine Entwicklungslinie, die von Herders-Volkslieder-Sammlung über Goethes Weltliteratur-Begriff bis hin zum „Scherr-Typus“ deutscher Weltpoesie-Anthologien reicht. Bödeker zufolge vertreten alle drei emphatische Sichtweisen von Weltliteratur. Ich will diese Sichtweisen demgegenüber vor allem für Goethe relativieren, für Herder eine dreifach angelegte Vorstellung von der Poesie der Völker herausarbeiten und Scherr als einen Anthologisten beschreiben, der den Weltliteratur-Begriff trivialisiert. Siehe auch den Versuch von Andreas Poltermann (1998), Herder für die gegenwärtige Postkolonialismus-Debatte zu gewinnen.
1. „Weltpoesie allein ist Weltversöhnung“
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Seelen“,24 und zwar in vernünftiger und humanisierender Absicht.25 Herder bestimmt Poesie hier vor allem individuell, um daraus allerdings allgemeine Folgen abzuleiten.26 Zweitens gilt ihm Poesie als Ausdrucksmittel der einzelnen Nationen. Sie wandele sich „nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten, nach dem Temperament und Klima, sogar nach dem Akzent der Völker.“27 Dementsprechend bilde jede Nation einen eigenen Wertmaßstab zur Beurteilung von Poesie aus, und es verwundere nicht, wenn sie die Dichter bevorzuge, die in ihrer eigenen Sprache schreiben.28 An dieser Stelle spricht Herder also nur von unterschiedlichen Nationalpoesien, die sich wechselseitig mehr oder minder gründlich wahrnehmen. Der Leser im humanitären Bund Herders richtet seine Lektüregewohnheiten danach aus. Er vergnügt sich, indem er die unterschiedlichen Nationalliteraturen gegeneinanderstellt und fahndet nach der Denk- und ‚Seelengeschichte‘ der Völker. Wenn ‚Volk‘ hier ein homogenes Gebilde meint, dann verhält es sich mit dem Begriff des Menschen anders. Der Mensch Herders paßt sich an neue Existenzbedingungen an, strebt nach moralischer Vervollkommnung,29 und Poesie hilft ihm dabei. Sie führt ihn in ein utopisches Arkadien, in das Reich der „Einfalt“.30 Drittens nimmt Herder also die 24 Herder 1991, Achte Slg., Brief 106, S. 572 [Hervorhebungen im Original]. 25 Ebd., Brief 107, S. 578. 26 Denn Poesie erscheint ihm als „ein Spiegel der Natur und Sitten, Humanität im gefälligsten Gewande, Philosophie des Lebens.“ Ebd., Achte Slg., Brief 106, S. 572. 27 Ebd., Brief 107. 28 Nur in Deutschland widerstrebten die Leser dieser allzu verständlichen Neigung: „Italiener, Franzosen und Engländer schätzen ihre Dichter, oft mit ungerechter Verachtung andrer Völker, parteiisch hoch; der einzige Deutsche hat sich verführen lassen, das Verdienst fremder Völker, insonderheit der Engländer und Franzosen, unmäßig zu übertreiben und darüber sich selbst zu vernachlässigen.“ Ebd., S.574. – Der Umstand, daß die Geschichte der deutschen Literatur manchem als so kurz erscheinen mag, mitunter sogar auf die Goethezeit begrenzt wird (Schlaffer 2002), ließe sich – mit Herder – also aus dem mangelnden Selbstbewußtsein deutscher Autoren, Kritiker und Wissenschaftler erklären. 29 Herder 1991, Achte Slg., Brief 107, S. 577. 30 Ebd., S. 578 [Hervorhebungen im Orginal]: „Sollte also nicht auch bei dieser, wie bei allen Reihen fortgesetzter Naturumwirkungen ein Fortgang unumgänglich sein? Ich zweifle daran (den Fortgang recht verstanden) gar nicht. In Sprachen und Sitten werden wir nie Griechen und Römer werden, wir wollen es auch nicht sein. Ob aber der Geist der Poesie durch alle Schwingungen und Excentricitäten, in denen er sich bisher Nationen- und Zeitenweise periodisch bemühet hat, nicht dahin strebe, immer mehr und mehr, so wie jede Grobheit des Gefühls, so auch jeden falschen Schmuck abzuwerfen und den Mittelpunkt aller menschlichen Bemühungen zu suchen, näm-
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IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden
Poesie ‚schlechthin‘ in den Blick, und zwar als quasi-abstrakte und humanisierende Einheit einer Menschheitsgeschichte, die eher zufällig in einzelnen Nationen geschieht. Diese Poesie ‚schlechthin‘ beurteilt er ausgesprochen optimistisch: Im Laufe der Zeit zeige sich, wie die Poesie die moralische Natur des Menschen immer besser (d. h. einfacher, wahrer und sittlicher) zur Geltung bringe. Herders Menschheit strebt einem gemeinsamen Ziel zu, nämlich Arkadien, dem utopischen Reich, in dem Individuum, Volk und Völker poetisch vereint sind. Erst von diesem dritten geschichtsphilosophischen und utopischen Poesie-Begriff gehen jene Impulse aus, auf die sich weltpoetische Unternehmungen berufen könnten. Denn an dieser Stelle überschreitet Herder seinen Begriff von einer nationalen Literatur zugunsten eines Ideals, das ihm zur transnationalen poetologischen Verhaltensregel wird. Weil Herders Poesie-Begriff aber derart komplex ist, überrascht es nicht, daß Poetiker der Weltpoesie Herders Namen zwar erwähnen, ihn aber nicht zum Hauptadvokaten ihrer Auffassungen ernennen: Seine Poetik erweist sich unter diesem Aspekt als gesunkenes Kulturgut. Ganz anders verhält es sich mit seiner Volkslieder-Sammlung, die als „Werke- und Wertekanon“ (Renate v. Heydebrand/Simone WinkoJannidis) zum Vorbild für jene Weltliteratur-Anthologien wird, die nicht nur den Okzident, sondern auch den Orient in ihre Textsammlungen einbeziehen.31 Herders Sammlung leitet spätere Anthologisten nicht selten bei der Text-Auswahl und bei der poetologischen Reflexion des Ausgewählten an.32 Für eine Poetik der Weltpoesie erweisen sich Goethes Überlegungen demgegenüber als weitaus wirksamer. Er stellt Herders geschichtsphilosophischem Modell transnationaler Poesie seine Anschauungen über eine „Weltliteratur“ entgegen, die sich im literarischen Betrieb selbst bildet.33 In den Jahren 1827 bis 1830 entwickelt Goethe seinen Begriff lich die ächte, ganze, moralische Natur des Menschen, Philosophie des Lebens? Dieses wird mir durch Vergleichung der Zeiten sehr glaubhaft. Auch in Zeiten des größesten Ungeschmacks können wir uns nach der großen Regel der Natur sagen: Tendimus in Arcadiam, tendimus! [Wir streben nach Arkadien, wir streben!] Nach dem Lande der Einfalt, der Wahrheit und Sitten geht unser Weg.“ Herder ging es freilich nicht darum, dieses Arkadien tatsächlich zu erblicken; siehe Kelletat 1984, S. 118. 31 Vgl. Bödeker 1996; Bödeker u. Leupold 1996. 32 Vgl. Hart 1885; Menzel 1851; Schack 1893; Scherr 1869ff.; Solger 1888; Wentzel 1912; Zoozmann 1915. 33 Der Goethesche Begriff wurde oft besprochen; vgl. Bollacher 2001, bes. S. 175–185; vor allem aber die begriffs- und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung von M. Koch 2002, die erst nach Abschluß der Untersuchung eingesehen werden konnte.
1. „Weltpoesie allein ist Weltversöhnung“
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von „Weltliteratur“, und zwar aus der Lektüre französischer, englischer, italienischer und deutscher Zeitschriften (Le Globe, Edinburgh Review, L’Eco, Acta Comparationis Litterarum Universarum). Anders als in Herders Konzeption von Poesie ist die Zeitzeugenschaft für den „Weltliteratur“-Begriff Goethes von besonderer Bedeutung.34 Der Autor erlebt seine eigene Rezeption und Kanonisierung; mit Hilfe des Begriffs der „Weltliteratur“ versucht er, selbst daran mitzuwirken. Sein Begriff von „Weltliteratur“ wandelt sich aber im Lauf der Jahre ganz erheblich. Erstmals gebraucht er ihn im Jahr 1827, und zwar in seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum. Dort bekennt er sich zu der Überzeugung, daß es bereits „eine allgemeine Weltliteratur“ gebe und daß den Deutschen für die weitere Ausbildung derselben „eine ehrenvolle Rolle“ vorbehalten sei: Alle Nationen schauen sich nach uns um, sie loben, sie tadeln, nehmen auf und verwerfen, ahmen nach und entstellen, verstehen oder mißverstehen uns, eröffnen oder verschließen ihre Herzen: dies alles müssen wir gleichmütig aufnehmen, indem uns das Ganze von großem Wert ist.35
Goethe faßt „Weltliteratur“ als Handlungskomplex, als ein „große[s] Zusammentreten“ auf.36 Er plädiert für einen umsichtigen, aber engagierten Umgang mit diesem (für ihn) neuen Phänomen. Im Gespräch mit Eckermann (31. Januar 1827) spricht er folgerichtig von einer „Epoche der Weltliteratur“, die „an der Zeit“ sei: „[...] jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“37 Die Beförderung der „Weltliteratur“ wird zur moralischen Aufgabe des einzelnen Dichters und Denkers. Erstaunlicherweise gibt Goethe aber nur vage Ziele für dieses weltliterarische Engagement an. Deutsche müßten die Neigungen der Nationen unterstützen, die nach zahlreichen Kriegen auf dem Feld der Lite34 Siehe Bollacher 2001, S. 175 u. passim. Bödeker spricht demgegenüber davon, daß Goethe weltliterarische Bestrebungen im Ausgang von Herder und im Blick auf die Romantik zusammenfasse; dies. 1996, S. 184 f. So einleuchtend diese Beschreibung auch im Blick auf einen weiteren literaturhistorischen Rahmen wirkt, so sehr vernachlässigt sie m. E. aber auch die Unterschiede, die zwischen diesen (Welt-)Literatur-Konzepten bestehen. 35 Goethe 1981 [Goethes wichtigste Äusserungen über „Weltliteratur“], XII, S. 361–364, hier S. 361 [Hervorhebung im Original]. 36 Ebd. [Brief an Karl Streckfuß, 27. Januar 1827], S. 362. 37 Ebd.
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IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden
ratur miteinander Frieden schließen wollten.38 Dabei wirke die „Weltliteratur“ nach innen wie nach außen befriedend: Sie befördere die „wahrhaft allgemeine Duldung“39 und gleiche die „Differenzen“ in einer Nation aus.40 Der Begriff der Duldung erweist sich aber als ausgesprochen schwach: Im Sprachgebrauch des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts bezeichnet Duldung, daß man die Existenz des anderen anerkennt, nicht aber, daß man sie akzeptiert, also als solche annimmt. Die Nationen, wie Goethe sie vor Augen hat, sind durch die tiefen Gräben der napoleonischen Zeit voneinander geschieden und müssen sich offenkundig erst vorsichtig annähern. „Lieben“ werden sich diese Nationen nie.41 Schon aus diesem Grund hätte der weltliterarische Anspruch anders anzusetzen: [...] hier ist vielmehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennen lernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken.42
Goethe blickt auf den einzelnen Autor. Möglicherweise geraten seine weltliterarischen Bestrebungen schon deshalb ins Hintertreffen. Denn bereits im März des Jahres 1829 klagt er in einem Brief an Zelter über die negativen Folgen der entstehenden „Weltliteratur“. Die „Übertriebenheiten“ des Pariser Theaters gelangten nach Deutschland.43 Von der Duldung, über die er noch im Jahr 1828 gesprochen hat, bleibt wenig übrig. In seinem Entwurf zur Einleitung von Thomas Carlyles Leben Schillers (5. April 1830) notiert Goethe ernüchtert: Jede Nation wird in der andern „etwas Annehmliches und etwas Widerwärtiges, etwas Nachahmenswertes und etwas zu Meidendes“ antreffen.44 In einem starken Sinne versteht Goethe „Weltliteratur“ als ein Zusammenwirken einzelner Autoren: Ihre Aufgabe soll es sein, voneinander zu lernen. Für internationale Verständigung, für die Verständigung zwischen den Nationen selbst, steht demgegenüber allenfalls die wechselseitige Duldung in Aussicht. Goethe bescheidet sich mit einem zwar energischen, aber sehr gemäßigten, beinahe zögerlichen Plädoyer für 38 Ebd. [Vorrede zu Thomas Carlyle, Leben Schillers, 1830], S. 364: Hierfür spricht Goethe von einem „Gefühl nachbarschaftlicher Verhältnisse“. 39 Ebd. 40 Ebd. [Brief an Boisserée, 12.10.1827]. 41 Ebd. [Über Kunst und Altertum, 1828], S. 363. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd.
1. „Weltpoesie allein ist Weltversöhnung“
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die „Weltliteratur“. Diese Mäßigung ist vor allem auf Qualitätsansprüche zurückzuführen, die er an Literatur stellt: Im Zuge einer allgemeinen Verbreitung der Nationalliteraturen über die Welt, in diesem Falle des französischen Dramas, erweist sich die deutsche Literatur als bedroht. Hinzu kommt, daß sich Goethe für eine große kulturelle Verschmelzung der Nationen nicht begeistern konnte. Vielmehr geht es ihm darum, einen Zustand (wieder-)herzustellen, der vorerst Frieden gewährleistet und wechselseitige Akzeptanz ermöglicht. Darüber hinaus setzt er sich – mit einem eigensinnigen Blick auf die Qualität von Literatur – in einem gewissen Sinne für die Germanisierung der „Weltliteratur“ ein und versteht dieses Engagement bereits als eine literarische Übung von Toleranz. Diese begriffsgeschichtliche Interpretation nimmt dem Goetheschen Begriff der „Weltliteratur“ Pathos und Emphase. Wenn Goethe über die Anforderungen für eine „Weltliteratur“ spricht, dann hat er nämlich vor allem die deutsche vor Augen; er überträgt und generalisiert, was er für deren Eigenschaften hält. Ausländischen Journale mustert er, insofern sie das eigene Werk wahrnehmen. Demnach geht es ihm gerade nicht um die Reflexion des ‚Anderen‘ in einem künftigen weltliterarischen Text, sondern um die Reflexion des ‚Eigenen‘ in anderen Nationalliteraturen. Dennoch entnehmen Friedrich Rückert und Ludolf Wienbarg Goethes Aussagen aber nicht nur den Begriff der „Weltliteratur“, sondern auch ein Plädoyer für die Beförderung derselben. Dabei weichen selbst ihre emphatischen Vorstellungen von einer Weltpoesie voneinander ab: Rückerts poetologische Lyrik behandelt die weltpoetische Begeisterung bereits ironisch – was ein neues Licht auf den ‚Vorreiter‘ für die Völkerverständigung von Ost und West wirft (Abschnitt a).45 Mehr noch: Bereits am Beginn, vor allem aber im Ausgang des 19. Jahrhunderts läßt sich eine enorme Vielfalt weltliterarischer Vorstellungen beschreiben, von denen nur wenige ernsthaft um einen völker-übergreifenden Prozeß der literarischen Reflexion ringen (Abschnitt b).
45 Die Rückert-Forschung erblickt in ihrem Autor einen entschlossenen Vertreter weltpoetischer Vorhaben. Brüche in der Poetik des Autors, vor allem in der poetologischen Lyrik, berücksichtigt sie nicht. Vgl. bereits die richtungsweisende Darstellung von Schimmel 1967; die Beiträge in Fischer u. Gömmel 1990; Ali-Huseinat 1993; Bachmann 1995.
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IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden
a) Emphatische Vorstellungen und Ironie: Friedrich Rückert Weltpoesie (1832) und Ludolf Wienbarg Goethe und die Weltliteratur (1835) Rückert (1788–1866), der fränkische Dichter, Orientalist und Übersetzer, ist über die Vielfalt weltpoetischer Bestrebungen bestens informiert. Goethe wird ihm schon aufgrund des Westöstlichen Diwans zum Vorbild der eigenen Östlichen Rosen (1819–1820). Als Übersetzer und Herausgeber arabischer Dichtung wandelt er darüber hinaus auf den Spuren Herders.46 Und am Beispiel von Rückerts Gedichten läßt sich genau jene Dichotomie zwischen weltpoetischem Idealismus und nationaler (oder sogar regionaler) Bindung veranschaulichen, die Hoffmann von Fallersleben beschreibt: In der poetisch-poetologischen Verherrlichung der Natur steht Rückert dem ersten schwäbischen Dichterkleeblatt in nichts nach. Wie Kerner und Uhland verabsolutiert er die natürliche Schöpfungsordnung. Die wahre ‚Poiesis‘ ist für ihn gleichbedeutend mit einer ‚Autopoiesis‘ der Natur.47 Auch teilen seine Texte die märchenhaften und mythischen Züge mit der Lyrik Uhlands. Ganz altfränkisch ruft Rückert diese allerdings nicht mit den Bildern des Helden- und Minnesangs hervor, sondern er nutzt den Meistersang als Bildsprache – wobei Rückert Goethe mit dem „Meister“ und den Sprecher der Gedichte, der in gewisser Weise mit Rückert identisch ist, mit dem „Gesell“ verbindet.48 Regionale Bindung,49 internationale Orientierung, Epigonentum und zweiflerische Neigung: Rückert ist nur schwer einzuordnen. Einerseits, so will es nämlich der Sprecher von Ausdruck der Empfindung (1833) erörtert Poesie, was das Ich wahrnimmt; sie verhilft dem in die Welt geworfenen Individuum zur Sprache. Andererseits geht sie damit ein komplexes Wechselspiel von Weltverstehen und „Weltverklärung“ ein.50 Sie steht nicht einfach für etwas in der Welt oder in der Natur. Das 46 Schimmel 1967, S. 14. 47 Friedrich Rückert: Naturpoesie [1848–1866], in: ders. 1898, II, S. 4: „Das Schönste ward gedichtet / Von keines Dichters Mund, / Kein Denkmal ist errichtet, / Kein Marmor thut es kund. / Es hat sich selbst geboren, / Wie eine Blume sprießt / Und wie aus Felsenthoren / Ein Brunnquell sich ergießt.“ 48 Rückert: An unsere Sprache [1810–1813], in: ders. 1898, II, S. 3 f., 6. Str.; ders.: Zum Anfang [1822], in: ders. 1898, II, S. 7–10, hier S. 7, V. 1; siehe auch Rückert: Goethe und die Dichtung [1833], in: ders. 1898, II, S. 14 f. 49 Siehe dazu Selbmann 1989. 50 Rückert: Ausdruck der Empfindung [1833], in: Rückert 1898, II, S. 16 f.
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Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeitswahrnehmung erscheint als gebrochen. Schon im Jahr 1824 erklärt sich Rückerts Sprecher zu einem „zersplitterte[n] Dichter“, der nicht mehr in einem Bild vereinigen kann, was ihn bewegt, sondern der seine Wahrnehmungen verstreut und zerstreut.51 Sie sind ihm nurmehr verlorene Gedankenund Bilder-Splitter. Anders als Vischer, Mörike und Strauß, die diese Verzweiflung in den 1830er und 1840er Jahren mäßigen und in neuhumanistische Denkmuster überführen, rettet sich Rückert in eine Ironie, die sich nicht zuletzt in seinem Verständnis einer Weltpoesie niederschlägt. Dementsprechend ist der fränkische ‚poeta doctus‘ im schwäbischen Triumvirat nicht übermäßig wohlgelitten: „Bei Rückert spielt ein spitzfindiger Witz unendlich widerwärtig mit der Poesie, die ihm eigen ist, und man hat dabei immer das Sauerampfergesicht vom Titel [eines Almanachs] im Auge.“52 So und anders äußert sich Mörike über den Kollegen – und reagiert damit auf das freundlich gemeinte Gesuch Vischers, Mörike sollte ihm das ein oder andere Rückert-Gedicht vorlesen. Als Professor der Ästhetik pflichtet Vischer dem Freund in Sachen Rückert schließlich bei: Rückert ist wohl darüber belehrend, daß man über jenes nicht eigentlich organische Verhältnis, worin Reflexion, Gemüt, Witz, Versetzungsfähigkeit in Vieles, Formtrieb nicht in spezifisch poet[ischer] Einheit aufgehen, nicht zu rasch weggehen soll, indem es auf diesem Gebiet vielerlei interessante individuelle Mischungen gibt.53
In den 1850er Jahren steht der fränkischer Gelehrte nur noch für eine Poetik der Abweichung: für die Mahnung, nicht über interessante Randphänomene hinwegzugehen, die dem theoretisch interessierten Auge mancherlei zu Tage fördern könnten. Wenn das Gebiet der ‚Devianzpoetik‘ auch gerade Vischer, den Ästhetiker des Häßlichen und Komischen anzieht, dann wird diese Darstellung Rückert aber doch nicht gerecht: Sie schlägt Rückerts energische Kritik an den bekannten idealischen und emphatischen Literatur-Vorstellungen unter Wert, die sich paradigmatisch und programmatisch in Weltpoesie (1832) zeigt. Der Text führt selbst schon ironisch vor, wie sich die Begeisterung ‚für’s 51 Rückert: An die Dichter [1824], in: ders. 1898, II, S. 4. 52 Mörike an Vischer, [Weilheim, Anfangs November 1833], in: Mörike u. Vischer 1926, S. 111–113, hier S. 111 f. 53 Vischer an Strauß, Tübingen, 15. Juni 1850, in: D. F. Strauß u. Vischer 1952/53, II, S. 261–263, hier S. 263.
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Weltpoetische‘ an sich selbst abstumpft, wenn sie sich auch noch an ihrem großen humanistischen Vorhaben zu berauschen vermag: Was vor Jahrtausenden gerauscht Im Wipfel ind’scher Palmen, Wie wird es heut von dir erlauscht Im Strohdach nord’scher Halmen! Ein Palmblatt, vom Sturm verweht, Ward hergeführt von Schiffern, Und seinen heil’gen Schriftzug, seht, Ihn lernt’ ich zu entziffern. Darein ist ganz mein Geist versenkt, Der, ohne zu beachten, Was hier die Menschen thun, nur denkt, Was dort die Menschen dachten. Und so, wiewohl das Alte stärkt, Das Neue zu verstehen, Wird doch viel Neues unbemerkt An mir vorübergehen. Bemerken werden die es schon, Die laut am Markte walten, Vom Volk beklatscht; ein stiller Lohn Ist mir doch vorbehalten. Daß über ihrer Bildung Gang Die Menschheit sich verständ’ge, Dazu wirkt jeder Urweltsklang, Den ich verdeutschend bänd’ge.54
Schon die Form fällt ins Auge. Ausgerechnet für einen Text, der mit Weltpoesie betitelt ist, wählt Rückert nicht die arabische Gedichtform der Ghasele, die er eigens in die deutsche Dichtung einführte, sondern die Strophe der Volkslieddichtung mit ihrem schlichten Kreuzreim. Dieser Befund mutet merkwürdig an; der Inhalt des Gedichts bestätigt diesen Eindruck: Zwar ruft der Sprecher in der ersten Strophe noch freudig aus, daß ‚heute‘ im Norden „erlauscht“ werden könne, was einstmals in fernen und exotischen Ländern „gerauscht“ habe, und in der zweiten spielt er auf den heiligen Gehalt dieses ‚Rauschens‘ an. Es kennzeichnet den Schriftdeuter als einen Gelehrten, der sich einem besonderen Text, einer unter Palmblättern verfaßten ‚Heiligen Schrift‘ 54 Rückert: Weltpoesie [1832], in: ders. 1898, II, S. 13.
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widmet, ja sich in ihren Dienst stellt, indem er sie entziffert und verkündet. Aber in der dritten und vierten Strophe kritisiert sich der Textexeget: Er tadelt, daß er sich bloß auf die Vergangenheit konzentriere und die Gegenwart ganz vernachlässige. Im Blick auf seine humanitären Ziele erscheint ihm dieser Fehler gleichwohl als geringfügig. Er hat Höheres vor Augen – kein unmittelbar erreichbares Ziel allerdings, sondern ein langfristiges, das sich nur ironisch gebrochen darbieten läßt, und das ihm nicht viel Ruhm bescheren wird. Denn ihm geht es um die Verständigung der „Menschheit“ mit den Mitteln der Bildung, und er will mit seiner Übersetzungen dazu beitragen. Im Bild der Mission des Textgelehrten veranschaulicht Rückerts Sprecher zum einen die Bedeutung des Bildungs- und Verständigungsauftrages, zum anderen die Probleme, die dem gelehrten Übersetzer aus der Selbstbetrachtung erwachsen: Er vernachlässigt die Gegenwart zugunsten eines Werkes, von dem er überzeugt ist. Deshalb versichert sich Rückert im Munde seines Sprechers nicht nur des eigenen Unternehmens, sondern bietet – bei aller Emphase der ersten Strophe – auch dessen ernste und gemäßigte Absicht dar. Er läßt poetisch schildern, was ihn poetisch und poetologisch befaßt: die Arbeit am fremden Text, die übersetzerische Imitation des Fremden für den kulturellen Horizont des heimatlichen Publikums und die kulturpoetischen, -poetologischen und -politischen Motivationen dafür. Ein derart reflektiertes Nachahmen oder Übertragen muß den fremden Literaturen ihren Eigenwert lassen, um sie in weltpoetischer Absicht einsetzen zu können. Es wäre unangemessen, dieses reflektierte Nachahmen als epigonal abzutun. Darüber hinaus wäre es problematisch, die Emphase für eine Poetik der Weltpoesie, wie sie das Rückertsche Gedicht veranschaulicht, von den ironischen und selbstbetrachtenden Abschnitten zu lösen, um auf ein entschlossen idealistisches Vorhaben von Weltpoesie zu schließen.55 Am Beispiel von Weltpoesie treten vielmehr jene Gegensätze hervor, die Hoffmann von Fallersleben aus nationaler Sicht schildert – und bezeichnenderweise anders beurteilt als Rückerts Sprecher. Für letzteren verbindet sich, was Hoffmann von Fallersleben auseinandertreibt: Nation, Region und Gegenwart müssen, so lautet die humanistische Prämisse von Rückerts Poetik der Weltpoesie, in der Poesie mit Fremdem, Heiligem und Vergangenem vertraut gemacht werden, um Verständnis dafür zu wecken.
55 Diese Kritik richtet sich gegen Alali-Huseinat 1993, S. 45 u. 92.
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Rückert zählt also zwar zu jenen Humanisten, die Hoffmann von Fallersleben angreift. Aber Rückert hätte Hoffmann von Fallerslebens Ansichten darüber teilen können, daß die Vielfalt der Kulturen und Literatur erhalten werden muß. Der Fall Rückert erweist sich also als komplexer, als daß er der Anklage Hoffmann von Fallerslebens hätte zum Opfer fallen können: Rückert nutzt die Ironie, um Abstand zu gewinnen – Abstand von den allzu werthaften Forderungen nach einem weltliterarischen Humanisierungsprozeß. Dieselbe ironische Reflexion, die die schwäbischen Kollegen so irritiert, erlaubt es ihm, das Heimische zu betonen und die eigene ‚Mission‘ trotz allem beizubehalten. Er pflegt eine eigentümliche Form der ironischen und reflexiven Emphase für seine Poetik der Weltpoesie. Einerseits sichert sie ihm als Übersetzer Respekt, andererseits hält sie ihn davon ab, das eigene Vorhaben – wie andere Jungdeutsche – zu ideologisieren. Weltpoesie veranschaulicht musterhaft, wie sich Selbstreflexion über Fremdreflexion gestaltet, um sich von sich selbst ebenso wie von ‚dem Fremden‘ zu distanzieren. Anders verhält es sich mit einem Poetiker, dem das Übersetzerhandwerk – mit Ausnahme einer Pindar-Übersetzung (1830) – fremd blieb, und den Vischer bezeichnenderweise nicht einmal erwähnt: weder in seinen Briefen noch in seiner Aesthetik. Gemeint ist Ludolf Wienbarg (Pseudonym Freimund L. Vineta, 1802–1872),56 Publizist, Reiseschriftsteller und Redakteur. Er studiert Theologie in Kiel, Philologie in Bonn, promoviert in Marburg über Platons Dialoge, zeigt sich also als hoffnungsfroher junger Gelehrter, der aber – auch – an den Wirren der 1830er und 40er Jahre zugrunde geht. Im Jahr 1830 lernt er sein großes Vorbild Heinrich Heine kennen. Wienbarg deutet Heines Forderung nach einer „Poesie des Lebens“ zu einer vollständigen Verbindung von Kunst und Leben um; er will eine eigene „Wirkungsästhetik“57 entfalten. Mit seinen Ästhetischen Feldzügen (1834) hebt er im Jahr 1834 das „Junge Deutschland“ aus der Taufe; ein Jahr später trifft auch ihn das Publikationsverbot für diese radikale (literatur-)politische Bewegung. Bei den Ästhetischen Feldzügen handelt es sich um Wienbargs Kieler Vorlesungen als Privatdozent. Mit prophetischem Gestus, in bildreicher Sprache und mit einem ausdrücklich wissenschaftlichen Anspruch auf Gesetzmäßigkeit der ästhetischen und poetologischen Aussage be56 Vgl. zu Wienbarg Hülsewiesche 1992. 57 Albrecht 2001, S. 25 u. 27.
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treibt Wienbarg Ideologiebildung:58 Er zieht gegen das ‚alte Deutschland‘ zu Felde. Dabei fällt der Literatur die wichtigste Aufgabe überhaupt zu: Sie soll die fehlende politische Einheit des Landes stiften; es geht also um eine kompensatorische Form kultureller Vergemeinschaftung. Seinen Begriff von dieser Literatur entwickelt der kämpferische Jungdeutsche deshalb in einem ästhetischen ‚Zweifrontenkrieg‘, nämlich in Gegensatzpaaren: Gegen die ‚alte‘ Literatur errichtet er eine „Rhetorik der Tat“,59 die auf einem programmatischen Bruch mit der Tradition aufruht. Nur der aufklärerische Teil derselben (Lessing, Herder, Schiller, Jean Paul) soll sogleich von der neuen Literatur beerbt werden.60 Die neue Literatur – und besonders die moderne Lyrik – gilt Wienbarg aber nicht nur als epigonale Umformung der aufklärerischen, sondern als revolutionäre und eigenständige Ausdrucksform: „Jeder große Dichter, der in unserer Zeit auftritt, wird und muß den Kampf und die Zerrüttung aussprechen, worin die Zeit, worin seine eigene Brust sich findet,“61 so lautet Wienbargs Forderung. Sie kommt jenen Ideen sehr nahe, die der junge Vischer gegenüber Uhland vertrat und die er in seiner Novelle umsetzte.62 Vischer und Wienbarg kritisieren die „glückliche Beschränktheit“ derer, die sich dem Problem der Reflexion verschließen, das die neue Zeit mit sich bringt,63 und beide sind der Auffassung, daß sich Dichter und Gedicht nicht trennen lassen, daß es in diesem Sinne keine autonome Dichtung gibt, sondern daß diese immer mit der Lebenswirklichkeit der Autoren und Leser verbunden bleibt oder besser: bleiben soll.64 Als Vorbild wählt sich Wienbarg hier weniger Heine als Goethe, und mit Goethe hält auch der Gedanke einer Weltpoesie Einzug in Wienbargs Überlegungen: Goethe und die Weltliteratur (1835) heißt der Essay, in dem Wienbarg den Goetheschen Gedanken jungdeutsch überhöht: Das Junge Deutschland unterwerfe sich – mit Lessing, Herder, Goethe und Schiller – einem „Gesetz“; es schwinge „sich auf den Standpunkt der heutigen Weltliteratur“ auf.65 Dabei bewahrt sich Wienbarg 58 Wienbarg 1964, S. 84: Es geht ihm um ästhetische Urteile, die die Gesetzmäßigkeit von Kunst und Leben abbilden und dem jeweiligen „Urtypus der Weltanschauung“ entstammen. 59 Ueding 1992. 60 Albrecht 2001, S. 24 f. 61 Wienbarg 1964, S. 175. 62 Vgl. Kapitel 1. b). 63 Wienbarg 1964, S. 174. 64 Ebd., S. 177.
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durchaus die Sensibilität für Goethes skeptische Äußerungen über die mißlichen Folgen der Weltliteratur: „halb behaglichen, halb besorglichen Blickes“ sah Goethe, so Wienbarg, ihre „Keime aufgehen.“66 Aber der Jungdeutsche streift die Skepsis des zaudernden Vorbilds als unzeitgemäß – eben als Kennzeichen des ‚alten Deutschlands‘ – ab. Goethe gilt ihm dennoch als der „geborenste Protektor der jungen Weltlitera656667 tur, wie Tieck ihr gemachtester Widersacher“ sei.67 Weil die Weltliteratur noch längst nicht durchgesetzt ist, muß sich Wienbarg mit Verheißungen begnügen, die er vor der Folie des Gegensatzes von Goethe und Tieck entwickelt. Zu diesem Zweck ersinnt er eine utopische Morphologie. Ihr Zentrum bildet „das große Goethesche Samenkorn, ausgestreut in die Literaturen des neunzehnten Jahrhunderts [...].“68 Es enthalte jenen Gedanken über die Einheit von Poesie und Leben – von Goethe angestoßen, aber noch unzureichend ausgeführt, weil ihm „die Muse nur als Begleiterin, nicht als Leiterin des Lebens erschien.“69 Mit anderen Worten: Goethe erniedrige die Poesie zur „Trivialität“.70 Den Grund dafür sucht Wienbarg – gesellschaftskritisch – in äußeren Bedingungen. Seine Diagnose lautet schlicht, daß es Goethes Zeit an großen Begebenheiten, an einer Einheit der Nation, an Tiefe, Stärke und Konsequenz im Gemüt gefehlt habe. Selbst ein ‚Genie‘ wie Goethe habe sein ‚Poesie-Problem‘ deshalb nur in der Form von Ersatzhandlungen lösen können: Goethe opferte das Himmelskind [die Göttin Poesie] als Iphigenie, als Gretchen, Klärchen, Mignon, Ottilie, ja selbst als Eleonore in ‚Tasso‘, die tiefer und tragischer leidet als ihr Dichter, weil sie still leidet. In allen diesen weiblichen Gestalten siehst du die gekreuzigte Poesie mit der Dornenkrone auf dem Haupte. Und werden deutsche Frauen darob staunen oder klagen, daß Goethe an Individuen ihres Geschlechts die Leidensgeschichte einer Gottheit figuriert? Leidet denn nicht das deutsche Weib an unsern Erbärmlichkeiten? Habt ihr niemals die leidende Poesie am Kreuz der Ehe erblickt oder hinter den grünen Myrten ihres Brautkranzes ihre Dornenkrone nicht gesehen? – Unbegreifliche Liebe, mystische Überwindung der Schmerzen, die ihr der feige Speer der Roheit bereitet, Aufopferung bis zum Tode, und ihr Ziel, Erlösung – ohne Absehen.71 65 66 67 68 69 70 71
Ebd., S. 199. Ebd. Ebd., S. 200. Ebd., S. 201. Ebd., S. 200 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., S. 204. Ebd., S. 206.
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Wienbarg zufolge kreuzige Goethe in den Figuren leidender Frauen symbolisch die Poesie. Bei aller Originalität fehlt dieser These aber jede Entsprechung in Goethes Texten; es handelt sich um eine ausgesprochen allegorische Deutung derselben. Als einsichtiger erweist sich, was der Missionar für eine jungdeutschen Ästhetik in diesem Zusammenhang über Tieck schreibt. Dieser nämlich kehre Goethe ganz und gar um. Er resigniere in Anbetracht einer kleinkrämerischen Wirklichkeit und ziehe sich ganz und gar in das luxuriöse Spiegelkabinett der Poesie zurück: „Die Poesie ist da, um sich lieben zu lassen, sie selber liebt niemand außer sich selbst.“72 Auch Wienbarg sprach also jene Polemik gegen die Romantik, gegen die „Poesie der Poesie“ Friedrich Schlegels und Tiecks aus, wie sie von Jean Paul her bekannt ist und für Fechner und Strauß dargestellt wurde.73 Wienbarg zufolge verhinderten die Selbstbespiegelungen der reflexiven Universalpoetik jene neuartige Weltpoesie, die davon frei sein soll. Er nutzt beide historischen Bezüge, denjenigen auf Goethe und denjenigen auf Tieck,74 in diesem Sinne für die Illustration seiner Hauptüberlegung: daß sich die Literatur der Klassik und Romantik bloß in einer Art Inkubationszeit befunden habe, auf die notwendigerweise und aller Widrigkeiten des Reflexionsdenkens zum Trotz das ersehnte Zeitalter der Weltpoesie folgen müsse. Um diese Überlegung vom Verdacht der bloßen Prophetie freizuhalten, sucht er nach Indizien für dieses neue Reich der Weltpoesie: Vorbildliches findet er in Frankreich, in den Schriften Madame de Staëls, aber auch in England, bei Byron, der damit zum genialischen Vorkämpfer liberaler Ideale wird. Schaut Wienbarg aber nach Deutschland, so erscheint es ihm als museal und öde, als viel zu selbstreflexiv, als zu lebensfern und moralisch.75 Aber aus seiner Sicht steht zu hoffen, das sich dies durch das Streben nach Weltpoesie ändern werde. Weltpoesie als Antidoton gegen Reflexion – so lautet seine poetologische Zauberformel: Eine gewisse Auslebung im Positiven, Historischen, bei Erweiterung des nationalen Gesichtskreises und Würdigung des Allgemein-Menschlichen, das 72 Ebd., S. 202. 73 Vgl. Kapitel III. 2. dieser Untersuchung. 74 Es verwundert, daß Wienbargs Polemik gegen Tieck im Zusammenhang mit seinen weltpoetischen Prophetien steht, übersetzte Tieck doch den „Don Quichote“ des Cervantes und zahlreiche englische Theaterstücke. Allerdings zählte Tieck auf dem Schlachtfeld der Theorie in der Tat zu den Gegnern der Weltliteratur. 75 Wienbarg 1964, S. 211: „Der Deutsche schöpfte aus den heiligen Bächen aller Nationalpoesie mit der kristallnen Opferschale der Humanität.“
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gemeinsame Bestrebungen der Völker wünschenswert macht, das sind wohl die wesentlichen Grundzüge der modernen Völkerstimmung, aus denen die Völkerliteratur emporblühen wird. Und darin sehe ich ihren Zusammenhang mit der deutschen Literatur als einen nationalen Typus, der sich in ihnen wiederholt, nach Unterschied der Zeiten und Nationen.76
Wienbarg nimmt eine „neue Völkerstimmung“ wahr, die die einzelnen Völker zu sich, zur eigenen Geschichte, vor allem aber zum „AllgemeinMenschlichen“ und damit zueinander finden lasse. Durch diesen „stets wachsenden brüderlichen Bund der Völker“ gehen auch die „Literaturen des Erdbodens“ die erwünschten „Wechselwirkungen“ ein, um die ersehnte Weltpoesie zu erzeugen.77 Mit dem Goethe der weltpoetischen Phase begreift Wienbarg Weltliteratur demnach als einen doppelten Prozeß: als ein Zusammenwachsen der Völker und Literaturen. Allerdings steht die Literaturentwicklung dem Prozeß zwischen den Völkern nach, mehr noch: Sie ist von ihm abhängig und greift selbst nicht steuernd ein. Von der Emphase für eine anti-reflexive Weltpoesie bleibt nur die Hoffnung auf den Vereinigungswillen der Völker übrig. Hier reflektiert bloß die Reflexion die Reflexion, und zwar die eigene, die nationale Reflexion über Literatur. Kritik ersetzt den Neuentwurf; Wienbargs utopische Hoffnung richtet sich im besten Falle auf die Säulenheiligen für eine liberale Literatur: auf Heine, auf Byron und auf Madame de Staël. Während sich Wienbarg noch auf Programmatisches konzentriert, erfährt die Rezeption des Fremden durch die Emigranten neue Impulse, die Deutschland in den 1840er Jahren verlassen (müssen), die sich also notwendigerweise mit dem kulturellen Leben anderer Länder befassen. Blickt man in die Lyrik-Anthologien, die sie zusammenstellen, dann fällt allerdings auf, daß sie der Programmatik nur wenig Raum lassen und sich auf die Wahrnehmung des Einzeltexts beschränken. Erst die Weltliteratur-Anthologien vom Typus des vielfach aufgelegten Bildersaals der Weltliteratur (1848, 2 1869, 3 1885) von Johannes Scherr beziehen sich wieder auf die Weltpoesie-Debatte, nämlich auf Goethe78 und auf Rückert:79 76 Ebd., S. 213. 77 Ebd., S. 214. 78 Birgit Bödeker spricht in diesem Sinne vom „Scherr-Typus“ der Weltliteratur-Anthologien. Es handelt sich bei Scherrs Sammlung um die erste Anthologie, die sich programmatisch und praktisch auf Weltliteratur konzentriert; Eßmann 1996 a, S. XIII. 79 Wenn Scherr arabische Texte in seine Anthologie aufnimmt, zitiert er übrigens nach den Rückert-Übersetzungen. Eine kritische Würdigung der Übersetzungsleistung Rückerts legte Peter Bachmann vor; ders. 1995.
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Mag euch die schmeichelnde Gewöhnung Befremden auch mit fremder Tönung, Daß ihr begreift: Weltpoesie Allein ist Weltversöhnung!80
Mit Blick auf Rückert will Scherr ein „‚Weltkonzert‘ der Poesie“ anstimmen, „in dessen Universalsymphonie die dichterischen Stimmenund Instrumentalklänge der verschiedenen Zeiten und Völker dereinst zusammenfließen könnten und sollten.“81 Es geht ihm darum, die „kosmopolitische Idee“ in der Nachfolge des Idealismus und der deutschen Klassik zum Klingen bringen.82 Er legitimiert seine Anthologie aus einem Besser-Verstehen des weltpoetischen Erbes. Jungdeutsche Poetiken der Weltpoesie wie diejenige Wienbargs kommen in Scherrs Überlegungen nicht mehr vor; poetologische Reflexionen reduziert er auf Phrasenhaftes, was sie für eine massenhafte Aufnahme geeignet werden läßt: Scherrs gezähmtes weltpoetisches Unterfangen wird populär. Weltpoetische Liederbücher, Sammlungen von Versen, Aphorismen usw. entdecken dasselbe weltpoetische Erbe, deuten es – anders als Wienbarg – aber als Ausdruck für die Universalität des deutschen Geistes.83 Im mittleren 19. Jahrhunderts setzt sich der Kampf um die rechtmäßige Interpretation des Begriffs der Weltpoesie fort. Er wird von zwei durchaus heterogenen Parteien ausgefochten, die – mit Hoffmann von Fallersleben – entweder einem post-idealistischen und klassizistischen oder einem nationalen Lager angehören, das die Idee der Weltpoesie weitgehend ablehnt. Dabei doppelt sich das Verständnis der Weltpoesie in beiden Parteiungen: Scherr beispielsweise will seinen Bildersaal als eine „umfassende Geschichte der Poesie in Beispielen“ verstanden wissen,84 als eine Geschichte also, die sich aus einzelnen und aussagekräftigen – kanonischen – Texten zusammensetzt. Erst aus diesen Texten soll sich – mit Fechner zu sprechen – ‚von unten‘ auf einen „literaturgeschichtlichen Prozeß bei den einzelnen Völkern“ schließen lassen, 80 Rückert, zit. n. Scherr 1869, Titelblatt, unpag. [B. 1]. 81 Scherr: Zum Eingang, in: ders. 1869, S. [5]–8, hier S. [5]. 82 Ziel des Buchs sei es, „nach Kräften der hochedeln, deutsch-klassischen Idee der Weltbürgerlichkeit dienen. Es hat demnach neben seiner literarisch-lehrhaften auch eine kulturhistorische, ja geradezu sittlich-politische Tendenz.“ Ebd. 83 Daumer 1855, S. [I]. Nach Daumer geht es um ein „nationale[s], d. h. der Universalität des deutschen Geistes und Geschmackes entsprechendes Werk.“ Vgl. auch Andechs 1860. 84 Scherr 1869, S. [5] [Hervorhebungen im Original].
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um die „Eigenart der einzelnen Dichter“ mit Blick auf weltpoetische Bewegungen zu deuten.85 Durch dieses doppelt angelegte Verständnis von Weltpoesie nähert sich das idealistische Lager strukturell seinen Gegnern an, schließt nunmehr aus der Empirie, aus der Erfahrung mit dem Text auf seinen Gegenstand. Während man die Nationalisierung der „Weltpoesie“-Idee gewöhnlich am Beginn des Wilhelmischen Zeitalters gekommen sah,86 verlegt diese Darstellung der Weltpoesie-Bewegung ihre Nationalisierung in die Idee selbst hinein. Fremdreflexion erweist sich immer auch als Selbstreflexion, und zwar als mehr oder minder nationale. „Weltpoesie“ bleibt im emphatischen Sinne Theorie – utopische Vorstellung. Erst seit den späten 1840er Jahren finden weltpoetische Bestrebungen ihre ‚empirische‘ Fortsetzung in Anthologien, die sammeln, was die Literaturen des Erdballs zu bieten haben. In Anbetracht der Text- und Gedanken-Fülle stellen sie aber bloß Kanones nationaler Literaturen zusammen. Auch ihre Reflexion über ein Gemeinsames bezieht sich dabei nurmehr auf sich selbst – auf das emphatische weltpoetische Postulat, eine gemeinsame Literatur zu begründen.
b) Ablehnende und gemäßigte Vorstellungen: Theodor Mundts Begriff der „Unmittelbarkeit“ (1845), Georg Brandes’ vergleichende Literaturbetrachtung (1872) und Berthold Auerbachs vermittelnde Lösung (1881) In der Weltpoesie suchen Autoren wie Wienbarg Lebensnähe, verbunden mit politischen und sozialen Reflexionen. Theodor Mundt (1808–1861) setzt in diesem Sinne auf den Begriff der „Unmittelbarkeit“ und stellt heraus, was er – auch mit Blick auf Wienbarg – als Widerspruch begreift. Sein Mißtrauen gegenüber einer abstrakten „Weltpoesie“ rührt aus einer ästhetischen Systematik, die sich entschlossen gegen Reflexionen im allgemeinen, gegen weltpoetische Reflexionen im besonderen wendet, die die Suche nach „Unmittelbarkeit“ an die Spitze ihrer Wertordnung stellt. Während Wienbarg für eine utopische Verschmelzung der Poesien wirbt, äußert sich Mundt nur wenige Jahre später – genauer: zur Zeit seiner Ernennung zum Privadozenten für
85 Ebd. 86 Schröder 1979, S. 106–131; differenzierter die Beiträge in Eßmann u. Schöning 1996.
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neuere deutsche Literaturgeschichte und Ästhetik in Berlin (1842)87 – ausgesprochen skeptisch darüber. Der Gedanke der Weltliteratur, der besonders durch Goethe eine Zeitlang aufgekommen und mit Vorliebe gepflegt worden war, ist mehr ein schönes Wort und ein großartiger Traum als ein wahrer Gedanke [...]. In unserer Zeit ist es mehr die Aufgabe, das Nationalliterarische herauszufördern.88
Mundt gebraucht den gleichen Begriff wie später Hoffmann von Fallersleben. Weltliteratur ist danach nur ein „Traum“, ein großartiger zwar, aber dennoch nichts, was Aussicht auf Erfolg und Umsetzung haben könnte. Diese Überzeugung läßt sich – erstens – hinsichtlich von Mundts Beschäftigung mit Literatur, zweitens aus seiner starken und metaphysisch abgesicherten Vorstellung von „Unmittelbarkeit“ erklären. In seiner Geschichte der Literatur der Gegenwart (1842) begründet Mundt diese Überzeugung: Der neue Aufschwung der englischen Literatur gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts begann, wie in allen neueren Literaturen, mit einem Hinstreben auf das Romantische, und zwar hier durchaus unabhängig von dem Einfuss fremder Poesie, sondern unmittelbar aus selbsteigener Entwicklung heraus.89
Für Mundt bewirkt eben nicht fremder Einfluß, sondern die Eigendynamik der Nationalliteraturen ihren jüngsten „Aufschwung“. Dieser entstamme einer Bewegung, die Jungdeutsche wie Wienbarg oder Strauß gerade nicht für besonders fortschrittlich gehalten hätten, nämlich der Romantik. Mundts These paßt zu ihrem Publikationsort. Denn mit seiner Geschichte der Literatur der Gegenwart setzt er Friedrich Schlegels Geschichte der alten und neuen Literatur fort – im Sinne der jungdeutschen Mission. Vor diesem Hintergrund ernennt Mundt Schlegel zum Ahnherren der neuen Dichtungsauffassungen.90 Mundt zufolge begründete er einen „neuen Realismus“ idealischen Ursprungs:91 Eine neue „Lebenspoesie“ sollte Reales und Ideales versöh87 Damit zählt Mundt zu den ersten Universitätsgermanisten überhaupt; Meves 1999, S. 101. 88 Mundt 1842, S. 431 f.; Koppen 1984, S. 821. 89 Mundt 1842, S. 409; Koppen 1984, S. 431 f. 90 Mundt 1842, S. 41 f.: „Wäre er [Friedrich Schlegel] immer in dieser freien Geistesrichung verharrt und vorgeschritten, so würde er die neue Wendung der deutschen Literatur, welche er begründen half, zu weit höherem Ziele hinausgeführt haben [...].“ 91 Ebd.
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nen, „das ganze Dasein [...] durchdringen und befruchten“,92 um den „Grundkeim der modernen Völkerentwickelung“ auszubringen.93 Bezieht sich Wienbarg für seine Behauptung einer Einheit von Literatur und Leben auf Heine, so greift Mundt erstaunlicherweise auf Schlegels Vorstellungen von einer universalreflexiven Poesie zurück.94 Mundt verkürzt diese aber auf eine progressive und nationale Versöhnungspoetik, und zwar mit polemischen Ziel: Die Poesie-Auffassung Schlegels richtet er gegen die Begriffsklauberei und gegen die Wissenschafsgläubigkeit Hegels bzw. der Hegel-Schule. Von ‚Reflexion‘ bleibt dabei nichts übrig. Mundts einseitige Darstellung darf sich deshalb Vischers spöttischer und wohlformulierter Polemik gewiß sein.95 Denn in seiner Aesthetik. Die Idee der Schönheit und des Kunstwerks im Lichte unserer Zeit (1845) kappt Mundt Hegels Skizze über das Problem der Reflexionskunst, um – einerseits mit, andererseits gegen Hegel – für eine lebensnahe Poesie ‚Schlegelscher‘ Provenienz zu argumentieren.96 Danach sollen Wissenschaft und Kunst ganz im Leben aufgehen, um – nach einer ebenso prototypisch-romantischen wie utopischen Vorstellung – ein ideales „neues Hellenenthum [...] des Geistes“ hervorzubringen.97 Ein solches Hellenentum, das jeden Menschen als Künstler ernstnehmen soll,98 erblickt die beste und vitalste Literatur in der Volkspoesie.99 92 Ebd. 93 Ebd., S. 41. 94 Der Forschung ist der Schlegel-Bezug Mundts zwar nicht entgangen, sie wandte ihn bisher aber ausschließlich auf seine Literaturgeschichte und nicht auf seine Ästhetik an. 95 Vischer 1922/1923, I, § 69, S. 187: „Voll von Klagen über das Tötende des Begriffs ist die Ästhetik von Theodor Mundt. [...] In Wahrheit ist vielmehr nichts lebendiger und Leben bringender als der Gedanke. Je weniger er zunächst das Unmittelbare schont, je mehr er es ‚zerfrißt und verzehrt‘, um so sicherer wird er, ohne sein absichtliches Zutun, nachdem er sich in das Bewußtsein der Zeit eingearbeitet hat [...]. In diesem Buche, das von allen Entdeckungen der neueren Wissenschaft mit affektierter Phrasenfülle leicht den Schaum abschöpft, um bei der oberflächlichen Bildung die reine Arbeit in den Tiefen des Gedankens anzuschwärzen, herrscht die trübste Konfusion über die Begriffe des Unmittelbaren und Vermittelten.“ 96 Es verwundert deshalb nicht, daß es der Mundtschen „Aesthetik“ an „Hierarchisierungen von Merkmalskomplexen“ fehlt; Titzmann 1978, S. 52. 97 Mundt 1842, S. 4. 98 Ebd., S. 35: „Wie ieder Mensch auch physisch eine Schönheitslinie [à la William Hogarth] in sich trägt, so hat er auch geistig Antheil an der Kunst, der mehr oder weniger in ihm erregt und zu einer wesentlichen Betheiligung ausgebildet werden kann.“ 99 Ebd., S. 335: „Volkspoesie“ trage „an sich schon häufig den Keim der Opposition in sich, denn des Volkes Stimme ist eben darum Gottes Stimme, weil vor der gesunden
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Sie bürgt für „Opposition“ und damit dafür, daß „Unmittelbarkeit“, d.i. das Ideal der Schönheit,100 als utopisches Potential freigesetzt werde.101 Eine solche Poesie-Vorstellung erkennt der Weltpoesie keinen Platz zu, sondern befürwortet allein die ‚unmittelbare Unmittelbarkeit‘ der eigenen Nationalliteratur, genauer: der Volkspoesie. Alles andere hemmte den schönen Ausdruck des Ideals der Unmittelbarkeit. Im Falle Mundts führt ein verkürztes Romantik-Verständnis zu den nationalen Ideen des 19. Jahrhunderts. Zum Vergleich dient mir – erstens – das Ideal naiven Dichtens, das Uhland und Vischer formulierten. Mundts Begriff der „Unmittelbarkeit“ teilt mit diesem nach-hegelschem Ideal immerhin die Zielrichtung: Reflexion und Reflexivität sollen verringert werden. Wenn Uhland und Vischer den Ort ‚wahrer Naivität‘ aber – mit Hegel – in der Vergangenheit oder in den Empfindungen des ‚ganzen Menschen‘ vermuten, dann verlegt ihn Mundt – mit Schlegel – in die Zukunft. Mundt glaubt an ein Hellenentum, das aus einer solchen „Unmittelbarkeit“ entstehen wird. Uhland und Vischer hingegen versuchen, reflexiv zu retten oder wiederzubeleben, was der Vergangenheit angehört. Mundt verkündet ein kommendes Ideal; Uhland und Vischer trauern um ein verlorenes. Doch auch mit Schlegel teilt Mundts – zweitens – nicht mehr als die Ausrichtung auf Zukünftiges: Schlegel nimmt die eigenen Forderungen ironisch und selbstreflexiv zurück; Mundt meint es mit dem ‚kommenden Reich‘ – wie Wienbarg – ernst. Anders als Wienbarg richtet er sein utopisches Vorhaben aber gegen die „Weltliteratur“. Mit Mundts Aesthetik beginnt eine Entwicklung, die sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf die Nation als Zentrum von Literatur konzentriert und ihren Ausdruck in Hoffmann von Fallerslebens und durchdringenden Anschauung des Volkes, in der das Recht und die Freiheit schon wie ein Naturinstinct leben, keine Schlechtigkeit bestehen kann.“ 100 Mundt versteht das Schöne als den „Idealismus der Unmittelbarkeit“ (ebd., S.57) und faßt Unmittelbarkeit deshalb als „Ideal“ der Schönheit auf (ebd., S. 75 f.). Sie überwindet dieses Ideal, indem sie es in Form und Farbe darbietet, indem sie materieller Ausdruck ihres Ideals wird. – Neben dem Begriff des Ideals gebraucht Wienbarg auch den quasi-hellenistischen der „Gottheit“: „[...] die Unmittelbarkeit ist in der That die Gottheit selbst [...]“ (ebd., S. 64). Schönes sei insofern göttlich; ebd., S. 73. 101 Deshalb sei es die Aufgabe der Ästhetik, das „Bild einer höhere[n] Wirklichkeit“ zu entfalten, das „dieser endlichen schlechten Wirklichkeit mahnend gegenübersteht“ und der „immanente[n] Weltsicht“ Bilder einer besseren Wirklichkeit vorführt. – Unter „immanente[r] Weltsicht“ versteht Mundt Weltzugewandtheit. Er setzte den Begriff polemisch gegen diejenige Weltsicht ab, die er als christlich und bloß dem Jenseits zugewandt beschreibt; ebd.
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Gedicht findet. Hier schränken Jungdeutsche und Sympathisanten der Weltpoesie Welt auf die eigene Nation ein. Wenige Literaturhistoriker lassen dabei so viel Umsicht walten wie Georg Brandes, der liberale dänische Nietzsche-Übersetzer. Er plädiert nicht länger für eine idealistische Weltpoesie, sondern für eine literaturwissenschaftliche Methode, für den Literaturvergleich. In vier Bänden über Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (dt. 1872) führt er vor, was er damit meint. Bei den Hauptströmungen handelt es sich um Vorlesungen an der Kopenhagener Universität, die Brandes’ ‚Mitbewohner‘, der radikal-liberale Dichter, Biograph Heines, Redakteur, Übersetzer und Anthologist Adolf Strodtmann (1829–1879),102 ins Deutsche übertrug. Wie Mundt in seiner Geschichte der Literatur der Gegenwart hat Brandes einen literarischen Wandel vor Augen, nämlich die Ablösung von den Normpoetiken und den normierten Literaturen des 18. Jahrhunderts. Wie Mundt ist er der – historisch fragwürdigen – Auffassung, daß diese erst durch die romantischen Bewegungen des frühen 19. Jahrhunderts bewerkstelligt werde.103 Aber er versteht und erklärt diese Ablösung anders als der deutsche Kollege: Dies historische Ereignis [die Ablösung von der Normpoetik] ist seinem Wesen nach europäisch und läßt sich nur mittels einer vergleichenden Literaturbetrachtung verstehen. Eine solche will ich daher versuchen, indem ich mich bestrebe, gleichzeitig gewisse Hauptbewegungen in der deutschen, französischen und englischen Literatur zu verfolgen, welche in diesem Zeitraum die wichtigsten sind. Die vergleichende Literaturbetrachtung hat die doppelte Eigenschaft, uns das Fremde solchergestalt zu nähern, daß wir es uns aneignen können, und uns von dem Eigenen solchergestalt zu entfernen, daß wir es zu überschauen vermögen.104
Im Unterschied zu Mundt faßt Brandes den literarischen Epochenwandel als ein europäisches Ereignis auf, das sich im Muster des Literaturvergleichs erklären lassen soll. Dabei will Brandes aber weniger den wechselseitigen Einflüssen unter den Nationalliteraturen nachspüren als Parallelen zwischen den Nationalliteraturen ermitteln.105 102 Zu Strodtmann Hulpke 1994; über Brandes vgl. auch Schröder 1979, S. 141 f. 103 Für die deutsche Lyrik-Geschichte ist es Konsens, daß die Normpoetik der Frühneuzeit bereits von Bodmer und Breitinger angegriffen, durch den Sturm und Drang (und seinen ‚Vorläufer‘ Klopstock) aber endgültig abgelöst wird; siehe nur Kaiser 1996, I; Kemper 1987 ff., IX–XI. 104 Brandes 1872, I, S. 1. – Dieser erste Band ist übrigens Paul Heyse gewidmet. 105 Ebd., S. 28.
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Eine dieser Parallelen findet Brandes im poetologischen Gedicht; gerade an ihm liest er ab, wie sich das 19. vom 18. Jahrhundert abgrenzt. Seine Helden heißen John Keats und Victor Hugo. Beide, so seine These, verabschiedeten sich entschlossen vom „Autoritätsprincip“ des 18. Jahrhunderts:106 Am Beginn des 19. Jahrhunderts setze die poetologische Lyrik Mitteleuropas plötzlich authentische Reflexion über Poesie frei und beende die mißliebige Normpoetik. Über dieses ‚eruptive‘ Modell für Literaturgeschichte hinaus, das Brandes mit poetologischer Lyrik verbindet, interessieren seine Hauptströmungen als Fälle für eine vergleichende Literaturreflexion, die sich aus einer liberalen Rezeption des „Weltliteratur“-Postulats entwickelt. Dabei befindet sich Brandes in bester deutscher Gesellschaft, nämlich in derjenigen der ‚Komparatisten‘ des Wilhelmischen Zeitalters (Hugo Meltzl von Lomnitz, Max Koch, Wilhelm Wetz, Louis-Paul Betz),107 in derjenigen seines ‚Mitbewohners‘ Strodtmann, der sich der Literaturen Europas und Amerikas als Übersetzer annimmt, und in derjenigen des Magazins für die Literatur des Auslandes (1832–1915),108 das seit seiner Begründung als die wesentliche deutsche Gazette für die Literaturen anderer Weltgegenden gilt. Im Jahr 1881 feiert das Magazin sein 50jähriges Jubiläum, und zwar mit einem mahnenden Artikel von Berthold Auerbach. Sein Titel ist „Weltliteratur und Humanität“. Er schließt an die Prinzipien des Magazins an: daß das Magazin – erstens – keiner Partei diene und daß es – zweitens – nur zu dem Zweck gegründet worden sei, „alle bedeutenden Erscheinungen und Strömungen aller Literaturen mit Verständnis“ zu verfolgen.109 Auerbach erinnert an die programmatischen Wurzeln des Periodicums: an „Humanität“ und „Weltliteratur“. Er bemüht sich, diese der literarischen Gegenwart anzupassen. „Humanität“ führt er auf Lessing und Herder, „Weltliteratur“ auf Goethe zurück, um eine erschreckende Bilanz zu ziehen: Von Humanität sei heute keine Spur mehr; „die sogenannten Starkgeister“ hätten die Humanität als sentimentale, süßliche und weichliche Vorstellung in Verruf gebracht.110 Er 106 Ebd. 107 Siehe Schröder 1979; Dainat 1995. 108 Über das „Magazin“ siehe aber auch schon die Kurzcharakteristik in Schlawe 1965, Teil I, S. 22–24; für die britische Literatur stammt eine erste gründliche Arbeit dazu von Schmid (2000). 109 Die Redaktion des „Magazin“: Das Magazin, in: Magazin 99 (1881), S. 1. 110 Berthold Auerbach: Zum fünfzigjährigen Jubiläum des „Magazin“. Weltliteratur und Humanität [1880], in: Magazin 99 (1881), S. 1 f., hier S. 1; Schröder weist bereits auf den Auerbach-Beitrag hin; dies. 1979, S. 112.
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meint damit – wissenschaftlich – die materialistische Philosophie und Evolutionstheorie sowie – politisch – die „Machtfrage“ bzw. die „Realpolitik“ Bismarcks, kurz: das Wiedererstarken der „alte[] Napoleonischen Verachtung der Ideologie“.111 Demgegenüber erscheint „Humanität“ Auerbach nach wie vor als „positive“ und „produktive Kraft“, als „Grundstoff[]“ menschlichen Zusammenlebens.112 Er faßt sie als „Fähigkeit“ auf, „sich in andere Daseinsbedingungen“ hineinzuversetzen; „Weltliteratur“ sei ihre Ausdrucksform: Wenn man das Wort Weltliteratur wieder flüssig macht, so heisst es: in allen freien Gebilden durch das Wort kommt das allgemein Menschliche, das Humane zum Ausdruck. Die national und geschichtlich bedingte Erscheinungsform ist notwendig, aber wie an einem gemalten Bilde in jeder Gewandung die Grundformen des menschlichen Körpers, so erscheinen in jedem durch das Wort sich darstellenden Werke die Grundlinien der allgemeinen humanen Psyche.113
In der Weltliteratur drückt sich das Allgemeinmenschliche aus, und zwar umso besser und deutlicher, je freier ihre Bestandteile sind. Je mehr „Mannigfaltigkeit der Geisteserscheinung“, desto schöner der „Zusammenklang der verschiedenen Töne zur Weltharmonie“.114 Auerbach führt damit einen sehr komplexen Begriff von Weltliteratur ein, der sich an ganz verschiedene Parteiungen der Weltliteratur-Debatte im 19. Jahrhundert anlehnt: Das Bild vom „Zusammenklang“ der „Töne“ erinnert an Scherrs ‚Universalsymphonie‘. Demengegenüber ist die Betonung des Nationalen der zeitgenössischen Gegenwart der 1870er und 1880er Jahre geschuldet. Hier verträgt sich Auerbach mit Hoffmann von Fallersleben: Beide plädieren für eine Vielfalt der Literaturen – mit dem Unterschied, daß Auerbach nach einem Gemeinsamen in dieser Vielfalt sucht und daß Hoffmann von Fallersleben den Sinn dieser Suche bestreitet. Auerbach entwickelt einen ebenso realistischen wie neuhumanistischen Begriff von Weltliteratur, der ganz wesentlich auf das Beispiel jener Zeitschrift blickt, für die er schreibt: Das Magazin befördert Vielfalt und bemüht sich um das Fremde, um – so zumindest die Programmatik – nach dessen allgemeinen, nämlich humanen Eigenschaften zu fahnden. Hier setzt Auerbachs Begriff der Weltliteratur an. Weltlitera111 112 113 114
Auerbach: Zum fünfzigjährigen Jubiläum (wie Anm. IV., 110), S. 2. Ebd. Ebd. Ebd.
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tur klingt danach aber bereits aus jedem Wort, weil der literarische Ausdruck an und für sich bereits human ist. Der Rest, das Nationale und historisch Besondere, ist Form. Mit dieser Überlegung kommt Auerbach Herders utopischem Literaturbegriff sehr nahe. Auch er ging von einem abstrakten Kontinuum der Humanität aus, das sich bloß seine jeweils besonderen Ausdrucksformen sucht. Der Poetiker der Weltpoesie muß im Prinzip nicht mehr reflektieren: Im Abstrakt-Humanen findet er immer schon vor, was er sucht. Bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts entfalten sich die Poetiken der Weltpoesie zwischen geschichtsphilosophischem Entwurf, utopischer Prophetie, ironischer Zurückhaltung, vergleichendem Vorhaben, Ablehnung und Rettungsversuch. Dabei treffen sich die beiden großen Positionen, das Verständnis von Weltliteratur als Prozeß und der Blick auf die nationalen Literaturkanones, in mehreren Hinsichten: Sie gehen von der Kritik an der reflexiven Universalpoetik Schlegels (und Tiecks) aus und wollen sich selbst in einem Fremden ‚erschauen‘, das ihnen unbekannt ist. Ihr Ausgangspunkt ist im Prinzip national; sie blicken auf die Poesien des Volks bzw. der Völker und deuten Literaturgeschichte(n) tendenziös. Das gilt selbst für einen verhältnismäßig nüchternen Komparatisten wie Brandes: Er unterlegt der poetologischen Lyrik des beginnenden 19. Jahrhunderts eine kulturpolitische Bedeutung von enormer Tragweite. Im Ergebnis scheint es, als sei sie für große Umwälzung in der Poetik, im Literaturbetrieb und in den Literaturen der (mitteleuropäischen) Welt verantwortlich. Blickt man aber von der weltliterarischen Programmatik auf die Praktiken der wechselseitigen literarischen Rezeption, dann bleibt von einem abstrakten und immer schon vorausgesetzten Humanitäts-Verständnis ebensowenig übrig wie von utopischen weltpoetischen Vorstellungen. Scherrs phrasenhafte Einleitung für seinen Bildersaal ist symptomatisch dafür: Man bemüht sich, die weltliterarische Vielfalt unter einem weitgespannten poetologischen Dach zu versammeln, das sich unabhängig von der Arbeit an den Einzeltexten nurmehr selbst tragen muß. Eröffnet die Debatte über die Poetik der Weltpoesie auch nur in geringem Maße Verständnis für fremde Texte und Kulturen, so stellt sie die wechselseitige Literatur-Rezeption doch immerhin auf eine breite Text-Basis. Der Blick auf die Rezeptionen poetologischer Lyrik erlaubt es, genau dort anzusetzen. Hier verständigen sich fremde Poesien über einander, und diese Verständigung beginnt bereits mit der Wahl von Wort, Vers und Strophe. Dabei geht es weniger darum, eine gemeinsame utopische
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Weltpoesie im Sinne von Wienbarg zu gestalten. Vielmehr fragt sich, wie sich eine Literatur überhaupt in die andere übersetzen läßt und welche Texte es lohnten, den Versuch einer Übertragung zu wagen.
2. Britische und deutsche Lyrik: Metaphysik-Kritik, unpolitische Rezeption und Trivialisierung der Übersetzungspoetik Das Wissen über diese Rezeptionen ‚ausländischer‘ Lyrik ist zwar nicht verlorengegangen, aber es ist schwer erschließbar, gehört es doch weniger zum ‚Höhenkamm‘ von Lyrik-, Poetik- oder Ästhetik-Geschichte, sondern zu dem, was man gemeinhin als ‚Trivialkultur‘ bezeichnet. Es umfaßt notwendigerweise eine Fülle von Materialien: Rezensionen, Übersetzungen, Nachdichtungen usw. Diese Umstände werden, sofern der wechselseitige Austausch von britischer und deutscher Lyrik betroffen ist, zwar spätestens seit Lawrence Marsden Prices Standardwerk English Literature in Germany (1953) mitbedacht,115 aber es fehlt noch immer am Grundsätzlichen, an verläßlichen bibliographischen Hilfen: sowohl für deutsche Rezeptionen von britischer Lyrik als auch für den umgekehrten Fall,116 für britische Übertragungen deutscher Dichtungen.117 Gleichwohl kommt seit einigen Jahren Bewegung in die Rezeptionsforschung, die sich mit Lyrik und Poetik befaßt.118 Es liegt an der Vielschichtigkeit ihrer Gegenstände, daß vorerst Einzel- und Detailstudien das Feld beherrschen:119 einerseits – unterstützt durch 115 Für die deutsche Rezeption englischer Literatur knüpft Horst Oppel (1971) daran an, für die englische Wahrnehmung deutscher Literatur siehe Stokoe 1971. 116 Vgl. die knappe Auswahl von France 2000. 117 Eine derartige Bibliographie liegt nicht vor. Auf diesem Gebiet besteht auch insgesamt erheblicher Forschungsbedarf. 118 Siehe Bachleitner 2000; Esterhammer 2002. Um erste Anfänge bemühte sich auch das Projekt „The Reception of British Authors in Europe“, das von Elinor Shaffer verantwortet wird und an der School of Advanced Study (University of London) angesiedelt ist. – Allein durch die Serie „The Critical Heritage“ (Routledge & Kegan Paul), die Rezensionen usw. verzeichnet, kennt Großbritannien eine instituionalisierte Rezeptionsforschung. Für bestimmte Autoren, beispielsweise für Keats, empfehlen sich heute eine Fülle von Studien über die britische Rezeption; vgl. nur die Untersuchungen von Levinson 1991; Codell 1995; Simonis 1995; Montluzin 1998; Robinson 1998; Bennett 1999. 119 Einen Überblick gibt Esterhammer 2002. Den stark spezialisierten komparatistischen Studien wird einmal mehr zum Problem, was Heinz Schlaffer für die deutsche
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den gegenwärtigen Tagungsbetrieb – heterogene, hochspezialisierte und kurze Übersichten in den Formen von Aufsatz und Sammelband, andererseits gründliche Studien am Material (wie etwa an demjenigen der Übersetzungsanthologien für lyrische Texte), das der einzelne Forscher kaum zu bewältigen im Stande wäre.120 Folgende Darstellungen können sich vor allem auf die Untersuchungen über diese Anthologien stützen. Sie verlassen sich darüber hinaus auch auf eine ‚communis opinio‘ der Forschung: auf das Ergebnis quantitativer Studien, daß deutsche Literatur in England vor allem im Ausgang des 18. Jahrhunderts wahrgenommen wurde,121 und auf die gut begründete Vermutung, daß dies vor allem mit den Aktivitäten der Weimarer Autoren um Goethe zusammenhing.122 Darüber hinaus war für britische Studenten und Gelehrte auch die Gründung der Humboldt-Universität interessant; sie wirkte auf die Institutionalisierung von Bildung in Großbritannien – beispielsweise auf die Gründung der ersten nicht-anglikanischen Universität, des University College London (1828).123 Es wurde besonders für den wechselseitigen Literatur-Austausch bedeutsam, weil zahlreiche deutsche (also nicht-anglikanische) Emigranten, politische Flüchtlinge und Touristen dort Tätigkeitsfelder finden konnten. Beispielsweise wurde Friedrich Schleiermachers Schwiegersohn Ludwig von Mühlenfels bereits im Jahr 1828 zum ersten Professor für Deutsch am
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Literaturwissenschaft feststellt; Schlaffer 2002, S.13: „Seit den sechziger Jahren sind, bedingt durch die Spezialisierung auf immer kleinere Teilbereiche, Literaturgeschichten nichts anderes als mehr oder weniger heterogene Zusammenstellungen von Beiträgen mehrerer Spezialisten [...].“ Hier führt das Projekt „Übersetzungsanthologien“ (initiiert und geleitet von Armin Paul Frank) im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs 309 „Die literarische Übersetzung“ (Georg AugustUniversität Göttingen) die Forschung an; vgl. Eßmann u. Frank 1990; Kittel 1995; Eßmann u. Schöning 1996. Stokoe 1971, S. 45. – Die größte Zahl der Rezeptionsdokumente und den regsten Austausch stellt Stokoe für das Jahr 1799 fest. Der Anwalt Henri Mackenzie leitete im Jahr 1788 mit einer Vorlesung über das deutsche Drama die Rezeption der Weimarer Klassik in England ein. Zu den Pionieren der Rezeption deutscher Literatur und Kultur gehören außerdem Thomas Carlyle, der von Bouterwek beeinflußte (nach Carlyle hinter der Zeit zurückgebliebene) Journalist William Taylor (*1765) und Henry Crabb Robinson (1775–1867), ein Freund Goethes, der versuchte, dem englischen Publikum zu erklären, daß Kotzebue, Iffland und Lafontaine nicht die Klassiker Deutschlands sind; siehe Norman 1930, S. 11 u. 25. Vgl. Harte u. North 1978, S. 67; Flood 1996, S. 385.
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„UCL“ ernannt. Das King’s College zog alsbald nach und berief den jüdischen Philologen Adolphus Bernays († 1864)124 im Jahr 1831 zum Professor für deutsche Sprache und Literatur.125 Er trat mit The German Poetical Anthology (Privatdruck 1829, 1830, 2 1831, 3 1837) hervor, die zum Standardwerk britischer Rezeption deutscher Lyrik wurde.126 Im Jahr 1863 folgte ihm der Radikal-Liberale Karl Adolph Buchheim (Pseudonym Adolf Banner, *1822) im Amt.127 Er gab wiederum eine Anthologie heraus, nämlich Deutsche Lyrik. Selected and Arranged (1875).128 Seit 1853 las auch der politische Flüchtling Gottfried Kinkel (1815–1882) am University College. Kinkel, der ehemalige akademische Lehrer Strodtmanns, ein Gegner von Marx und Engels, wurde als Lyriker bekannt.129 Während Lyrik-Produktion, Lyrik-Übersetzung und Lyrik-Anthologien Hochkonjunktur hatten und die poetologische Diskussion bestimmten, tat man sich mit der wechselseitigen Rezeption von Poetik und Ästhetik schwer: Nationale Stereotype erschwerten die Wahrnehmung der fremden Poetiken. Es erweist sich in diesem Zusammenhang schon als ein Gemeinplatz, daß die Rezeption des deutschen Idealismus in Großbritannien nur sehr schleppend von statten ging.130 In der Metaphysik sehen die Kritiker dabei – blickt man in Rezensionen von The Westminster Review (1846–1851, 1852–1887, 1887–1914)131 über die Werke August Wilhelm Schlegels,132 Hegels,133 Rötschels, Solgers und 124 Dazu Flood 1999. 125 Flood 1999, S. 105: „That he was appointed to this staunchly Anglican foundation must be a measure of the sincerity of his conversion to Christianity (though some allowances may have been made for foreign members of staff).“ 126 Ihre Gewichtung erweist sich als relativ heterogen: Je vier Gedichte von Körner und Herder bilden die Spitze; ihnen folgen je drei Platen- und Novalis-Texte. 127 Siehe Glass 1996. 128 Ihr Hauptgewicht liegt auf Schiller (16 Gedichte), Lenau (15 Gedichte), Uhland und Geibel (je 13 Gedichte); Buchheim 1875. 129 Über Kinkel in London siehe Ashton 1996. 130 Siehe Snell 1995, S. 19; kritisch dazu W. D. Shaw 1996. Wenn es Varianten des Idealismus auch in England gab, dann verstanden sie sich als Alternativen zum utilitaristischen Denken der Epoche; siehe Boucher u. Vincent 2001. 131 Sullivan (1984, S. 424–437, hier S. 427) notiert etwas überspitzt über das Journal, es sei „an organ of enlightened radical thought.“ 132 [Rez.] August Wilhelm Schlegel: (1) Essays Littéraires et Historiques. Bonn 1842, (2) Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. 1809–1811, (3) A Course of Lectures on Dramatic Art and Literature. Translated from the German by John Black. 2 1840, in: The Foreign Quarterly 32 (1843/44), Art. 8, S. 160–181, hier S. 163. Schlegels Philosophie gilt als ein „modern criticism, which styles itself philosophic“.
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Fichtes – schon das Kennzeichen eines deutschen Nationalcharakters.134 Erst Schriftsteller wie Samuel Taylor Coleridge und George Eliot näherten sich dem deutschen Idealismus in konstruktiver Absicht.135 Umgekehrtes galt für die deutsche Rezeption: Hier tadelten Rezensenten – nicht minder stereotyp – die britische Neigung zur Empirie und zum ‚common sense‘.136 Fand man auf den Gebieten der Poetik und Ästhetik schon deshalb nur schwer und in Einzelfällen zueinander, so war Annäherung mit den Mitteln der Lyrik selbst möglich. Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die poetologische Lyrik. Unbelastet von metaphysischen Vorlieben erlaubte sie es, sich über die Grundlagen von Dichten und Dichtung zu verständigen. Anschaulich, individuell und allgemein verständlich läßt sich hier erörtern, was den Dichter beim Dichten bewegt (Abschnitt a). Dieses enorme Innovations- und Kommunikationspotential, das poetologische Lyrik gerade für die internationale Verständigung über Literatur aufweist, hat die Forschung bislang übersehen. Schon in den 1830er und 1840er Jahren vermittelt vor allem Ferdinand Freiligrath (1810–1876)137 poetologische Lyrik, die sowohl in
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Ebd., S. 181 [Hervorhebungen im Original]: „We felt it our duty to protest against his being regarded as an authority; and especially to protest against the pseudo-philosophical method, which we have throughout followed his disciples in calling ‚synthetical‘. The candid reader will not misunderstand our preference of the science over the metaphysics of criticism.“ „Iconoclasm in German Philosophie“, in: The Westminster Review 59/3 (1853), Art. 3, S. 388–407, hier S. 391: „Let any impartial Englishman who has gone through an ordinary course of logic, who has studied mathematics to a degree sufficient to make him understand the method of demonstration – who has read the metaphysicians of his own country, and we will even add the leading works of Immanual Kant – let this Englishman, we say, take any one of Hegel’s so-called scientific works, and honestly ask himself, whether this is the style in which a work intended to convey instruction ought to be written.“ Der deutsche Nationalcharakter gilt als „reflective“; The Foreign Quarterly 32 (1843/44), Art. 8 (wie Anm. IV., 132), S. 166. George Eliot [d. i. Mary Anne Evans] übersetzte Straußens „Leben Jesu“/„The Life of Jesus“ (London 1846) nach der vierten deutschen Edition und Feuerbachs „Wesen des Christentums“/„Essence of Christianity“ (1854). England. Das neue Journal: The Mind, in: Magazin 90 (1876), S. 522 f., hier S. 522; England. Einige Bemerkungen über den englischen common sense, in: Magazin 95 (1879), S, 283–287. Über Freiligath infomiert die biographische Darstellung Buchners (1882) noch immer am besten. – Um die Freiligrath-Forschung ist heute schlecht bestellt: Sie fand wesentlich im 19. oder beginnenden 20. Jahrhundert statt, und zwar vor allem als Übersetzungsforschung. Zu den Ausnahmen zählt Ernst Fleischak (1999).
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Großbritannien als auch in Deutschland jenseits nationaler Stereotype als akzeptabel gilt:138 The Foreign Quarterly Review (1827–1846) ernennt den liberalen Dichter-Anthologisten zum vorbildlichen deutschen Poeten; das Journal verteidigt ihn sogar gegen eine kritische Rezension durch die Revue des deux mondes.139 Es verwundert deshalb nicht, daß sich bald Übersetzer für Freiligraths Gedichte finden.140 In Deutschland wird – vice versa – bekannt, was Freiligrath in seinen Anthologien importiert: die Lyrik Alfred Lord Tennysons beispielsweise (Abschnitt b).141
138 Darüber hinaus spielten Lyrik-Vertonungen eine große Rolle; Chamisso, Wilhelm Müller, Hoffmann v. Fallersleben, Eichendorff und Geibel wurden in Großbritannien durch Schubert, Mendelssohn und Schumann bekannt. [Eduard Engel:] Deutschland und das Ausland. Der Einfluss deutschen Schriftenthums auf England, in: Magazin 97 (1879), S. 601–621, hier S. 605. 139 [Rez.] (1) Gedichte v. Ferdinand Freiligrath. 6. Aufl. Stuttgart u. Tübingen 1843, (2) Ein Glaubensbekenntnis. Zeitgedichte. Mayence 1844, in: The Foreign Quarterly 34 (1844/45), Art. 5, S. 352–369, hier S. 354. Ob Freiligrath nicht ein undeutscher Poet sei, fragt M. Saint-René Taillandier in der „Revue“ (4, S. 460). Die Antwort des „Foreign Quarterly“ lautet; ebd., S. 360: „A man ought not to be robbed of his rights of literary cititzenship because he sets his countrymen the first good example of departure from inveterate bad practices. We heartily wish that Germany had many Freiligraths: a little less of metaphysics, and a little more consideration given to the realities of God’s breathing world, would tend vastly to exalt the wisdom, welfare, and dignity of the Teutonic nations. We think the Germans might reach this desirable consummation without un-Germanising themselves: but perhaps the French critic is of the opinion that the character of Martin Luther’s mind was ‚assez peu Allemand.‘“ 140 Vgl. Freiligrath-Kroeker 1871. 141 Für die deutschen Leser schreibt und übersetzt ‚der ausgewanderte Dichter‘, der in einem gleichnamigen Gedicht die negativen Seiten dieser Dichterrolle erörtert: Der Sprecher stellt sich als unbehaust, als in der Fremde vereinsamt dar. Er berichtet von einer Jagd in der Wildnis (der neuen Lebenssphären) und davon, daß er einsam ein „deutsches Lied“ (von Uhland, Kerner, Körner, Schwab, Arndt und Schenkendorf) sang, „wo es noch nie erklang.“ Freiligrath 1843, S.282–297, hier S. 285. Einsamkeitstopoi und ein Lob der Heimatdichtung ex negativo – das charakterisiert ‚den ausgewanderten Dichter‘. Freiligrath zeichnet ein düsteres Bild einer sozialen Gruppe vor allem der 1840er Jahre, der er selbst aus freien Stücken angehört. Es ist deshalb kein Zufall, daß man den ‚ausgewanderten Dichter‘ immer wieder mit Freiligrath selbst identifizierte. Doch verblüfft das Bild, das der ‚ausgewanderte Dichter‘ vom Dichter zeichnet, bedenkt man die umfangreichen Übersetzungsarbeiten, die Arbeiten ‚am Fremden‘, denen sich Freiligrath widmete. Umso mehr erstaunt es, zieht man die begeisterte Freiligrath-Rezeption in England in Betracht. Aber Freiligrath beschreibt im lyrischen Text bloß idealtypisch, wie ‚der Dichter‘ in der Fremde empfindet, wenn ihm die eigene Sprache und die vertraute Umgebung abhanden kommen. „Der ausgewanderte Dichter“ ergänzt in diesem Fall nicht einfach als poetologische
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a) Ferdinand Freiligrath The Rose, Thistle and Shamrock (1853): poetologische Lyrik in der erfolgreichsten Anthologie für die deutsche Rezeption britischer Dichtung im 19. Jahrhundert Im Blick auf die Quellen für die Lyrik-Geschichte nehmen Übersetzungsanthologien (bilinguale oder „multiliterale Anthologien“)142 einen besonderen Platz ein.143 Anders als periodische Schriften konzentrieren sie sich nicht in erster Linie auf die lyrische Tagesproduktion; vielmehr versammeln sie repräsentative Gedichte – genauer: solche Gedichte, die sich unter einem bestimmten Aspekt als bedeutsam erweisen lassen, und die dem Leser einen Eindruck der ‚fremdländischen‘ Dichtung vermitteln sollen. Hier sind deutsche Übersetzungsanthologien von Interesse, sofern sie englische oder französische Lyrik enthalten. Für die Zeit von etwa 1800 bis – im weiteren Sinne – um 1900 fallen mindestens 67 Anthologien unter dieses Kriterium.144 Sie enthalten ca. 4,19 % poetologischer Lyrik. Bereits dieses quantitative Datum zeigt, daß das Vorkommen poetologischer Lyrik nicht mit dem Vorkommen von Liebeslyrik, politischer Lyrik oder Naturlyrik konkurrieren kann. Wie den deutschsprachigen Anthologien deutscher Lyrik gilt poetoloSelbstreflexion, was Freiligrath in seiner Übersetzungspraxis betreibt, sondern stellt die dunklen Seiten der Existenz im Ausland musterhaft dar. 142 Den Terminus „multiliterale Anthologie“ entlehne ich dem Projekt „Übersetzungsanthologien – Teil I: Die Etablierung von Weltliteratur: ein Paradigma deutscher Übersetzungskultur“, das im Rahmen des SFB „Die literarische Übersetzung“ stattfand; Eßmann 1996 a, S. XII. Er wird dort für solche Anthologien verwendet, in denen drei oder mehr übersetzte Literaturen vorkommen. Ich nenne allerdings auch solche Anthologien multiliteral, in denen nur zwei Sprachen (die Sprache des Originals und die Zielsprache der Übersetzung) vertreten sind. 143 Eßmann u. Frank 1990; Kittel 1995; Eßmann u. Schöning 1996; Korte, Schneider u. Lethbridge 2000. 144 Ausgewertet wurden: Andechs 1860; Anon. 1857; Arnold 1899; Beaulieu-Marconnay 1881; Bethge 1907; Binhack 1882; Breuer 1819–20; Büchner 1865; Crespigny 1844; Däubler 1917; Elze 1854 u. 1860; Fiedler 1911; Freiligrath 1853; G. Freiligrath ca. 1898; Freiligrath-Kroeker 1871; Geibel u. Leuthold 1862; Gundlach 1904; Harrys 1857; Hart 1882 u. 1885; Hatfield 1901; Henckell 1895 u. 1910; Jacobsen 1820; Jaffé 1908; Jahn 1893; Kegel 1890; Kij 1887; Laun 1869; Mehring 1888 u. 1900; Melas 1885; Menzel 1851; Meyer 1874; Milde 1884; Mohnike 1842; Nitschmann 1868; Oedheim 1887; Ploennies 1843 u. 1844; Polko 1879 u. 1895; Prinzhorn 1894; Reichenau 1885; Rudow 1891; Ruperti u. Laun 1862; Schack 1893; Schellenberg 1911; Scherr 1869; Schmidt 1851; Schönermark 1878; Schulpe 1888; Seeliger 1863; Seliger 1909; Solger 1888; Strodtmann 1862 u. 1863; Urbas 1865; Viehoff 1887; Wagner 1835; W. Wagner 1878; Wentzel 1912; Wille 1911/12; Wolff 1832 u. 1848; Zoozmann 1915.
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gische Lyrik auch den Übersetzungsanthologien nicht einmal als besonderes Genre, das einer eigenen Rubrik bedürfte – mit Ausnahme einer außergewöhnlichen Anthologie: Ferdinand Freiligraths The Rose, Thistle and Shamrock. A Selection of English Poetry, Chiefly Modern (1853), sehr frei und nur unvollständig ins Deutsche übertragen von Dr. med. H. J. D. A. Seeliger im Jahr 1863.145 Freiligraths Anthologie wurde sechsmal neu aufgelegt (2. Ed. 1857; 3. Ed. 1859; 4. Ed. 1868; 5. Ed. 1874; 6. Ed. 1887). Sie kann damit als erfolgreichste Anthologie englischer Lyrik im Deutschland des 19. Jahrhunderts gelten, und ausgerechnet diese Anthologie beginnt mit einer langen Sektion über Poesy and the Poets. Sie umfaßt insgesamt 53 Gedichte. Ihr folgen die Rubriken Home and Country mit 38, Liberty. Historical Poems mit 58, Society. Work and Progress mit 26, Changes of Life mit 19, Love and Affections mit 125 und Nature and Seasons mit 72 Gedichten. Ihrem Ort gleich zu Anfang der Anthologie nach zu urteilen, gilt die Rubrik Poesy and the Poets als die wichtigste; der Textmenge zufolge erweist sie sich als drittstärkste Abteilung der Anthologie. Durch thematische, mitunter sogar ideologische Vorgaben gliedert Freiligrath die Anthologie, weist jedem Gedicht auf diese Weise einen Ort zu. Er formuliert aber dennoch zurückhaltend: The arrangement of the book, to originality in which the Editor lays no claim, however much it may in particular features differ from similar classifications in former anthologies, rendered it impossible to assort the separate poems either with reference to their individual lyrical character or to the different periods of British literature. This however, the editor hopes, will be considered no deficiency, as the book aspires to give neither an English „Ars poetica“ nor a history of English poetry in examples. Indeed, the intermixture of varied styles and orders of poetry would seem the best means of avoiding an otherwise inevitable monotony [...].146
Gleich im Eingang der Abteilung Poesy and the Poets stehen aber drei ‚Gedichte‘ bzw. Ausschnitte aus versifizierten Dramentexten, die exemplarisch Entwicklungen poetologischen Denkens nachvollziehen. Das erste Gedicht stammt aus Shakespeares A Midsummer Night’s Dream (1595/96), das zweite aus Ben Johnsons Every man in his humour (1598), das dritte von William Wordsworth (Though the bold wings of 145 Auch Urbas (1865) und Schönermark (1878) weisen der poetologischen Lyrik eine herausgehobene Position, allerdings keine abgegrenzten eigenen Kapitel zu. Ich komme in Abschnitt 3. darauf zurück. 146 Freiligrath: Preface, in: ders. 1853, S. [V]–VI, hier S. [V].
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poesy affect, publ. 1842). Shakespeare stellt auf die Schöpfung des poetischen Genies ab.147 Demgegenüber konzentriert sich Johnson auf die Dichtung selbst; er betrachtet sie als göttliche Kunst.148 Wordsworth hingegen verbindet beide Gedanken; er erklärt die Poesie selbst zum genialischen Akteur.149 Bedenkt man diese eigenwillige Anordnung der Abteilung Poesy and the Poets, so geben diese Auffassungen – nach Freiligrath – den Takt für all das vor, was britische Poeten über die Dichtung denken und schreiben. Denn er entnimmt diesen Texten nur, was er braucht, um eine bestimmte Linie poetologischen Denkens zu belegen: Sie reicht von der Inspirationspoetik (Shakespeare) über eine göttlich legitimierte Werkpoetik (Johnson) bis hin zu einer reflexiven Poesie, die ihre Rechtfertigung nurmehr aus sich selbst schöpft (Wordsworth). Mit Hilfe poetologischer Lyrik schreibt Freiligrath eine verknappte Poetik britischer Lyrik. The Rose, Thistle and Shamrock läßt sich an dieser Stelle also doch – und ‚contra intentionem‘ – als eine ‚Ars poetica‘ englischer Poesie in Beispielen lesen. Poetologische Reflexion findet zu diesem Zweck vorerst in der Form von Auswahl und Kürzung statt. Das Ergebnis erweist sich als so idealtypisch, daß es dem deutschen Leser unmittelbar einleuchten muß. Denn Vergleichbares findet sich auch in der eigenen Poetik-Geschichte: Mag der inspirationspoetische Aspekt im deutschen Humanismus auch nur schwach ausgeprägt sein, so spielt doch Martin Opitzens Buch von der deutschen Poeterey (1624) immer wieder darauf an. Die göttlich legitimierte Werkpoetik findet in Klopstocks „Heiliger Poesie“ ihren Ausdruck; Formen reflexiver Poesie lassen sich auf Friedrich Schlegel zurückführen. Freiligraths auswählender Zugriff auf die poetologische Lyrik erlaubt es, eine – wenn auch abstrakte – Entwicklung poetologischer Denkmuster nachzuvollziehen. Poetologische Lyrik hält ausreichend viele Vorstellungen und Gedanken bereit, die dem deutschen Leser ‚die Poetik‘ der Briten nahezubringen erlauben. In diesem Fall bestimmt sich die Bedeutung eines Texts am Wiederkennungswert für den deutschen Leser. Dabei erweist sich der Blick auf das, was Freiligrath nicht anführt, als besonders aufschlußreich: Am poetologisch-programmatischen Be-
147 Shakespeare: „The poet’s eye, in a fine frenzy rolling / Doth glance from heaven to earth, from earth to heaven; / [...],“ in: Freiligrath 1853, S. 3. 148 Johnson: „I can refel opinion; and approve / The state of Poesie, such as it is, / Blessed, eternal, and most true divine: / [...],“ in: Freiligrath 1853, S. 3 f. 149 Wordsworth: „Though the bold wings of poesy affect / The clouds, and wheel around the mountain tops / [...],“ in: Freiligrath 1853, S. 4.
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ginn seiner Anthologie stehen weder Byron noch Shelley, die ‚politischen‘ Dichter Britanniens. In den 1850er Jahren regiert nach wie vor die ‚reine Poesie‘, und Freiligrath nennt Wordsworth als ihren Vertreter: Ausgerechnet Freiligrath, den englische Periodica als einen deutschen Liberalen preisen, ignoriert die politische Dichtung der Briten also zugunsten der „Poesie der Poesie“. Er wählt seine Quellen gerade nicht unter politischem Aspekt aus, sondern widmet sich der sich selbst bedenkenden Poesie. Auf Freiligraths verknappte Poetik-Geschichte in Versen folgen Gedichte von Johnson bis hin zu Alexander Smith. Mit Ralph Waldo Emerson, dem Uhland-Editor W. A. Butler und Henry Wardsworth Longfellow sind drei amerikanische Autoren vertreten. Die Anthologie ist also mit dem Untertitel A Selection of English Poetry nicht ganz richtig gekennzeichnet, was Freiligrath aber selbst eingesteht: Amerikanische Lyrik, so vermerkt er im Vorwort, werde dann aufgenommen, wenn der Autor in England bekannt sei.150 Inwiefern läßt sich für diese multi-nationalen Texte von poetologischer Lyrik sprechen? Freiligrath versammelt zunächst Gedichte über die Muse und über den Dichter, also Dichtergedichte und Texte, die sich des topischen Musenarnufs bedienen: Ralph Waldo Emerson The House (1847), Alfred Lord Tennyson The Poet (1830), The Poet’s Song (1842), Barry Cornwall (d. i. Bryan W. Procter) The Prophet, William Wordsworth Resolution and Independence (1802, publ. 1807), „If you [thou] indeed derive thy light from heaven“ (1833, publ. 1835), Shelley An Exhortation (1820), Longfellow Excelsior (1841), Byron „Many are poets who have never penn’d“ (aus: The Prophecy of Dante, 1821). Gedichte wie diese bedenken vor allem die übernatürlichen Fähigkeiten der Urheber von Dichtung, beschreiben die Inspiration des Dichters,151 der keiner materiellen Güter bedarf, sondern allein für seine Kunst lebt.152 Emerson The House hingegen geht es um planvolles Dichten; er vergleicht die Arbeit der Muse deshalb mit derjenigen des Architekten, der überlegt vorgehen muß, will er Funktionierendes entwerfen und bauen.153
150 Freiligrath: Preface, in: Freiligrath 1853, S. VI. 151 Am deutlichsten zeigt dies Cornwall: „And, in its [der Prophetie des Poeten] inspiration, vaguely shown, / We seem to trace [...],“ in: Freiligrath 1853, S. 8 f., hier S. 9. 152 So formuliert es der ‚radikale Shelley‘: „Poet’s food is love and fame [...],“ in: Freiligrath 1853, S. 10 f., hier S. 10. 153 Emerson: „There is no architect / Can build as the muse can [...],“ in: Freiligrath 1853, S. 5.
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Texte über den Verlust von Poesie, vor allem aber Dichtergrabschriften schließen daran an: Walter Scott Farewell to the Muse (1822), das im Laufe des 19. Jahrhunderts vielfach übersetzt wurde, und ein Ausschnitt aus The Lay of the Last Minstrel (1805), Ebenezer Elliott A Poet’s Prayer und A Poet’s Epitaph, Letitia Elizabeth Landon The Unknown Grave, Longfellow The Arrow and the Song (1859) und To an old danish Song-book. Gedichte wie diese beschreiben Verlusterfahrungen (Scott Farewell to the Muse), oder sie verherrlichen den heldenhaften Poeten, der nur nach wahrem bzw. authentischem Ausdruck strebt und seine eigene Person dabei ganz zurück stellt. Landon The Unknown Grave ist dafür paradigmatisch. Der nachfolgende Teil umfaßt Gedichte über dichterische Formen und Praktiken, über Gedichtformen und über das Übersetzen: Samuel Taylor Coleridges Schiller-Rezeptionen The Homeric Hexameter described and exemplified (1834) und The Ovidian Elegiac Metre described and exemplified (1834) tragen ihr Thema im Titel; sie veranschaulichen es in knappen Versen. Gleiches gilt für Wordsworth Scorn not the Sonnet (publ. 1827), das sich gegen die Sonettkritik richtet. Sir John Denham „On Poetical translation“ aus To Richard Fanshaw upon his translation of Pastor Fido wendet sich den Schwierigkeiten zu, die bei der Übertragung eines Texts aus einem Gebiet in ein anderes bestehen. Im Anschluß daran stehen poetologische Widmungsgedichte:154 Mark Akenside Inscription for a statue of Chaucer, at Woodstock, Robert Southey For a Tablet at Penshurst (1798), Ben Johnson To my Worthy and Honour’d Friend, Mr George Chapman (1618), An Ode – To Himselfe (1640) und To the Memory of my beloued, The Author Mr William Shakespeare; And what he hath left vs (1623), John Keats On first looking into Chapman’s Homer (1816), Thomas Gray „Shakespeare. Milton. Dryden“ aus The Progress of Poesy (1757), John Dryden Under Mr. Milton’s Picture before his Paradise lost, Leigh Hunt On a Lock of Milton’s Hair, Samuel Rogers „Milton at Arcetri“ aus Italy (1822/1834), Sir John Denham On Mr. Abraham Cowley, William Collins Ode on the Death of Thomson, Wordsworth Remembrance of Collins (1800), Robert Burns „The Scottish Muse to Burns“ aus The Vision (1786), Thomas Cambell Ode to the Memory of Burns (1815), Wordsworth At the Grave of Burns. 1803 (1807, publ. 1842) und To the Sons of 154 Miltons „An Epitaph on the Marchioness of Winchester“ (1645) und Thomas Hoods „The Wee Man“, eine Romanze auf die Seefahrt, fallen aus dieser Kategorie heraus.
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Burns (1803, publ. 1807), Byron Kirk White und Crabbe, Robert Southey Crabbe, Byron On this day I complete my thirty-six year (22.1.1824), Samuel Rogers „Byron“ aus Italy (1822/1834), Landon Felicia Hemans, Longfellow Walter von der Vogelweide, Coleridge To the author of the „Robbers“ (1796), Felicia Hemans The Death-day of Körner, W. A. Butler Uhland. Am Beispiel historischer Autorpersönlichkeiten veranschaulichen diese Texte Auffassungen über den Dichter und die Dichtung. Sie verknüpfen Eigenschaften von Person und Werk: erstere werden der historischen Zufälligkeit enthoben, letztere personalisiert. Aus einem Text allerdings scheint auch Selbstkritik auf, nämlich aus Johnson Ode to himself: Gegen die eigene Behäbigkeit ermahnt sich sein Sprecher, die Harfe zu stimmen, um gegen das Übel der Zeit, gegen die Kritiker anzusingen. Eines läßt sich im Blick auf diese Texte festhalten: Freiligrath wählt aus, ohne sich dem Urteil englischer Kritik zu beugen. Selbst die ‚Cockney-School‘, die als dilettantische Dichtung einer aufstrebenden Mittelklasse am Beginn des 19. Jahrhunderts heftig bekämpft wurde, findet mit ihrem Begründer Leigh Hunt, mit Barry Cornwall und mit John Keats Eingang in die Anthologie.155 Freiligrath bildet einen repräsentativen Querschnitt – hauptsächlich – britischer Dichtung ab. Ein eigenes Urteil über diese Dichtungen läßt er aber nur mittelbar erkennen. Die Zusammenstellung zeigt, was er für wertvoll, für bewahrensund übersetzenswert erachtet. Dabei fällt auf, daß im Ausgang der Widmungsgedichte solche Texte stehen, die sich auf deutsche Dichter beziehen: auf Walther von der Vogelweide, auf Schiller, auf Körner und auf Uhland. Ihm geht es in diesen Fällen also weniger um die Reflexion des Anderen im Eigenen, sondern um die Reflexion des Eigenen im Fremden. Freiligraths Blick fällt dafür auf einen Kanon deutscher Autoren, die für freiheitliche und nationale Dichtung stehen. Sie sind es, so legt Freiligrath damit nahe, die von britischen Schriftstellern nicht nur wahrgenommen, sondern sogar derart verehrt werden, daß sie ihnen Gedichte widmen. Das poetologische Bild von einem liberalen England entsteht aus seiner Rezeption. Daß Freiligrath der poetologischen Lyrik unabhängig von dieser politischen Zuschreibung einen besonderen Stellenwert verleiht, erlaubt es, die Eingangsthese über die Bedeutung poetologischer Lyrik für diese wirkungsmächtige Anthologie zu bestätigen: Es handelt sich um die einzige Anthologie, in der poetologische Lyrik – wenn auch unter an155 Über Freiligraths Keats-Rezeption Wipperfürth 1991.
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derem Titel – als eigenes, nämlich thematisch bestimmtes Genre eingestuft wird und als Gegenstück zu anderen (gleichfalls thematisch gebündelten) Lyrik-Typen gilt. Es wäre also falsch zu behaupten, poetologische Lyrik sei zu keiner Zeit als ein lyrisches Genre betrachtet worden.156 Für Freiligrath erweist sich poetologische Lyrik darüber hinaus sogar als ein erster Zugang zu Dichtung in fremder Sprache und zu einer fremden Kultur,157 die ähnliche Vorstellungen von Sprache und Denken hegt wie die deutsche. Im Ergebnis nähert er sich dieser Literatur nicht nur an, sondern er nimmt sie auch produktiv auf: „Ich wüßte, unsre eigene ausgenommen, keine neuere Sprache, deren Litteratur mich so mannigfach angesprochen und angeregt hätte, als gerade die englische.“158 Bezeichnenderweise schreibt Freiligrath hier in der Doppelrolle des Dichters und Übersetzers, der gerade nicht nur – in Philologenmanier – abbilden, aufnehmen, edieren, kommentieren und der Nachwelt erhalten will, was die englische Dichtung des Jahrhunderts hervorbrachte.159 Vielmehr bemüht er sich um Verständigung mit der anderen Literatur: um programmatische Selbstaussagen, die ihm als Dichter Orientierung in der neuen literarischen Welt vermitteln.160 Dabei läßt er sich zwar unparteiisch auf das Neue ein, sucht in ihm aber vor allem bekannte Muster. Zwar kann dafür durchaus von Reflexionstätigkeit gesprochen werden, aber nur von Reflexion auf niedriger Stufe: Das Fremde wird so lange zurechtgestutzt, bis es eingespielten Wahrnehmungssschemata für Lyrik entspricht. Am Beispiel poetologi156 Siehe die Einleitung zu dieser Untersuchung, vor allem I.3. 157 Sein Übersetzer Seeliger verleiht diesem Interesse noch eine weitere Pointe. Er wendet poetologische Verse reflexiv auf die eigene Übersetzer-Tätigkeit an; vgl. Seeliger 1863, S. [V]–VI: Mit Landon spricht er über die besonderen Eigenschaften des Dichters, der die Welt durch seine Verse verbindet. Mit Roscommon und Geibel fragt er, welche Dichtungen die Aufnahme lohnen und betont die Eigenständigkeit von Dichtung, Übertragung und Kritik. – Ich komme gleich darauf zurück. 158 Zit. n. Buchner 1882, I, S. 113; Richter 1976, S. 47 f. 159 Vgl. O. L. B. Wolff 1846 und die Anthologien des Hallenser Professors Karl Elze (1851; 1860). 160 Anthologien von Philologen hingegen befassen sich weniger mit solchen programmatischen Selbstaussagen, sondern wollen vor allem anführen, was im Herkunftsland der jeweiligen Dichtung als etablierte und wichtige Literatur gilt. Oskar Ludwig Bernhard Wolff beispielsweise will dem Gelehrten oder Studierenden „einen Ueberblick des Entwickelungsganges der englischen Poesie und ihrer Sprache zugleich mit einer Auswahl der schönsten Gedichte der bedeutendsten englischen Dichter von der ersten Epoche der Kunstpoesie an bis zur Gegenwart“ bieten (1846, S. XVI). Damit regiere, so schreibt er selbst, das erste Mal das chronologische Prinzip eine Anthologie.
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scher Lyrik bildet The Rose, Thistle and Shamrock eine übernationale und idealtypische Poetik aus. Weil Freiligrath als einer der aktivisten Übersetzer gilt, seine Anthologie vielfach aufgelegt und damit populär wurde, setzen sich die Standards von The Rose, Thistle and Shamrock für die Rezeption britischer Lyrik in späteren Anthologien und Werkeditionen durch. Was Freiligrath aufnimmt, wird im deutschen Sprachraum kanonisch. Ein Dichter ragt dabei in den 1840er bis 60er Jahren heraus: Alfred Lord Tennyson (1809–1892).
b) Alfred Lord Tennyson The Poet’s Song (1842): die Vision des ‚poeta vates‘ – in der deutschen Rezeption seit Ferdinand Freiligrath (1846) In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts ist Tennyson, der spätere ‚poeta laureatus‘ des ‚Empire‘, bereits allgegenwärtig. Den deutschen Zeitgenossen gilt er „mit Recht [als] der gefeiertste unter den jetztlebenden englischen Dichtern“.161 Darüber hinaus befaßte er sich sogar mit der Ästhetik und Geschichtsphilosophie Hegels,162 interessierte sich also bereits selbst für das deutsche Geistesleben. Mit zwölf lyrischen Texten ist Tennyson in Freiligraths The Rose, Thistle and Shamrock vertreten;163 von 1846 bis 1899 lassen sich insgesamt neun umfangreiche Lyrik-Übersetzungen und eine deutsche Edition von Gedichten Tennysons in englischer Sprache ermitteln.164 Die Reihe beginnt mit Freiligraths Englische Gedichte aus neuerer Zeit (1846) und endet mit Th. A. Fischers Leben und Werke Alfred Lord Tennysons (1899). Nach Fi161 Strodtmann: Vorwort des Übersetzers, in: Tennyson 1868, S. [5]–8, hier S. [5]; vgl. auch das Urteil im repräsentativen „Handbuch der englischen Sprache und Literatur“ von Ideler und Nolte 1853, S. 245. 162 Tennyson las Hegels Ästhetik und seine Geschichtsphilosophie in Übersetzung; vgl. Shaw 1996, S. 109. 163 Es handelt sich um: „The Poet“, „The Poet’s Song“, „Godiva“, „From Locksley Hall“, „Circumstance“, „Ulysses“, „A Dirge“, „The Splendour Love falls on Castle Walls“, „Fatima“, „Mariana“, „Lullaby“, „As thro’ the land and eve we went“. 164 Freiligrath 1877; Tennyson 1853; Tennyson 1854; Seeliger 1863; Vollheim 1863; Tennyson 1968; Tennyson 1869; Tennyson 1872; Tennyson 1894; Th. A. Fischer 1899; vgl. zu den frühen Übersetzungen W. Meyer 1914; sehr gründlich Jähne 1954; über den Kreis der Exildichter, die sich für Tennyson interessierten, und mit einer Dokumentation deutscher Übersetzungen von Tennysons „Break, break, break“ Flood 1996.
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schers Buch, also nach 1899, sucht man Tennyson in deutschen LyrikAnthologien beinahe vergeblich; die Rezeption der Präraffaeliten und der ‚großen‘ Romantiker (vor allem von Shelley und Keats) verdrängt den ‚poeta minor‘.165 Zuvor ist seine Lyrik aber viel leichter in deutscher Übersetzung zu haben als diejenige der romantischen Bewegung (mit Ausnahme von Byron): Shelley gilt als zu radikal,166 und Keats nimmt man nur am Rande wahr.167 Ausgerechnet die politisch orientierte Literatur- und Übersetzungspolitik ab 1840 entdeckt also einen Autor für sich, der politisch unkontrovers ist, der sowohl der „conservative Coleridgean“ als auch der „radical Benthamite“ Einflußsphäre angehört und als ein ‚poeta doctus‘ gilt.168 In der poetologischen Lyrik des Dichters findet die Tennyson-Rezeption ihr Zentrum – nicht jedoch in so komplexen reflexiven Texten wie The Lady of Shalott (1833),169 sondern in dem schlichten Gedicht The Poet’s Song (1842). Der Grund dafür liegt in The Rose, Thistle and Shamrock: Freiligrath zielte auf knappe und leicht zu übersetzende Texte, die plakativ und voraussetzungsfrei über die Poetik eines Autors informieren. Diese poetologischen, gleichwohl aber trivialisierenden Auswahlkriterien versprachen offenkundig Erfolg; denn auch für die Tennyson-Rezeption wurde Freiligraths Anthologie kanonisch – und anders als The Lady of Shalott erfüllt The Poet’s Song seine Kriterien. Es spinnt jene Motivstränge weiter, die bereits aus den zwei Versionen von Tennysons To Poesy (1828), aus The Poet und The Poet’s Mind (beide 1830) bekannt sind: The Poet’s Song (1842) The rain had fallen, the Poet arose, He passed by the town and out of the street, A light wind blew from the gates of the sun, And waves of shadow went over the wheat, 165 166 167 168
Vgl. dazu Kapitel V. 3. b) dieser Studie. Schmid 2002. Freiligraths Anthologie stellt in diesem Fall eine Ausnahme dar. Joseph 1994, S. 262. Der Streit, auf welche Fraktion Tennysons Lyrik tatsächlich hindeutet, erweist sich mit Blick auf den gegenwärtigen ‚criticism‘ jedoch als ungeklärt. David G. Riede etwa interpretiert noch die Melancholie Tennysons als eine Quelle von Konservatismus und Autorität; Riede 2000, S. 659. 169 „The Lady of Shalott“ findet im deutschen 19. Jahrhundert ebenso wenig Verbreitung wie „The Princess“ (1847) oder „In Memoriam“ (1850); siehe Jähne 1954, S.25, 41 u. 47.
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And he sat him down in a lonely place, And chanted a melody loud and sweet, That made the wild-swan pause in her cloud, And the lark drop down at his feet. The swallow stopt as he hunted the fly, The snake slipt under a spray, The wild hawk stood with the down on his beak, And stared, with his foot on the prey, And the nightingale thought, ‚I have sung many songs, But never a one so gay, For he sings of what the world will be When the years have died away.‘170
The Poet’s Song veranschaulicht eine Poetik der Inspiration und bedient sich zu diesem Zweck zahlreicher romantischer Topoi: Der Poet begibt sich aus der Zivilisation in die Natur (Topos der Stadtflucht), nimmt einen „light wind“ wahr (Topos der Inspiration), der „waves of shadow“ auf dem Weizen erzeugt (Topos der Entwirklichung),171 zieht sich auf einen einsamen Platz zurück (Einsamkeitstopos), fasziniert die Tiere mit seinem Gesang (Orpheus-Motiv), der selbst denjenigen der Nachtigall überbietet (Kunst vs. Natur).172 The Poet’s Song schildert – hierin The Lady of Shalott und anderen Reflexionsdichtungen Tennysons vergleichbar173 – einen Poeten, der Zivilisation und Natur zugunsten einer Inspiration verläßt, der er sich passiv überantwortet, um eine entwirklichte Welt der Kunstreflexion zu beschreiben. Die Erzählweise unterstützt die Darstellung: Tennysons Sprecher schildert den Vorgang der Inspiration auktorial; ihren Erfolg beglaubigt die Nachtigall in Figurenrede. Sie erkennt in dem Poeten ihren Meister, weil er ein Lied über Zukünftiges weiß, weil er prophetisch vorwegnimmt, „what the world will be“. Das reflexive Universum der Inspirationspoesie erscheint als intakt und als der Natur überlegen, wie diese selbst bestätigt. Freiligrath übersetzt:
170 Tennyson: The Poet’s Song, in: Tennyson 1969, S. 736. 171 Vgl. dazu die Interpretation von „shadows of the world“ aus „The Lady of Shalott“ in: Hühn 1995, II, S. 47. 172 Über die topische Struktur der früheren Lyrik Tennysons Ricks 1972, S. 51; Vergleichbares weist Isobel Armstrong für die späte Lyrik Tennysons nach und wertet dies als Erweis dafür, daß Tennysons nicht der „poetry of sensation“ zuzurechnen sei; Armstrong 1996. 173 Siehe Hühn 1995, II, S. 47.
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Der Dichter Der Regen ließ nach, der Dichter stand auf, Er ging durch die Stadt, und hinaus in’s Feld; Von der Sonne Thoren kam leis ein Wehn, Und die Ähren haben gewellt. Und er legte sich hin, wo ihn keiner sah, Und er sang eine Weise, laut und süß, Daß der wilde Schwan im Gewölk verzog, Und die Lerche sich niederließ. Die Schwalbe vergaß ihre Bienenjagd, Die Schlange fuhr her durch’s Laub. Mit der Dun’ auf dem Schnabel stand der Weih’, Und starrte, den Fuß auf dem Raub. Und die Nachtigall dachte: „Ich sang manch Lied, Doch nicht eines so froh von Ton! Denn er singt von der Welt und was sie ist, Wenn die Jahre starben und flohn!“174
Freiligrath erlegt sich einen strengen poetologischen Grundsatz auf, der ihm manche Freiheit für die Übertragung nimmt: Er will die fremde Form soweit als möglich beibehalten.175 Im Falle von Der Dichter gelingt es ihm dies zwar, aber nur mit Einschränkungen, was die Reimform,176 die Sicherheit der stilistischen Darbietung und vor allem, was die Bedeutung des Texts angeht. Als problematisch erweisen sich dabei vor allem der dritte Vers der ersten und der siebte Vers der zweiten Strophe: Aus dem „wind“ (der Inspiration) wird ein bloßes „Wehn“; aus „what the world will be“ wird ein „was sie ist“. Die prophetische Gabe des inspirierten Poeten entfällt; er muß sich mit der Beschreibung des Gegenwärtigen begnügen. Freiligrath nimmt die Inspirationspoetik von The Poet’s Song zurück und verdrängt das reflexive Kunstuniversum des Texts zugunsten von Wirklichkeit. Der Dichter Tennysons erweist sich danach als ein quasi-realistischer Poet. Freiligrath verfolgt seine formale Übersetzungspoetik zwar entschlossen, aber er unterlegt dem Original zugleich eine Poetik, die diesem fremd ist. Mit anderen Worten: Der Übersetzer reflektiert die eigenen Vorstellungen von Poesie und vom Poeten im fremden Text. Eine Übersetzungspoetik, die auf 174 Tennyson: Der Dichter, in: Freiligrath 1877 [1846], S. 208. 175 K. Richter 1976, S. 12. 176 Freiligrath wählt das Reimchema a b c b d e f e statt ursprünglich a b c b d b e b. K. Richter 1976, S. 71. Hertzberg, Seeliger, Strodtmann, Rugard und Wilhelmine Prinzhorn übernehmen die Freiligrathsche Reimstruktur.
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dem Gebot der Formtreue ruht, arbeitet der poetologischen Bedeutung des Originals entgegen, in dessen Dienst sie sich stellen wollte. Tennyson äußert sich dennoch begeistert über Freiligraths Bemühungen; in einem Brief vom 5. November 1846 dankt er Freiligrath für die Übersetzungen „into your own noble and powerful language.“177 Des Deutschen nicht mächtig, traut sich gleichwohl ein Urteil zu: [...] from what I have seen and if I may be permitted to judge, I should say, that they [die Gedicht-Übersetzungen] are not dry bones, but seem full of a living warmth in fact a Poet’s translation of Poetry.178
In Freiligrath erblickt Tennyson den kongenialen Übersetzer seiner Lyrik. Unbedingt will er den deutschen Dichter kennenlernen. Als dieser zu seiner Verblüffung nicht auf seinen lobenden Brief antwortet, beklagt er sich gleich bei mehreren Freunden und Bekannten.179 Ob Tennysons Mühen und Klagen von Erfolg gekrönt waren, ist bis heute unklar. Es läßt sich nicht nachweisen, ob sich beide noch begegneten.180 In der Nachfolge Freiligraths wird The Poet’s Song zu einem der meistübersetzten Gedichte Tennysons. Sieben weiter ‚Verdeutschungen‘ lassen sich ermitteln. Die zeitlich nächste Übertragung stammt von dem jüdischen Altphilologen Wilhelm Adolf Boguslaw Hertzberg (1813–1879).181 Er befaßte sich zuvor mit römischer Dichtung. Bei den Tennyson-Gedichten handelt es sich um seine ersten Übertragungen englischer Texte,182 und Hertzberg legt gleich vollständige Übersetzungen der 1830er und 1842er Gedichtbände vor. Im folgenden ist kursiv gesetzt, was Hertzberg für The Poet’s Song anders formuliert als Freiligrath:
177 Tennyson to Freiligrath, 5. Nov. 1846, St. James Square, Cheltenham, in: Tennyson 1982, S. 262 f. 178 Ebd. [Hervorhebung im Original]. 179 Tennyson to Tom Taylor, 10. Nov. 1846, in: ebd., S. 263; Tennyson an Mary Howitt, 19. Nov. 1846, in: ebd., S. 265 f. 180 Hallam Tennyson berichtet allerdings von einem Treffen Ende November 1846 und notiert, „they greatly enjoyed their talk together.“ Ebd., S. 263, Anm. 2. 181 Wininger 1928, III, S. 494. 182 Danach übersetzt er Chaucers „Canterbury Tales“, vor allem aber Shakespeares Dramen (für die von der deutschen Shakespearegesellschaft neu besorgte Ausgabe der Schlegel-Tieck-Edition) und schließlich Walter Scotts „Herrn der Inseln“; er widmet den Text aus der Begeisterung für die Befreiung Schleswig-Holsteins Herzog Friedrich VIII. von Augustenburg. Entholt 1912, S. 304.
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Des Dichters Gesang Der Regen ließ nach, der Dichter stand auf, Er ging aus der Stadt hinaus in die Welt; Leicht wehte der Wind von der Sonne Thor, Und Schatten durchwogten das Weizenfeld. Und er setzte sich nieder an einsamen Ort, Laut sang er ein Lied von süßem Klang, Daß der wilde Schwan verstummt’ im Gewölk. Und die Lerche zu Füßen ihm sank. Und die Schwalbe stockt, wie die Biene sie jagt, Und die Schlange schlüpft in das Laub, Mit der Daun’ im Schnabel der Habicht starrt, Und horcht, in der Kralle der Raub. Und die Nachtigall denkt: Ich sang manches Lied, Doch keines so froh und frei; Denn Er singt, was künftig die Welt sein wird, Wenn Monden und Jahre vorbei.183
Der philologisch genaue Hertzberg korrigiert jene Passagen, die in der Freiligrath-Übersetzung negativ auffallen, aber er handelt sich dabei auch neue Schwierigkeiten ein: den Plural von „gates“ faßt er als Singular auf; die Vergangenheitsform „tought“ überträgt er ins Präsens („denkt“). Darüber hinaus übersetzt er „Welt“ statt „street“, „verstummt“ statt „paused“, „sank“ statt „drop down“, „Laub“ für „Spray“, „froh und frei“ statt bloß „gay“, „Wenn Monden und Jahre vorbei“ statt „When the years have died away.“ Gleichwohl gelingt es Hertzberg, den poetologischen Kern von The Poet’s Song zu wahren; Inspirationspoetik, Prophetie und Kunst-Universum bleiben im Wortlaut erhalten. Seine Übersetzung kann in der Tat als eine solche gelten, die sich in den Dienst des Originals stellt, die seine poetologische Bedeutung erhält und dem deutschen Leser übermittelt. Seeliger wählt seine Worte demgegenüber freier: Des Dichters Sang [Nach Alfred Tennyson] Müd war’s zu regnen, da erhob der Dichter Sich und verließ das weite Häusermeer; Ein lindes Lüftchen weht’ aus Himmels Thoren, Es wallten Schatten über Fluren her; Und nieder ließ er sich an öder Stelle Und sang ein Lied, so laut und lieblich süß, 183 Tennyson 1853, S. 356.
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Er bannt’ den Pelikan auf lustiger Welle, Sang, dass die Lerche sich hernieder ließ. Die Schwalbe hielt auf ihrer Jagd nach Bienen, Und das Reptil glitt lautlos in’s Gebüsch, Der Falke stand, den Fuß auf seiner Beute, Und staunt’, am Schnabel Flaum noch, blutig, frisch, „Ich habe,“ sprach die Nachtigall, „gesungen Manch Lied, jedoch noch nie so süß und lind: Er singt vom Einst, wenn jedes Lied verklungen, Und wenn die Jahre all’ verronnen sind!“184
Seeliger löst sich, ganz typisch für die übrigen Übertragungen in seiner ‚deutschen Fassung‘ von Freiligraths The Rose, Thistle and Shamrock, beinahe vollständig von den vorhergehenden Übersetzungen. In einem Vorwort begründete er dieses Verfahren eigens, und zwar mit Hilfe poetologischer Verse, die er Geibel verdanken will.185 Danach erscheint die Übertragung prinzipiell als eigenständige Interpretation in Versform: Um der Bedeutung eines Texts willen gestalte der ‚Übersetzer‘ diesen neu. ‚Mit Geibel‘ kehrt Seeliger das Übersetzungsprinzip Freiligraths um: Die Bedeutung, die der Übersetzer-Interpret in einem Text sehen will, geht dem Gebot der Text- und Formtreue nicht nur voraus, sondern läuft diesem Gebot vollständig zuwider. An die Stelle der Übertragung setzt Seeliger die Neu-Interpretation. Er rechtfertigt sie, indem er die hermeneutische Maxime des ‚Besserverstehens‘ auf die Poetik der Übersetzung überträgt und überspannt:186 Erst der Übersetzer-Interpret, so Seeliger, lege jene tiefen Schichten der Bedeutung frei, die dem Autor entfallen sind. Seeliger steigert damit selektiv und willkürlich Aspekte der vielschichtigen Übersetzungspoetiken, wie sie der Münchner Dichterkreis in Briefen, Einleitungen, Essays und Memoiren vorlegte. Nimmt man diese Theorien zusammen, dann widersprechen sie den aus ihrem Kontext gerissenen Aphorismen, die Seeliger Geibel verdanken will.187 184 Seeliger 1863, S. 6 f. 185 „Doch du bist du, das schafft die Wandlung eben!“; ders.: „Das ist die klarste Kritik von der Welt, / Wenn neben das, was ihm misfällt, / einer was Eigenes, Besseres stellt!!“ In: Seeliger 1863, S. VI. [Hervorhebungen im Original]. – Die Zitate ließen sich nicht auf Geibel-Texte zurückführen, so daß zu fragen bleibt, ob Seeliger sie selbst erfunden hat. 186 Über die Maxime des ‚Besserverstehens‘ Danneberg 2003. 187 Begründen ließe sich diese Annahme auch mit Blick auf Geibels ausgesprochene skeptische Einstellung, was die Übersetzung von Lyrik betrifft; ders.: Distichen, Nr. 17, in: ders. 1856, S. 217: „Unübersetzbar dünkt mich das Lyrische. Ist doch der
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Denn im Zentrum der Münchner Übersetzungspoetiken steht der hermeneutische Dreischritt Schleiermachers: erstens das Verstehen des fremden Texts oder – mit Graf Schack – das ‚tiefe Eindringen‘ in die fremde Textwelt, zweitens die Kenntnis vom geschichtlichen und kulturellen Leben des anderen Volkes und drittens die „lebendige Vergegenwärtigung“ des Originals im eigenen Ausdruck.188 Schon aus der Erfahrung mit Übersetzungen übt man sich nicht in Wort- und Formtreue,189 sondern bemüht sich – mit Paul Heyse – vielmehr um den Personalstil des Dichters. Ziel ist es, dessen ‚Wesen‘ selbst nachzuahmen und zu ergründen.190 Man setzt – in treuer Hegel-Nachfolge – auf Subjektivität, auf Klassizität und hohe Literatur.191 Im Vergleich mit den Übersetzungspraktiken Freiligraths und Hertzbergs leitet der Münchner Dichterkreis für die Übersetzung in der Tat eine neue Epoche ein. Idealiter verbinden sich Fremd- und Selbstreflexion zum Nutzen der Herkunfts- und Zielliteratur. Mit Hilfe der sogenannten ‚Geibel-Verse‘ beglaubigt Seeliger aber eine ganz subjektive Übersetzungspraxis. Hier darf sich der Übersetzer das fremde Werk nach eigenem Gutdünken aneignen. Nur vage klingen die hermeneutischen Grundprinzipien und die Bemühungen um das ‚Dichterwesen‘ an, wie sie die Münchner formulieren. Seeliger nutzt poetologische Verse zum einen für die Trivialisierung einer komplexen Übersetzungstheorie, zum anderen für die programmatische und autoritativ abgesicherte Selbstbehauptung. Seeligers Übersetzer-Poetik rechtfertigt die eigene Willkür im Mantel eines eigentümlichen Besserverstehens – und nicht eines solchen Wesen- und Kontext-Verstehens, das sich auf Schleiermacher berufen kann. Dementsprechend gestaltet Seeliger seinen Text frei nach der Vorlage. Daß diese neuen Praktiken übersetzerischer Bedeutungsreflexion keine hochwertige Poesie garantieren, läßt sich aber nicht nur für Seeligers Tennyson-Übertragungen zeigen, sondern auch für andere Übertragungen, die ebenfalls – und vermittelt über Seeliger – von der (modifizierten) Übersetzungstheorie des Münchner Dichterkreises profitieren.
188 189 190 191
Ausdruck / Hier von des Dichters Geblüt bis in das Kleinste getränkt. / Auch in verwandelter Form noch wirken Bericht und Gedanke, / Doch die Empfindung schwebt einzig im eigensten Wort.“ Giroday 1978, S. 24 f. Ebd., S. 26 f. Ebd., S. 31. Ausführlich gezeigt in: Werner 1996, S. 316–328.
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Konsequenterweise kündigt Seeliger sein Gedicht als eines „Nach Alfred Tennyson“ an. Er interpretiert das Original, indem er es mit anderen Vokabeln und hinzuerfundenen Adjektiven versieht: „Müd war’s zu regnen“ anthropomorphisiert den Vers des Originals, „Häusermeer“ wandelt den ursprünglichen Ausdruck ab, „Pelikan auf lustiger Welle“ reißt aus dem räumlichen Kontext heraus und verändert die ursprüngliche Bedeutung gänzlich, „Reptil“ klassifiziert die „snake“ abstrakt, „Falke“ erweist sich ausnahmsweise als wortgetreu, „blutig, frisch“ dramatisiert über Gebühr. Ein einheitliches Übertragungsprinzip jedenfalls liegt dieser Wortwahl nicht zugrunde; hier regiert die Willkür eines sprunghaften Interpreten. Sie trifft auch die Inspirationspoetik von The Poet’s Song. Wie im Fall Freiligraths fällt sie nämlich der Übersetzung zum Opfer: Aus dem „wind“ der Inspiration wird „ein lindes Lüftchen“, aus „what the world will be“ ein Singen „vom Einst“. Tennysons Poet gerät zum ‚historistischen‘ Dichter. Wie der Dichter Tennysons richtet er sich zwar auf ein reflexives Kunst-Universum, aber ihn bewegt bloß die Muse der Vergangenheit und nicht die Zukunft der (künstlerischen) Welt. Seeligers ‚Übertragung‘ wirkt nach: „Falke“ für „hawk“ findet sich auch bei Strodtmann und Rugard. Karl Vollheim verwendet „Schatten wallten“ aus Seeligers viertem Vers, und zwar in der Umkehrung „wallten Schatten“: Des Dichters Lied Der Regen verlor sich; der Dichter stand auf, Er nahm durch die Stadt und das Thor den Gang; Ein Wind blies frisch von der Sonne herab, Und Schatten wallten das Korn entlang. Und er setzte sich nieder am einsamen Ort, Laut singend ein Lied mit süßem Klang, Das hemmte den Flug des Schwans in der Luft Und die Lerche lauschte dem Sang. Die Schwalbe ließ ab, wie sie Bienen fing, Und die Schlange glitt unter den Stein; Mit daunichtem Schnabel verweilte, den Fuß Am Raube, der Sperber und sah darein. Die Nachtigall dachte: „Ich sang manch Lied, Doch nimmermehr eines so wunderfein: Denn er singt, was, starben, die Jahre dahin, Einstmals die Welt wird sein.“192 192 Vollheim 1863, S. 548.
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Anders als all seinen Vorgängern gelingt es Vollheim, das Reimschema des Originals beizubehalten (a b c b d b e b). Auch wahrt er – wie Hertzberg – die poetologische Bedeutung des Originals, ja steigert den Aspekt der Inspiration sogar: Hier bläst der Wind „frisch von der Sonne herab“. Das Tor entfällt; die Inspiration trifft den Poeten, der die Zukunft der Welt kündet, unmittelbar. Strodtmann hingegen verfolgt ein anderes ‚Übersetzungskonzept‘. Er fügt die Übertragungen Freiligraths und Hertzbergs bloß mit kleinen Änderungen zu einem eigenen Text zusammen: Des Dichters Lied Der Regen ließ nach, der Dichter stand auf, Schritt aus der Stadt und hinaus in die Welt, Von den Thoren der Sonne kam leis ein Wehn, Und von Schatten wogte das Weizenfeld. Und er setzte sich hin an einsamen Ort, Und sang eine Weise, laut und süß, Daß der wilde Schwan anhielt im Gewölk, Und die Lerche sich niederließ. Die Schwalbe vergaß ihre Bienenjagd, Die Schlange schlüpfte ins Laub, Mit der Dun’ am Schnabel starrte der Falk, Die Kralle gestemmt auf den Raub. Und die Nachtigall dachte: ‚Ich sang manch Lied, Doch keins von so fröhlichem Ton; Denn er singt von dem künftigen Tag der Welt, Wann die Jahre starben und flohn.‘193
Strodtmanns Verse eins, sechs bis neun, dreizehn und sechzehn stammen fast vollständig, die Verse drei und elf teilweise von Freiligrath. Die Verse fünf, zehn und der Ausgang des zweiten Verses lassen sich auf Hertzberg zurückführen. Für den Tennyson-Text ergibt sich demzufolge eine inkonsistente Poetik: einerseits gerät die Inspirationspoetik mit dem Rückgriff auf das „Wehn“ Freiligraths ins Hintertreffen, andererseits schreibt Strodtmann dem Poeten prophetische Fähigkeiten zu (Verse sieben und acht der zweiten Strophe). Strodtmann also kanonisiert die beiden frühesten deutschen Fassungen von The Poet’s Song, ohne auf die Bedeutung des Ursprungstexts zu achten oder eine 193 Tennyson 1868, S. 117. Möglicherweise ist der kompilatorische Charakter der Strodtmann-Übersetzung der Grund dafür, daß Max Kegel ausgerechnet diese Übersetzung in seine Anthologie übernimmt (Kegel 1890, S. 32).
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poetologisch konsistente Neu-Interpretation vorlegen zu wollen. Die eigene ‚Übersetzungspraxis‘ des weder originalgetreuen noch originellen ‚patchwork‘ verteidigt Strodtmann in einem Vorwort: Ich habe nach den in der Vorrede zu meiner Uebersetzung Shelley’s194 ausgesprochenen Grundsätzen geglaubt, die Arbeiten meiner Vorgänger [er erwähnt die „gediegenen Übersezungen“ Freiligraths und Hertzbergs] nicht unbenutzt lassen zu dürfen [...].195
Rugard, Sophie von Harbou und Prinzhorn antworten auf diesen Versuch, den Stand der Übersetzungsbemühungen stillzustellen und Übertragen als Abschreiben zu begreifen.196 Sie öffnen The Poet’s Song für eigene Deutungen und können sich darin durch die Übersetzungstheorien des Münchner Dichterkreises, vor allem aber durch die trivialisierende Übersetzer-Poetik Seeligers gerechtfertigt sehen: Des Dichters Lied Ein milder Regen fiel, vom Traum erwacht Treibt’s den Poeten aus der Stadt zu flieh’n, Es weht ein leichter Wind vom Morgen her, Und Schattenwogen durch den Weizen zieh’n; Ein einsam Plätzchen wählt der Sänger sich, Und wonnevoll und laut sein Lied erklingt, Da selbst der wilde Schwan im Fluge ruht, Die Lerche ihm, dem Herrn, zu Füßen sinkt. Die Schwalbe jagt nicht mehr der Biene nach, Die Schlange birgt in’s Gras ihr dunk‚les Kleid, Der wilde Falk‘, den Flaum und Schnabel stutzt, Den Fuß auf seiner Beute; stilles Leid Erfaßt die Nachtigall: „Nie sang mein Lied So hohe Lust, so hohe Seligkeit, Er jubelt laut, was aus der Welt einst wird, Wenn dahin gestorben die Zeit.“197
Zwar wahrt Rugard das Reimschema Freiligraths, aber er weicht in zahlreichen Vokabeln und Wendungen von den bekannten Fassungen des Tennyson-Gedichts ab. Hier entfallen Worte des Originals (z. B. 194 Siehe dazu Schmid 1999. 195 Strodtmann: Vorwort des Übersetzers, in: Tennyson 1968, S. 7. 196 Anne-Marthe Jähne kam für Strodtmanns Übersetzungen zu dem Ergebnis, daß sie „zu den besten Verdeutschungen der Gedichte von Tennyson“ gehören; dies. 1954, S. 29. Strodtmanns Bezüge auf Freiligrath und Hertzberg sind ihr dabei zwar nicht entgangen, aber sie prüfte nicht, wie weit Strodtmann diese Bezüge trieb. 197 Tennyson 1872, S. 125 f.
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„gates of the sun“) zugunsten einer Romantisierung und Dynamisierung des Texts, die aber gleichwohl die Inspirationspoetik und das reflexive Kunst-Universum von The Poet’s Song wahrt. Harbou verändert das Original in vergleichbarer Weise. Des Dichters Sang Vorüber der Regen! Nicht säumt er, Der Dichter – enteilet dem Städtlein geschwind. Von der Sonne Pfort’ zog ein Lüftlein daher, Das Weizenfeld wogte im Wind: Zu einsamem Ort sein Fuß ihn trug, Und süß melodische Weis’ er sang, In den Wolken der Wildschwan hemmte den Flug, Ihm zu Füßen die Lerche sich schwang. Es schlüpfte die Schlang’ unter bergenden Stein, Von den Bienlein die Schwalbe ließ ab, Beim blutigen Raub hielt der Habicht ein, Starrt’ die Beute umkrallend, herab. Und die Nachtigall dachte: „Auch ich sang viel, Doch nimmer so lustigen Sang: Denn er singt, was auf Erden noch werden will, Wenn einst Zeit und Leid verklang!“198
Unter formalem Aspekt erweist sich Harbous Übertragung als radikalste, weil sie sich vollständig vom Reimschema des Originals trennt, und statt dessen schlichte Kreuzreime verwendet. Ihre Wortwahl ähnelt derjenigen Rugards: Auch Harbou betont die Eingangsverse; ihr Dichter ‚enteilt‘ dem „Städtlein“; wie Seeliger spricht sie von der ‚blutigen‘ Beute des (Hertzbergschen) Habichts. Noch mehr als Rugard verleiht sie dem Gedicht Tempo, und zwar durch den Ausruf in der ersten Zeile. Aber sie verniedlicht den Tennyson-Text, indem sie die Diminutivform „-lein“ gleich dreimal verwendet („Städtlein“, „Lüftlein“, „Bienlein“). Dabei entgeht ihr gleich zweierlei: erstens die Inspirationspoetik des Originals, denn sie doppelt die Wind-Metaphorik, interpretiert „Lüftlein“ und „Wind“ bloß als natürliches und nicht als poetologisches Ereignis. Zweitens verbindet sie das Kunst-Universum des TennysonTexts mit der physikalischen Natur: „shadows“ entfällt; der Poet bewegt sich – wenn auch als Prophet – in der natürlichen Natur. Auf Harbous Goldschnitt-Bändchen Balladen und Gedichte. Von Alfred Tennyson (1894) ist ein Haus an einem See mit blauen Blumen, Seerosen 198 Tennyson 1894, S. 122.
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und Libellen abgebildet. Vermutlich sollte die zierliche Darstellung den Leser auf den possierlichen Inhalt einstimmen. Nicht minder frei ist die Übertragung von Wilhelmine Prinzhorn (1894), die noch Hans Bethge in seiner Anthologie Die Lyrik des Abendlandes in neuerer Zeit (1907) abdruckt: Des Dichters Lied Der Regen ließ nach, der Dichter stand auf, Aus den Gassen der Stadt ins freie er zog; Von der Sonne Toren kam weich ein Wind, Übers Weizenfeld Licht und Schatten flog. Und er setzte sich hin in die Einsamkeit Und sang eine Weise so süß und laut, Daß die Lerche zu seinen Füßen saß Und der wilde Schwan aus den Wolken schaut’. Die Schlange schlüpfte aus dem Gebüsch, Die Schwalbe hat jäh ihr Jagen gehemmt, Mit der Dun’ am Schnabel der Habicht stand, Auf den Raub die Kralle gestemmt. Und die Nachtigall dachte: „Ich sang manches Lied, Doch nie eines wie dieses so hold, Denn er singt und sagt von der Zukunft der Welt, Wenn die Zeiten dahingerollt!“199
Für die erste Strophe erborgt Prinzhorn Wendungen von Freiligrath, nämlich den gesamten ersten Vers, den Ausdruck „der Sonne Toren“ und den Wortlaut des sechsten Verses. Darüber hinaus entstammen das „Gebüsch“ der Seeliger- und der „Habicht“ der Hertzberg-Übertragung; Vers zwölf zitiert Strodtmann. Im übrigen dichtet Prinzhorn durchaus eigensinnig, aber nicht gerade kongenial: Manche Wortreihe klingt eigentümlich und verändert den Sinn des Ausgangstexts („Daß die Lerche zu seinen Füßen saß“; „und der wilde Schwan aus den Wolken schaut“; „Die Schwalbe hat jäh ihr Jagen gehemmt“). Daß Prinzhorn die Verse sieben und acht umgruppiert, dient zwar dazu, das Reimmuster zu wahren, aber es erhellt auch, wie sehr sich die interpretierende Übersetzung vom Original löst. Im Blick auf die neu erfundenen Vokabeln zeigt sich dabei vor allem, wie Prinzhorn die bildhaften Schilderungen Tennysons auf bestimmte Topoi verkürzt: „Und er setzte sich hin in die Einsamkeit“, interpretiert die Situation zwar richtig, gibt die bildhafte Darstellung aber auf. Gleiches gilt für die „Zukunft 199 Tennyson: Des Dichters Lied, in: Prinzhorn 1894, S. 261; Bethge 1907, S. 142 f.
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der Welt“, die der Poet singt. Prinzhorn gelingt es zwar, die Inspirationspoetik und das reflexive Kunst-Universum von The Poet’s Song zu vermitteln – jedoch nur um den Preis einer Topisierung, die die topische Struktur des Originals noch überbietet. Vermutlich formuliert Bethge in seiner Einleitung für Die Lyrik des Abendlandes auch im Blick auf diese Verwandlung des Tennyson-Texts: „Jede Übersetzung ist ein Notbehelf.“200 Für The Poet’s Song bestätigt sich diese Selbstsicht des Anthologisten und Übersetzers: Übersetzungen des Texts weichen bereits in den 1860er Jahren erheblich voneinander ab, obwohl sich ihre Verfasser im wesentlichen dem Prinzip der Formtreue verschreiben. Eigenständige (oder besser: eigensinnige) Interpretationen vom Typus derjenigen Seeligers sind nichts Außergewöhnliches.201 Fast alle Übersetzungen deuten die Poetik, die das Original veranschaulicht, im eigenen Sinne um: zugunsten einer quasi-realistischen (Freiligrath), zugunsten einer ‚historistischen‘ (Seeliger) und zugunsten einer ‚ganz natürlichen‘ Poesie (Harbou). Darüber hinaus läßt sich im Ausgang von den Übersetzungspoetiken des Münchner Dichterkreises ein allgemeiner Trend hin zu einem freieren Umgang mit der Quelle ausmachen. Hier paart sich Innovation in Übersetzer- und Übersetzungspoetik mit dem praktischen Umstand, daß wort- und formgetreue Interpretation vorliegen und kaum noch verbessert werden können. Die neuen und hermeneutisch abgesicherten, kreativen oder gar willkürlichen Übertragungen führen aber zu neuen Problemen. Gerade um 1900 trifft man Tennysons Poetik immer weniger. Übersetzerinnen wie Harbou und Prinzhorn versuchen nurmehr, The Poet’s Song in die eigene Erlebniswelt hineinzuholen. Der Text wird trivialisiert, nicht reflektiert. ‚Mit Geibel‘ stellt Seeliger dem Übersetzer eine Lizenz zur Willkür aus, die offenkundig nachhaltig auf Tennyson-Übertragungen wirkte. Obwohl sich Geibel selbst für die Übersetzung und Verbreitung Tennysons in Deutschland einsetzt,202 bestärkt er – wider Willen – den Trend zu einer Abwertung Tennysons. Der ‚poeta doctus‘ wird nach 200 Bethge 1907, S.V. 201 Vergleichbares ließe sich für zwei weitere frühe poetologische Gedichte Tennysons, nämlich für jene fünf ‚Verdeutschungen‘ oder Editionen von „The Poet“ (1830; Hertzberg 1853; Fischer 1854; Seeliger 1863; Strodtmann 1868; Rugard 1872) und für die Edition und Übersetzung von „The Poet’s Mind“ (1830; Fischer 1854; Rugard 1872) beschreiben. 202 Giroday 1978, S. 59.
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und nach aus dem deutschen Kanon englischer Lyrik verdrängt.203 Für sein Vorwort zu H. Grünings Ausgewählte Dichtungen von Alfred Tennyson (1869) verknüpft Geibel zahlreiche negative und nur wenige positive Ansichten über die Lyrik Tennysons zu einem festen Meinungsbündel. Zwar rühme man Tennyson in England zu Recht, auch gebühre ihm „Anerkennung, wenngleich in etwas gedämpfterem Tone und ohne den Dichter von Locksley-Hall mit dem Sänger des Childe Harold auf dieselbe Stufe zu stellen.“204 Der solide Verseschmied Tennyson gegen den titanischen Dichter-Helden Byron – so stellt sich das englische Dichter-Szenario für den Münchner Hofpoeten in den 1860er Jahren dar: Tennyson ist kein Bahn brechender Genius, wie sie zumeist nur im Beginn aufsteigender Literaturepochen hervortreten; er trägt durchaus den Stempel einer eklektisch gewordenen Zeit. Aber er ist ein schönes und vielseitig durchgebildetes Talent, ein liebenswürdiger Charakter, ein gewissenhafter Künstler. Seine Dichtungen gleichen weniger einem in titanischer Üppigkeit schießendem Urwalde, als einem reizenden wohlgepflegten Garten. Zu Byron verhält er sich etwa, wie Mendelssohn zu Beethoven.205
Mit Blick auf Tennyson beklagt Geibel die „Schwächen des Epigonenthums“, die „descriptive Breite“, die „akademische Neigung zu allegorisierenden Ausführungen“.206 Gleichwohl – oder gerade deshalb – zeichneten sich Tennysons Gedichte durch eine „civilisierte[] Sauberkeit des Styls“ und durch einen „Wohllaut des Verses“ aus.207 Darüber hinaus meistere Tennyson psychologische Schwierigkeiten souverän. Es verwundert im Blick auf diese Urteile nicht, daß sich Geibel von den frühen poetologischen Gedichten Tennysons und damit auch von der frühen Tennyson-Rezeption im Umfeld sowie in der Nachfolge Freiligraths distanziert, um sich statt dessen Tennysons Balladen zuzuwenden. Geibel zufolge veranschaulicht der englische ‚poeta doctus‘ nämlich das Dilemma des Zeitalters: Trotz der Inspirationspoetik neigt Tennyson zum akademisch korrekten, aber wenig lebendigen Dichten – ein Charakteristikum, das auch Geibels Texte auszeichnet.
203 Bezeichnenderweise schließt sich noch Wilhelm Meyer in seiner Studie über die deutschen Tennyson-Übersetzungen dem Urteil Geibels an; W. Meyer 1914, S. 17. 204 Tennyson 1869, S. 3. 205 Ebd., S. 3 f. 206 Ebd., S. 4. 207 Ebd.
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Er reiht sich mit dieser Klage über die Gedichte Tennysons und über das ‚Muster Tennyson‘ in einen Chor der gemäßigten Tennyson-Kritiker ein, der sich erstmals in einer Rezension für Das Magazin aus dem Jahr 1865 formiert. Sie entdeckt die neuen britischen Dichter. Tennyson gebührt dabei zwar noch einer der vordersten Plätze, aber nicht mehr der unbestrittene erste Platz: In Elisabeth Barret Browning, Robert Browning, Charles Mackay, Christina Rossetti u.a. sei ihm Konkurrenz erwachsen.208 Vor allem Robert Browning darf sich der Aufmerksamkeit sicher sein, weil er – anders als Tennyson – wilder und intensiver Töne mächtig sei. Im Jahr 1872 kommt Algernon Charles Swinburne hinzu, ein ‚echter Seher unter den Engländern‘,209 und im Jahr 1878 heißt es endlich über Browning, er sei „unbestreitbar der größte“ unter den englischen Poeten.210 Tennyson bleibt deshalb nur noch der Ruhm des akribischen und des technisch versierten Dichters, der seine Spontaneität und „Gedankentiefe“ in den späten Jahren aber ganz und gar verlor.211 Es überrascht nicht, daß Tennyson bereits zu Lebzeiten Geschichte wird: Eine erste Bio-Bibliographie erscheint im Jahr 1881.212 Mit ihr beginnt die Musealisierung Tennysons; seine Gedichte aber verschwinden in den Rumpelkammern der Lyrik-Geschichte. Der Grund dafür liegt – nach Geibel – in einem Reflexionsüberschuß, an dem Tennysons Lyrik ebenso leidet wie die übrige Lyrik des mittleren 19. Jahrhunderts. Lebensnähe, „Unmittelbarkeit“ und Naivität stehen ihr nicht mehr zu Gebote. Sie will der trivialen Wirklichkeit mit den Mitteln der Allegorie und poetologischer Topoi beikommen. Diese Einschätzung zeitgenössischer Lyrik bestätigt das Urteil Hegels
208 England. Moderne englische Lyrik und Poesie, in: Magazin 67 (1865), S. 115–118. 209 England. Algernon Charles Swinburne, in: Magazin 81 (1872), S. 128 f., hier S. 129: „Algernon Swinburne besitzt ein rechtes Maaß von all den Eigenschaften, welche den Dichter machen. Zuvörderst jene wunderbare, den Leser mit Staunen, ja fast mit Grausen erfüllende Divinationsgabe, welche blitzschnell die geheimsten Motive menschlicher Handlungen, die verborgensten Uebergänge menschlicher Gedanken erhellt, vor welchen das Herz offen daliegt, wie der Glaube lehrt, daß es vor Gott daliege – jene Gabe, welcher der Dichter bei den Alten den Namen vates – Seher – verdankte; dazu eine gewaltige, hinreißende Leidenschaftlichkeit, die nur übertroffen wird von der Gestaltungskraft [...].“ 210 England. Robert Browning’s neueste Dichtungen, in: Magazin 94 (1878), S. 615 f., hier S. 615. 211 So sieht es zumindest Käthe Freiligrath: [Rez.] England. Neueste Gedichte von Alfred Tennyson, in: Magazin 99 (1881), S. 21 f., hier S. 21. 212 August Zapp: England. Alfred Tennyson, der lorbeergekrönte Dichter, in: Magazin 99 (1881), S. 200–203.
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noch Jahrzehnte nach seiner Ästhetik – so sehr sich seine Schüler dagegen wenden: In der Epoche der „Reflexionsbildung“ ist es um die Kunst schlecht bestellt. Selbst- und fremdreflexive Bemühungen – etwa der Übersetzer – gleiten nicht selten in Trivialität ab. Die Sehnsucht nach dem Unmittelbaren oder nach einer gemeinsamen poetischen Sprache vermittelt in solchen Fällen nurmehr sich selbst. Für diesen Befund gilt es jedoch, eine quellenkritische Bemerkung einzuflechten: In der Nachfolge Freiligraths nehmen Anthologisten zwar poetologische Gedichte Tennysons auf, wählen mit The Poet’s Song jedoch einen Text, der eine einschlägige Topik vorgibt. Die komplexere Reflexionsdichtung (The Lady of Shalott, In Memoriam) entgeht dem anthologistischen Zugriff. Vergleichbares gilt für die deutsche Rezeption französischer poetologischer Lyrik.
3. Französische und deutsche Lyrik: Sozialkritik und die hohe Schule der Übersetzungspoetik. Léon Halévy La Poésie in Übertragungen von Heinrich Leuthold, Heinrich Nitschmann und Theodor Vulpinus Dem Engagement der Arbeitsgruppe „Transferts culturels – Pays germaniques“ am „Centre national de la recherche scientifique“/„École normale supérieure“ (Paris) ist es zu verdanken, daß sich die Forschung über den deutsch-französischen Austausch vor allem im 19. Jahrhundert überaus rege gestaltet.213 Von der Literatur- bis hin zur Wissenschaftsgeschichte:214 nahezu jeder Bereich trans- oder interkultureller Praxis des 19. Jahrhunderts wurde bereits angesprochen. Weil auch die Lyrik-Anthologien gut erschlossen sind,215 fällt es leicht, sogleich auf die Rezeption poetologischer Lyrik zu sprechen zu kommen, und zwar auf die Rezeption solcher Texte, die der viel behandelten ‚großen französischen Lyrik‘, der Dichtung Baudelaires, Verlaines, Mallarmés, Rimbauds und Valérys vorausgehen.216 213 214 215 216
Siehe die Übersicht in: Espagne 1999. Siehe die Beiträge in: Espagne u. Werner 1994. Siehe Keck 1996 u. 1996 a. Diese haben seit Friedrich (1996) hinreichend Aufmerksamkeit erfahren; einen Überblick gibt Bridgwater 1995.
3. Französische und deutsche Lyrik
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Das weite Feld dieser frühen französischen poetologischen Lyrik erschließt sich, zieht man Werner Schönermark Anthologie lyrique (1878)/Französisches Liederbuch (1878) zu Rate. Wie Freiligrath The Rose, Thistle and Shamrock schreibt Schönermark der poetologischen Lyrik einen besonderen Stellenwert zu – nicht als einem eigenen Genre allerdings, sondern als eine Gedichtfolge unter der Rubrik „La Vie Humaine“/„Menschenleben“. Sie besteht – in der deutschen Fassung – aus elf Texten: Alfred de Musset Impromptu en réponse à cette question: Qu’est-ce que la poésie? (1839)/Impromptu als Antwort auf die Frage: Was ist Poesie? (Übersetzung: G. Emil Barthel), Léon Halévy La poésie/Die Poesie (Übersetzung: Heinrich Nitschmann), Nicolas Martin Les legs du poète/Des Dichters Vermächtnis (Übersetzung: Moritz Hartmann), Les deux semeurs/Die beiden Säemänner (Übersetzung: G. Emil Barthel), Colibri (in zwei Fassungen von G. Emil Barthel), Notes perdues/Verlorene Klänge (Übersetzung: August Sturm), La chanson du poète (1873)/Des Dichters Lied (Übersetzung: G. Emil Barthel), Auguste Brizeux Les batteurs de blé/Die Schnitter (Übersetzung: Sophie Hasenclever), Jean-Pierre de Béranger Ma vocation (1816)/Mein Beruf (Übersetzung: Franz Freiherr Gaudy) und Adieu, chansons!/Lebt wohl, ihr Lieder (Übersetzung: Adalbert von Chamisso). Die französische Fassung Anthologie lyrique enthält darüber hinaus drei Texte, für die Schönermark offenkundig keine zureichenden deutschen Übertragungen fand: Thalès Bernard Ma poésie, Baudelaires L’albatros und Victor Hugo Le poète s’en va dans les champs (1831). Einige dieser Texte haben im 19. Jahrhundert bereits kanonischen Stellenwert erlangt: Béranger Ma vocation und Halévy La poésie vor allem,217 wobei Bérangers Text mit Abstand am häufigsten genannt wird,218 und für Béranger überhaupt gilt, daß er neben Victor Hugo so217 Bérangers Text findet sich auch in: Scherr 1855, S. S. 451 f.; Büchner 1859, S. 1 f.; Urbas 1865, S. 64 f.; Laun 1869, S. 50 f.; Mehring 1888, S. 7 f.; Mehring 1900, S. 9–11; Jaffé 1908, S. 27 f.; auf Halévy komme ich gleich eingehend zu sprechen. 218 Die Traditionslinien für die Rezeption französischer poetologischer Dichtung in Deutschland lassen sich gut verfolgen, vergleicht man Schönermarks Sammlungen mit der älteren Anthologie von Otto E. v. Urbas. Urbas’ „Die Dichter Frankreichs“ (1865) nimmt ebenfalls eine Rubrik „Poesie“ in seine Anthologie auf, wenn auch nur als Teilgebiet eines Kapitels, das „Gott und Natur. Schauen und Ahnen. Poesie“ überschrieben ist. Urbas führt folgende Texte an, auf die immer wieder – nicht zuletzt von Brandes (1872) – hingewiesen wird: Lamartine „Der sterbende Dichter“, Reboul „Meine Leier“, Béranger „Mein Beruf“, Lamartine „Der Genius der Verborgenheit“, Reboul „Antwort“, Halévy „Die Poesie“. Béranger und Halévy sind hier also bereits vertreten; die Bedeutung von Lamartine und Reboul geht im folgenden zurück.
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wie vor Lamartine und Alfred de Musset zu den „am stärksten vertretenen französischen Lyrikern“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts zählt.219 Lamartine Der sterbende Dichter findet sich gelegentlich unter den poetologischen Texten,220 aber ausgerechnet Hugo, der zahlreiche poetologische Gedichte schreibt, wird vor allem als politischer Dichter und als Dichter des Orientalischen wahrgenommen. Freiligraths frühe Übersetzung von Hugo Der Dichter in den Revolutionen221 beispielsweise kennt keine Nachahmer. Nur Brandes betont die Bedeutung von Hugos poetologischen Texten, vor allem diejenige der Widmungsgedichte von Hugo an Lamartine.222 Er nutzt sie, um die selbstgesetzte Zäsur zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert herauszustellen: die Zäsur zwischen moralisch-normativem und sozialkritischem, individuellem und liberalem Dichten.223 Bérangers Ma vocation hingegen ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits gut bekannt und heute – wie die Béranger-Rezeption überhaupt – bestens erforscht.224 Es verwundert nicht, daß Herwegh, Adalbert von Chamisso und andere von dem sozialkritischen Dichter begeistert sind. Ma vocation – zumeist reichlich verkehrt als ‚Mein Beruf‘ übersetzt – steht paradigmatisch für seine lyrisch vermittelte Sozialkritik: Hier berichtet ein armer Poet über sein trauriges Schicksal, sucht und findet sein Heil in der Dichtung. Béranger spielt mit Mustern der Sozialkritik und stellt den Dichter als Unterdrückten dar, der sich durch sein Lied befreit. Die Rezeption von Bérangers Ma vocation hält 219 220 221 222
Die Auswertung stammt von Keck 1996 a, S. 337. Enthalten in: W. Wagner 1835, S. 169–175; Viehoff 1887, S. 23–27. Dazu K. Richter 1976, S. 15 u. passim. Brandes 1874, III, S. 290 (möglicherweise mit Blick auf Urbas’ Anthologie): „An Lamartine sind mehrere Gedichte gerichtet – Hugo schreibt, er wolle auf demselben Streitwagen wie Dieser stehen, Lamartine solle die Lanze führen, er wolle die Rosse lenken, – und diese Gedichte gehören zu den interessantesten, theils weil sie außerordentlich schön sind und von Hugo’s zugleich ehrerbietigem und brüderlichem Verhältnisse zu dem älteren Dichter zeugen, theils weil ihnen neben den religiösen und socialen Erscheinungen ästhetische Gesichtspunkte hervortreten. In all’ diesen Gedichten zeigt sich, wie ernsthaft der junge Dichter seinen Beruf aufgefaßt hat. Dieser Beruf wird überall als der des Propheten bezeichnet. Ein Seher, ein Völkerhirt ist der Dichter, ja, von Lamartine heißt es, man sollte glauben, Gott habe sich ihm von Angesicht zu Angesicht offenbart.“ 223 Ebd., S. 291. Aufgrund der geringen Wahrnehmung seiner poetologischen Texte wird Hugo hier aber nicht ausführlich berücksichtigt. Hugo fand aber – auch nach Kortländer 1988 – insgesamt vielfach Beachtung: siehe beispielsweise Zelle 1995, S. 291–303; König 2001, S. 55–68. 224 Rieger 1993; Keck 1996 a.
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das Ideal des armen Poeten wach; Halévy aber überträgt es auf die Dichtkunst selbst. Wenn ausgerechnet diese beiden poetologischen Texte im deutschen 19. Jahrhundert zu denjenigen zählen, die am häufigsten aufgenommen werden, dann zeigt sich, daß deutsche Anthologisten und Übersetzer in der französischen Lyrik – ganz anders als in der britischen – vor allem sozialkritische Muster suchten, die den Rezeptionsinteressen des Jungen Deutschlands entgegenkommen und die sogar noch auf die nach-naturalistische Lyrik wirken:225 Alfred de Mussets poetologische Gedichte beispielsweise erleben durch Karl Henckells Übertragungen im Jahr 1910 eine Renaissance.226 Dieser Befund überrascht, berücksichtigt man den Umstand, daß England als Hort liberaler politischer und sozialer Ideale gilt. Aber ausgerechnet aus England importiert man formschöne Naturdichtung. Für die Wahrnehmung poetologischer Lyrik kehren sich die Selbstverständlichkeiten der Rezeptionsforschung um. Mehr noch: Es ist ausgerechnet die poetologisch gestaltete Sozialkritik eines Franzosen, nämlich diejenige Halévys, die in Deutschland poetologische Konflikte hervorruft. Diese Konflikte führen in das Herz des Münchner Dichterzirkels; sie fordern seine Übersetzungspoetik oder -stilistik am Beispiel einer Übersetzung heraus. Für den Beleg dieser These bedarf es eines genauen Blicks in die Anthologien von Schönermark ebenso wie in die Fünf Bücher französischer Lyrik (1862), gemeinsam verantwortet von Emanuel Geibel und Heinrich Leuthold (1827–1879). Schönermark nämlich bezieht sich emphatisch auf Geibel und auf die Übersetzungspoetik der Münchner: „Dem verehrten Dichter Emanuel Geibel als vortrefflichem Übersetzer französischer Dichtungen“, so lautet die Widmung Schönermarks in der deutschen Ausgabe seiner Anthologie. Er kappt die komplexe Übersetzungshermeneutik der Münchner, vor allem Heyses, zugunsten einer – in erster Linie – formalen Übersetzungspoetik und -stilistik: Die Übertragung sei „Abbild der Originaldichtung“,227 „poetisches Kunstwerk“,228 setze auf „Reinheit, Leichtigkeit, Eleganz und Adel der Sprache, Wohlklang des Metrums, Reinheit des Reims“.229 Nur die Beto225 Strodtmann (1863) zeichnet diese Tendenz französischer Dichtung nach. 226 Henckell 1910 übersetzt de Musset: „Nach einer Lektüre“, „Lied“ und „Dichterlust“. 227 Schönermark 1878 a, S. [VII]. 228 Ebd., S. IX. 229 Ebd.
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nung der „Sinnes- und Stimmungstreue“ bricht das stilistische Ideal von Übersetzung,230 wie Schönermark es vorsieht. Für seine Anthologie greift er den Textkanon der Münchner auf, aber gerade für den Halévy-Text hält er sich nicht an Geibels und Leutholds Fünf Bücher französischer Lyrik: Schönermark druckt nicht einfach Leutholds Übersetzung des Halévy-Texts ab, die sich in den Fünf Büchern findet, sondern wählt eine andere.231 Diese Abweichung hat ihren Grund. Denn Leutholds Übersetzung des Texts war kontrovers. Sie trug möglicherweise zu dem Zerwürfnis zwischen Geibel und Leuthold bei, das im Ausgang aus dem gemeinsamen Übersetzungsprojekt stand.232 Zugleich erhellt sie die ‚Andere Seite‘ der Münchner Übersetzungspoetik: die Indienstnahme von Poesie zum politischen Zweck, zum Lob der Münchner Kultur, besonders zum Lob der Wohltaten von Maximilian II. Wie konnte es dazu kommen, daß ein Gedicht die Einheit des elitären Münchner Zirkels gefährdete? Ein Umstand fällt ins Auge: Halévy (1804–1884) tritt nicht nur als ein Gelehrter hervor, der es – als Übersetzer des Horaz (1831), als Mitglied des französischen Ministeriums des öffentlichen Unterrichts, als Autor von Dramen, Lustspielen, Elegien und als Herausgeber der Anthologie Poésies européennes (1828)233 – mit den Münchnern aufnehmen konnte, sondern er ist auch Saint-Simonist. Dieses politische und soziale Bekenntnis schlägt sich in seinem vielzitierten Text La Poésie nieder: Elle était jeune, elle était belle; Son front, même au milieu des pleurs, empreint d’une grâce éternelle, Brillait de lumière et des fleurs; Sa voix faisait tomber les chaînes Qui pèsent sur les malheureux; Elle endormait désirs et peines ... Où donc es-tu, fille des cieux? Elle avait une chaste langage, Un doux sourire, un accent pur, 230 Ebd., S. VIII. 231 Eine enorme Abweichung stellt allerdings auch der ausführliche Bezug auf die Texte des französisch-deutschen Dichters Nicolas Martin dar. 232 Über das Zerwürfnis Werner 1996, S. 317. 233 Halévy will mit seiner Anthologie „un panorama du génie poétique chez les diverses nations de l’Europe“ bieten; ders. 1828, Préface, S. III–VII, hier S. III. Seine Anthologie enthält Gedichte von Lessing bis hin zu Schiller und Körner, von Alexander Pope bis hin zu Walter Scott.
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Soit qu’elle chantât dans l’orage, Ou pleurât sous un ciel d’azur: Elle venait, douce hécatombe, Parer nos travaux et nos jeux, Fêter la vie, ou bien la tombe ... Où donc es-tu, fille des cieux? Elle était pleine de croyance, Aussi les peuples la croyaient; Quand elle parlait d’espérance, Tous les cœurs brisés espéraient: Libre, et fière de son empire, Au pouvoir d’un maître orgueilleux Elle ne vendait pas sa lyre ... Où donc es-tu, fille des cieux?234
Halévy erzählt von ‚der Poesie‘ als von einem ‚Mädchen der Himmel‘, baut eine dualistische Raumsemantik auf: hier die Poesie – dort die Welt, zu deren Schutz und Rettung ‚das Mädchen Poesie‘ antritt. Sie löst die Ketten der Elenden, feiert das Dasein schlechthin, das Leben ebenso wie den Tod, verbreitet Hoffnung. Für sie gilt wie für die Lyra, die Horaz in Ad lyram/À sa lyre anruft: „O laborum / Dulce lenimen“,235 von Halévy frei übersetzt als „[la] douce consolatrice des chagrins de l’homme[.]“236 Der Ort von Halévys Poesie bleibt – wie derjenige der Lyra des Horaz – utopisch: nur in ihrem Reich ist sie stolz und frei von der ‚Macht eines hochmütigen Meisters‘. Der Refrain ‚Wo also bist du, Mädchen der Himmel?‘ verweist auf die Chansonnier-Tradition. La poésie empfängt demnach sowohl von der antiken Odendichtung als auch von der sozialkritischen Liedlyrik des französischen 19. Jahrhunderts Impulse. Leuthold greift diese Impulse auf: Die Poesie Jung war sie und in Schönheit glänzend, Die Stirne, selbst wenn sie geweint, Mit einem Stral der Anmuth kränzend, Wie er durch Frühlingswolken scheint. Des Unglücks schwere Ketten lös’ten 234 Léon Halévy: La Poésie, in: Schönermark 1878, S. 424 f. 235 ‚O der Mühen / süße Linderung [.]‘ Horaz: Ad lyram/À la lyre [übers. v. Léon Halévy], in: Horaz 1831, S. 72–75, hier S. 74. 236 Horaz: Ad lyram/À la lyre, S. 75. – Vor allem die Begriffe „chagrins“ (Kummer) und „consolatrice“ (Trösterin) wandeln den Sinn des Originals ab, indem sie es auf unmittelbare Gemütsregungen bzw. auf deren Therapie verkürzen.
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Sich, wo sie kam; ihr liebstes Thun War Sehnsucht stillen, Kummer trösten – Wo, Kind des Himmels, bist du nun? Der süße Reiz der Unschuld schmückte Ihr Wort, ihr Lächeln, jeden Zug, Ob sie mit Kindern Blumen pflückte, Ob sie im Sturm die Harfe schlug; Sie heiligt mit ihren Tönen Des Tages Mühsal wie das Ruhn, Und lehrt’ uns selbst den Tod versöhnen – Wo, Kind des Himmels, bist du nun? Noch glaubten, weil sie selbst voll glauben, An sie die Völker allerwärts; Es trugen ihres Liedes Tauben Die Hoffnung in manch wundes Herz. Voll Hoheit blieb sie fern dem Haufen; Kein Fürst vermochte, kein Tribun Ihr freies Lied je zu erkaufen – Wo Kind des Himmels, bist du nun?237
Im übrigen übersetzt Leuthold aber frei, weicht ganz vom Sinn des Originals ab und unterlegt ihm eine eigene Deutung.238 Er bedient sich zu diesem Zweck anderer Konjunktionen als das Original bzw. setzt Konjunktionen, wo sich keine finden,239 um gedankliche Zusammenhänge herzustellen. Während Halévy bloß Bilder aneinandereiht, unterstreicht Leuthold auf diese Weise die sozialkritische bzw. -utopische Ausrichtung des Gedichts. Gleiches gilt für die topische Tendenz der Übersetzung: Leuthold wählt „Frühlingswolken“ für „de lumière et des fleurs“, „des Unglücks schwere Ketten“ für „les chaînes / Qui pèsent sur les malheureux“, „Der süße Reiz der Unschuld schmückte“ für „Elle avait une chaste langage“, ‚Harfe schlagen‘ statt „chantât dans l’orage“, ‚mit dem Tod versöhnen‘ statt „Fêter la vie, ou bien la tombe ...“. Leuthold vereindeutigt den Text, wo er düster und bildreich wird (z. B. „douce hécatombe“). Ihren Höhepunkt erreicht diese Übersetzungspraxis in den letzten Versen von Die Poesie: „Kein Fürst vermochte, kein Tribun / Ihr freies Lied je zu erkaufen –“. Aus dem ‚hochmütigen Meister‘, der im Origi237 Geibel u. Leuthold 1862, S. 208 f.; auch abgedruckt in Urbas 1865, S. 74 f. 238 Für starke Abweichungen siehe bereits die Verse drei bis fünf. 239 Siehe schon den ersten Vers „und in Schönheit glänzend“; in der zweiten Strophe: „Ob sie [...].“
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nal ganz abstrakt bleibt, wird der machtgierige Fürst, der sich der Poesie bloß bedienen will – sei es zum Zweck der Panegyrik, sei es für ein rauschendes Fest zum Lobpreis seiner Majestät. Diese Verse erhellen, daß Leutholds Übersetzung in der Tradition des Jungen Deutschland steht, obwohl sie in einer der zentralen Anthologien für eine ästhetische Orientierung der deutschen Literatur im mittleren 19. Jahrhundert erscheint. Den Bedingungen des Publikationsorts zum Trotz reflektiert sich der politische Dichter hier im Gewand des gelehrten Saint-Simonisten. Während sich Halévy aber mit utopischen und bildreichen Visionen begnügt, wird Leuthold konkret, begrifflich – und angreifbar für einen Dichterzirkel, der sich dem Ideal des Hofpoeten verschrieben hatte. Maximilian II. konnten die Verse Leutholds ebensowenig gefallen wie Geibel. Dabei handelt es sich aber um mehr als um bloß kulturpolitische Vorlieben. Denn in der Tat nutzt Leuthold die vergleichsweise freie Übersetzungspoetik der hohen Münchner Schule zugunsten politischer Zuweisungen. Er interpretiert sein Original – nicht als sozialkritisch-utopischen Text, sondern als politisches Gedicht. Es kann kein Zufall sein, daß Schönermark, der sich den poetologischen Übersetzungsidealen der Münchner verschreibt, die Übersetzung von Leuthold durch diejenige von Heinrich Nitschmann (*1826) ersetzt. Nitschmann unterhält keine Verbindungen nach München; er studierte in Berlin, lebt seit 1855 auf einem Rittergut im ostpreußischen Elbing, schreibt u. a. eine Geschichte der polnischen Literatur (1882, 2 1889) und veröffentlicht Lyrik-Anthologien wie beispielsweise das Album ausländischer Dichtung (1868).240 In der Übersetzung Nitschmanns klingt Halévys Text ganz anders als in derjenigen Leutholds: Die Poesie Sie war so jung, sie war so schön; Auf ihrer Stirn war selbst im Leide Durch lichte blumige Geschmeide Der Anmuth Strahlenglanz zu sehn. Bei ihrer Stimme löste sich Die Kette, lastend auf dem Kummer, Die Leidenschaft versank in Schlummer ... Du Himmelskind, wo find’ ich Dich? Sie ließ so züchtig vor der Welt Durch Lächeln ihren Sang erzittern, Sie redete in Ungewittern 240 Hinrichsen 1891.
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Wie unter heiterm Himmelszelt, Und weihte sanft den Menschen sich. Die Arbeit schmückend und die Freuden, Das Leben feiernd, wie das Scheiden ... Du Himmelskind, wo find’ ich Dich? Sie blickte glaubend himmelwärts, Drum glaubten ihr die Völker wieder; Und – sangen Hoffnung ihre Lieder, Dann hoffte manch’ gebrochnes Herz: Sie fühlte freie Herrin sich, Drum lieh sie zur erkauften Feier Der Großen niemals ihre Leier ... Du Himmelskind, wo find ich Dich?241
Nitschmanns Übersetzung bleibt näher am Original, löst die offenen Formen aber ebenso wie Leuthold durch Konjunktionen,242 mitunter auch durch ganz ungeschickte Übertragungen auf.243 Nitschmann kommt es nicht auf eine politische Deutung des Gesamttexts an; vielmehr verniedlicht und individualisiert er ihn und nutzt moralische Floskeln.244 In Nitschmanns Die Poesie sucht ein Sprecher-Ich ein „Himmelskind“, das Kummer und Leidenschaft von den Menschen nimmt, das sich ihnen ‚weiht‘. Die entscheidenden letzten Versen deuten den „maître orgueilleux“ auf andere Weise als Leuthold: Nitschmann schreibt von einer „erkauften Feier“ und abstrakt von „Großen“. Der Verweis auf einen ‚Meister‘ fehlt; den ‚Fürsten‘ oder ‚Tribun‘ Leutholds spart Nitschmann aus. Leuthold entdeckte Halévys Text für die deutsche Rezeption,245 aber er nahm ihn offenkundig in einer Weise auf, wie sie im Deutschland der 1860er Jahre nicht statthaft war, schon gar nicht im Münchner Zirkel, aber auch nicht auf einem Rittergut im fernen Elbing. Doch selbst Nitschmanns moralische und gemäßigte Übersetzung wird für den populären Buchmarkt noch einmal überboten, und zwar durch Theodor Vulpinus, einen ansonsten unbekannten Schriftsteller und Übersetzer. Erst seine Übersetzung findet Eingang in Fritz Gundlachs Anthologie Französische Lyrik seit der Großen Revolution bis auf die Gegenwart (1904), günstig zu erwerben durch Reclams Universal-Bibliothek. 241 242 243 244
Nitschmann 1868, S. 93 f.; übernommen in Schönermark 1878 a, S. 245 f. „Auf ihrer Stirn“, „Durch lichte, blumige Geschmeide“ usf. Ganz ungeschickt ist beispielsweise „Sie redete in Ungewittern“. Gleichwohl übernimmt Nitschmann zahlreiche Ausdrücke Leutholds: „jung“, „schön“, „Stirn“, „selbst“, „Anmuth“, „Kette“, „Lächeln“, „Hoffnung“, „Herz“. 245 Geibel hatte sich seinerseits auf Lamartine und Hugo konzentriert; dazu Pradels 1905.
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Die Poesie Sie strahlte hell in Jugendschöne, Ein Engelbild aus Duft und Licht, Dem selbst der Trauer Klagetöne Sein göttlich Glänzen raubten nicht. Frei lauschten ihren Wohllautsfluten, Die in des Elends Banden sind, Die Seufzer und die Wünsche ruhten; – Wo weilst du, hohes Himmelskind? Ob unter finstren Sturms Geräusche, Bei lichter Sonne Schein sie sang, Ihr Liedermund, der reine, keusche, Zu süßer Lust die Herzen zwang. Sie kam als Priesterin des Schönen, Uns, die der Gottheit dürftig sind, Mit Tod und Leben zu versöhnen – Wo weilst du, hohes Himmelskind? Ihr Auge sah den Himmel offen; Sie zog die Welt zu sich empor; Sie sang von Glauben, Lieben, Hoffen, Und selig lauschte jedes Ohr. In ihrem Reiche stolz und freier, Als dieser Erde Herrscher sind, Verkaufte nie sie ihre Leier; Wo weilst du, hohes Himmelskind?246
Vulpinus setzt fort, was Leuthold und Nitschmann bereits vorgaben. Ihm gerät die Poesie zur Heiligen, zur moralischen Göttin, die sich in Glanz und Himmelsferne auflöst. Er überbietet die Topisierungen Leutholds und die Moralisierungen Nitschmanns aber noch einmal: durch Komposita („Jugendschöne“, „Engelbild“, „Klagetöne“, „Wohllautsfluten“, „Elends Banden“ usw.) und dadurch, daß er der sozialutopischen Bildwelt eine christliche überstülpt. Aus dem „Himmmelskind“ Nitschmanns wird ein „Engelbild“, eine „Priesterin des Schönen“, die – ganz christlich – von „Glauben, Lieben, Hoffen“ kündet. Vulpinus spitzt den Dualismus zu, der in Halévys Text schon angelegt, aber nicht christlich gemeint ist: Dem irdischen Jammertal steht das herrliche und quasi-christliche Reich der Poesie entgegen; „dieser Erde Herrscher“ haben darauf keinen Einfluß. 246 Gundlach 1904, S. 194, Übers. v. Theodor Vulpinus.
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IV. Poetik der Weltpoesie: Selbstreflexion im Fremden
In der zweiten Hälfte des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert nimmt die Komplexität der Übersetzung also auch im Fall Halévys radikal ab. Der Ausgangstext wird nurmehr ganz zur Folie für Selbstreflexionen. Die ‚hohe Schule‘ der Münchner Übersetzungspoetik hatte den Weg zu solch freien Übersetzungen mit ihren hermeneutischen und subjektivierenden Überlegungen eröffnet, wenn sie damit auch nicht Vereindeutigung à la Leuthold, Nitschmann oder Vulpinus – mit dem britischen Beispiel: Seeliger, Vollheim, Rugard und Prinzhorn – meinte. Denn Praktiken der Übersetzung äußern sich in diesem Fall nicht als poetologisch abgesicherte Erkundungen des Originals, sondern vielmehr als triviale Selbstdeutungen im Fremden. Um 1900 treten Unterschiede von Original und ‚Zweitverwertung‘ noch deutlicher zu Tage; Vulpinus’ Übertragung bestätigt es exemplarisch. Die originalgetreue Übersetzung ist ebenso an ihr Ende gekommen wie das Bemühen um ein ‚Besserverstehen‘ des Texts. Poetologische Innovation liegt ab jetzt nicht mehr so sehr im Fremden als im Übersinnlichen, im Mystischen, in der Suche nach einem ‚tiefen‘ und geheimnisvollen Sinn, den es zu entbergen gilt. Techniken der Übersetzung geraten dabei überhaupt ins Hintertreffen; Ziel ist vor allem die eigenständige Darbietung eines ‚heiligen‘ Originals. Die Avantgarden behandeln fremdsprachige Texte wie kultische Dokumente; sie beten ihre Autoren als poetische und poetologische Ikonen an. Rilkes Gedichten auf Keats beispielsweise lassen sich nicht mehr als Übersetzungen einstufen; vielmehr schließt Rilke an die Tradition des Widmungsgedichts an, um einen ganz eigenen Text über den ‚heiligen Dichter‘ Keats zu verfassen. Poetologische Reflexion äußert sich dabei als Mystifikation des Originals. Doch bevor ich auf diese Entwicklungen zu sprechen komme, will ich wiederum Poetiken aufnehmen, die zeitgleich mit der Weltpoesie in Deutschland entstehen, und die für die deutsche poetologische Lyrik im Ausgang aus dem Reflexionsdenken der Romantik mindestens ebenso wichtig waren wie die Inspiration ‚von außen‘. Einige von ihnen, die Poetiken der 1820er/25er bis 1840er/50er Jahre, diejenigen der (Proto-)Realisten und später auch der Naturalisten, geben erst den Ton für die Poetiken und Praktiken der Weltpoesie und der Übersetzung vor; Freiligraths The Rose beispielsweise hat das Ideal schwäbischer Lyrik vor Augen, wenn er sich Tennyson widmet. Die ‚Lyrik der Damen‘ stellt eine dritte Parallelbewegung innerhalb der Lyrik dar. Sie verhält sich den neuen Anforderungen der Reflexion gegenüber als vergleichweise abweisend. Gerade deshalb lohnt der
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Blick auf die seltenen reflexiven Muster in der Lyrik dieser Damen – besonders auf die poetologische Gedichte der von Freiligrath so verehrten Annette von Droste-Hülshoff.247
247 Grywatsch 1995.
Exkurs. Weibliche Poetik – Andere Reflexion? Die Physiko-Poetik der Annette von Droste-Hülshoff [...] dieselben Umstände, welche die Frau in die Richtung der schöpferischen Tätigkeit lenken, stellen auch Hindernisse dar, die sie sehr oft nicht zu überwinden versteht. Wenn sie sich zum Malen oder zum Schriftstellern entschließt, allein um die Leere ihrer Tage auszufüllen, werden Bilder und Essais als Handarbeiten behandelt. Sie widmet ihnen weder mehr Zeit noch mehr Sorgfalt, und sie haben ungefähr denselben Wert. [...] Da ihr eine ernsthafte Ausbildung fehlt, wird sie immer nur eine Amateurin bleiben.1
Das Dilemma der kreativen Frau des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, das Simone de Beauvoir beschreibt, trifft auch auf das Schicksal deutscher Schriftstellerinnen zu. Gehorcht die adelige oder bürgerliche Dame ihrer Berufung zu den schönen Künsten, so strebt sie – aus ganz unterschiedlichen Gründen – nicht nach Professionalität. Sie dilettiert, füllt bloß ihre Zeit. Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel. Annette von Droste-Hülshoff (1798–1848), das schriftstellernde und naturforschende westfälische Adelsfräulein,2 gehört dazu. Unter den zahlreichen Dichterinnen des frühen 19. Jahrhunderts ist sie die einzige, die regelmäßig in den Anthologien ihrer männlichen Dichter-Kollegen berücksichtigt wird: Ihr gebührt ohne Zweifel der „erste[] Rang“ unter den neuzeitlichen Dichterinnen, so lautet ein zeitgenössisches Urteil,3 das in der Literaturforschung vielfach bestätigt wurde.4 In Anthologien bis etwa 1860 tauchen nur gelegentlich andere Namen auf: Ida Gräfin Hahn-Hahn (1805–1880)5 und Adelheid von Stolterfoth (1800–1875) beispielsweise, die in solchen Fällen mit ein oder zwei Texten vertreten sind. Aber Vorkommnisse wie diese fallen 1 Beauvoir 1968, S. 659 [Hervorhebung im Original]. 2 Über das naturwissenschaftliche Interesse der Droste Nettesheim 1958; Schlaffer 1984, S. 75; Kühlmann 1986, S. 440 f. 3 Lindemann 1871, II, S. 1. 4 Zuletzt – mit Blick auf genau diese Kanonisierungsprozesse – Heydebrand 2001. 5 Siehe Osinski 1998.
Exkurs. Weibliche Poetik – Andere Reflexion?
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kaum ins Gewicht. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verändert sich der Markt der Anthologien ‚zugunsten‘ der Frauen. Plötzlich spricht man von Schriftstellerinnen wie Betty Paoli (1814–1894), dem ‚weiblichen‘ Gegenbild zur ‚spröden‘ Droste.6 Jörg Schönert (1978) und Günter Häntzschel (1979) zeigten, wie Anthologisten die Schriftstellerinnen entdeckten, um der Leserin Lebenshilfen für das Wahre, Schöne, Gute in die ‚zarte Hand‘ zu geben. Folgerichtig stehen diese Anthologien für die Damenbibliothek im Verdacht der Trivialität. Gibt es für diese Trivialität poetologische Gründe? Eine Antwort auf diese Frage liegt, so meine These, im Vorkommen und in der Ausgestaltung poetologischer Lyrik. Um an ein Datum zu erinnern: Die 67 ‚männlich dominierten‘ Übersetzungsanthologien, die hier ausgewertet wurden, enthalten 4,19 % poetologischer Lyrik. In solchen Anthologien, die in erster Linie Gedichte von Frauen aufnehmen, fällt dieser Anteil geringer aus: Anthologien weiblicher Lyrik weisen nur einen Anteil von ca. 0,96 % poetologischer Lyrik auf.7 Frauen interessierten sich weniger für die dichterische Selbstreflexion und für Fragen der poetologischen Programmatik als Männer. Auch begründeten Frauen allenfalls lose und temporäre Zusammenschlüsse, keine professionalisierten und programmatisch angleiteten Dichterinnenzirkel. Sie riskierten die poetisch-poetologische Isolation, verschenkten die Möglichkeit einer Verbesserung der eigenen lyrischen Produktion aus der wechselseitigen Kritik; in der Folge erlangten ihre Texte nur schwer einen gewissen programmatischen Wiedererkennungswert. Als ein weiterer Beleg für meine These dient mir die Dichtung der Droste, der deutschen Dichterin ‚ersten Rangs‘. Allein quantitativ ist der Anteil poetologischer Lyrik vor allem in ihrem Frühwerk enorm hoch – möglicherweise ein Grund für die vergleichsweise reiche Rezeption der Droste-Texte. Ihre Texte ließen sich nämlich mit bestimmten literaturprogrammatischen Erwägungen verbinden: mit moralischer und religiöser Lyrik8 und – nicht zuletzt – damit, daß sie ihr SprecherinnenIch zur Wortführerin der Schriftstellerinnen ihrer Zeit ernennen (1. Teil). Anders als viele ihrer Kolleginnen bringt die Droste die nötige 6 Schönert 1978, S. 287. 7 Das ist das Ergebnis der Auswertung von A. Voß 1847; Kletke 1853; Lindemann 1871; Siegemund 1895; Virginia 1907; Bindewald 1895. 8 Schlaffer liest Drostes Dichtergedichte als moralische Poesie; ders. 1966. Auf den religiösen Aspekt im Werk der Droste konzentriert sich die gegenwärtige Forschung über die Konfessionalisierung der Dichtung im 19. Jahrhundert; vgl. S. Schmidt 1994, S. 108 f.; Rösler 1997, S. 217–296.
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Gelehrsamkeit dazu mit.9 Während sich andere Frauen vor allem der Liebesdichtung, der Naturdichtung oder der religiösen Dichtung widmen, schreckt die Droste vor keinem noch so komplizierten poetologischen Thema zurück. Sie kennt und nutzt alle Themen, Motive, Genres und dichterischen Konventionen, die den männlichen Kollegen zu Gebote stehen, was nicht bedeutet, daß sie diese einfach nachahmte.10 Aus der Sicht Heinz Schlaffers wird ihr diese Kenntnis aber zum Verhängnis, sofern die Dichtergedichte betroffen sind: Die sonst so subjektive, humorvolle, weltzugewandte und anti-idealisch schreibende Droste11 lasse sich hier vom Pathos ihrer männlichen Kollegen anstecken und forme deren Topoi nach.12 So exakt diese Interpretation die Dichtergedichte der Droste auch kennzeichnet, so problematisch erscheint es, sie ausschließlich vor der Folie ‚männlicher Dichtung‘ zu lesen. Ein etwas anderes – und der subjektiven und humorvollen Droste näheres – Bild ergibt sich, zieht man den weiteren Kontext ihrer poetologischen Gedichte13 ebenso wie den Kontext weiblichen Schreibens 9 Über den Bildungsstand und die Bezugstexte der Droste den ungemein informativen Beitrag von Nettesheim 1958; Kühlmann 1986, S. 440–447; Gaier 1991–96. 10 Von anderen Dichterinnen lassen sich gleichwohl poetologische Gedichte finden, die sich eng an die Texte ihrer männlichen ‚Vorbilder‘ anschließen – oder aber auch umgekehrt. Beispielsweise erinnert das Gedicht „An meine liebe Äolsharfe“ von der blinden Stiftsdame Henriette von Bünau (*1759) an Mörike „An eine Äolsharfe“; siehe Kapitel III. 1. a) dieser Untersuchung. Vgl. nur die ersten Verse aus Bünau: An meine liebe Äolsharfe, in: A. Voß 1847, S. 477, V. 1–3: „Berührt vom Lufthauch tönst du in’s Herz / Die Wehmuth der Liebe, der Trennung Schmerz. / Wie Geisterstimmen erklingen die Saiten [...].“ Bünaus Text wurde erstmals in Abraham Voßens Anthologie „Deutsche Dichterinnen“ (1747) gedruckt; ein genaues Entstehungsdatum des Texts läßt sich aber nicht ermitteln. Es ist also unklar, ob Bünau Mörikes Text kannte oder ob Mörike von Bünaus Text Kenntnis haben konnte. Bünaus Gedicht jedenfalls erweist sich als konventioneller als der Mörike-Text und richtet sich darüber hinaus weniger auf das poetologische Thema, als vielmehr auf Gefühle, die der nahe Tod auslöst. Vergleichbares gilt für Mathilde Josephine Katharine Beckmanns Gedicht „Der verbannte Dichter“ (1847). Beckmann schildert die Gefühle des prototypischen Freiheitsdichters, der als Anhänger der Revolution in Deutschland aus dem Vaterland verbannt wurde, und sich zu Unrecht von den Freunden und Nächsten getrennt sieht. Ihr Text erinnert an Freiligraths „Der ausgewanderte Dichter“, erweist sich aber als pointierter verglichen mit Freiligraths Text. Sein Dichter verliert sich schon in den Beobachtungen der Jagd und des neuen Lands, in dem er sich wenig heimisch fühlt; vgl. Kapitel IV. 3. dieser Untersuchung. 11 Diese so sympathische und muntere wie außergewöhnliche Droste beschreibt Schlaffer 1984, S. 71–95. 12 Schlaffer 1966, passim. 13 Im späten Anschluß an Schlaffer (1966) widmete sich die Forschung mit Vorliebe den Dichtergedichten der Droste; siehe Salmen 1985, S. 162–216; Lenckos 1996;
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hinzu.14 Im Blick darauf läßt sich der Umstand, daß die Droste – inspiriert durch ihre ‚Muse‘ Levin Schücking und unterstützt durch den Dichter(innen)zirkel um Elise Rüdiger15 – überhaupt Poetologisches verfaßt, durchaus würdigen. Mit ihrer poetologischen Lyrik setzt sie sich von den Zeitgenossinnen ab. Die Qualität ihrer poetologischen Gedichte steigert sich allerdings, je weiter sie sich vom heiklen Thema des Schriftstellerinnendaseins entfernen.16 In poetologischen Texten, die nicht über das Schriftsteller(innen)-Dasein handeln, entwickelt sie Ansätze zu einer eigenwilligen und nicht mehr geschlechtsspezifischen Physiko-Poetik, die die Physikotheologie nicht nur beerben, sondern ihre Darstellungsmuster ganz eigensinnig, kritisch und mit der Geste der beinah schon empirisch vorgehenden Naturforscherin nutzen (2., 3. Teil). In der Forschung kommt diese physiko-poetisch interessierte Droste zu kurz; für die Beschreibung der Reflexionsdichterin – oder: der Dichterin der Dichterin – erzielten erst jüngere Beiträge Fortschritte. Danach zeichnen sich ihre Texte durch eine Doppelheit des weiblichen Ich aus: durch die Spaltung in eine weibliche und in eine männliche, nämlich ruhmsuchende Rolle.17 Ob tatsächlich von einer solchen Spaltung gesprochen werden kann, bleibt zu fragen. Poetologische Reflexion jedenfalls erweist sich als ein thematischer und struktureller Strang im Gesamtwerk der Droste.18
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Koopmann 1997–98; Kirkbright 1999. Dabei gelang es aber nicht, die unterschiedlichen Typen der lyrischen Texte zu unterscheiden, in denen die Droste einmal über die Dichterin (respektive den Dichter), ein ander Mal über die Poesie reflektiert. Eine solche Unterscheidung tut aber Not, will man den poetologischen Gehalt der Droste-Texte erschließen und ihnen Funktionen für eine poetologische Selbstbeschreibung zuweisen. Über Droste im engeren Kontext ihrer ‚geistigen Schwestern‘ informieren die Beiträge in Niethammer u. Belemann 1992. Über den Rollentausch zwischen Dichterin und Dichter Heydebrand 2001. Der Ansatz von Schlaffer und der nachstehend erprobte widersprechen sich insofern nicht. Nachfolgendes ist vielmehr als Ergänzung und Modifikation von Schlaffer gedacht. Peuker 1987, S. 76; Heydebrand 2001, S. 146 f. Nur der poetologische Gehalt des Spätwerks „Letzte Gaben“ (1862) ist umstritten; siehe vor allem Koopmann 1997–98; siehe auch Köhn 1991–96. Frauke E. Lenckos plädiert dafür, in den „Letzten Gaben“ ein „poetological work“ zu erblicken (1996a, S. 282); Rüdiger Nutt-Kofoth (1997–98) wendet sich aus editionsphilologischer Perspektive dagegen.
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1. An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich (1844): weder Hirtinnen noch Hetären, sondern irdische Heilige. Heroisierende Reflexion über das Dichterinnenamt Der Titel des neunstrophigen Texts An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich (entstanden zwischen 30.9.1841– 29.7.1843; früher Titel: „An die Blaustrümpfe“) ist Programm.19 Es handelt sich um einen Appell der Droste an ihre verseschmiedenden Geschlechtsgenossinnen. Die Droste kritisiert ihre Kolleginnen scharf. Zugleich bemüht sie sich aber, diese Kritik konstruktiv zu wenden – im Sinne einer ausgesprochen energischen Programmschrift für das Dichterinnenamt. Ihr Text ist entsprechend antithetisch aufgebaut: auf der einen Seite steht die Kritik, auf der anderen die Lösung (‚Führer verloren‘ vs. ‚Führer nicht hingerichtet‘, Ruhm vs. Ehre, Falk vs. Aar). Mitunter wählt sie aber auch einen Dreischritt, der zunächst zwei problematische Bildund Wahrnehmungsfelder vorführt und erst dann – nicht im Sinne einer Synthese, sondern wiederum als Gegenbild – das Gewünschte darstellt (Weltentrückte, Hirtin, Hetäre vs. irdische Heilige). Dabei wechseln darstellende Passagen (1., 5., 6. Strophe) mit wertsetzenden und auffordernden Abschnitten (2.–4., 7.–9. Strophe); die Warnung geht dem Rat voraus (7. vs. 8. Strophe). Beschreibende Passagen erwecken den Anschein der Objektivität und lassen den Gehalt der Aufforderungen als wahr oder wahrscheinlich erscheinen – zumal sich die Sprecherin des Gedichts ganz zugunsten der Ansprache des ‚Ihr‘ zurücknimmt. Sie gibt sich nur einmal zu erkennen, präsentiert sich an dieser Stelle aber als allmächtig: „Ich will den Griffel eurer Hand nicht rauben [...]“, vermerkt sie gütig und autoritär zugleich.20 Die Schriftstellerin der Schriftstellerinnen erhebt sich über ihre Geschlechtsgenossinnen und meint, über ihr Schicksal entscheiden zu können. Sie analysiert ihre Kolleginnen, nimmt sie als „nüchtern“ wahr, als uninspiriert und willenlos („gleich Kräuterbeeten“ und „gleich Fichten“).21 „Ward denn der Führer euch nicht angeboren“ – dieser Vers 19 Es erstaunt, daß ausgerechnet dieser Text in feministischen Analysen zu Droste-Texten keine Rolle spielt; vgl. die Beiträge in Niethammer u. Belemann 1992. 20 Annette von Droste-Hülshoff: An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich, in: Droste 1978 ff., I,1, S. 17–19, hier S. 18, 6. Str., V. 47. 21 Ebd., S. 17, 1. Str., V. 1 f.
1. An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich
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drückt aus, das von den Frauen kein eigener Impuls für die Poesie ausgeht.22 Stellvertretend für ihre Kolleginnen mustert die Sprecherin verschiedene Rollen, die Dichterinnen im Laufe der Zeit spielten. Die Rolle der weltentrückten christlichen Naturmystikerin, die sich mit Hildegard von Bingen verbinden ließe, lehnt sie ebenso ab, wie diejenigen der Hetäre, deren prominenteste Vertreterin die ‚Heidin‘ Sappho darstellt. Damit nimmt die Sprecherin zugleich kritisch jene Dichterinnen-Kulte in Augenschein, wie sie in den 1840er Jahren schon etabliert waren.23 Wollte man der Droste Fähigkeiten zur Vorwegnahme späterer Sachverhalte unterstellen, so könnte es scheinen, als schriebe sie hier bereits gegen die Darstellung ihrer eigenen Person durch Schükking an: Er glorifiziere sie als ‚westfälischen Schwan‘ und als ‚schreibende Nonne‘.24 Demgegenüber läßt die Sprecherin der Droste nur eine Rolle gelten und schreibt diese starr und moralisch fest: Gemeint ist die Rolle der irdischen Heiligen, die einem ‚ganzheitlichen‘ und selbstgewählten Auftrag, dem ‚Führer in sich‘ und dem „Gott im eignen Hirne“, folgt.25 Diese besondere Heilige weiß um die Gnade des „Blutes“, pflegt den entweihten „Tempel“, „den Menschenhand nicht baute,“ und „bewahrt“ auf diese Weise „das anvertraute / Das heil’ge Gut“.26 Deshalb leistet sie Zeugenschaft in einer wild-bewegten Zeit, enzieht sich dieser aber schon wie ein ‚einsamer Aar‘, um nicht wie ein „kecke[r] Falk“ mit ihr zu spielen.27 „Ruhm“, „Lorbeer“ und finanzielle Entlohnung verachtet sie um der „Ehre“ und des „Segen[s]“ willen.28 Ihre Adressaten sind entweder weiblich und leben in gesellschaftlich anerkannten Frauenrollen („die Gattin“, „die Mutter“), oder sie sind noch nicht geschlechtsreif („das Kind“).29 Drostes Sprecherin verkündet eine ‚reine‘, nämlich eine einseitig heroisierende und heiligende Poetik des Schriftstellerinnenamtes, die auf 22 Ebd., V. 7. 23 Vgl. z. B. Marie Madeleine: Sappho, in: Virginia 1907, S. 124 f.; Ida v. Düringsfeld [Thekla]: An George Sand, in: A. Voß 1847, S. 494 f. Die Droste wurde allerdings selbst zum Kultgegenstand; vgl. M. [...] Herbert: An Annette Droste, in: Virginia 1907, S. 69. 24 Vgl. über die klischee-beladene frühe Droste-Biographik Rösler 1997, S. 221 f. 25 Droste-Hülshoff: An die Schriftstellerinnen (wie Anm. Exkurs, 20), S.18, 9.Str., V.68. 26 Ebd., Str. 8, passim. 27 Ebd., Str. 7, passim. 28 Ebd., S. 17, Str. 4, V. 26; ebd., S. 19, Str. 9, V. 69 f. 29 Ebd., S. 18, Str. 8, V. 64.
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den Kontext der christlichen Spätromantik verweist.30 Verständlicherweise erscheint dieser Typus der Heldenpoetin als übertrieben und als konventionell blickt man – mit Schlaffer – auf die Dichtergedichte von Drostes männlichen Kollegen. Nimmt man jedoch die Geschlechterspezifik von Dichtergedichten in den Blick, so läßt sich An die Schriftstellerinnen als ein revolutionäres Manifest beschreiben. Zu diesem Zweck greift die Droste Muster ‚männlicher Gedichte‘ auf, die in den 1840er Jahren schon als gängige Darstellungsformen erschienen. Sie lehnt sich an die Traditionen einer universalreflexiven Poesie an.31 Diese Darstellungstradition dient ihr aber als Gegenbild für den Kult um die Rollen der naturmystischen und der Hetären-Dichterin, als Gegenbild also für weibliche Rollenklischees, die in Lyrik bislang nicht oder nur unzureichend thematisiert wurden. Der Droste wird die Schriftstellerin demgegenüber ausdrücklich zum Thema, indem sie ihre Vorgängerinnen als Typen betrachtet, die aus unterschiedlichen Gründen außerhalb der Gesellschaft standen: die eine floh in die Mystik, die andere sicherte sich die Privilegien der Hetäre, die Eigenständigkeit und Ungebundenheit, nahm dafür aber in Kauf, auf den Schutz der Familie zu verzichten und einem ungewissen Alter entgegenzusehen. Bezeichnenderweise wendet sich das Sprecherinnen-Ich des Droste-Texts an gesellschaftlich etablierte Schriftstellerinnen, die Anerkennung jenseits der Rollenklischees für die Dichterin suchen. Drostes Sprecherin reagiert damit auf ein soziales ebenso wie auf ein poetologisches Desiderat. In diesem Sinne erscheint es als angemessen, Autorinnen für die Entfaltung der eigenen Schriftstellerinnenrolle eine eigene Geschichte zuzugestehen, die sich im 19. Jahrhundert noch nicht an der männlichen messen läßt, aber in ihrer Entwicklung mit dieser vergleichbar ist. Daß die ‚weibliche Rollenpoetik‘ im Falle des Droste-Gedichts so einlinig daherkommt, ‚männliche Muster‘ auf sich selbst überträgt, um weibliche Klischees zu kritisieren, läßt sich demzufolge aus dem Bedarf erklären, der sich aus der Sicht der Droste für die Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung von Schriftstellerinnen ihrer Zeit ergab. Drostes Poetik gehorcht, sofern die Rolle der Schriftstellerin betroffen ist, dem Muster nachholender Modernisierung. Mein Beruf (entstanden zwischen dem 30.9.1841 und Februar 1842), ein neunstrophiges und programmatisches, ursprünglich sogar für die 30 Dazu Kühlmann 1986, S. 440–447. 31 Vgl. darüber Kapitel II. 2. u. 3. dieser Untersuchung.
1. An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich
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Einleitung von Drostes erstem Lyrik-Band gedachtes Gedicht, stützt diese Interpretation. Hier spricht ein Ich unmittelbar über sich, nämlich über die eigene gesellschaftliche Rolle. Die Überlegungen, die dieses Ich von sich preisgibt, reagieren – so scheint es – auf das Schicksal der Droste selbst, spielen also mit dem autobiographischen Bezug: „Was meinem Kreise mich enttrieb, Der Kammer friedlichem Gelasse?“ Das fragt ihr mich, als sei, ein Dieb, Ich eingebrochen am Parnasse.32
Der Umstand, daß sich die Autorin solchen Fragen im quasi-autobiographischen Kreuzreim meint stellen zu müssen, läßt sich bereits als eine historische Tatsache würdigen.33 Ihre Rolle war ihr nicht selbstverständlich. Sie mußte sie erst gegen Anfechtungen behaupten, und bezeichnenderweise schreckte sie davor zurück, Berufsschriftstellerin zu werden. Als Adelsfräulein überantwortet sie ihr Sprecherinnen-Ich einer riskanten Fiktion: Es gibt das „friedliche[] Gelasse“ seiner „Kammer“ auf, setzt damit seinen gesellschaftlichen Rang und Ruf auf’s Spiel. Die Selbstrechtfertigung der Sprecherin klingt hier allerdings weitaus konventioneller als in An die Schriftstellerinnen. Für Mein Beruf beschwört sie – sich an Hölderlins Dichtermuth anlehnend34 – das Gottesgnadentum des Poeten bzw. der Poetin.35 Anders als die Kolleginnen, die in An die Schriftstellerinnen schon aus sich selbst schöpfen, sieht sich die Sprecherin hier als von einer äußeren und transzendenten Gewalt als geheiligt an. Liest man An die Schriftstellerinnen nicht nur als eine Botschaft an die Kolleginnen im Amt, sondern betrachtet die Droste als Adressatin der (eigenen) Sprecherin, liest man den Text also als Appell der Autorin an sich selbst, dann läßt sich das Gedicht als Versuch verstehen, sich Mut zu machen und sich von Mustern einer göttlichen und äußeren Inspiration des Poeten bzw. der Poetin zu befreien. Im Blick auf Drostes späten und bloß vierstrophigen Lyrik-Text Der Dichter – Dichters Glück (1862) erscheinen all diese Beschreibungen der Rolle der Schriftstellerin jedoch als frühe und emphatische Unternehmungen. Der Dichter – Dichters Unglück erweist sich als eine Publikumsbeschimpfung. Es unterscheidet wie eine Schwarz-Weiß-Zei32 33 34 35
Droste: Mein Beruf, in: Droste 1978 ff., I,1, S. 97–99, hier S. 97, V. 1–4. Siehe Bianchi 1992, S. 33, Niethammer 1992. Gaier 1991–96, S. 29. Droste: Mein Beruf (wie Anm. Exkurs, 32), S. 97, Str. 1, V. 8; ebd., S. 98, Str. 8, V. 58; dazu Salmen 1985, S. 172; Koopmann 1997–98, S. 19.
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chung in ein böses, neidisches und verständnisloses Publikum einerseits und in den guten, leidenschaftlichen, leidenden, sich selbst für die Literatur quälenden Dichter andererseits.36 Erstaunlicherweise berichtet der Text über ein Männerschicksal: über einen Dichter, nicht über eine Schriftstellerin. An das Thema ebenso wie an die Art und Weise der Darstellung lassen sich deshalb eine Fülle von Fragen knüpfen: Durchlebte auch die Droste eine skeptische Wende und schrieb fortan als ‚gespaltene Person‘? Offenkundig gab die Droste die eigene Vorstellungen von einer weiblichen, aber auch sozial eingebundenen Schriftstellerei auf und wählte das gesellschaftlich akzeptierte Dasein der dichtenden Dilettantin, deren Texte gleichwohl weit über den Dilettantismus hinausgehen. Die Botschaft von Der Dichter – Dichters Glück jedenfalls ist klar: Einerseits opfert sich der Sprecher für die Poesie auf, die er im Bild von Edelsteinen, von Korallen und Perlen schildert.37 Andererseits bleibt der Text im Bild, wenn derselbe Dichter – sprichwörtlich – ‚Perlen vor die Säue‘ wirft.
2. Poesie (1844): ‚Physiko-Poetik‘. Spielerische und unkonventionelle Reflexion über das Verhältnis von Edelstein und Poesie In Der Dichter – Dichters Glück erlebt Drostes ‚Physiko-Poetik‘ ihren Niedergang; in Poesie (entstanden zwischen dem 1.12.1841 und Anfang Februar 1842) wurde sie erst begründet, und zwar ganz spielerisch und unkonventionell.38 Die erste der sechs Strophen kündigt ein „Rätsel36 Droste: Der Dichter – Dichters Glück, in: Droste 1978 ff., II,1, S. 69 f., hier S. 69, Str. 2, V. 13–16: „Ihr starrt ihn an mit halbem Neid, / Den Geisteskrösus seiner Zeit, / Und wißt es nicht, mit welchen Qualen / Er seine Schätze muß bezahlen.“ Schlaffer beschreibt solche Schwarz-Weiß-Zeichnungen für die Raumsemantik in „Der Dichter“; ders. 1966, S. 303. 37 Droste: Der Dichter – Dichters Glück (wie Anm. Exkurs, 36), Str. 1, V. 8, Str. 4. 38 Helmut Koopmann warnte davor, Drostes Dichtergedichte als eine „Poetik in Versen“ überzubewerten, weil sie die Dichtung der Droste nicht ausschöpfen und bloß „Schlaglichter“ auf ihr „dichterische[s] Selbstverständnis“ werfen (ders. 1997–98, S. 27). Ich will diese Warnung ernst nehmen, aber auch versuchen zu zeigen, daß die poetologische Lyrik der Droste – erstens – eine Fülle von poetologischer Positionen anspricht, daß sie – zweitens – wesentliche Aspekte in der Lyrik der Droste berücksichtigt und daß diesen Vorlieben und Neigungen zu einer bestimmten Poetik entnommen werden können.
2. Poesie
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spiele“ an.39 Es geht um die Frage, was Poesie sei. In einem dialogischen Spiel wird die Antwort entfaltet: Poesie ähnele „drei Kleinoden“, nämlich drei Edelsteinen:40 Jener Strahl, der, Licht und Flamme, Keiner Farbe zugetan, Und doch, über alles gleitend, Tausend Farben zündet an, Jedes Recht und keines Eigen. – Die Kleinode nenn’ ich dir: Den Türkis, den Amethysten Und der Perle edle Zier.41
Poesie strahlt selbst unvergleichlich hell und in allen Farben. Im Vergleich der Steine und der Poesie nimmt der Sprecher auf je spezifische fiktive Eigenschaften der Steine Bezug und schreibt sie der Poesie zu. Ihr Begriff gewinnt aus diesem Vergleich weitere Konturen: Poesie sei „fromm[]“ und eine „Himmelsgabe“ wie der Türkis.42 Wie der Amethyst, der seine Farbe wandeln könne, leuchte sie dem ‚Treuen‘ und erlösche, „An des Ungetreuen Hand“.43 Wie die Perle bleibe sie nur „Am Gesunden tauig klar“.44 Gift aber lasse diese Poesie zugrunde gehen.45 Heilig, moralisch und gesund – so sieht Drostes Sprecher die Poesie. Für ihre Eigenschaften stehen Edelsteine und die Perle allegorisch.46 Dabei weist ihnen Drostes Sprecher – wiederum allegorisch – moralische und religiöse Eigenschaften zu, die nur vage auf die physikalischen Eigenschaften von Türkis, Amethyst und Perle anspielen. Der Naturkundlerin Droste sind diese physikalischen Eigenschaften wohlbekannt; jede zeitgenössische Mineralogie informiert beispielsweise darüber, daß der Amethyst seine Farbe verändern kann.47 Für den lyri39 40 41 42 43 44
Droste: Poesie, in: Droste 1978 ff., I,1, S. 141 f., hier S. 141, Str. 1, V. 1. Ebd., V. 3 f. Ebd., Str. 2, V. 9–15. Ebd., Str. 3. Ebd., Str. 4. Ebd., S.142, Str.5. – Das poetologische Motiv der Perle taucht übrigens auch in Schükkings zeitgleich entstandenden Dichtergedichten „Ironien“ auf (vgl. Jordan 1997–98, S. 216), die denen der Droste ähneln, aber in parodistischer Absicht verfaßt sind. 45 Droste: Poesie (wie Anm. Exkurs, 39), S. 141 f., Str. 6. 46 Über die Verfahren der Allegorisierung im Werk der Droste – nicht allerdings zu „Poesie“ – Häntzschel 1968. 47 Siehe z. B. Batsch 1796, S. 325 f.; Bertuch 1801, S. 28: „Violett, aber fein, und ohne sichtbar gemischte Theile, gefärbter Quarz.“; Leunis 1853, S. 138: „Ein violetter
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schen Text begnügt sich die Droste jedoch nicht mit dieser Auskunft, sondern wählt die Form der doppelten Allegorie für ihr mineralisches, physikalisches und biologisches Gleichnis. Sie verfährt dabei im Prinzip ähnlich wie die physikotheologische Dichtung von Barthold Heinrich Brockes und Daniel Wilhelm Triller:48 wie Brockes und Triller betrachtet sie Natur – erstens – mikrologisch; ihr Sprecher schildert die Steine und die Perle scheinbar genau. Um diese Natur-Details zu deuten, gebraucht sie – zweitens – wie die Physikotheologie die Form der Allegorie, allerdings nicht die einfache Allegorie aus Brockes Irdischem Vergnügen in Gott (1721–1748), die aus der perfekt gestalteten Natur auf das umsichtige Wirken eines ‚deus creator‘ schließt,49 sondern diejenige der doppelten Allegorie: Drostes Sprecher deutet ihren Gegenstand, die Poesie, innerweltlich, und zwar aus der allegorischen Interpretation der Steine und der Perle. Hierin liegt auch der wesentliche Unterschied zur Physikotheologie: Die Droste spart deren deistisches Moment aus; sie kappt all das, was auf eine makrologische Ordnung der Natur verweist und begnügt sich damit, das Einzelphänomen mit quasi-wissenschaftlicher Genauigkeit moralisch-ethisch zu bestimmen.50 Ihr Sprecher klassifiziert Türkis, Amethyst und Perle wie mit dem Lehrbuch;51 die Ergebnisse überträgt er in der Form des Gleichnisses auf Poesie. Drostes Poesie läßt sich deshalb nicht einfach als wiederbelebte Physikotheologie einordnen; der Text veranschaulicht vielmehr eine Physiko-Poetik: eine Auffassung von Dichtung, die Strukturmerkmale der Physikotheologie aufnimmt, indem sie das Ordnungsschema von Mikrokosmos und Makrokosmos mit Hilfe von Allegorie, Naturforschung und Morallehre ethisch und poetologisch deutet. Eine PhysikoPoetik wie diese unterscheidet sich nicht nur von der Physikotheologie
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Quarz, der seine Farbe im Feuer verliert [...]; klar und durchsichtig, bei starker Sättigung der Farbe fällt er ins Schwarze.“ Hinweis darauf bereits in Kapitel III. 1. b). Siehe auch Kaiser 1996, II, S.79 f., der diesen Vergleich bereits anspricht. Für Kaiser ist es vor allem eine „herrschende[] Emotion des Subjekts“ (ebd., S. 80), die die Dichtung der Droste von der Physikotheologie unterscheidet. Dieser Vergleich läßt sich jedoch noch weiter führen. Kemper 1991, S. 107–116; ders. 1999. An anderer Stelle illustriert sie eine „Ethik des Mitleids aus christlichem Geist“, wie Wilhelm Kühlmann zeigte; ders. 1986, S. 439. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang auch, daß mit Friedrich Christian Lessers „Lithotheologie“ (1751) eine Physikotheologie der Steine vorliegt, die Jean Paul bereits kannte und in „Dr. Katzenbergers Badereise“ (1809) sehr eigenwillig nutzte; Pott 2002, Kap. IV. 1.
3. Dichters Naturgefühl
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eines Brockes, sondern auch von späten Mustern der Physikotheologie-Rezeption, beispielsweise von Jean Pauls eigenwilligen Natur-Auffassungen in Dr. Katzenbergers Badereise (1809).52 Gebraucht Jean Paul die Physikotheologie bloß eklektisch als Steinbruch für satirisch gefärbte Darstellungen von Natur und Naturforschung, so wendet die Droste Verfahren der Physikotheologie auf Poesie an, um Poetik freizusetzen. Der Physiko-Poetik wird die Natur nurmehr zur Quelle für die Selbstbeschreibung von Poesie: Natur wird allegorisiert, um sie zu poetisieren. Poetisieren meint hier jedoch nicht (wie in der Jenaer Romantik), in der Natur selbst Poesie zu entdecken, sondern die Natur dem poetologischen Zweck, der Selbstreflexion von Poesie unterzuordnen. Im Ergebnis dieser ‚Poetologierung‘ ähnelt Poesie den Edelsteinen, ist wie diese kostbar und selten, erweist sich aber als empfindlicher. Mit ihrem „Rätselspiele“ nähert sich die Droste zwar einem Begriff von Poesie, aber sie bleibt vorsichtig, schränkt die scheinbar exakt-naturwissenschaftlichen Begriffsbestimmungen ein: Es handelt sich schließlich nur um ein Spiel, um unkonventionelle Reflexionen, nicht um eine abschließende Definition. Dieses spielerische Moment fehlt in den Gedichten An die Schriftstellerinnen und Der Dichter – Dichters Glück. Es tritt erst dann zu Tage, wenn Fragen der Selbstbehauptung des weiblichen Dichter-Ichs nicht mehr zur Debatte stehen und es um den Gegenstand, um die Poesie selbst geht. Noch mehr als Poesie zeugt Dichters Naturgefühl (zwischen 30.9.1841 und Anfang Februar 1842) davon. Der Text erlaubt es auch, die Beschreibung von Drostes PhysikoPoetik weiterzutreiben.
3. Dichters Naturgefühl (1844): Keuchen, Stelzen, Stapfen – mit Gummischuhen und Mückenstich gegen die Naturlyrik. Anti-konventionelle und subjektiv-empirische Reflexion über das Dichten Dichters Naturgefühl zerfällt in zwei Teile: in eine ausgesprochen körperliche Auseinandersetzung des Dichters mit der Natur und in die anhaltende Störung dieses wenig idyllischen Zwiegesprächs durch Fried52 Pott 2002, Kap. IV. 1.
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rich, den dummen und naturliebenden Sohn des „Schreibers“. Die beiden ersten Verse klingen unverdächtig und locken den Leser auf die Fährte der romantischen Naturdichtung. An einem Maientag begibt sich der Dichter hinaus in die Natur, so lautet ihr Inhalt. Doch schon Vers drei irritiert;53 ab Vers fünf läßt das Dichter-Ich seinen Abneigungen gegen die ‚Naturschönheit‘ freien Lauf. Hier wird persifliert, was die Naturlyrik hergibt, die sich in romantischer Tradition – also im Prinzip bis hin zu Hebbel – als Erlebnisdichtung darstellt:54 Ich suchte keuchend mir den Weg Durch sumpf’ge Wiesen, dürre Raine, Wo matt die Kröte hockt’ am Steine, Die Eidechs schlüpft übern Steg. Durch hundert kleine Wassertruhen, Die wie verkühlter Spülicht stehn, Zu stelzen mit den Gummischuhen, Bei Gott, heißt das Spazierengehn? Natur, wer auf dem Haberrohr In Jamben, Stanzen, süßen Phrasen So manches Loblied dir geblasen, Dem stell dich auch manierlich vor!55
Drostes Naturlyriker protestiert gegen die Unbilden, die ihm sein Gegenstand bereitet und hat – so scheint es – Erfolg. Die „eitle, vielbesungne Frau [Natur]“ zeigt sich von ihrer besten Seite.56 Sonnenstrahlen erwärmen die Erde, Vögel singen und Quellen glitzern kristallen. Zufrieden „stapft[]“ der Dichter fort und sinnt auf einen „Frühlingsreim“.57 Schon bricht das Unheil über ihn herein: Friedrich, der blonde romantische Jüngling, erscheint und singt Lieder, ein unbekanntes Lied und eines von Körner.58 Von den Romanen der Zofe, von Richard Löwenherz, von Schillers Kabale und Liebe und den Märchen aus Tausendundeinenacht inspiriert, will er nun selbst dichten. Der Dichter 53 Droste: Dichters Naturgefühl, in: Droste 1978ff., I,1, S. 181–183, Str. 1., V. 3: „Wo naß das Veilchen klebt am Hage [...].“ – Diese Negativ-Darstellung des Veilchens kann sich auf die zeitgenössische Botanik stützen; vgl. Willdenow 1833, S. 141 f.: „Viola, Veilchen. Alle Veilchen-Arten mit ausdauernden Wurzeln haben Wurzeln, welche Brechen erregen.“ 54 Siehe Henel 1966, S. 218–230. 55 Droste: Dichters Naturgefühl (wie Anm. Exkurs, 53), Str. 1 f., V. 5–16. 56 Ebd., Str. 3, V. 17. 57 Ebd., S. 182, Str. 5, V. 36. 58 Ebd., Str. 7, V. 55.
3. Dichters Naturgefühl
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flieht unerkannt, weil ihm der „fade Bursche [...] fatal“ und die Natur überhaupt infolge dieser kreatürlichen Erscheinung zuwider ist: Der – hastig fuhr ich an die Stirne: „Wie, eine Mücke schon im Mai?“ Und trabte zu der Schlucht hinaus, Hohl hustend, mit beklemmter Lunge, Und drinnen blieb der dumme Junge Und pfiff zu seinem Veilchenstrauß!59
Drostes Dichter fühlt sich in der Natur alles andere als wohl. Sie entspricht seinem konventionellen romantischen Bild nicht – im Gegenteil: Sie erweist sich als dessen Gegensatz und plagt den Dichter mehr, als sie ihn erfreut. Sie stellt sich ihm in den Weg, peinigt ihn mit dummem Gesang, sticht, erweist sich als bloß „instinktgebunden[], geistlos[]“, wie Wilhelm Kühlmann für Drostes Die ächzende Kreatur (1846) zeigte.60 War Natur Romantikern wie Kerner und Eichendorff noch Trägerin geheimen Sinns oder gar göttlicher Botschaft,61 auf die der Dichter sich ergeben einließ,62 so hat sie sich für den Sprecher der Droste längst unmöglich gemacht: weil sie eben nicht so göttlich und geheimnisvoll ist, wie die Romantik glauben machen wollte, und weil sie dem Sprecher der Droste deshalb nur noch als Menschenwerk gilt, als künstliche, phrasenhafte und ‚gemachte‘ Natur. Aus diesen Gründen schreibt die Droste im Muster der Naturlyrik – in Jamben zwar, aber nicht in Stanzen – gegen die Naturlyrik an. In Dichters Naturgefühl geschieht damit Bemerkenswertes: Während die Naturlyrik im weiteren literarischen (und im männlich besetzten) literarischen Feld ganz unproblematisch auch der poetologischen Lyrik ihre Topoi leiht, führt die Droste die Darstellungs- und Deutungsmuster romantischer Naturlyrik ad absurdum. Bereits in den frühen 1840er Jahren haben sich ihre Wahrnehmungs- und Deutungsmuster überlebt, sind topisch geworden. Demgegenüber schöpft die Droste ihre Polemik aus der eigenen subjektiven und empirischen Naturwahrnehmung: Hier trifft ein romantisches Natur-Ideal auf die gefühl59 Ebd., S. 183, Str. 11, V. 83–88. 60 Kühlmann 1986, S. 438, der in diesem Zusammenhang die Chancen und Grenzen aufzeigt, die eine Interpretation des Texts im Blick auf die Evolutionstheorie hat. 61 Vgl. hierzu vor allem die naturpoetologischen Gedichte Eichendorffs, die Walter Hinck erschöpfend deutete; ders. 1994, S. 136: Als pradigmatisch gilt hier die schon sprichwörtliche „Wünschelrute“ („Schläft ein Lied in allen Dingen ...“); sie steht für das oben angesprochene magische Natur- und Poesiebild. 62 Henel 1966, S. 219, 222.
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te und geschaute Natur sowie auf einen Wertehorizont, der das Rousseausche Natur-Pathos gegen ein entschiedenes Plädoyer für Zivilisation, Kultur und (christliche) Ethik eingetauscht hat. Darüber hinaus kann die Droste die eigene naturforschende Erfahrung gegen nach-romantische Modelle der Naturbeschreibung ins Feld führen. Denn nicht umsonst ‚stapft‘ Drostes Sprecher so eigensinnig durch die Natur. Er genießt ihre Schönheiten nicht geruhsam, sondern macht sich zielstrebig auf den Weg – als zöge ihn der Forscherdrang zum nächstgelegenen Moor. Der ernsthaft an der Natur Interessierte, das weiß die Droste aus Carl L. Willdenows Anleitung zum Selbststudium der Botanik (1804), muß sich an den Ort des Geschehens begeben, um „im Buche der Natur selbst zu lesen“; zu jeder Jahreszeit muß er die Flora beobachten, will er sich darin üben, ihre „Klassen, Ordnungen, Gattungen, Arten und Abarten“ zu ermitteln und „Vergnügen“ an seiner Tätigkeit empfinden.63 Drostes Sprecher ist dementsprechend weder naturmystisch noch von einer romantischen Natur-Euphorie inspiriert; vielmehr richtet er sich gegen beides ebenso wie gegen die domestizierte Kultur der langweiligen ‚Kräuterbeete‘ und die ‚Gewöhnlichkeit‘ der Fichten – Fichte: im Fachjargon „picea vulgaris“, „gemeine Fichte“64 –, der selbstgenügsamen Herrinnen von Haus und Hof. Er nimmt nicht nur subjektiv wahr, sondern erfährt und beobachtet – subjektiv-empirisch: als ein Anatom der naturlyrischen Pseudo-Natur. Im Blick auf das Dichten selbst, im Blick auf das Dichten über den prominenten Gegenstand Natur erweist sich Drostes Physiko-Poetik also nicht nur als anti-konventionell, sondern auch als erfrischend unkonventionell. Hier wird die Naturforschung ausnahmsweise wirklich zum Denkmodell für Lyrik:65 Die Droste wendet die Verfahren und Beschreibungsinteressen der Naturforschung auf Lyrik selbst an – auf na63 Willdenow 1833, S. 2 f. 64 Ebd., S. 478 f.: „Die gemeine Fichte [...] wächst im nördlichen Europa häufig und ist auf den Gebirgen einer der gemeinsten Bäume. Der gewöhnliche teutsche Name ist Rothtanne.“ – Wie im Fall von Amethyst und Türkis spielt die Droste auch hier auf die wissenschaftliche Darstellung eines Naturphänomens an. Im lyrischen Text gebraucht sie die Fichte wiederum als ein Gleichnis: Fichte, d.h. ‚häufig vorkommend, langweilig‘. 65 Rolf Selbmann vertritt die Ansicht, „Naturwissenschaft als Denkform“ stelle im mittleren und späteren 19. Jahrhundert kein „taugliches Medium zur Wirklichkeitserfassung“ in der Lyrik dar; ders. 1999, S. 104. Der Blick auf die poetologische Lyrik der Droste legt es nahe, die These im obigen Sinne umzukehren. Anders steht es allerdings mit dem ‚Gros‘ der Naturlyrik des Jahrzehnts. Für Keller (Kapitel V. 1. dieser Untersuchung) will ich auf diese Frage zurückkommen.
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turlyrische Traditionen und auf den immer schon poetisch gefilterten Gegenstand Natur. Auf diese Weise entdeckt die Droste beides neu, führt Naturforschung und Naturlyrik in ersten Ansätzen zusammen. Diese Umstände bleiben zu berücksichtigen, betrachtet man die Entwicklungen der Lyrik im 19. Jahrhundert. Nach wie vor – und mit guten Gründen – wird sie als eine Zunahme von Subjektivität gekennzeichnet.66 Die Droste nimmt dabei einen besonderen Rang ein; Schlaffer kennzeichnet ihre Subjektivität als unmittelbar – als eine Subjektivität, die sich nicht behutsam einführt, sondern den Leser sogleich mit der eigenen Wahrnehmung konfrontiert.67 Aber Drostes Subjektivität ist nicht nur Ergebnis von Vereinsamung, nicht nur Aufbegehren des weiblichen Selbst gegen eine verfestigte und männliche Dichter- und Editorengesellschaft oder Ergebnis von mangelnder Spezialisierung auf das Dichterinnenamt,68 sondern auch ein Ertrag ihres Interesses an der Natur und Merkmal ihrer Physiko-Poetik. Drostes Sprecher nimmt Natur als belebte Umwelt wahr und entwickelt aus dieser Wahrnehmung, was als reflexive Steigerung der Physikotheologie und als Kritik romantischer Naturtopik gekennzeichnet werden kann. Damit zeigt sich – unter literaturvergleichendem Aspekt – auch, daß die Droste als ‚deutsche Tennysonienne‘ nicht angemessen beschrieben wäre, wie die Droste-Freundin Elise Rüdiger es versuchte.69 Tennyson verehrt noch die romantische Natur, wenn auch im viktorianischen Gewand.70 Die Droste aber verlangt eigene Maßstäbe: diejenigen der Naturkundlerin und diejenigen der schreibenden Frau im 19. Jahrhundert. Läßt sich für die Gedichte der Droste deshalb auch von einer weiblichen Poetik sprechen? Eine Antwort auf diese Frage kann nur sehr vorsichtig und vorläufig sein. Sie muß vergleichend angelegt sein und zwei Ebenen betreffen: diejenige der sozialen und biographischen Entstehungsbedingungen literarischer Texte und diejenige der Texte selbst, die teilweise nur Reflex (und weniger Reflexion) dieser Entstehungsbedingungen sind. Poetologische Gedichte von Frauen bilden nämlich in erster Linie seelische Probleme ab: Louise Brachmann (1777–1822) dichtet aus 66 Schlaffer widmet sich dieser These mit Hilfe differenzierter Raum-Zeit-Analysen ders. 1984. 67 Ebd., S. 96. 68 Diese Aspekte betonen die Beiträge in Niethammer u. Belemann 1992. 69 Jähne 1954, S. 11 f. 70 Vgl. Kapitel IV. 2. a) dieser Untersuchung.
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Kummer über ein unspezifisches Leid; ihre Laute nennt sie emphatisch „meines Kummers Trösterin!“71 Die ostpreußische Erzieherin und Gesellschafterin Frieda Jung (1865–1929) erblickt in Einer jungen Dichterin das Ideal weiblicher Dichtung: die „heilige Priesterin des Schönen“.72 Ihre Sprecherin will es aber nicht dorthin gebracht haben: Indessen ich zu engstem Heiligtume Mich flüchte vor des Lebens rauher Schärfe Und nur zuweilen eine blaue Blume Mit zagen Händen in die Winde werfe.73
Als weibliches Wesen dichtet sie nur zögerlich und mit Vorbehalten. Drostes An die Schriftstellerinnen richtete sich aber als ein revolutionäres Manifest schon Jahrzehnte früher gegen solche Selbstbescheidungen. Allerdings scheinen sich selbst ihr Mut und ihr Durchsetzungswille nicht lange erhalten zu haben, nimmt man Der Dichter – Dichters Glück in den Blick. Auf der Ebene einer Poetik der Entstehungsbedingungen kennzeichnen also idealische Hoffnungen einerseits, Verzagen und Angst vor dem eigenen Mut andererseits die poetologische Lyrik der Dichterinnen. Insofern nehmen sie sich und die Poesie in der Tat anders wahr als ihre männlichen Zeitgenossen: Frauen stellen sich zurück, gehen weniger selbstverständlich mit ihrer Tätigkeit um und kommen damit kaum (mit Ausnahme der Droste) zu einem souveränen und eigenständigen Verständnis der Dichterinnenrolle. Ganz anderes gilt für ihre Reflexion von Poesie. Diese erscheint ihnen als allzu selbstverständlich. Spricht der Dichter, der unmittelbar und ohne Verrätselungen mit der Dichterin selbst identisch zu sein scheint, von Poesie, so läßt er zumeist einen schlichten Begriff von derselben erahnen: Poesie entsteht aus besonderen Gefühlen,74 aus Sehnsucht oder aus einer Liebe zum Transzendenten,75 die von der ge71 72 73 74
Louise Brachmann: An meine Laute, in: Kletke 1853, S. 69. Frieda Jung: Einer jungen Dichterin, in: Virginia 1907, S. 89. Ebd. Vgl. den beinahe psychedelischen Text von Sophie George: Dichter-Geheimniß, in: Kletke 1853, S. 320: „Wo Duft und Stille sich verbreiten, / Berührt das Licht die innern Saiten; / Und sie erklingen / Im Strahl und ringen / Aus leisem Weh / Sich auf zur Höh’. – / Jetzt fliehen die Töne! / Jetzt kommen sie wieder, / Nun formen sie Bilder, / Nun weben sie Lieder, / Und solch ein Tausch / Wird sel’ger Rausch [...].“ 75 Vgl. Adelheid v. Stolterfoth: Das Lied, in: Kletke 1853, S. 178, Str. 4 f.: „Dem Sehnsuchtsseufzer gleich, / Aus liebeswunder Brust, / Und einem Lächeln gleich / Der herzgebornen Lust. – – / So soll das Lied des ächten Dichters sein!“ Vgl. auch Josepha von Hoffinger: Mein Saitenspiel, in: Lindemann 1871, S. 65, Str. 1, V. 1 f.: „Mein
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schlechtlichen Liebe überboten wird.76 Nicht selten wird Poesie auch als religiöse oder quasi-religiöse Angelegenheit betrachtet.77 Bei solchen poetologischen Gedichten handelt es sich zumeist um konventionelle Genre-Dichtung, die an überlieferten Topoi festhält – was auch typisch auch für die ‚männliche Dichtung‘ zumindest zwischen 1850 und 1890 ist. Die Droste hingegen experimentiert mit Worten. Sie spielt mit einem unkonventionellen, deutungsoffenen und komplexen Begriff von Poesie. Poesie läßt sich für sie nicht monokausal erklären. Auf diese Weise gewinnt Poesie in ihrem Fall eine ungewöhnliche Eigendynamik, die im mittleren 19. Jahrhundert bei Frauen wie Männern ihresgleichen sucht.78 Auch in einer zweiten Hinsicht, im Blick auf den Humor, erscheint die Poesie-Reflexion der Droste als außergewöhnlich – im besonderen unter den Dichterinnen. Jenen hintergründige Humor, den sie in Dichters Naturgefühl an den Tag legt, ließen nämlich allenfalls die Romantikerinnen ahnen. Unter ihren Zeitgenossinnen ist Humor ein seltenes Gut. Zu den wenigen humorvollen Texten zählt Des Reimes Selbstvertheidigung (Einem Reimverächter) von Emilie Ringseis (1831–1895), der Tochter eines Medizinalrats, die auch Dramen schrieb. Des Reimes Selbstvertheidigung handelt auf amüsante Weise über das Wechselspiel von Reim und Rhythmus im Gedicht.79 Vor dem Hintergrund dieses Texts wundert es nicht, daß der Herausgeber der entsprechenden Dichterinnen-Anthologie, Wilhelm Lindemann, die Ringseis „neben“ die Droste stellt.80
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Saitenspiel ist stumm, wenn es nicht die Liebe / Nicht wärmend trifft mit ihrem milden Hauch [...].“ Vgl. Ida Gräfin Hahn-Hahn: Liebeslieder, in: Kletke 1853, S. 214–216, hier S. 216, 3., Str. 3: „Und stillt kein Lied mein Sehnen, / Genüget nichts dem Sinn, / So sink’ ich unter Tränen / Zu deinen Füßen hin.“ Vgl. Jung: Einer jungen Dichterin (wie Anm. Exkurs, 72). Unter den Dichterinnen ist es nur die Schlesierin Ida von Düringsfeld [Thekla], die der Poesie ein gewisses Eigenleben zuspricht, und sie dabei schon als ein Individuum mit eigenem Willen betrachtet. Vgl. dies.: Poesie, in: Voß 1847, S. 492–494, hier S. 493, V. 10: „Ich aber sag’ euch dieses: ‚Nicht in Worten / Ist sie und nicht in einem Bild gefangen, / Frei wie die Sonne glänzt sie aller Orten / Und bleiben wird sie bis die Welt vergangen.‘“ Emilie Ringseis: Des Reimes Selbstvertheidigung (Einem Reimverächter.), in: Lindemann 1871, S. 71–74. Sie ähnele der Droste „durch Kühnheit und Kraft der Darstellung, aber auch durch den Abgang des melodischen Klanges“, so bemerkt Lindemann subtil; ders. 1871, S. 69.
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Exkurs. Weibliche Poetik – Andere Reflexion?
Aber Humor oder gar Satire erweisen sich nicht als Garanten von Qualität – auch nicht für die Dichtung der Damen. Denn diese Darstellungsformen öffnen sich leicht der Trivialisierung. Wollte man die Reihe der feinsinnigen und humorvollen Dichterinnen über die Droste hinaus verlängern, so böte sich beispielsweise Friederike Kempner (1836–1904) nur auf den ersten Blick an. In ihren kurzen und epigrammatischen Versen nimmt sie zwar knapp und pointiert auf, wie sich Poesie kritisieren läßt, aber sie gelangt nicht über diese knappen Formeln hinaus, beläßt es bei poetologischen und wortspielerischen Aphorismen, die bloß unfreiwillig komisch sind.81 Demgegenüber dient der Humor der Droste wie der Ringseis als ein Darstellungsmittel, das sich für oder gegen bestimme Wahrnehmungs-, Deutungs- und Dichtungsmuster einsetzen läßt – allerdings nur dann, wenn es nicht um die ernsten Existenzbedingungen der Schriftstellerinnen geht. Diese Existenzbedingungen spiegeln sich ganz besonders in der poetologischen Lyrik einer so gelehrten Dame wie der Droste, in geringerem Maße jedoch in der trivialen und topischen Lyrik der Zeitgenossinnen. Drostes lyrische Poetik erweist sich insofern in der Tat als ‚typisch weiblich‘, als sie ihre Sprecherin die Bedingungen weiblichen Schreibens erörtern läßt. Im Medium der Lyrik zettelt sie eine fiktionale weibliche Revolte an. Dabei ahmt sie – auf der Ebene der Darstellung – allerdings bloß die topisch gewordene ‚männliche‘ idealische Lyrik nach, wenn sie – auf der Ebene der Bedeutung – auch ein eigenes weibliches Ideal der dichtenden und irdischen Heiligen entwirft. Weibliche Poetik stellt sich in poetologischer Lyrik also einerseits als vereinfachende Nachahmung der männlichen dar; andererseits sucht sie nach spezifisch weiblichen, nach positiven und eigenständigen Vorbildern und Identifikationsmustern. Doch dieser Versuch erstickt im Fall der Droste im Keim. Was Bestand hat, läßt sich als eine Physiko-Poetik beschreiben, die von geschlechtsspezifischen Ordnungsmustern unabhängig ist. Sie lehnt sich vielmehr an die etablierten Muster der Physikotheologie und der Naturlyrik an und nimmt diese poetologisch-reflexiv auf. Daß ausgerechnet eine Frau es schafft, die Traditionen romantischer Naturlyrik so humorvoll und eigensinnig aufzubrechen, mag Zufall sein. Gesichert ist bloß das Wissen um die naturkundliche Bildung der Droste, die ihr 81 Vgl. Friederike Kempner: Die Poesie, in: dies. 1891, S. 90; dies.: „Poesie ist Leben [...]“, in: ebd., S. 92; dies.: „Der Dichter lebt im Traume [...]“, in: ebd., S. 110; dies.: „Unnützes lyrisches Gesinge [...]“, in: ebd., S. 142.
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den sowohl subjektiven als auch empirischen Zugang zu einer Natur jenseits romantischer Klischees ermöglicht. Hier eignet sie sich die männliche Wissens- und Darstellungswelt produktiv an; sie setzt sich so ernsthaft mit ihr auseinander, daß sie sie souverän und spielerisch zu überbieten vermag. Sie allegorisiert naturkundliches Wissen, formt es zu anti-konventionellen und subjektiv-empirischen Reflexionen um: zu Reflexionen über Natur, Ethik und Poesie. Im frühen Gottfried Keller findet die Droste einen Erben. Auch er widmet sich der Naturlyrik poetologisch-reflexiv – allerdings nicht im Blick auf die Natur selbst, sondern im Blick auf die neue Welt der Technik, der Entdeckungen und der Wissenschaften.
V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion Überall auf allen Gebieten erhebt ein stolzer erdenfroher Realismus das Haupt – wenn man das Wort einmal in diesem allgemeinen Sinn gebrauchen darf –: eine neue Weltordnung und neue Menschheitsgesetze zu schaffen, immer weitere Kreise in Mitleidenschaft ziehend und einen innerlich immer tieferen Bruch reissend mit dem ganzen wissenschaftlichen ethischen und politischen Bewusstsein und Glaubensbekenntnis der Vergangenheit. Er will keine Märchen mehr, er will sich nicht mehr mit beschönigenden Illusionen über den Ernst der Wirklichkeit, über das Ungewohnte, über das vielleicht Abschreckende der nüchternen Thatsache hinwegtäuschen, er will keine Potemkin’schen Dörfer mehr um sich aufgestellt haben, er glaubt, die Wahrheit ertragen zu können und stark genug zu sein, ihr frei und ohne Furcht ins Auge zu sehen.1
Für Cäsar Flaischlen (1864–1920) läßt sich die Entwicklung der Literatur im Ausgang aus der Romantik nur vor dem Hintergrund der neuen und rasanten Entwicklungen verstehen: vor dem Hintergrund des technischen und vor allem des wissenschaftlichen Fortschritts. Diese neuen Entwicklungen brächten, so Flaischlen, die Zeitgenossen in einen jähen Widerspruch „zu allem Gewesenen und Gewohnten“.2 Sie reagierten darauf aber ganz unerschrocken, verzichteten bewußt auf einen metaphysischen und moralischen Sinn und auf Sinnstiftung. Flaischlen charakterisiert diesen Prozeß als Verlust der Illusion; er erhebt das Wahrnehmungs- und Deutungsmuster eines solchen Realismus, das den ‚alten Glauben‘ ersetzt, zum Kennzeichen der zeitgenössischen Literatur. Flaischlens Darstellung überzeugt.3 In der Tat läßt sich die Geschichte der Literatur des mittleren und späten 19. Jahrhunderts mit Gewinn aus dem Wandel erklären, den der technische und wissenschaftliche 1 Cäsar Flaischlen: Zur modernen Dichtung. Ein Rückblick, in: Pan 1/4 (1895), S. 235–242, hier S. 235. 2 Ebd., S. 236. 3 Übrigens entspricht sie sehr genau der Beschreibung, die Helmuth Plessner (1974, S. 101) über das 19. Jahrhundert gab. Er kennzeichnet es als eine „Epoche des Illusionsverlusts“.
V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
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Fortschritt beförderte. In den Mittelpunkt geraten dabei zwei literarische Bewegungen: die (proto-)realistische (1840er/50er bis 1880er Jahre), deren Realismus allerdings nicht mit dem heroischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster Flaischlens gleichzusetzen ist, und die naturalistische (vor allem zwischen 1880 und 1890).4 Flaischlen selbst, promovierter Germanist, Erzähler und Lyriker, ergreift für den Naturalismus Partei. Sein Beweggrund dafür liegt in eben jenem heroischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster: Während sich die „sogenannte realistische Bewegung“ gegenüber der neuen Wirklichkeit bloß „negativ“ verhalten habe, erkenne erst der Naturalismus die Zeichen der neuen Zeit. Für Flaischlen beginnt sie deshalb mit den Kritischen Waffengängen (1882–1884) der Gebrüder Hart.5 Ob die von Flaischlen so gepriesene naturalistische Bewegung tatsächlich die treibende Kraft für die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts darstellte, bleibt zu fragen. Die lyrik-geschichtliche Forschung jedenfalls antwortet nüchtern: Für die Lyrik gelten die Jahre zwischen 1850 und 1890 als „innovationsarme Periode“,6 die – Ausnahmen bestätigen die Regel – bloß bekannte Muster der politischen Dichtung, der romantischen Natur-, Liebes- und Gedankenlyrik wiederhole.7 Läßt sich für diese Periode sagen, daß sie auf den äußeren Wandel mit Rückzug, mit Traditionsgläubigkeit und Selbstsorge reagierte, daß sie eingeführte Denk-, Darstellungs- und Erklärungsmuster bewahrte und erst ab 1890 allmählich den Mut faßte, sich den neuen Anforderungen zu stellen? Feststeht, daß sich Lyrik und Lyrik-Anthologien der 1860er und 70er Jahre – also im Ausgang aus der Erlebnislyrik8 – noch an den Formidealen Platens, Geibels und des Münchner Dichterkreises ausrichteten, die den Vorlieben des gebildeten Publikums entgegenkamen.9 Namentlich Geibel, der Bonner Kommilitone von Karl Marx und spätere ‚poeta laureatus‘ am bayerischen Hof, feierte mit seiner pa4 Für Fragen der Periodisierung siehe auch Abschnitt 3. der Einleitung zu dieser Untersuchung. 5 Flaischlen: Zur modernen Dichtung (wie Anm.V., 1), S. 238. 6 Schönert 2000, S. 172. 7 Für die poetologische Lyrik Schlaffer 1966; mit Differenzierungen für die allgemeine Lyrik-Entwicklung Fohrmann 1996; sehr entschieden T. Meyer 2000 u. Austermühl 2000; vorsichtiger Schönert 2000, S. 171. 8 Siehe Henel 1966, vgl. auch den Exkurs unter Abschnitt 3. in diesem Kapitel. 9 Fohrmann 1996, S. 443 f.; Schönert 2000, S. 177. Über Geibel siehe auch die Abschnitte I. 3. und IV.b) dieser Untersuchung.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
triotischen Lyrik Verkaufserfolge.10 Ästhetisierung verbunden mit Trivialisierung,11 zugleich aber die zunehmende „Wirklichkeitsreferenz“ von Gedichten – so lauten die gegenäufigen Entwicklungen der Zeit;12 sie werden, so die ‚opinio communis‘ der Forschung, erst von symbolistischen Bestrebungen (Conrad Ferdinand Meyer, Rainer Maria Rilke, George-Kreis, Hofmannsthal) beendet bzw. abgelöst; diese brechen mit ‚veralteten‘ Bildern und Mustern der Sinnstiftung (oder – mit Rücksicht auf Flaischlen: des Sinnverzichts).13 Die Vielfalt der Orientierungen steigert sich zu einer Vielfalt individueller Orientierungsbemühungen.14 Eine gemeinsame Poetik entsteht dabei nicht. Vereinzelte Gruppen- oder Autorpoetiken beherrschen das Feld. Wenn hier gezeigt werden soll, daß sich Gottfried Keller schon in den 1840er Jahren von gängigen Vorstellungen über Poesie und Welt emanzipierte,15 so steht diese Absicht im Einklang mit den angesprochenen Forschungsergebnissen, betont aber die innovative Kraft von Kellers Lyrik: Keller sinnt darauf, den technischen Wandel, den Flaischlen erst Jahrzehnte später beschreibt, in angemessene poetologische Formen zu überführen (1. Teil). Schon in den 1840er Jahren unterscheiden sich Kellers Gedichte von der politischen Lyrik vor 1850 und von der Naturlyrik der 1820er/25er sowie 30er Jahre;16 seine poetologische 10 11 12 13 14
Schönert 2000, S. 173, Anm. 7. Fohrmann 1996, S. 443–446. Schönert 2000, S. 172, 177. Henel 1966, vor allem ab S. 235; Thomé 2002. Ich folge hierin Elke Austermühl (2000), die die Entwicklungen der Lyrik zwischen 1890 und 1918 bereits in die Positionen der einzelnen Dichter auflöst. 15 Vergleichbares gilt für Theodor Storm: In „Lyrische Form“ (1883/84), aus Anlaß von Geibels Tod entstanden, setzt sich Storms Sprecher kritisch mit dessen Poetik auseinander. Er tadelt die übermäßige Betonung der Form, wie Geibel sie praktiziere, und fordert statt dessen, die Form nur als ‚Gefäß‘ für „Sinn“ zu betrachten (Storm 1987, S. 34 f.) Storm verfaßt jedoch nur wenige poetologische Gedichte: Nach den frühen Sänger-Gedichten („Der Sänger beim Mahle“, 1836, „Sängers Abendlied“, 1834) in der Tradition Uhlands folgen noch „Bei meinen Liedern. An –“ (1839/40) und „Kritik“ (1852), die sich gleichermaßen für das Verfertigen von Liebeslyrik einsetzen. Das Verfertigen von Liebeslyrik gilt danach – entgegen einer Kritik, die Liebslyrik als konventionell wahrnimmt – als wünschenswert, weil es der Kommunikation mit einem Gegenüber diene und ‚authentische‘ Gefühle ausspreche. – Ich stelle die wenigen und knappen poetologischen Gedichte Storms hier zugunsten der komplexeren Texte Kellers zurück; für Lyrik und Poetik Storms siehe Jackson 2001, S. 86–95. 16 Politische Lyrik verliert nach der Auflösung der Nationalversammlung (1849) an Bedeutung und gewinnt diese erst im Gewand der patriotischen Lyrik (1860er und 70er Jahre) wieder; Schönert 2000, S. 173, Anm. 7.
V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
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Lyrik gilt mir aber dennoch als Beispiel des Übergangs: von der Naturlyrik zu einer (proto-)realistischen ‚Technik-Lyrik‘ und vom Neuhumanismus zur Differenzierung der Handlungsrollen.17 Die neuhumanistische Einheit des ‚ganzen Menschen‘ fällt, wie sich im Blick auf Kellers Texte zeigen läßt, der wissenschaftlichen, technischen und sozialen Dynamik zum Opfer. Im Fall Kellers verändern sich poetologische Positionen schnell, um – mit Flaischlen – auf den ‚Geist des technischen und wissenschaftlichen Zeitalters‘ zu reagieren. Nachstehende Darstellung zielt entsprechend auf Modelle von Kontinuität und Bruch mit den überlieferten Poetiken und nicht auf das bewährte literaturgeschichtliche Darstellungsmuster von der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ in der Lyrik zwischen 1860 und 1890 (2. Teil). Dabei eilt die Reflexion über das Neue einer innovativen Formgebung voraus: Sowohl realistische als auch naturalistische Gedichte folgen dem Muster ‚Reflexionsgewinn bei Formkonventionalität‘.18 Ihre Leistungen – besonders diejenige der naturalistischen Texte – liegen in der Poetik-Kritik und im programmatischen Neuentwurf. Dieser Umstand wurde bisher nicht ausreichend gewürdigt; naturalistische Lyrik mußte sich vielmehr an der Lyrik der Avantgarden um 1900 messen lassen. Das Ergebnis war damit immer schon vorausgesetzt: Naturalistische Lyrik fiel gegen diejenige um 1900 ab.19 Demgegenüber geht es hier um einen historisch angemessenen und aus den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts selbst entwickelten Zugang zu jener ‚innovationsarmen‘ Lyrik vor 1900, aus der diejenige der Avantgarden erst entstehen kann – im Positiven wie im Negativen: Lyrik und Poetik um 1900 knüpfen an die heroisierenden Selbstbeschreibungen des Naturalismus an. Anders als der Naturalismus schließen sie Wirklichkeit weitgehend aus, werden hermetisch und selbstreflexiv,20 um jenen Sinn zurückzuerobern, den derselbe Naturalismus aus der Welt geschafft hatte.
17 Über den Neuhumanismus siehe die einleitenden Bemerkungen zu Kapitel III. dieser Untersuchung; zur Periodisierung siehe Abschnitt I. 3. 18 Die Formkonventionalität untersucht Austermühl 2000, S. 351 f. 19 Paradigmatisch dafür Austermühl 2000, die die Lyrik zwischen 1890 und 1918 gerade nicht nach traditionellen Schreibweisen beurteilt (ebd., S. 350), sondern statt dessen die Lyrik der Jahrhundertwende am Maßstab des ‚Neuen‘ mißt. Obige Argumentation kann sich demgegenüber auf Gotthart Wunberg (2001, S. 86) stützen, der bereits zeigte, daß der Naturalismus Innovationen (Vorliebe für Darstellung des Details und für die Sozialthematik) bereithält, die um 1900 aufgenommen werden. 20 Wunberg (1989) vermittelt den besten Überblick über diese Entwicklungen und Orientierungen.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
Auf die Wirklichkeitsemphase realistischer und naturalistischer Lyrik folgt also ihr entwicklungslogisches Gegenteil: Um 1900 tritt die „Wirklichkeitsreferenz“ in der Lyrik zugunsten von Selbstreferenz und von der Referenz auf Kunst, auf ‚ganz Anderes‘, Heiliges, Fremdes und Archaisches zurück. Lyrik sucht nach Rettung aus spiritueller Not. Denn im Ausgang des 19. Jahrhunderts erscheint Wirklichkeit endgültig als technisiert, mechanisiert, materialisiert und säkularisiert, als entheiligt. Zahlreiche Poetiken um 1900 wollen dieser Wirklichkeit eine neue mentale Heimat stiften, ohne Entdeckungen des 19. Jahrhunderts aufzugeben oder rückgängig zu machen. Vielmehr geht es darum, das Vorhandene – Literatur eingeschlossen – zu transzendieren. Dafür stehen um 1900 Reflexionsmuster der Künstlerpoetik zur Verfügung, die dem Alten neuen Glanz, aber auch neue Struktur verleihen. Gemeint sind die vielfältigen Denkbewegungen der Lebensreform, die auf allen Gebieten künstlerischen und materiellen Lebens nach Ganzheitlichkeit strebt.21 Sie belebt die ‚Illusionen‘ der Romantik neu, zielt auf Mystisches: auf ‚übersinnliche‘ Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken, Theorien oder Weltanschauungen, die der ‚unio mystica‘ strukturell gleichen, ohne auf einen persönlichen Gott bezogen zu sein.22 Lyrik um 1900 erweist sich dabei als ‚rückwärtsgewandter‘ verglichen mit derjenigen zwischen 1840 und 1890: Lyrik zwischen 1890 und 1918 gehorcht dem Muster der ‚Reflexionsumkehr bei Formreichtum‘ (3. Teil). Trotz dieser Unterschiede weichen die Reflexionen des Realismus, des Naturalismus und der Lyrik um 1900 nur graduell voneinander ab. Sie bilden eine kontinuierliche Linie poetologischen Denkens aus, die gleichwohl Brüche kennt:23 die Reflexion der Reflexion, das Neu-Be21 Siehe die Beiträge in Buchholz, Latocha, Peckmann u. Wolbert 2001, die den Komplex der Lebensreform umfassend erschließen; für eine Periodisierung Lindner 2003; thematisch geordnet Kindt u. Müller 2003. 22 Der Gebrauch des Begriffs folgt Uwe Spörl Erklärung von ‚Mystik‘ 1997, S. 26. Ich spreche aber auch in einem weiteren Sinne von ‚Mystifikation‘ und von ‚Mystizismen‘; siehe dazu Wagner-Egelhaaf 1998, S. 41. – Hinsichtlich der (Sinnes-)Erfahrungen, die dem mystischen Erleben der ‚unio mystica‘ zugrunde liegen, ergeben sich Überschneidungen mit dem Begriff ‚sensualistisch‘. Sensualistische Positionen erweisen sich jedoch nicht notwendigerweise als mystisch; sie leiten sich vielmehr aus Überzeugungen ab, die den Menschen – oft vor dem Hintergrund physiologischer Erkenntnisse – als sinnliches Wesen konzipieren und nicht auf Übersinnliches zielen. 23 Insofern läßt sich den Positionen von T. Meyer (2000) und Austermühl (2000) zustimmen.
1. Von der subjektiven Reflexion zur Selbstreflexion
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denken des vorhandenen ‚Bedenkens‘. Dabei erweisen sich die Reflexionen dieser Bewegungen als (Re-)Visionen; Realismus, Naturalismus, deutlich weniger allerdings die Lyrik um 1900 leben in einer Vielfalt der Orientierungen vom Überlieferten – genauer: von der eigenen Sicht auf ‚das Alte‘. Allerdings verändern sich die Typen dieser Reflexionen der Reflexion. Während Keller noch gemäßigt und ironisch aufnimmt, was die Vorwelt bietet, kritisiert der Naturalismus sie energisch und versagt am Neuentwurf. Lyriker um 1900 hingegen konzentrieren sich auf solche Neuentwürfe: Sie schreiben um, ändern und tilgen ihre Quellen nicht selten im Sinne der jeweiligen Selbstreflexion.
1. Von der subjektiven Reflexion zur Selbstreflexion. Gottfried Kellers Poetik zwischen Fortschrittsoptimismus und prophetischer Selbstbescheidung: Erwiderung auf Justinus Kerner’s Lied Unter dem Himmel, Subjektives Dichten, Dichter und Denker (alle 1846) Den Zeitgenossen der 1840er und 50er Jahre gilt die Lyrik Kellers mit gutem Grund als unkonventionell.24 Sie hebt sich von der übrigen Lyrik ab. Selbst im Gefolge des „poetischen Realismus“ widmete man sich nämlich noch der (Natur-)Romantik: Otto Ludwigs Der junge Dichter beispielsweise beschreibt, wie der junge Poet auf seine Inspiration und seine Meisterschaft geprüft wird. Es geht um Weihe, „Seherblick“ und „Götterwort“.25 Felix Dahn lehnt sich an diese Bildlichkeit an, nimmt aber bereits Abschied von der Poesie (1865): von der ‚heiligen Poesie‘, dem „heil’ge[n] Wind“.26 Zwar läßt sich sein Dichter-Sprecher noch von den Schauspielen der Natur inspieren.27 Aber er weiß, daß ihm die Wildnis nicht zu Gebote steht. Er läßt sich in den gepflegten Parks der Naturlyrik nieder, ist sich der Konventionalität seiner Naturreflexionen bewußt. Für Keller hingegen soll hier gezeigt werden, daß er fortsetzt, was Mörike, Vischer und Strauß unter neuhumanistischem Vorzeichen ent24 Schönert 2000, S. 177. 25 Otto Ludwig: Der junge Dichter, in: ders. 1922, S. 31–36, hier S. 36. 26 Felix Dahn: Abschied von der Poesie (1865), in: ders. 1890–1899, V, S. 111 f., hier S. 111. 27 Dahn: Meine Muse, in: ders. 1890–1899, V, S. 657 f.
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wickelten, nämlich eine subjektive, aber reflektierte und reflexive, eine humorvolle und wirklichkeitszugewandte Poesie. Dabei unterscheidet sich die Reflexion Kellers von der Meta-Reflexion Mörikes. Keller geht es nicht mehr darum, über die Reflexion selbst hinaus zu gelangen, sondern darum, sie zugunsten eines zeitgemäßen Welt- und Selbstbilds einzusetzen. Der Blick auf die Kontinuität neuhumanistischer Poetik in der realistischen ist neu für die Keller- ebenso wie für die Poetik-Forschung. Keller schrieb (vor allem in den 1840er Jahren) politische Lyrik, Naturlyrik, Liebeslyrik, Gelegenheitslyrik und – nicht zuletzt – solche Gedichte, in denen Poesie und Poet selbst zu Themen werden.28 Das Sonett Subjektives Dichten sowie die Texte Denker und Dichter und Erwiderung auf Justinus Kerner’s Lied: Unter dem Himmel (entstanden 1845) entstammen den frühen Gedichten (1846).29 Nur der Ghasel Unser ist das Reich der Epigonen geht auf die Neueren Gedichte (1854) zurück.30 Bei den frühen Gedichten handelt es sich um ausgesprochen spielerische und variantenreiche Texte einer bestimmten historischen Prägung: Im Jahr 1846 freundet sich der „erzradikale“ Dichter Keller mit dem radikal-liberalen Freiligrath an und setzt große Hoffnungen auf Herwegh.31 Dieser poetologische, politische und gesellschaftliche Optimismus schlägt sich auch in Kellers poetologischen Gedichten nieder, besonders in seiner Erwiderung auf Kerner. Kerners Gedicht erschien im Cottaschen Morgenblatt (1846),32 und Keller reagiert direkt auf den poetologischen Pessimismus, den Kerner in acht Strophen zelebriert. Der Sprecher von Kerners Romanze Unter dem Himmel gibt sich als Dichter zu erkennen, und zwar als natur-romantischer Dichter: Er liegt in „Gras und Blumen“,33 schaut in den blauen Himmel und denkt über etwas nach, was er als Übel empfindet, nämlich über den technischen Fortschritt. In einer sehr klaren Raum- und Zeitsemantik drückt er sei28 Kellers poetologische Gedichte wurden von der Forschung bislang gering geachtet. Hinck (1994, S. 168) erwähnt immerhin das „Los der Epigonen“, nutzt es aber für eine Beschreibung der Dichterexistenzen von Geibel und Heyse. 29 Den epischen „Poetentod“ spare ich aus, weil er in beinahe Uhlandschem Ton bloß das Ableben des Poeten schildert und für die Poetik Kellers wenig neue Erkenntnisse eröffnet. 30 Die erwähnten Gedichte nimmt Keller darüber hinaus in seine „Gesammelten Gedichte“ (1888) auf. 31 Keller an Rudolf Leemann, Zürich, den 16. September 1845, in: Keller 1919, II, S. 124–127, hier S. 126. 32 Kerner nimmt es unter dem Titel „Im Grase“ in seine „Lyrischen Gedichte“ (1848) auf; siehe Keller 1995, I, Kommentar, S. 969. 33 Kerner: Unter dem Himmel, in: Keller 1995, I, S. 154 f., hier S. 154, V. 1.
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ne Kritik daran aus. Die irdische Gegenwart habe sich längst auf diesen Fortschritt ausgerichtet und ihn mit Dampfer, Eisenbahn und Segelschiff umgesetzt. Fehlte nur noch, daß der Mensch das Fliegen erlernte, und damit die himmlische Ruhe störte, die der Sprecher im Gras liegend genießt: Satt laßt mich schaun vom Erdgetümmel Zum Himmel, eh’ es ist zu spät, Wann, wie vom Erdball, so vom Himmel Die Poesie still trauernd geht. Verzeiht dies Lied des Dichters Grolle, Träumt er von solchem Himmelsgraus, Er, den die Zeit, die dampfestolle, Schließt von der Erde lieblos aus.34
Von technischen Neuerungen fühlt sich Kerners Sprecher nicht nur bedroht; er betrachtet sich bereits als von der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. In schwarzen und weißen Farben malt er aus, daß Poesie, Dichter und Natur auf der einen, Fortschrittsglaube und Technik auf der anderen Seite stünden. Aus seiner Sicht kommt beides nicht mehr zusammen. Unter dem Himmel läßt sich deshalb nicht bloß als sozialkritisches Gedicht lesen. Vielmehr formuliert der Text die ‚naive‘ Naturpoetik des ersten schwäbischen Dichterzirkels noch einmal in prototypischer Weise, setzt den Poesie-Begriff dieser Poetik absolut und stellt ihn als ‚rückwärtsgewandte Utopie‘ dar: Poesie ist in einer Zeit technischer Veränderung überhaupt nicht mehr möglich; sie zieht sich auf sich selbst zurück, reflektiert sich nurmehr selbst. Reflexion meint hier Trauer über Vergangenes und ein entschlossenes ‚Dagegen‘, sofern die neue technische Weltordnung betroffen ist.35 Kerner stellt für Keller – wie für Strauß – deshalb dar, was als nicht mehr zeitgemäß, was als verschroben und als bloß noch natur-romantisch oder negativ: als natur-mystisch gilt. Der Poesie-Begriff, den der Sprecher in den acht Strophen von Kellers Erwiderung ausdrückt, unterscheidet sich – dementsprechend – in zweierlei Hinsicht von demjenigen aus Unter dem Himmel: erstens erscheint die Poesie in Unter dem Himmel als angeborene und schon aus diesem Grund als unverwüstliche Gabe des Menschen. Poesie läßt sich nicht in „Dort und Hier“ tren34 Ebd., V. 24–32. 35 „Unter dem Himmel“ markiert selbst einen Extremwert für Kellers naturlyrische Weltflucht, vergleicht man den Text mit Marek Zyburas Beschreibung (1987, S. 50 f.) der melancholischen Naturlyrik des Mediziner-Dichters.
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nen; sie bleibt dem Menschen in allen Lebenslagen, trotz der Technik und selbst in der Hölle erhalten.36 Zweitens schätzt Kellers Sprecher die neuen Entwicklungen ganz und gar optimistisch ein und erblickt darin neue Herausforderungen für die Poesie selbst. Mehr noch: Die göttliche Verheißung, daß das Reich des Herren kommen werde, setzt sich seines Erachtens mit den Mitteln des technischen Fortschritts durch.37 Keller veranschaulicht einen christlich gefärbten Fortschrittsoptimismus, indem er biblische und technische Bilder eng verknüpft:38 Der Geist seines Dichters spannt den „Eliaswagen“ an, den Wagen, mit dem der Prophet Elias zum Himmel fuhr (2. Kön. 2,11); dieser Wagen entpuppt sich aber als „Feuerdrach“, als Eisenbahn.39 Derart beschleunigt, braust der Schaffner-Dichter Kellers an Kerners Schäferpoeten, am Magnetiseur und Zauberer vorbei. Kellers Darstellung einer rasanten neuen Welt gipfelt darin, daß er nicht nur Kerners Schreckbild vom fliegenden Menschen aufnimmt, sondern auch eine alte poetologische Allegorie neu, nämlich technisch deutet: Und wenn vielleicht, nach fünfzig Jahren, Ein Luftschiff voller Griechenwein Durch’s Morgenrot käm’ hergefahren – Wer möchte da nicht Fährmann sein?40
Aus der Allegorie von des Dichters Seefahrt41 wird eine visionäre Luftschiffahrt des Poeten. Wie der Poet der Seefahrt-Allegorie will er – als ein bakchantischer Kapitän – das Luftschiff lenken und das Reich der Seligen ansteuern. Gleichwohl setzt Keller selbst noch immer – und in zunehmendem Maße – auf die Darstellungs- und Deutungsmuster der Naturlyrik,42 36 Keller: Erwiderung, Auf Justinus Kerner’s Lied: Unter dem Himmel, in: Keller 1995, I, S. 155–157, hier S. 156, V. 5–9. 37 Ebd., V. 11 f.: „Und manchmal scheint mir, Gottes Werde! / Ertön’ erst recht dem ‚Dichterhaus‘.“ – Mit dem ‚Dichterhaus‘ spielt Keller auf Kerners Haus in Weinsberg an; Keller 1995, I, Kommentar, S. 970. 38 Er konnte sich dafür von der Geschichtsphilosophie Isaak Iselin (1728–1782) inspirieren lassen. Er entfaltete eine umfangreiche, eine alle Bereiche menschlichen Lebens umfassende Fortschrittserzählung; siehe Sommer 2002, S. 31–48. 39 Keller: Erwiderung (wie Anm.V., 36), V. 14 u. 18; vgl. Kommentar, S. 970. 40 Keller: Erwiderung (wie Anm.V., 36), V. 29–32. 41 Über die Allegorie vgl. die Anmerkungen im Kapitel II. 3. a) über Arnims Darstellung von Camões. 42 Über die „Krise des Erklärungs- und Deutungsmusters ‚Natur‘“ in der Lyrik von 1850 bis 1890 und bei Keller Schönert 2000.
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bemüht sich um ein reflexives Verständnis von Poesie und poetischpoetologischer Tradition: Kellers Sprecher will Kerners Poeten eines Besseren belehren. Der Fortschrittsoptimismus des Kellerschen Dichters schlägt sich in einer neuen Fortschrittspoetik nieder. Denn was die „alten Pergamente“ Kerners bzw. seines Sprechers kündeten, das verwirkliche erst der Fortschritt, der mit Dampfmaschine und Eisenbahn über die Menschen gekommen sei.43 Doch obliegt es Kerner selbst, über die Angemessenheit dieser Poetik zu richten, denn Poesie erweist sich Kellers Sprecher zufolge als subjektive Gabe des einzelnen Menschen. Zwar gilt der Ritt auf dem „Feuerdrach[en]“ als beste und mutigste Wahl für den Dichter, aber Kellers Sprecher verabsolutiert ihn nicht zur einzig wahren Existenzform, gibt sich als Poetiker vielmehr liberal. Er äußert sich bloß optimistisch und subjektiv über den Poeten. Schlägt Kellers Fortschrittsoptimismus auch in skeptische Selbstbescheidung um, so bleibt die reflexive Subjektivität doch das wesentliche Kennzeichen, das er der Poesie in seiner poetologischen Lyrik zuschreibt. Es stellt den Kern seiner lyrischen Poetik dar. Dabei handelt es sich um eine andere Subjektivität, zieht man die ‚empirische‘ Subjektivität der Droste zum Vergleich heran:44 Von der moralischen Selbstbestimmung der frühen Droste scheiden Keller utopische und fortschritts-optimistische Reflexionen, die sogar die christliche Verheißung für die ‚neue Welt‘ gewinnen. Auf diese Weise, mit Hilfe des biblisch beglaubigten Bildes vom „Eliaswagen“, müßte es gelingen, so die Logik der Erwiderung, Kerner, den Poeten des ‚Alten Deutschland‘, vom Wert des Neuen zu überzeugen. Reflexion der Reflexion äußert sich hier in der Form einer gemäßigten und liberalen Ironie; sie ist weit von der Radikalität eines Wienbarg oder eines Feuerbach entfernt, die das ‚Alte Deutschland‘ ebenso wie das Christentum ohne Umschweife verdammt.45 Subjektives Dichten verdeutlicht die Probleme, die aus diesem ironischen, liberalen und subjektiven Verständnis von Poesie erwachsen:
43 Keller: Erwiderung (wie Anm.V., 36), V. 21–24. 44 Hier hätte Selbmann also Recht, wenn er die Naturwissenschaft als ein für die Lyrik untaugliches Denk- und Schreibmodell einschätzt; Selbmann 1999, S. 104. Für die Droste lautete der Befund anders; vgl. den vorhergehenden Exkurs. 45 Im Ausgang aus der Religionskritik Feuerbachs läßt sich für Keller eine Welt- oder Naturfrömmigkeit beschreiben, die melancholische Züge trägt; siehe Wysling 1970; vgl. auch Bernhard Sorgs Interpretation des Keller-Gedichts „Ich hab an kalten Wintertagen“ (Sorg 1999, S. 114–117, bes. S. 116 f.).
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
Ein wunderlicher Kauz ist der Poet, Der das, was alle Andern bloß empfinden, mit wunderlichen Worten sagen kann: Wenn’s nun in seinem Namen besser geht, Wie möget ihr ein Ärgernis da finden, Ihr eigensüchtig Volk: Er, Sie, Es, Man?46
Kellers Terzette schildern den Dichter als einen „wunderliche[n] Kauz“, der aus der eigenen Subjektivität heraus sage, was andere bloß empfänden. Er vollbringe damit ein gutes Werk, gebe sich stellvertretend für andere preis. Dem fragenden Sprecher des Gedichts erscheint es deshalb als merkwürdig, daß sich ein „eigensüchtig Volk“ und „Kläffer“ gegen diese Dichtungsweise wendeten.47 Er sieht seine subjektive Poetik durch Kritiker bedroht, die auf bestimmte Formen und auf einen allgemeinen, oder besser: entpersonalisierten Inhalt Wert legen und auf eine reine Reflexion abzielen, die er selbst nicht bieten will. Er hält an ganz subjektiven, wenn auch ironischen Reflexionen fest, sieht sich aber mit einem Wandel der Anschauungen konfrontiert. Beispielhaft dafür sind Kellers Auseinandersetzungen mit einer bestimmten Kritiker-Gruppe, mit ‚den Denkern‘. Dichter und Denker bezieht sich in diesem Sinne unmittelbar auf Kellers Streit mit den Junghegelianern, mit Arnold Ruge, Bruno Bauer, David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach und Karl Marx.48 Im Gefolge ihres Lehrers Hegel sehen sie Religion und Poesie als durch das regel- und begriffsspendende Werk der Philosophie abgelöst – wenn auch in je unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Radikalität. Keller ist anderer Meinung. Allerdings wandeln sich seine Ansichten zwischen den Gedichten von 1846 und den Gesammelten Gedichten von 1888, wie Dichter und Denker und Unser ist das Los der Epigonen zeigen. Denker und Dichter nämlich zerfällt in zwei Teile, wobei der zweite Teil – im dialektischen Muster – eine Synthese des ersten bietet. Im ersten Teil trifft das Heer der Denker auf die Streitmacht der Dichter. Die Denker vertreten eine These, die jedoch verborgen bleibt; letztere stehen für die Antithese ein und verfechten sie mit „goldnen Sonnenstrahlen“, „Blumen in den Talen“, „Tannen auf den Bergen“, mit „Himmels 46 Keller: Subjektives Dichten, in: Keller 1995, I, S. 58 f., hier S. 58, V. 9–14 [Hervorhebungen im Original]. 47 Ebd., S. 58, V. 3. Ob Kerner mit dieser Polemik bestimmte Kritiker seiner Dichtung im Auge hat, bleibt unklar. Vgl. Keller 1995, I, Kommentar, S. 914. 48 Vgl. Keller 1995, I, Kommentar, S. 962 f.
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Sterne[n]“, geleitet vom „Oberstfeldzeugmeister [...] Phantasie“ sowie dem „Feldmarschall“, dem „Dichtergeist“ (oder dem „Dichterherz“, wie es in der handschriftlichen Fassung des Texts heißt).49 Der zweite Teil bricht mit der Rhetorik und Bildlichkeit des Kampfes, die der erste Teil entfaltet. Hier schlagen die Dichter vielmehr eine friedliche Koexistenz beider Parteien vor. Sie sollen sich auf eine Aufgabenteilung verständigen, durch die sich die bestehende Ordnung bestätigt sehen kann. Dabei gebührt den Denkern (den „Bittern“) die Kritik des Bestehenden und damit auch die Kritik an der Religion. Sie soll sie vom Aberglauben befreien, so daß die Dichter auch die alte Religion neu gestalten können: Dann aber folgt die Dichterschar Die einen neuen Himmel baut, Darinnen man im Lichttalar Den alten Gott der Liebe schaut. Voran, voran, ihr Bittern, In fegenden Gewittern! Wir ziehen heilend, segnend nach Mit klar gestimmten Zithern.50
Radikale Hegelianer wie Feuerbach hätten einer solchen Aufgabenteilung entschieden widersprechen müssen, galt Feuerbach das Christentum (und besonders die Christologie) doch bloß als Übergangsstadium zur philosophischen Anthropologie.51 Solche Hegelianer, die sich – wie Strauß – gegen Feuerbach wandten, hätten Kellers Vorschlag zustimmen können.52 Keller distanziert sich für die Gesammelten Gedichte aber auch von ‚den Dichtern‘:53 Er spricht hier nicht mehr von einem heroischen „Dichtergeist“ (oder: vom besonders ‚empfindsamen‘ „Dichterherz“), sondern bloß noch ironisch vom „leichte[n] Gemüt“, das den „Feldmarschall“ für die Dichter abgebe.54 Darüber hinaus schreibt er – allerdings nur an einer Stelle – nicht mehr „Wir Dichter“, sondern nur distanziert „Die Dichter“.55 49 Keller: Denker und Dichter, in: Keller 1995, I, S. 146–149, hier (I), S. 146 f. Über die Abweichung im Druck siehe den Kommentar in ebd., S. 963. 50 Ebd., (II), S. 149. Kursivierungen im Original sind getilgt – zumal der veränderte Neuabdruck in den „Gesammelten Gedichten“ ebenfalls keine Kursivierungen mehr enthält; vgl. ebd., (II), S. 630. 51 Feuerbach 1843. 52 Vgl. Kapitel III. 1. b) dieser Untersuchung; vgl. auch dasselbe Kapitel (Abschnitt 2. über Straußens Kritik an Feuerbach). 53 Vgl. Keller 1995, I, Kommentar, S. 963. 54 Keller: Denker und Dichter (Wie Anm.V., 49), (I) S. 628, V. 39. 55 Ebd., (II) S. 629, V. 7.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
Keller münzt seine subjektiven Reflexionen in objektive um, indem er die ‚alten‘ Texte mit neuem Vorzeichen versieht. Der Autor reflektiert das Selbstgeschriebene – in der Form einer Reflexion der Reflexion der Reflexion. Hegels Reflexionsproblem wandert also noch in den 1840er Jahren in die Lyrik ein: Hier erklärt sich der Dichter selbst, deutet seine eigenen Aussagen, reagiert auf den eigenen oder fremden Reflexionsbedarf, auf ein Bedürfnis nach Urteil und Maßstab. Gründe für diese Selbstreflexion bzw. -kritik liegen – erstens – in der Enttäuschung, daß die Gedichte bloß ein geteiltes Echo fanden.56 Keller teilt seine Enttäuschung über den eigenen Mißerfolg bereits ein Jahr später mit, indem er einen wesentlichen Aspekt der neuhumanistischen Poetik von Vischer, Strauß und Mörike umschreibt: Ich bin auch unter den Leuten fremd. Da die Poeten nichts anders sind, als eigentliche Menschen und folglich letztere alle auch Poeten sind, so sehen sie doch einen sogenannten Dichter scheu von der Seite und mißtrauisch an, wie einen Verräter, welcher aus der Schule schwatzt und die kleinen Geheimnisse der Menschheit und Menschlichkeit ausplaudert.57
Poeten sind Menschen, und Menschen sind Poeten – soweit Kellers Rezeption des Diktums vom ‚ganzen Menschen‘. Doch vertragen sie sich nicht. Keller fühlt sich als Dichter von seinesgleichen ausgeschlossen und meint, man betrachte ihn als einen Schmarotzer an der eigenen Gattung. Er stellt das neuhumanistische Dichter-Bild, wie Strauß und Vischer es am Beispiel Mörikes kultivieren, ‚vom Kopf auf die Füße‘, kritisiert es aus der eigenen Erfahrung und läßt den Zweifel am neuhumanistischen Dichter-Bild für sich stehen. Daß dieser Zweifel im Falle Kellers nachhaltig wirkt und ein grundsätzliches Problem bezeichnet, davon zeugt die Änderung der Verse von Dichter und Denker. Ein zweiter Grund für Kellers Selbstkritik könnte darin liegen, daß er sich auch unabhängig von der eigenen poetischen Praxis der Seite der Denker annähert. In den Jahren 1848 und 1849 studiert er in Heidelberg Anatomie und Physiologie,58 freilich ohne zu einer naturwissenschaftlich inspirierten realistischen Poetik zu gelangen.59 Vielmehr verfestigt sich eine ironische und selbstreflexive Poetik, die sich bereits in Kellers Neuen Gedichten (1854) ankündigt und ihren Ausdruck in dem 56 Schönert 2000, S. 177. 57 Keller an Ferdinand Freiligrath, Zürich, den 5. Februar 1847, in: Keller 1919, II, S. 132–136, hier S. 136 f. [Hervorhebung im Original]. 58 Rohe 1996, S. 236 f. 59 Über das Fehlen von Wissenschaftsreflexion im Realismus ebd., S. 228–230.
1. Von der subjektiven Reflexion zur Selbstreflexion
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lakonischen Ghasel Unser ist das Reich der Epigonen findet. Aber Keller zieht sich nicht einfach resignativ aus dem Geschäft der Lyrik zurück; vielmehr kritisiert er ein unproduktives Epigonentum („Seht, wie noch einen Tropfen presset / Aus der alten Schale der Zitronen“),60 um ein produktives zum Gebot der Zeit zu erheben. Vom poetologischen Fortschrittsoptimismus der Erwiderung auf Kerner und vom emphatischen Dichterbild aus der frühen Fassung von Denker und Dichter bleibt hier aber nur noch die Ausrichtung auf eine ‚künftige Dichtung‘ übrig. Die eigene Tätigkeit aber erachtet Kellers Sprecher nicht nur als exemplarisch, sondern auch als zu einer poetologischen Unzeit zeitgemäß. Mit diesen Selbstreflexionen kommt Keller in gewisser Weise wieder bei Kerner an: Kellers Sprecher begnügt sich nunmehr mit sich selbst und dem eigenen – minderwertigen – Dichten, wartet auf einen ‚neuen Lenz‘ und läßt „der Dichtung Fahrzeug“ fahren, verabschiedet sich also von den technischen Bildern, die er in der Erwiderung mit der Naturlyrik konfrontierte. Seine Reflexion kehrt sich – lakonisch und selbst-distanziert – gegen die eigene Reflexion der Reflexion. Wie zeitgemäß diese Form der Selbstreflexion ist, das zeigen auch die poetologische Gedichte Theodor Fontanes. Er schildert die Poesie ironisch als ein „Hexchen“, das nur noch dann und wann ein „Klexchen“ vor seiner „Stubentür“ hinterläßt, und den Dichter mehr quält als erfreut.61 In seiner poetologischen Lyrik zeichnet Fontane typisierte Genrebilder, greift zum Rollengedicht über den hungernden Poeten, der einem Zigeuner gleiche, und schreibt über die Muse, die den „Jammer der Welt“ vergessen mache.62 Keller geht hierin noch weiter. Er wendet sich gegen die ‚veraltete‘ Poesie-Auffassung Kerners und überführt sie in ein eigenständiges Verständnis von Poesie als einer subjektiven, wirklichkeitszugewandten und optimistischen Reflexion über Wirklichkeit und Poesie – wenn er auch bereits nach dem Erscheinen seines ersten Lyrik-Bandes mit diesem (Selbst-)Verständnis bricht. 60 Keller: Unser ist das Reich der Epigonen, in: Keller 1995, I, S. 603, V. 3 f. – Zu diesen unproduktiven Epigonen gehören die naiven Naturlyriker ebenso wie leidenschaftslose Dichter; vgl. Keller: Aus ihrem Leben: Dichtung und Wahrheit. 1. Ghasel; 2. Konditor und Poet, in: Keller 1995, I, S. 153 f. Über die Ästhetik der Epigonalität Meyer-Sickendiek 2001. Kellers Epigonen-Text erfuhr gerade ausführlich Beachtung als poetologisches Gedicht (Neumeyr 2003) und wird deshalb hier zurückgestellt. 61 Theodor Fontane: Poesie, das liebe Hexchen, in: ders. 1995, S. 418 f. 62 Fontane: Der echte Dichter (Wie man ihn sich früher dachte), in: ders. 1995, S. 385 f.; ders.: Die Muse (3. Dez. 1853), in: ders. 1995, S. 447 f., hier S. 448.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
Für die frühen optimistischen Reflexionen der 1840er Jahre konnte Keller sich noch auf die Grundlagen neuhumanistischer Poetik stützen, wie sie von Mörike, Vischer und Strauß bekannt sind. Mit Mörike kämpfen Vischer und Strauß gegen eine bloß rhetorische Dichtung. Sie treten dafür ein, gerade Lyrik als Ausdruck eines ebenso sensiblen wie unterhaltsamen und ausgeglichenen – kurzum: eines vorbildlichen Subjekts zu begreifen. Kellers frühe poetologischen Äußerungen reihen sich in diese Überlegungen ein. Er überbietet sie in seiner Erwiderung sogar noch, und zwar in Richtung auf einen Fortschrittsoptimismus, der bei den skeptischen Schwaben nicht vorkommt. In poetologischen Fragen wird sich Keller aber nach dem Mißerfolg der Gedichte skeptisch äußern. Er verabschiedet sogar das neuhumanistische Postulat vom ‚ganzen Menschen‘. Poetik und Weltsicht treten auseinander. Denn Kellers briefliche Äußerungen über Vischer belegen, daß er im täglichen Umgang gleichwohl am neuhumanistischen Menschenideal festhält. In diesem Sinne betrachtet er seinen Freund und Förderer Vischer als gefährdet: Als Person „ein sehr liebenswürdiger und frischer Mensch“, habe er sich nunmehr ganz „zu dem Universitätsvolk geschlagen“; er wandele sich zum Dogmatiker, zum verbissenen und weltabgewandten Stubengelehrten.63 In gewisser Weise wendet Keller den Ästhetiker Vischer dabei gegen den Professor an: Vischer, der Vertreter des ‚ganzen Menschen‘, sieht sich plötzlich auf einen bürokratischen Karrieristen im Räderwerk des Universitätsgetriebes reduziert. Gegen die neuhumanistische Begeisterung für den ‚ganzen Menschen‘ stellt Keller die Differenzierung der Handlungsrollen. Unter diesem Aspekt überbietet Kellers Reflexion der Reflexion noch die neuhumanistischen Prinzipien der Zeitgenossen; unter poetologischem Aspekt nimmt er deren Vorläufer auf’s Korn. Er mißt den eigenen Lyrik-Begriff an Kerners Unter dem Himmel, überführt Naturlyrik in Technik-Reflexion und ‚Technik-Lyrik‘. Zu diesem Zweck 63 Keller sendet diese Zeilen an einen anderen Freund und Förderer, nämlich an Hermann Hettner (1821–1882). Dieser hat den Neuhumanismus in einer noch ausgereifteren Form als Vischer und Strauß zur Grundlage seiner Literaturgeschichtsschreibung ebenso wie seiner Universitätspolitik gemacht (Schlott 1993, S. 39–50). Keller weiß, daß sein Urteil dem Freund ‚aus der Seele‘ spricht. Keller an Hermann Hettner, den 21. Februar 1856, in: Keller 1919, II, Nr. S. 396–400, hier S. 396. Vgl. auch Kellers Brief an Freiligrath, in: Keller 1919, II, Nr. 151, S. 439–442, hier S. 441: „Vischer ist ein von der Frau geschiedener Mensch, und meistens moros und hat jetzt seine Ästhetik vollendet.“
2. Im Ausgang aus dem Naturalismus
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setzt er den eigenen neuhumanistischen Autor- sowie Poesie-Begriff bereits spielerisch ein – im Sinne einer (selbst-)experimentellen und subjektiven Reflexion, die sich im Lauf der Zeit erheblich wandelt. Sie mündet in prophetische Selbstbescheidung, in die Selbstbespiegelung des epigonalen Poeten, der die eigene Begeisterung für Technik aufgibt. Kellers Sprecher akzeptiert die Handlungsrolle des professionellen Poeten, der nicht mehr exemplarisch alle Menschen, sondern nurmehr seinen Berufsstand repräsentiert. Im Ausgang aus diesen Selbstbespiegelungen des Poeten steht ein Naturalismus, der – mit Flaischlen – um die neuen technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen des Jahrhunderts weiß, sie aber ebensowenig in Wort und Schrift zu gestalten vermag wie sein realistischer Vorläufer. Gleichwohl heben naturalistische Poetiker mit großer Entschiedenheit an, setzen sich mit Donnergrollen und revolutionären Parolen für eine ‚echte Moderne‘ von der ‚überkommenen Dichtung‘ ab,64 nutzen also viel deutlichere Muster der Abgrenzung, als sie die Kellersche Erwiderung gegen Kerner ins Feld führte.
2. Im Ausgang aus dem Naturalismus: Ende der Lyrik oder bloß ein Vermittlungsproblem? Protestkult der „Charaktere“ und Otto Julius Bierbaum Ein Gespräch (1895) Daß der Naturalismus (vor allem Zur Linde, Holz) mit großer Emphase begann, sich gegen jede „apriorische[] Versform“ wendete, fiel schon der zeitgenössischen Literaturgeschichtsschreibung auf.65 Ihr galt dennoch erst George als radikaler Neurer: als derjenige, der den „dichterische[n] Zustand aus einer Weltergriffenheit“ hervorgehen läßt, der auf das Ursprüngliche sinnt, sich tatsächlich von Konventionen löst, der die Gegenwart haßt, der im Medium der Dichtung (und des Dichters) auf ein asketisches „Gegenbild[]“ zu dieser zielt: auf eine neue Religion, auf ein reines Leben.66 Der Impetus zu diesem radikalen Bruch mit der poetischen und poetologischen Vergangenheit entstammt aber gleichwohl dem Naturalis64 Über die Wiederkehr solcher ‚Modernen‘ Thomé 2000. 65 R. M. Meyer 1912, S. 629. 66 Ebd., S. 629 f.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
mus. Die Kritischen Waffengänge der Gebrüder Hart beklagen den „Fluthwall“ dilettantischer Lyrik: das sorgsame, aber farblose und stereotype Verseschmieden aus der Schule Platens und Geibels.67 In diesen programmatischen Reflexionen der Reflexionen liegt sowohl das besondere Kennzeichen des Naturalismus als auch seine poetik-geschichtliche Leistung. Denn erst Jahrzehnte nach der jungdeutschen Bewegung der 1830er und 40er Jahre stellt der Naturalismus radikal in Frage, was die Literaturproduktion und -rezeption des mittleren 19. Jahrhunderts im Ausgang aus der jungdeutschen Bewegung etablierte. Als Beispiele dafür dienen mir die programmatischen Einleitungen und einige poetologische Gedichte aus Wilhelm Arents Anthologie Moderne Dichter-Charaktere (1885), die als Gründungsmanifest des deutschen Naturalismus gilt, sofern er sich in Lyrik ausdrückt.68 Es lohnt sich, die Anthologie neu und gründlich zu lesen, will man sich über die besondere Qualität des Naturalismus im Vergleich zur Lyrik bis 1880 und im Vergleich zur Lyrik ab 1895 informieren. In ihren Einleitungen zu Arents Anthologie erörtern Hermann Conradi und Karl Henckell im Prinzip zweimal und mit etwas anderen Worten das Gleiche: erstens geht es ihnen darum, ein neues Zeitalter der Lyrik zu verkünden und sich gegen alles Vorhergehende abzugrenzen. Zweitens malen sie aus, was die neue lyrische Epoche leisten will. Ziel ist eine neue Volkspoesie, und zwar eine durchaus nationale, die es erlaubt, weite Kreise – Leser wie Dichter – für die Dichtung zurückzugewinnen.69 Zu diesem Zweck will Conradi nicht nur die „überlieferten 67 „Ein Lyriker à la mode“, in: Hart u. Hart 1969, 3 (1882), S. 52–68, hier S. 52 f. – Wenn die „Kritischen Waffengänge“ auch als die entscheidende Programmschrift des Naturalismus gelten, so will ich die Interpretation dieser Programmatik hier zugunsten der ebenso bedeutsamen Anthologie „Moderne Dichter-Charaktere“ (hg. v. Wilhelm Arent) zurückstellen. Diese führt nämlich bereits ‚in actu‘ vor, wie Autorpoetik und poetologisches Gedicht aufeinander wirken – und wie sich poetologische Lyrik von der naturalistischen Programmatik abgrenzt. Auch auf die poetologische Lyrik von Arno Holz will ich nur in diesem Zusammenhang zu sprechen kommen. Es geht mir dabei ausschließlich um eine differenzierte Sicht auf den frühen Holz, der immer wieder pauschal als ‚naturalistischer Dichter‘ eingeordnet wurde. 68 Über die Anthologie siehe schon T. Meyer 2000, S. 41 f. 69 Hermann Conradi: Unser Credo, in: Arent 1885, S. [I]–IV, hier S. [I]. Schon Theodor Storm sah das ‚Ende der Lyrik‘ gekommen, weil sich die Lyrik selbst auf mechanische und bedeutungslose Versifizierungen für den bürgerlichen Bücherschrank eingelassen habe. Um jene schlichte und formal (möglicherweise mit Ausnahme von C. F. Meyer) anspruchslose Lyrik wollte sich Storm aber nicht einmal mehr bemühen – im Gegenteil: Er grenzte sich von ihr ab; Schönert 2000, S. 178.
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Motive[]“, die „abgenutzten Schablonen“ und die tradierten Rollen des Salon- und Fürstendichters abstreifen, sondern sieht sich von einem „grandiose[n] Protestgefühl“ getrieben:70 [...] gegen Unnatur und Charakterlosigkeit; gegen Ungerechtigkeit und Feigheit, die auf allen Gassen und Märkten gepflegt wird; gegen Heuchelei und Obscurantismus; gegen Dilettantismus in Kunst und Leben; gegen den brutalen Egoismus und den erbärmlichen Particularismus, die nirgends ein großes, starkes Gemeingefühl, ein lebendiges Einigkeitsbewußtsein aufkommen lassen!71
Dieses „Protestgefühl“ gewinnt eine Eigendynamik, die von mehr als bloß sozialen Motivationen entfesselt wird. Conradi plädiert stellvertretend für die „Dichter-Charaktere“ für eine sakrale, gemeinschaftstiftende und vom Ursprung des Volkes her inspirierte Poesie. Er nähert sich diesen Vorstellungen ex negativo, in Abgrenzung von der Vergangenheit, formuliert sie aber auch ausdrücklich und mit Hilfe entsprechender Schlagworte: „Die neue Lyrik“, von der auch Henckell spricht, soll aus dem „germanischen Wesen“, aus dem „Geist wiedererwachter Nationalität“ entstehen.72 Aus dieser Forderung ergeben sich Konsequenzen für den Dichter und für die Poesie. Der deutsche Dichter, so heißt es, richte sich auf „Titanisches“ und „Geniales“; er bilde seine „künstlerische[] Individualität [...] schrankenlos[]“ aus, werde eine eigene und ursprüngliche Persönlichkeit, ein exemplarischer Mensch, eben ein „Charakter“, der für alle anderen empfinde, der in Leben und Dichtung eingreife:73 Dann werden die Dichter ihrer wahren Mission sich wieder bewußt werden. Hüter und Heger, Führer und Tröster, Pfadfinder und Weggeleiter, Aerzte und Priester der Menschen zu sein.74
Der „Dichter-Charakter[]“ erweist sich als Prophet, der, um seine „Mission“ auszuführen, in ganz elementare Rollen schlüpft. Er führt und behütet den Menschen, heilt ihn von physischem und psychischem Übel. Einer solchen sakralen und volksmythischen Bestimmung des Dichteramts entspricht eine sakrale Bestimmung der Poesie. Sie soll 70 71 72 73
Conradi: Unser Credo (wie Anm.V., 69), S. II u. IV. Ebd., S. IV. Ebd., S. II f.; vgl. Karl Henckell: Die neue Lyrik, in: Arent 1885, S. V–VII. Conradi: Unser Credo (wie Anm.V., 69), passim; Henckell: Die neue Lyrik (wie Anm.V., 72), S. VII. 74 Conradi: Unser Credo (wie Anm.V., 69), S. III.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
„wieder ein Heiligthum werden, zu dessen geweihter Stätte das Volk wallfahrtet.“75 Blickt man von dieser Bestimmung auf den Begriff „Dichtercharakter“ zurück, wie ihn der Anthologist Adolf Laun schon im Jahr 1869 gebrauchte, dann fällt auf, daß Conradi und Henckell überhöhen, was Laun damit meinte. Laun ging es bloß darum, Charaktere „aus dem Boden ihrer Nationalität und ihrer Zeit herauswachsen“ zu lassen und darum, „sympathetische Teilnahme“ zu erzeugen.76 Conradi und Henckell aber setzen auf volksmythische Reflexionen. Sie übertreffen die Poetik des Realismus bei weitem, und zwar, indem sie die Darstellungsmuster des ‚Jungen Deutschlands‘ in den Fassungen Wienbargs und Mundts zugunsten einer neuen Heldenpoetik wiederbeleben: mythische Volkspoesie, Protest, Gemeinschaft, Inspiration, Titanismus, Genialität und Weihe zum Heiligtum der Poesie – das sind die radikalen, mythischen und mystischen Leitvorstellungen, die den Naturalismus vom Realismus (Kellers und Fontanes) unterscheiden.77 Diese nationalmythische Poetik findet ihren paradigmatischen Ausdruck in Oscar Linkes Ixion, einem Originalbeitrag für Arents Anthologie und einer ‚Neufassung‘ von Arnims gleichnamigem Gedicht.78 Es handelt sich nicht um einen poetologischen Text im engeren Sinne, aber gleichwohl um einen Text, der implizit poetologische Aussagen trifft, indem er sich von der romantischen Tradition abgrenzt. Während Arnims Ixion unter seinem Schicksal leidet, sich für seinen naiven Glauben schilt, er selbst sei Gott, erträgt Linkes Ixion die Leiden im Hades heroisch. Für seine Elegie, die alles andere als ein Klagelied ist, wählt er sich einen anderen Refrain als Arnims Ixion: „Ich habe [hatte] das Höchste besessen!“,79 verkündet, was Hera (nach Lukian) befürchtete. Indem sie Zeus veranlaßte, Ixion für seine Buhlerei hart zu bestrafen, wollte sie vermeiden, daß ein Mensch behaupten könne, er habe sie, die Göttin, verführt.80 Linkes Ixion aber fühlt sich in der Tat als Sieger über
75 Henckell: Die neue Lyrik (wie Anm.V., 72), S. VII. 76 Laun 1869, S. IV f. 77 T. Meyer stellt die Programmatik der „Dichter-Charaktere“ als weitaus gemäßigter dar; erst auf diese Weise gelingt es ihm, den Naturalismus in ein realistisches Gesamtpanorama einzufügen. 78 Siehe für Arnims „Ixion“ und die Herkunft des Mythos Kapitel II. 3. b) dieser Untersuchung. 79 Oscar Linke: Ixion, in: Arent 1885, S. 41–43, passim. 80 Vgl. über den ‚Ehestreit‘ von Hera und Zeus Kapitel II. 3. b) dieser Untersuchung.
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die Göttin sowie über den gesamten Götterhimmel. Er näherte sich Hera nämlich offenkundig erfolgreich: Nein! Nimmer bekehren sie mich, und häuften sie grausam Erfinderisch über mich kaum zu erdenkende Strafen! Ha, nimmer bekehren sie mich, nicht Menschen noch Götter, Ihr törichtes Mährchen zu glauben in kindlicher Einfalt! Ich täusche mich nicht: Kein Traum mein kühnster Gedanke!81
Linkes Ixion ist der paradigmatische „Charakter“. Hier emanzipiert sich das Individuum von Göttern wie von Menschen. Es traut sich selbst und der eigenen ursprünglichen Empfindung alles zu. Keine andere Mythengestalt hätte in gleicher Weise symbolisieren können, was Conradi und Henckell formulieren, als der Ixion Linkes. Reflexion der Reflexion geschieht hier im Muster der Heroisierung der romantischen Vorlage. Die naturalistische Reflexion der Reflexion löst ein, was der Bezugsreflexion noch nicht zugänglich war: Plötzlich verwirklichen sich die kühnsten Träume der Menschen. Poetologische Reflexion äußert sich als Selbsterhebung des Dichters, als Selbstglorifizierung im poetologischen Überbietungsgestus. Der Dichter ist nicht mehr ‚ganzer Mensch‘ oder experimentierendes Dichterwesen, sondern deutscher Held. Linkes Ixion steht damit paradigmatisch und programmatisch für den Bruch mit der romantischen ebenso wie der realistischen Dichtungstradition: Sein Ixion hat mit demjenigen Arnims nicht mehr als das Thema gemein. Im Bild des Ixion stellt Linke die Lyrik-Traditionen der Vorzeit an den naturalistischen Pranger und führt einen Bruch mit diesen Tradition herbei. Aber nicht nur in diesem Gedicht äußern sich die poetologischen Vorstellungen Conradis und Henckells unmittelbar. Gleiches gilt für poetologische Lyrik-Texte wiederum von Linke, aber auch von Arent selbst und von Carl Bleibtreu. In ihren Schriften werden die Auffassungen von Conradi und Henckell topisch: Der Dichter gilt als „Priester“ und „Prophet“, als derjenige, der von ‚der Menschheit Elend‘ kündet und dieses heilt;82 er folgt seiner „Dichtermission“ – und nutzt zu diesem Zweck (wie Bleibtreu) nicht selten widersprüchliche Bilder.83 81 Linke: Ixion (wie Anm.V., 79), S. 43 [Hervorhebungen im Original]. 82 Wilhelm Arent: Zum Eingang, in: Arent 1885, S. 10 f., hier S. 10; Oscar Linke: Dichterstolz, in: Arent 1885, S. 25 f., hier S. 25; Carl Bleibtreu: Dichtermission, in: Arent 1885, S. 11–14, hier S. 11. 83 Vgl. Bleibtreu: Dichtermission (wie Anm.V., 82), S. 12: Hier gebraucht Bleibtreu christliche Motive, um die Bedeutung der Poesie zu veranschaulichen, grenzt sich
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
Anders verhält es sich bereits mit dem frühen Arno Holz.84 Holz bemüht sich nicht, den ‚neuen Dichter‘ und die ‚neue Lyrik‘ zu schildern, sondern er begnügt sich – beinahe vollständig – mit einer satirischen Kritik des Bestehenden. Seine Gedichte (Samstagsidyll, Berliner Schnitzel, Ein Tagebuchblatt) lesen sich wie Momentaufnahmen aus dem Berliner Alltagsleben. Zwar achtet Holz wie seine Kollegen aus den Dichter-Charakteren noch immer penibel auf den Endreim, aber dieser wirkt hier nicht mehr sorgfältig gedrechselt, sondern er unterstreicht den gelegenheitspoetischen Gestus. Als ein Beispiel dienen mir die Berliner Schnitzel, ein Originalbeitrag für Arents-Anthologie aus dem Jahr 1884. Holz beginnt seinen Text in einer Weise, als wolle er sich sogleich von Conradi und Henckel absetzen: 1. Kein rückwärts schauender Prophet, Geblendet durch unfaßliche Idole, Modern sei der Poet, Modern vom Scheitel bis zur Sohle. 2. Verruchtes Epigonenthum, Egypter- und Teutonenthum, Daß dich der Teufel brate! Schon längst sind wir fascikelsatt, Grinst doch durch jedes Titelblatt Das Dante’sche ‚Lasciate‘!85
Der Dichter der Berliner Schnitzel ist kein Prophet, schon gar kein „rückwärts schauender“. Außerdem richtet er sich gegen das „Teutonenthum“, in dem die beiden naturalistischen Programmatiker den Ursprung für die künftige Dichtung erblicken.86 Conradi, Henckell und Holz ist nur der radikale Bruch mit dem Vergangenen gemeinsam: der Bruch mit dem produktiven „Epigonenthum“, das Keller noch als vorläufige Lösung für poetologische Probleme pries. Zu diesem Bruch gezugleich aber vom ‚Überirdischen‘ ab. Vgl. ebd., S. 14: Bleibtreu bezeichnet die Poesie mal als „Mond“, mal als „Lampe“. 84 Ich knüpfe hier an T. Meyers (2000, S. 41–43) Darstellung des frühen Holz an. 85 Arno Holz: Berliner Schnitzel. [1884. Originalbeitrag], in: Arent 1885, S. 148–150, hier S. 148. 86 Dieser Unterschied wird noch einmal in „Schnitzel“ Nr. 7. Deutlich. Danach entstammt das ‚Urewige‘ nicht der Volksmythologie, sondern es entsteht aus jedem einzelnen Herzen ebenso wie aus dem „Klangstrom lyrischer Gedichte“. Ebd., S. 149.
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hört auch die vehemente Polemik gegen die Phrase, gegen die Prüderie des zeitgenössischen Bildungsbürgertums (besonders gegen diejenige der Lehrer ‚auf dem Katheder‘) und gegen die „Simpeldichter“, die nie der „dreimal heil’ge Zorn“ packt, weil sie das „Elend nur aus Büchern kennen.“87 Entwirft Holz ein positives Bild von der Poesie, so sucht er sich dafür – anders als die übrigen „Charaktere“ – schlichte Situationen. In Samstagsidyll beispielsweise schildert der Sprecher einen Wochenendausflug mit seiner Liebsten. Fernab von der „Fabrikstadt“ kommt man sich nahe – und kann vor Ergriffenheit nichts sagen: „‚Nun weißt auch Du, mein Herz, was Poesie [...]‘“, erklärt der Sprecher bewegt. Weiter heißt es: ‚[...] Sie speist die Armen und sie stärkt die Schwachen, Sie kann die Erde uns zum Himmel machen, Sie kost im Zephyr und sie harft im Föhn: Nicht wahr, mein Herz, das Leben ist doch schön?‘88
Der Sprecher setzt große Hoffnungen auf die Poesie: Sie hilft den sozial Benachteiligten, verschönert das Leben und entsteht aus einer besonderen innerlichen Bewegung. Doch durch die situative Darstellung erscheint die Sprecher-Aussage über Poesie als ebenso ehrlich wie naiv. Mit Samstagsidyll gibt sich Holz wirklichkeitsnah und in einem romantischen Sinne sozialkritisch, distanziert sich aber zugleich davon. Er beobachtet die Szenerie der „Fabrikstadt“ nur. Es bleibt dabei: Seine poetologischen Gedichte leben von einem Gestus der Distanzierung, von so satirischer wie temperamentvoller Polemik. Anders als die meisten frühen Naturalisten reflektiert diese Polemik aber auch schon die naturalistische Programmatik selbst. Während Arent, Linke und Bleibtreu im Verhältnis von Eins zu Eins umsetzen, was Conradi und Henckel formulieren, kritisiert Holz dieselbe Programmatik mit lyrischen Mitteln. Darüber hinaus kann er als einer der wenigen Naturalisten gelten, die sich um formale Innovation bemühten und sich der sozialen Wirklichkeit in der Tat – wenn auch zurückhaltend – näherten. Reflexion der Reflexion findet dabei im engen Gebiet des Naturalismus selbst statt, und zwar als Kritik und Weiterführung der Programmatik der eigenen Bewegung. Von dieser sozialen und form-experimentellen Kritik gehen neue Impulse aus. Sie führen den Naturalismus vom Naturalismus weg. 87 Ebd., S. 149 f., Schnitzel 3., 5., 9. 88 Arno Holz: Samstagsidyll [1884. Originalbeitrag], in: Arent 1885, S. 143 f., hier S. 144.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
Vergleichbares ließe sich für die poetologischen Reflexionen Otto Zur Lindes, Detlev von Liliencrons und Otto Julius Bierbaums zeigen, die sich bald vom Naturalismus lösen. Die Gründe dafür erörtert Bierbaum in einem Dialog zwischen dem „Einen“ und dem „Anderen“. Er erscheint nur zehn Jahre nach Arents Anthologie, und zwar in der Jugendstil-Zeitschrift Pan (1895).89 Der „Eine“, so die schlichte Handlung, ertappt den „Anderen“ beim Lesen eines Buchs mit düsteren Versen – Anlaß genug, um über den künstlerischen und sozialen Stellenwert von Lyrik zu diskutieren. Während der „Andere“ die Lyrik verteidigt, erhebt der „Eine“ Musik, Kunst und Theater über dieselbe, ja spricht Lyrik überhaupt die Existenzberechtigung ab: „Unsere Zeit verlangt eben andre Interessen. Wir haben einfach mehr zu tun, als Verse lesen.“90 Seine stärksten Argumente für diese Zeit-Diagnose entstammen allerdings nicht den ‚unlyrischen‘ Anforderungen der Außenwelt, wie sie vor allem Liliencron in seiner poetologischen Lyrik beklagt,91 sondern der Lyrik selbst, und zwar ihrer neuesten Entwicklung. Der „Eine“ beginnt deshalb mit einer Provokation: Wer aber soll heute zu einem ruhigen Urteil gelangen angesichts dieses geschmacklosen Nebeneinanders von literarischen Gegensätzen? Kaum hat der Naturalismus Alles über den Haufen geworfen, was uns edel und schön dünkte, und schon soll dieser Naturalismus überwunden sein und wird als unkünstlerisch verschrien.92
Er richtet sich nicht gegen den Naturalismus; vielmehr versucht er zu erörtern, warum es im Jahr 1895 so schwer fällt, Lyrik angemessen wahrzunehmen. Dabei gibt die Konjunktur des Naturalismus bloß ein Beispiel für den schnellen Wechsel der dichterischen Moden ab, die der „Eine“ beklagt. Der „Andere“ stimmt ihm im Prinzip zu, will aber weiterdenken. Aus seiner Sicht geht das „Geschrei“, in das der „Eine“ einstimmt, auf ein orientierungsloses „Publikum“ zurück: Was fehlt, das ist die Vermittelung. Hier die Schaffenden da die Empfangenden. Zwischen diesen beiden müsste es im rechten Maasse Vermittler 89 Über „Pan“ Butzer u. Günter 2000, S. 116–136, hier S. 125–127. 90 Otto Julius Bierbaum: Ein Gespräch, in: Pan 1/2 (1895), S. 101–105, hier S. 102. 91 Siehe Detlev von Liliencron: Dichterlos in Kamtschatka, in: Liliencron 1977, S. 384 f.; ders.: Auf den Tod eines im Elend untergegangenen deutschen Dichters, in: Liliencron 1977, S. 387 f.; ders.: An meinen Freund, den Dichter, in: Liliencron 1977, S. 389–394. 92 Bierbaum: Ein Gespräch (wie Anm.V., 90), S. 104.
2. Im Ausgang aus dem Naturalismus
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geben, Leute, die ex officio Kenner und Verkünder wären [...]. [...] Berufen scheinen mir dazu die angestellten Lehrer der Literatur an den Universitäten und höheren Schulen zu sein, aber ich weiss nicht, ob sie alle auch auserwählt sind. [...] zum grossen Teil [sind sie] noch durchweg in der wissenschaftlichen Sichtung der alten Schätze unsres Geisteslebens befangen, und halten es für einen Raub ihrer Würde, wenn sie sich im Gegenwärtigen umsehen.93
Aus der Sicht des „Anderen“ scheitert die neuere Lyrik an diesem Publikum. Sie erscheint als zu kompliziert und als deutungsbedürftig, kann nicht (mehr) für sich selbst stehen und bleibt für den Leser unverständlich. Aus der Kritik der gegenwärtigen Literatur heraus gebiert der „Andere“ einen erneuerten Hegelianismus. Er nimmt Hegels Argument auf, in der Kunst bzw. der Literatur gewinne die Reflexion so sehr Oberhand, daß sie der kundigen Deutung bedürfe.94 Ganz Hegels Vorstellungen entsprechend ruft der „Andere“ nach „Vermittler[n]“ und „Verkünder[n]“ für diese neue Literatur. Kandidaten für dieses hohe Amt erblickt er in den (Universitäts-)Lehrern, den Poetikern, Ästhetikern und Literaturhistorikern, die diese Aufgabe aber erst für sich entdecken und alte Vorurteile gegen die Lyrik der Gegenwart ablegen müßten. Der erneuerte Hegelianismus äußert sich hier also nicht als eine Kritik an der Reflexion in der Literatur, sondern als eine Kritik der institutionalisierten Reflexion an Schulen und Universitäten: eine Verlagerung des Problems, die sein Gesprächspartner als konventionell entlarven wird. Denn literarische und literaturinterpretierende Berufsfelder haben sich so sehr auseinanderentwickelt, ausdifferenziert und binnendifferenziert, daß man sich wechselseitig nicht mehr wahrnimmt oder wahrnehmen will. Der „Eine“ ist sich dieser Zustände bewußt und wendet sich deshalb gegen den Vorschlag des „Anderen“. Einerseits rückt er den „Anderen“ auf die Seite der traditionsverachtenden und kathederstürmenden Naturalisten, andererseits erscheint er ihm als zu bieder. Er spottet: „Also doch wieder der deutsche Professor als Nothelfer. Ich hätte Dich für radikaler gehalten.“95 Doch der „Andere“ läßt sich nicht beirren: „Radikal hin, radikal her. Vor Worten muß man sich nicht fürchten; auch nicht vor dem Wort ‚Professor‘. Manchmal steckt ein Mensch dahinter.“96 Er 93 94 95 96
Ebd. Siehe die einleitenden Bemerkungen zu Kapitel III. dieser Untersuchung. Bierbaum: Ein Gespräch (wie Anm.V., 90), S. 105. Ebd.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
treibt die Debatte über professionelle Vermittler bzw. Verkünder von Lyrik weiter und stellt Anforderung für solche Vermittlungen auf: Schüler, Studenten und sogar die Dichter selbst sollen die „Grundlagen der Kunst, Poesie zu lesen“ erlernen und „Bildung“ erwerben, um am „gegenwärtigen Geistesleben“ des Volkes teilnehmen und Literatur genießen zu können.97 Der „Eine“ gibt seinen Widerstand gegen den „Anderen“ nicht auf. Er hält ihn für einen „unzeitgemässe[n] Herr[en]“.98 Das Auftauchen des Freundes „Eberhard“ verrätselt die Situation: Er nähert sich den beiden, in der Hand einen Goldschnitt-Band, auf den er allerdings nicht angesprochen werden will. Vielmehr verlangt er nach Skatkarten. Auf der einen Seite steht das Bemühen um zeitgenössische Lyrik, das sich in Bierbaums Gespräch als Bemühen um den Erwerb angemessener Kunstwahrnehmung äußert. Was Lyrik sei, was Dichter und Leser im einzelnen zu leisten hätten – all das bleibt offen. Vielmehr führen die zahlreichen Lyrik-Moden dazu, das man nicht mehr weiß, was Dichtung ist und sein soll. Mehr noch: Die Zeitgenossen sind sich unklar darüber, ob überhaupt Lyrik sein soll, ob nicht vielmehr ein Skatspiel zum Zeitvertreib ausreiche. Auf der anderen Seit steht das Leben in materiellem Wohlstand und die Suche nach bloßer Unterhaltung. Nihilismus, Überfluß und Orientierungslosigkeit haben das naturalistischen Heldentum des Poeten trivial werden lassen. Bierbaum will naturalistische Reflexionen deshalb nicht rückgängig machen, sucht aber nach neuen Wegen, um Lyrik wieder zu Anerkennung zu verhelfen. Denn daß der Freund im Ausgang des Gesprächs einen GoldschnittBand mit sich führt, erschließt immerhin, daß der „Andere“ tatsächlich ein Desiderat anspricht. Darüber hinaus gibt er erste Hinweise auf die gesuchten Vermittler und Verkünder. Der Hoffnungsträger heißt Berthold Litzmann (1857–1926), im Jahr 1895 Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bonner Universität, zuvor Leiter des Berliner Akademisch-literarischen Vereins.99 Litzmanns Vorlesungen richten sich – anders als die Vorlesungen seiner Fachkollegen – nicht bloß an Studierende, sondern auch an die informierte Öffentlichkeit, sogar an die Dichter selbst. 100 Mit anderen Worten: Ausdifferenzierung und Professionalisierung der wissenschaftlichen Rede über Literatur 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Im Jahr 1906 gründete er auch in Bonn eine „Literarhistorische Gesellschaft“.
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führen zur Abgrenzung gegen die Literaturschaffenden selbst. Aus100 nahmen wie Litzmann bestätigen die Regel. Für die gelehrte und die wissenschaftliche Poetik und Ästhetik aber ergibt sich ein komplexeres Bild. Aufgrund der vielfältigen literarischen Orientierungen um 1900 und aufgrund einer theoretisch innovativen psychologischen Ästhetik sieht sich die Poetik vor neue Herausforderung gestellt. Sie verbindet historische Reflexionen mit formanalytischen, psychologischen, physiologischen und sozialen, bleibt aber noch lange Zeit – von Rudolf Gottschall und Karl Borinski bis hin zu Emil Staiger – eine normative Wissenschaft, die die Forderung nach Wertfreiheit erst nach und nach entdeckt.101 Die Professionalisierung poetologischen Denkens führt also einerseits dazu, daß Poetik sich immer mehr an die ‚sciences‘ anschließt, andererseits aber auch dazu, daß sie sich von ihrem Gegenstand, von der Poesie entfernt. Normative Poesie-Reflexion findet deshalb nach und nach in den Künstlerpoetiken ihren Ort. Hier wird gefordert, angekündigt und polemisiert, um der eigenen Literaturanschauung Geltung zu verschaffen. Gleichwohl läßt sich die Kunstproduktion von ästhetischen und poetologischen Erkenntnissen der Wissenschaften anregen – sofern sie populär vermittelt werden. Pan, Die Jugend, die Wiener Rundschau und andere Journale um 1900 enthalten immer auch allgemeinverständlich geschriebene Beiträge über ästhetische oder poetologische Fragen. Reflexion über Literatur diversifiziert sich immer mehr.102 Im folgenden soll es deshalb nur um ein Lösungsmuster gehen, das in der poetologischen Lyrik selbst für die Krise der Lyrik im ausgehenden 19. Jahrhundert gefunden wird. Gemeint ist dasjenige der Mystifika100 Der „Andere“ erläutert, warum Litzmann ein so breites Publikum erreicht; Bierbaum: Ein Gespräch (wie Anm.V., 90), S. 105: Er gewöhnte sich „den alten und unleidlichen ästhetisch dekretierenden Ton“ ab, „den die Dichter nicht vertragen.“ 101 Die ethischen Vorlieben des Monismus und Neu-Kantianismus beispielsweise schildert Mirjam Storim (2002) am Beispiel der Debatte über Schmutz und Schund. 102 Dieses vielschichtige Feld von Lyrikproduktion, wissenschaftlicher Verarbeitung und populärwissenschaftlicher Anregung ist nicht oder nur schlecht erschlossen; vgl. nur für den Zeitraum von 1830 bis 1860 Ruprecht 1987; hilfreich ist auch Todorov 1981. Es fehlt aber schon an einer bibliographischen Übersicht über die Poetiken (und Ästhetiken) des 19. respektive des beginnenden 20. Jahrhunderts. – Ein Teilprojekt über „Historische Texttheorie“ im Rahmen des Dachprojekts, dem diese Untersuchung entstammt (siehe Anm. I., 61), soll sich zumindest der gelehrten, wissenschaftlichen und didaktischen Poetiken annehmen, diese mit dem Anspruch der Vollständigkeit erschließen und die poetologischen Reflexionen in den Poetiken darlegen, wie sie hier nur angedeutet werden können.
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tion von Poesie in Lyrik und Poetik.103 Es zielt auf Transzendenz und damit sowohl auf eine übersinnliche Wahrnehmung und Darstellung von Poesie. Wie andere poetische und poetologische Muster gehört es zu einem festen Bestand von Lyrik und Autorpoetik, der einmal bloß ein ‚gesunkenes Kulturgut‘ darstellt, ein ander Mal aber wieder – in je spezifischer Form – an die Oberfläche der Schreib- und Publikationstätigkeit gespült wird. Im 19. Jahrhundert ist dies vor allem in der Romantik (Novalis, Kerner), seltener im Realismus (Ludwig, Dahn), häufig aber im Naturalismus (Arents Anthologie mit Ausnahme von Holz) der Fall. Blickt man darüber hinaus in die Jahrgänge der Zeitschrift Pan (1895–1899), dann nimmt sich ausgerechnet Flaischlen, der den technischen, sozialen und geistigen Wandel seiner Zeit so genau beobachtet und schildert, der Mystifikation naturalistischer Vorstellung vom Dichter an.104 Als ein Beispiel dafür gilt mir Dem Dichter (1896): Flaischlen schildert den Dichter als mystischen Führer, als Heldendichter, der – wie Conradi und Henckell fordern – Außergewöhnliches und zugleich Exemplarisches durchlebt. Dabei veranschaulicht die erste Zeichnung den Kampf des Dichters mit sich und mit ‚dem Alten‘, der aber bereits sein Schwanenlied singt, um dem jungen Dichter ‚den Stab‘ zu übergeben. Flaischlen nimmt die naturalistische Programmatik von Conradi und Henckell nochmals auf und überführt sie in ein metaphorisch epigonales Dichtergedicht: Der junge Dichter-Held ist Medium seiner selbst und der höheren Inspiration, die er in sich trägt, und die ihn dazu berechtigt, sein Volk anzuleiten. Volk und Dichter verbinden sich in der ‚unio mystica‘: Inspiration ersetzt Reflexion. Sofern Flaischlen den Dichter als Führer beschreibt, wird Dem Dichter den Dichtergedichten Georges (der seher, dichter in zeiten der wirren) vergleichbar. Hier ließe sich eine Traditionslinie für das Bild des Dichter-Führers ziehen, die vom naturalistischen und volksmythischen Dichten in die symbolistischen und esoterischen Zirkel um 1900 reichte.105 Auf diese Weise ließe sich die Kontinuität der naturalistischen 103 Zu den Begriffen ‚Mystik‘ und ‚Mystifikation‘ siehe Anm.22 in diesem Kapitel. – Individuelle oder zirkelbezogene ‚Spezialpoetiken‘ will ich zugunsten dieses übergreifenden Wahrnehmungs- und Darstellungsmusters ausblenden; vgl. über diese ‚Spezialpoetiken‘ Austermühl 2000. 104 Auch Zur Linde tendiert in einigen Texten zu mystischen Vorstellungen; vgl. ders.: Der Dichter, in: ders. 1924, VII/VIII, S. 128 f. und seine Kriegsdichtung: Rechtfertigung, in: ders. 1925, IX/X, S. 99–103. 105 Für den George-Kreis: Kolk 1998, S. 168–176; Beßlich 2003.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
Cäsar Flaischlen: Dem Dichter, in: Pan 2/1 (1896), S. 25 f.
3. Mystifikation der Poesie
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Dichtungsreflexion um 1900 belegen. Ihr Heroismus aber geht endgültig in Mystizismus über. Doch soll diese Richtung hier nicht im Vordergrund stehen. Vielmehr geht es mir um solche Dichter- und Poesie-Vorstellungen, die das Rollenbild des Führers zugunsten eines ‚reinen Mystizismus‘ abstreifen, die naturalistische Reflexionen der Reflexion hinter sich lassen, gleichwohl aber ihr Problempotential bewahren. Als ein Beispiel dafür gilt mir Rilkes poetologische Lyrik der 1910er und 20er Jahre.106 Bezeichnenderweise sucht sie nicht im Naturalismus, sondern in der Romantik nach neuer Energie und nach Orientierung: Rilke läßt sich von John Keats anregen, obwohl die englischen Romantik für den frankophilen Dichter nie als Bezugsgebiet galt. Daß Rilke dabei ganz populäre und zeit-typische Auffassungen von Poesie und vom Poeten auf Keats überträgt, zeigt, wie fern die romantische Dichtung um 1900 bereits liegt, wie sehr sie durch neue Denkmuster, durch neue Selbst- und Fremdwahrnehmungen ersetzt ist. Rilkes – vermeintlich originärer – Keats-Reflexion geht eine lange Tradition der Reflexion Keatsscher Poesie-Reflexion voraus.107
3. Mystifikation der Poesie. John Keats: der ‚reine Dichter‘ als Medium Über die Rezeption britischer Dichtung durch die deutsche Literatur der Jahrhundertwende heißt es, sie homogenisiere ganz unterschiedliche Autoren und Positionen zu einer einheitlichen Bewegung.108 Von besonderer Bedeutung sei dabei die „‚Achse‘ George-Hofmannsthal“,109 in erster Linie aber George selbst, der sich mit seinen Übertra106 Austermühl (2000, S. 358) erörterte, daß Hofmannsthal und der Rilke der Dinggedichte zu den Dichtern gehören, die sich nicht mit einer ‚neuen Metaphysik‘ über Wertverlust und Erkenntniszuwachs hinwegtäuschen. 107 Einer Sammlung aus dem Jahr 1853 beispielsweise gilt Keats bereits als der ‚wahre Poet‘, der sich für die Dichtung „aufopferte“ und der mißgünstigen Kritik zum Opfer fiel; Ideler u. Nolte 1853, S. 23. Die Autoren beziehen sich in ihrem Urteil auf die Keats-Biographie von Richard Monckton Milnes (s. u.) und auf „Chamber’s Encyclopaedia“. 108 So Emig 2000, S. 321. 109 Ebd., S. 320. Hofmannsthals Verhältnis zur englischen Dichtung ist relativ gut untersucht, so daß ich hier nicht eigens darauf eingehen muß; vgl. Hamburger 1963; Simonis 1995. Allerdings kommt die Forschung zu gänzlich unterschiedlichen Wertungen: Simonis stellt ein enges Verhältnis von Hofmannsthal und Keats heraus, wo-
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gungen englischer Dichter (1929) zum Zentrum der Literatur des ‚fin de siècle‘ stilisieren wolle.110 Georges Übertragungen vereinen in der Tat so unterschiedliche Autoren wie den Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti (1828–1882), den dichtenden Einzelgänger Algernon Charles Swinburne (1837–1909) und den Rhymers’ Club-Autor Ernest Dowson (1867–1900).111 Aber diese Übertragungen sind zuvor als Einzelpublikationen in den Blättern für die Kunst (Swinburne 1883/1896, Rossetti 1884, Dowson 1899) erschienen, und der Rahmen, den George diesen Texten in seinem Vorwort zu den Übertragungen verleiht, erweist sich als polemisch zusammengezimmertes Konstrukt. George hebt hervor, daß all diese Dichter für das „wiedererwachen der dichtung“ stünden, bezeichnet Rossetti, Swinburne und Dowson als „verehrte[] meister“ und huldigt dem „neuen geist“, den sie eingeführt hätten.112 Darüber hinaus erweisen sich Georges Bemühungen, die englischen Poeten ‚im Geiste‘ zu vereinen, als zögerlich verglichen mit dem Vorhaben des jungen Rudolf Kassner, William Blake, Shelley, Keats, einige mittelalterliche Dichter, Rossetti, Swinburne, William Morris (1834– 1896), Edward Burne-Jones (1833–1898) und Robert Browning (1812– 1889) in Die Künstler, die Mystik und das Leben (1900) unter dem Stichwort der Mystik (und in dieser Reihenfolge) abzuhandeln.113 Kassner bietet keine Anthologie, sondern Essays über diese Dichter; die Form erlaubte es ihm, die künstlich hergestellte Einheit zugunsten differenzierter und kritischer Bilder von Autor und Werk aufzubrechen. Möglicherweise war es auch Kassner, der George die Stichworte für sein Vorwort zu den Übertragungen lieferte:114 Aus dem homoge-
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nach Keats’ Poetik für Hofmannsthals Ablösung von George entscheidend gewesen ist. Emig hingegen kritisiert die Rezeption englischer Dichter durch Hofmannsthal als bloß klischeehaft. Emig 2000, S. 323 f. George 1929; Emig 2000, S. 324. George 1929, S. 5; Emig 2000, S. 234. Die Auswahl, die die dichtenden Übersetzer um 1900 trafen, schlägt sich mit beeindruckend kanonisierender Wirkung in den deutschsprachigen Anthologien englischer Lyrik des beginnenden 20. Jahrhunderts nieder; vgl. Borchardt 1936. Borchardts Sammlung enthält Texte von Byron, Shelley, Keats, Landor, Browning, Rossetti und Swinburne, vgl. auch Bernus 1911, I, der ausschließlich Keats gewidmet ist. Band zwei berücksichtigt (in dieser Reihenfolge Blake, Morris, Dante Gabriel Rossetti, Byron, Shelley und Swinburne); vgl. Bernus 1947, II. Über die begeisterte Kassner-Rezeption Georges und Hofmannsthals vgl. Spörl 1997, S. 158 f.
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nisierend-differenzierenden Reflexionstypus (Kassner) wird dabei ein differenzierend-homogenisierender (George). Aber neben diesen Rezeptions- und Reflexionstypen stehen viele andere: traditionell werktreue Übersetzungen, kreative Bearbeitungen der Originaltexte usf. Im Ergebnis ließe sich zeigen, daß englische Dichter um 1900 in mindestens ebenso komplexer Weise wahrgenommen werden wie noch im mittleren 19. Jahrhundert. Dabei ändert sich in erster Linie das Personal – auf seiten der Produzenten wie auf seiten der Rezipienten. Neue Autoren tauchen auf;115 alte werden wiederentdeckt. Mit dem biographischen Alter von Dichtern, Kritikern und Wissenschaftlern lassen sich solche Entwicklungen nur unzureichend erklären; vielmehr scheint im Ausgang des 19. Jahrhunderts tatsächlich ein neuer, nämlich experimentierfreudiger und elitärer ‚Geist‘ zu wehen, der sich in der Lyrik durch eine Rückwendung zu einer ‚hohen Dichtung‘ ausdrückt, die sich von der Romantik inspirieren läßt. Gundolfs Mörike-Darstellung ist dafür ebenso paradigmatisch wie die Beschäftigung mit Hölderlin im George-Zirkel. Ganz parallel dazu erinnert man sich wieder an John Keats.116 Wie Hölderlin war er in Deutschland aber nie wirklich vergessen gewesen. Die Übersetzungsanthologien beispielsweise berücksichtigen ihn früh: Freiligraths The Rose, Thistle and Shamrock verzeichnet elf Gedichte von Keats,117 beinahe so viele wie von Tennyson. Außerdem hat ein Keats-Gedicht um 1900 bereits eine ganz besondere Karriere hinter sich. Gemeint ist das kurze Gelegenheitsgedicht On the Grasshopper and Cricket, das während eines Wettdichtens mit Leigh Hunt im Dezember 1816 entstand. Es handelt über die ‚Poesie der Erde‘ und liest sich vergleichweise schlicht, nämlich als ein schöner Ausdruck für die Bewegtheit der Natur. „The poetry of earth is never dead“,118 so lauten der Eingangsvers und auch die Kernaussage des Texts. Im Laufe des 115 Burne-Jones, Dowson, Morris und Swinburne werden in Anthologien des 19. Jahrhunderts noch nicht erwähnt. Immerhin führt Schack Blake und Robert Browning mit jeweils acht Texten an; Elisabeth Barret Browning findet mit zwei Gedichten und Dante Gabriel Rossetti mit einem Text Aufnahme in Beaulieu-Marconnays Anthologie; vgl. Beaulieu-Marconnay 1881; Viehoff 1887; Schack 1893. 116 Eine solche Parallele erprobt bereits – werkimmanent und werkvergleichend – Fleming 1987. 117 Es handelt sich um die Texte: „On first looking into Chapman’s Homer“, „Sonnet. Happy is England“, „Ode on a Grecian Urn“, „The Human Seasons“, „To Beauty“, „Stanzas“, „Hymn to Pan“, „To Solitude“, „Ode to a Nightingale“, „Sonnet. On the Grasshoper and Cricket“, „To Autumn“. 118 Keats 1978, S. 54.
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19. Jahrhunderts wird er viermal ins Deutsche übertragen, im Magazin für die Literatur des In- und Auslandes und in zahlreichen Anthologien abgedruckt.119 Diese erste Phase der deutschen Keats-Rezeption verläuft gleichwohl nicht unabhängig von der englischen; vielmehr steht Freiligrath mit den wenigen Personen im Kontakt, die sich früh – und gegen die öffentliche Meinung – für das Keatssche Erbe einsetzen.120 Ganz erheblichen Anteil an der geringen Wahrnehmung von Keats in England hatte nämlich eine literaturkritische Kampagne. Das etablierte Blackwood’s Magazine spottete über die „Cockneys“, die sogenannte „Cockney School of Poetry“ (im engen Zirkel Leigh Hunt, William Hazlitt, Keats; im weiten Zirkel Barry Cornwall gen. Barry W. Procter, Cornelius Webb, John Hamilton Reynolds), deren Mitglieder im wesentlichen aus der neuen Mittelklasse stammten und – mehr oder minder entschlossen – für republikanische Ideen eintraten.121 Blackwood’s Magazine bezichtigte die Gruppe des Dilettantismus.122 Keats stand im Zentrum dieser Kampagne, die an den Grenzen von Satire, Parodie und persönlicher Beleidigung verlief. Freiligrath importierte seine Texte dennoch nach Deutschland. In England entdecken erst die Präraffaeliten Keats für sich (neu): als einen jungen und ‚reinen‘ Dichter, als Vorbild für die eigene poetische Praxis.123 Die zweite Phase der deutschen Keats-Rezeption knüpft daran an, löst sich aber bald davon: Als beispielhaft für eine eigenständige Gestaltung der (deutschen) Keats-Rezeption gelten mir Rilkes KeatsGedichte. Sie reihen sich in Bemühungen um und nach 1900 ein, Lyrik aus der Rezeption der Romantik zu erneuern, und zwar im Blick auf eine Dichter-Poetik, die in der Rilke-Forschung ausschließlich aus der 119 Freiligrath 1853; unter dem Titel „Die Poesie der Erde“, der den ersten Vers des Texts aufnimmt, Beaulieu-Marconny 1881, S. 21 – seine Übersetzung ist abgedruckt im Magazin 100 (1881), S. 561; G. Freiligrath ca. 1898, S. 89; Schack 1893, I, S. 164 f. sowie in der Werkausgabe von Gothein 1897, II, S. 281. Freilich hört das Interesse für „On the Grasshopper and Cricket“ nach 1900 nicht auf. Das Gedicht findet sich auch in Wentzel 1912; Etzel 1910, S. 83; Bernus 1947, II, S. 61. 120 Wipperfürth 1991, S. 152 f. 121 In der Forschung weichen die Meinungen darüber, was genau die „Cockney School“ eine, voneinander ab. Strittig ist dabei vor allem die politische Orientierung ihrer Mitglieder; vgl. die Diskussion in Mizukoshi 2001, S. 6–8, der den Keats-criticism von solch politisierenden Interpretation abbringen will und Keats’ Texte vor dem Hintergrund der „bourgeois aethetics of pleasure“ interpretiert. Vgl. auch Wu 2001. 122 Montluzin 1998. 123 Ebd.; Siegel 1999; Bennett 1999.
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französischen Tradition Baudelaires, Stéphane Mallarmés und Paul Valérys hergeleitet wird: im Blick auf das Ideal des ‚reinen‘ Dichters, der als Medium für eine ‚poésie pure‘ steht. Keats wurde in diesem Zusammenhang bislang nicht bzw. nur unzureichend wahrgenommen. Aber gerade Rilkes Keats-Gedichte vermitteln neue Einsichten in Rilkes Poetik der ‚poésie pure‘. Sie verdankt sich nicht nur der französischen Tradition, sondern setzt sich aus ganz unterschiedlichen Kontexten zusammen (Abschnitt a). Dazu gehören der Keats-Essay aus Kassners Die Mystik (Abschnitt b) sowie populäre Wissensbestände einer psychologischen Ästhetik, wie sie um 1900 vermittelt wurden. Dieser letztgenannte Hintergrund erschließt sich jedoch erst, entledigt man eine wissenschaftshistorische Legende von wissenschafts- und literaturgeschichtlichen Erfindungen. Gemeint ist die Legende von einem engen Zusammenhang der „poetry of sensation“ (Keats, in gewisser Weise auch Tennyson)124 mit der psychologischer Ästhetik um 1900. Diese Legende kennt zwei Spielarten: eine, die eine historisch-generische Verbindung von der „poetry of sensation“ zur psychologischen Ästhetik (Wilhelm Wundt, Theodor Lipps) herstellen will, und von Walter Jackson Bate sowie – in der deutschen Keats-Forschung – von Helmut Viebrock vertreten wird.125 Danach steht die „poetry of sensation“ in direkter Vorläuferschaft zur psychologischen Ästhetik. Eine andere Spielart beschreibt die Verbindung schwächer; sie setzt auf historische Parallelen: Annette Simonis zufolge nimmt die „poetry of sensation“ vorweg, was der Empiriokritizismus Ernst Machs formuliert.126 Beide Spielarten erweisen sich als Teile einer Legende vom Zusammenhang der „poetry of sensation“ mit der psychologischen Ästhetik, weil sie moraphilosophisches Denken des frühen 19. Jahrhunderts zu eng mit der experimentellen Ästhetik verbinden, die sich seit etwa 1870 in Deutschland mit dem Anspruch entfaltete, eine ‚empirische Wissenschaft‘ zu sein. Sie mißachten die historischen Eigenarten, die moralphilosophisches Denken und experimentelle Ästhetik trennen. Daß gewisse, allerdings bloß vage Ähnlichkeiten zwischen beiden bleiben, macht den ‚wahren Kern‘ der Legende aus (Exkurs in diesem Kapitel). 124 Die Unterscheidung zwischen einer „poetry of reflection“ (Wordsworth) und „poetry of sensation“ (Keats, Tennyson) geht auf den Tennyson-Freund Arthur Hallam (1808–1834) zurück. 125 Jackson Bate 1946, S. 131–147; ders. 1963, S. 256; Viebrock 1977, S. 100 f. Bromwich (1983, S. 375) führte diese Position in gemäßigter Weise weiter. 126 Simonis 1995, S. 294.
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Rilke war sich für seine Keats-Gedichte allenfalls solch vager Ähnlichkeiten bewußt. Es ging ihm dabei weniger um den historischen Keats, als vielmehr um einen deutungsoffenen poetologischen Begriff vom besonderen Menschen und Dichter, der manches mit den popularästhetischen Reflexionen um 1900 gemein hat. Rilke läßt sich – auch vor diesem Hintergrund – auf (Selbst-)Experimente ein und stilisiert Keats ebenso zum poetologischen Exempel wie sich selbst.
a) Rainer Maria Rilkes Gedichte (1914) zu der Zeichnung Keats on his death-bed (1821) nach Joseph Severn: Anbetung einer Ikone Der Wunsch, über Keats zu dichten, ergab sich für Rilke aus der Betrachtung der Kopie von einer Zeichnung des sterbenden Dichters. So stellt es Rilke zumindest selbst dar. In einem Brief an Sidonie Nádherny´ von Borutin (Paris, 21. Feb. 1914) notiert er: „Ich schrieb davon, als ich die Zeichnung zuerst sah, dieses Folgende in mein kleines Taschenbuch[.]“127 Vom Zeichner dringend hingeballter Schatten hinter das nur noch scheinende Gesicht: so kommt die Nacht dem reinen Stern zustatten. Da ist ein Ding, das alles unterbricht, wozu die Dinge sich verstanden hatten; denn, da es wurde, siehe: war es nicht. O langer Weg zum schuldlosen Verzicht. O Mühe zum ermächtigten Ermatten.128
Der Gestus des intuitiven und ergriffenen Dichtens paßt zu Gegenstand und Inhalt des Texts: zur Poetik von Keats, die selbst auf Spontaneität und Gefühlseindruck setzt, ebenso wie zu der Trauer, die der Keats-Anhänger beim Anblick des Sterbenden verspürt. Der Begriff „Schatten“ erweckt den Eindruck des Unwirklichen oder Ent-Wirklichten. Ihm steht das „nur noch scheinende Gesicht“ gegenüber. Im Gang durch Gegensatz- oder Verbindungspaare („Nacht“–‚reiner Stern‘; ‚Ding, das unterbricht‘ – ‚Dinge, die sich verstanden hatten‘; „wurde“ – „war nicht“) und im schnellen Wechsel der Zeitformen 127 Rilke 1991, I, Brief 176, S. 525–528, hier S. 528. 128 Ebd. [Hervorhebungen im Original].
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greift der Sprecher Aspekte auf, die sich mit der Dichter-Persönlichkeit verbinden: Der junge Keats starb einen ‚reinen‘ Tod. Er pflegte seinen Bruder, der an Tuberkulose erkrankt war, und steckte sich dabei selbst an. Das „nur noch scheinende Gesicht“ könnte auf den geschwächten Eindruck des von Krankheit verzehrten Dichters hindeuten; im nachstehenden Vers wird er darüber hinaus zum „reinen Stern“. Doch der folgende Satz rückt diese positiven Beschreibungen in den Hintergrund: Ein „Ding“ unterbricht die Ordnung der Dinge. Es konnte nicht werden, was sollte oder wollte,129 und der Mensch leidet daran. In den beiden abschließenden Sätzen wird dieses Leid durch Ausrufe und durch die knappe atemlose Form unterstrichen; sie wandeln die Terzine ab, mit der Rilke aber auch im Blick auf das Reimschema sehr frei umgeht. Zwar enthalten sie eine Art ‚conclusio‘, aber keine Lösung des Problems. Rilke kommentiert seinen dunklen Text selbst: In der unendlichen Traurigkeit ist ein Hingegebensein ausgedrückt, das auch wieder tröstet: denn vollkommen wie sie ist, muß sie eine Hingegebenheit sein an etwas, das bei aller Härte, die Milde einer Macht besitzt, die im Recht ist.130
Die Gegensatzpaare des Gedichts, die für die Form der Terzine untypisch sind, drücken ein Wechselspiel von Trauer und Trost aus. Trost entspringt der Ahnung einer „Macht“, die zwar hart und bitter wirkt, aber im Prinzip „im Recht“ ist und deshalb ‚mild‘ (oder ‚erträglich‘) wird. Der Sprecher schlüpft identifikatorisch in den Sterbenden hinein und spürt dessen Empfindungen nach. Zugleich verherrlicht er den frühen Tod seines Kultobjekts: Hier verstarb ein Heiliger, so lautet die Botschaft des Texts. Als reiner Poet, als Märtyrer-Dichter schritt Keats den langen und dornigen Weg des Daseins ab. Er lebte – entmenscht – dem Guten und ging schuldlos in den Tod. Für Rilke wird die Zeichnung des sterbenden Keats deshalb zur Ikone, zum Kultbild. Mit seinen Worten heiligt Rilke den Dichter, den es abbildet. Keats gilt als exemplarischer Poet, der sich am Übergang von Leben und Tod befindet und stellvertretend für alle Menschen leidet. Sein Werk wird – ebenso wie seine poetologischen Überlegungen – als bekannt vorausgesetzt und mit Verweisen auf den reinen Dichter angesprochen, der ‚verzichtet‘. Dabei belegt der ‚tiefe Eindruck‘, den die Zeichnung hinterläßt, ein Bild vom Dichter, wie es für Keats selbst pro129 Hier klingt die „Ding-Mystik“ Rilkes nochmals an; vgl. dazu Spörl 1997, S.310–315. 130 Rilke 1991, I, Brief 176, S. 528.
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blematisch wurde. Reflexion der Reflexion ist hier gleichbedeutend mit Mystifikation: Rilkes Sprecher deutet eine eigene mystische Poetik ‚in Keats‘ hinein. „Vom Zeichner dringend hingeballter Schatten“ erweist sich als ein poetologisches Gedicht, das einerseits enthusiastisch auf die Konzeption vom Dichter Bezug nimmt, wie sie sich mit Keats verbindet. Andererseits geht es aber bereits über diese hinaus, weil es den Keats der Zeichnung als Beleg für die Wahrheit dieser Konzeption erachtet. Es überhöht, was der historische Keats zwar anlegt, aber zurücknehmen muß. Reflexionen wie diejenigen des Rilke-Texts kennt die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts seit den 1840er Jahren. Sie gehen von der präraffaelitischen Bewegung in England aus, die mit utopischen Entwürfen auf die Erneuerung von Kunst und Leben zielt und Keats wie einen Heiligen verehrt.131 Im Jahr 1847 entdeckt der präraffaelitische Maler William Holman Hunt (1827–1864) das ‚Motiv Keats‘; Sir John Everett Millais (1829–1896) nimmt sich Hunts ‚Objekt‘ nur wenig später an.132 Für beide stellt Keats – wie für Rilke – den ganz und gar reinen Dichter dar. Seine Jugend wirkt auf die Präraffaeliten – wie auf Rilke – kathartisch.133 Die ersten Keats-Biographien von Richard Monckton Milnes, nämlich Life, Letters, and Literary Remains, of John Keats (1848) von Sidney Colvin und diejenige von William Michael Rossetti (1887) lassen sich von diesen präraffaelitischen Stilisierungen der Autorpersönlichkeit leiten; umgekehrt nehmen präraffaelitische Maler und Dichter die biographischen Stilisierungen auf.134 Auf diese Weise wird Keats – in Analogie zu seinen Werken – zu einem „precious broken fragment of the past.“135 Rilkes Keats aber ist weder gebrochen noch Fragment, sondern vielmehr Dichter schlechthin. Hierin liegt der Unterschied zum Präraffaelitismus. Rilkes Interesse an Keats ging durch die Schule des Präraffaelitismus, oder besser: der Präraffaelitismus-Rezeption, und er reflektiert diese neu. Denn seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert buchstabiert auch das deutsche Interesse an Keats die präraffaelitische Sichtweise nach. Im Jahr 1897 veröffentlicht Marie Luise Gothein (Dr. h. c., 1836–1931) eine 131 Vgl. den „posterity cult“, den Andrew Bennett beschreibt; Bennett 1999; vgl. auch Najarian 2002. 132 Dazu Codell 1995, S. 342–347. 133 Ebd. 134 Ebd., S. 342. 135 Siegel 1999, S. 223.
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erste deutsche Keats-Biographie und – in einem zweiten Band – die erste umfassende deutsche Übersetzung seiner Werke.136 Die gelehrte Professorengattin, die mit dem Präraffaelitismus vertraut ist, knüpft mit ihrer Keats-Biographie unmittelbar an Monckton Milnes an.137 Gisela Etzel,138 die zweite Keats-Übersetzerin um 1900, hat in anderer Weise an der präraffalitischen Bewegung und ihrer deutschen Aufnahme teil. Sicherlich kannte Rilke ihren dezenten und doch aufwendig gestalteten Goldschnitt-Band John Keats, Gedichte (1910, Insel-Verlag). In kleiner Auflage wurde das Buch auf der Ernst-Ludwig-Presse der Darmstädter Künstlerkolonie hergestellt. Schwarze und grüne Lettern zieren das Büttenpapier. Schon allein diese äußerlichen Daten verbinden Etzels Buch mit dem Präraffaelitismus. Denn die Künstlerkolonie auf der Darmstädter Mathildenhöhe nahm ihn – neben anderen lebensphilosophischen Strömungen der Zeit – emphatisch auf und versuchte, diese selbst weiterzuentwickeln, sogar im Buchdruck: Die Ernst-Ludwig-Presse sollte handwerklich vorbildliche und künstlerische Bücher nach dem Vorbild der englischen Pressen (der „Kelmscott Press“ von William Morris, der „Doves Press“ von Cobdan-Sanderson u.a.) schaffen.139 Zu diesem Zweck entwarf ihr Leiter, der Grafiker und Künstler Friedrich Wilhelm Kleukens (1878–1956), auch eigene Schriften, u. a. die Ingeborg-Antiqua, die er für den Keats-Band gebrauchte.140 Etzels Keats-Übersetzungen fügen sich in den präraffaelitisch beeinflußten Natur- und Lebenskult der Darmstädter ein.141 136 Marie Luise Gothein wurde in Pfaffenheim geboren und starb in Heidelberg, wo ihr Gatte, Eberhard Gothein, Kulturgeschichte und Nationalökonomie lehrte. Kürschners Deutscher Literaturkalender. Nekrolog 1901–1935 [1936], S. 496. Der ausführlichen Keats-Darstellung war bereits Gotheins doppelbändiges „William Wordsworth. Sein Leben, seine Werke, seine Zeitgenossen“ (1893) vorausgegangen. Im Jahr 1903 übersetzte sie außerdem die „Sonette nach dem Portugiesischen von Elisabeth Barrett Browning“ (1903). – Als fachfremder Professor unterstützte Eberhard Gothein übrigens die Heidelberger Habilitation Friedrich Gundolfs; Osterkamp 2000, S. 165. 137 Über Monckton Milnes Gothein 1897, I, S. 263 u. passim; über die präraffaelitische Keats-Rezeption ebd., S. 270–277. Monckton Milnes Biographie war allerdings schon früher bekannt; siehe Ideler u. Nolte 1853, S. 22 f. 138 Über Etzel lassen sich keine bio-bibliographischen Daten ermitteln. 139 Institut Mathildenhöhe Darmstadt 1990, S. 125. 140 Ebd. u. S. 133. 141 Die Übersetzung seiner Gedichte zählt zu den 26 Büchern, die auf der Ernst-Ludwig-Presse gedruckt wurden. Es steht u. a. neben dem Buch Esther in der LutherÜbersetzung (1908), dem Hohelied Salomo in der Übersetzung Rudolf Alexander Schröders (1909), den von Eduard Sänger übertragenen „Shakespeare Sonetten“
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Keats-Rezeptionen und Übersetzungen wie denjenigen von Gothein und Etzel geht es noch um die Gedichte des englischen Romantikers. Sie widmen sich einem historischen Autor und historischen Texten, reflektieren diese aber bereits unterschiedlich: Gothein schlüpft in die Rolle der Biographin und in diejenige der mehr oder minder werktreuen Übersetzerin. Etzel kann an Gothein anküpfen und bereits einen Schritt auf dem Weg zu einem ‚eigenen Keats‘ um 1900 gehen. Sie will ihrem Original vor allem gestalterisch gerecht werden – um der Texte willen. Zugleich präsentiert sie Keats als Gesprächspartner und Seher für reformwillige Literaten, Künstler und Philosophen. Im Büchertempel der Mathildenhöhe feiert man seine Auferstehung. Die Keats-Reflexion Rilkes folgt einer vergleichbaren, doch anderen Absicht. Er nimmt nicht einfach auf, was die Präraffaeliten vorlegen, dichtet nicht auf ein präraffaelitisches Keats-Gemälde, das den Dichter bereits selbst deutete und verherrlichte, sondern auf die Reproduktion einer Zeichnung des sterbenden Dichters: auf ein ‚quasi-authentisches Dokument‘ also. Das Original stammt von einem Zeitgenossen, nämlich von Joseph Severn (1793–1879), jenem Keats-Freund, der den Dichter auf seiner letzten Reise nach Italien begleitete. Rilkes Sprecher versetzt sich an Severns Stelle. Dem Sprecher der Keats-Gedichte geht es um authentische Selbstreflexionen, um das mystische Erlebnis, das ihm in der Anbetung der Ikone zuteil wird. Er will dem Selbst des Dichter-Mediums nahekommen, am ‚reinen Sein‘ des Dichters Anteil haben. „28. Janry 3 o’clock mng. Drawn to keep me awake – a deadly sweat was on him all this night“,142 notiert Severn auf den unteren Rand seiner sparsamen und konzentrierten Sepia-Zeichnung. Seit Wochen lag der Todkranke auf jenem Lager, das Severn als „death-bed“ auswies.143 Er kümmerte sich unermüdlich um den Freund, den die Ärzte längst aufgegeben hatten. Am 23. Februar starb Keats nach langem Leiden. Severns Zeichnung entstand also ca. vier Wochen vor Keats’ Tod. Sie zeigt den Todkranken in seinem Bett; er liegt erhöht auf einem Kissen. Keats’ Körper ist nur mit wenigen Strichen angedeutet. Sein Kopf dreht sich zur Seite, so daß der Betrachter das Gesicht wie von oben einsehen (1909), Richard Wagners „Wieland der Schmied“ (1911), drei Emile Verhaeren-Übersetzungen (1909, zweimal 1911), den Psalmen in der Übersetzung Luthers (1911), Hölderlins „Hyperion“ (1912) und der „Ethik“ Baruch de Spinozas (1914/18). 142 Keats on his death-bed, by Joseph Severn; Collection at Keats House, Hampstead. 143 Motion 1997, S. 563.
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kann. Die Haare hängen dem Kranken in die Stirn. Ein fast unmerklicher Bart deutet an, daß der Patient selbst zu täglicher Pflege nicht mehr in der Lage ist. Seine Augen sind geschlossen, die Winkel des geschwungenen Mundes nach unten gezogen. Vor dem Kopf erhebt sich ein großes dunkles Gebilde, ein in sich vielfach geteilter Schatten, der größer ist als Keats’ Gesicht. Durch einen dicken Strich trennt der Ma-
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ler die obere Hälfte des Gesichts davon; die Konturen der unteren Gesichtshälfe aber gehen fließend in dieses dunkle Gebilde über. Keats verschwindet bereits in dem „hingeballte[n] Schatten“, von dem Rilkes Sprecher spricht. Der Tod zieht den Kranken langsam und quälend mit sich. Jene Reproduktion, die Rilke gemeinsam mit André Gide betrachtete, übermittelte diese Umstände offenkundig sehr genau.144 In seinem Gedicht Vom Zeichner dringend hingeballter Schatten jedenfalls konzentriert sich Rilke auf den Übergang von Gesicht und Schatten, von Leid, Leben und Tod. Für dieses Bestreben, die Reflexion über das schriftlich vorliegende Werk zugunsten der Verehrung eines ‚authentischen‘ Dichters auszusetzen, kann sich Rilke nicht nur auf die historische Deutung von Gothein und auf die ‚schöne‘ Übersetzung von Etzel, sondern auf einen anderen Vorläufer stützen: auf den Schriftsteller, Übersetzer und Anthologisten Alexander von Bernus (*1880). Am 29.8.1911 bedankt sich Rilke bei von Bernus für dessen Keats-Ausgabe John Keats. Gedichte (1911).145 Die Ausgabe enhält bereits eine Reproduktion eines Portraits von Keats nach dem Bilde von J. Severn;146 unter dem Bild steht links „J. Severn Pinx“ und rechts „Photogravure Bruckmann“. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Kopie der Zeichnung von Keats auf dem Totenbett, sondern um eine schlechte bzw. stilisierende Kopie der bekannten Keats-Miniatur von Severn (1819).147 Zeigt das Original
144 Rilke 1996, II, S. 498. Die Reproduktion ist nicht mehr aufzufinden; vgl. auch Anm. 148 in diesem Abschnitt. 145 Rilke 1996, II, S. 498. 146 So ist es im Inhaltsverzeichnis notiert. 147 Während die Originalminiatur Keats vor einem Schreibtisch portätiert, den Kopf auf die rechte Hand gestützt, die Augen gespannt und wach nach vorn gerichtet, bildet die Kopie nur Gesicht und Oberkörper ab: Der sogenannte Keats blickt – auf der Fotogravur – mit großen und glänzenden Augen nach oben und stützt sich auf die rechte Hand. Anders als auf der Miniatur, wo die Lichtquelle links steht und gerade auf den Porträtierten gerichtet ist, fällt das Licht auf der Kopie von oben ein: Es heiligt den Poeten. Darüberhinaus ähneln sich die abgebildeten Männer kaum: Severn zeigt Keats als Lockenkopf mit geradem Gesicht, hoher Stirn und schmaler Oberlippe; die Kopie ahmt zwar die Locken nach, verleiht Keats aber ein herzförmiges Gesicht, eine ‚römische Nase‘, sehr volle und weich geschwungene Lippen. Im Original verraten die geöffneten Knöpfe von Jacke und Weste sowie der unordentliche Hemdkragen den genialen Dichter. In der Kopie trägt er ein Hemd mit gestärktem Kragen; die Knöpfe von Jacke und Weste sind geschlossen. Die zwei Bilder weichen also erheblich voneinander ab. – Der Kommentar (Rilke 1996, II, S.498) irrt, wenn er behauptet, die Zeichnung von Keats auf dem Todesbett sei in Bernus’ Sammlung enthalten. Für einen Abdruck der Originalminiatur von Keats (1819) siehe Motion
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einen begeistert-genialischen Keats, so erstarrt er in der Kopie zu einem klassizistisch verklärten romantischen Dichter. Bernus informiert seinerseits über die Lebensdaten des Porträtierten und schließt: „[...] die Seele aber, die es [dieses traurige und kurze Leben] lebte, um sich bald zum Höheren zu läutern und erlösen, war die Seele eines grossen Dichters.“148 Bernus’ Deutung entspricht der Kopie. Wie diese erweist sie sich als holzschnittartig, mehr als typisierend, denn als individualisierend und idealisierend. Es verwundert nicht, daß Bernus für Etzels ‚schöne‘ Darstellung im enthusiastischen Darmstädter Feld kein Verständnis hat. Er verdammt Etzels Ausgabe als Profanation des Dichters und will mit seiner eigenen Edition zu puristischeren Wahrnehmungsformen in einem ‚authentischen‘ Sinne zurückkehren.149 Der enthusiastischen Keats-Reflexion im Zeichen der Lebensphilosophie steht also bereits eine ‚authentische‘ entgegen. Rilke nimmt sich seinerseits ganz Ähnliches vor wie Bernus, kappt die topischen und idealisierenden Momente aber zugunsten des ‚lebendig-toten‘ Mediums Keats. Noch im Jahr 1911 hatte Rilke Keats allerdings „kaum“ gelesen und hofft, ihn – mit Bernus – „kennenzulernen“, wie er dem Übersetzer schreibt.150 Im Jahr 1914, als er die Kopie nach Severn betrachtet, scheint Rilke mit seinem Bestreben nicht nur weitergekommen zu sein, sondern bereits eine ganze Poetik mit Keats zu verbinden. Diese Poetik jedenfalls wirkt wie eine Bilanz seiner Beschäftigung mit dem Dichter. Noch mehr als Vom Zeichner dringend hingeballter Schatten (26. oder 27.1.1914), zeigt es sein Text Zu der Zeichnung, John Keats im Tode darstellend (Erstdruck im Insel-Almanach 1928 [1927]), eine Erweiterung des ersten Keats-Gedichts. Sie überführt die Terzine des Vorläufer-Texts in die Sonett-Form. Rilke wird sie auch in den teils themengleichen Sonetten an Orpheus gebrauchen: 1997, Abb. 19. Überhaupt scheint es Verwirrung um die Zeichnung des sterbenden Keats’ gegeben zu haben: Frank Wood, der die einzige Interpretation der Rilkes-Gedichte über Keats vorlegte, bezieht sich dabei ebenfalls nicht auf Severns Zeichung am Totenbett, sondern auf seine Zeichnung der Totenmaske; vgl. Wood 1950, S. 212 u. passim. Korrekt sind demgegenüber die Angaben von Ernst Zinn: Rilke 1955/56, II, S. 756 f., wobei Ingeborg Schnack (1956, Tafel 260) nicht das Original abdruckt, sondern nur eine dunklere Kopie (nicht die Kopie, die Rilke bei Gide sah, sondern eine andere aus dem Keats-Memorial in Rom), die der Original-Zeichnung den filigranen Charakter nimmt. 148 Bernus 1911, unpag. [S. 5]. 149 Bernus 1947, II, S. 131. 150 Rilke 1996, II, S. 498.
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Nun reicht’s an’s Antlitz dem gestillten Rühmer die Ferne aus den offnen Horizonten: so fällt der Schmerz, den wir nicht fassen konnten, zurück an seinen dunkeln Eigentümer. Und dies verharrt, so wie es, leidbetrachtend, sich bildete zum freiesten Gebilde, noch einen Augenblick, – in neuer Milde das Werden selbst und den Verfall verachtend. Gesicht: o wessen? Nicht mehr dieser eben noch einverstandenen Zusammenhänge. O Aug, das nicht das schönste mehr erzwänge der Dinge aus dem abgelehnten Leben. O Schwelle der Gesänge, O Jugendmund, für immer aufgegeben. Und nur die Stirne baut sich etwas dauernd hinüber aus verflüchtigten Bezügen, als straft sie die müden Locken lügen, die sich an ihr ergeben, zärtlich trauernd.151
Diese Strophen erschließen die Zeichnung aus den Eindrücken, die sie im distanzierten, aber einfühlungsbereiten Betrachter hervorruft. Dabei geben die ersten beiden Quartette die Themen vor; die Strophen drei und vier widmen sich der Kopie selbst: Sie fragen nach dem Gesicht, das niemandem mehr zu gehören scheint, schildern den „Jugendmund“, der keiner mehr ist, beschreiben die Stirn, die sich noch nicht in den Schatten verflüchtigt hat, und die Locken, die „müde“ auf ihr liegen. Die ersten beiden Strophen sprechen von Schmerz, Leid, Verlust, die letzte von Trauer. Ähnlich wie in den Ergänzungs- und GegensatzPaaren aus dem Gedicht an Sidonie stehen diesen düsteren Gefühlen Verweise auf ein „freiest[es] Gebilde“, auf „Milde“, Lebens- und Todesverachtung entgegen. „[...] das Werden selbst und den Verfall verachtend“ und „der Dinge aus dem abgelehnten Leben“ erinnern an die Gedichtzeilen aus Rilkes Brief. Zu der Zeichung dichtet auf einen „Rühmer“,152 auf einen Poeten, der die Dinge ehrt, der sich zu diesem Zweck ent-selbstet. Wenn ihn „Werden“ und „Verfall“, die er im Leben verdrängte, im Sterben einzuholen drohen, dann verachtet er sie selbst jetzt. Noch im Tod steht die Kunstwelt, so Zu der Zeichnung, über der Wirklichkeit. Sie schließt sich gegen äußere Ereignisse ab, obwohl sie längst durch diese bestimmt ist und mit ihnen kämpft: Hier stirbt ein 151 Ebd., S. 92. 152 Über den Begriff und seine Herkunft Wood 1950, S. 218.
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passiver, asketischer, das Leben für die Kunst verachtender Dichter, ein unerreichtes Vorbild. Sein Leid, seine Erfahrung eines ungeheuren Schmerzes läßt sich bloß beschreiben, nicht selbst erfahren. Rilkes Sprecher schildert einen inspirierten Märtyrer, der mit dem dunklen ‚Anderen‘ eine schon fast vollendete ‚unio mystica‘ eingeht, und dessen übersinnliche Erfahrungswelt dem ‚Gewöhnlichen‘ nicht zugänglich ist. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als die Zeichnung des ‚heiligen Dichters‘ wie ein Kultbild anzubeten. Rilke kommentiert Zu der Zeichnung selbst, und zwar mit den Worten: „Ach, mir Segen zwingen aus diesen Dingen; sie nicht lassen, bis sie mich segnen.“153 Er spielt auf Jakobs Kampf mit Gott an: Jakob zog mit seiner Familie durch eine Furt des Jabbok, als ihn ein Mann herausforderte. Sie rangen die ganze Nacht miteinander, Jakob gewann, und der Mann bat, ihn gehen zu lassen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“, lautete Jakobs Antwort (1. Mose, 32,27). Fortan hieß Jakob Israel, denn er hatte Gott gesehen, mit ihm gekämpft und diesen Kampf überlebt. Warum bezieht sich Rilke – mit Blick auf Keats – auf diese Bibelstelle? Keats steht für ein asketisches und geistiges Modell, für Entsagung und Selbstverleugnung; Jakob repräsentiert das entgegengesetzte Extrem. Er zwingt den Gegner durch Körperkraft, seinem Wunsch zu gehorchen. Rilke suchte nach einem Modell für die Selbst-Initiation zum reinen Dichter, der die Reflexion der Reflexion zugunsten der ursprünglichen und mystischen Inspiration überwindet. Dabei nimmt er sich im Blick auf Keats noch das christliche und asketische Modell zum Vorbild: Keats’ Bild wird ihm zur (Christus-)Ikone. In ihm vergöttert er den poetischen Heiland, der seine Gläubigen von der Erdenschwere in die Transzendenz der reinen Dichtung erhebt. Jakob erweist sich als sein Gegenbild: Er steht für alttestamentarische Riten, für den Glauben an einen strengen und strafenden poetischen Gott, für einen Kampf mit sich selbst, aus dem es kein Entrinnen gibt. Der neutestamentarischen und asketischen Reflexion stellt er die alttestamentarische und kämpferische entgegen. Auf die nüchterne Keats-Rezeption des Übersetzers der 1840er Jahre (Freiligrath) folgen die begeisterten und präraffaelitsch inspirierten Keats-Darstellungen bzw. -Übertragungen (Gothein, Etzel). Sie ziehen Bemühungen um den ‚wahren Keats‘ nach sich (Bernus), von denen die wiederum emphatische Keats-Auffassung Rilkes ausgeht. In den Sonet153 Rilke 1996, II, S. 498.
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
ten an Orpheus wird Rilke zwar auf das Dichter-Modell des poetischen Messias Keats anspielen, es aber wiederum abwandeln und in neue (unchristliche) Kontexte versetzten: Die Keats-Gedichte Rilkes stellen deshalb formal wie inhaltlich eine wichtige Entwicklungsstufe von Rilkes poetologischem Denken dar. Sie helfen zu erproben, was die Sonette erst entfalten: die mystische Poetik einerseits, die Mittlerrolle des Poeten, der – wie Orpheus – zwischen Tod und Leben wandelt, andererseits. Kassners Die Mystik verdankt Rilke eine genaue Beschreibung dieser Mittlerrolle. Rilke besaß nicht nur das Buch des Freundes,154 sondern konnte sich auch durch Gides Übersetzung des Keats-Kapitels aus Die Mystik mit Kassners Vorstellungen vom ‚Mittler Keats‘ vertraut machen:155 Im Blick auf die populäre zeitgenössische Ästhetik entfaltet Kassner bereits jene zentralen Gedanken von mystischer Poesie und poetischer Vermittlung, die Rilke neu gestalten wird.
b) Rudolf Kassner Die Mystik, die Künstler und das Leben (1900): John Keats als ‚größter‘ englischer Dichter und als Philosoph des Dichters Verglichen mit den Keats-Wahrnehmungen der Künstlerkreise erweist sich Kassners Essay über den Autor als ausgesprochen sachlich. Gleich eingangs lehnt Kassner es ab, viele Worte über das Leben von Keats zu verlieren. Sein hartes Schicksal sei bekannt, formuliert er mit wenigen bündigen Sätzen, die dem Leser bloß stichwortartig die Lebensumstände des Cockney-Autors in Erinnerung rufen. Demgegenüber will sich Kassner auf zwei Aspekte konzentrieren: auf den Dichter Keats und auf Keats als den Philosophen des Dichters. Daß beide Aspekte in der Darstellung ineinander fallen und sich wiederum mit dem Menschen Keats vermengen, überrascht nicht: „Keats Leben ist wahrlich ein Gedicht“, vermerkt Kassner im Gang des Essays und stimmt damit doch in die gängigen Keats-Reflexionen um 1900 ein:156 154 Für den Nachweis schon Janssen 1989, S. 306. Ich zitiere nach jenem Exemplar, das sich im Rilke-Archiv befindet (Kassner 1900, RA). Es handelt sich dabei nicht um das erste und einzige Exemplar Rilkes, sondern um ein ihm später von Kassner geschenktes. Die Seiten, die Keats betreffen, sind aufgeschnitten, enthalten aber keine Anstreichungen. 155 Für den Nachweise der Übersetzung, die Gide kurz nach dem Erscheinen von „Die Mystik“ anfertigte: Bohnenkamp 1997, S. 211. 156 Kassner 1900 (RA), S. 102.
3. Mystifikation der Poesie
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Keats’ Briefe sind für die Psychologie des Künstler im allgemeinen ebenso bedeutend wie etwa die Briefe Flaubert’s und das Journal der Bashkirtseff. Sie bedeuten eine Erziehung des Dichters, und ich will zeigen, wie sie die Entwicklung einer merkwürdigen und großen Tragödie weisen.157
Kassner faßt Keats’ poetologische Reflexion nicht nur als psychologisches und pädagogisches Anschauungsmaterial auf, sondern auch als Ursache für sein verhängnisvolles Schicksal. Der Dichter, so seine Überlegung, werde dem Philosophen des Dichters selbst Exempel. Kassner trägt damit schwer am neuhumanistischen Erbe, das die Person des Dichters mit seinen Texten identifiziert und moralisch beurteilt:158 „Keats will nur Künstler sein und empfindet seine Menschlichkeit eben darum am intensivsten.“159 Einerseits sieht Kassner in ihm den jungen Goethe, den einzigen „Sohn Goethe’s“ in England.160 Andererseits nimmt er Keats’ Poetik als problematisch wahr: Goethe kenne nämlich ein „Geheimnis“, das Keats nicht gelten lasse: das Geheimnis der Individuation. Es widerstrebe seiner allumfassenden und alles in Leben und Werk einbeziehenden Liebe.161 Doch liegt der Reiz von Keats für Kassner gerade darin, daß er Grenzen mißachtet: Seine Philosophie erscheine deshalb als „sehr persönlich und darum vollkommen wahr[,]“ und sein „Schönheitsgefühl“ wirke wie „eine eigenthümliche Mischung von Sinnlichkeit und Philosophie[,]“ wobei sich die konkrete Sinnlichkeit der Außenwelt schon in der „Phantasie“ des Dichters spiegele.162 In dieser Grenzenlosigkeit und in der Auflösung von Innenwelt und Außenwelt erblickt Kassner das Besondere von Keats’ Dichter-Philosophie. Als Beleg dafür gelten ihm vor allem zwei Briefe, nämlich die sogenannte „Negative Capability-Letter“ von Keats an seine Brüder George und Thomas (21. Dezember 1817) und der bekannte Brief an Richard Woodhouse, in dem Keats den „camelion Poet“ beschreibt (27. Oktober 1818). Dabei kehrt Kassner die chronologische Reihenfolge der Texte um; die „Negative Capability“ dient nurmehr als Beleg für die Vorstellung vom „camelion Poet“. Durch diese Umstellung geht Kassner aber nicht nur das Gespür für Entwicklungen im Denken und Schreiben von Keats verlo157 158 159 160 161 162
Ebd., S. 97. Am Beispiel von Friedrich Maximilian Klinger S. Pott 2000. Kassner 1900 (RA), S. 96. Ebd. Ebd. Ebd., S. 96 f.
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ren,163 sondern er gebraucht beide Briefe, um seine entwicklungspsychologische und neuhumanistisch geprägte Erklärung für das ‚Schicksal‘ von Keats zu belegen. Keats zufolge, so Kassner, sei der Dichter „nie ‚er selbst‘, er hat gar kein Selbst, er ist Alles und Nichts, er hat keinen Charakter [...].“164 Mit Keats, den Kassner hier fragmentarisch zitiert: As to the poetical Character itself, (I mean that sort of which, if I am any thing, I am a member; that sort distinguished from the Wordsworthian or egoistical sublime [...].) it is not itself – it has no self – it is every thing and nothing – It has no character – [...] it lives in gusto, be it foul or fair [...] the camelion Poet. [...] has no Identity – he is continually in for – and filling some other Body.165
Den Begriff des „camelion Poet“ erwähnt Kassner dabei allerdings nicht, statt dessen spricht er vom Dichter als des „allerunpoetisch[sten] Ding[es]“ – und deutet die Passage des Briefs im Vorgriff auf die „Negative Capability“.166 Zwar hat Kassner Recht, wenn er den Poeten, den Keats sich ausmalt, als ein passives und eigenschaftsloses Wesen beschreibt, das bloß Eindrücke empfängt. Aber die Forderung nach einer „Negative Capability“ versteht Keats noch im Dezember des Vorjahrs bloß punktuell, und er entwickelt sie nicht aus einer allgemeinen Dichterpsychologie, sondern aus einem sehr vagen metaphysischen Begriff von Kunst: The excellence of every art is its intensity, capable of making all disagreeables from their being in close relationship with Beauty and Truth [...]. Several things dove-tailed in my mind, and at once it struck me what quality went to form a Man of Achievement, especially in Literature, and which Shakespeare possessed so enormously – I mean, Negative Capability, that is when man is capable of being in uncertainties, Mysteries, doubts, without any irritable reaching after fact & reason. – Coleridge, for instance, would let go by a fine isolated versilimitude caught from the Penetralium of mystery, from being incapable of remaining content with half-knowledge. This pursued through volumes would perhaps take us no further than this, that with a great poet 163 Mit demselben Problem hat die gegenwärtige Rezeptionsforschung zu Keats und Hofmannsthal zu kämpfen. Siehe z. B. Simonis 1995, S. 296, die die Forderung nach einer „negative capability“ eins zu eins mit der Beschreibung des „camelion Poet“ verbindet. 164 Kassner 1900 (RA), S. 97. 165 Keats to Richard Woodhouse, 27. Oct. 1818, in: Keats 1958, I, S. 386–388, hier S. 386–387. 166 Kassner 1900 (RA), S. 97.
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the sense of Beauty overcomes every other consideration, or rather obliterates all consideration.167
Kunst zeichne sich durch ihre Intensität, durch ihre enge Beziehung zur Schönheit und Wahrheit aus. Will der Poet dichten, so muß er diese Eigenschaften der Kunst erfassen, sich dem ‚Sinn für die Schönheit‘ überlassen und nicht sogleich – wie Coleridge – nach Reflexion, nach vollständigem Wissen, nach Sicherheit, Fakten und Vernunft streben. Überlegungen wie diese entstammen der Lektüre von ShakespeareTexten, die Keats als vorbildlich gelten, und die er mit denjenigen von Coleridge vergleicht. Aus der Lektüre leitet er deshalb seine bloß punktuelle psychologische Forderung ab. Eine ebenso punktuelle Reflexion führt Keats zu einem unsystematischen und banalisierenden Verständnis von Poesie: I have a few Axioms: Poetry should surprise by a fine excess; its touches of Beauty should never be half way; if Poetry comes not as naturally as the leaves to a tree it had better not come at all.168
Im Blick auf Zitate wie dieses läßt sich Kassners Keats-Rezeption zwar nach wie vor als differenziert und textnah auszeichnen, aber es zeigt sich auch, wie sehr sie noch durch die vereinheitlichende und mystifizierende Keats-Wahrnehmung der Präraffaeliten einerseits und durch eine Entwicklungspsychologie neuhumanistischen Typs andererseits geprägt ist. Kassner kritisiert den Dichter und den Briefpoetiker Keats für seine Widersprüchlichkeiten, attestiert ihm Unreife und beschreibt seine Dichter-Philosophie als eine Mischung aus „Poesie und Phrase“.169 Der Kritiker greift den Dichter für seine Selbststilisierungen an und stellt ein Mißverhältnis von Leben und Dichtung fest: „Vielleicht sage ich zu viel, aber mich dünkt, Keats sei mit seinem Leben über sein Dichten hinausgewachsen. Er lebte mehr, als er dichten konnte.“170 Gleichwohl – oder gerade deshalb – finde die Dichter-Philosophie von Keats im Gang des 19. Jahrhunderts nicht mehr ihresgleichen. Kassner zufolge umfaßt sie bereits alle Poetiken von den Essays des jungen Walter Pater über die Bilder von Burne-Jones bis hin zu den Briefen von Tennyson, Dante Gabriel Rossetti und Robert 167 168 169 170
Keats to his brothers, [21. o. 27.] Dec. 1817, in: Keats 1958, I, S.191–194, hier S. 193 f. Keats to Taylor, 27. Feb. 1818, in: Keats 1958, I, S. 238–239. Kassner 1900 (RA), S. 100. Ebd., S. 102. – Zwischen den Seiten 102 und 103 liegt ein vergilbtes Blatt als Lesezeichen. Es ist allerdings unklar, ob es von Rilke selbst stammt.
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Browning.171 „Seine Schüler sind die Aestheten mit ihrer krankhaften Art zu geniessen [...]“172 – Kassner nimmt den gängigen Ästhetizismus-Vorwurf auf.173 Die Nachfolger trivialisierten Keats’ Dichter-Philosophie, die Kassner – trotz aller Schwierigkeiten und moralischen Urteile – hinsichtlich der Überlegungen über das passive und unpoetische Ich des Dichters ungemein schätzt. Keats’ Dichtung nach 1818 (vor allem Ode to Psyche und Ode on a Grecian Urn) gilt Kassner als ethisch angemessene Umsetzung dieser poetologischen Reflexion.174 Denn sie zeichne sich, so Kassner, durch eine „ganz eigene Art von Vornehmheit“ aus: Sie bedeutet eine grosse Freiheit, die Freiheit des Entsagens, des Entsagens vor der Schönheit. Das gibt den Gedichten einen so unsagbar traurigen Ton. Und dann noch etwas – Keats scheint sich hier gleichsam erst das Recht erworben zu haben, von der Schönheit zu sprechen, das Recht der seltensten Augenblicke und freiesten Geister. Er erkennt die Schönheit als ein für immer vom Dichter getrenntes und gerade darum vom Dichter Ersehntes und vom Denker Begriffenes, als etwas, das sich in alle Farben und Linien des Lebens verwebt und nur die Seele dessen ausschliesst, der sie sucht. [...] Niemand hat soviel nachgedacht über den Unterschied zwischen dem, der schön ist, und dem anderen, der das Schöne liebt, wie Keats. Es ist etwas Perverses darin, [...].175
Keats verzichte, wie Rilke in seinem Gedicht auf die Zeichnung des Sterbenden schreibt. Der verehrte Dichter entsage dem eigenen Leben und der Schönheit, um sich in ihren Dienst zu begeben. In seinen Oden erweise sich der „camelion Poet“ als der passive, Eindrücke empfangende Asket, der selbst ganz eigenschaftslos sei. Er unterwerfe sich dem Martyrium der Kunst und werde ein ‚reiner Dichter‘ – ein Selbstentwurf, der Kassner abstößt, weil er das Selbst zugunsten eines ‚großen Unbekannten‘ verleugnet. Zum Zweck der Abgrenzung gegen diesen Selbstentwurf gebraucht Kassner das neuhumanistische Deutungsschema der Einheit von Autor und Werk. Beides wird in eins gesetzt, ohne auf Unterschiede oder Entwicklungen zu achten. Der Blick auf die poetologische Lyrik von Keats 171 172 173 174
Ebd., S. 97 u. 103. Ebd., S. 96. Vgl. – ohne Bezug auf diesen Kassner-Text – Simonis 2000. Kassner 1900 (RA), S. 104: „Alles, was Keats bis 1818 schrieb, ist Programm und Vorstudie.“ – Kassner meint damit die Gedichte in „Poems“ (1817) und den „Endymion“ (1818). 175 Kassner 1900 (RA), S. 114 f.
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hätte zu einem differenzierteren Urteil führen müssen: Keats entwikkelt seine Konzeption vom entselbsteten Dichter nämlich auch, um dem poetologischen Dilemma der Romantik zu entkommen. Gemeint ist dasjenige der Selbstreflexion, der übergroßen Bewußtheit des Dichters, die das Dichten selbst verhindert.176 Der ‚poet of no self‘ entgeht diesem Dilemma, weil er bloß spiegeln soll, was er sinnlich wahrnimmt, weil er dabei keiner aktiven Reflexionstätigkeit bedarf, sondern passiv bleibt. Diese poetologische Funktionalität des ‚poet of no self‘ wird Kassner ebensowenig deutlich wie der Umstand, daß Keats durchaus reflexiv dichtet, daß er sinnliche Erfahrung im Gedicht konstruiert. Darüber hinaus verführt das neuhumanistische Deutungsmuster Kassner dazu, die poetologische Entwicklungen der Oden einfach auf die Briefpoetik abzubilden. Gerade in Ode on a Grecian Urn und mehr noch in Ode to a Nightingale bricht aber auf, was Keats in seiner Briefpoetik vom Poeten fordert: Seine Selbstentäußerung gelingt nur noch zögerlich; sie droht zum einen (Ode on a Grecian Urn) an lebensweltlichen Schwierigkeiten, an nicht-erfüllten Leidenschaften, zum anderen (Ode to a Nightingale) an der Erkenntnis zu scheitern, daß die Visionen, denen sich der Poet passiv öffnen will, doch der eigenen Reflexion entstammen.177 Kassner vereindeutigt und vereinheitlicht ‚Keats‘, um die eigenen poetologischen Auffassungen gegen eine idealtypisch gezeichnete ‚perverse‘ Poetik des entselbsteten Dichters abzuheben. Der programmatische Eingangsessay zu Die Mystik gibt Aufschluß darüber und über Kassners eigene poetologische Anschauungen. Er handelt dort nämlich über den Dichter und den Platoniker, d. i. der Kritiker. Beide, so Kassner, hätten in gewisser Weise an einer „mystische[n] Tugend“ teil – ein Begriff, den er sehr allgemein und ausschließlich quantitativ als eine Mangelerscheinung bestimmt: „[...] mystische Tugend ist immer die Summe von dem, was ein Ding – der Mensch oder sein Werk – besitzt und dem, was ihm fehlt.“178 Dichter und Kritiker beschritten bloß unterschiedliche Wege, die aber gleichermaßen zu dieser Tugend führten.179 Der Dichter komme vom Ideal, so heißt es; der Kritiker versuche, dieses erst zu ermitteln: 176 177 178 179
Diese und die nachstehenden Ausführungen folgen Hühn 1995, I, S. 372 u. passim. Ebd., S. 376–388. Kassner 1900 (RA), S. 11. Hier beginnt Kassner ein verwirrendes Begriffsspiel. Danach ist „mystisches Denken [...] intuitives Denken“ – und so denke der Künstler. Die Künstler oder Dichter
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Der Dichter empfindet für Alle und wie Alle [...]. Der Dichter thut eigentlich nichts anderes, als dass er für die grosse Seele Aller, die auch seine Seele ist, eigene Formen findet [...].180
Kassners Auffassung über den Dichter kommt derjenigen aus Keats’ Briefpoetik nahe, nimmt sie aber zurück, mäßigt ihre Aussagen und Absichten. Rilke kann für seine Anbetung der Keats-Ikone unmittelbar auf Kassners Beschreibung zurückgreifen, überhöht sie aber wieder zugunsten des von Kassner stilisieren Keats. Der Dichter empfindet – mit Kassner, Gide und Rilke – exemplarisch für die „grosse Seele Aller“; er nimmt auf, bleibt dabei selbst passiv („schuldlos[]“), tritt als Person ganz zurück. Für Rilke erscheint genau dieser Keats als anziehend; er erklärt ihn zum Exempel ‚reiner Poesie‘ und ahmt dieses Exempel in den Sonetten an Orpheus selbst nach. Mehr noch: Er streitet sogar mit Kassner über eine Poetik, die den Dichter als Heiligen und Literatur als Dienst an einem unbekannten Gott beschreibt.181 Mit Keats und seinen – durch Kassner gefilterten – Vorstellungen vom Dichter, von Dichtung und Schönheit erreicht ein mystisches Thema die Poetiken der Jahrhundertwende, das die Forschung bislang vor allem mit Blick auf den französischen Symbolismus anspricht: das Thema der Depersonalisierung von Dichtung und der mystischen Selbstauflösung im All-Einen, das sich mit Vorstellungen von einer ‚poésie pure‘ verbindet. Rilke erläutert es in seiner Briefpoetik, und Gide schreibt – noch lange nach seiner Kassner-Übersetzung – in seinem Journal (1923) über Keats’ Sonette als von Zeugnissen einer „dépersonnalisation poétique“ und von einem „triomphe de l’objectivité“.182 Im engen Zusammenspiel entfalten Gide und Rilke eine ganz eigene emphatische und mystische Reflexion der Dichtungsreflexion vom Typus der ‚poésie pure‘. Für die Keats-Rezeption erweist sich dieser Typus einer ‚objektivierenden‘ Darstellung als neu. Im 19. Jahrhundert ließ sie sich vielmehr – in einer Weiterentwicklung der frühen Rezeption Freiligraths – auf ein Keats-Bild ein, das den Dichter-Poetiker als ‚Indifferentisten‘, nennt Kassner aber bloß „Dialektiker des mystischen Lebens“; ihnen stehen die „Mystiker [Kritiker, Prosaisten] als Künstler des Denkens“ gegenüber. Ebd., S. 8; siehe hierzu Spörl 1997, S. 164 f., der ebenfalls Schwierigkeiten hat, die Passage zu erschließen. 180 Kassner 1900 (RA), S. 9 f. 181 Darüber Kapitel VI. 2. b) dieser Untersuchung. 182 Gide: Journal, 759, Mai 1923; zit. n. Gentili 2000, S. 79.
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‚Pantheisten‘ und als sich allein auf die Kunst konzentrierenden Dichter beschrieb.183 Mit Pantheismus meinte Georg Brandes, der für dieses Keats-Bild verantwortlich zeichnete, jedoch keinen Pantheismus im üblichen Sinne des Wortes: keine Verehrung eines Naturgottes also. Vielmehr bezeichnete er damit etwas, was angemessener als Sensualismus ausgewiesen wäre: ein Leben in „passiven Sinneseindrücken, in Vergnügen und Schmerz durch die Sinne“.184 Keats wollte die „Schönheit der Natur“ in sich aufnehmen, deshalb überließ er sich ganz den Eindrücken der Außenwelt.185 Ein „göttliches Feuer“ beseelte ihn, so schreibt Brandes emphatisch.186 Die Keats-Verehrung verwandelt sich vom Pantheismus in eine mystische Poetik. Hier geht der Dichter ganz im All-Einen auf: in einem sinnlichen, aber auch übersinnlichen Universum, das ihn umgibt und in das er sich einfühlt. Vor diesem Hintergrund kennzeichneten geistesgeschichtliche Untersuchungen Keats’ „poetry of sensation“ als eine Äußerungsform des Sensualismus, der Wissenschaft von den sinnlichen Wahnehmungen, wie sie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Philosophie, Psychologie und Ästhetik zum Tragen kam.187 Zwar läßt sich in der Tat von einer solchen „longue durée“ sensualistischer Vorstellungen für die Denkgeschichte – nicht nur des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern mindestens auch des 17. und 18. – sprechen,188 aber diese Vorstellungen ändern sich im Laufe der Zeit ganz erheblich, nämlich bis zur Unkenntlichkeit einer gemeinsamen Herkunft oder eines gemeinsamen Denkprinzips. ‚Sensualismen‘, wie sie die Legende vom historischen-genetischen Zusammenhang (Jackson Bate, Viebrock) oder von der zeitlich verschobenen, im Grunde aber parallelen Entwicklung der „poetry of sensation“ und der psychologischen Ästhetik ausprägte (Simonis), lassen sich – so betrachtet – auf zwei Kernaspekte reduzieren: auf das Konzept der Einfühlung und auf ein 183 Brandes 1876, IV, S. 223 f.: „Es war einer seiner [Keats’] Lieblingssätze, daß der wahre Dichter keine Lehre oder Ansicht, keine Moral, ja kein Selbst haben könne. [...] Aber jener poetische Indifferentismus, den Keats Ansichten und Principien gegenüber bewies, war selbst eine Lebensanschauung und ein Princip, nämlich die des poetischen Pantheismus.“ 184 Ebd., S. 225. 185 Ebd., S. 226. 186 Ebd., S. 235. 187 Siehe die einleitenden Bemerkungen zu Abschnitt 3. dieses Kapitels. 188 Es ist das Verdienst von Panajotis Kondylis, die „longue durée“ der Sinnlichkeitsfrage bis in den sogenannten Rationalismus hinein verfolgt zu haben; Kondylis 1986.
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Bild vom Menschen, das diesen passiv seinen Sinneseindrücken ausgeliefert sieht. Der Dichter gilt deshalb als exemplarischer Mensch, als passives Medium seiner Sinne. Es verlangte aber ein großes Vertrauen in eine abstrakte Idee von Sinnlichkeit oder Einfühlung, wollte man von Keats bis hin zu Wundt an der Legende von einer ungebrochenen Kontinuität sensualistischen Denkens festhalten. Diese Einsicht legt es nahe, nach den Gründen für solche Fehl-Rezeptionen zu fahnden. Sie liegen in der Populärwissenschaft um 1900, im literarischen und essayistischen Umfeld der Lebensphilosophie und der philosophischen bzw. psychologischen Ästhetik. Dort verbreitet sich eine Vorstellung vom besonders begabten einerseits passiven, andererseits sinnlichen Menschen, obwohl die experimentelle und psychologische Ästhetik dieses Menschenbild bloß als vorläufiges Ergebnis erkenntnistheoretischer Betrachtung darlegte. Es ist deshalb kein Zufall, daß sich Kassner sogleich auf Keats’ Beschreibungen des „camelion Poet“ konzentriert. Kassner nimmt sie gefiltert durch die ästhetische Essayistik um 1900 wahr: Keats wird für ihn zum Gesprächspartner eines populären Empiriokritizismus. Das poetologische Gegenstück zu dieser populär gewendeten Ästhetik bzw. Psychologie und zu Kassners Keats-Reflexionen ist die ‚poésie pure‘ Rilkes und Gides, weniger in der französisch-formalistischen und symbolistischen, als in einer lebensreformerischen Variante. Sie befördert die Idee eines übermächtigen und ‚ozeanischen‘ Universums, dem sich der Poet bloß zu öffnen braucht. Die Sensibilität für den historischen Keats und für die poetologische Situation rund 100 Jahre zuvor geht Gide und Rilke aber ebenso wie Kassner verloren. Denn Keats faßt seine Gedanken über den „camelion Poet“ erst nach seiner Bekanntschaft mit dem Philosophen, Literaturkritiker und Republikaner William Hazlitt (1778–1830).189 Die ‚reine Poesie‘ im Verständnis von Keats entsteht – in der Form des „camelion Poet“ – erst aus der Rezeption der britischen Moralphilosophie der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts: aus einer anti-utilitaristischen und einer in einem ganz alten Sinne moralischen, noch immer naturrechtlich gedachten Variante dieser Moralphilosophie, wie sie Hazlitt – gegen David Hume, Adam Smith u. a. – vertritt. Für die „Negative Capability“ und für den „camelion Poet“ kommt ein weiterer Einflußbereich hinzu. Gemeint ist die Physiologie, die für Keats mindestens ebenso bedeutend war wie diese moralphilosophischen Lehren. Im folgenden soll Licht in das Dunkel der Bezüge zwischen Keats und Haz189 Vgl. über Hazlitt T. Paulin 1998; Grayling 2001; Corrigan 2001.
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litt, zwischen Keats’ ‚Autorpsychologie‘ und den Rezeptionen derselben durch die populäre Ästhetik um 1900 sowie durch die geistes- und kulturgeschichtliche Literaturforschung gebracht werden.
Exkurs. Über die Legende vom Zusammenhang der „poetry of sensation“ mit der psychologischen Ästhetik um 1900 und über ihren wahren Kern: die Entstehung der ‚reinen Poesie‘ aus Physiologie und Moralphilosophie Hazlitt gilt als das ‚alter ego‘ von Keats.190 Was der eine denke, das setze der andere in Dichtung um,191 so lautet eine starke These über das Verhältnis der beiden Schriftsteller. Sie ist weder richtig noch falsch. Hazlitt und Keats lernen sich im Januar 1818 kennen, sind zu diesem Zeitpunkt aber schon längst über einander informiert, haben die Texte des jeweils anderen mehr oder minder gründlich zur Kenntnis genommen oder wissen zumindest ungefähr, was sie erwartet: Hazlitt ist gespannt auf den jungen Verfasser der Poems (1817), der Hazlitt seinerseits bereits in einem Brief vom 9. März 1817 erwähnt.192 Schließlich lagen die Gedanken von Hazlitts moralphilosophischem Frühwerk Essay on the Principles of Human Action (1805) – im Gang durch die Moralphilosophien Humes und Smiths – ‚in der Luft‘. Ob Keats den Text selbst kannte, ist ungewiß. Sicher weiß man nur, daß Keats Hazlitts Lectures on the English Poets (13. Januar – 3. März 1818) in der Surrey Institution nahe Blackfriar’s Bridge (zusammen mit dem Goethe-Freund Crabb Robinson und mit Procter) besuchte. Allerdings ist unklar, welchen Vorlesungen Keats genau beiwohnte. Er hatte offenbar nicht immer das Bedürfnis, den engagierten Literaturkritiker und -historiker zu hören. Dieser Umstand spricht nicht für jenes enge Verhältnis der beiden, wie es die starke These zum Verhältnis von Keats und Hazlitt nahelegt. Doch soll dieses äußere Datum hier nicht überbewertet werden. Vielmehr geht es darum, die Genese einzelner Gedanken von Keats im Blick auf Hazlitt zu prüfen und zu fragen, wo Gemeinsamkeiten liegen, ob 190 Corrigan 2001, S. 146 f. 191 Ebd., S. 153: „[...] Keats translated the germs of ideas gleaned from Hazlitt into a working aesthetic.“ 192 Keats to J. H. Reynolds, 9 March 1817, I. 16, S. 123 f.
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der eine den anderen möglicherweise beeinflußte. Was die Entstehung von Keats’ Briefpoetik angeht, so ist festzuhalten, daß einer der beiden Haupttexte, auf den sich zahlreiche Darstellungen seiner Poetik stützen, drei Wochen vor der Bekanntschaft mit Hazlitt geschrieben wurde. Gemeint ist die „Negative Capability-Letter“. Der Brief über den „camelion Poet“ datiert demgegenüber erst auf den 27. Oktober, also auf ungefähr acht Monate nach dem Ende von Hazlitts Vorlesungen. Ich will versuchen zu zeigen, daß Hazlitts Einfluß in diesem Zusammenhang nicht gering zu veranschlagen ist, daß er nämlich jene Gedanken, die sich in der „Negative Capability-Letter“ andeuten, erst zu jenen des „camelion Poet“ weiterzuentwickeln hilft. Aber zunächst zu den Grundlagen: zum Begriff der ‚sensation‘, der – der Forschung zufolge – den gemeinsamen Ausgangspunkt für Hazlitt und Keats darstellt. Keats gebraucht den Begriff der „sensation“ erstaunlicherweise nur zweimal. Das erste Mal definiert er ihn nicht einmal selbst. Vielmehr eignet er ihn sich in einem Studien- bzw. Ausbildungsgang als Apotheker an, den er in den Jahren 1815 und 1816 am Londoner Guy’s Hospital durchlief. Als gewissenhafter Student gehörte Keats zu einer kleinen und gut betreuten Gruppe um den bekannten Anatomen Sir Astley Parson Cooper (1768–1841).193 Der Begriff der „sensation“ taucht in einer der Vorlesungen Coopers auf, und in Keats’ Mitschrift ist zu lesen: Physiology of the Nervous System. The 1 st office is that of Sensation – it is an impression made on the Extremities of the Nerves conveyed to the Brain. This is proved by the effects of dividing a Nerve. [...] In irritation made in the middle of a Nerve the sensation is felt at its extremity sometimes at its origin. The sensation will sometimes be conveyed to the brain and thence to the Extremities. The sensation of the foot being asleep is in consequence of pressure made on the Sciatic Nerve, Sensation returning.194
Cooper behandelt den Begriff der „sensation“ erwartungsgemäß in der Physiologie. Dorthin gehört er spätestens seit den epochalen Elementa Physiologiae (1757–1766) des bekannten Berner und Göttinger Arztes Albrecht von Haller (1708–1777). Was Keats mitschreibt und auch den zeitgenössischen Lehrbüchern entnehmen kann,195 liest sich wie ein Auszug aus Hallers Studie De partibus corporis humani sensibilibus et irritabilibus (1752), die er in den Elementa verarbeitete. Genauer: Bei 193 Dazu vor allem Goellnicht 1984, S.120–159; vgl. auch Ameida 1991; zuletzt Richardson 2001, S. 233. 194 Keats 1934, S. 55 f. [Ms., S. 8 f.]; schon erwähnt in Sperry 1973, S. 4 f. 195 Über diese Lehrbücher Goellnicht 1984, S. 120 f.
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Keats’ Mitschrift handelt sich um eine fragmentarische, verkürzte und veränderte Form der Irritabilitätslehre Hallers.196 Bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde sie in der Medizin zur ‚opinio communis‘.197 Sie besagt, daß sich eine Muskelfalser durch Reiz zusammenzieht (Irritabilität), eine Nervenfaser aber durch einen Reiz empfindet (Sensibilität/Empfindlichkeit). Dabei ist es die Seele, die sich die Empfindung des Nervs ‚vorstellt‘. Keats beschreibt diesen Prozeß – undifferenzierter – nur für den Nerv: Im Falle der ‚Reizung‘ („irritation“), wird ‚Empfindung gefühlt‘ („sensation is felt“), und zwar ‚an seinen äußersten Enden‘ („at its Extremities“) oder ‚an seinem Ursprung‘ („at its origin“) und schließlich dem Gehirn übermittelt. Es ist unangemessen, diese modifizierte Form der Irritabilitäts- (oder besser: Empfindungs-)Lehre für den Beginn des 19. Jahrhunderts als radikal und kontrovers zu beschreiben,198 denn der physiologische Zugriff auf das Gehirn war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr strittig. Auch ist es nicht korrekt, die Sprache, in der sie dargeboten wird, als ‚mechanistisch‘199 oder gar als ‚materialistisch‘ zu bezeichnen.200 Es handelt sich vielmehr um eine physiologische Bestimmung mit Hilfe physiologischer Begriffe. Keats erwähnt den Begriff der „sensation“ aber noch in einem anderen Zusammenhang, und zwar in einem Brief an Benjamin Bailey vom 22.11.1817: I am certain of nothing but the holiness of the Heart’s affections and the truth of the Imagination – what the Imagination seizes as Beauty must be truth – whether it existed before or not ... The Imagination may be compared to Adams dream – he awoke and found it truth. I am the more zealous in this affair, because I have never yet been able to perceive how anything can be known for truth by consequitive [sic] reasoning – and yet it must be. Can it be that even the greatest Philosopher ever arrived at his goal without putting 196 Die genaue Quelle für die von Keats notierte Variante der Irritabilitätslehre läßt sich nicht ermitteln. Goellnicht erwähnt, daß Cooper – neben den zeitgenössischen Lehrbüchern – beispielsweise auch Andrew Fyfes „A System of a Anatomy“ (1784) sowie Johann Friedrich Blumenbachs „Anfangsgründe der Physiologie“ (1789) konsultierte und sie seinen Studenten empfahl; Goellnicht 1984, S. 121. 197 Sperry erwähnt diesen Hintergrund nicht, sondern versucht die Definition von Keats ‚aus sich selbst‘ heraus zu interpretieren, was aber nicht weiterführt. 198 Richardson bemüht sich noch um eine solche Einschätzung des Cooperschen Zirkels; vgl. Richardson 2001, S. 234. 199 Vgl. Almeida 1991, S. 9. 200 Vgl. Richardson 2001, S. 234: „Keats’s lecture reports Cooper defining ‚sensation‘ in decidedly embodied (if not altogether materialist) terms.“
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
aside numerous objections? However it may be, O for a life of Sensations rather than of Thoughts!201
In diesem Brief, der übrigens wiederum vor der Begegnung mit Hazlitt entstand, gebraucht Keats den Begriff der „sensation“ – wie denjenigen der ‚Herzensneigung‘ – im Kontext der Einbildungskraft-Debatte.202 Die Einbildungskraft, so Keats, urteile über die Schönheit. Keats verzichtet auf jeden Beweis dafür und geht – mit einem heftigen Gedankensprung – gleich weiter. Denn ihm leuchtet nicht ein, wie man allein durch Nachdenken zu Wahrheit gelangen wolle. Als ‚tertium comparationis‘ der beiden ‚Medien der Wahrheit‘, der Herzensneigung und der Einbildungskraft, gilt ihm demgegenüber die „sensation“. Deshalb fordert er ein „life of Sensations rather than of Thoughts!“ Er stellt die Empfindungswelt gegen die Gedankenwelt. Bedenkt man Keats’ physiologische Studien, so verwundert diese Einstellung nicht. Empfindungen müssen ihm als wahrer gelten als Gedanken. Denn der Apotheker weiß genau und hat am Objekt üben können, wie „sensations“ zustande kommen. Er ist an Experimenten geschult. Hinter seiner frühen Briefpoetik stehen nicht zuletzt die physiologischen Erkenntnisse des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. Emphatische Urteile der Forschung über die ‚anti-rationale Poetik‘ von Keats gründen sich zumeist auf diese frühe physiologisch gerechtfertigte Briefpoetik, die als anti-rational demnach nur ungenau beschrieben wäre. Denn ihre Reflexionen erweisen sich selbst als ‚wissenschaftlich-rationale‘, als Ergebnisse von Experiment und Überlegung. Keats können sie als Wahrheiten gelten, die mit den Mitteln der Medizin geprüft sind und in der Literatur bloß noch angewendet werden müssen – als ein Therapeutikum für den sinnsuchenden Menschen. Hier nutzt Literatur physiologische Reflexionen, um poetologische Reflexion zu vermeiden. Die poetologische Lyrik der zeitgleichen Poems erprobt dieses Vorgehen. In Sleep and Poetry handelt Keats’ Sprecher beispielsweise über die Einbildungskraft, über Traum und Schlaf. Rezensenten stuften den Text nicht zufällig als das gelungenste Gedichte der Poems (1817) ein.203 201 Keats to Benjamin Bailey, 22. Nov. 1817, in: Keats 1958, I, S. 183–185. 202 Dazu Jackson Bate 1939, S. 11 f.; über die poetologische Bedeutung der philosophischen Einbildungskraft-Debatte Herrmann 1967; über ihren physiologischen Kontext Dürbeck 1998, S. 177–255. 203 So die Rezensionen von John Hamilton Reynolds (im „Champion“) und von Leigh Hunt (im „Examiner“), in: Matthews 1971, S. 48 u. 62.
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Auch Brandes entdeckte das Gedicht. Ihm gilt Sleep and Poetry als „ästhetisches Glaubensbekenntnis“ des englischen Poeten gegen die „klassische Kunstdichtung“ à la Boileau.204 Er antizipiere damit, so Brandes, den Protest des französischen Romantikers Théophile Gautier gegen den normpoetischen und ‚rationalistischen‘ Landsmann.205 Mit dieser Einschätzung hat Brandes nicht Unrecht, auch wenn sie auf den sogenannten Anti-Rationalismus von Keats zielt: Keats wendet sich in der Tat gegen die klassizistische Dichtung – und verkündet ein neues Dichtungsideal im Zeichen der Physiologie. Es steht in engem Zusammenhang mit dem Schlaf, ist ihm aber zugleich auch entgegengesetzt, denn Poesie erweist sich als ‚gesteigerter Schlaf‘: Schlaf gilt als ‚gesund‘, als ‚geheimnisvoll‘, als ‚voll von Visionen‘ und als ‚wahr‘. Nur die Poesie führe über diesen (körperlichen) Zustand hinaus. Sie ist ‚seltsamer‘ und ‚schöner‘.206 Gleichwohl erwirbt der Poet die Voraussetzungen für das Dichten ‚im Schlaf‘.207 Kaum hat sich der Sprecher von Sleep and Poetry für die Poesie entschieden, erfaßt ihn ein Traum. Der Sprecher schildert poetische Bilder und weiß am nächsten Morgen genau, was zu tun ist: And up I rose refresh’d, and glad, and gay, Resolving to begin that very day These lines; and howsoever they be done, I leave them as a father does his son.208 204 Die Übersetzung der entsprechenden Passage des Keats-Gedichts lautet mit Brandes [Strodtmann] 1876, IV, S. 227: „Vergaß man alles Dies [gemeint ist die ‚alte‘ englische Dichtung]? Ja, ein Verfall, / Genährt durch Barbarei und Thorheitsschwall, / Hat schamroth um sein Land Apoll gemacht. / Männer, die blind für seine Götterpracht, / Hielt man für weise; kindisch und bethört, / Wiegten sie sich auf einem Schaukelpferd, / Und nannten’s Pegasus. O Schwächlingsbrust! / Der Wind des Himmels blies, es schwol die Fluth / Des Meers – ihr fühltet’s nicht. Das ew’ge Blau / Enthüllte strahlend sich, es fiel der Thau / Des Sommers und umwob des Morgens Pracht / Mit Perlenzier: die Schönheit war erwacht! / Warum noch schliefet ihr? – – – – / – – Dahin stumpfsinnig schrittet ihr, / Und schwang ein elend jämmerlich Panier, / bestickt mit nicht’gen Mottos, mitten drauf / Der eine Name: Boileau!“ 205 Brandes 1876, IV, S. 226 f. In den 70er Jahren belebt Stuart M. Sperry (1973, S. 324) diese poetologische ‚Lesart‘ von „Sleep and Poetry“ neu; in diesem Text seien bereits alle Elemente der Keatsschen Poetik angelegt, nämlich „the notion of a poetic heaven or sanctuary, death and rebirth, sacrifice, the need to transcendent the ‚o’erwhelming sweet‘ of verse, to achieve a point of vision.“ Selbst der „poet of ‚no self‘“ zeige sich bereits in „Sleep and Poetry“ an, ergänzt Charles J. Rzepka (1986, S. 170). 206 Keats: Sleep and Poetry, in: ders. 1978, S. 37–47, V. 1–19. 207 Ebd., S. 46, V. 349 f.: „For what there may be worthy in these rhymes / I partly owe to him [...].“ 208 Ebd., S. 47, V. 401–404.
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Im Traum kommt die Inspiration. Das Sprecher-Ich erwacht und findet ‚Wahrheit‘. Als ein Wesen, dem ein privilegierter Zugang zur (eigenen) Schöpfung offen steht, wendet er sich der Transzendenz zu, wird selbstloser Seelenarzt des Menschen209 und empfindet nur noch stellvertretend als ein Medium, was der poetische Traum ihm eingibt. Zeitgenössischen Physiologen gilt der Traum als ‚mittlerer Zustand zwischen Schlafen und Wachen‘, der sich durch eine rege Tätigkeit der Einbildungskraft und durch das – mehr oder minder vollständige – Erlahmen der Empfindungen auszeichnet.210 Denkt man an jene Lehren, die Kerner über den ‚magnetischen Schlaf‘ niederlegte,211 dann erhält Keats’ Text noch größere Beweiskraft. Auch sein Dichter schläft eine Art ‚magnetischen Schlaf‘. Vermittelt über die britischen Physiologen John Hunter (1728–1793) und John Abernethy (1764–1831) war auch Keats über den Magnetismus im Bilde. Er übersetzte ihn in Sleep and Poetry in poetologische Verse.212 Ein ‚körperlich‘ begründetes Dichterbild wie dieses nimmt physiologisches und magnetisches Wissen auf, wendet es in poetologischen Reflexionen an und entledigt es zu diesem Zweck seines ursprünglichen Kontexts. In Sleep and Poetry wird das Dichten – vor dem Hintergrund der Physiologie – als körperliches und aus ganz ursprünglichen Empfindungen hervorgehendes ‚Schaffen‘ bestimmt. Kurz: Die poetologische Reflexion verdrängt die physiologische Reflexion im Namen der physiologisch inspirierten ‚Poiesis‘, um sich selbst als Reflexion unkenntlich zu machen, um den Dichter beim Dichten von der Selbstbespiegelung zu befreien.213 Der Kontext der Moralphilosophie rechtfertigt dieses poetologische Vorhaben ebenfalls, und zwar unter dem Aspekt des ‚poet of no self‘: Das ‚magnetische‘ Selbst aus Sleep and Poetry kennt keine eindeutige und bleibende Identität mehr, nimmt sich nur noch als eine Folge von Vorstellungen wahr. Ihm entspricht jene Denkvariante der Moralphilosophie, die mit Hume A Treatise of Human Nature (1739/1740) beginnt und von Hazlitt fortgesetzt wird: Hume will von der ‚empirisch‘
209 Ebd., V. 246 f.: „To sooth the cares, and lift the thoughts of man.“ 210 So lautet die ‚communis opinio‘, die im Detail – etwa in bezug auf die Empfindungstätigkeit – strittig ist; Dürbeck 1998, S. 240 f. 211 Siehe Abschnitt III. 1. a) dieser Untersuchung. 212 Über den Magnetismus in England Fara 1996; über Keats’ Magnetismus-Rezeption Gigante 2002, S. 439 u. passim. 213 Hühn 1995, I, S. 372.
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beobachtbaren Natur des Menschen ausgehen.214 Anders als seine sensualistischen ‚Vorläufer‘ begnügt er sich nicht mit der Annahme eines bloßen „moral sense“, der sich in bestimmten Interaktionskonstellationen quasi-automatisch ausbilde (Anthony Ashley Cooper, third Earl of Shaftesbury, Francis Hutcheson). Er wendet sich vielmehr den erkenntnistheoretischen Grundlagen zu, die Selbst- und Fremderfahrung, Aktion und Interaktion überhaupt erst ermöglichen. Hume geht es nämlich um die Frage, wie Beziehungen zustande kommen. Aus den Gewohnheiten der Menschen schließt er zu diesem Zweck auf erkenntnistheoretische und -praktische Regelmäßigkeiten.215 Der Satz, daß die Identität des Menschen nur „fingiert[]“ sei, zählt zu seinen Haupteinsichten:216 [...] daß die Vorstellung der persönlichen Identität einzig und allein aus dem ungehemmten und ununterbrochenen Fortgang des Vorstellens beim Vollzug einer Folge miteinander verknüpfter Vorstellungen entspringen kann.217
Identität wird auf diese Weise zu einem Beziehungsbegriff. Sie bleibt nicht gleich, sondern verändert sich mit der Zeit; sie vollzieht sich ‚beim Vorstellen‘.218 Humes erkenntnistheoretische Moralphilosophie ist am Beginn des 19. Jahrhunderts längst in das kulturelle Wissen eingegangen, allerdings als eine durchaus kontroverse, nämlich als eine mehr oder minder skeptische und atheistische Position. Es verwundert deshalb nicht, wenn Hazlitt – mit Humes Schüler Adam Smith – in gewisser Weise ‚hinter Hume‘ zurückgeht und an ältere moralphilosophische Debatten anküpft, um die eigene Theorie dann aber (implizit) mit Humes Annahmen abzusichern. In seinen Essays on the Principles of Human Action 214 Im Prinzip ist diese Neigung zur ‚Empirie‘ nicht neu, sondern bestimmt jenes Wissensgebiet, das spätestens seit Hans-Jürgen Schings’ Studie über „Melancholie und Aufklärung“ (1977) als Anthropologie ausgewiesen wird. Als besonders zur Empirie geneigt gelten dabei die ‚Erfahrungsseelenlehren‘ der schottischen „moral sense“-Philosophie, die ihrerseits auf dem deutschen Naturrecht ruhen; Medick 1981; Vollhardt 2001 (am Beispiel von Gershom Carmichael). Mit ihr, mit Shaftesbury und mit Hutcheson teilt Hume die Annahme, daß die Quelle für moralisches Handeln nicht in der Vernunft zu suchen sei. 215 Insofern erweist sich die moralphilosophische Erkenntnistheorie Humes wiederum als konventionell. Er bewegt sich mit diesem Vorgehen wiederum auf den bekannten Pfaden der schottischen Moralphilosophie. 216 Hume 1904, Teil 4, Ab. 6, S. 335. 217 Ebd., S. 336. 218 Ebd., S. 337 f.
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(1805) will Hazlitt beweisen, daß der Mensch von Natur aus altruistisch ist. Zu diesem Zweck setzt er wieder bei Shaftesbury und Hutcheson an, bezweifelt aber, daß deren Dichotomie von Gut und Böse die Natur des Menschen überhaupt kennzeichnet. Misanthropen wie Thomas Hobbes, La Rochefoucauld und Bernard de Mandeville hätten diese Dichotomie in die Moralphilosophie eingeschmuggelt; mit ihrer „moral sense“-Annahme seien Shaftesbury und Hutcheson bloß auf die Irrlehren der verwirrten Menschenfeinde hereingefallen. Die ersten Sätze von Hazlitts Essay lauten in diesem Sinne: It is the design of the following Essay to show that the human mind is naturally disinterested, or that it is naturally interested in the welfare of others in the same way, and from the same direct motives, by which we are impelled to the pursuit of our own interest.219
Das Selbst sei natürlicherweise ‚uninteressiert‘, d.h. es handele von Natur aus altruistisch.220 Weil es im Jetzt des Gefühls lebe, fehle ihm der Sinn für Zukünftiges und damit auch für das eigene Fortkommen, für ‚rationale‘ Berechnung und Selbstinteresse.221 Die Bedeutung der Vokabeln „self-love“ und „benevolence“ löst sich deshalb auf; „self-love“ gilt nunmehr als „a perfectly disinterested, [...] impersonal feeling“,222 anders gesagt: als Prinzip der „natural benevolence“ des zeitlos-gegenwärtigen Gefühlswesen Mensch.223 Hazlitt läßt erhebliche Begründungslücken offen.224 Er rechtfertigt seine Annahmen aus einem starken Sensualismus heraus, den er aber 219 Hazlitt 1990, S. 1. 220 Ebd., S. 4 f. 221 Handelt es dennoch egoistisch, so lasse sich dieses Handeln nur als Ergebnis von guten oder schlechten Gewohnheiten verstehen; vgl. ebd., S. 18. – Hazlitts Beweisziel und seine Argumentation erinnern an Adam Smiths „The Theory of Moral Sentiments“ (1759). Smith ging allerdings – auf den bekannten Pfaden der britischen Moralphilosophie – davon aus, daß der „moral sense“ des Menschen für sein ‚Desinteresse‘ bürge und darüber hinaus interaktiv eingeübt werden könne; für den Bezug von Hazlitt auf Smith Jackson Bate 1963, S. 256; Bromwich 1983, S. 49. 222 Ebd. [Hervorhebung im Original]. 223 Ebd., S. 24. 224 Gleichwohl wendet sich Hazlitt am Beispiel von David Hartleys „Observation on Man“ (1749) gegen Humes Assoziationsprinzip. Nach Hartley entstehen Gefühle und Gedanken aus der Assoziation von Ideen. Hazlitt reicht das nicht aus: Gefühle müssen seiner Ansicht nach ‚im Selbst selbst‘ angesiedelt sein. Hazlitt überträgt diese Argumentation auf die Ästhetik, nämlich auf das Prinzip der Schönheit. Diese müsse ‚im Objekt‘ liegen, bloße Assoziationen von Ideen genügten auch hier nicht; Hazlitt: No. XXVII. On Beauty, in: ders. 1990, S. 71–74, hier S. 71 u. passim.
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nicht weiter belegt.225 Was Hume als Vorstellung gilt, das sind Hazlitt – traditioneller und erkenntnistheoretisch weniger durchdacht – die Gefühle. Auch sein Selbst befindet sich immer im Fluß und ist im eigentlichen Sinne keines. Es stellt sich nur in der Erinnerung und durch Imagination her.226 Diese Imagination ist es auch, die das Selbst mit dem anderen verbindet: Durch seine „imaginary sympathy“ kann es Leid und Freude mitempfinden; es aktualisiert dabei seine eigenen passiven Gefühle und Eindrücke.227 Das Nicht-Ich, das Hume und Hazlitt vor unterschiedlichem Hintergrund, in unterschiedlicher Weise und mit je anderen Zielen beschreiben, findet – vermittelt über Hazlitts Lectures – Eingang in Keats’ ‚Dichterphilosophie‘: in diejenige, die er nach der Bekanntschaft mit Hazlitt als ein Amalgam aus Physiologie, Moralphilosophie und Literaturkritik entwickelt. Sein eigenes – sich scharf von der Lake School, der Reflexionspoesie und ihren deutschen ‚Vorbildern‘ abgrenzendes228 – poetologisches Programm verkündet Hazlitt in der dritten ‚Lecture‘, in On Shakespeare and Milton (27. Januar 1818).229 Seine
225 Seine Theorie erweckt dabei bloß den Anschein, als gelange sie etwa über den Versuch des Hugo Grotius hinaus, „sociabilitas“ als einen Trieb des Menschen zur Gesellschaft zu beschreiben. Hazlitt überbietet Grotius nämlich nur insofern, als daß er von einer sehr viel flexibleren Vorstellung des Selbst ausgeht. 226 Hazlitt 1990, S. 30–32. 227 Ebd. 228 Hazlitt: Lecture VIII. On the Living Poets, in: ders. 1998, II, S.298–320, hier S. 314 f. 229 Ein hervorragendes Beispiel dafür ist auch Hazlitts Rezension über August Wilhelm Schlegels „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“/„Lectures on Dramatic Literature“ (übersetzt von John Black, 1815) im „Edinburgh Review“ vom 26. Februar 1816. Bei aller Wertschätzung für die Gelehrtheit und Gründlichkeit des Werks kommt Hazlitt zu einem vernichtenden Urteil (Hazlitt 1998, I, S. 271, Hervorhebungen im Original): „In all that they [the Germans] do, it is evident that they are much more influenced by a desire of distinction than by an impulse of the imagination, or the consciousness of extraordinary feelings. [...] The truth is, that they are naturally a slow, heavy people; and can only be put in motion by some violent and often repeated impulse, under the operation of which they lose all control over themselves – and nothing can stop them short of the last absurdity. Truth, in their view of it, is never what is, but what, according to their system, ought to be.“ Mit Blick auf Schlegel beklagt Hazlitt das Fehlen all dessen, was er in seiner Moralpsychologie beschreibt: das Fehlen der Einbildungskraft und der Gefühle. Vor diesem Hintergrund kommt er zu einem vergleichbaren Ergebnis wie andere Schlegel-Rezensenten. Er reproduziert gängige (Vor-)Urteile über die deutsche Philosophie: Die Deutschen seien bloße Enzyklopädisten, paradoxe Denker und metaphysische Dogmatiker zugleich. Doch damit nicht genug (ebd.): „[...] their pretensions have always much exceeded their performance.“
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Shakespeare-Darstellung verblüfft; sie läßt sich ohne weiteres in die „Negative Capability“-Letter übersetzen. Doch Hazlitt treibt noch weiter, was Keats über Shakespeare äußerte.230 Nach Hazlitt war Shakespeare „nothing in himself, but he was all that others were, or that they could become.“231 Er sei anderen intuitiv gefolgt, habe sich in sie hineingefühlt, um ganz und gar ‚sie selbst‘ zu werden. Falls es im System von Hazlitt überhaupt eine Grenze zwischen Selbst und Anderem gibt, so fällt sie im poetischen Prozeß: durch die auf die Spitze getrieben „sympathy“ des Poeten mit seinem Gegenstand.232 Erst jetzt kann Keats’ Brief über den „camelion Poet“ ins Spiel kommen. Keats beschreibt, wie der Dichter sein Selbst im poetischen Prozeß ganz und gar aufgibt. Es bleibt nicht nur – wie in der „Negative Capability-Letter“ – bei einer distanzierten „sympathy“ oder bei einer Fähigkeit, sich anderes vorzustellen. Vielmehr ist hier tatsächlich der ‚Poet of no-self‘ am Werk, der sich – wie ein Chamäleon – verändern und an seine Umwelt anpassen kann. Der Begriff der Imitation, den Hazlitt für diesen Vorgang gebraucht,233 ist dafür zu schwach. Als innovativ erweist sich die Briefpoetik von Keats – mit ihren Anlehnungen an und mit ihren Radikalisierungen von Hazlitts – in erster Linie aufgrund ihrer produktionsästhetischen Überlegungen: Hier geht es weder um eine inspirierte noch um eine nachahmungspoetische Auffassung von Poet und Poesie. Hazlitt und Keats wählen statt dessen denselben sensualistischen Ausgangspunkt. Danach gilt Dichtung als gesteigerter Gefühlsausdruck. Der Dichter versetzt sich zu diesem Zweck bis zur Selbstaufgabe in seine Themen hinein. Dieses Einfühlen aber beschreiben Keats- und Hazlitt unterschiedlich. Am Beispiel von Shakespeare konzipiert Hazlitt einen permanenten Transformationsprozeß für den Poeten; am eigenen Beispiel stellt Keats demgegenüber eine physiologisch und – sofern der Einfluß Hazlitts zum Tragen kommt – moralphilosophisch geprägte Autorpoetik auf, die Hazlitts Darstellung noch steigert, aber nurmehr in Gegensatzpaaren formuliert. Denn Keats 230 Es ist unwahrscheinlich, daß Hazlitt den Brief von Keats kannte. Möglich wäre aber, daß sich beide vor der „Lecture“ über Shakespeare ausgetauscht haben. 231 Zit. n. Jackson Bate 1963, S. 261. 232 Einen Begriff von ‚sympathy‘ hatte Keats schon ‚vor Hazlitt‘, nämlich den stark formal beschreibenden der Physiologie und Anatomie; siehe Goellnicht 1984, S. 155 f. – Ich komme gleich darauf zurück. 233 Hazlitt: No. XXVIII. On Imitation, in: Hazlitt 1998, I, S. 75–79, hier S. 79: „Imitation interests then by exciting a more intense perception of truth, and calling out the powers of observation and comparison [...].“
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zufolge ‚füllt‘ der Poet (oder der Charakter ohne Charakter) immer neue Körper. Er ist alles und nichts, aktiv und passiv zugleich. Diese Unterschiede blieben in der Keats- und der Hazlitt-Forschung verborgen. Vielmehr legte man für beide ein enges Bündnis und ein gemeinsames poetologisches, ästhetisches und moralphilosophisches Programm dar, das sich bloß in unterschiedlichen Darbietungsformen äußere. Von Keats heißt es, er habe wesentliche poetologische Gedanken von Hazlitt empfangen – ungeachtet der Unterschiede. Die geistesgeschichtliche Keats-Forschung bemühte sich darüber hinaus, die Originalität und Wirkungsmächtigkeit der sensualistischen und selbstlosen Poetik zu erweisen. Im Rahmen ihrer Legende vom Zusammenhang der „poetry of sensation“ mit der psychologischen Ästhetik denkt sie im Muster der Antizipation,234 nämlich so, als hätten Hazlitt und Keats ihre Wissensbestände schon am Beginn des 19. Jahrhunderts vorweggenommen. Jackson Bate und Viebrock nennen zwei große Verbindungslinien, die von Hazlitt und von Keats’ Briefpoetik (nicht von seiner Lyrik) ihren Ausgang nehmen. Die erste setzt bei Hazlitts Essay on the Principles of Human Action ein und betrifft den Begriff der „sympathy“: His [Hazlitt’s] procedure was ingenious, and to some extent original. Moralists trying to disprove Hobbes had for fifty years or more been stressing the sympathetic potentialities of the imagination. Adam Smith’s influential Theory of Moral Sentiments (1759) is the best-known example. The interest spread to the critical theory of the arts; and well over a century before German psychology developed the theory of Einfühlung – for which the word ‚empathy‘ was later coined as a translation – English critical theory had anticipated many of the insights involved.235
Jackson Bate legt also nahe (und Viebrock folgt ihm darin), daß es einen Strang des Denkens gibt, der bei den Gegnern von Thomas Hobbes beginnt; Hobbes werde dort im Blick auf die sympathetischen Potentiale 234 Für die Beschreibung der Legende siehe die einleitenden Bemerkungen zu Abschnitt 3. dieses Kapitels. 235 Jackson Bate 1963, S. 256 [Hervorhebungen im Original]; er fährt – etwas melancholisch – fort: „It was the peculiar fate of many psychological discoveries of the English eighteenth century to be forgotten from the 1830’s until the hungry theorization of the German universities in the late nineteenth century led to a rediscovery and a more systematized and subjective interpretation.“ Vgl. auch Jackson Bate 1946, S. 131–147, S. 153–156. Jackson Bate nennt in diesem Zusammenhang Hermann Lotze, Wilhelm Wundt und Theodor Lipps („Ästhetik“, 1903/1906); Viebrock nimmt diese Hinweise auf (1977, S. 100).
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der Einbildungskraft widerlegt. Jene ‚kritische Theorie der Künste‘ (Hazlitt, Keats), die sich an diese anti-hobbesianische Morallehre anschloß, habe Einsichten der deutschen Einfühlungsästhetik (Hermann Lotze, Theodor Lipps, Wilhelm Wundt) vorformuliert (historisch-genetische Variante der Legende).236 Annette Simonis ergänzt in einer zweiten Variante der Legende, nämlich in einem Aufsatz über die England-Rezeption von Hugo von Hofmannsthal vorsichtiger (unter Verzicht auf einen historisch-generischen Zusammenhang und im Sinne einer analogischen Variante der Legende), die emphatische Dichtungslehre von Keats, auf die sich Hofmannsthal konzentriere, habe im deutschen Sprachraum bei aller bleibenden Differenz ein bekanntes Pendant in der Philosophie Ernst Machs gefunden, bei dem Hofmannsthal seit 1895 Vorlesungen besuchte. In seiner „Analyse der Empfindungen“ (1886) hatte Mach den ‚Gegensatz zwischen Ich und Welt, Empfindung oder Erscheinung und Ding‘ grundlegend in Frage gestellt, was ähnlich wie bei dem Romantiker John Keats zu einer tiefgreifenden Veränderung jener traditionellen Konzeption eines individuellen und autonomen Selbst führte.237
Danach soll sich Machs (1838–1916) Analyse der Empfindungen als Gegenstück zu Vorstellungen des Selbst erweisen, wie Keats sie vertreten habe. Im Blick auf einen anderen Strang, nämlich im Blick auf denjenigen des ‚irrationalistischen‘ Denkens entdeckt Jackson Bate darüber hinaus Verbindungen zwischen Keats und dem französischen Philosophen Henri Bergson (1859–1941), der George für seine ästhetische Leitidee des Werdens ein Dorn im Auge,238 für Rilke aber ein wichtiger Gesprächspartner war.239 Jeder dieser Versuche, Hazlitt und Keats mit der Moderne in Beziehung zu setzen, ist für sich genommen reizvoll, aber nicht unproblema236 Bromwich nimmt diesen Gedanken vorsichtig wieder auf; ders. 1983, S. 375 [Hervorhebung im Original]: „But this sounds like what English critics have sometimes called ‚empathy‘ – translating the German Einfühlung – and I need to say why it is closer to what Hazlitt all along had been calling ‚sympathy‘. Empathy is the process by which a mind so projects itselfs into its object that a transfer of qualities seems to take place. Keats, on the other hand, was looking for a capability of so heightening the imagination’s response to anything that the identities of both the mind and the object would grow more vivid [...].“ 237 Simonis 1995, S. 294. 238 Ernst Osterkamp zeigte, daß Gundolf Bergsons Leitbegriff so wegweisend fand, daß er dafür einen Konflikt mit George riskierte, für den der Künstler nicht erst ‚wurde‘, sondern als eine „Gestalt“ zeitlos und absolut war; Osterkamp 2000, S. 167. 239 Jackson Bates Bemühungen betreffen die Unterscheidung von Intellekt und Instinkt; ders. 1939, passim.
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tisch. Großzügige Genealogien und Parallelen wie diese sind oft von einem heftigen geisteswissenschaftlichen Willen zur Synthese getrieben – und erweisen sich bei näherer Betrachtung nicht als ergiebig. Außerdem haben sie mit dem methodischen Problem zu kämpfen, daß sie ihren Gegenstand, die Poetik, Ästhetik und Morallehre à la Keats und Hazlitt, nur umrißhaft zeichnen können, weil sie ihn in ein großes geistiges Tableau einfügen wollen. Wie weit kann man diese Genealogien und Parallelen im Fall der Beziehung von Hazlitt und Keats mit Gewinn treiben? Jackson Bate, Viebrock und Simonis zielen – übrigens ohne es auszusprechen – auf jene zunächst moralische und später psychologische Tradition des Denkens, deren Kern die Begriffe ‚sensation‘, ‚sympathy‘, ‚Einfühlung‘ und ‚Empathy‘ darstellen, und die hier als Sensualismus bezeichnet wurde.240 Gegen die Art und Weise, wie sie den Zusammenhang zwischen Hazlitt, Keats und der psychologischen Ästhetik (ab ca. 1870) beschreiben,241 läßt sich aber gleich zweierlei einwenden: erstens gerät das moralphilosophische Beweisziel Hazlitts im Laufe des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit. Das alte naturrechtliche und moralphilosophische System trägt nicht mehr; mit ihm fallen die Kontexte fort, von denen Hazlitt ausgeht (Anti-Hobbesianismus, Anti-Machiavellismus, Kritik an Hume und Smith). Zweitens beziehen sich psychologische Ästhetiken des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht auf Hazlitt, sondern – wenn überhaupt – auf Hume. Denn Hume ist es, der jene erkenntnistheoretischen Voraussetzungen über das Ich und das Assoziationsprinzip formuliert, auf die sich Psychologen wie Theodor Lipps (1851–1914)242 und Edward Bradford Titchener (1867–1927),243 ein amerikanischer Schüler Wilhelm Wundts,244 stützen. Eine historische Ver240 Der Begriff dient nur der sehr vorläufigen Verständigung – zumal er in der Psychologie negativ besetzt war; vgl. Wundt 1862, S. 92. 241 Über die psychologische Ästhetik Allesch 1987; Fick 1993, S.33–44; Braungart 1995, S. 192–216; siehe auch (mehr über die Psychologie als über die Ästhetik) Borgard 1999; Heidelberger 1993. 242 Lipps übersetzte Humes „Treatise“ im Jahr 1894, also vor der Verfertigung seiner eigenen Ästhetik. Er will dem deutschen Leser damit vor allem dessen Gedanken über das Assoziationsprinzip nahebringen. Aus diesem Grund stellt er die eigene Übersetzung ganz in den Dienst des Originals. Es soll „verständlich eben das wiedergeben, was Hume sagt und sagen will.“ Theodor Lipps: Vorwort zur Übersetzung, in: Hume 1904, S.V. 243 Vgl. die kritische Würdigung Wundts durch Titchener 1926, S. 313 f. 244 Wundt selbst sieht in Hume zwar den scharfsinnigen Begründer des englischen, ganz und gar empirischen und anti-metaphysischen „Psychologismus“ (Wundt 1921,
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bindung von Hazlitt und Keats zur psychologischen Ästhetik liegt also nicht vor; die Legende vom Zusammenhang beider ist insofern falsch. Im Blick auf die Begriffe der ‚sympathy‘, der ‚Einfühlung‘ und der ‚Empathy‘ muß die Antwort auf die Frage nach einem Zusammenhang jedoch differenzierter ausfallen. Dabei ist scharf in jene Begriffe zu unterscheiden, die sich einerseits mit Hazlitt, andererseits mit Keats verbinden lassen. Hazlitt spricht von einer reflexiven Imagination, von einer „imaginary sympathy“, die es dem Menschen ermöglicht, sich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen. Danach überträgt jedes Individuum die eigenen Erlebnisse auf den anderen; seine Einbildungskraft nimmt vorweg, was es selbst noch nicht erlebte. Keats kennt diesen Begriff der „sympathy“, macht sich aber auch mit einem anderen, nämlich wiederum mit einem physiologischen ‚sympathy‘-Begriff vertraut: Sympathy. By this Vital Principle is chiefly supported [sic]. The function of breathing is a sympathetic action – from irritation produced on the beginning of [e] [y] Air Tube affects [e] [y] abdominal Muscles and produces coughing. Sneezing is an instance of complicated sympathy.245
Keats’ Mitschrift bleibt fragmentarisch, zeigt aber, daß „sympathy“ hier im wesentlichen als körperliche Handlung verstanden wird, die quasi-mechanisch erfolgt. Die psychologischen Ästhetiken des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts aber nennen mindestens zwei unterschiedliche Begriffe von ‚sympathy‘, nämlich „Einfühlung“ einerseits und „empathy“ andererseits. Gustav Theodor Fechner, der unter dem Pseudonym „Dr. Mises“ naive Naturlyrik schrieb und die „Poesie der Poesie“ in einer Weise kritisierte, daß selbst Strauß diese Kritik anziehend fand,246 propagiert in seiner Vorschule der Aesthetik (1876) eine Ästhetik „von Unten“, nämlich eine empirische Ästhetik nach dem Vorbild der EngS. 50), beurteilt dessen philosophische Leistungen und seine Wirkung jedoch distanziert. Zwar habe Hume den „psychische[n] Mechanismus der Assoziation“ erschlossen, der alle Erfahrungsinhalte verknüpft (ebd., S.51 f.). Aber er habe sich – typisch englisch – nur für die praktischen Konsequenzen dieses Mechanismus’ interessiert und sei an der Moralphilosophie gescheitert. Wie Shaftesbury habe Hume den zwingenden Charakter sittlicher Normen nicht ableiten können (ebd., S.54). – Hazlitt versuchte, diesen Mangel zu beheben, aber Wundt ist Hazlitts „Essay“ gänzlich entgangen. Wundt hat – mit Blick auf Hazlitt – Unrecht, wenn er das gesamte englischen Denken des 19. Jahrhunderts durch Jeremy Bentham und den Utilitarismus dominiert sieht. 245 Keats 1934, S. 56 f. [Ms., S. 9]. 246 Siehe Kapitel III. 3. dieser Untersuchung.
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länder (namentlich von Hutcheson, William Hogarth und Edmund Burke). Er wendet sich gegen die idealistische (deutsche) Tradition einer Ästhetik „von Oben“247 und schreibt den Bruch mit dem Idealismus fest.248 Dafür kann er sich aber auch auf deutsche Vorläufer stützen, vor allem auf Friedrich Theodor Vischer und dessen Sohn Robert sowie auf Rudolf Hermann Lotze.249 Lotze war es, der in seinem Mikrokosmus (1856–1864) erstmals von „Einfühlung“ sprach. Ihm folgte Lipps, der den Begriff schon in seiner Raumästhetik (1893) ausführlich diskutiert, Edmund Burkes Begriff der „sympathy“ als Vorläufer-Konzept nennt und diese Diskussion in seiner Ästhetik (1903/1906) forsetzt. ‚Einfühlung‘ meint – nach Lipps – die emotionale Teilnahme an der „Persönlichkeit“ des „Wahrgenommenen“,250 wobei „positive“ („sympathetische“) und „negative“ Einfühlung voneinander zu unterscheiden sind.251 Lipps’ Begriff der ‚sympathetischen Einfühlung‘ erweist sich aber gerade nicht als quasi-mechanisch (wie der physiologische Begriff von Keats), sondern als ein Prozeßbegriff. Dem Psychologen und Ästhetiker geht es um die Einfühlung in den anderen, um ästhetische Interaktion – und nicht um den Nachweis, daß der Mensch prinzipiell ‚sympathetisch‘ angelegt, also gut sei (das Beweisziel Hazlitts). Der britischen Moralphilosophie entnimmt Lipps demnach zwar den Begriff;252 er reserviert ihn aber bloß für einen Aspekt von Einfühlung, gesellt ihm ein negatives Gegenstück bei, verzichtet ganz auf eine moralische Deutung, zerlegt Empfindungen und Assoziationen des Menschen vielmehr. Es wäre demzufolge historisch unangemessen, wie Jackson Bate und Viebrock eine direkte generische Linie von Keats über Hazlitt zur deutschen Einfühlungsästhetik zu ziehen.253 Der ganzheitlich-morali247 Fechner 1876, S. 3. 248 Ebd., S. 93–96. Hauptprinzip von Fechners ‚empirischen Ästhetik‘ ist das Humesche Prinzip der „Association“, wonach erinnerte Eindrücke auf neue Dinge übertragen werden. 249 Über die beiden Vischers als ‚Vorläufer‘ der Einfühlungsästhetik siehe Abschnitt III. 3. dieser Untersuchung. 250 Lipps 1914/1920, I, S. 132 [Hervorhebung im Original]. 251 Ebd., S. 139 f.: „Sympathie nur ein anderes Wort für Einfühlung, aber nur für die ‚positive‘ Einfühlung [...].“ D. h. es gibt auch „negative“ Einfühlung, eine negative Tendenz gegen das, was der andere tut, sagt oder denkt. 252 Über die begrifflichen Differenzierungen zusammenfassend Titchener 1926, S. 185– 193. 253 Der Einwand gegen den historisch-generischen Bezug trifft auch Jackson Bates Vergleich von Hazlitt und Keats mit Vernon Lee (d. i. Violet Paget, 1856–1935) zu. Lee
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V. Vielfalt und Wandel der Orientierungen: Reflexion der Reflexion
sche und physiologisch fundierte Typus der Poesie-Reflexion des frühen (britischen) 19. Jahrhunderts entspricht dem analytisch-empirischen Typus der Reflexion über Ästhetik im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nicht mehr. Auch die Vorstellung von einer Analogie oder einer historisch versetzten Parallele von „poetry of sensation“ und psychologischer Ästhetik geht zu weit. Gleichwohl sind sie nicht nur thematisch verwandt. Autoren um 1900 verbinden nämlich beides: moralphilosophisch und physiologisch inspirierte Poetik sowie psychologische Ästhetik. Beide werden ihnen ganz ahistorisch zu Gesprächspartnern. Zu diesem Zweck allerdings übertragen Autoren Erklärungsmuster der psychologischen Ästhetik und ihrer populären Darbietungen auf die angesprochenen Poetiken des frühen 19. Jahrhunderts: Schon Lotze wurde nämlich von den Autoren selbst gelesen, von Paul Heyse beispielsweise.254 Lipps erlangt spätestens durch Wilhelm Worringers populäre Ästhetik Abstraktion und Einfühlung (1908) Bekanntheit, und Rilke hörte Vorlesungen bei Lipps.255 Auch knüpft die beginnende wissenschaftliche Poetik – Carl du Prels Psychologie der Lyrik (1880), Heinrich Viehoffs Die Poetik auf der Grundlage der Erfahrungseelenlehre (1888) und Richard Maria Werners Lyrik und Lyriker (1890) – unmittelbar an die psychologische Ästhetik von Wundt und Lipps an, um die Poetik auf eine einfühlungsästhetische Grundlage zu stellen.256 Die Wirkung der
gebraucht den Begriff der „empathy“ in ihrem Cambridge Manual „The Beautiful“ (1913), und zwar für eine enge „collaboration“ von Betrachter und Objekt. Es geht ihr um einen beiderseitigen und aktiven Prozeß. – Vergleichbares läßt sich für Jackson Bates Keats-Beschreibungen vor dem Hintergrund von Henri Bergson „L’Évolution Créatrice“ (1908) sagen (Jackson Bate 1939, S. 15 u. 44). Bergson übersetzt „sympathy“ mit „instinct“ (ders. 1908, S. 191). Ihm geht es damit um eine ‚Ehrenrettung‘ des Instinkts gegen Evolutionstheorien lamarckistischer und darwinscher Prägung, die den Instinkt bloß als ‚gefallene Intelligenz‘ („intelligence tombée“) oder als mechanistisches Prinzip betrachten (ebd.). – Es wäre reizvoll, zu fragen, ob Rilke, der mit Bergson vertraut war, auch seine Instinkttheorie kannte. Über Bergson siehe auch Vietta u. Kemper 1994, S. 270 f. 254 Heyse an Mörike, München, 24.10.1859, in: Heyse u. Mörike 1997, S. 38–40, hier S. 40. Im Gegenzug zu Heyses Lektüre liest und empfiehlt Mörike Heyse Eduard Hartmanns Philosophie des Unbewußten, nämlich „Speculative Resultate nach inductiv naturwissenschaftlicher Methode“ (1869). Mörike an Heyse, Nürtingen, 20.6.1870, in: Heyse u. Mörike 1997, S. 49–51, hier S. 51. Zum weiteren Kontext der Ästhetik-Rezeption im Blick auf Monismus und Neu-Kantianismus Storim 2002. 255 Worringer 1911, S. 147: „Kunst ist für uns nichts mehr und nichts weniger als ‚objektivierter Selbstgenuss‘ (Lipps).“ Über Worringers Lipps-Rezeption Engel 1986, S. 190 f.; über Rilkes Lipps-Rezeption Fick 1993, S. 187.
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Einfühlungsästhetik auf die Lyrik um 1900 bleibt überhaupt noch zu 256 klären. In seiner Analyse der Empfindungen erläutert Mach über die Einfühlungsästhetik hinaus, was um 1900 breit wirkte: (mit Richard Avenarius) den Empiriokritizismus. Er umfaßt zwei Aspekte: einen „sensualistische[n] Monismus“,257 der ausschließlich „Elemente“ (Empfindungen) und „Elementenkomplexe“ (Empfindungskomplexe) als gegeben annimmt.258 Daraus folgt, daß es keine Kluft zwischen Innen und Außen mehr gibt, daß das Ich als Einheit ‚unrettbar‘ ist. Es bleibt eine „ideelle denkökonomische“ Fiktion.259 Machs zweite Annahme wirkt seit Hume kaum mehr revolutionär, aber Hazlitt geht dahinter zurück, und Keats Position bleibt hier unklar. Die Radikalität der Elementenlehre Machs, vor allem der Umstand, daß er Körper erst als durch Elementenkomplexe gebildet sieht – all das war am Beginn des 19. Jahrhunderts undenkbar. Für Kassner gehört die popularisierte Lehre Machs demgegenüber zum Wissensbestand der Zeit, und er wendet sie auf Keats an: Dieser gerät ihm zum Dichter ohne Selbst, zum ‚entgrenzten‘ und unrettbaren 256 Viehoff 1888, I., § 1., S. 3: „Die Poetik oder Lehre von der Dichtkunst ist ein Teil der Ästhetik oder Lehre vom Schönen; diese ist wieder ein Teil der empirischen Psychologie oder Erfahrungsseelenlehre. Es ist daher, um eine klare Einsicht in das Wesen und die Aufgabe der Dichtkunst zu gewinnen, zunächst ratsam, auf die Erfahrungsseelenlehre zurückzugehen.“ – Es steht überhaupt noch aus, die Poetiken des 19. Jahrhunderts zu erschließen. Gerade die Poetiken, die sich den Innovationen der Psychologie annehmen, könnten Erkenntnisse über eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychologen, Ästhetikern und Philologen im ausgehenden 19. Jahrhundert vermitteln. Blickt man auf du Prel, Viehoff und Werner, dann läßt sich zeigen, daß ein solches Zusammenspiel weitere Kreise zog, als – mit Blick auf Wilhelm Bölsche und den Monismus – gedacht. Spannend wäre es vor allem, für Viehoff und Werner, für die poetologischen Beiträge aus den frühen Jahrgängen der „Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft“ von Max Dessoir (1906 ff.), die Reihe „Beiträge zur Ästhetik“ (hg. v. Lipps u. Werner) ebenso wie für die Poetiken von Biese 1889, Bruchmann 1898, Büchler 1908, Müller-Freienfels 1914 und Schwinger 1935 nach der historischen Tragfähigkeit eines psychologischen ‚Paradigmas‘ zu fragen. Im Ergebnis ließe sich eine breite Rezeption psychologischer Ästhetik durch Philologen und Populärwissenschaftler ermitteln, die sogar in die Literatur einwanderte und damit gängige Thesen von einer um 1900 schon quasi-unaufhebbaren Differenzierung in eine ungelehrte und außerwissenschaftliche literarische Szene sowie in eine literatur-ferne Philologie als zweifelhaft erscheinen läßt. – Diesen Fragestellungen sollte das Projekt, dem diese Untersuchung entstammt, im Rahmen weiterer Teilprojekte nachgehen (wie Anm. I., 61). 257 Spörl 1997, S. 66. 258 Mach 1922, S. 23. 259 Ebd., S. 19.
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Ich, das sich nurmehr poetisch über sich und die Welt äußert. In Keats erfindet sich Kassner einen Empiriokritizisten vor dem Empiriokritzismus; vermittelt durch Keats’ ‚perverse‘ Poetik wendet er sich auch gegen Mach: gegen eine ‚perverse‘ monistische Erkenntnis- und Dichtungslehre. Rilke hingegen kann Kassners Keats mehr abgewinnen. Der Lyriker sympathisiert mit den ‚perversen‘ Reflexionen (der populären Einfühlungsästhetik): mit dem ‚unrettbaren‘, sinnlichen und passiven Dichter-Selbst (das aber bei Keats durchaus aktiv ist).260 Rilke mystifiziert die trivial gewordene Sinnen-Welt im Bild von Keats, umgibt sie mit einem poetologischen Heiligenschein und sucht, sie an sich selbst nachzuahmen. Mit ihrer entschlossenen Parallelführung von Mach und dem Keats der Briefe verschenkt Simonis diese Pointen und Möglichkeiten, die variantenreichen ‚sensualistischen‘ Poetiken und ihre Rezeptionen um 1900 angemessen zu verstehen: Die psychologische Ästhetik und ihre populären Varianten prägen nämlich die Keats-Renaissance um 1900 vor. Reflexion der Reflexion, oder besser: Selbstreflexion der Reflexion gestaltet sich in Rilkes Gedichten über Keats aber bereits als ‚poietische‘ Reflexion, als frei gestaltende Neu-Schöpfung dessen, was als ursprünglicher Gegenstand begriffen wurde. Die Poesie und ihr Autor werden auf diese Weise zu weltlichen Kultgegenständen.261 Rilkes Sonette an Orpheus überführen diesen Kult in einen mystischen Kosmos, in dem die Gegensätze von Tod und Leben, von Kunst und Wirklichkeit aufgehoben sind. Diese Selbstentäußerung des Poeten kennt jene Grenzen nicht mehr, die sich der Keats der Oden vergegenwärtigte. Vielmehr setzen Rilkes Sonette an Orpheus den passiven Poeten einer ‚ozeanischen‘ Welt von Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit aus. Um die ‚unio mystica‘ zum Dauerzustand zu erheben, speisen auch sie sich aus den populären Wissensbeständen der Zeit, vor allem aus der lebensreformerischen Bewegung. 260 Dazu passen übrigens auch Bergsons Ansichten über die Auflösung von Grenzen, die Jackson Bate (1939, S. 15 u. 44) – wiederum irrtümlicherweise mit historisch-generischem Anspruch – mit Keats in Verbindung brachte (siehe Anm.V., 254). Bergson 1912, S. 192: „C’est cette intention [de la vie] que l’artiste vis à ressaisir en se replaçant à l’intérieur de l’objet par une espèce de sympathie, en abaissant, par un effort d’intuition, la barriere que l’espace interpose entre lui et le modèle.“ Über Rilkes Neigungen zum Monismus bereits Fick 1993, S. 183–223; mit Blick auf den Sensualismus im Werke Rilkes Pasewalk 2002. 261 Petra Küchler-Sakellariou (1991) beschreibt das Erbe romantischer Poetik um 1900 in vergleichbarer Weise. Sie konzentriert sich allerdings auf den Aspekt der Selbstreflexion; in ihm erblickt sie das ‚Signum‘ der neuen Epoche.
VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus (1922): kosmogonische Poetik. ‚Poietische‘ Reflexion Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlung prunkt; jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt. Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte; wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau’s? Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte. Wehe –: abwesender Hammer holt aus!1
Die beiden Quartette von Wolle die Wandlung [...] aus dem zweiten Teil der Sonette geben Thema und Struktur des Gesamttexts vor: die ‚Metamorphose‘, verstanden als Daseinsmodus von Welt schlechthin, aber auch – und darauf kommt es hier an – als poetologische Weisung. Nicht ohne Grund wählt Rilke gleich eingangs die Befehlsform. Rilkes Sprecher setzt sich an dieser und an anderen Stellen für die Wandlung als Wahrnehmungs-, Deutungs- und Darstellungsmuster ein: kein Begriff, der sich nicht nach und nach umdeutete, kein Bild, das sich nicht veränderte, um ein anderes zu werden. Vor dem Hintergrund der Wandlungsthematik nennt die erste Strophe auch ganz wesentliche Motive des Gesamttexts: das ‚sich entziehende Ding‘, das von Anwesenheit in Abwesenheit übergeht, den „entwerfende[n] Geist“ oder das schöpferische Moment, das „in dem Schwung der Figur nichts wie den werdenden Punkt“ (den Umschlag zum Neuen) „liebt“.2 Die zweite Strophe verstärkt die erste, allerdings in bedrohlicher Weise: Wer sich der Wandlung entgegenstellt, den überholt das Kommende, das noch Abwesende, und zwar mit aller 1 Rilke: Die Sonette an Orpheus, in: Rilke 1996, II, Teil II, S. 237–272, hier S. 263, Son. XII, Str. 1 f. [Hervorhebung im Original]. 2 Vgl. ebd., Kommentar, S. 753.
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VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
‚Härte‘. Rilkes Sprecher fordert, im Fluß zu bleiben, sich dem Wandel der Dinge nicht zu verschließen, sondern ihn ‚hörend‘, ‚sehend‘, ‚schmeckend‘, ‚tanzend‘, ‚singend‘ und ‚dichtend‘ aufzunehmen und kreativ mitzugestalten – ohne einen festen eigenen Standpunkt, ohne Moral, aber ganz unschuldig und ‚rein‘.3 Es handelt sich um Akte einer ‚poietischen‘ Reflexion,4 die nicht einfach bestehende Gegensätze vereinen will, sondern sich unaufhörlich selbst neu finden und erfinden muß.5 Die Sonette – und besonders dieses Sonett – schreiben damit einen Modus permanenter Neuschöpfung vor. Er setzt die Kategorien von Raum und Zeit außer Kraft, erhebt die Entgrenzung des Ich in einem unendlichen ‚poietischen‘ Universum zur poetologischen Norm. Dieser normative Aspekt ist der Forschung zu Rilkes Sonetten bislang entgangen.6 Sie erkannte in der Orpheus-Figur das Zusammenhang stiftende Prinzip des Texts, führte Rilkes Orpheus-Bild – unter Vorbehalt – auf die Antike,7 besonders auf die Metamorphosen des 3 Rilke wandte sich entschlossen – und mit Sigmund Freud – gegen jede moralische Bewertung menschlichen Zusammenlebens, wie Elisabeth Gundolf berichtet: „[...] er lehnte es grundsätzlich ab, die Begriffe der Schuld, des Bösen oder der Sünde anzuerkennen. In seinen Erörterungen darüber führte er aus: diese seine Überzeugungen von dem Irrtum einer Vorstellung menschlicher Sünden sei durch die Lehre von Sigmund Freud auch wissenschaftlich begründet.“ E. Gundolf 1965, S. 39. 4 Die Begriffe ‚poietisch‘ und poetisch-reflexiv gehören bereits zum bewährten Deutungsbestand der Rilke-Forschung. Ulrich Fülleborn spricht von einer „eigenmächtigen ‚poietischen‘ Verarbeitung“ der biblischen Texte; ders. 1999, S. 20. Winfried Eckel (1994) bezeichnet das Gedicht-Konzept Rilkes generell als „poetisch-reflexiv“, als selbstreferentiell auf sich und seine Vorstufen verweisend, die es prozessual weiterentwickelt. Auf die Debatte über das prinzipiell Selbstreferentielle in Rilkes Dichtung will ich mich hier nicht einlassen (siehe dazu die Einleitung zu dieser Untersuchung), sondern die Darstellung – mit Fülleborn – auf die produktive Spiegelung und Bearbeitung eigener sowie fremder Texte und Bilder konzentrieren. Der Begriff der ‚poietischen Reflexion‘ wird in diesem Sinne als eigensinniges Neu-Erschaffen gedeutet, das seinen Anlaß im eigenen oder fremden Text, in Bildern oder in Skulpturen findet. 5 Vgl. Fülleborn 1999, S. 28. 6 Rehm bemerkte zwar, daß es Rilke mit dem orphischen Gesang um ‚Handfestes‘ gehe, nämlich um den „Nomos“ des Orpheus (Rehm 1972, S. 518 u. 520), aber er überführte diese Beobachtung nicht in eine Interpretation, sondern huldigte dem dunklen Gesang. Jochen Schmidt (2003) hingegen ging weiter; er erblickte in den „Sonetten“ einen Versuch „esoterischer Sinnstiftung“. 7 Ein Vorbehalt ist dabei schon topisch, nämlich der Hinweis auf Rilkes geringe Kenntnisse der alten Sprachen und Texte. Er entstammt dem – für Rilkes AntikeVerständnis grundlegenden – Beitrag von Ernst Zinn 1948, S. 214 f. Siehe auch Mielert 1940, S. 61.
VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
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Ovid zurück,8 fragte kritisch, ob Rilkes Orpheus-Adaptation eine ‚neue Mythologie‘ begründe9 und feierte Rilkes neuen Orpheus-Mythos.10 Annette Gerok-Reiter, die die umfangreichste Interpretation der Sonette vorlegte, arbeitete ihre ‚metamorphotische‘ Struktur heraus, beschrieb die Sonette als formal hochreflexive Dichtung und fügte ihre Poetik von „Wink und Wandlung“ in die Darstellungstraditionen des französischen Symbolismus ein.11 Sofern Fragen der zyklischen Ordnung und der Formanalyse betroffen sind, will ich mich auf diese Untersuchung stützen, der ich auf diesen Ebenen nichts Nennenswertes hinzuzufügen habe. Anders verhält es sich mit der poetik- und denkgeschichtlichen Einordnung der Sonette. Selbst eine so reflektierte Untersuchung wie diejenige von Gerok-Reiter läßt es in zweierlei Hinsicht an kritischer Distanz fehlen: erstens ‚glaubt‘ sie die oft beschworenen brieflichen Darstellungen Rilkes über die plötzliche und fremdveranlaßte Entstehung des Texts.12 Bedenkt man die sorgsame Arbeit an seiner komplexen formalen Gestalt, so bedarf Rilkes Poetik der Inspiration – nach GerokReiter – gleichwohl eines Korrektivs; sie findet es im „Formbewußtsein“ des Dichters.13 Rilkes emphatische Selbstdarstellungen aber sind schon in sich widersprüchlich und weisen nur einen vagen gemeinsamen Kern auf. Es ist deshalb nicht erforderlich, einen so großen Keil 8 Zinn wies darauf hin, daß Baladine Klossowska Rilke zu Weihnachten 1920 eine französisch-deutsche Übersetzung der „Metamorphosen“ schenkte; Rilke 1974, S. 151; über die Diskrepanz der „Sonette“ und der „Metamorphosen“ Tschiedel 1987, S. 193 f. Tschiedel zeigte, daß Rilke die Bilder der Gattenliebe und der Wanderung ins Totenreich zu symbolhaften Ausdrücken für den Wandel im „Zwischenreich“ umgestaltete und Orpheus auf diese Weise nicht länger als „Sagengestalt“, sondern als „Symbolgestalt“ betrachtete. 9 Gerok-Reiter 1996, S. 57 f.; S. 63–66. 10 An quellenkritischer Distanz mangelt es selbst der formanalytischen Rilke-Forschung, wenn sich die Orpheus-Begeisterung auch vor allem in geisteswissenschaftlichen Interpretationen vom Typus derjenigen Rehms offenbarte; vgl. Rehm 1972, S. 512–521. 11 Gerok-Reiter 1996, S. 179; vgl. Engel 1999, S. 129. Ernst Leisi erläuterte schon zuvor, daß diese Metamorphosen von Begriff und Bild zumeist auf dem rhetorischen Verfahren der Anadiplose aufruhen, auf der Wiederholung des letzten Gliedes einer Wortgruppe am Anfang der nächsten; Leisi 1987, S.176–179. Thomas Krämer (1999) ging den Bezügen und Wandlungen im Detail nach. 12 Für „Elegien“ als eine Option Engel 1986, S. 186 u. passim; für die „Sonette“ strikter in der Zuweisung Gerok-Reiter 1996, S. 15 f., mit kritischem Verweis auf die Inspirationspoetik J. Schmidt 2003, S. 240. 13 Ebd., S. 17.
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VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
zwischen die Inspirations- und die Formpoetik zu treiben, wie GerokReiter es versucht. Die Rilke-Forschung hat es bislang bloß versäumt, die Widersprüche in Rilkes Selbstbeschreibungen zu ermitteln, nach der Funktion der Selbstbeschreibungen zu fragen und die Inspirationspoetik der Briefe mit der Formpoetik der Sonette zu vermitteln. Dieses Versäumnis soll im folgenden nachgeholt werden, um den textsystematischen Stellenwert von Rilkes poetologischen Aussagen für die Sonette herauszufinden (1. Teil). Zweitens prüft Gerok-Reiter Rilkes Text an den Vorgaben der „poésie pure“ und läßt hier – anders als beispielsweise für Rilkes Antike-Bezug, den sie als bloß subjektiv kennzeichnet – keine Abweichungen gelten. Rilke erweist sich danach als später Vertreter jener strengen symbolistischen Formpoetik, wie sie von Baudelaire, Mallarmé und Valéry entwickelt wird.14 So richtig diese Einordnung im Blick auf die literarische Tradition ist, so entgehen Gerok-Reiter aber die denkgeschichtlichen Hintergründe von Rilkes Poetik, die den Bezug auf diese literarische Tradition in den Hintergrund treten lassen. Gemeint sind die Irrungen und Wirrungen einer reich wuchernden zivilisationskritischen, weltanschaulichen und populärwissenschaftlichen Literatur der Lebensreform um 1900.15 Vermittelt über Vorträge, Gespräche, Briefe oder Bücher schlagen sich ihre Überzeugungen und Entwürfe in Rilkes Antike-Rezeption nieder. Von weltanschaulichen Überlegungen – weniger ‚von der Antike selbst‘ – läßt sich Rilke bei seiner Neu-Schöpfung des Orpheus-Mythos leiten.16 Denn Rilke nutzt den Mythos zwar als wesentliche Bild- und Themenquelle, sieht ihn aber durch die Brille von Schriften und Vorträgen, die nur u. a. – 14 Siehe Kap.V. 3. 15 Über Begriff und Bewegung der Lebensreform die Beiträge in: Buchholz, Latocha, Peckmann u. Woblert 2001; es geht hier – nimmt man Kassner aus – ausnahmslos um solche Texte, die der hybriden und unkritischen lebensideologischen Moderne entstammen; dazu Lindner 1994; Kindt u. Müller 2003. Siegfried Mandel gibt einen ersten Einblick in Rilkes Wahrnehmung dieser Literatur; Mandel 1982; Johann J.S. Aulich (1998) bemüht sich um Übersicht, doch gelingt es ihr nicht, die fraglichen Texte zu erschließen. Ihre Studie über die „orphische Weltanschauung“ gleitet in eine Wertung der Autormeinungen aus der Perspektive eines vermeintlich historischen Orpheus ab (ebd., S. 162 f.). Fortschritte erzielt erst J. Schmidt 2003, der sich ausdrücklich auf die Lebensphilosophie bezieht (ebd., S.227 f.). – Für die Definition und Korpus der Weltliteratur: Thomé 2002; siehe auch Beßlich 2000. 16 Dieser Untersuchung geht es gleichwohl nicht um eine weltanschauliche Deutung der „Sonette“, sondern um eine poetologische Interpretation ihrer Poetik im Blick auf den Kontext der populären zeitgenössischen Schriften. Manfred Engel kritisiert solche Deutungen zu Recht; ders. 1999, S. 128.
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und das sehr eigensinnig und tendenziös – auf die orphischen Mysterien und auf Orpheus anspielen. Diese Bezüge werden hier herausgearbeitet, um den denk- und poetik-geschichtlichen Ort der Sonette zu bestimmen (2. Teil).17 Rilke läßt sich vom französischen Symbolismus anregen, führt ihn aber, so wird sich zeigen, durch die Darstellung einer lebensreformerischen Kosmogonie weiter, durch eine mythische Lehre über die Entstehung von Welt im allgemeinen, von Poesie im besonderen (3. Teil). Diese kosmogonische Poetik inszeniert Inspiration sorgsam, setzt auf ‚Poiesis‘: auf das permanente Neuschaffen von Ich, Welt und Text, das Rilkes Sprecher im lyrischen Text zur Maxime des Daseins erhebt – eines Daseins, das nicht mehr zwischen Leben und Tod, Ich und Nicht-Ich trennt, das das ‚principium individuationis‘ aufgibt, um sich einer innerweltlichen ‚unio mystica‘ alles Lebendigen zu überantworten. In den Sonetten, so meine These, führt Rilke eine Poetik vor, die mit dem Normativen spielt: erstens legt Rilke die Sonette zwar auf eine Strophenform fest, wählt – mit Hilfe von Enjambement usw. – aber gerade deren Durchlässigkeit zum Prinzip, löst die strenge Sonett-Form auf. Er reflektiert die Form, zerlegt sie in ihre grammatikalischen und rhetorischen Strukturen, um diese zu einem musikalischen und harmonischen Gebilde zusammenzufügen, das ‚Wandlung‘ veranschaulicht. Vergleichbares gilt – zweitens – für die moralisch-amoralischen Inhalte des Texts. Die Sonette verkünden, nimmt man ihre denkgeschichtliche Kontextualisierung ernst, eine Lehre: keine christliche oder moralische allerdings, sondern eine heterodoxe, überindividuelle, kosmogonische, die auf permanente Neu-Schöpfung zielt und in ‚poietischer‘ Reflexion aufgeht. Von den Quellentexten, auf die sich diese Reflexion bezieht, bleibt dabei nicht mehr als eine eigenwillige, bildhafte und emphatische Umformung übrig. Denn die Sonette überführen Reflexion in ‚Poiesis‘. Rilke tilgt die Ursprünge und die reflexiven Aspekte seiner Poesie, um
17 Schon Katharina Kippenberg stellt heraus, daß Grundmomente der Orphik Rilkes Auffassungen widersprechen und daß er die Figur des Orpheus aus ihrem Kontext herauslöse, um sie für die eigenen „Ideen und Hoffnungen“ zu gewinnen; Kippenberg 1946, S. 117: „Die Meinung der Orphiker, daß die Seele in ihrem Körper einem Gefangenen in seinem Kerker gleiche, daß sie zur Buße einer Schuld in den Leib gebannt werde, widerspricht ebensosehr den Anschauungen unseres Dichters, wie der orphische Glaube an die Seelenwanderung, und von ihrer uns übrigens sehr griechisch anmutenden Ethik, die die Seele durch Askese von den Leibesbanden freimachen will, findet sich keine Spur bei ihm.“ Siehe auch Zinn 1948; Tschiedel 1987.
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VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
immer wieder am Beginn der dichterischen Schöpfung zu stehen: ‚Poiesis‘ im Muster der ‚creatio ex nihilo‘.18
1. „Diktat“, „Orkan“, „Ergriffenwerden“: Funktionen der Inspirationspoetik Es paßt zu diesem Verständnis von ‚Poiesis‘ und Poetik, daß sich eine Legende der Inspiration um die Entstehung der Sonette rankt. Der Autor dieser Legende ist Rilke selbst. In zahlreichen Briefen schildert er, wie sich im Februar 1922 (genauer: zwischen dem 2. und 23. Februar) eine ‚höhere Gewalt‘ seiner bemächtigte. Die peinigende und unproduktive Phase des Ersten Weltkrieges war vorbei; Rilke arbeitete an den Duineser Elegien – und plötzlich befand er sich in einem zweiten Buchprojekt: „[...] das kleine rostfarbene Segel der Sonette und der Elegien riesiges weißes Segel-Tuch.“19 Erstaunlicherweise drückt das kleine „Segel“ aber pointierter aus, was Rilke als wesentlicher Inhalt der Elegien gilt: die Wandlung, für die der Engel der Elegien steht,20 gewinnt in der Orpheus-Figur der Sonette eine traditionsreiche, doch ganz neue Gestalt. Rilke wendet sich erst an Freunde und Bekannte, nachdem er die Sonette vollendet hat. Um seine Briefpartner und (vor allem) seine Briefpartnerinnen über dieses wundersame ‚Nebenprodukt‘ zu informieren, gebraucht er immer wieder andere Ausdrücke. Er eröffnet drei unterschiedliche Wahrnehmungs- und Bildbereiche für die unglaubliche Inspiration, die ihn im Februar 1922 heimsuchte: erstens nimmt er sie – in einem Brief an Dory Von der Mühl – als Geschenk wahr, als etwas, was unverdient und ohne eigenes Zutun gegeben wird.21 Das zweite Verständnis von Inspiration klingt ganz anders. Wenn Rilke die Sonette als ein „sich-mir-Auftragen“, als das „räthselhafteste Diktat, das ich je ausgehalten und geleistet habe“, und als ein „einzi18 Gerade deshalb erweist es sich als philologische Herausforderung, gleichwohl Spuren von Kontexten in den „Sonetten“ zu ermitteln und nach Rilkes Verfahren der Verwischung dieser Spuren zu fragen. 19 Rilke an Witold Hulewicz, in: Rilke 1991, II, S. 374–378, hier S. 378. 20 Ebd. 21 Rainer Maria Rilke an Dory Von der Mühl (Muzot, 23.6.1922, Freitag), Château de Muzot sur Sierre. Valais am 23. Juny 1922, Brief 171, in: ders. 1994, S. 299 f. [Hervorhebung im Original]: „[...] (weil sie ohnehin, ihrer Natur nach, mehr sind als ‚von mir‘), nun eigentlich geschenkt worden [...].“
1. „Diktat“, „Orkan“, „Ergriffenwerden“
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ge[s] athemlose[s] Gehorchen“ beschreibt, dann wendet er sich damit – schon pädagogisch an seinen Schüler, an den jungen Dichter Xaver von Moos,22 den er eine Weile auf seinem Weg begleitete.23 Rilkes Darstellung des Entstehungsprozesses der Sonette unterstützt hier, was er von Moos über das Dichten mitzuteilen hat, was er ihn in einem gewissen Sinne exemplarisch, nämlich am eigenen Beispiel lehren will: daß der Dichter die eigenen Bedürfnisse und Gefühle zurückstellen, daß er eine Art Heiliger sein soll.24 Wiederum anders verhält es sich mit Rilkes drittem und ausgesprochen temperamentvollen Verständnis von Inspiration. Der Malerin Tora Vega Holmström berichtet er von einem [...] indéscriptible ouragan de cœur et d’esprit –, qui m’arrachait de mon attent patiente pour me ravir sur des hauteurs que je n’avais pas encore connues (ni mêmes devinés).25
Ein ‚unbeschreiblicher Orkan des Herzens und des Geistes‘ habe ihn erfaßt, ihn auf ‚Höhen‘ getrieben, die er nie zuvor gekannt und die ihn ganz und gar erschöpft zurückgelassen hätten („éperdument même“).26 Danach überfiel die Inspiration den Dichter mit Naturgewalt. Er konnte sich ihr nicht entziehen und wurde von ihr in unergründliche Seinsbereiche geworfen. Für Claire Studer-Goll bleibt Rilke in diesem Bild. Er spricht von einem Ergriffensein durch die Arbeit; nie hab ich so ungeheure Stürme des Ergriffenwerdens durchgemacht, ich war ein Element, Liliane, und konnte alles, was eben Elemente können [...].27
Hier dient das Bild eines naturgewaltigen und geradezu zwangsläufig an Rilke sich vollziehenden poetischen Schöpfungsereignisses aller22 Rainer Maria Rilke an Xaver von Moos (Muzot, 20.4.1923, Freitag), Château de Muzot sur/Sierre. Valais am 20. April 1923, Brief 197, in: ders. 1994, S. 349–351, hier S. 350. 23 Den Begriff des Diktats verwendet er auch gegenüber Margot Sizzo. Rilke an dies., Château sur Sierre, Valais, am 12. April 1923, in: ders. 1991, II, S.294–300, hier S. 297: „Ich konnte nichts tun, als dieses Diktat dieses inneren Andrangs rein und gehorsam hinzunehmen; [...].“ 24 Ich komme später darauf zurück, vor allem im Abschnitt über Kassner. 25 Rilke an Tora Vega Holmström, Château de Muzot sur/Sierre (Valais) Suisse ce Dimanche 19 mars 1922, in: ders. 1989 a, 28. S. 88–90, hier S. 89 f. 26 Ebd. – Den Begriff des „Orkan[s]“ gebraucht Rilke auch für die Entstehung der Elegien, und zwar in einem Brief an Lou Andreas-Salomé, Château de Muzot s/Sierre, (Valais) Suisse, am 11. Februar [1922], (abends), in: ders. 1991, II, S.219 f., hier S. 219. 27 Rilke an Claire Studer-Goll, Château de Muzot sur Sierre, Valais, am 11. April 1923, in: Rilke 1991, II, 357., S. 293 f., hier S. 293.
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VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
dings auch der Entschuldigung für sein langes Schweigen. Denn drei Jahre lang hatte er Claire Studer-Goll keine Zeile geschrieben.28 Rilke gelobt Besserung. Er beteuert, daß er nun endlich jene Schaffenskraft wiedererlangt habe, die ihm während des Krieges abhanden gekommen sei. An das, was ihm im Laufe der Zeit auch durch die eigene Nachlässigkeit verloren ging, will er ebenfalls wieder anknüpfen: an die Freundschaft mit Claire Studer und an die Zeit mit Tora Vega Holmström im Pariser ‚Jardin du Luxembourg‘.29 Wie die abweichenden Selbstbeschreibungen zeigen, inszeniert sich Rilke in jedem Brief neu, paßt sich seiner Adressatin bzw. seinem Adressaten an, um seine Inspiration je individuell nachvollziehbar werden zu lassen. Er reflektiert sich selbst für sein Gegenüber. Diese zugleich persönlichen und poetologischen Reflexionen führen zu unterschiedlichen Selbstdarstellungen, die nur einen vagen gemeinsamen Kern kennen. Denn erst zusammengenommen – und mit manchen Vergröberungen – läßt sich Rilkes Inspirationspoetik als ein Verständnis vom dichterischen Prozeß beschreiben, das diesen als von einer höheren Macht angestoßen sieht und den Dichter als Mittler oder „Element“ betrachtet: als passiv empfangendes und bloß ausführendes Organ, als Schreiber, der sich ganz in den Dienst des unbekannten Schöpfers oder der schöpferischen Naturgewalt stellt. 28 Ebd. Das vollständige Zitat lautet [Hervorhebung im Original]: „[...] das Ergebnis des Winter 1921 auf 1922 (oder genauer eines einzigen, über alles menschliche Maß hinaus gesegneten Monats, des Februars 1922 –): diese würden mich bei Dir mit einem Schlage verantwortet haben. Denn daß mein Schweigen so vorhalten konnte, lag nur an diesem Ergriffensein durch die Arbeit; nie hab ich so ungeheure Stürme des Ergriffenwerdens durchgemacht, ich war ein Element, Liliane, und konnte alles, was eben Elemente können; und obgleich diese Hoch-Zeit, menschlich gemessen, kurz war (länger hätte mein Körper sie kaum ausgehalten) so war eben doch alles vorher und nachher von ihr bestimmt und befehligt, – und Briefschreiben das ja die gleiche Feder beanspruchte, kam nur in Betracht, wo’s ganz unvermeidlich war.“ 29 Rilke an Tora Vega Holmström, Château de Muzot sur/Sierre (Valais) Suisse ce Dimanche 19 mars 1922, in: Rilke 1989 a, 28. S. 88–90, hier S. 89 f. Das vollständige Zitat gibt Aufschluß über Rilkes Eindruck, der Krieg sei eine unter poetischem Aspekt verlorene Zeit gewesen, und über seine Wünsche, Vergangenes neu zu beleben [Hervorhebung im Original]: „J’ai travaillé. Je suis content. J’ai bien travaillé, éperdument même, – dans un indéscriptible ouragan de cœur et d’esprit-, qui m’arrachait de mon attent patiente pour me ravir sur des hauteurs que je n’avais pas encore connues (ni mêmes devinés). De cette façon j’ai enfin rattrapé la plupart de ces terribles retards que je traînais depuis 1914. Si je désirais une récompense de cet effort (où d’ailleurs on est pour si peu, car on n’est qu’obéissance au moment de la grâce suprême qui fait tout elle-même) il m’était permis de prétendre à une récompense, je ne voudrais aucune si ce n’est un séjour à Paris, dans notre quartier, au Luxembourg ... enfin: on verra.“
1. „Diktat“, „Orkan“, „Ergriffenwerden“
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Diese Sichtweise ist aus Rilkes Gedichten über John Keats bekannt; durch die Beschreibung des eigenen Dichter-Selbst stellt sich Rilke mit Keats auf eine Stufe, schließt also an die eigene Keats-Darstellung an, indem er sich selbst mit ‚dem reinen Dichter Keats‘ identifiziert. Rilke wird sich – wie Keats nach Kassner, Gide und Rilke – selbst Exempel. Rilkes Bemerkung, der kreative Auftrag, der ihn ereilte, habe ihn geistig und körperlich völlig erschöpft, unterstützt diese Identifikation und damit auch die Darstellung vom passiven Dichter- bzw. Schreiber-Selbst. Rilke treibt das purifizierende und heiligende Poesie- und PoetenBild aus den Keats-Gedichten in seinen Briefen über die Sonette auf die Spitze, sichert es – mit dem Verweis auf das ‚Element-Sein‘ – sogar noch quasi-naturwissenschaftlich ab. Danach lenkt die Inspiration den schöpferischen Prozeß, als handele es sich um eine Kausalkette. So will es nicht nur Rilkes Selbstbeschreibung, sondern so lautet auch die Kernaussage der Sonette, die damit wiederum aufnehmen, was Rilke schon für Keats entwickelt. Der Selbstbeschreibung folgend, „staunt[]“ der Dichter/Schreiber bloß über „[...] deren [der Sonette] innere Einheit und deren Zusammenhang mit den Elegien [...]“, der sich ihm erst beim Vorlesen und ‚Hören‘ erschlossen habe,30 ebenso wie über den „Zusammenhang“ der Sonette selbst, dem sich kein einziges Sonett entziehe:31 „Wie soll man nicht an Ehrfurcht und unendlicher Dankbarkeit zunehmen, über solchen Erfahrungen am eigenen Dasein!“32 Gleichwohl bleibt es dabei: Rilkes Selbstaussagen widersprechen sich, und zwar nicht nur aufgrund ihres unterschiedlichen Adressatenbezugs. Rilke bricht gleich zwei Mal mit seiner Inspirationspoetik: Er erklärt die Sonette nämlich einerseits aus einem plötzlichen ‚Orkan‘ und andererseits aus einem langen Reflexionsprozeß. Dieser habe sich schon im Ausgang des 19. Jahrhunderts vorbereitet und sei bloß durch den Krieg verzögert worden. Eine solche langfristige Darstellung eigener Dichtungsreflexion paßt nicht zu dem situativen Modell eines plötzlichen ‚Ergriffenwerdens‘ durch die Inspiration. Es setzt vielmehr auf die Kontinuität des schöpferischen Prozesses, auf die Auseinandersetzung mit Themen, Bildern und Gedanken. Darüber hinaus vermit-
30 Rainer Maria Rilke an Dory Von der Mühl (Muzot, 23.6.1922, Freitag), Château de Muzot sur Sierre. Valais am 23. Juny 1922, Brief 171, in: ders. 1994, S. 299 f. 31 Rainer Maria Rilke an Xaver von Moos (Muzot, 20.4.1923, Freitag), Château de Muzot sur/Sierre. Valais am 20. April 1923, Brief 197, in: ders. 1994, S. 349–351, hier S. 350. 32 Ebd.
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VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
telt es den Eindruck einer gewissen Eigenmächtigkeit des Autors, der sich Zeit nimmt, um auszuwählen und zu gestalten, und der nicht einfach einer fremden Macht gehorcht. Außerdem führt Rilkes Sprecher – nicht nur im zwölften Sonett des zweiten Teils – ganz anderes vor: Hier geht es um den eigenen Willen zur Wandlung, nicht um den Gehorsam gegenüber einer höheren Macht. Inspiration (Inspiration in einem zweiten Sinne) wird dabei vergleichsweise nüchtern verstanden: als Empfänglichkeit und Offenheit, die der kreative Mensch (und der Mensch überhaupt) den Mitmenschen, der Natur und den Dingen schuldet. Sie bewährt sich durch Hören, Sehen und Schmecken – kurz: durch das sinnliche Wahrnehmen der Außen- und Innenwelt eines zu solchen Wahrnehmungen fähigen Ich. Das zeigt auch der Vergleich mit den ursprünglichen ‚Metamorphosen‘, an denen sich Rilke orientiert: mit den Metamorphosen des Ovid. Hier greift das Fatum mehr oder minder unberechenbar und moralisch rechtend in das Schicksal der Menschen ein; im Fall der Sonette aber gehen bloß Motiv- und Themenbereiche ineinander über – nicht durch äußeren Eingriff, sondern durch die bildliche und begriffliche Logik des Texts selbst. Wieso weichen Rilke briefliche Selbstbeschreibungen aber vom literarischen Text ab? Welche Funktion erfüllt die Inspirationspoetik für die Sonette? Diese Fragen lassen sich – vorläufig – im Blick auf das zwölfte Sonett des zweiten Teils beantworten: Es bedarf des Rückgriffs auf die ‚creatio ex nihilo‘, des ‚Ergriffen-Werdens‘ durch eine ‚höhere Macht‘, um den Modus der permanenten Neuschöpfung zur neuen poetologischen Norm zu erheben (Motivationsfunktion) und um einem kontroversen poetologischen Reflexionsmuster Geltung zu verschaffen (Geltungsanspruch). Zwar sind diese poetologischen Denkmuster nicht gänzlich neu; sie nehmen Aspekte auf, die aus der psychologischen Ästhetik bekannt sind: die Auflösung des dichterischen Subjekts in seine Sinneswahrnehmungen beispielsweise.33 Aber gleichwohl sucht Rilke eine Rechtfertigung für seinen Text. Er erklärt eine fremde Macht zum Schöpfer desselben und ernennt sich zu ihrem Mittler – für die Normierung des Dichtens unter den Vorzeichen der Wandlung (Entlastungsfunktion). Die Widersprüche in der Inspirationspoetik aber sind ein Indiz dafür, daß ein poetologisches Selbstverständnis nicht durchhaltbar ist, das
33 Vgl. darüber den Exkurs im vorhergehenden Kapitel.
2. Orientierungshilfen und Lebensreform
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derart auf Distanzierung zielt und sich im Zeichen einer ‚höheren Macht‘ ganz auf den Gegenüber einstellt: Trotz der eigenen Bekenntnisse zum inspirierten, also fremdgelenkten Dichten setzt sich der Autor selbst ins Recht. Er unterstreicht die eigene Leistung. Deshalb läßt sich das Bemühen um ein entsagungsreiches Dichter- und Dichtungsverständnis nur aus einem denkgeschichtlichen Kontext erklären, der solche Versuche der Selbstdistanzierung und der Legitimation der eigenen Tätigkeit durch den Rückgriff auf eine höhere Macht vorsah. Am Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Voraussetzungen dafür gegeben: Nihilismus und Sinnverlust markieren nur Eckdaten für die Selbstsuche in einer geistig obdachlosen Zeit.
2. Orientierungshilfen und Lebensreform: Zivilisationskritik, Weltanschauung, Populär- und Geheimwissenschaft im Umfeld von Oswald Spengler Der Untergang des Abendlandes (I, 1918) Im Ausgang aus den Neuentdeckungen und Verwerfungen des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt nach der Lektüre der religions- und kulturkritischen Schriften Nietzsches, die die Bibelkritik eines Strauß und die ästhetische Skepsis eines Vischer noch weit überboten, tat Orientierung not: Wahrnehmung, Handeln, Welt- und Gottvertrauen waren endgültig ihrer christlichen und ethisch-moralischen Basis beraubt. Was Welt und Mensch zuvor zusammenhielt, erschien nunmehr als minderwertig. Auf diesen gesteigerten „Illusionsverlust“ reagierte jene sinnsuchende und -deutende Literatur, die nach 1900 ihre Blüten trieb und auf eine Reform des Lebens sann: auf einen neuen Umgang mit einer einerseits als dekadent, andererseits als unglaublich frei empfundenen Zeit. Wie empfänglich Rilke für diese Literatur war, das zeigen nicht nur die Sonette und seine Briefe,34 sondern auch der Katalog der Rilkeschen Bibliothek.35 Wenn er auch nicht vollständig wiedergibt, was Rilke tatsächlich gelesen hat – zum einen, weil manche Bücher möglicherweise unbenutzt blieben, zum anderen, weil er sie mitunter ver34 Tina Simon (2001, S. 367–394) hat aus Briefen und Selbstzeugnissen zusammengestellt, was Rilke las. 35 Zusammengestellt von Hans Janssen 1989.
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VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
schenkte und einige Texte deshalb gar nicht mehr in dieser Bibliothek erhalten sind –, so erlaubt er doch einen Blick in die Denkwelt, die dem Besitzer dieser Bücher als bewahrenswert galt. Vor dem Hintergrund der Sonette fällt dieser Blick auf Texte unterschiedlichen Typs: auf zivilisationskritische und weltanschauliche (Rathenau, Kassner, Spengler) sowie auf populär- (Keyserling) und geheimwissenschaftliche Schriften (Vogl, Schuler). Sie alle nehmen Themen und Fragestellungen auf, mit denen sich Rilke im Umfeld der Sonette oder in den Sonetten befaßte.36 In Von kommenden Dingen (1917) formuliert Walther Rathenau nicht nur eine Zeitdiagnose, sondern entwickelt auch Rezepte, um den ‚Grundübeln‘ der Zeit, der „Mechanisierung“ sowie dem grassierenden Nihilismus beizukommen. Der Dichter spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle (Abschnitt a). Rathenaus praktisch gewendete Zivilisationskritik konnte dabei bereits auf solche Schriften zurückblicken, die sich – wie Kassners Der indische Gedanke (1913) – ein letztes Mal bemühten, ein wesentliches ‚europäisches‘ Prinzip gegen die lebenreformerisch-praktische Annäherung an ‚das Andere‘ zu verteidigen (Abschnitt b). Gemeint ist das Prinzip der Individuation, das Rathenau zurückstellt, und mit dem sich Rilke kritisch auseinandersetzt: als Poetiker und als Autor der Sonette. Rilke faszinieren die Auflösung des Selbst und die Frage nach der Unsterblichkeit des ‚entselbsteten‘ Ich; sie werden zu poetologischen Leitmotiven und -themen der Sonette. Deshalb läßt er sich von so unterschiedlichen Denkern wie dem Lebensphilosophen Hermann Graf Keyserling (1880–1946)37 und dem Mystiker Carl Vogl inspirieren: ersterer vertritt einen populärwissenschaftlichen Kollektivismus, der das Ich als Funktion einer unsterblichen Idee betrachtet; letzterer vermutet einen regen Austausch von Jenseits und Diesseits. Vogl belebt wieder, was Vischer und Strauß entschlossen verabschiedeten: den Magnetismus Justinus Kerners, ergänzt um Erträge einer internationalen psychologischen Forschung um 1900 36 Die Bücher aus Rilkes Besitz sind auf drei Bibliotheken aufgeteilt: auf die – der Öffentlichkeit unzugängliche – Schloßbibliothek von Muzot, auf das private Rilke-Archiv (Gernsbach) und auf die Schweizerische Landesbibliothek in Bern. Keyserlings Buch befindet sich in Muzot und kann also nicht eingesehen werden. Die Bände von Kassner, Rathenau, Spengler und Vogl liegen im Rilke-Archiv; ich komme darauf zurück. 37 Über den späteren Vordenker der Darmstädter Lebensphilosophie (1919–1939), den Initiator der „Schule der Weisheit“ und der „Gesellschaft für Freie Philosophie“ Gahlings 1996.
2. Orientierungshilfen und Lebensreform
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(Abschnitt c).38 Das Thema der Unsterblichkeit lenkt die Aufmerksamkeit darüber hinaus auf die Prophetien Alfred Schulers (1865–1923), die Rilke selbst in Bezug zu den Sonetten setzt. Schuler löst das sterbliche Ich in einer anti-christlichen und anti-semitischen Lebensmystik des All-Einen auf; Rilke übernimmt diese kosmogonische Vorstellung für die Poetik der Sonette – ohne sich auf die Polemiken Schulers einzulassen (Abschnitt d). Diese Einflüsse der Weltanschauungsliteratur, der Zivilisationskritik, der Populär- und Geheimwissenschaft auf die Poetik des späten Rilke sind nur wenig erforscht39 – mit Ausnahme der Einflüsse Kassners,40 mit Ausnahme von Gerhard Plumpes Darstellung über das Verhältnis von Rilke und Schuler41 und mit Ausnahme der Lebensphilosophie (beispielsweise Walt Whitman und seine Rezeption, Ralph Waldo Emerson und seine Rezeption), die durch die Studien von Wolfgang Riedel (1996) und Jochen Schmidt (2003) in den Blick geriet.42 Selbst Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918–1922)43 fand in der Forschung keine Beachtung,44 obwohl die Kulturkritik der Zeit38 Rilke besaß die dritte Auflage aus dem Jahr 1920 (Janssen 1989, S.307), nach der hier zitiert wird. 39 Es dominiert das Interesse an der Beziehung Rilkes zu Nietzsche, vermittelt durch Lou Andreas-Salomé, für die „Sonette“ Pfaff 1983. 40 Siebels 1932; Mayer 1960; Ruffini 1989, S. 76–80; vor allem aber Bohnenkamp 1997. 41 Plumpe 1978, S. 209–226. Eine Dissertation (1953) widmete sich darüber hinaus der Wirkung von Johann Jakob Bachofen auf Rilke (Noll 1953), die allerdings allenfalls durch seinen vermeintlichen ‚Schüler‘ Schuler denkbar ist. In Rilkes Bibliothek ist Bachofens „Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie“ (1967) jedenfalls nicht vorhanden. Und nimmt man die „Unsterblichkeitslehre“ zur Hand, so zeigt sich, daß Bachofen – ganz anders als Schuler – bemüht ist, das Phänomen der orphischen Unsterblichkeitslehre historisch angemessen zu untersuchen und darzustellen. Er konzentriert sich deshalb auch auf all jene Aspekte, die nicht zu Rilkes Auffassungen paßten: auf die Sünden-, die Titanen- und auf die Paradieslehre der Orphiker (Bachofen 1958, S. 137–139). Wenn Rilke also mit Bachofen Werk „vertraut“ war (Tschiedel 1987, S. 299), dann fragt sich, ob er mehr daraus entnahm als vage – und durch Schuler teils in ihr Gegenteil verkehrte – Vorstellungen vom Totenreich der Orphiker. 42 Mit Blick auf das „ozeanische“ Lebensgefühl der nach-freudianischen und nachnietzscheanischen Lebensphilosophie Riedel 1996, S. 280–284; im Blick auf das Postulat der Verinnerlichung, das sich im Fall Rilkes noch aus der Lebensphilosophie speist, J. Schmidt 2003, S. 227–235. 43 Zur Rezeption des „Untergangs“ Demandt 1994; Stiegler 1997; Thöndl 1997; mit Hinweis auf Rilkes Spengler-Rezeption Beßlich 2002, S. 40 f. 44 Im Blick auf die „Sonette“ ist dies in einer Hinsicht verständlich. Denn Spenglers Auffassungen über die Orphik widersprechen denjenigen Rilkes. Spengler deutet die
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VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
genossen mit diesem Text ihren Höhepunkt erreichte und Rilke ihn sehr aufmerksam las.45 Wenn sich die Rilke-Forschung nicht in die Untiefen all dessen wagte, was im Umfeld des Untergangs einsetzt, dann verschenkte sie wichtige Einsichten in den geistigen „Weltinnenraum“ Rilkes und seiner Zeitgenossen, den Rathenau in Von kommenden Dingen so sprachgewaltig und mit enormen Konsequenzen für die Poetik des frühen 20. Jahrhunderts schildert. Dabei bezeichnet das Erscheinungsjahr des Texts (1917) eine Phase der Ernüchterung: Auf die Denk- und Reisefreiheit der 1910er Jahre waren die Schrecken eines Kriegs gefolgt, der von diesen Freiheiten nurmehr die Erinnerung übrig ließ. a) Walther Rathenau Von kommenden Dingen (1917): Zeitdiagnose „an der Schöpfungsgrenze“ „Rainer Maria Rilke eine Gedenkgabe in Freundschaft und Verehrung, 28.11.1917 [...]“, schreibt Rathenau in das Exemplar seines Buchs Von kommenden Dingen, das sich in Rilkes Bibliothek findet.46 Für Rilke war Rathenau nicht nur der jüdische Industrielle, der Organisator der deutschen Rohstoffwirtschaft während der Ersten Weltkrieges, der liberale Demokrat, der Sozialutopist und -praktiker, potentieller Mäzen und Künstler zugleich.47 Rathenau und Rilke galten sich wechselseitig orphische Lehre nämlich als Parallelerscheinung zur christlichen Erbsündelehre. „[...] der antike Leib ein Grab!“, das sei, so Spengler, das Bekenntnis der orphischen Religion gewesen, mit dem sie die „antike Askese“ eingeleitet habe. Ihr Ziel sei es gewesen, sich durch allerlei Rituale und zuletzt durch den Tod vom sündigen körperlichen Dasein zu befreien; Spengler 1963, S. 891, 905. – Diese Auffassung kommt der historischen Orphik freilich näher als die ahistorischen Anschauungen Schulers oder die ‚diesseitigen‘ Interessen Rilkes; vgl. Calome 2000. 45 Ich will an anderer Stelle darauf zurückkommen. So viel vorweg: Rilkes Exemplar des ersten Bandes („Gestalt und Wirklichkeit“) ist mit Anstreichungen, Unterstrichen und Randnotizen übersät. Er konzentriert sich erstens auf die Mathematik, zweitens auf die Frage der Raumwahrnehmung, drittens auf das Thema Ägypen und viertens auf die Darlegungen zu Musik und Plastik. Im folgenden will ich nur das Ägypten-Thema ansprechen. 46 Janssen 1989, S. 313. – Rathenau schenkte Rilke auch „Die neue Wirtschaft“ (1918) – „in herzlicher Ergebenheit“. Mit Verweis auf „Von kommenden Dingen“ auch J. Schmidt 2003, S. 226, Anm. 9. 47 Dieter Heimböckel beschreibt die Beziehung von Rathenau und Rilke im Blick auf Rilkes Briefe; ders. 1996, S. 63 u. S. 319–320. Sie kannten sich möglicherweise schon seit dem 14. November 1897, seit einer George-Lesung, die Rilke während seines Berlin-Aufenthaltes besuchte, sicher aber seit den Jahren 1913/1914.
2. Orientierungshilfen und Lebensreform
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als Hoffnungsträger. Von kommenden Dingen gibt Aufschluß darüber, was ihre Hoffnungen bestimmte. Das Buch enthält Rathenaus Zeitdiagnose über das Verhältnis von Mensch und „Mechanisierung“ sowie einen ganz praktischen Entwurf für das kommende ‚Reich der Seele‘, für eine solidarische Gemeinschaft der Menschen. Dieser Entwurf sollte Politik werden;48 Rilke nutzt ihn als Inspirationsquelle für seine Poetik. Den politischen Rathenau, den liberalen Vertreter der Republik, der ausgesprochen soziale Ideen vertrat, unterstützt Rilke entschieden;49 von der Zeitdiagnostik Rathenaus erborgt er sich die Kritik an der „Mechanisierung“. Sie gilt Rathenau als allumfassendes Lebens-, Denk- und Arbeitsmuster: als universelle, aber auch als unausweichliche Zwangsorganisation einer Gesellschaft, die das Maximum irdischer Güter erschließt, die Geist, Leben und Gefühl vollständig zugunsten des Materiellen kolonialisiert.50 Doch die „Mechanisierung“ entstand, so Rathenau, ganz unabsichtlich, nämlich als „dumpfer Naturvorgang“ aus den „Bevölkerungsgesetzen der Welt“:51 Die Zahl der Menschen wuchs und mußte ernährt werden; wollte man wieder ‚vormechanistische‘ Zustände herstellen, dann müßte man die Bevölkerungszahl auf die „Norm der vorchristlichen Jahrhunderte“ mindern.52 Da diese Entscheidung nicht wünschbar ist, sinnt Rathenau auf eine andere Lösung. Sie liegt im Geistigen und Spirituellen: in der materiellen Selbstbescheidung zugunsten immaterieller Werte.53 „Opfer“, „Dienst“ und „Tat“, das sind die großen Vokabeln, die Rathenau dem Einzelnen für die tägliche Lebensführung empfiehlt.54 In der „Andacht
48 Kessler 1928, S. 270 f. Zu Rathenaus politischen Ideen gehören u. a.: die Errichtung eines freien und sozialen „Freistaates“, das Ende der Klassengesellschaft, ein Recht auf Arbeit und Bildung, die Begrenzung von Vermögen, Einkommen und Erbschaft und die Idee einer staatlich geregelten Gemeinwirtschaft, die nur eine eingeschränkte Einfuhr von Luxusgütern erlaubt. Siehe ebd. Für die Umsetzung dieser Ideen gründet Rathenau eigens einen „Demokratischen Volksbund“ und sucht Kontakt zur liberalen „Deutschen Demokratischen Partei“. 49 Heimböckel 1996, S. 317 u. 351 f. 50 Rathenau 1917 (RA), S. 29–50. – Das Exemplar des Buchs im Rilke-Archiv weist keine Lesespuren auf. 51 Ebd., S. 42. 52 Ebd., S. 30. 53 „Entfaltung der Seele“ und „menschliche Freiheit“ – so lauten Rathenaus Ziele (ebd., S. 14 u. 59). Der Weg dorthin führe über den „Glauben, der aus Liebe entspringt“, zur „Einheit und Solidarität menschlicher Gemeinschaft, zur Einheit seelischer Verantwortung und göttlicher Zuversicht.“ Ebd., S. 16 u. 345. 54 Ebd., S. 15 f.
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VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
zum Transzendenten“ liege seine besondere Aufgabe.55 Ohne sie lasse sich das neue Reich nicht erobern; ohne sie fehle der Bewegung die Kraft. Deshalb fordert Rathenau Künstler dazu auf, diese Bewegung anzuführen. Denn sie sind es, die exemplarisch Andacht leisten, die Gefühl und Verstand neu zu orientieren vermögen. Gleich auf den ersten Seiten seines Buches wendet sich Rathenau aus diesen Gründen gegen die Dingästhetik des verehrten Rilke: Die Zeit, die in ihrem Innersten nach Selbsterkenntnis und und Erlösung von eigener Härte lechzt, ist in ihrem Gehaben vorschauendem Denken nicht günstig. Kaum ist sie dem plumpen Ernst und der Handgreiflichkeit des Materialismus entronnen, da schämt sie sich schon aller Praxis und schämt sich nochmals dieser Scham und sucht sie zu verdecken, indem sie mit bemeistertem Abscheu armselige Gerätschaften und Zutaten des neuzeitlichen Lebens in ihre Empfindungen webt. Sie bringt Bogenlampen und Hotelgärten in Reime von bedachter Kühnheit und ist doch weltfremder als ihre grobe Vorläuferin, die in menschlichen Dingen zugegriffen hatte und Bescheid wußte.56
Rathenau entlarvt die Dingästhetik als poetologische Ideologie in einer mechanisierten Welt. Wenn Rilke Von kommenden Dingen gelesen hat,57 dann kann ihm diese Kritik ebensowenig entgangen sein wie Rathenaus literatur- und denkpolitisches Programm für einen neuen ‚Geist‘: Das Denken und Fühlen der Welt wird fest sein, nicht handgreiflich, zart, nicht schwächlich, phantasievoll, nicht verstiegen, transzendent, nicht frömmelnd, pragmatisch, nicht rabulistisch; die geistige Führung wird von Frauen und grinsenden Ästheten auf Männer, von Artisten und Arrangeuren auf Dichter und Denker übergehen.58
Vor dem Hintergrund seiner dualistischen Zeitdiagnose bietet Rathenau klare Feindbilder an. Auf der einen Seite stehen ein blutleerer Ästhetizismus der Dingwelt, Frömmelei, Verstiegenheit und ‚die Frau‘; auf der anderen Seite finden sich zarte und phantasievolle Männer, Dichter und Denker. Sie befördern die Transzendenz, das freiheitliche, seelische und 55 Ebd., S. 19. 56 Ebd., S. 16 f. 57 Es gibt kein sicheres Indiz dafür, daß Rilke den Rathenau-Text gelesen und den fraglichen Abschnitt zur Kenntnis genommen hat – zumal sich Rilke in seinen Briefen an Rathenau nicht über Poetologisches äußert. – Für diese Information danke ich Ernst Schulin, der die Korrespondenz Rilke-Rathenau herausgibt. 58 Rathenau 1917 (RA), S. 18.
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transzendente Denken und Fühlen, auf das Rathenau zielt. Was Robert Musil als triviale Mystik kritisiert,59 wendet Rilke euphorisch: Rathenaus gemäßigter, aber entschiedener Reformgeist kommt Rilkes (ästhetischen und poetologischen) Anschauungen entgegen.60 In dieses Bild paßt es, daß sich eine Vielzahl von Ähnlichkeiten zwischen Rathenaus sozialer, politischer sowie literarischer Programmatik und der Poetik des späten Rilke findet: Rilke entfernt sich nämlich nach und nach von der Dingästhetik, reagiert also möglicherweise auf Rathenaus Kritik, sucht – mit der Figur des Orpheus und den Sonetten – nach ursprünglich poetischen Wurzeln, stellt sich der Wirklichkeit, ist mit der Zivilisation im Bunde („Irgendwo wohnt das Gold in der verwöhnenden Bank“, II,19; „Alles Erworbene bedroht die Maschine“, II,10), schreibt polyperspektivisch im ‚Geist eines Göttlichen‘. Alle Gegensätze und Perspektiven erweisen sich dabei als Facetten desselben, des ewigen Wandels:61 Rilke verwandelt sich selbst in Rathenaus Dichter des Transzendenten „an der Schöpfungsgrenze“ zu einem neuen Reich.62 Er übernimmt Rathenaus Mechanik- und Maschinen-Kritik ebenso wie den Typus einer transzendieren, gleichwohl aber lebensnahen Reflexion und reformuliert sie poetologisch.63 59 N. C. Wolf 2002. 60 Heimböckel 1996, S. 317. – Einzig der Dualismus von materiellem Übel und Verheißung eines künftigen Reichs hätte dem Poetiker des Wandels widerstreben können. 61 Deshalb erscheint es mir als problematisch, Rilkes Sonette mit Manfred Frank (1988, S. 209–211, Hervorhebung im Original) als „schön gereimte vor-modern-antikapitalistische, also im wirklichen Sinne des Wortes: konservative Phantasien“ zu deuten, oder seine „Dichtung als die Fluchtburg und das Asyl der mythischen Wünsche im technischen Zeitalter“ zu verstehen. Geht man darüber hinaus davon aus, daß sich Rilke auf Rathenau bezieht, so stimmte das Etikett konservativ auch unter politischem Aspekt nicht. Vielmehr handelte es sich um eine Kritik am ‚Naturgesetz der Mechanisierung‘ vor dem Hintergrund von Utopien, die im politischen Liberalismus ihren Ort finden. – Ein vergleichbares Problem stellt sich, wollte man die „Sonette“ als „kulturkritische Absage[n]“ an die ‚mechanisierte‘ Zivilisation deuten, wie Jochen Schmidt vorschlägt (2003, S. 228). Zwar nehmen die „Sonette“ die Zivilisationskritik der Zeitgenossen auf, aber sie entsagen den kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften nicht, beziehen sie vielmehr spielerisch in die „Sonette“ ein. 62 Rathenau 1917 (RA), S. 29. – Dieser Schluß ist neu für die Rilke-Forschung. Heimböckel spricht zwar an, daß Rathenau auch literarische Ideen hegte, aber er legt diese nicht dar, verbindet sie auch nicht mit Rilke. Deshalb entgeht ihm nicht nur Rathenaus Kritik an der Dingästhetik, sondern auch Rilkes Verwandlung zugunsten des Rathenauschen Poesie-Ideals. 63 Es ist m. E. unwahrscheinlich, daß Rilkes kritische Maschinen-Darstellungen Rathenau hätten widersprechen müssen, wie Heimböckel meint (1996, S. 320). Denn Rathenau formuliert keine Regel darüber, daß man Maschinen nicht darstellen dürfe.
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Im Juni 1922, wenige Monate nach der Niederschrift der Sonette, wurde Rathenau von einem rechtsradikalen Schüler, einem zweifelhaften Studenten und drei Geheimbündlern ermordet. Sie sahen in ihm die treibende Kraft für eine ‚Judaisierung‘ Deutschlands und für einen „schleichenden Bolschewismus“.64 Der Tod des Freundes traf Rilke persönlich und öffnete ihm die Augen für das Ausmaß der politischen Mißstände im Deutschland der 20er Jahre.65 Auch für ihn wurde Rathenau zum Märtyrer einer zum Scheitern verurteilten Republik. Erstaunlicherweise hält ihn dies nicht davon ab, sich einem dubiosen und des Anti-Semitismus verdächtigen ‚Gelehrten‘ zuzuwenden. Gemeint ist Alfred Schuler. Rathenau und Schuler markieren Gegenpole zivilisationskritischen Denkens nach 1900. Und Rilke fügt selbst solche Lehren begeistert in das ästhetische und poetologische Universum der Sonette ein, die – wie diejenigen Schulers – auch über die ‚Gefahr Juda‘ handeln. Im Fall der Sonette liegt also eine der problematischen ‚geistigen‘ Allianzen vor, die für die „hybride Moderne“ typisch waren.66 Diese Allianz nimmt ihren Ausgang von Plädoyers für ‚das Transzendente‘ und ‚Seelische‘, wie Rathenau und Schuler sie gleichermaßen formulieren. Solche Plädoyers übten auf Rilke so große Anziehungskraft aus, daß er das Transzendente als eines der poetologischen Leitthemen in die Sonette aufnimmt. Im Blick auf das Transzendente können Rathenau und Schuler Rilke als gedankliche Bündnispartner gegen Kassner dienen. In seiner Schrift Der indische Gedanke wendet sich dieser nämlich gegen ein nebulöses Seelisches, gegen Transzendenz; er will die zivilisatorische Krise mit Hilfe des vernünftigen Individuums lösen – eine Sichtweise, die auch Ergebnis eines Konflikts mit Rilke ist und letzteren möglicherweise dazu veranlaßt, sich in den Sonetten auf die Darstellung einer ‚kosmogonischen‘ Poetik (gegen Kassner) zu konzentrieren.
64 Kessler 1928, S. 360. 65 Heimböckel 1996, S. 318. 66 Lindner 1994; Kindt u. Müller 2003.
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b) Rudolf Kassner Der indische Gedanke (1913): Plädoyer für das Prinzip der Individuation Kassner handelt über zwei Denktypen, über zwei – aus der Sicht Kassners ganz elementare und den Menschen ursächlich prägende – Gedanken- und Einstellungskomplexe: über den indischen und den europäischen. Kassners Verfahren ist dualistisch und erinnert an die typologischen Gegenüberstellungen von ‚apollinisch‘ und ‚dionysisch‘, wie sie in der Nachfolge Nietzsches üblich werden. Auf der einen Seite steht der Inder, auf der anderen der Europäer – und ihre Gedanken schließen sich wechselseitig aus:67 Europäer (der „Gerechte“)
Inder (der „Heilige“)
Geschichte
Geschichtslosigkeit
Persönlichkeit
Kaste
Person
Seiender
Tat
„heroische Innigkeit“/Objektlosigkeit
„plastische Kraft im Menschen“/ Glaube an Seelenwanderung bzw. an Vernunft/Humor Seelisches überhaupt „Kampf zwischen Ursprünglich- überflüssig durch Entscheidung keit und Erfahrung“ des Kastenwesens persönliche Originalität – findet mythische Originalität – findet diese im Anderen, Unbekannten, diese ausschließlich im Göttlichen im Fortschritt interessant
religiös
Angst
Freiheit von Angst
Reiz zum Leben/„von Gott Überanstrengte“/AugenblicksSehnsucht, die Geschichte stillstellt
Kult/Zeremonie/Befehl/Auftrag/ Schicksal
Anthropomorphist
anti-anthropomorphistische Weltanschauung
Dualismus (Krieger)
Monismus (Seher)
„Operation mit dem Nullpunkt“ Anschauung des Heiligen Exzentriker
Opfernder
Gerechter (Maß, Wissen, Begriff) Heiliger (kein persönlicher Gott) 67 Kassner 1921, S. 7.
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‚Der Europäer‘ begreife sich selbst als ein geschichtliches Individuum, das vernünftig, humorvoll und originell handele. Ganz anders verhalte es sich mit dem indischen Heiligen: Er kenne keinen Anfang und keine Geschichte, glaube vielmehr an das Seelische und an die Seelenwanderung, sehe sein Schicksal als durch die Kastenzugehörigkeit entschieden, handele allenfalls kultisch, leide und gebe sich selbst wehrlos einem unspezifischen Göttlichen preis. Deshalb erblickt Kassner in ihm den „geborene[n] Monist[en]“, der denselben Verdikten anheimfällt wie der „Monismus unserer Tage, diese[s] deutliche[] Hirngespinst leerer Theologen und völlig geistloser Naturforscher[.]“68 Kassners Urteil über die beiden Denktypen kündigt sich damit schon an: Ich nehme hier durchaus die Partei des Gerechten [...]. Die Existenz eines Staates, das Leben der Familie ist ohne diese Gerechten nicht möglich, so die Liebe haben, ohne zu lieben. Der Gerechte allein darf töten, ohne Mörder zu sein, und also sind die Kriege in einem ganz bestimmten Sinne Ausdruck der Kultur, denn sie allein nähren und erhalten den zeitlichen Frieden. Ist es nicht recht eigentlich der Triumph des Gerechten, der Kultur, der Triumph des Begriffes, daß der Krieg, vielmehr seine Furchtbarkeit, ja Unmöglichkeit heute die beste und einzige Gewähr des Friedens sei?69
Als kriegstreiberisch wäre dieser Abschnitt falsch verstanden. Kassner geht es vielmehr um ein abstraktes Abwägen der zwei Denktypen. Dabei zeigt sich seiner Ansicht nach, daß dasjenige, was verläßlich, bleibend und werthaft institutionalisiert ist, vom ‚Gerechten‘ ausgeht. Selbst der Krieg wäre ihm bloß Mittel zum Zweck, nämlich der Erhaltung einer kultivierten Gesellschaftsordnung. Mittlerweile scheint der Krieg aber aufgrund seiner abschreckenden Wirkung bereits in ein zivilisiertes Stadium eingetreten zu sein – überraschenderweise notiert Kassner diese Überlegungen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Den Heiligen jedenfalls begreift er als „de[n] Feind und de[n] Tod des Gerechten“.70 Eine solche Einschätzung mußte für Zündstoff sorgen. Es verwundert nicht, daß Rilke der fremden Denkwelt gegenüber weitaus aufgeschlossener ist als Kassner. Mehr noch: Mit seiner Schrift reagiert Kassner möglicherweise nicht nur auf das breite schriftstellerische Interesse an Indien um 1900,71 sondern auch auf Rilkes Überlegungen über das Verhältnis von Kultur, Künstler und Heiligem. Denn 68 69 70 71
Ebd., S. 15. Ebd., S. 42. Ebd., S. 44. Vgl. darüber Ganeshan 1975.
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im Jahr 1912 entbrannte zwischen beiden ein Streit darüber. Rilke schrieb an Kassner: Sie mögens nicht wahr haben, – aber ich weiß es vielleicht mehr als je, daß dem Heiligen und dem Künstler das Gleiche zugemuthet ist: als Entschluß, als Leistung. Nur daß beim Künstler die immense Richtung sich, kaum erreicht, gegen ihn selber kehrt, als Anforderung. Der Ansturm, mit dem er Heiligkeit meinend gegen Gott zu sich vorgerissen hätte, bricht sich an ihm selbst und treibt ihn in die Höhe. Es geht darum freilich nicht an, zwischen beidem zu zögern.72
Rilke zufolge müssen sich Künstler und Heiliger derselben ‚Zumutung‘ stellen, in anderer Weise allerdings. Während der Heilige passiv bleibt, sieht sich der Künstler gefordert. Wovon und inwiefern bleibt unklar. Die Bilder, die Rilke verwendet, lassen sich dahingehend deuten, daß sich der Künstler auf „Heiligkeit“ ausrichtet, daß diese Richtung sich aber plötzlich umkehrt und ihn auf die Höhen eines göttlichen Olymps erhebt. So betrachtet erweist sich Rilkes Künstler als ein Gott wider Willen. Er paßt nicht in Kassners kriegerischen Dualismus, der die Handlungsrollen der Heiligen und des Kulturmenschen nach Rilkes Brief erst recht und zugunsten des Kulturmenschen auseinandertreibt. Gemeinsam mit Gide wendet sich Rilke für seine Poetik dem ‚indischen‘ Gegentypus zu: dem innig, ahistorisch, mythisch, kultisch Seienden – dem (psycho-physischen) Monisten, dem Heiligen. Er wird zum poetologischen Leitbild, zum Ideal des Künstlers (und damit des Dichters), wie es die Keats-Gedichte und die Sonette darstellen. Dafür, daß die Kassner-Diskussion in diesem Zusammenhang wichtig ist, läßt sich über den Brief hinaus – erstens – ein materielles Indiz gewinnen: An den Beginn von Kassners Aufsatz „Der Heilige“ aus Der indische Gedanke legte Rilke ein vergilbtes Pergament als Lesezeichen.73 Zweitens beschreiben Rilkes Keats-Gedichte den Dichter als Heiligen, als Rühmer. Die Vokabeln „Rühmer“ und „rühmen“ gehören wiederum 72 Rilke an Kassner (?), Briefentwurf aus Duino, [Januar 1912 (?)], in: Rilke u. Kassner 1997, 16., S. 66; ebenfalls zitiert in Bohnenkamp 1997, S. 66. 73 Das Lesezeichen findet sich auf den Seiten 30 f. in einem der beiden Exemplare von „Der indische Gedanke“ (1913) im Rilke-Archiv: eines enthält das Lesezeichen, ein anderes die Widmung „Für Rainer Maria Rilke von Rudolf Kaßner München 24.5.19.“ Es wurde über die Auflage hinaus für Kassner gedruckt und ist in weißes Pergament gebunden (mit Goldaufdruck). – Im Jahr 1914 wurden Rilkes Bücher versteigert: Sie lagerten in Paris, und er konnte seine Miete nicht mehr bezahlen. Kassner schenkte ihm seine Bücher im Jahr 1919 wieder.
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zu denjenigen, die den orphischen Gesang der Sonette kennzeichnen (I,7; I,8). Rilke führt den poetologischen, ästhetischen und kulturkritischen Vergleich des Künstlers und Dichters mit dem Heiligen fort, und der Vergleich bringt Fragen mit sich: diejenigen nach der Seelenwanderung, nach dem Ich überhaupt, nach dem Tod und – vor allem – nach der Unsterblichkeit. Denn – mit Kassner: „Heilig werden bedeutet [...] den Tod in sich vernichten, bedeutet ohne Tod zu leben.“74 In den Sonetten steht der so provokante wie rätselhafte Satz: „Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns ...“[,]75 möglicherweise deshalb an zentraler Stelle. „Wolle die Wandlung“ folgt unmittelbar darauf. Diese Aufforderung treibt jene Vorstellungen von Wandlung auf die Spitze, wie sie die Sonette poetologisch formulieren und zugleich an sich selbst veranschaulichen: Wenn Töten Trauern meint, dann bestätigt Rilkes Sprecher einerseits die ‚alttestamentarische‘ Moral Kassners, andererseits überführt er diese aus der Geschichtlichkeit in ein zyklisches Weltbild. Wandlung meint also nicht nur ein sukzessives Ablösen von Lebensbereichen, Lebensformen, Tätigkeiten und Motiven, sondern sie umfaßt auch die Wendung ins Gegenteil. Eine moralische Richtung hat sie im Fall Rilkes aber nicht: Figuren der Unschuld (Orpheus, Eurydike, Einhorn, Blume, Ding, Kind) stellen nur Facetten des allgemeinen Wandels dar, also auch Facetten von Wir und Ich, Zivilisation und Maschine. Alles ist zugleich schuldig und unschuldig; eines ist im anderen schon angelegt – und nichts bleibt. Gleichwohl wird die Wandlung nicht als eine ‚ewige Wiederkehr des immer Gleichen‘ begriffen, sondern als ein fortschreitender Prozeß der Vervollkommnung. „Alles Vollendete fällt heim zum Uralten“, so lautet die Losung der Sonette für diesen Prozeß.76 Es handelt sich um ein Fortschreiten zum eigenen Ursprung, um einen umgekehrten Prozeß. Weil erst das Vollendete das „Uralte[]“ erreicht, gilt es als erstrebenswert. Aber was ist das Vollendete und was folgt daraus für die poetologische Reflexion der Sonette? Wenn die Sonette als ein Anruf an Orpheus gedacht sind und er als zentrale Figur für ihre Poetik gilt, dann muß die Antwort mit ihm verbunden sein. Als mythische Figur steht er exklusiv für den Gesang (I,5), und zwar für einen besonderen Gesang:
74 Kassner 1921, S. 17. 75 Rilke 1996, II, Teil II, Son. 11, S. 262, V. 12 [Hervorhebungen im Original]. 76 Ebd., I, Son. 19, S. 250, V. 3 f.
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Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr, nicht Werbung um ein endlich doch Erreichtes; Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes.77
„Gesang ist Dasein“, so heißt die Zauberformel. Sie bezeichnet eine Gegenwart, die nicht auf Zukünftiges, auf Fortschritt und auf Entwicklung, sondern nur auf das Jetzt schaut. Ein anderes Sonett gibt Aufschluß über dieses ‚gegenwärtige Dasein‘: Sei immer tot in Eurydike –, singender steige, preisender steige zurück in den reinen Bezug. Hier, unter Schwindenden, sei, im Reich der Neige, sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug. Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung, den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung, daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.78
Der singende Orpheus zeigt sich als eine Ansicht der verstorbenen Eurydike; er ist ‚immer tot‘ in ihr. Sein „Dasein“ spielt sich also schon immer in beiden Welten ab. Deshalb weiß er „um des Nicht-Seins Bedingung“, stirbt und vollzieht damit die in ihm selbst angelegte Bewegung nach – allerdings nur ein einziges Mal. Er zerspringt wie Glas, geht aus seinem Zustand in einen anderen über. Dasein läßt sich demzufolge als „reine[r] Bezug“ auf etwas verstehen; es ist selbst schon Wandlung und Nicht-Sein (II,29).79 Entsprechend rühmt der Sänger (wie Keats) bloß „ahnend“ und vorläufig; doch sein „unendliche[s] Lob“80 wirkt erst dann, wenn es jenem Doppelbereich von Leben und Tod entstammt: „Erst in dem Doppelbereich / werden die Stimmen / ewig und mild.“81 Ziel ist es, eine „reine Spannung“ zu erzeugen, eine „Musik der Kräfte[.]“82 ‚An Orpheus‘ richten sich demnach die Hoffnungen auf einen transitorischen und transzendenten Zustand – ein poetologisches Motiv und zugleich das poetologische Ziel der Sonette, das mit Rathenaus Anforderung an Dichtung übereinstimmt. 77 Ebd., Son. 3, S. 242, V. 5–7. 78 Ebd., Son. 13, S. 263, V. 5–11. 79 Ryan zeigt, daß Rilke den Begriff der Bezogenheit der Paul Klee-Rezeption entnimmt, namentlich Wilhelm Hausensteins Buch „Kairuan“. Hausenstein sieht in Klees Kunst den Versuch, die komplexen Beziehungen der Dinge untereinander zu vermitteln; Ryan 1999, S. 157. 80 Rilke 1996, II, Teil I, Son. 9, S. 245, V. 3 f. 81 Ebd., V. 12–14. 82 Ebd., Son. 12, S. 246, V. 9.
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Wenn sich die Richtung dieser Hoffnungen bestimmen läßt, dann oszilliert aber ihr Gehalt. In dieses Bild paßt es, daß Rilkes Sprecher die ‚poietische‘ Reflexion mit der deutungsoffenen Forderung beschließt, in der Wandlung selbst an allem teilzuhaben. Alles ist hier bloß Gegenstück zu einem Anderen, Teil der kosmogonischen All-Einheit oder des Daseins, das der orphische Gesang zelebriert. Selbst der Tod beendet diesen Wandlungsprozeß nicht, sondern fügt sich als ein Stadium in diesen Prozeß ein. Davon, daß er ohnehin nur für den körperlichen Menschen von Bedeutung ist, konnte sich Rilke durch die Lektüre Keyserlings überzeugen.83 Er löst das (Kassnersche) Prinzip der Individuation auf, und zwar zugunsten einer überpersönlichen Gemeinschaftsidee, die etwas anderes ist als das Gemeinschaftsgefühl, das Rathenau beschwört. Rilke nimmt diese Gemeinschaftsidee auf, insofern sie hilft, poetologische Vorstellungen von Unsterblichkeit und Wandlung zu begründen und das ‚principium individuationis‘ abzulösen, dessen Fluchtpunkt das sterbliche Ich darstellt. Für den Entwurf des orphischen Dichtens in den Sonetten stellt er beides, das Individuationsprinzip und die Bedeutung der Sterblichkeit in Frage.
c) Hermann Keyserling (3 1920) vs. Carl Vogl (1917): Unsterblichkeit – Entpersonalisierung und Kollektivismus oder Geheimlehre der Seele? Im Vorwort zur dritten Auflage von Unsterblichkeit (3 1920, 1. Auflage 1907), die Rilke nutzte, unterstreicht Keyserling seinen wissenschaftlichen Anspruch auf esoterischem Gebiet. Deshalb verfaßt er eine „kritische Phänomenologie“ des Unsterblichkeitsglaubens.84 Er richtet sich an jene Denker, die sich mit den „Grundfragen des Daseins“ befassen und will ihnen darauf antworten.85 Die Ergebnisse von Keyserlings „Phänomenologie“ lassen sich in diesem Sinne auf wenige Aspekte reduzieren. Erstens empfiehlt er ein Leben im ‚Gedanken‘. Nur diesem komme „Ewigkeit“ zu; nur dieser sei unsterblich, und nur in diesem überlebe 83 Dabei spare ich Keyserlings „Reisetagebuch eines Philosophen“ aus, dessen Bedeutung für Rilke schon vielfach hervorgehoben wurde; siehe Simon 2001, S. 79, 237 u. passim. 84 Keyserling 1920, S. XIII. 85 Ebd., S. XXIII.
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der geniale wissenschaftliche oder künstlerische Mensch.86 Keyserling verengt die Perspektive auf die Leistungen des ‚Tätigen‘. Zweitens preist er den Unsterblichkeitsglauben als „zweckmäßig nicht allein im biologischen, sondern auch im ethischen Sinne.“87 Er sorge nämlich zugleich für die „Erhaltung“ und für die „Veredelung der Art, indem er über das Nächstliegende hinaus auf ein hohes Ideal hinweist [...].“88 Drittens geht der Darmstädter Philosoph davon aus, daß der Unsterblichkeitsglaube eine anthropologische (und eschatologische) Konstante darstellt.89 Viertens betrachtet Keyserling das Ich – erkenntnistheoretisch – als eine „grenzenlos fortwirkende Entelechie“, als ein „überpersönliches Prinzip“, das mit der eigenen Person nicht identisch, sondern als „Funktion“ und „Kraft“ gegeben ist.90 Aufgrund dessen ordnet Keyserling den „ethischen Menschen“ einem ‚höheren Prinzip‘, der Familie, dem Volk und der Menschheit unter.91 Keyserlings ‚sittliche‘ Wahrnehmung erweist sich als eine KollektivIdeologie, die das Bewußtsein des Individuums außer Kraft setzt und die vollständige Unterordnung des Einzelnen unter die Belange des ‚Höheren‘ fordert. Der ‚Phänomenologe‘ überhöht diese KollektivIdeologie sogar kosmogonisch – im Sinne einer Ideologie des Werdens, Bewegens und Wandelns: Das Leben ist Werden, Bewegung. Alles Konkrete erscheint nur, um zu verschwinden. Ein Augenblick begräbt den andern. [...] So begräbt ein Individuum das andere. Über Leichen schreitet das Leben fort. Generationen folgen sich in schwindelnder Hast. Blinder Trieb gebietet den Lebendigen, sich der ungeborenen Zukunft zu opfern. [...] Unser Ideal ruht in fernster Zu86 87 88 89
Ebd., S. XXII f. Ebd., S. XVII. Ebd. Ebd., S. 60: „Jeder echt empfindende Mensch fühlt sich als Glied eines höheren Zusammenhangs, mag er sich diesen im Übrigen denken wie er will.“ 90 Ebd., S. 126 f. Als Beleg dafür dient ihm u. a. die psychologische Erkenntnistheorie von William James („Principles of Psychology“, „The consciousness of Self“), die ihm aber als zu radikal erscheint, weil sie das Ich ganz in „Gedankenatome“ auflöse. Hier wirken Erkenntnisse der empirischen Psychologie wiederum in populärer Form nach; ebd., S. 141, Anm. 1). 91 Ebd., S. 200: „Alle nur möglichen Betrachtungen führen zu dem Ergebnis, daß die oberste Voraussetzung des ethischen Menschen, wie er sich auch stellen mag, nicht die Person, sondern ein Höheres ist: die Familie, das Volk, die Menschheit. Das sittliche Bewußtsein spiegelt den natürlichen Zusammenhang, die Fiktionen des Intellekts, der den Menschen zu vereinzeln strebt, werden durchs lebendige Bewußtsein ad absurdum geführt. Jeder fühlt sich ursprünglich als ein Glied der Gesamtheit; für diese lebt er, ob er’s weiß oder nicht.“
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kunft – in einer Zukunft, die vielleicht jenseits des Menschengeschlechtes liegt. Wir wollen den Fortschritt, am Ende den Schritt über das Menschentum hinaus.92
Der Einzelne gilt nichts – das Höhere, die „ungeborene[] Zukunft“, ist alles. Todesfurcht erscheint deshalb bloß als ein „Abgrund kleinlichster Bescheidenheit“.93 „Der Wille zum ewigen Leben“ hingegen ist „identisch mit dem Willen zum zeitlichen Tod.“94 In quasi-literarischer Darbietung, durch den Einsatz von rhythmisierenden Wiederholungsmustern, beschwört Keyserling seine Ideologie der Selbstopferung.95 Ihre ‚Wissenschaftlichkeit‘ allerdings ist durch einen Zirkelschluß erkauft; Keyserling setzt voraus, was er belegen will, und redet einem indifferenten Vitalismus das Wort.96 Dieser wiederum gewinnt seine Dynamik ausschließlich aus sich selbst bzw. aus einer „kosmische[n]“ Prämisse.97 Wenn sich Rilke auch nicht über Keyserlings Unsterblichkeit äußerte, so stehen Keyserlings Gedanken doch in einer gewissen Nähe zu den Sonetten – und sei diese Ähnlichkeit nur struktureller Art: Beide Texte behandeln die Auflösung des Ich bzw. sein multi-perspektivisches und überpersönliches Wirken; beide wenden sich emphatisch dem Dasein oder dem Leben zu; beide sehen das Ich bloß als Bestandteil einer übergreifenden Einheit an; beiden geht es nicht um eine konkrete Moral, sondern um einen ewigen Wandel, der nur Bruchteile des Anderen, Nachfolgenden und Nächsten wahrnimmt. Was der eine als Ideologie formuliert, das setzt der andere in gewisser Weise in Poetik um. Rilke nimmt nämlich Motive in die Sonette auf, die dem KeyserlingText entstammen könnten: das Wissen, „was schweigen heißt“ – mit 92 93 94 95
Ebd., S. 260 f. Ebd., S. 259. Ebd. Diese Auffassungen sind nicht mit der Ideologie des Nationalsozialismus gleichzusetzen, wenn dort auch vergleichbare Aspekte zum Tragen kommen: Keyserling wird nicht zu einem Vordenker des Nationalsozialismus’, sondern vielmehr zu einem der Staatsfeinde des „Dritten Reiches“. Er schreibt bereits frühzeitig gegen einen geistlosen und rassistischen Nationalsozialismus an; Gahlings 1996, S. 236–271. 96 Keyserling 1920, S. XXXV: „Wer den Glauben als Naturerscheinung, das Menschliche aus kosmischer Perspektive betrachten will, muß von allen persönlichen Wünschen absehen. [...] wer dem Leben gegenüber eine peripherische Stellung einnimmt, so daß er auch im Menschlichsten zunächst das kosmische sieht, der hat für jede wahrhaft lebendige Weltanschauung Verständnis, verehrt jeden Glauben, jede feste Überzeugung.“ 97 Ebd.
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Keyserling – „das Tiefste“,98 das Handeln aus „wirklichem Bezug“ und ohne „unsern wahren Platz zu kennen“, die unbewußte, aber elementare Motivation aus dem Höheren (des Kollektivs),99 das „künftige Kind“, das die Jetzigen – wie die Zukunft Keyserlings – übersteigen wird,100 aber auch den Zweifel an einer solchen künftigen Zeit. Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende? Wann, auf dem ruhenden Berg, zerbricht sie die Burg? Dieses Herz, das unendlich den Göttern gehörende, wann vergewaltigts der Demiurg? Sind wir wirklich so ängstlich Zerbrechliche, wie das Schicksal uns wahr machen will?101
Rilkes Sprecher befaßt sich mit einer Zeit, an deren Kommen er – anders als Keyserling – nicht ohne weiteres glaubt. Darüber hinaus spricht er die Todesangst an, die Keyserling als kleingeistig abstraft. Zwar nehmen die Sonette jene Euphorie für die Wandlung auf, die auch Keyserlings Text auszeichnet, aber sie tragen die fragwürdigen kollektivistischen und anti-individualistischen Konsequenzen, die Keyserling aus den Bildern von Bewegung und Wandlung schöpft, nicht mit. Sie prüfen sie vielmehr. Hing Rilke im Blick auf die Unsterblichkeitsfrage also doch eher den Geheimlehren an, von denen Keyserling sein Unternehmen abgrenzt? Mit Carl Vogls Unsterblichkeit. Vom geheimen Wesen der Seele und der Überwindung des Todes (1917) findet sich eine solche Geheimlehre in Rilkes Bücherschrank.102 Vogl geht es um das ‚Andere Leben‘ im Diesseits: um den Magnetismus, um Hellseherei, um Naturerscheinungen, um spirituelle Phänomene und – nicht zuletzt – darum, Tod und Leben in „magische[s] Erleben“ aufzulösen.103 Hier reden Lebende mit Toten, wie im „klassische[n] Beispiel“ der Friederike Hauffe, Kerners ‚Seherin von Prevorst‘, oder wie im Fall des englischen Malers und Dichters William Blake.104 Vogl predigt jene indische Lehre, gegen die Kassner sich absetzt, nämlich die Orientierung auf das ‚Nirwana‘, auf die Bedürfnis- und Körperlosigkeit sowie auf das reine Leben in einem 98 99 100 101 102 103 104
Rilke 1996, II, Teil I, Son. 10, V. 11, S. 245; Keyserling 1920, S. XXIII. Rilke 1996, II, Teil I, Son. 12, V. 5 f., S. 246. Ebd., II, Teil II, Son. 24, V. 10 f., S. 270. Ebd., Son. 27, V. 1–6, S. 271. Janssen 1989, S. 318. Vogl 1917 (RA), S. 266 f. Ebd., S. 284.
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immateriellen Seelenreich.105 Zu diesem Zweck läßt er sich nicht nur von der Magie-Forschung der frühen Ethnologie inspirieren (Tyler, Frazer),106 sondern auch von der Einfühlungsästhetik und -psychologie (Fechner, James, Mach, Proceedings of the Society for Psychological Research, Annales des Sciences Psychologiques),107 vom ägyptischen Totenkult, vom Buddhismus, vom Paracelsismus, vom Mesmerismus und vom Magnetismus Kernerscher Prägung. Rilke interessiert sich – erstens – für Vogls Bericht über die Biographie der ‚Geisterseherin‘ Espérance und für dessen Folgerungen hinsichtlich eines „regen Verkehr[s]“ von Jenseits und Diesseits.108 Mit seinem Bericht will Vogl nämlich Verständnis für die „Behauptung mancher primitiver Völker“ wecken, „Anderland“ sei von den „Erdenmenschen“ nicht getrennt.109 Rilkes Sonette veranschaulichen genau jene ‚Kommunikation‘ von Totenreich und Welt. Zweitens fällt in Vogls Unsterblichkeit das wiederkehrende Motiv des Baumes auf: als „Baum der Erkenntnis“, der dem Menschen zum „Baum des Lebens“ wird und die Apotheose des Menschen einleitet, indem er seine Emanzipation von einem allwissenden und allweisen ‚Dämon‘ befördert.110 Auch die Sonette beginnen mit dem Motiv des Baumes (I,1) und setzen es fort (I,2; I,17; II,28). Vor allem der Baum des ersten Sonetts könnte – mit Blick auf Vogl – Bedeutung erlangen: als Baum der (Selbst-)Erkenntnis, der Reflexion, die den Menschen zu sich selbst und über sich hinausführt. „Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!“,111 liest sich vor dem Hintergrund des Vogl-Texts wie ein Bekenntnis zum „magischen Erleben“, das den Menschen von der Gottgläubigkeit des Christentums zu sich selbst befreit, wenn er Orpheus anruft. Für die Unsterblichkeitslehren gilt das Muster ‚poietischer‘ Auseinandersetzung. Rilkes Sonette wenden sich – auch von Vogls Überlegun105 106 107 108 109
Ebd., S. 267, S. 110–155. Ebd., S. 255. Ebd., S. 271–286. Ebd., S. 13 f. – Von Rilke mit Bleistift angestrichen. Ebd. – Darüber hinaus findet sich in Rilkes Exemplar des Vogl-Texts eines der getrockneten Rosenblätter, die er gern als Lesezeichen verwendete (ebd., S. 142 f.). Es bildet eine winzige Herzform aus und markiert jene Passage, die über das Recht auf Selbsttötung handelt. Vogl gibt die Positionen Humes und Jean-Jacques Rousseaus zum Thema wieder: Selbsttötung sei kein Unrecht – vor allem, wenn jemand einer Gesellschaft zur Last fiele. 110 Ebd., S. 7 u. 207. 111 Rilke 1996, II, Teil I, Son. 1, S. 241, V. 1.
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gen über den „Verkehr“ zwischen Diesseits und Jenseits ausgehend – dem Kosmogonischen zu: der All-Einheit, die dem schöpferischen Menschen, dem Dichter zugänglich ist, wenn er sich dem „magischen Erleben“ öffnet. ‚Poietische‘ Reflexion nimmt Aspekte von Magnetismus, Magie, Kollektiv-Ideologie sowie Bruchstücke östlicher Religionen auf – als Ideen und Motive für eine Poetik, die nicht bei diesen Lehren stehenbleibt, sondern sie (wie im Falle der Unsterblichkeit Keyserlings) selbst prüft. Diese Poetik stimmt keiner dieser Lehren unumwunden zu; sie entwickelt sie vielmehr zu einem Verständnis von Leben weiter, das das Schöpferische überall wirken sieht und Poesie als Versuchsfeld für ein derart umfassendes (kosmogonisches) Lebensund Schöpfungsverständnis begreift. Der Blick auf Schuler erlaubt es, diese Einsicht für eine Interpretation der Sonette als Dokumente einer kosmogonischen Poetik fruchtbar zu machen. d) Alfred Schulers anti-christliche und anti-semitische Kosmogonie (1915–1922): Ich-Auflösung im All-Einen Gelegentlich erwähnte die Rilke-Forschung Schuler, doch nur Gerhard Plumpe riskierte mehr als einen flüchtigen Seitenblick auf den dubiosen Propheten und ‚Mysterienforscher‘.112 Er war für sein menschenverachtendes und anti-wissenschaftliches Sehertum ebenso bekannt wie dafür, daß er die Nähe zu seinen historischen Gegenständen ablehnte: Schuler weigerte sich, sich an Ausgrabungen oder anderen ‚trivialen‘ Betätigungen dieser Art zu beteiligen und setzte auf die direkte Inspiration durch die ‚tellurische‘ Welt.113 Als einzige wissenschaftliche Quelle ließ er das Mutterrecht Bachofens gelten,114 gebrauchte es aber sehr eigenwillig zu dem Zweck, eine eigene ‚orphische‘ Kosmogonie zu verkünden: eine tropische und dionysische Antike, die sich jenseits von 112 Plumpe 1978. In seiner Darstellung der „Sonette“ konzentriert sich Plumpe allerdings auf einige Motive des Texts selbst; genaue Verweise auf Schuler und eine Bilanz zum Bezug von Rilke auf Schuler fehlen. Selbst Siegfried Mandel, der ausführlich über Rilkes Lektüren berichtet, geht die Bezüge von Rilke auf Schuler nicht gründlich – und nicht im Blick auf Schulers Vorträge – durch; Mandel 1982, S. 263–265. Vgl. auch Tschiedel 1987, S. 299; Eom 1988; zusammenfassend Simon 2001, S. 233–236. 113 Faber 1994, S. 92. 114 Es ist unklar, ob Schuler darüber hinaus Bachofens „Die Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie“ (1867) kannte; Kaltenbrunner 1967, S. 341; Plumpe 1978, S. 49–55; Mandel 1982, S. 266 f.
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Zeit und Raum befand und nur vage Anklänge an das römische Kaisserreich kannte. Schuler verkehrte in den Kreisen der Schwabinger („Wahnmochinger“) „Kosmiker“, einer „Männerrunde“ um die Gräfin Franziska zu Reventlow, der – mit wechselnden Gästen – auch George, Albert Verwey, der Anti-Zionist und Anti-Judaist Ludwig Klages, der katholische Mystiker Ludwig Derleth und der erklärte Zionist Karl Wolfskehl angehörten.115 Im Jahr 1904 überwarf sich Schuler mit George und seinem Zirkel; Anlaß war der von ihm und von Klages beobachtete ‚Zionismus‘ des Kreises. Schuler fand andernorts Unterschlupf. Vor ausgewähltem Publikum hielt er in den Jahren 1915 bis 1922 immer wieder dieselben, sich aber nach und nach etwas verändernden ‚Privatvorträge‘ über religiöse ‚Wahrheiten‘.116 Rilke hörte gleich mehrere dieser ‚Vorträge‘ (März 1915, Winter 1917/18), äußerte sich begeistert und tiefbewegt.117 Im Jahr 1923 starb Schuler. Als Rilke davon erfuhr, gedachte er seiner in der kleinen verlassenen Kapelle Muzots: „[...] es wird, ihrer Hinfälligkeit halber, keine Messe mehr in ihr gelesen, und so ist sie nun allen Göttern zurückgegeben und immer voll offener einfacher Huldigung.“118 Rilke wählte den Ort mit Bedacht, denn er paßt zu Schulers Lehre, und sein Gedenken an den ‚Propheten‘ ist Rilke Anlaß aufzuschreiben, was er von Schuler ‚empfing‘: In den Sonetten an Orpheus steht vieles, was auch Schuler zugegeben haben würde; ja wer weiß, ob nicht manches davon so offen und so geheim auszusagen, mir aus der Berührung mit ihm herüberstammt [...].119
115 Faber 1994, S. 92; Beßlich 2000, S. 135. 116 Er sprach in München (bei Hugo und Elsa Bruckmann, Graf von Sessel und Professor Freytag, dem Sohn von Gustav Freytag), Dresden, Berlin, Hamburg, Bremen, Danzig, Wustrow und auf dem westpreußischen Gut Lubochin; Kaltenbrunner 1967, S. 338. George sollen diese „religiöse[n] Tat[en]“ Schulers verschreckt haben; es muß dort mitunter zugegangen sein wie auf einer Séance, die in unverständlichen Äußerungen des ‚Mediums‘ Schuler endete; Klages 1940, S. 73. Ob Klages’ Bericht über Georges Ablehnung von Schulers ‚Vortrag‘ stimmt, kann hier nicht geprüft werden. Er ist gleichwohl mit Vorsicht zu behandeln, weil es Klages darum geht, George als Mittäter einer jüdischen Verschwörung zu entlarven, die ‚der Jude Wolfskehl‘ gegen Schuler und ihn selbst angezettelt habe. Siehe Faber 1994, S.95 u. passim. 117 Eom 1988, S. 138, Anm. 145. 118 Rilke an Clara Rilke, Château de Muzot sur Sierre, Valais, am 23. April 1923, in: 1991, II, S. 301–303, hier S. 301; auf diesen Brief bezieht sich schon Fülleborn 1999, S. 21. – Auch Clara Rilke war mit Schuler bekannt; sie fertigte kurz vor seinem Tod eine Büste von ihm. 119 Ebd.; für das Zitat auch Plumpe 1978, S. 209.
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Rilkes behauptet eine prinzipielle und weitgehende Übereinstimmung mit Schuler.120 Ob Schuler darüber hinaus aber auch anregte, was die Sonette aussprechen – darüber schweigt Rilke, eröffnet aber die Möglichkeit zu einer solchen Einschätzung. Auf was könnte sich Rilke beziehen, wenn er in den Sonetten eine geistige Verwandtschaft mit Schulers Mysterien erblickte? Ein Aspekt ist unstrittig und in der Rilke-Forschung akzeptiert: Schulers Lehre von der Zweigeschlechtigkeit des schöpferischen Menschen, des Poeten, auf die Rilke mit dem zweiten Sonett des ersten Teils („Und fast ein Mädchen wars und ging hervor“) anspielt.121 Unter den „Kosmikern“ galt der Hermaphrodit als Charaktertyp, den man nicht selten karnevalesk nachahmte; der „homosexuelle[] Muttersohn“, „Herr Dame“ Schuler verkörperte ihn perfekt.122 Schulers Spekulationen über den ‚hermaphrodisischen‘ Schöpfer und Erlöser erschließen sich aber erst, wenn man den problematischen Kontext der Lichtmystik bedenkt, in den er sie einbettet. Sie setzt einen einfachen Dualismus voraus, nämlich die Annahme von einem „freie[n], offene[n], ungebrochene[n] Leben“ („Zeitalter des Fortschritts, der Evolution“) einerseits und von einem ‚geschlossenen‘, „zerspalteten“, entfremdeten, zwanghaften, „gebrochenen“ Leben andererseits.123 Unschwer läßt sich das „offene Leben“ als das wünschbare erkennen; es spiegelt den Kosmos wieder und wird durch das „Swastika“, das Hakenkreuz, versinnbildlicht, das sich wie ein Rad drehe und damit die Rotationsbewegungen zyklischen und sich wandelnden Lebens demonstriere.124 Aber, so die Annahme Schulers, dieses „offene Leben“ sei durch den Prozeß einer Teilung der Menschen in eine männliche und eine weibliche Hälfte gefährdet, die Hoffnung auf seine Wiederherstellung durch einen jüdischen „Geheimbund“ 120 121 122 123 124
Weitere Belege in Eom 1988, S. 138 f. Rilke 1996, II, Kommentar, S. 730. Faber 1994, S. 18. Schuler 1940, S. 162. Schuler gilt seinem Herausgeber Ludwig Klages als der Wiederentdecker des Swastika. Er scheut aber davor zurück, Schulers Entdeckung in Vorläuferschaft zum nationalsozialistischen Gebrauch des Kreuzes zu rücken; Klages 1940, S.54 f. Gerd-Klaus Kaltenbrunner läßt keinen Zweifel daran, daß Schulers Hakenkreuz-Mythos im Kern die Elemente des späteren nationalsozialistischen „Mythus“ enthält; Kaltenbrunner 1967, S. 337; Faber 1994, S. 86. – Das Motiv der halben und ganzen Kugel, das Schulers Hakenkreuz ‚ziert‘, kehrt bei Rilke wieder; siehe Eom 1988, S.140. Rilke kennt das Motiv der Swastika aber auch aus Spenglers „Untergang“; er unterstreicht die entsprechende Passage (Spengler 1918, RA, S. 236).
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zerstört.125 Beim Turmbau zu Babel hätte er ‚die Elohim‘ veranlaßt, die Sprachen der Völker so zu verwirren, daß die Völker die „ätherische Einheit“ der Hälftenmenschen nicht wiederherstellen konnten.126 Der ‚jüdische Geheimbund‘ also sei für die Unterjochung der „Entlichteten“ verantwortlich.127 Schuler aber weiß ein ‚Gegenmittel‘: die „kosmische Zelle“, ein „Kraftkomplex“, der – dem „logos spermaticos“ Keyserlings vergleichbar128 – eine ausgewogene „Mischung der männlichen und weiblichen Substanz“ enthält.129 Sie findet sich im „hermaphrodisische[n]“ Menschen, idealiter im Jugendlichen.130 Dieses Gegenmittel, dem Rilke das poetologische Motiv des ‚hermaphrodisischen Mädchens‘ entnimmt, erhält seinen mystischen ‚Sinn‘ also erst aus einer anti-semitischen und anti-christlichen Lehre. Rilke mußte sie bekannt gewesen sein; für die Sonette kappt er sie zugunsten einer zeit- und ortlosen Euphorie für die „hermaphrodisische“ Jugend. Unter poetologischem Aspekt steht sie als Chiffre für Inspiration oder für besondere Inspirierbarkeit und meint zugleich das Ideal des schöpferischen Menschen, des ‚homo creativus‘, des Dichters, der sowohl männlich als auch weiblich ist.131 Der Orpheus der Antike wandelte zwischen den Welten; derjenige Rilkes wandelt – mit Schuler – auch zwischen den Geschlechtern. Aber Rilke beläßt es nicht bei diesem poetologischen Bezug auf die Vorträge des ‚Propheten‘: Die „kosmische Zelle“, so will es der ‚Mysterienforscher‘, zeuge sich allein aus demVerkehr mit den Toten, aus dem „offenen Leben“.132 Es entstehe nur dadurch, daß die Toten unter die Lebenden zurückkehrten. Genau das geschieht in Rilkes Sonet125 126 127 128
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Schuler 1940, S. 163–165. Ebd. Ebd., S. 164. Als Programmatiker der Darmstädter Lebensphilosophie spricht Keyserling von jenem „logos spermaticos“ als von einem zugleich befruchtenden und erzeugenden Geist; Gahlings 1996, S. 124. Schuler 1940, S. 168. Ebd., S. 172. Rilke war bereits mit Thesen über Entwicklung und ‚Wesen‘ der Homosexualität vertraut: mit Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“ (1903) und Hans Blühers „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“ (1917–1919); siehe Simon 2001, S. 243. Schuler aber geht es nicht nur darum; vielmehr zielt er auf eine ‚Heilslehre‘ für die ‚verweichlichte‘ Gesellschaft, die bloß Impulse aus solchen Sexualitätstheorien bezieht. Schuler 1940, S. 172–179.
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ten;133 sie verbinden Tod und Leben. Spielte Rilkes Sprecher mit dem ‚hermaphrodisischen Mädchen‘ auf den Poeten selbst an, so leiten Schulers Vorstellungen von der „kosmische[n] Zelle“ und vom „offenen Leben“ die lyrischen Beschreibungen der poetischen Tätigkeit. Sie gelingt, wenn sie – wie Vogl es für den „Verkehr“ des Primitiven mit den Toten beschreibt – zwischen Tod und Leben oszilliert. Als Beispiele für die Vermischung von Schulers und Vogls Vorstellungen gelten mir das sechste und vierzehnte Sonett aus dem ersten Teil der Sonette. Im sechsten Sonett werden die Toten lebendig; das vierzehnte beschreibt ihr Handeln:134 Sie ‚stärkten‘ die Erde. Die Bildlichkeit beider Sonette („Gräber[]“, „Fingerring“,135 „Zwischending aus stummer Kraft und Küssen“)136 erinnert an Schulers Beschreibung eines Friedhofs, auf dem die „hermaphrodisischen“ Jugendlichen Liebesbünde schließen und der als ein „Rosengarten des universellen, Eins gewordenen Lebens“ erblühe.137 Denkbar wäre im Blick darauf, daß der Baum, den Rilke an den Beginn der Sonette stellt, nicht nur aus der Betrachtung der Jugendstil-Bäume des Worpsweder Malers Heinrich Vogeler138 oder aus Vogls Baum-Mystik, sondern auch aus Schulers „Seelenbaum als Lebensbaum“ erwuchs, der als Symbol für die Wiedervereinigung der ‚Hälftenmenschen‘ steht.139 Wenn Rilke außerdem in einem Brief an Hedwig Jaenichen-Woermann davon spricht, daß Schuler dem Hörer einen „Durchschnitt des Lebens-Stammes [...] nah über seiner Wurzel“ biete,140 dann ist dies nicht nur ein weiterer Beleg für den Zusammenhang der Schulerschen Lehren mit der Baummetaphorik der „Sonette“, sondern der Brief erlaubt es, diesen Zusammenhang sogleich weiterzuspinnen – mit Blick auf das vierzehnte Sonett des ersten Teils: „Sind sie [die Toten] die Herren, die bei den Wurzeln schla133 Schon Rilkes Weggefährtin Lou Albert-Lasard erinnerte sich daran, daß Rilke in Schulers Vokabel vom „offenen Leben“ die eigenen Wahrnehmungen bestätigt sah; Eom 1988, S. 141; vgl. über das „offene Leben“ auch Plumpe 1987, S. 224 f. Diese Vorstellung erinnert auch an Maeterlincks Ansichten über das ‚tiefe Leben‘, die Rilke interessiert aufnahm; Fick 1993, S. 191. 134 Über die Todesmotivik in den „Sonetten“ siehe darüberhinaus Eom 1988. 135 Rilke 1996, II, Teil I, Son. 6, V. 14, S. 243; dazu auch Plumpe 1987, S. 224. 136 Rilke 1996, II, Teil I, Son. 14, V. 14, S. 247. 137 Schuler 1940, S. 176. 138 Über Vogeler und Rilkes Bild der „In Laub ausschlagende[n] Leier“ Leisi 1987, S. 190–192, 250–253. 139 Schuler 1940, S. 176. 140 Brief Rilkes vom 11.4.1818[15] an Hedwig Jaenichen-Woermann, in: Storck 1975, S. 219; Eom 1988, S. 139.
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fen“, fragt der Sprecher dort.141 Er ist sich über die Stellung der Toten nicht sicher. Wenn Schuler etwas lehrt, was der Wurzel des „LebensStammes“ nahekommt, dann bleibt seine Lehre selbst doch unklar. Obwohl also auch Schuler keine letzte Gewißheit vermitteln kann, nimmt Rilke das Motiv der Wurzel hier auf. Der Blick auf den Intertext desselben Sonetts stimmt allerdings skeptischer, was Rilkes poetologische Rezeption der Lehre Schulers betrifft: Tote leben hier nicht einfach mit, sondern entfalten ein Eigenleben. Es frage sich nämlich, so der Sprecher der Sonette, ob sie sich gern am irdischen Leben beteiligten.142 Wie im Falle Keyserlings nutzt Rilke sein poetologisch begründetes Privileg zur ‚Poiesis‘. Er läßt sich zwar von Schuler anregen, deutet dessen Bilder und Beschreibungen jedoch so sehr um, daß sie sich nicht mehr in dessen weihevolle Kunde einfügen lassen. Rilke verfremdet seine Quelle und verbindet sie mit anderen Vorstellungen über das Zusammenspiel von Tod und Leben: mit den Eindrücken und Bildern, wie sie die Stadt Rom vermittelte, mit dem Bild des Wassers, das die „unlebendige und trübe Museumsstimmung“ der besiedelten Gedenkstätte belebt.143 Hinzu kommt die Denk- und Bildwelt Ägyptens. Denn auch das „ägyptische[] Erlebnis“, seine Reise nach Ägypten, will Rilke in den Sonetten gestaltet haben.144 Mit Mechtilde Lichnowskys Götter, Könige und Tiere in Ägypten (1914) ist es bereits ein literarisches Ereignis geworden:145 Lichnowsky berichtet von ihrer Reise in das Land des Totenkults, der Pharaonengräber, der Totenbücher und Totenfelder. Hier begibt sich eine eigensinnige Dame der besseren Gesellschaft in die Totenwelt des alten Ägyptens. Immer wieder vergleicht sie die ägyptische mit der europäischen Zivilisation, entdeckt das Düstere, aber auch das Faszinierende und Ästhetische der ägyptischen Hochkultur: „So wie der Christ das Gute, so tat der Heide das Schöne.“146 Rilke kann bruch141 Rilke 1996, II, Teil I, 14, V. 12, S. 247 [Hervorhebung im Original]. 142 Ebd., V. 9, S. 247: „Nun fragt sich nur: tun sie es gern ...?“ 143 Rilke an Kappus, Rom, am 29. Oktober 1903, in: Rilke 1989, S.36–39, hier S. 36 f. Siehe Rilke 1996, II, Teil I, Son. 10, V. 1–4: „Euch, die ihr nie mein Gefühl verließt, / grüß ich, antikische Sarkophage, / die das fröhliche Wasser römischer Tage / als ein wandelndes Lied durchfließt.“ Ebd., II, Son. 29, V. 12–14: „Und wenn dich das Irdische vergaß, / zu der stillen Erde sag: Ich rinne. / Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.“ 144 Rilke an Katharina Kippenberg, Château de Muzot sur Sierre, Valais, am 23. Februar 1922, in: ders. 1991, II, S. 224–226, hier S. 225. 145 Für den Nachweis, daß Rilke das Buch besaß: Janssen 1989, S. 303. 146 Lichnowsky 1914, S. 222.
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los an die Reise-Schilderungen der Fürstin anküpfen, mit der er selbst bekannt war.147 Sowohl der Darbietungsgestus Lichnowskys als auch ihre Wahrnehmungen entsprechen dem spielerischen und zugleich verehrenden poetologischen Todes- und Lebenskult der Sonette; sie erheben die ernste Kosmogonie Schulers – im Blick auf Rom und Ägypten – zum literarischen Sinnenfest. Der Bedeutung der Todes-Symbolik konnte sich Rilke darüber hinaus durch Spenglers Untergang des Abendlandes versichern: Spengler handelt ausführlich über den ägyptischen Totenkult und beschreibt, wie im „ägyptischen Stil“ der Tod „gebannt“ sei.148 In Spenglers historischen Spekulationen gerät Ägypten zur Chiffre für einen lebendigen Umgang mit dem Tod, und Rilke greift Spenglers Deutungen dankbar auf. „Ägypten“, notiert Rilke am Beginn von Spenglers Ausführungen darüber an den Rand des Untergangs.149 Das „Ursymbol“ ägyptischen Denkens sei der „Weg“, das „Wandern“ auf einem „Lebenspfad“, der schicksalhaft zu den Toten führe, schreibt Spengler.150 ‚Dem Ägypter‘ seien Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen fern; er sorge sich „um die Toten und die Ungebornen oder nur um das Glück der Stunde.“151 Immer wieder unterstreicht Rilke Spenglers Beschreibungen mit einem Bleistift, das Wort „Weg“ gleich doppelt.152 In der WandlungsThematik der Sonette kehrt dieses ‚ägyptische Thema‘ wieder; ihre ‚metamorphische‘ Struktur setzt es um: Daß „die notwendige Kunst tot ist“, heißt es bei Spengler (von Rilke wiederum doppelt unterstrichen).153 Was genau Spengler damit meinte, bleibt unklar. Rilke jedenfalls faßt Spenglers Beschreibungen normativ auf, nimmt die Lehre von „Weg“, „Wandern“ und vom Toten im Lebendigen poetologisch ernst, begreift sie als poetologische Weisung für seinen orphischen ‚homo creativus‘, für den Dichter und für das Verfertigen von Literatur schlechthin. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Uralten vervollständigt dieses Bild. Hier sind Rilkes poetologische Verse unmittelbar in Schu147 Es gab einen kurzen Briefwechsel zwischen beiden, der aber nicht mehr auffindbar ist; auch Rilkes Exemplar von „Götter, Könige und Tiere“ (vormals Rilke-Archiv) ist verschwunden. 148 Spengler 1918 (RA), S. 269–287, bes. S. 285. 149 Ebd., S. 269. 150 Ebd., S. 269 u. 271; beide Male von Rilke unterstrichen, teils sogar doppelt. 151 Ebd., S. 279. 152 Ebd., S. 269. 153 Ebd., S. 285.
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lers kosmogonische Lehren übersetzbar:154 „[...] alles Vollendete fällt / heim zum Uralten,“155 bemerkt Rilkes Sprecher, und preist das Zwischenreich des Orpheus. Im Prinzip weiß sich Rilke in der Lehre über das „offene Leben“, über die „hermaphrodisische“ Schöpferkraft und über das Wandeln von Leben in Tod und Tod in Leben mit Schuler einig. Aber Rilke setzt andere Akzente, verkürzt Schulers Lehre auf ihren gemäßigt lebensreformerischen Gehalt, reinigt sie von Radikalisierung und Vergröberung, kappt die anti-semitischen Passagen, gestaltet sie als „poetische[] Kosmologie“,156 die die Schulersche Lehre befragt, um sie in Poetik zu übersetzen. Im Zentrum stehen dabei die Beschreibung vom „offenen Leben“ für die poetische Tätigkeit sowie die Forderung nach Wandlung im Sinne eines „kosmischen“ Lebens: „Alle leben im All.“157 Das Ich des orphischen Menschen, des Poeten, löst sich im All-Einen, im Kosmos auf,158 begreift sich als männlich und weiblich, als tot und lebendig zugleich. Mit Keyserling zu reden: Das schöpferische Ich wird zur grenzenlosen Entelechie. Wie die kosmogonische Lehre Schulers läßt sich die kosmogonische Poetik der Sonette aber nur vor dem Hintergrund der Überzeugung entfalten, daß das Christentum – ebenso wie alle anderen Religionen – nicht mehr trägt. In der Tat widerstreben Rilke die Erbsündelehre,159 die Christologie, der Jenseitsglaube und die Diesseitsverleugnung.160 Mit Schuler und Keyserling stellt Rilke eine „Diesseitsbejahung“161 dagegen, die das transzendierende Erlebnis Gott sucht.162 Ril154 Schuler 1940, S. 179: „Der Tod ist nicht das ‚große Reservoir des Lebens‘, sondern die Quintessenz (die Saite, welche, zwischen dem Diesseits und Jenseits gespannt, den süßesten Wohllaut erklingen läßt); aber die Geburten kommen von dort, wohin die Toten gehen [...].“ 155 Rilke 1996, II, Teil I, Son. 19, V. 3 f., S. 250; darauf verweist auch Plumpe 1978, S. 219. 156 Der Begriff stammt von Groddeck 1993, S. 135. 157 Schuler 1940, S. 163. 158 Vgl. auch die verwandten Formen des Ozeanismus, die Wolfgang Riedel aufzeigt; ders. 1996, S. 85 u. passim. 159 Schuler 1940, S. 165. 160 Fülleborn 1999, S. 34. 161 Noll 1953, S. 120. – Ob diese „Diesseitsbejahung“ aber so „uneingeschränkt[]“ ist, wie Noll vermutet, bleibt fraglich. 162 Rilke an Rudolf Zimmermann, Château de Muzot sur Sierre, am 10. März 1922, in: Rilke 1991, II, S. 226–228, hier S. 227 [Hervorhebung im Original]: „Es ist in mir eine am Ende doch ganz unbeschreibliche Art und Leidenschaft, Gott zu erleben, die unbedingt dem Alten Testament näher steht, als der Messiade; ja, wenn ich zugleich allgemein und wahr sein wollte, so müßte ich gestehen, es sei mir doch, zeitlebens, um nichts anderes zu tun, als in meinem Herzen diejenige Stelle zu entdecken und zu be-
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ke gedenkt Schulers deshalb bewußt nicht in einem kirchlichen Sinne. Vielmehr erweist sich Rilke als Jünger eines religiösen Lebenskultes163 – Leben verstanden als ein Zusammenspiel von Tod und Wandlung, als „Identität“ von „Fruchtbarkeit und Seligkeit“, wie sie auch die Sonette beweisen sollen:164 Die Fruchtbarkeit hat die Menschen erschreckt und entsetzt: aber wo ist ein Süßes und Herrliches, das nicht zu Zeiten diese Maske trüge, die des Fruchtbaren? [...] Wer nicht der Fürchterlichkeit des Lebens irgendwann, mit einem endgültigen Entschlusse zustimmt, ja ihr zujubelt, der nimmt die unsäglichen Vollmächte unseres Daseins nie in Besitz, der geht am Rande hin, der wird, wenn einmal die Entscheidung fällt, weder ein Lebendiger noch ein Toter gewesen sein.165
Die Sonette, so will es Rilke also in einer seiner poetologischen Selbsterklärung, predigen einen gewissen Vitalismus, preisen die Entscheidung für ein ganzheitliches Leben. Immer wieder nehmen sie Fruchtbarkeitstopoi auf, die der Schweizer ‚Bergheimat‘, dem frühindustriellen Agrarland um Muzot sur Sierre entstammen:166 Anschauungen aus der Walliser Blumenwelt ‚umranken‘ die lebendig-tote Bilderwelt der Sonette.167 Fruchtbarkeit aber setzt eine Entscheidung voraus, nämlich die positive Entscheidung zur Welt, zur Schöpfung und Selbstschöpfung: Allein der „Schöpfergedanke[]“, so Rilke, sei ein „Genuß“; doch gilt er „nichts ohne seine fortwährende, große Bestätigung und Verwirklichung in der Welt.“168 Welt, Tiere und Dinge müssen dem Schöpfer und der Schöpfung zustimmen; ohne sie tritt die Schöpfung nicht in Kraft.
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leben, die mich in Stand setzen würde, in allen Tempeln der Erde mit der gleichen Berechtigung, mit dem gleichen Anschluß an das jeweils dort Größestes anzubeten.“ Den Brief zitiert bereits Fülleborn 1999, S. 19. Schuler 1940, S. 163 [Hervorhebungen im Original getilgt]: „Im offenen Leben ist keine Religion, denn das Leben als solches ist eine religiöse Tatsache.“ Rilke an Margot Sizzo (wie Anm. VI., 23), S. 296 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 296 [Hervorhebung im Original]. Rilke 1996, II, Teil I, Son. 13, V. 1–3: „Voller Apfel, Birne und Banane, / Stachelbeere ... Alles dieses spricht / Tod und Leben in den Mund ... Ich ahne ...“; Ebd., Son. 14, V. 1–3: „Wir gehen um mit Blume, Weinblatt, Frucht. Sie sprechen nicht die Sprache nur des Jahres. Aus Dunkel steigt ein buntes Offenbares [...].“ Siehe auch ebd., Son. 15; ebd., II, Son. 18; für eine immanente Beschreibung dieser Abschnitte Kaiser 1996, II, S. 665–667. Die Anemone beispielweise (Rilke 1996, II, Teil II,5) gilt ihm als eine Sonderzüchtung des Wallis. Rilke an Margot Sizzo (wie Anm. VI., 23), S. 299 f. Rilke an Franz Xaver Kappus, z. Zt. Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903, in: Rilke 1989, S. 27–35, hier S. 31.
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Vor dem Hintergrund eines religiös indifferenten, dezisionistischen und konsenssuchenden Vitalismus schreiben die Sonette – folgt man ihrem Autor – Schöpfungsgeschichte: keine Schöpfungsgeschichte im biblischen Sinne, sondern eine Geschichte der permanten ‚poiesis‘ oder ‚creatio‘. Die Sonette entwerfen Bilder eines andauernd sich erneuernden ‚Bios‘. Dichten ist Schöpfen ist Schaffen; Rilkes Text gliedert sich in das weite Feld der Lebensreform um 1900 ein, steht für einen allumfassenden poietischen Lebens- oder besser: Daseinskult. Bei Rathenaus, Kassners, Keyserlings, Lichnowskys, Spenglers und Vogls Texten sowie bei Schulers Vorträgen handelt es sich nicht um die einzigen Dokumente, die Rilke dazu anleiten, aber sie zählen – vermutlich – zu den wichtigsten Quellen für die Sonette.169 Ihnen entstammen poetologische Denkfiguren: erstens die Suche nach dem Transzendenten und doch Irdisch-Lebendigen als Motiv und Ziel von (Dicht-)Kunst (Rathenau, Lichnowskys, Schuler, Spengler). Diese ist – zweitens – mit der Beschreibung von der schöperischen und besonders der poetischen Tätigkeit im Sinne eines „offenen Leben[s]“, eines Wandelns zwischen Leben und Tod (Lichnowsky, Schuler, Spengler, Vogl) im Blick auf ein zyklisches Welt-, Geschichts- und Schöpfungsbild verbunden (contra Kassner). Drittens entnimmt Rilke Kassners Keats-Darstellung (mit Gide) das Ideal des heiligen Poeten, das sich mit Thesen von der Ich-Entelechie bzw. vom „kosmischen“ Ich (Rilke mit Keyserling bzw. Schuler) sowie mit der Phantasie vom ‚hermaphrodisischen Menschen‘, dem zwei-geschlechtlichen ‚homo creativus‘ (Rilke mit Schuler) verknüpft, der seine Kraft aus dem „logos spermaticos“ oder der „kosmischen Zelle“ (Keyserling, Schuler) schöpft. An der Schwelle zum literarischen Text werden diese Denkmuster, Thesen und Spekulationen ihrer weltanschaulichen Härte entledigt. Rilke kostümiert sie neu: in melodische und wirklichkeitsnahe Sprach169 Beispielsweise erscheint es als unwahrscheinlich, daß Rilke – von der sprachlichen Durchbildung abgesehen – viel mit François Châteaubriands „Mémoires d’outretombe“ anfangen konnte, die bloß thematisch benachbart sind. Für den Nachweis des Châteaubriand-Texts in Rilkes Bibliothek: Janssen 1989, S. 298. Die „Mémoires“ predigen einen entschlossenen Katholizismus – gegen alle Anfeindungen durch neue Morallehren oder gar durch neue kosmogonische Religionen. Châteaubriand 1983, II, livre 37, chap. 7, S. 930: „Dans toutes les hypothèses, les améliorations que vous désirez, vous ne les pouvez tirez que de l’Évangile. [...] Toute acte de philantropie auquel nous nous livrons, tout système que nous rêvons dans l’intérêt de l’humanité, n’est que l’idée chrétienne retournée, changée de nom et trop souvent défigurée [...].“
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Gewänder. ‚Poietische‘ Reflexion meint hier Dekontextualisierung, Poetisierung und – mit Rathenau – „Andacht zum Transzendenten“, zum transzendent Lebendigen oder zum lebendig Transzendenten.
3. Im Ausgang aus der „poésie pure“: Rilkes lebensreformerischer Neuentwurf Aufgrund dieser ‚poietischen‘ Reflexionen, die ihre Quellen und Motive tilgen, verändern, sich permanent im Fluß befinden, läßt sich über die poetik-geschichtliche Einordnung der Sonette trefflich streiten: Jede Denkrichtung scheint im Laufe dieser Wandlungen bedacht, jedes poetische Vorhaben in sein Recht gesetzt zu werden. Auch im Blick auf dieses Phänomen der Vieldeutigkeit enttäuscht die Forschung nicht; sie hat die Möglichkeiten der Einordnung schon abgesteckt – allerdings nur entlang der großen poetik-geschichtlichen Linien: Gerok-Reiter sieht in den Sonetten einen Symbolismus der sprachspielerischen und quasi-mathematischen Variante am Werk;170 sie betont demzufolge Rilkes Neigung zur literarischen Moderne.171 Judith Ryan hingegen spricht für Rilke von einem ‚restaurativen Modernismus‘ („restorative modernism“), der elegische Züge trage:172 „Rilke’s process of self-creation was in fact a life-long project of restoration.“173 Aus ihrer Sicht läßt er sich in keine der Autorgruppen um 1900 einordnen; er sei seinen eigenen Weg zwischen der „pure poetry“ Mallarmés und Valérys einerseits und der Wiederbelebung einer mehr oder minder klassischen deutschen Dichtungstradition andererseits gegangen, ohne dabei aber – wie Valéry – in bloßen Klassizismus abzugleiten, oder sich – wie Eliot oder Pound – in Ironie zu retten.174 Ich will an Ryans vermittelnde Beschreibung anknüpfen, sie aber erheblich erweitern. Denn gerade die Sonette zeigen, wie sich mit antimodernistischem Affekt modern dichten und wie sich die Form des Sonetts zu diesem Zweck nutzen läßt:175 Rilke erweist sich in diesem Text 170 Siehe auch mit Blick auf Maurice Maeterlinck Jacobs 2001. 171 Vgl. auch Ariane Wild (2002, S. 318), die die Todesmotivik der „Sonette“ mit Blick auf die ‚décadence‘ deutet. 172 Ryan 1999, S. 219–227, hier S. 221. 173 Ebd., S. 227. 174 Ebd., S. 156, 221–223. 175 Lamping 1989; Wittbrodt 1999.
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ganz und gar als Kind einer Zeit, der ein bloß historistischer Umgang mit dem, was ihr zu Gebote steht, nicht mehr genügt. Er verbündet sich – ‚poietisch‘ – mit dem Gesellschaftsvisionär Rathenau und einem problematischen Propheten wie Schuler, um mit den Sonetten ein neues Orpheus-„Mythologem“176 zu schaffen, das Vorstellungen von einer reflexiven Universalpoesie in kosmogonische und prozessuale Vorstellungen von Dichtung als Wandlung überführt.177 Diese Interpretation soll im folgenden auch aus der Lyrik selbst zu entwickelt werden, und zwar im Blick auf ein symbolistisches Gedicht Valérys (Abschnitt a) und einen expressionistischen Gedichtzyklus von Iwan Goll (Abschnitt b). Beide Texte sind der Forschung zu Rilkes Sonetten bislang verborgen geblieben.
a) Vorbild. Paul Valéry Orphée (1896): dunkler Hymnus und Berufsethik Orphée ... Je compose en esprit, sous les myrtes, Orphée L’admirable! ... Le feu, des cirques purs descend; Il change le mot chauve en auguste trophée D’où s’exhale d’un dieu l’acte retentissant. Si le dieu chante, il rompt le site tout-puissant; Le soleil voit l’horreur du mouvement des pierres; Une plainte inouïe appelle éblouissants Les hauts murs d’or harmonieux d’un sanctuaire. Il chante, assis au bord du ciel splendide, Orphée! Le roc marche, et trébuche; et chaque pierre fée Se sent un poids nouveau qui vers l’azur délire; D’un Temple à demi nu le soir baigne l’essor, Et soi-même il s’assemble et s’ordonne dans l’or A l’âme immense du grand hymne sur la lyre!178
Rilkes Freund Gide nahm Valérys Orphée in seine Anthologie de la poésie française (1949) auf. Ob Rilke Orphée kannte, ist ungewiß, aber schon vor diesem Hintergrund wahrscheinlich. Auch lassen sich bereits 176 Gerok-Reiter 1996, S. 63. 177 Zur „Neuen Mythologie“ M. Frank 1988, S. 181; siehe auch Manfred Engels Kritik an Gerok Reiter (1996); Engel 1999, S. 130, Anm. 57. 178 Valéry 1960, I, S. 76 f.
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auf den ersten Blick Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Valéryund des Rilkes-Texts feststellen: Valérys Orphée gehorcht der SonettForm, und zwar sogar, insofern die Reimstruktur (abab cbcb aad eed) und die Satzstruktur betroffen sind. Die für Rilke charakteristischen Enjambements kommen nicht vor. Valérys Gedicht erweist sich als traditionell verglichen mit der formal gewagten, nicht durch überlieferte Reimschemata, sondern durch komplexe musikalische, wort- und bildgenerische Strukturen zusammengehaltenen Dichtung Rilkes.179 Doch greifen Valéry und Rilke genau denselben Aspekt des Orpheus-Mythos auf. Sie schildern Orpheus als Sänger-Gott und schreiben seinem Gesang eine besondere Wirkung zu.180 Was bei Rilke aber leicht und positiv klingt, tönt im Falle Valérys düster: Allmächtig ‚bricht‘ der Gott in die Landschaft ein und ruft ‚Entsetzen‘ hervor. Die Steine bewegen sich, der Fels ‚stolpert‘. Erst Valérys letzte Verse wirken versöhnlich, feierlich. Von der ‚unermeßlichen Seele der großen Hymne auf der Lyra‘ ist die Rede. „Poésie pure“ erweist sich als ein traditionelles (klassisches) Versifizieren mit dunklem Inhalt. Valérys Bilder kehren in Rilkes Sonetten zwar nicht wieder, aber der Text lehnt sich – gerade dann, wenn es um die Toten geht – an die dunkle Färbung des Orphée an.181 Valérys Text kann zwar als Quelle – oder besser: als Anregung für die Sonette gelten, aber unter formalem und inhaltlichem Aspekt revolutionierte Rilke, was Valéry vorgab – im Sinne eines ganz eigenen, lebensreformerisch inspirierten Verständnisses von ‚poésie pure‘. Was meinte ‚poésie pure‘ – ursprünglich und in der Rezeption Rilkes?182 Rilke bezieht sein Wissen über die symbolistische „poésie pure“ aus einigen wenigen Schriften Valérys (Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci; Eupalinos ou l’Architecte, Au sujet d’Adonis, L’Ame et la 179 Gerok-Reiter 1996, S. 121, 153 u. passim. Allerdings bezieht Rilke seine Anregungen hinsichtlich der Sonett-Dichtung nicht nur von Valéry, sondern auch von Dichterinnen wie Louise Labé (1535–1565; vgl. Lamping 1989; Wittbrodt 1999), der schon um 1880 populären Dichterin der „Herzenssprache“ (Eduard Engel: Eine französische Dichterin des 16. Jahrhunderts. Louise Labé, in: Das Magazin 102/32, 51. Jg. 1882, S. 449–451, hier S. 450) und Elizabeth Barrett Browning (zu Browning vgl. Wittbrodt 1999). 180 Möglicherweise bezieht Valéry seine Anregungen dafür aus Mallarmés OrpheusDarstellung, die die mythische Figur als Sänger beschreibt, Stéphane Mallarmé: Les dieux antiques, in: Mallarmé 1951, S. 1157–1275, hier S. 1239–1249. 181 Vgl. beispielsweise das Sonett „Manche, des Todes [...]“ (II,11). 182 Rilke an Gertrud Ouckama Knoop, Château de Muzot sur Sierre, Valais (Suisse), am 26. November 1921, in: Rilke 1991, II, 321., S. 173–180, hier S. 179.
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Danse)183 und aus Texten von Stéphane Mallarmé,184 Valérys Lehrer. Mallarmé fordert eine abstrakte, entdinglichte Dichtung, die Assoziationen an wirkliche Gegenstände tilgt und sich auf die Suggestivkraft einer musikalischen und quasi-mathematischen Sprachmagie verläßt. Orpheus fungiert als eine Allegorie für dieses Poesieverständnis, das Mallarmé gegen ein bloß mimetisches oder ‚homerisches‘ Dichten abgrenzt, und das Valéry noch stärker im Blick auf ein mathematisches Kalkül und Sprachspiel zuspitzt.185 All das wäre für Rilke Grund genug gewesen, Valérys Texte und besonders Orphée mit Neugier zur Kenntnis zu nehmen.186 Aber Rilke verehrt Valéry auch als Person und als Wissenschaftler. Denn als Valéry die literarische Bühne im Jahr 1919 wieder betrat, hatte er 25 Jahre lang keine einzige literarische Zeile publiziert. Rilke bewundert schon allein diese Tat, die Selbstbescheidung und die Fähigkeit des Dichters, aus dem Dichten, dem „Hochamt der Seele“, ein „Nebenamt“ zu machen.187 Ihr und vor allem der „langmüthigen Enthaltung“188 verdanke Valéry „die Ausgeruhtheit und Endgültigkeit seines dichterischen Wortes[,]“189 „Größe, Reinheit und Gültigkeit“,190 die den schreibenden Zeitgenossen abhanden gekommen seien.191 Rilke schätzt an Valéry, über was er selbst – nach eigenem Bekunden – nicht verfügt: eine scheinbar grenzenlose Ruhe, „die dichterische Kunst der Kenntnis“192 und – nicht zuletzt – die „neue[n] Maße und Präzisionen“, „um das
183 Görner 1992. 184 Es ist unklar, welche Texte Mallarmés Rilke tatsächlich kannte. 185 Gerok-Reiter 1996, S. 25. Gerade Valérys „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“ (1894, Valéry 1957, S. 1153–1199) zeigt den universalgelehrten Architekten und Maler als „maître“ der (symbolischen) Formen und Farben – als mathematisch berechnenden Geist (ebd., S. 1175), der sich bloß am Beginn seines Schaffens der Kontemplation überläßt (ebd., S. 1164 f.). 186 Görner 1992, S. 34. 187 Rainer Maria Rilke an Xaver von Moos (Muzot, 30.12.1921, Freitag), Château de Muzot sur Sierre. Valais am 30. Dezember 1921, Brief 154, in: Rilke 1994, S. 263–265, hier S. 264. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 Rainer Maria Rilke an Elisabeth Aman (Muzot, 31.12.1921, Samstag), Château de Muzot sur Sierre. Valais im letzten Dezember 1921, Brief 155, in: ders. 1994, S. 265–267, hier S. 266 f. 191 Rilke an Lou Andreas-Salomé, Château de Muzot sur Sierre (Valais) Suisse, am 13. Januar 1923, in: ders. 1991, II, S. 270–274, hier S. 271. 192 Görner 1992, S. 34.
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Großartige seines Gefühlsraums und die Lage der darin erlebbaren Dinge unbestreitbar auszusprechen.“193 Rilkes Rezeption Valérys und der „poésie pure“ ist von ganz und gar unsymbolistischen Betrachtungen geprägt.194 Valéry gilt als in der Entsagung gereifter Mann und Wissenschaftler, den Ernst und Kenntnis in den Stand eines Meisterdichters erheben. Diese Einschätzung ruht auf (berufs-)ethischen Überlegungen, in Valérys Distanz zum Literaturbetrieb, in seiner Fähigkeit, dem eigenen Leben einen außerliterarischen Sinn zu verleihen195 ebenso wie auf einem Respekt vor dem Unbekannten, dem Abstrakten, der Mathematik. Wie steht es aber mit den Sonetten? Gerok-Reiter ordnet sie als unmittelbare Umsetzungen symbolistischer Poetik ein, weil sie sich auf „hohem Reflexionsniveau“ äußerten und – unter formalem Aspekt – den symbolistischen Anforderungen nach einer sprachlichen, lautlichen, musikalischen und syntaktischen Durchgebildetheit genügten.196 Rilkes irrationale und anti-reflexive Briefpoetik der Inspiration aber will sich nicht recht in dieses Bild einfügen lassen.197 Gerok-Reiter erklärt sie deshalb einmal als bloß topisch, als Ballast der Tradition, ein ander Mal bemüht sie sich aber, sie in die symbolistische Poetik einzupassen: Diese habe immer auch das Verhältnis von „Bewußten und Unbewußten im Akt schöpferischer Hervorbringung“ thematisiert.198 Gleichwohl sinnt die symbolistische Poetik wesentlich auf reine 193 Rilke an Gertrud Ouckama Knoop, Château de Muzot sur Sierre, Valais (Suisse), am 26. November 1921, in: Rilke 1991, II, 321., S. 173–180, hier S. 179. 194 Erst nach Beendigung der „Sonette“, nämliche Ende 1922, hält Valéry in der Schweiz einen Vortrag über die „poésie pure“. Es würde hier allerdings zu weit führen, nach einem möglichen Zusammenhang der „Sonette“ mit Valérys Vortrag zu fahnden. 195 Rilke wird selbst nach einer solchen nicht-literarischen Betätigung suchen, wie Elisabeth Gundolf zu berichten weiß. Sie rät ihm, Holzschnitzer zu werden, weil er einiges Talent dazu mitbringe; E. Gundolf 1965. 196 Gerok-Reiter 1996, S. 302. 197 Für Valéry stellt die Inspiration nur einen Aspekt des Schaffensprozesses dar; siehe Jarrety 1998, S. 107. 198 Gerok-Reiter 1996, S. 304. – Als ein Bezugstext gilt ihr dabei Wilhelm Worringer (1911). Zwischen Worringer und der französischen Formpoetik des Symbolismus aber klaffen Abgründe. Worringer, der nicht zufällig von dem expressionistischen Maler Franz Marc rege rezipiert wird, unterstreicht das Transzendenzbedürfnis, das die Kunst und die nicht-europäischen Länder von der Zivilisation Europas unterscheide (ebd., S. 144–147). Seine Überlegungen über „Abstraktion und Einfühlung“ lassen sich deshalb in die ‚Lebensreform‘ um 1900 einordnen, passen aber nicht zum Symbolismus französischer Prägung. Über Rilke und Worringer Öhlschläger 2000, S. 244–249.
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VI. Rainer Maria Rilke Sonette an Orpheus
Sprach- und Formreflexion – weniger auf eine ‚Poiesis der Poiesis‘ und auf einen ‚poietischen‘ Daseinskult, wie Rilke ihn für die Sonette beansprucht und umsetzt. Vernachlässigt man die überstrapazierte Kategorie ‚Symbolismus‘ und blickt statt dessen auf die Texte Valérys, die Rilke nachweislich kannte, so wäre möglich, daß gerade Valérys L’Ame et la Danse Rilkes poetologisches Denken einer permanenten poetischen Wandlung prägte. Denn Valérys Polylog dreht sich um das Werden und Vergehen im Tanz, „l’acte pur des métamorphoses [...].“199 Seine Tänzerin geht in die Bewegung selbst ein, nennt sie ihre ‚Zuflucht‘ („mon asile“), ihren ‚Wirbelwind‘ („Tourbillon“).200 Dieser Ausruf der Tänzerin steht unkommentiert am Schluß das Polylogs; Rilke konnte ihn mit einiger Berechtigung emphatisch lesen und ‚poietisch‘ deuten. Schon deshalb will ich versuchen, die Verhältnisse von Formreflexion und poetologischer Emphase, wie Gerok-Reiter sie beschreibt, umzukehren. Meine These lautet, daß Rilke in der Tat ganz wesentlich auf magischen Gehalt, mystische Einsicht, Prophezeiung und Inspiration setzt – um die formale Durchkomponiertheit und die Arbeit an der formalen Vollkommenheit als Mittel zum Zweck einer kosmogonischen Poetik aufzufassen. Die Herkunft der Sonette nicht zuletzt aus der zivilisationskritischen, weltanschaulichen, populär- und geheimwissenschaftlichen Literatur der 1910er und 20er Jahre legt diesen Schluß nahe. Deshalb – und mit Blick auf Rathenaus transzendenten und zugleich wirklichkeitsnahen Poeten – lohnt es, sich von der musikalischen und sprachlichen Suggestivkraft der Sonette zu lösen, um das symbolistische Prinzip der Abstraktion auf die Probe zu stellen. Denn die Sonette nehmen auf Dinge Bezug, die – wie allgemein sie auch benannt sein mögen – eine Fülle von Assoziationen an Wirklichkeit wecken („antikische Sarkophage“, I,10; „Irgendwo wohnt das Gold in der verwöhnenden Bank“, II,19; „Alles Erworbene bedroht die Maschine“, II,10). Mitunter handelt es sich dabei sogar um Erinnerungen, die den anderen persönlich ansprechen (das Pferd in Rußland, I,20, das auf ein Erlebnis 199 Valéry: L’Ame et la Danse, in: ders. 1931, S. 11–63, hier S. 42; über den Valéry-Text Gabriele Brandstetter 1995, S. 284–287. Brandstetter zeigt, wie Valéry den Tanz als „Phänomen der Verwandlung“ deutet; ebd., S. 284. 200 Ebd., S. 63. Der Polylog entfaltet sich zwischen Sokrates, Phèdre und dem Mediziner Eryximachos. Phèdre und Eryximachos tauschen ihre Ansichten über den Tanz bzw. über seine seelische und symbolische Bedeutung aus; Sokrates fragt und vermittelt zwischen beiden.
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mit Lou Andreas-Salomé verweist). Rilkes Sprecher spielt mit Erinnerungen und Dingen – aber er tilgt sie nicht vollständig zugunsten einer abstrakten Sphäre reiner Sprache. Vielmehr läßt er sie für sich wirken und bindet sie zugleich in die Metamorphosen der Sonette ein. Rilke wählt damit – auch – eine mittlere Position zwischen der symbolistischen Formästhetik und einer wirklichkeitsbezogenen Dichtung, wie sie sich in Iwan Golls Die Unterwelt findet.201 b) Vorläufer. Iwan Goll Die Unterwelt (1919): expressionistischer Totentanz und Hoffnung auf Erlösung Erst nach Abschluß der Sonette schreibt Rilke an Claire Studer-Goll. Drei Jahre hatte er sich nicht bei ihr gemeldet; die Ursache war ein „Mißverständnis“, notiert Claire Studer.202 In der Zwischenzeit ist Iwan Golls Die Unterwelt (1919) erschienen, Claire Studer gewidmet.203 Die Unterwelt besteht aus 52 Gedichten lebensnahen Inhalts. Sie beginnen mit dem „Styx“, setzen mit „Kloaken“ fort, handeln über „Kanarienvögel“, „Möblierte Zimmer“, den „Varieté-Neger“, über „Bäume, meine Brüder“, „Säufer“, „Heilige in der Unterwelt“ und – nicht zuletzt – über den Gedichtzyklus selbst („Der Dichter und die Leserin“). Während Rilke das Totenreich – mit Schuler – ins Leben zurückholt, wird Goll das Leben selbst zum Hades: Hier finden sich die Lebenden unter den Toten. Alle Lebenssphären durchflutet der Styx; die Unterwelt dringt überall ein, holt sich ihre Opfer und bestimmt die Beziehungen zwischen den Menschen: Golls Unterwelt erweist sich als eine Neufassung von Hans Holbeins Bilder des Todes (1913, Insel-Bücherei).204 Zeigt Holbein beispielsweise, wie der Tod des „Iungkint“ holt, so schildert Goll die „Säuglinge“ in der Unterwelt: Sie weinen und dämmern im Halbbewußten vor sich hin.205 Der reflexive Schlußdialog bedenkt die düstere Sendung von Die Unterwelt. Während die Leserin den Dichter zu beruhigen und ins Leben zurückzuholen sucht, verflucht sich der Dichter selbst: „Meine 201 Janssen 1989, S. 303. Daß Rilke den Expressionismus wahrnahm, zeigte schon Manfred Engel für die „Elegien“ (ders. 1986, S. 203–209). 202 Claire Studer-Goll an Rainer Maria Rilke, 27 rue Jasmin, Paris XVIième. Mi-Carême. [8.3.1923], in: Rilke u. Goll 2000, Brief 32, S. 35 f., hier S. 36. 203 Goll 1919, unpag. [S. 9]. 204 Rilke besaß auch dieses Buch; Janssen 1989, S. 305. 205 Goll 1919, S. 38.
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Sendung war dir nicht Erlösung!“206 Er kündete nur vom „Schicksal“, sang nicht, ‚befreite‘ die „Sehnsucht“ nicht: „Weiter muß ich noch als Bettler zu euch treten, / Bis wir alle beten, / Bis um unsre Schultern das himmlische Vlies / Unterwelt verwandelt in Paradies.“207 Golls Sprecher beschreibt sich selbst als einen poetischen Heiland, der die Menschheit erlösen will. Noch scheitert er an seinem Vorhaben und beschwört religiöse Praktiken, um die irdische Unterwelt in ein Paradies zu verwandeln. Hier löst die Religion ein, was die Poesie nicht vermag.208 Golls expressionistischer Gedichtband, in dem die „O Mensch“-Formel als ein Leitmotiv wiederkehrt, in dem Zivilisations- und Kulturkritik in Verkündungspathos überführt werden,209 mußte Rilke schon deshalb als problematisch erscheinen. Gleichwohl kommt in den Sonetten manches aus Golls Buch bekannt vor: das reflexive Moment, die Wahl der Sozialmotivik, die negativen Visionen, die Rilke in positive verkehrt, und – nicht zuletzt – das Wandlungsmotiv, das Goll an den bedeutungsschweren Schluß des Texts stellt. Mit Schuler zu reden: Goll führt das „zerspaltene“ Leben vor, Rilke entwirft das „offene“ und zeichnet ein ganz anderes Bild von der Unterwelt. Um ein Stichwort Kassners aufzunehmen: Die Sonette siedeln „an der Grenze von Barock und Expressionismus“210 – an der Grenze von Daseinsbejahung und memento mori. Die historische Entstehung der Sonette, der Umstand, daß Rilke den Text Golls kannte, zeigt einmal mehr, daß die Sonette Produkte ihrer Zeit sind, so sehr sie versuchen, diese ‚poietisch‘ zu gestalten:211 Ihre 206 Ebd., S. 63. 207 Ebd., S. 64. 208 Mit dieser Einsicht verbindet sich zugleich ein Wandel in der Poetik Golls. Im Jahr 1919 beginnt nämlich seine kubistische Phase; Müller-Lentrodt 1997, S. 64. 209 Die Zuweisung von Golls Text zum Expressionismus folgt der problemgeschichtlichen Beschreibung der (literarischen) Strömung, siehe Vietta u. Kemper 1994, S.14–19 u. passim. 210 Kassner an Rilke, aus Wien nach Muzot, Wien 3.5.23, in: Rilke u. Kassner 1997, 42., S. 149 f., hier S. 149. 211 Nach dem Erscheinen der „Sonette“ dichtet Goll gleich zweimal einen eigenen Orpheus („Der neue Orpheus“, 1923; „Orpheus“, 1925 – unveröffentlicht). Es fragt sich, ob es sich dabei um bloßen Zufall handelte oder ob Goll und Rilke miteinander dichterisch (und ggf. um Claire Studer) konkurrierten. Golls Orpheus erweist sich erwartungsgemäß als quasi-wirklich; die literarische Figur kehrt als Zeitgenosse der Moderne wieder; Goll: Der neue Orpheus [für Claire], in: ders. 1960, S.189–192, hier S. 189 f.: „Orpheus: wer kennt ihn nicht: / 1 m 78 groß / 68 Kilo / Augen braun / Stirn
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Motive und ihr Problembewußtsein entstammen dem Expressionismus, dem humanistischen Totentanz, „Wahnmoching“, dem ‚Reich der Seele‘212 – und nicht nur den Metamorphosen, Nietzsche, den antiken Orpheus-Reliefs oder den Orpheus-Skulpturen Rodins.213 Die Sonette gehen – auch – auf eigentümliche Weltanschauungen zurück, die sie ‚poietisieren‘, um zu künden und zu weisen. Jene Poetik der Inspiration rechtfertigt die kosmogonische Poetik der Sonette. Sie bestätigt sich – so will es Rilke – an ihm selbst, nämlich als eine ‚poietische Erfahrung‘. Er erleide sie – als ein Heiliger, als ein neuer Orpheus, als exemplarischer Dichter-Mensch, als ein moderner Keats, als Nicht-Ich in einer poetologischen Variante des psychophysischen Monismus. Rilkes Sonette erweisen sich damit als modern und anti-modern zugleich, vertrauen auf eine transzendente Rechtfertigung, setzen auf Transzendenz im Diesseits. Sie bewegen sich zwischen Rathenau und Schuler – mit den Vermittlungsstufen Kassner, Lichnowsky, Vogl, Spengler und Keyserling. Diesen weltanschaulichen Hintergrund der Sonette zu ignorieren wäre unangemessen. Ebenso unangemessen wäre es, sie darauf zu reduzieren. Wieder hilft Kassner weiter. Ihm gilt Rilke als ein ästhetisch-aristokratischer Charakter, der sich ganz dem ‚Reich der Seele‘ widmete.214 Durch seine ‚poietischen‘ Reflexion gerät die poetologische Reflexion an ihre Grenze. Sie tilgt das zu Reflektierende, gestaltet ihre Kontexte immer schon, schließt sich in einem kosmogonischen Universum gegen Vereindeutigungen ab. Gleichwohl ‚scheinen‘ die Kontexte der Reflexion ‚hinter‘ den Versen auf; sie erlauben Rückschlüsse auf den poetik- und denkgeschichtlichen Stellenwert der ‚poietischen‘ Reflexion. ‚Poietische‘ Reflexion kündet von einer schönen Welt, in der Mensch, Tier und Ding mit sich selbst und dem Anderen verständigt sind. Sie nutzt vorliegende Denkmuster, ohne diese einfach zu übernehmen, ohne Feindbilder aufzubauen. Amoralisch-moralisch setzen die Sonette – ganz anders als die schmal / Steifer Hut / Geburtsschein in der Rocktasche / Katholisch / Sentimental / Für die Demokratie / Und von Beruf ein Musikant [...].“ – Pfaff (1983, S. 292) wies bereits auf Golls „Orpheus“-Texte hin. Ihm gelten sie aber als bloß zynische Darstellungen des Dichter-Sängers. Vgl. auch J. Schmidt 2003, S. 231, Anm. 23. 212 Eine nebensächliche, aber spannende Frage wäre die, ob Rilke auch die OrpheusBilder Franz von Stucks (1891) und des Buchkünstlers Melchior Lechters (1896) kannte; beide Künstler bewegten sich im Umkreis der „Kosmiker“; vgl. (mit den beiden Abbildungen) J. Krause 2000. 213 Vgl. Tschiedel 1987. 214 Ruffini 1986, S. 76.
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weltanschaulichen, zivilisationskritischen, populär- und geheimwissenschaftlichen Orientierungshilfen um 1900 – auf wenige und im Detail deutungsoffene Normen: Der dichtende Mensch entscheide sich für die kosmogonische ‚Poiesis‘ des diesseitig-transzendenten Lebens, in dem „Fruchtbarkeit und Seligkeit“ identisch sind. Er wähle die Wandlung, suche nichts Festes, sondern wirke ‚poietisch‘ an dieser ‚Poiesis‘ mit. Der Orpheus der griechischen und römischen Mythen tritt dabei in den Hintergrund. Auch über ihn verständigt sich Rilke nurmehr ‚poietisch‘. Orpheus wird nicht nur Novalis, sondern auch Rilke zur „Metonymie der Dichtung“.215 Blickt man auf den Orpheus-Text des Novalis zurück, dann zeigt sich, daß zwischen diesem und Rilkes Sonetten Welten liegen. Widmete sich Novalis noch ganz gelehrt einigen ausgesuchten Zeilen Vergils über den Sänger, so nimmt Rilke allenfalls kursorisch auf die Metamorphosen des Ovid Bezug. Mit Novalis’ selbstverfaßtem Orpheus-Text beginnt die romantische Umdeutung des Mythos, und zwar ganz zugunsten eines Ideals der Liebe und des ‚zarten Gesangs‘. Rilke hingegen entdeckt die düsteren Seiten des Mythos ebenso wieder wie die normen-bezogene Dichtung, die Novalis als kriegerische, heilige und moralische Poesie verabschiedete.216 Als ein bewußtes Mitglied der ‚mechanisierten‘ Gesellschaft will Rilke aber nicht zu vormodernen Zuständen zurück; er weiß die Zivilisation und ihre industriellen Erträge durchaus mit Humor zu nehmen217 und lebt von vermögenden Mäzenen. ‚Poesie statt Mythologie‘, ‚poietische‘ Reflexion statt „Poesie der Poesie“ – so lautet sein Programm für eine kosmogonische Poetik.218
215 Für Rilke J. Schmidt 2003, S. 238. 216 Deshalb erweist sich Charles Segals Auffassung, Orpheus werde bei Rilke in romantischer Tradition bloß zu einem „vehicle for nostalgic longing for lost creativity or spontaneity [...],“ als problematisch; ders. 1989, S. 5 f. 217 Das bezeugt Elisabeth Gundolf mit einer Anekdote über die Berner Schokoladenfabrik Lindt. Sie vermutete in der Fabrik ein mächtiges Imperium, fand aber nur eine Baracke vor. Rilke klärte sie darüber auf, daß es in Bern zwei Schokoladenfabriken gleichen Namens gebe, von denen sie offenkundig die falsche erwischt habe; E. Gundolf 1965, S. 40. – Wenn Gundolf Recht hat, dann ist umso mehr auf solche Texte Rilkes zu achten, die diesen Humor ganz aussparen. 218 Fülleborn 1999, S. 34.
VII. Ergebnis Poetologische Reflexion erweist sich als Chance und als Problem von Literatur – vor allem im Ausgang aus der Romantik (in den 1820er Jahren). Einerseits scheint jede vorreflexive Unmittelbarkeit verloren. Andererseits überbieten die Versuche, diesen Verlust wettzumachen, einander mit großer Innovationsgewalt. Denn aus dem Reflexionsdenken entstehen Anforderungen an die schriftstellerische Selbstbestimmung: Erwartet werden Originalität und Reflexivität. Der Bedarf an innovativer Selbstbeschreibung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik steigt nach der Romantik noch. Zugleich gilt es als problematisch, sich als Dichter selbst zu bespiegeln: Der Poet sei Mensch, ‚ganzer Mensch‘, fordern die Zeitgenossen der 1830er Jahre, und gebe sich bloß als Mensch dem Leser preis. Daß die dichterische Äußerung über das Dichter-Selbst gleichwohl zu den beliebtesten literarischen Praktiken des nach-romantischen 19. Jahrhunderts gehört, steht zu solchen Forderungen nicht im Widerspruch. Dichtergedichte der 1830er bis 70er Jahre schreiben Vorstellungen über den Dichter fest, die üblicherweise mit einem neuhumanistisch geprägten Klassizismus verbunden waren: Sie bedenken die Frage, was den Dichter als Menschen ausmache, wie sich diese Merkmale mit dem Rollenbild des Dichters bzw. mit der schriftstellerischen Tätigkeit vertragen und ob sich der Leser (noch) mit Gewinn dafür interessieren könne. In der Nachfolge der „Poesie der Poesie“ läßt sich deshalb zwar ein verbindliches neuhumanistisches Dichter- und Dichtungsbild finden, aber es wird unaufhörlich umgeschrieben und neu angelegt. Kurzum: Es trägt nur so lange, bis um 1900 bloß noch von einer poetologischen ‚Differenzierung im Nebeneinander‘ gesprochen werden kann. Sie kennt zwar allgemeine Problemlagen, aber keine verbindlichen Lösungen mehr. So nachvollziehbar diese Geschichte – als eine Ideengeschichte der Poetiken – auf den ersten Blick wirkt, so kompliziert ist sie im literatur-, denk- und wissensgeschichtlichen Detail. Entwicklungen im Wissensgebiet der Poetik vollziehen sich im Wechselspiel von Einfluß und
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Ablehnung zwischen Wissensgebieten und poetologischen Gattungen. Deshalb will ich die poetologischen Leistungen poetologischer Lyrik beschreiben (1. Teil), um nach Kontinuität und Wandel der Poetiken ‚von Novalis bis Rilke‘ zu fragen, wie sie sich auch im Blick auf nichtpoetologische Wissensgebiete entfalten (2. Teil).
1. Poetologische Leistungen poetologischer Lyrik Poetologische Lyrik äußert sich über drei Bereiche poetologischen Wissens: (1) Die Produktionsseite oder den Autor. Sie findet besonders im Widmungsgedicht als Form der konkreten und persönlichen Auseinandersetzung und im Dichtergedicht als Form abstrakter Auseinandersetzung mit dem Dichter Beachtung. Karl Ettlingers Der Dichter und Richard Pfeiffers Illustration des Texts für die populäre Zeitschrift Die Jugend (1911) veranschaulichen diese Variante poetologischer Lyrik noch einmal idealtypisch.1 Dem Journalisten und Schriftsteller Ettlinger (1882–1939, Pseudonym: Karlchen) geht es um den Dichter als Rollenbild, nicht um das dichtende Individuum. Bei seinem Poeten handelt es sich um einen Liebesdichter, der aus Liebe schreibt und dem dafür eine tiefe Einsicht in die Welt gewährt wird. Das Rollenbild, das Ettlinger entwirft, erfüllt alle Stereotype der romantischen Dichtervorstellung – verkitscht und vergröbert für den populären Publikationsort. Wie verhält es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit den DichterTypen, die hier zu einem Idealtypus verschmolzen werden? Der Dichter wandelt sich vom ‚poeta doctus‘ (der frühe Novalis der VergilÜbersetzung) zum ‚poeta magus‘ (Novalis, Kerner), will ‚vates‘ werden und scheitert (Hölderlin); nur selten spielt er mit beiden Positionen (Arnim). Die folgenden Jahrzehnte kennen eine Vielzahl von Dichterbildern: den mythischen Sänger (Uhland), den armen und politischen Dichter der Vormärz-Zeit (Herwegh, Freiligrath), die emanzipierte Dichterin (Droste-Hülshoff), den Naturforscher (Droste-Hülshoff) und den ‚technischen Poeten‘ (Keller).2 Bis zum Beginn des Naturalismus aber erscheint das Bild vom ‚ganzen Menschen‘ als wirkungs1 Karl Ettlinger: Der Dichter, in: Die Jugend 2 (1911), S. 925. 2 Vgl. auch Muschg 1957; Hinck 1994; Selbmann 1994; siehe auch die Beiträge von Grimm, Kurz, Stadler, Schnell und Frommholz in Grimm 1992.
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mächtigste Dichter-Vorstellung (Mörike, Vischer, Strauß); sie kann sich des neuhumanistischen ‚Geistes‘ vor und nach 1848 versichert sein und findet noch unter den ‚poetae docti‘ des Münchner Dichterzirkels Zustimmung.3 3 Zu den Ausnahmen zählt die Dichtung Storms und des frühen Keller.
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Mit dem Naturalismus hebt der ‚vates‘-Kult neu an. Hier wird der Dichter zum Helden ernannt und muß sich neuen ethischen Anforderungen stellen. Liebe, Leben und Natur reichen für die avantgardistische Selbstbeschreibung nicht mehr aus. Statt dessen beschwören Poetiker Kampfgeist, Nationalstolz und Mut. Spätestens hier wird deutlich, daß die Lyrik-Geschichte neben dem ursprünglichsten aller Sänger, neben Orpheus, mindestens einen zweiten kennt, der – neben Arno Holz’ Phantasus – ihre dunkle Seite repräsentiert: Ixion.4 Der dubiose Himmelsstürmer gilt dem Naturalismus als der Held schlechthin, als der Bezwinger von Gott und Mensch. In der Romantik scheiterte er noch an diesem Vorhaben. Die Folgezeit wiederum entwirft eine Fülle von Dichterbildern, deren radikalstes dasjenige des passiven Dichters ist, wie Rilke ihn verkündet. Er reagiert damit sowohl auf die naturalistische Emphase für den ‚deutschen Helden‘ als auch auf populäre Ästhetiken um 1900. Rilke setzt Machs ‚unrettbares Ich‘ poetisch um. Der passive ‚reine‘ Dichter gibt sich als Mensch ganz auf und notiert nunmehr, was ihm eine fremde, beängstigende und doch bereichernde Inspiration eingibt. Er empfängt dafür ewiges Leben, empfindet sich nicht mehr als sterblich, sondern betrachtet das dichtende Dasein als einen Zustand zwischen Leben und Tod. Solche Selbstbespiegelungen ruhen auf bestimmten Topoi: auf einer Raum- und Zeitsemantik, die den Dichter aus dem weltlichen Geschehen heraushebt, ihn als besonders erscheinen läßt.5 Diese Unterscheidungswut, der Autoren im Dichtergedicht freien Lauf lassen, und die sie immer neu inszenieren, legt die Vermutung nahe, daß es dabei nicht bloß um leere Topik und Ideologie gehen kann, sondern daß hier existentielle Fragen auf dem Spiel stehen (Unterscheidungsfunktion). Es hilft deshalb wenig, Dichtergedichte als bloß zweitrangige Produktionen abzuwerten;6 vielmehr bleibt nach ihrer Bedeutung im jeweiligen historischen Kontext zu fahnden. Ich will die poetologische Selbstverständigung des Dichters, die immer auch soziale und ethische Bedeutung hat (Funktion der Verständigung mit sich selbst), deshalb in den Vordergrund rücken. Als ein Bei4 Das läßt sich gegen die Orpheus-Emphase anführen, wie sie nicht nur die Germanistik der 50er Jahre (Rehm 1972, 1. Aufl. 1950) auszeichnet. 5 Schlaffer zeichnet diese Topik als Idealtypus des Dichtergedichts im 19. Jahrhundert nach; ders. 1966. 6 Ich wende mich hier gegen Schlaffer 1996, S. 329 u. passim.
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spiel gilt mir Droste-Hülshoffs An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich – eine engagierte Aufforderung an Schriftstellerinnen, sich von sozialen Zwängen zu emanzipieren und beherzt zur Feder zu greifen (Appellfunktion). Aber auch in anderen – weniger einsichtigen – Fällen geht es um die Selbstbestimmung des Dichters als Dichter: um spielerische, mitunter um sehr entschiedene und autobiographisch gemeinte Zuschreibungen. Sie sollen die eigene Tätigkeit als besonders gehaltvoll und geistreich auszeichnen, gelegentlich auch für die finanzielle Förderung empfehlen (Funktion der Selbstbehauptung und des Selbsterhalts). Sicher ist es kein Zufall, daß Dichtergedichte oft am Beginn oder an poetologischen Umbrüchen in der jeweiligen Autor-Laufbahn entstehen. Poetologische Lyrik macht aus der Not der Selbstreflexion eine Tugend. Ganz anders als die Poetiken eröffnen Dichtergedichte einen zwar topisch vermittelten, im Detail aber variantenreichen und wechselhaften Blick auf den Dichter in seinen unterschiedlichen Rollen. Dabei ist es durchaus möglich, daß der jeweilige positive Entwurf vom Dichter dem Dichter-Begriff nahekommt, wie er in einer bestimmten Poetik und Ästhetik angelegt ist. Mitunter gibt ein Dichtergedicht (beispielsweise Goethes Der Sänger) der poetologischen Reformulierung des Dichterbilds sogar erst die Stichworte vor (Vorbildfunktion oder Quelle). Poetologische Lyrik wird – wenn auch abweichend – nicht selten in gelehrte, wissenschaftliche oder didaktische Poetik überführt. Eine weitere und wesentliche Leistung des Dichtergedichts besteht darin, daß es – anders als Poetiken und Ästhetiken – nicht nur die idealischen oder historisch-systematischen Seiten des Dichterbilds aufnimmt, sondern gerade auch die Schattenseiten der Dichterexistenz beleuchtet (Funktion des Selbstausdrucks): den verzweifelten, den an der eigenen Anforderung scheiternden (Hölderlin, Arnims Ixion) und den leidenden Dichter (Rilkes Keats-Gedichte). Das Widmungsgedicht erlaubt es darüber hinaus, poetologische Beziehungen unter den Dichtern und Dichtergruppen zu klären (Kerner Die schwäbische Dichterschule; beziehungsstiftende Funktion), gegebenenfalls auch, direkte Kontroversen auszutragen (polemische Funktion). Widmungsgedichte und Dichtergedichte verleihen dem Dichter selbst ein poetologisches Sprachrohr. Hier kann er sich polemisch äußern und poetologische Erfordernisse behaupten; er wird sich selbst Empirie, Beleg und Herausforderung zugleich (empirische Funktion, experimentelle Funktion). Zu diesem Zweck muß er sich nicht der metaphysischen Sprache von
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Poetik und Ästhetik bedienen, die Dichter-Kollegen und Lesern Schwierigkeiten bereitet,7 sondern er kann seine Wahrnehmungen mit Hilfe der alltagssprachlichen Wort- und Bildwelt veranschaulichen (Funktion der mehr oder minder direkten Ansprache an den Leser). Poetologische Lyrik vom Typus des Dichter- und des Widmungsgedichts übernimmt Funktionen, die den Dichter als Dichter betreffen (Funktion der Verständigung mit sich selbst, Funktion des Selbstausdrucks), Funktionen, die ihm eine Position unter den Dichterkollegen sichern (Unterscheidungsfunktion, Appellfunktion, beziehungsstiftende oder polemische Funktion), die ihm einen Platz in Poetik, Ästhetik (Vorbildfunktion – sogar Quelle für Sekundärliteratur, empirische Funktion, experimentelle Funktion) und in der Gesellschaft zuweisen (Funktion der Selbstbehauptung und des Selbsterhalts, Funktion der mehr oder minder direkten Ansprache an den Leser). (2) Das Produkt: das literarische Werk im besonderen und allgemeinen, die Literatur, die Lyrik oder die Poesie werden Gedichten über Gedichte, Literatur, Poesie, Lyrik, über Vers- und Strophenformen zu Themen. Der Typus poetologischer Lyrik, den sie ausprägen, ist – rein quantitativ – seltener als derjenige des Dichtergedichts. Widmet sich poetologische Lyrik aber der Poesie, dann findet hier eine besondere Form der Selbstbespiegelung statt: eine Form, die nicht bloß Ausdruck des Selbst ist, sondern die auf ein Konkret-Abstraktes sinnt, auf ein Ergebnis oder auf ein Ideal, an dem sich das Ergebnis messen lassen muß. Ergebnis-Vorstellung und Ideal wandeln sich im Gang durch die hier besprochenen Beispiele allerdings erheblich. Am Anfang steht die universelle Ausdehnung des Poesie-Begriffs (F. Schlegel, Novalis), am Ende findet sich Vergleichbares: eine kosmogonische All-Einheit von Gesang und Welt (Rilke). Die Zwischenzeit aber kennt ein großes Spektrum ganz anderer Konzeptionen: ironische Zweifel an der universellen Ausdehnung von Poesie (Rückert), die Beschreibung von Poesie als Schmerz (Kerner), gebrauchslyrisch gebrochene autonomieästhetische Vorstellungen (Mörike), die Ansicht, Poesie diene dem Privatvergnügen (Strauß), und Zweifel am lyrischen Ausdruck überhaupt (Bierbaum). Dabei bewegt sich poetologische Lyrik zwischen zwei Extremen: zwischen dem bloß spielerischen Definitionsversuch (Droste-Hülshoff Poesie) und dem programmatisch-polemischen Gedicht, das behauptet, ganz genau zu wissen, was Poesie sei (Beiträge zur naturalistischen An7 Vgl. darüber Abschnitt IV. 2. dieser Untersuchung.
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thologie Dichter-Charaktere). Poetologische Lyrik, die nach Poesie, Literatur oder Lyrik fragt, gibt Raum für Zweifel an der Literatur, aber auch für emphatische Neu-Entwürfe. Sie fragt nach der Motivation des Dichters und nach dem Verhältnis von Poesie, Welt und Wissen: nach dem Verhältnis von Natur und Dichtung beispielsweise (Kerner, Uhland, Tennyson, Droste, Keller). Anders als die Lyrik-Definitionen von Poetik und Ästhetik sind diejenigen der poetologischen Lyrik also im Ergebnis offen. Die Absichten, die sich mit ihnen verbinden, variieren stark. Mitunter nehmen sie Vorgaben von Theoriebildung oder populärer Wissenschaft auf, um diese poetisch zu überhöhen (Rilke); an anderer Stelle entwickeln Poetik, Wissenschaftspoetik und Ästhetik ihren Lyrik-, Literatur- oder Poesie-Begriff erst selbst aus solchen Dichtungen (Strauß, Carriere, Borinski). Darüber hinaus fällt auf, daß die große Begeisterung, die Poetik, Ästhetik, Literaturkritik und Literaturgeschichte im Ausgang aus der Romantik mit dem Begriff der Poesie verbinden, von poetologischer Lyrik bald gebrochen wird: Schon Rückert äußert sich skeptisch in Anbetracht eines besonderen Poesie-Typus; die Droste bestimmt den Begriff Poesie nurmehr zögerlich. Auch sprechen nur verschwindend wenige poetologische Gedichte des 19. Jahrhunderts über Lyrik: Poetologische Lyrik, die um die Viefalt ihrer Formen wußte, meidet den voraussetzungsreichen Begriff von Lyrik, mit dem Poetik und Ästhetik zu kämpfen haben. Für die Ebene poetologischer Lyrik, die sich mit dem Dichterwerk befaßt, lassen sich demnach folgende Funktionen beschreiben: Funktion der Selbsterklärung, Funktion der Kritik bzw. polemische Funktion, empirische Funktion, experimentelle Funktion und – nicht zuletzt – eine Vorbildfunktion für die gelehrte und wissenschaftliche Rezeption von Dichtung. (3) Die Rezeptionsseite: Leser, Buchmarkt, Kritik und Philologie. ‚An den Leser‘ – so lautet der Titel der poetologischen Gedichte, die diesen Aspekt aufnehmen. Oft sind sie aber auch konkreter oder ‚ad personam‘ betitelt, wie etwa Mörikes Gedicht an seinen KritikerFreund Vischer. Zu den Adressaten von poetologischer Lyrik gehören gebildete Interessenten, Käufer, Theoretiker, mitunter auch der vielbescholtene ‚Pöbel‘ oder das – in den 1830er/40er Jahren und ab 1880 so gerühmte – ‚Volk‘. Gedichte wie diese erfüllen sehr unmittelbare Funktionen der Kommunikation; sie sind der Ort für Beschwerde und drücken Mißverständnis, Wohlwollen, kurz: einen bestimmten Wirkungswillen aus. Hier versucht sich der Dichter der Rezeption dessen
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zu versichern, was er in Dichtergedichten und Gedichten über Poesie niederlegte. Ästhetiken und Poetiken blenden den Bereich der Rezeption – abgesehen von den empirischen oder experimentellen Ästhetiken – bis ins 20. Jahrhundert hinein fast gänzlich aus. Demgegenüber geraten Fragen der Rezeption in poetologischer Lyrik besonders in den Blick. Der Grund dafür liegt nicht selten in sozialhistorischen Tatsachen: im Streit über einen Text oder über eine Dichtungskonzeption, möglicherweise auch in mangelnder Wahrnehmung durch das Publikum oder in der notorisch leeren Geldbörse des Autors. Für diese Untersuchung aber sind besonders die Verhältnisse von lyrischer Produktion und gelehrter Rezeption sowie von gelehrter Produktion und lyrischer Rezeption von Interesse. Ein besonders spannender Fall ergibt sich dabei für Vischer: Als Wissenschaftler nimmt er das Ideal des ‚ganzen Menschen‘ in seine Ästhetik auf, beschreibt es – mit Hegel – vor dem Hintergrund der „Reflexionsbildung“ des Zeitalters und führt es in seiner poetologischen Lyrik zu einer einfachen Lösung: Sie liegt in der gebildeten Rezeption von Kunst (siehe Gedicht und Sinn); Vischer entnimmt diese Lösung möglicherweise auch der Popularästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts.8 Gedichte, die die Rezeptionsseite thematisieren, haben werbende und polemische Funktion, dienen der Selbstbehauptung oder sogar der Selbstverteidigung, nicht zuletzt der Selbsterklärung und dem ‚empirischen‘ Experiment mit dem Leser, mit fiktiven Reaktionen. Auf diese Weise klärt sich poetologische Lyrik selbst über ihre eigenen Produktions- und Rezeptionsvoraussetzungen auf. Anders als Poetiken und Ästhetiken dient sie sich selbst als Versuchsobjekt: Was sich bewährt, wird weitergeführt, was nicht, bedarf der Veränderung. Poetologische Lyrik gibt deshalb notwendigerweise ein umfassenderes und historisch flexibleres Bild von Literatur, Poesie und Lyrik, als es die Gattungen der Ästhetik sowie der gelehrten, wissenschaftlichen und didaktischen Poetik überhaupt zeichnen könnten. Denn die Dichter sind strukturell im Vorteil: Sie wissen notwendigerweise mehr über sich und ihre Tätigkeit.
8 Die Frage nach der Rezeption aufklärerischer Popularästhetik in der Ästhetik und Poetik des 19. Jahrhunderts wäre eine eigene Untersuchung wert.
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2. Kontinuität und Wandel der Poetiken im 19. Jahrhundert Friedrich Schlegels Postulat von der „Poesie der Poesie“ knüpft an diese Einsicht an und nutzt sie für ein Literaturprogramm, das sich polemisch gegen die frühneuzeitliche Normpoetik ebenso wie gegen klassizistische Vorstellungen von Literatur abgrenzt. Hier ging es allerdings weniger darum, die Tragfähigkeit dieser Polemik, als vielmehr ihre Wirkungen zu prüfen. Das Ergebnis erstaunt: Selbst in der Romantik ist die reflexive Universalpoesie Schlegels umstritten. Er selbst mäßigt sie ironisch, und besonders der frühe Arnim veranschaulicht die Schwierigkeiten, auf die ein derart weites Poesie-Verständnis trifft. Am Beginn des Reflexionsdenkens steht – im Wissensgebiet der Poetik – deshalb zwar auch ein von Schlegel selbstgewählter Bruch mit vorromantischen Poesie-Konzepten. Aber die Gemeinsamkeiten mit diesen liegen auf der Hand: Novalis beispielsweise entwickelt ein Rollengedicht aus der ‚imitatio‘ des Vergil. Im Schema der ‚translatio‘ verweist der Orpheus des Novalis noch auf den mythischen Dichter, greift aber die Mitleidspoetik in veränderter Form wieder auf und bemüht sich vorerst nur darum, sich von bestimmten Dichtungs-Konzepten (Heldenpoetik, ‚Heilige Poesie‘) zu lösen. Um Arnims Ariel’s Offenbarungen steht es – ebenso wie seinem Ixion – ähnlich: Beide Texte lassen die Kontinuität spätaufklärerischer Literatur sichtbar werden; das RomanModell Wielands reicht – vermittelt über Arnim – selbst in die Romantik hinein, ja prägt mit seiner Polyperspektivität die Darstellungsmuster von Texten wie denjenigen des frühen Arnim vor. Im Ausgang aus der Romantik, geleitet durch Hegels Kritik an der „Reflexionsbildung“ und an Friedrich Schlegel, angeregt durch Jean Pauls Gegnerschaft zur „Poesie der Poesie“ und durch das Bildungskonzept des Neuhumanismus fällt die „Poesie der Poesie“ insgesamt der Kritik anheim: Reflexionspoesie gilt als unfruchtbar; Poesie wird auf die Aufgabe der Bescheibung von Welt, Leben und Individuum festgelegt. Gleichwohl hat die Reflexionspoesie einen ungebremsten Willen zur Selbstverortung angestoßen, der sich in der poetologischen Lyrik der folgenden Jahrzehnte ausdrückt. Zwar kehren poetologische Motive und Themen dabei in der Form von Wellenbewegungen wieder, aber sie wandeln sich erheblich: Der Seher der Romantik beispielsweise ist schon bei Heine ein anderer – erst recht gilt dies für die Zeit um 1900. Kontinuität und Bruch bestimmen die Geschichte der Poetiken:
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reflektierte Kontinuität und reflektierter Bruch. Für die Beschreibung solcher Prozesse hält die Denk- und Wissensgeschichte zahlreiche Begriffe bereit, die ‚unterhalb‘ der komplexen und voraussetzungsreichen Epochenbegriffe liegen. Sie erlauben es, diese Prozesse vergleichsweise vorsichtig und assoziationsfrei zu beschreiben:9 (1) Subjektivierung, 1800–1880er Jahre. Kaum ein zweiter Begriff bewährt sich für die Beschreibung der Entwicklung von Poetiken im 19. Jahrhundert so sehr wie der Begriff der Subjektivierung.10 Denn er erlaubt es, Entwicklungen in Poetik, Ästhetik und poetologischer Lyrik gleichermaßen zu verbinden: Am Beginn des 19. Jahrhunderts ist das Subjekt nämlich endgültig entdeckt; die Wissenschaften vom Menschen (Anthropologie, verbunden damit Erkenntnislehre, Morallehre/Ethik und Bildungspädagogik, Medizin und auch der Magnetismus) tragen dazu bei. Ihre Erkenntnisse beeinflussen Ästhetik und Poetik; sie helfen sogar, beide Wissensgebiet systematisch neu zu begründen. Hegel wendet das Interesse für den Menschen – wirkungsmächtig – auch auf seinen Begriff von Lyrik an. Was er als ‚Innerlichkeit‘ beschreibt, die das Gedicht spiegele, deuten seine Schüler mit Hilfe der Begriffe Subjektivität und Objektivität neu; noch die psychologische Ästhetik um 1900 spricht dafür vom Wechselspiel von Seele und Welt, das es zu untersuchen gelte. Reflexionskritik einerseits, Begeisterung für die Subjektivität andererseits – diese doppelte Einstellung hält das ‚Gros‘ der gelehrten, wissenschaftlichen und didaktischen Poetiken von den 1820er Jahren bis in die 1880er Jahre zusammen. Ihre bevorzugten Dichter heißen Goethe und Mörike, und ihre poetologische Lyrik prägt und bestätigt das ‚subjektivistische‘ Bild von Poesie, das aber für ganz unterschiedliche Strömungen Pate steht: für neuhumanistische Poetiken, die sowohl einem klassischen als auch einem lebensweltlichen Poesie-Ideal folgen, für die Dichtung des Jungen Deutschland und – nicht zuletzt – für die Poetik des Münchner Dichterkreises. Für die Subjektivierung läßt sich deshalb zumindest von einer Koevolution poetologischer Konzepte in poetologischer Lyrik, aber auch von einer ‚Präevolution‘ sprechen.11 Die gelehrte und wis9 Die Beschreibung der unterschiedlichen, teils parallelen Entwicklungen lehnt sich an das Schema von Jörg Schönert (2002, S. 345) an. 10 Dazu die Bilanz in Todorow 1981, S. 238–240. 11 Über die Beschreibungskonzepte siehe die Einleitung zu dieser Untersuchung (Abschnitt 2.).
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senschaftliche Poetik folgt in diesem Fall der Lyrik nach; sie systematisiert, was Lyrik ‚performativ‘ vorgibt. (2) Objektivierung, 1840er–1920er Jahre. Diese Untersuchung setzt aber streng genommen auf der Gegenseite der Subjektivierung an: Sie widmet sich einem Genre der Lyrik, das sich per se mit NichtSubjektivem, nämlich mit Poesie und Poetik befaßt und bloß reflexiv auf das Subjektivitäts-Postulat reagiert. In den 1840er Jahren stehen der Subjektivierung auf dem Gebiet der sogenannten Reflexionspoesie schließlich bewußte Tendenzen der Objektivierung entgegen. Sie beziehen ihr Beschreibungsinteresse für Poesie und Welt aus der Naturforschung (Droste) ebenso wie aus der Begeisterung für technische Erfindungen (Keller); beides wenden sie reflexiv auf Poesie an, um diese zeitgemäß darzustellen. Gelehrte und didaktische Poetik sowie Ästhetik erfassen solche Objektivierungen aber erst in den 1870er Jahren, und zwar unter dem Aspekt einer ‚Positivierung‘ des Wissens.12 Poetik entwickelt sich seit dieser Zeit nach und nach zu einer wissenschaftlichen (Teil-)Disziplin; zuvor widmete sie sich vor allem der normativ angeleiteten Ordnung von Literatur in Epochen und Gattungen – die topische Abwertung ‚minderwertiger Reflexionspoesie‘ inbegriffen. Erst in Reaktion auf die poetologischen Programmatiken des Naturalismus erkennt Poetik die Objektivierung von Lyrik an. Diese jedoch kann zu diesem Zeitpunkt ihrerseits auf die ‚Entdeckung der (sozialen) Wirklichkeit‘ durch die politische Lyrik der Jungdeutschen und auf die programmatischen Entwürfe des Realismus zurückgreifen.13 Auch im Falle der Objektivierung liegt also ein komplexes Wechselverhältnis von poetologischer Lyrik, Poetik und nicht-primär ästhetischen Wissensgebieten vor: Hat poetologische Lyrik per se an Objektivierungen Anteil, so nutzt sie diese zunächst, um sich als subjektiv darzustellen. Später folgt sie dem – bekannten – Muster der Adaptation gelehrten und wissenschaftlichen Wissens in Versform. Kaum setzt sie sich diesem jedoch aus, entsteht für das Wis12 Siehe Tendenz (5). 13 Soziologische Poetiken, die dieses Wissensgebiet systematisch nutzen, setzen erst am Beginn des 20. Jahrhunderts ein – nachdem die Soziologie (beispielsweise in den Schriften von Ludwig Gumplowicz) in den 1880er Jahren begann, sich von der Staatswissenschaft abzuheben und sich selbst zur Wissenschaft zu erklären. Für die Diskussion soziologischer Bemühungen in der Poetik siehe Johannes M. Verweyen: Soziologie der Kunst, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1925), S. 223–230.
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sensgebiet der Poetik neuer Beschreibungsbedarf: Erneut entwikkelt sich poetologische Lyrik weiter, bevor gelehrte und wissenschaftliche Poetik diese Entwicklungen erfassen können. (3) Historisierung, 1830–1890. Das historistische Denk- und Ordnungsmuster, das Ästhetiken ebenso wie gelehrte, wissenschaftliche und didaktische Poetiken aufnehmen, trägt zu einer relativen Blindheit für die Literatur der Gegenwart bei. Poetik differenziert sich ab ca. 1830 nochmals aus: in historisierende Texttheorie einerseits und in Literaturgeschichte andererseits. Dabei richten sich gelehrte, wissenschaftliche und didaktische Poetiken auf „Totalität“, auf das literarische Ganze, wie es sich im Laufe der Jahrhunderte schriftstellerischer Tätigkeit zeigt; gelehrte und didaktische Poetiken (weniger die wissenschaftlichen) stellen „Textspeicher“ für solche Literatur dar, die sie unter selbstgesetzten – zumeist mehr oder minder klassizistischen – Gesichtspunkten für vorbildlich halten.14 Hegels geschichtsphilosophische Beschreibung der Epochenfolge und der Gattungssystematik entfaltet hier ihre Wirkung. Poetologische Lyrik weist demgegenüber – im engeren Sinne historische Lyrik, Versepen und Uhlands poetologische Lyrik ausgenommen – wenige Spuren einer Historisierung auf.15 Poetologische Lyrik beschreibt sich vielmehr als ahistorisch, exemplarisch, preist die Wahrnehmung des besonderen Moments. Das gilt selbst für die poetologische Lyrik, die sich unmittelbar aus der Hegel-Rezeption speist und deren Autoren – wie Vischer und vermittelt durch Vischer auch Mörike – ihre poetologischen Ansichten aus der hegelschen Ästhetik gewinnen. Gerade diese poetologische Lyrik kultiviert ihr Selbstbild von der herausgehobenen und besonderen Textproduktion, was auch an ihrem neuhumanistisch geprägten Verständnis von Welt und Literatur liegt. Für die Historisierung fällt es folglich schwer, Verbindungen von poetologischer Lyrik und Poetik zu den nicht-primär ästhetischen Wissensgebieten zu ziehen. Poetik und poetologische Lyrik haben gleich wohl an der allgemeinen Tendenz zur Historisierung Anteil, nehmen vor allem auf, was die historischen Wissenschaften bereitstellen. Poetologischer Lyrik geht es dabei um kreative Adaptationen historischen Wissens, um poetologische Vorbilder und Gegenbilder. 14 Ich greife Merkmale frühneuzeitlicher Poetik nach Stöckmann (2001, S. 365–368) heraus. 15 Dazu Niefanger 2002.
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(4) Trivialisierung/Standardisierung, 1850er–1880er Jahre. Dabei werden Reflexionsgewinne immer wieder durch Trivialisierungen ausgeglichen. Trivialisierungen haben an jeder Phase der Lyrik-Entwicklung Anteil, treten aber gehäuft zu einem Zeitpunkt auf, der – wie die Lyrik der 1860er und 70er Jahre – festgefügte Muster für eine ästhetische Lyrik-Produktion kennt und (proto-)realistischer poetologischer Lyrik vom Typus derjenigen Kellers und Storms nur eine randständige Position zuweist. Für die gelehrten und didaktischen (weniger für die wissenschaftlichen) Gattungen der Poetik und Ästhetik ließe sich in vergleichbarer Weise von einer Standardisierung sprechen. Sie tritt ein, wenn die Möglichkeiten zur „(Re-)Kombination“ poetologischen Wissens stillgestellt sind.16 So betrachtet wird Poetik des 19. Jahrhunderts aus zwei Gründen standardisiert: zum einen mußte sie ihr Ausbildungsziel umstellen. War sie in der Frühneuzeit für die Erziehung des ‚poeta doctus‘ zuständig, der sich in Rede und Schrift als ein gelehrter Christ auszuweisen hatte,17 so wird dieses Ausbildungsziel bereits mit der Wendung zu den Vorstellungen der Weimarer Klassik brüchig. Fortan dient Poesie der literarischen Bildung des Schülers, des Studenten und des Literatur-Experten – all denen, die sich nicht mehr den Techniken der Verfertigung von Texten, als vielmehr den historischen Erscheinungsformen nationaler und ‚schöner‘ Literatur widmen. Im Zuge der Verwissenschaftlichung literarischen Wissens durch die Institutionalisierung der Philologien verarmt und bereichert Poetik ihr Wissensgebiet zugleich: Es wird kanonisch und schließt sich von der Literaturentwicklung selbst ab, öffnet sich damit aber für wissenschaftliche Debatten und für den Anschluß an gängige wissenschaftliche Überzeugungen. Standardisierung meint in diesem Sinne auch Spezialisierung, Differenzierung und Verwissenschaftlichung. (5) Positivierung (vs. Normierung), 1870–1910. Für ihre Verwissenschaftlichung läßt sich Poetik im ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem von der experimentellen oder psychologischen Ästhetik anre16 Den Begriff der (Re-)Kombination entnehme ich Stöckmann 2001, S. 366–368. 17 Wilhelm Wackernagel beispielsweise bezieht sich in seinen „Vorlesungen über die Poetik“ (1836/37) noch ganz selbstverständlich auf den christlichen ‚Wertehorizont‘ der Gelehrtenrepublik, wie er aus den Poetiken des 18. Jahrhunderts bekannt ist. Mehr noch: Mit dem Verweis auf die göttliche Sendung des Poeten steigert er wieder (sozusagen spät-romantisch), was Poetiken des späten 18. Jahrhunderts nurmehr distanziert aufnahmen.
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VII. Ergebnis
gen, wie sie sich im Ausgang von Fechners Abhandlung Zur experimentalen Aesthetik (1871) entwickelte. Ästhetiken wie diese siedeln im Gebiet der Lehre von der ästhetischen Erkenntnis (in der Nachfolge von Alexander Gottlieb Baumgarten, Karl Philipp Moritz, Immanuel Kant, Johann Friedrich Herbart)18 und beziehen sich auf die Erträge der frühen Psychologie. Sie lösen sich vom Gegenstand der Poetik, vom Text, und widmen sich der (ästhetischen) Wahrnehmung überhaupt. Wissenschaftliche Poetik versucht, diese ästhetischen Beschreibungsinteressen für das eigene Wissensgebiet zu gewinnen. Wilhelm Diltheys und Wilhelm Scherers Bemühungen um eine deskriptiv-empirische Darstellung der ‚dichterischen Phantasie‘ stehen ‚paradigmatisch‘ dafür.19 Bereits im Jahr 1882 bilanziert Konrad Beyer im Blick auf dieses Vorhaben: „Wir sind heute im Gegensatz zu einer früheren spekulativen Ästhetik so weit“, in Physiologie und Physik die Fundamente von Ästhetik und Poetik zu erkennen und auch letztere mit Hilfe der „naturwissenschaftlichen Methode“ zu untersuchen.20 In den 1910er Jahren aber entwickeln sich die Interessen an einer psychologischen oder experimentellen Poetik wieder auseinander – möglicherweise auch, weil der Anschluß an die Literatur der Gegenwart im Zeichen der Experimentewissenschaft nur punktuell (etwa für Arno Holz) gelingt. Der Naturalismus der 1880er Jahre erweist sich unter dem Aspekt der Positivierung nämlich noch als erstaunlich schwach; in seiner poetologischen Lyrik kommt nur wenig zur Geltung, was Flaischlen in seinem Essay über den Verlust der Illusionen so eindringlich schildert: das Erstarken von Technik, Naturwissenschaft und quasi-religiösem Glauben an Vernunft und innerweltliches Heil. Noch im Jahr 1913 zeigt sich in einer Besprechung von Julius Harts Revolution der Ästhetik als Einleitung zu einer Revolution der Wissenschaft (1909), daß die ästhetischen Bemühungen des ehemaligen Naturalisten dem Urteil des Wissenschaftlers nicht standhalten können.21 Der wissenschaftlichen Poetik aber werden ‚Erlebnis‘ und ‚dichterische Phantasie‘ ihrerseits zu Floskeln für das geistesund kulturwissenschaftliche Bemühen um die Poetik. Zeitgleich 18 19 20 21
Dazu Vollhardt 1995. Kindt u. Müller 2000, S. 699–702. Beyer 1882, I, S. 83. Hugo Spitzer: [Rez.], in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 8/1 (1913), S. 624–643.
2. Kontinuität und Wandel der Poetiken im 19. Jahrhundert
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streitet man sich über den Sinn und Zweck analytisch-deskriptiver und normativer Orientierungen in der Poetik (Theodor A. Meyer, Rudolf Bosch).22 Im Ergebnis zeigt sich, daß sich Poetik entweder zur analytisch-deskriptiven Darstellung historischer Poetiken oder23 – in den zahllosen Schulpoetiken des 19. Jahrhunderts – zur asketischen Darstellung und Übung von Form und Stil entwickelt.24 Für die Tendenz zur Positivierung gilt demzufolge – ähnlich wie für diejenige zur Objektivierung –, daß poetologische Lyrik und Poetik die Wissensentwicklung zwar verfolgen, sie aber nur zögerlich in die eigenen Beschreibungsmuster übernehmen. Poetologische Lyrik neigt dabei auch der Gegenseite zu: der Wissenschaftsskepsis, also einer Position, die sich aus ethischen Vorbehalten speist. Für dieses ethische Wissen erweist sie sich als stärker rezeptiv als für wissenschaftliche Erkenntnisse. Die nachstehende Tendenz könnte mit diesem Umstand zusammenhängen. (6) ‚Differenzierung im Nebeneinander‘, 1890–1930. So sehr sich gelehrte und didaktische Poetiken auch noch floskelhaft um ethische Handlungsanweisungen mühen – das Feld ethischen Orientierungswissens geben sie im Zuge dieser Entwicklung frei; auch die Literatur der historischen Gegenwart zwischen 1890 und 1930 entschwindet ihrem Blick.25 Hier setzen die Autorpoetiken ein, die sich in Essay, Brief und poetologischer Lyrik literarisch darbieten. Sie füllen die Lücken, die gelehrte, wissenschaftliche und didaktische Poetiken offen lassen und stellen neue Kommunikationsangebote bereit. Weil Autorpoetiken schnell verfertigt werden können, erweisen sie sich als zeitgemäße, als moderne Beobachtungs- und Verständigungsmedien. Doch nicht allein der Faktor Zeit kommt ihnen entgegen. Sie dürfen und sollen auswählen, bloß einzelnes und nicht die Literatur in ihrer Totalität abbilden. Mehr noch: Sie wollen Innovation garantieren, sich polemisch abgrenzen, Literatur aus erster 22 Siehe Storim (2002) für die Ästhetiken des Monismus und Neu-Kantianismus. 23 Solche deskriptiven Poetiken beginnen bereits in den 1880er Jahren; zu den prominentesten zählt Borinski 1883. Untersuchungen darüber fehlen – eine weitere Aufgabe für das geplante Nachfolgeprojekt zu dieser Untersuchung (wie Anm. I., 61). 24 Auch die Schulpoetiken von Bernhard Dieckhoff (1832) bis hin zu Leo Wolf-Grütter (1929) wurden noch nicht einmal bibliographisch erschlossen – eine Aufgabe für ein Anschlußprojekt (wie Anm. I., 61); siehe auch Werner 1996, S. 318–324. 25 Hier trifft nun zu, was Todorow (1981) aber schon für die Frühphase des 19. Jahrhunderts beschreiben will, daß sich wissenschaftliche Poetik und Literatur voneinander lösen.
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VII. Ergebnis
Hand aufnehmen und programmatisch Neues bieten – in einer Vermischung zeitdiagnostischer Spekulationen, zivilisations- und kulturkritischer Überlegungen, populärwissenschaftlicher Erkenntnisse, formaler und inhaltlicher, nicht selten ethischer, sozialer und politischer Forderungen. Um 1900 erweisen sich Autorpoetiken deshalb als gängige, aber eben bloß als partikulare Beobachtungs- und Verständigungsmedien. Mit ihnen gewinnt auch die poetologische Lyrik vermehrt an Bedeutung: Während sich seit den 1820er/25er Jahren vor allem die ‚poetae minores‘ um die Poetik bemühten, erreicht sie nun wieder den lyrischen ‚Höhenkamm‘. Nicht anders als in der Romantik stellt sich jetzt nahezu jeder lyrische Text als poetologisch dar. Um 1900 und noch in den 1920er Jahren erscheint die Beschreibung ‚Differenzierung im Nebeneinander‘ (Georg Simmel) deshalb als angemessenste: Es liegt eine Vielfalt poetologischer Selbst- und Fremdentwürfe vor, die sich aus dem weitläufigen Gebiet der Lebensreform, der Weltanschauungsliteratur, der Zivilisationskritik, der Populär- und Geheimwissenschaft speist und in ganz unterschiedlichen Gattungen äußert. Im Ergebnis stehen Bereichstrennungen: Wissenschaft und Poesie fallen auseinander, lassen sich nur noch im Medium des populären Zeitschriftenbeitrags vermitteln – auf Kosten gelehrter, didaktischer oder wissenschaftlicher Bedeutung und zugunsten eigenwilliger Synthesen. Um 1900 gelingt es gelehrter, wissenschaftlicher und didaktischer Poetik nicht mehr, populäre, wissenschaftliche und lyrische Verständigungsformen gleichermaßen systematisch einzufangen. Deshalb verliert Poetik ihren Sinn als eine ebenso systematische wie handlungsleitende Wissenschaft. Sie bleibt Formlehre und geht nach und nach in die analytisch-beschreibende Einführungsliteratur der Philologien über.26 Diese Untersuchung sollte dazu beitragen, die Wahrnehmung für das Verhältnis von gelehrter, wissenschaftlicher und didaktischer Poetik, von Ästhetik und poetologischer Lyrik zu schärfen: auch hinsichtlich der Aufnahmebereitschaft von Literatur für Wissen, vor allem aber im Blick auf die kognitive Leistung von Literatur selbst. Daß Literatur eine solche Leistung erbringt, zeigen die vorliegenden Interpretationen und 26 Über Emil Staigers „Grundbegriffe der Poetik“ (1. Aufl. 1946, 5. Aufl. dtv 1983, 8. Aufl. Atlantis-Verlag 1968) läßt sich eine kontinuierliche Linie bestimmen, die in die Einführungsliteratur für die Literaturwissenschaft mündet; zur Einführungsliteratur ab Staiger Schönert 2001.
2. Kontinuität und Wandel der Poetiken im 19. Jahrhundert
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die Beschreibung der poetologischen Funktionen poetologischer Lyrik. Um den Blick darüber hinaus – spekulativ – auf die ‚longue durée‘ der Leistung poetologischer Lyrik für das Wissenschaftsgebiet der Poetik zu lenken: Literatur ist mehr als die schöne Form für ‚hartes Wissen‘, mehr als ein Medium der Veranschaulichung komplexer Sachverhalte. Ihr kommt (mitunter) sogar eine eigene quasi-wissenschaftliche Funktion zu: Sie stiftet Empirie. Schnell und mit Blick auf alle Lebensbereiche vermag sie, auf neue kognitive und handlungspraktische Anforderungen zu reagieren und nötigt gelehrte, wissenschaftliche und didaktische Poetiken ‚in the long run‘, diese Reaktionen wahrzunehmen. Die literarischen und gedanklichen Herausforderungen vor allem der Romantik trugen ganz wesentlich dazu bei, das literarische Bewußtsein für diese Fähigkeiten von Literatur zu schärfen. Friedrich Schlegel stellte die radikalsten Forderungen an die literarische Selbstund Fremd-Erkenntnis. Daß er sie sogleich wieder ironisch zurücknahm, läßt die Grenzen eines Unternehmens erahnen, das ganz auf die poetische Weltwahrnehmung und -gestaltung vertrauen wollte. Wenn diese Untersuchung die kognitiven Leistungen von Literatur betont, dann will sie in diesem Sinne auch auf Grenzen für dieselbe hinweisen: Literatur mag sich selbst beschreiben und erkennen können, aber sie stellt sich nicht allein diese Aufgaben. Literatur befindet sich in einem komplexen Netz von Motivationen und Wirkungsvorstellungen; sie unterhält und erfindet. Schon aus diesem Grund gilt es, ihren Erkenntnisleistungen professionell zu mißtrauen, um ihre Aussagen verstehen, einordnen und aus ihrem Zusammenspiel mit anderen Wissensgebieten begreifen zu können: Hier setzt wissenschaftliche Poetik heute ein. Mehr steht ihr nicht mehr zu Gebote – es sei denn, sie entwickelte sich wieder zu einer normativen ‚Ars poetica‘.
VIII. Abbildungs- und Literaturverzeichnis Die Untersuchung wurde im März 2003 abgeschlossen; später erschienene oder erst später durch den Leihverkehr öffentlicher Bibliotheken zugängliche Beiträge konnten nur in Ausnahmefällen (beispielsweise Hildebrand 2003; Koch 2002) berücksichtigt werden.
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VIII. Abbildungs- und Literaturverzeichnis
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3. Forschung
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462
VIII. Abbildungs- und Literaturverzeichnis
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IX. Namenregister
463
IX. Namenregister Das Register enthält die Namen lebender Personen des Untersuchungszeitraums sowie die Namen der historischen Personen, auf die sie sich beziehen. Abernethy, John 320 Akenside, Mark 211 Albert-Lasard, Lou 365 Allegri, Antonio siehe Correggio Aman, Elisabeth 374 Andreas-Salomé, Lou 339, 345, 374, 377 Anonymus (Vergil-Kommentator) 34 Arent, Wilhelm 278, 281–284, 288 Ariost, Lodovico 38 Arndt, Ernst Moritz 206 Arnim, Bettina v. 55 Arnim, Ludwig Achim v. 29 f., 55–104, 115, 122, 141, 280 f., 382, 385, 389 Arouet, François Marie siehe Voltaire Auerbach, Berthold 194, 199–201 Avenarius, Richard 331 Bachofen, Johann Jakob 345, 361 Bailey, Benjamin 317 f. Balzac, Honoré de 143 Banner, Adolf siehe Buchheim Barret Browning, Elisabeth 229, 293, 373 Barthel, G. Emil 231 Baskerville, Alfred 113 Batsch, August Johann Georg Carl 251 Baudelaire, Charles 21, 143, 230 f., 295, 336 Bauer, Bruno 272 Bauer, Ludwig 111, 147 Baumgarten, Alexander Gottlieb 394 Baur, Ferdinand Christian 107 Beaulieu-Marconnay, Edmund 293 Beckmann, Mathilde Josephine Katharine 244
Beethoven, Ludwig van 228 Bembo, Pietro 97 Bentham, Jeremy 328 Béranger, Jean-Pierre de 231 f. Beresford, B.[…] 113 Bergson, Henri 326, 330, 332 Bernard, Thalès 231 Bernays, Adolph 113, 204 Bernus, Alexander v. 302 f., 305 Bertuch, Friedrich Justus 251 Bethge, Hans 26 Betz, Louis-Paul 199 Beyer, Konrad 17, 394 Bierbaum, Otto Julius 277, 284–286, 386 Biese, Alfred 331 Bismarck, Otto v. 134, 200 Blake, William 292 f., 359 Bleibtreu, Carl 281, 283 Blüher, Hans 364 Blumenbach, Johann Friedrich 317 Bodmer, Johann Jacob 198 Böhme, Jacob 107, 112 Bölsche, Wilhelm 331 Boileau-Despréaux, Nicolas 319 Boisserée, Sulpiz 182 Bonifatius 87 Bonstetten, Karl Viktor v. 57 Borchardt, Rudolf 292 Borinski, Karl 17 f., 287, 387, 395 Borutin, Sidonie Nádherny´ v. 296, 304 Bosch, Rudolf 395 Bouterwek, Friedrich 203 Brachmann, Louise 257 f. Brandes, Georg 194, 198 f., 232, 313, 319 Breitinger, Johann Jacob 198
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IX. Namenregister
Bremer, Johann Peter 97 Brentano, Clemens 56, 74–76, 92, 100 f., 141 Brizeux, Auguste 231 Brockes, Barthold Heinrich 144, 148, 252 f. Broicher, Daisy 113 Brooks, Charles T. 113 Browning, Robert 229, 292 f. Bruchmann, Karl 331 Bruckmann, Elsa 362 Bruckmann, Hugo 362 Brueghel, Jan d. Ä. 59, 79–83 Buchheim, Karl Adolph (Pseudonym Adolf Banner) 113, 204 Büchler, Karl 331 Bünau, Henriette v. 244 Bürger, Gottfried August 31 Burke, Edmund 329 Burne-Jones, Edward 292 f., 309 Burns, Robert 211 Burt, Mary Anne 113 Butler, W.[...] A. 210, 212 Byron, George Gordon Noël Lord 191 f., 210–212, 215, 228, 292 Calzabigi, Raniero de’ 36 Camões, Louis 58, 60, 67 f., 85, 270 Campbell, Thomas 211 Carlyle, Thomas 182, 203 Carmichael, Gershom 321 Carracci, Agostino 59, 71 Carracci, Antonio 58, 63–65 Carriere, Moriz 3, 17 f., 155, 387 Celtis, Konrad 16 Cervantes Saavedra, Miguel de 191 Chamisso, Adalbert v. 206, 231 f. Châteaubriand, François René Auguste Vicomte de 370 Chaucer, Geoffrey 218 Cleopatra 36 Coleridge, Samuel Taylor 205, 211, 308 f. Colvin, Sidney 298 Conradi, Hermann 278–283, 288 Cooper, Anthony Ashley siehe Shaftesbury Cooper, Sir Astley Parson 316 f. Corneille, Pierre 177
Cornwall, Barry (Bryan W. Procter) 210, 212, 294 Correggio (Antonio Allegri) 59, 62, 68, 72–78, 82 Coypel, Charles Antoine 69 Crabb Robinson, Henry 203, 315 Da Vinci, Leonardo 374 Dahn, Felix 267, 288 Dante Alighieri 68, 143 Daumer, G.[…] F. 193 Denham, Sir John 211 Derleth, Ludwig 362 Dessoir, Max 331 Dickens, Charles 143 Dieckhoff, Bernhard 395 Diest, Heinrich 114 Dilthey, Wilhelm 394 Domenichino 59, 68 Dostojewski, Fjodor 143 Dowson, Ernest 292 f. Dr. Mises siehe Fechner Droste-Hülshoff, Annette 241–261, 271, 382, 385–387, 391 Dryden, John 211 Du Prel, Carl 330 f. Düringsfeld, Ida v. (Pseudonym Thekla) 247, 259 Eichendorff, Joseph v. 21, 143, 206, 255 Eliot, George (Mary Anne Evans) 205 Eliot, Thomas Stearns 142, 371 Elliott, Ebenezer 211 Elze, Karl 213 Emerson, Ralph Waldo 210, 345 Engel, Eduard 206 Engels, Friedrich 204 Ettlinger, Karl (Pseudonym Karlchen) 382 f. Etzel, Gisela 299 f., 302 f., 305 Euripides 44 Evans, Mary Anne siehe George Eliot Faucci, Carlo 68 Fechner, Gustav Theodor (Pseudonym Dr. Mises) 155–157, 159, 191, 328 f., 360, 394 Feuerbach, Ludwig 134, 205, 271–273 Fichte, Johann Gottlieb 27, 50 f. Fischer, Th.[…] A. 214
IX. Namenregister Flaischlen, Cäsar 262 f., 277, 288–290, 394 Fontane, Theodor 275, 280 Frazer, Sir James George 360 Freiligrath, Ferdinand 12, 205–224, 226 f., 231 f., 240 f., 244, 268, 274, 293 f., 305, 382 Freiligrath, Käthe 229 Freytag, Gustav 362 Friedrich I. 148 Frimmel, Th.[…] v. 63, 68 Frischlin, Nicodemus 147 Füger, Heinrich Friedrich 59, 72 Fyfe, Andrew 317 Gall, Franz Joseph 87 Galletly, H. Campbell 113 Gaudy, Franz Freiherr 231 Gautier, Théophile 319 Geibel, Emanuel 21, 204, 206, 213, 220 f., 227–229, 233 f., 237, 263 f., 268, 278 Genovese, Prete (Bernardo Strozzi) 58, 65 f. George, Sophie 258 George, Stefan 22, 142 f., 264, 288, 291–293, 346, 362 Gervinus, Georg Gottfried 170, 175 Ghezzi, Giuseppe 79 Gide, André 302 f., 306, 312, 314, 341, 353, 370, 372 Glover, Richard 38 Gluck, Christoph Willibald 36 f. Goethe, Johann Wolfgang v. 16 f., 107 f., 112, 137, 141, 143, 150–152, 154 f., 159, 163, 178, 180–184, 189–192, 199, 203, 307, 385, 390 Gok, Johanna Christiana (Mutter Hölderlins) 54 Gok, Karl (Bruder Hölderlins) Goll, Claire siehe Studer-Goll Goll, Iwan 372, 377 f. Gonzaga, Frederico 72 Gothein, Eberhard 299 Gothein, Marie Luise 298–300, 302, 305 Gottschall, Rudolf 3, 21, 287 Gottsched, Johann Christoph 97 Grätsch, J.[…] 59, 71 f.
465
Gray, Thomas 211 Grimm, Jacob 120 Grimm, Wilhelm 120 Grotius, Hugo 323 Grün, Anastasius 18, 113 Grüning, H.[…] 228 Gumplowicz, Ludwig 391 Gundlach, Fitz 238 Gundolf, Elisabeth 334, 375, 380 Gundolf, Friedrich 108, 142–145, 299, 326 Hallam, Arthur 295 Hahn-Hahn, Ida Gräfin 242, 258 Halévy, Léon 177, 230 f., 233–240 Haller, Albrecht v. 316 f. Hamsun, Knut 143 Harbou, Sophie v. 224 f., 227 Hardenberg, Friedrich v. siehe Novalis Hart, Heinrich 21 f., 263, 278 Hart, Julius 21 f., 263, 278, 394 Hartley, David 322 Hartmann, Moritz 231 Hasenclever, Sophie 231 Hatfield, James Taft 113 Hauffe, Friederike 359 Hausenstein, Wilhelm 355 Hazlitt, William 294, 314–316, 320–329 Hebbel, Christian Friedrich 254 Hederich, Benjamin 31, 92 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 16, 19, 28, 42, 105–107, 109 f., 112, 120, 124, 126–128, 151, 158–164, 166–168, 171, 174, 196 f., 204 f., 214, 229, 272, 274, 285, 388–390, 392 Heine, Heinrich 3, 21, 188 f., 196, 198 Hemans, Felicia 212 Henckell, Karl 233, 278–283, 288 Herbart, Johann Friedrich 170, 394 Herbert, M.[…] 247 Herder, Johann Gottfried 178–181, 184, 188, 199, 201, 204 Hertzberg, Wilhelm Adolf Boguslaw 217–219, 221, 223, 226 Herwegh, Georg 232, 268, 382 Hettner, Hermann 276 Heyse, Paul 156, 198, 221, 233, 268, 330
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IX. Namenregister
Hildegard v. Bingen 247 Hobbes, Thomas 322, 325 Hölderlin, Friedrich 28 f., 42–55, 95–97, 99, 103 f., 114 f., 128, 143, 293, 300, 382, 385 Hoffinger, Josepha v. 259 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich 173–175, 184, 187 f., 195, 197, 200, 206 Hofmannsthal, Hugo v. 22, 264, 291, 308, 326 Hogarth, William 196, 329 Holbein, Hans 377 Holmström, Tora Vega 339 f. Holz, Arno 22, 277 f., 282 f., 288, 384, 394 Homer 40, 143 Hoods, Thomas 211 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 11, 31, 62, 130, 234 f. Hotho, Heinrich Gustav 105 f., 120, 158 f., 163, 171 Hugo, Victor 199, 231 f., 238 Hulewicz, Witold 338 Humboldt, Wilhelm v. 108 Hume, David 314, 320–323, 327 f., 331, 360 Hunt, Leigh 211 f., 293 f., 318 Hunt, William Holman 298 Hunter, John 320 Hutcheson, Francis 321 f., 329 Hutten, Ulrich v. 148 Iffland, August Wilhelm 203 Immermann, Karl 147 Iselin, Isaak 270 Jaenichen-Woermann, Hedwig 365 James, William 357, 360 Jean Paul (Jean Paul Friedrich Richter) 22, 149, 188, 191, 252 f., 389 Johnson, Ben 208–212 Jung, Frieda 258 f. Kant, Immanuel 27, 170, 394 Kappus, Franz Xaver 366, 369 Karl V., Kaiser 72 Karlchen siehe Ettlinger Kassner, Rudolf 292 f., 295, 306–314, 331 f., 344, 351–356, 370, 378 Keats, George 297
Keats, John 199, 211 f., 215, 240, 291–320, 323–332, 341, 353, 355, 370, 379, 385 Kegel, Max 223 Keller, Gottfried 21, 143, 261, 264 f., 267–277, 280, 382 f., 387, 391, 393 Kempner, Friedrike 260 Kerner, Justinus 18, 110–120, 124, 126, 128, 131–133, 135, 141, 147, 156, 184, 206, 267–272, 275–277, 288, 344, 359 f., 382, 385–387 Keyserling, Hermann Graf 344, 356–359, 361, 364, 366, 368, 370, 379 Kiniger, Vincenz Georg 72 Kinkel, Gottfried 204 Kippenberg, Katharina 337, 366 Klages, Ludwig 362 f. Klee, Paul 355 Kleinpaul, Ernst 17 Kleukens, Friedrich Wilhelm 299 Klinger, Friedrich Maximilian 307 Klopstock, Friedrich Gottlieb 15, 28, 38, 40, 112, 148, 161, 198, 209 Klossowska, Baladine 335 Knoop, Gertrud Ouckama 373, 375 Koch, Max 199 Körner, Theodor 204, 206, 212, 234, 254 Köstlin, Reinhold 139 Kotzebue, August v. 76, 89, 203 La Rochefoucauld, François de 322 Labé, Louise 373 Lachmann, Karl 123 Lafontaine, August 76, 203 Lamartine, Alphonse de 231 f., 238 Landon, Letitia Elizabeth 211 Landor, Walter Savage 292 Laun, Adolf 280 Lavater, Johann Caspar 88 Lechter, Melchior 379 Lee, Vernon (Violet Paget) 329 Leibniz, Gottfried Wilhelm 24 Lenau, Nicolaus 204 Lesser, Friedrich Christian 252 Lessing, Gotthold Ephraim 189, 199, 234 Leunis, Johannes 251 f. Leuthold, Heinrich 230, 233–240
IX. Namenregister Lichnowsky, Mechtilde 366 f., 370, 379 Liliencron, Detlev v. 284 Lindemann, Wilhelm 259 Linke, Oscar 102, 280 f., 283 Lipps, Theodor 295, 325–327, 329–331 Lipsius, Justus 83 Litzmann, Berthold 286 Longfellow, Henry Wardsworth 210–212 Lotze, Rudolf Hermann 325 f., 329 f. Ludwig, Otto 267 Lukian von Samosata 97–100, 102 Luther, Martin 88, 206, 300 Mac Donald, George 113 Mach, Ernst 295, 326, 331 f., 360, 384 Mackay, Charles 229 Mackenzie, Henri 203 Macpherson, James 57 Madeleine, Marie 247 Märklin, Christian 148 Maeterlinck, Maurice 365, 371 Mallarmé, Stéphane 230, 295, 336, 371, 373 f. Mandeville, Bernard de 322 Mangan, James Clarence 113 Manzoni, Alessandro 143 Maratta, Carlo 59, 79 Marc, Franz 375 Marcus Antonius 36 Martin, Nicolas 231, 234 Marx, Karl 204, 263, 272 Maximilian II. 234, 237 Mellich, J.[…] L. 113 Meltzl von Lomnitz, Hugo 199 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 206, 228 Menzel, Wolfgang 115–117 Mereau, Sophie 90 Meyer, Conrad Ferdinand 21, 133, 264, 278 Meyer, Richard Moritz 277 Meyer, Theodor A. 395 Michelangelo Buonarroti 62 Mieris, Franz d. J. 58, 67 Millais, Sir John Everett 298 Milnes, Richard Monckton 291, 298 f.
467
Milton, John 38, 40, 211 Minor, Jacob 63, 88 Mörike, August 130, 132 Mörike, Eduard 107–112, 117, 119, 124, 128–147, 156 f., 159, 164, 169–172, 185, 204, 244, 267 f., 274, 276, 330, 383, 386 f., 390, 392 Moltke, Helmuth v. 135 Monteverdi, Claudio 35 Moos, Xaver v. 339, 341, 374 Moritz, Karl Philipp 394 Morris, William 292 f., 299 Mozart, Johann Amadeus 89 Mühl, Dory Von der 338, 341 Mühlenfels, Ludwig v. 203 Müller, Wilhelm 155, 206 Müller-Freienfels, Richard 331 Mundt, Theodor 170, 194–198 Musil, Robert 349 Musset, Alfred de 231–233 Niethammer, Friedrich Immanuel 108 Nietzsche, Friedrich 19, 143, 171, 198, 343, 351, 379 Nitschmann, Heinrich 230, 237–240 Novalis (Friedrich v. Hardenberg) 27–42, 56, 93 f., 103, 149, 288, 380, 382, 386, 389 Opitz, Martin 209 Oppen, Edward A. 113 Ovid (Publius Ovidius Naso) 40, 335, 342, 380 Paget, Violet siehe Lee Paoli, Betty 243 Pater, Walter 309 Pesme, François Louis de (Seigneur de Saint-Saphorin) 79 Pfeiffer, Richard 382 f. Pichler, Johann Peter 68 f. Pindaros 95–97, 99, 151, 161 f., 188 Platen-Hallermünde, August Graf v. 133, 204, 263, 278 Platon 24, 188 Pope, Alexander 143, 234 Pound, Ezra 371 Prinzhorn, Wilhelmine 217, 224, 226 f., 240 Procter, Bryan W. siehe Cornwall Pseudo-Longin 49
468
IX. Namenregister
Racine, Jean 143, 177 Raffaelo Santi 62, 172 Rathenau, Walther 344, 346–350, 355, 372, 376 Reboul de Nimes, Jean 231 Reimarus, Hermann Samuel 148 Reventlow, Franziska Gräfin zu 362 Reynolds, John Hamilton 294, 318 Richter, Jean Paul Friedrich siehe Jean Paul Rilke, Clara 362 Rilke, Rainer Maria VI, 20, 240, 264, 291, 294–306, 309 f., 312, 314, 326, 330–380, 382, 384, 386 f. Rimbaud, Arthur 230 Ringseis, Emilie 259 f. Rodin, Auguste 379 Rogers, Samuel 211 f. Rosa, Joseph 63 f., 67, 71, 73, 77 Roscommon 213 Rosenkranz, Karl 170 Rossetti, Christina 229 Rossetti, Dante Gabriel 292 f., 309 Rossetti, William Michael 298 Rousseau, Jean-Jacques 360 Rubens, Peter Paul 79–83 Rudolph II., Kaiser 73, 77 Rückert, Friedrich 156, 183–188, 192 f., 386 f. Rüdiger, Elise 245 Rugard, M.[…] 217, 222, 224 f., 240 Ruge, Arnold 119, 272 Sänger, Eduard 299 Saint-René Taillandier, M.[…] 206 Saint-Saphorin, Seigneur siehe Pesme Sand, George 172 Sappho 247 Savery, Roelant 80 Schack, Adolf Friedrich Graf v. 221, 293 Schiller, Friedrich 15, 24, 41, 49, 108, 113, 137, 143, 152 f., 155, 162, 164, 189, 204, 211 f., 234 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 28, 42, 46, 112 Schenkendorf, Max v. 206 Scherer, Wilhelm 394 Scherr, Johannes 192 f., 200 f.
Schlegel, August Wilhelm 26, 42, 61, 75 f., 90, 147, 150, 153–155, 175, 204, 323 Schlegel, Friedrich 15, 22–27, 42, 61 f., 75, 82, 90, 95, 103, 109–111, 113, 129, 148, 150–153, 155, 174, 191, 195 f., 201, 209, 386, 389, 397 Schleiermacher, Friedrich 203 Schlitz, Caroline Gräfin 70 Schönermark, Werner 208, 231, 233 f., 237 Schröder, Rudolf Alexander 299 Schubert, Franz 206 Schücking, Levin 245 Schuler, Alfred 344–346, 350, 361–370, 372, 377, 379 Schumann, Robert 206 Schwab, Gustav 111, 206 Scott, Walter 211, 218, 234 Seeliger, H.[...] J.D.A. 208, 213, 217, 219–222, 224–227, 240 Severn, Joseph 296, 300–303 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, third Earl of 321 Shakespeare, William 56, 91, 143, 208 f., 308 f., 324 Shelley, Percy Bysshe 210, 215, 292 Simmel, Georg 396 Sinclair, Isaak v. 54 Sizzo, Margot 369 Smith, Adam 314, 321 f., 325, 327 Smith, Alexander 210 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 170, 204 Southey, Robert 211 f. Spengler, Oswald 343–346, 367, 370, 379 Spinoza, Baruch de 28 f., 300 Spitzer, Hugo 394 Staël, Germaine de 191 f. Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 34 f. Stolterfoth, Adelheid v. 242, 258 Storm, Theodor 21, 264, 278, 383, 393 Strauß, David Friedrich 107, 109–112, 115, 117–119, 125, 128, 134–136, 138– 158, 164, 170–172, 185, 205, 267, 269, 272–274, 276, 343, 383, 386 f.
IX. Namenregister Streckfuß, Karl 181 Striggio, Alessandro 35 Strodtmann, Adolf 198 f., 204, 214 f., 222–224, 226, 233, 319 Strozzi, Bernardo siehe Genovese Stuck, Franz v. 379 Studer-Goll, Claire 339 f., 377 f. Sturm, August 231 Sulzer, Johann Georg 136, 166 Swinburne, Algernon Charles 229, 292 f. Tasso, Torquato 38 Taylor, William 203 Tennyson, Alfred Lord 206, 210, 214–230, 293, 295, 309, 387 Tennyson, Hallam 218 Thekla siehe Düringsfeld Tieck, Ludwig 110, 129, 148, 150, 153, 174, 190 f., 201 Titchener, Edward Bradford 327 Tiziano Vecelli 62 Tolstoj, Lev Nikolaeviˇc Graf 143 Triller, Daniel Wilhelm 144, 252 Tyard, Pontus de 97 Uffenbach, Zacharias Conrad v. 80 Uhland, Ludwig 110–113, 117–128, 133, 137, 141 f., 156, 159, 163 f., 167, 171, 184, 189, 197, 204, 206, 210, 212, 264, 382, 387, 392 Urbas, Otto v. 208, 231 Valéry, Paul 230, 295, 336, 371–377 van der Voort, Pieter de la Court 80 Vergil (Publius Vergilius Maro) 31–40, 382, 389 Verhaeren, Emil 300 Verlaine, Paul 230 Verwey, Albert 362 Verweyen, Johannes M. 391 Viehoff, Heinrich 330 f. Vischer, Friedrich Theodor 3, 107–112, 117, 119, 124–126, 133–148, 154 f., 157–159, 163–172, 185, 189, 196 f., 267, 274, 276, 329,
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343, 383, 387 f., 392 Vischer, Robert 159, 329 Vogeler, Heinrich 365 Vogl, Carl 344, 356, 359–361, 365, 370, 379 Vollheim, Karl 222 f., 240 Voltaire (François Marie Arouet) 143, 148 Voß, Johann Heinrich 37 Vulpinus, Theodor 230, 238–240 Wackernagel, Wilhelm 393 Wagner, Richard 300 Waiblinger, Wilhelm 111, 114 f., 128 Walther von der Vogelweide 123, 212 Waser, Johann Heinrich 97 Webb, Cornelius 294 Weiniger, Otto 364 Wenzel, Peter 81 Werner, Richard Maria 330 f. Wetz, Wilhelm 199 Whitman, Walt 345 Wieland, Christoph Martin 24, 31, 56, 87, 91, 97–100, 102 f. Wienbarg, Ludolf 150, 183 f., 188–194, 197, 280 Willdenow, Carl. L. 256 Wolf-Grütter, Leo 395 Wolff, Christian 24 Wolff, Eugen 18, 113 Wolff, Oskar Ludwig Bernhard 213 Wolfskehl, Karl 362 Woodhouse, Richard 307 Wordsworth, William 208–211 Worringer, Wilhelm 330, 375 Wundt, Wilhelm 295, 325–327, 330 Zampieri, Domenico siehe Domenichino Zapp, August 229 Zelter, Carl Friedrich 182 Zimmermann, Robert 170 Zimmermann, Rudolf 368 Zoozmann, Richard 113 Zur Linde, Otto 277, 284
Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch 2004. Ca. 384 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-017758-7 Untersucht werden literaturtheoretische Positionen von der Antike bis 1800. Vergessene historische Dimensionen werden freigelegt und Antworten auf die Frage nach der Tragfähigkeit der Kategorie ,literarischer Text‘ (der Literatur im engeren Sinn) gesucht. Der interdisziplinäre Zugang erlaubt es, ideengeschichtliche Kontexte in ihrer für die Literaturtheorie bestimmenden Bedeutung angemessen zu berücksichtigen. Besondere Aufmerksamkeit erhält dabei der Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und 1800. Aus dem Inhalt J. Schönert/U. Zeuch: Einleitung · S. Büttner: Zur Dichtungstheorie Platons · A. Schmitt: Das Verhältnis von Logik und Poetik als Teil des aristotelischen Organon in den Poetik-Kommentaren des Mittelalters · W. Freytag: Deskriptionslehre der hochmittelalterlichen Poetiken im Kontext der ‚artes‘ · G. Eifler: Der Nibelunge nôt. Was heißt: Authentische Dichtung als Sagenstoff? · B. Kappl: Deutung und Umformung zentraler Begriffe der Aristotelischen Poetik, vor allem des Mimesisbegriffs, in der Literaturtheorie des Cinquecento · R. Stillers: Literaturbegriff und Bildhaftigkeit in der frühen italienischen Renaissance · K. Münchberg: Probleme ästhetischer Immanenz bei Tasso · U. Zeuch: Was ist Literatur? Aporien in der Literaturtheorie seit der frühen Neuzeit · J. Leonhardt: Zur Diskussion um die Literatursprache im interkulturellen Vergleich: Rom der Antike, Renaissance und 18. Jahrhundert · R. Leonhardt: McDonalds ist einfach gut: Der neuzeitliche Niedergang klassischen beatitudo-Verständnisses – und seine aktuelle Unverzichtbarkeit · G. Gabriel: Der Begriff der Fiktion. Zur systematischen Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung · F. Uehlein: „Chartae Socraticae“. Lord Shaftesburys Literaturtheorie · L. Danneberg: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien – zur Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften an Texten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts · M. Moog-Grünewald: Was ist Dichtung?
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