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German Pages 732 Year 2019
Manfred Tietz (Hrsg.) Die spanische Lyrik von den Anfangen bis 1870
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Die spanische Lyrik von den Anfängen bis 1870 Einzelinterpretationen
Herausgegeben von Manfred Tietz in Zusammenarbeit mit Pere Joan i Tous und Heike Nottebaum
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1997
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die spanische Lyrik von den Anfängen bis 1870 : Einzelinterpretationen / hrsg. von Manfred Tietz. In Zusammenarbeit mit Pere Joan i Tous und Heike Nottebaum. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1997 ISBN 3-89354-072-5
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Umschlaggestaltung: Michael Ackermann unter Verwendung einer Abbildung des Doncel de Sigiienza Printed in Germany
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Inhalt Die Entwicklung der spanischen Lyrik von den Anfangen bis 1870 Von Manfred Tietz SECHS hargas Von Georg Bossong
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JUAN R U I Z , ARCIPRESTE DE H I T A . CÁNTICA DE SERRANA LIBRO DE BUEN AMOR,
959-971. Von Winfried Kreutzer
59
JORDI DE SANT JORDI. DOMPNA, TOT JÖRN VOS VAU PREYAN
Von Axel Schönberger
73
JUAN DE M E N A . D O N D E YAGO EN ESTA CAMA
Von Kurt Schnelle
85
MARQUÉS DE SANTILLANA. SONETO V
Von Jochen Heymann
95
COPLAS DE LA PANADERA
Von Beate Kempkens
109
ROMANCE DEL CONDE ARNALDOS
Von Christoph Rodiek
133
AUSIÄS M A R C H . V E L E S E VENTS HAN MOS DESIGS COMPLIR
Von Sabine Sattel
151
JORGE MANRIQUE. COPLAS POR LA MUERTE DE SU PADRE
Von Manfred Tietz
169
GARCILASO DE LA V E G A . U N RATO SE LEVANTA MI ESPERANZA
Von Christopher F. Laferl
209
GARCILASO DE LA V E G A . EGLOGA SEGUNDA
Von Christoph Strosetzki
225
D I E NEULATEINISCHE LYRIK IN SPANIEN: ANTONIO SERÓN. ELEGEIA V I I I
Von Dietrich Briesemeister
255
TERESA DE AVILA. V I V O SIN VIVIR EN MÍ
Von Rogelio García Mateo • Manfred Tietz
271
JORGE DE MONTEMAYOR. ¿ Q U É PUDE SER, SEÑORA, ANTES QUE OS VIESE?
Von Peter Fröhlicher
287
FRAY LUIS DE LEÓN. N O C H E SERENA
Von Hans Feiten
297
FERNANDO DE HERRERA. CANCIÓN I
Von Georges Güntert
311
SAN JUAN DE LA C R U Z . E N UNA NOCHE OSCURA
Von André Stoll
325
EPÍSTOLA MORAL A FABIO
Von Angel San Miguel
355
6 SONETO A C R I S T O CRUCIFICADO. N O ME MUEVE, S E Ñ O R , PARA QUERERTE
Von Rainer Hess
377
L O P E DE V E G A . I R Y QUEDARSE, Y CON QUEDAR PARTIRSE {RIMAS,
SONETT 6 1 )
Von Harald Wentzlaff-Eggebert
393
L O P E DE V E G A . ¿ Q U É TENGO YO, QUE MI AMISTAD PROCURAS?
Von Hans-Joachim Lope
407
L U I S DE G Ó N G O R A Y A R G O T E . M I E N T R A S POR COMPETIR CON TU CABELLO
Von Walter Pabst
421
L U I S DE G Ó N G O R A Y A R G O T E . E N UN PASTORAL ALBERGUE ( R O M A N C E DE ANGÉLICA Y M E D O R O ,
1602) Von Javier Gómez-Montero
443
JUAN DE A R G U I J O . A N A R C I S O
Von Ulrich Prill
461
FRANCISCO DE Q U E V E D O . C O N TRES ESTILOS ALANOS
Von Eberhard Geisler P E D R O CALDERÓN DE LA B A R C A . B L U M E N - UND STERNENSONETT AUS EL
475 PRÌNCI-
PE CONSTANTE. VON ANSGAR HILLACH
491
S O R JUANA INÉS DE LA C R U Z . E S T E , QUE VES, ENGAÑO COLORIDO
Von Dieter Janik
503
T O M Á S DE IRIARTE. L A A B E J A Y LOS ZÁNGANOS
Von K. Alfons Knauth
513
FRANCISCO G R E G O R I O DE SALAS. JUICIO IMPARCIAL, O DEFINICIÓN DEL CARÁCTER DE LOS NATURALES DE LOS REINOS Y PROVINCIAS DE ESPAÑA
Von Angel Sánchez Pascual
529
JUAN M E L É N D E Z V A L D É S . A J O VINO: EL MELANCÓLICO
Von Pere Joan i Tous
551
M A N U E L JOSÉ Q U I N T A N A . A LA INVENCIÓN DE LA IMPRENTA
Von Bienvenido de la Fuente
603
EVARISTO SAN M I G U E L . H I M N O DE R I E G O
Von Katharina Schede
627
JOSÉ M A R Í A B L A N C O - W H I T E . MYSTERIOUS N I G H T
Von Miguel Angel Cuevas
643
A N G E L DE SAAVEDRA, DUQUE DE R I V A S . E L FARO DE M A L T A
Von Hans Hinterhäuser
655
BONAVENTURA C A R L E S A R I B A U . L A PÀTRIA
Von Horst Hina
669
JOSÉ DE ESPRONCEDA. E L VERDUGO
Von Wolfram Krömer
683
A U G U S T O FERRÁN Y FORNIÉS. Z U R HEINE-REZEPTION IN SPANIEN
Von Montserrat Mullor-Heymann
695
Namensregister
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Manfred Tietz
Die Entwicklung der spanischen Lyrik von den Anfangen bis 1870 I Zur Konzeption des Bandes Der hohe Rang, den die spanische Lyrik der Moderne im Kontext der Weltliteratur einnimmt, läßt sich anhand jener beiden Nobelpreise unmittelbar belegen, die 1956 und 1977 den Dichtern Juan Ramón Jiménez (1881-1958) und Vicente Aleixandre (1898-1984) verliehen wurden. Für die spanische Lyrik der Zeit vor 1870 fehlen natürlich dergleichen plausible Belege. An ihre Stelle kann jedoch der Hinweis treten, daß ähnlich wie Petrarca und Leopardi, Goethe und Heine, Baudelaire und Rimbaud die Namen einzelner spanischer Lyriker dem interessierten Publikum durchaus vertraut sind. An erster Stelle ist hier Luis de Góngora zu nennen, dessen »dunkle Lyrik« als Inbegriff barocker Artifizialität und Ostentation gilt; unmittelbar danach läßt sich auf Juan de la Cruz verweisen, der mit seinem schmalen Werk wohl als einziger abendländischer Autor den Anspruch erheben kann, eine mystische Dichtung verfaßt zu haben, die auch den religiös Indifferenten zu faszinieren vermag. Jorge Manrique, Garcilaso de la Vega, Luis de León, Lope de Vega, Francisco de Quevedo mögen demgegenüber Namen sein, die außerhalb des spanischen Sprachraums nur noch dem spezieller interessierten Leser vertraut sind. Dafür ist die aus Spanien stammende Gattung der Romanze ebenso in den Formenschatz der europäischen Lyrik eingegangen wie das aus Italien stammende Sonett oder das Lied, das der deutschen Romantik zu verdanken ist. Die spanische Lyrik insgesamt ist weit davon entfernt, dem deutschsprachigen Publikum in umfänglicheren Übersetzungen zugänglich zu sein. Nicht einmal Garcilaso de la Vega, Fray Luis de León oder Luis de Góngora und Francisco de Quevedo liegen bislang in vollständigen und wenigstens einigermaßen befriedigenden Übertragungen vor. Dennoch fehlt es nicht an einigen Werken, die mehr als eine erste Orientierung erlauben. Die seinerzeit verdienstvolle Anthologie der spanischen Lyrik von den Anfangen bis zur Gegenwart von Rudolf Grossmann1 wird wegen der unangemessenen Sprache ihrer Übersetzungen, die alle aus der Feder des Autors stammen, zu Recht nicht mehr aufgelegt. An ihre Stelle ist Barbara Mitterers Auswahl der spanischen Lyrik getreten, die neben einer dem Wortverständnis dienenden Prosaübertragung Versübersetzungen verschiedenster Autoren von zum Teil sehr guter Qualität enthält2. Für den hier
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zur Debatte stehenden Zeitraum haben Hans Feiten und Agustín Valcárcel die kompetenteste — wenn auch das gesamte Mittelalter ausblendende — Anthologie der spanischen Lyrik vorgelegt, die interessante Übersetzungen, kursorische Interpretationen und einen sehr nützlichen bio-bibliographischen Apparat enthält3. Sie ergänzt gleichsam nach vorne die nicht weniger nützliche Anthologie und Geschichte der spanischen Lyrik, die Gustav Siebenmann zusammen mit José Manuel López veröffentlicht hat4. Der vorliegende Band will seinen Lesern jedoch nicht nur die oben genannten »großen Lyriker« vorstellen, die weitgehend dem »Siglo de Oro«, der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, zuzurechnen sind. Der Band versucht vielmehr, anhand der Interpretation einzelner, exemplarisch ausgewählter Gedichte einen Einblick in die gesamte Geschichte der spanischen Lyrik zu bieten: von ihren frühesten Manifestationen, den spanisch-arabischen hargas über die umfangreiche höfische Lyrik des Mittelalters, die vielfaltige Dichtung der Renaissance und des Barock im Goldenen Zeitalter, bis hin zur neoklassizistischen Lyrik der Aufklärungsepoche und den Dichtern der in Spanien recht spät einsetzenden Romantik, deren Repräsentanten vereinzelt auch noch nach 1850 in einem spätromantischen Stil geschrieben haben. Der Band endet mit der Darstellung der tiefgreifenden Erneuerung der spanischen Lyrik, ihrer Sprache, Themen und Formen, die sich seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts vollzogen hat. In ihr ist die Heine-Rezeption von großer Bedeutung gewesen. Ramón de Campoamor, Rosalia de Castro und Gustavo Adolfo Bécquer waren die Hauptakteure in diesem vielschichtigen Prozeß, der sich vor allem in den beiden Jahrzehnten zwischen 1850 und 1870 vollzog. Dies macht sie zu den Initiatoren einer einschneidend neuen Epoche in der spanischen Lyrik, der Dichtung der Moderne. Mit diesen drei Autoren setzte daher auch der erste Band dieser nunmehr vollständig vorliegenden ersten deutschsprachigen Darstellung der gesamten spanischen Lyrik in Einzelinterpretationen ein.5 Ein solch weit gespanntes Programm muß notwendigerweise Lücken aufweisen — und das nicht nur in Randgebieten der eigentlichen Lyrik wie den Marienliedern Alfons' des Weisen (1221-1284) oder den neoklassizistischen Literaturfabeln eines Félix María Samaniego (1745-1801). Die spätmittelalterliche Lyrik der Cancioneros, die in ihrer Formen- und Themenvielfalt auch über die Liebesdichtung hinausgeht, ist mit nur einem Gedicht von Juan de Mena sicher nicht ausfuhrlich genug vertreten. Hier mag der Forschungsstand als Entschuldigung dienen, wird die Cancionero-Lyrik doch gerade erst jetzt intensiver erschlossen. Andererseits konnten aus Platzmangel Interpretationen zu einem Autor wie Enrique Gil y Carrasco (1815-1846) nicht aufgenommen werden, dessen von Lamartine inspirierte romantische Naturlyrik der Berücksichtigung wert gewesen wäre. Der Bedeutung und der Breite des lyrischen Werks von Garcilaso de la Vega, von Lope de Vega, Luis de Góngora und Francisco de Quevedo wurde durch die Aufnahme der Analyse von jeweils zwei Gedichten Rechnung getragen. *
Der im Titel des vorliegenden Bandes verwandte Begriff einer »spanischen Lyrik« bedarf gleich zu Anfang dieses knappen Überblicks der Präzisierung. Mit
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ihm ist nicht eine Lyrik gemeint, die ausschließlich in spanischer, genauer gesagt in kastilischer Sprache verfaßt worden ist. Eine solche Lyrik, zumindest in schriftlicher Form, gibt es erst seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts, verglichen mit der (alt-)französischen und der (mittel-)hochdeutschen Lyrik also seit einem sehr späten Zeitpunkt. Mit der »spanischen Lyrik« sind hier zunächst all jene lyrischen Texte gemeint, die seit dem frühen Mittelalter im geographischen Raum Spanien in den jeweils regionalen (romanischen) Sprachen oder sprachlichen Varietäten verfaßt worden sind. Hierbei handelt es sich für den Süden Spaniens, für Andalusien, um die spanisch-arabische Mischsprache der hargas, die vielleicht mit der — ansonsten allerdings nicht in zusammenhängenden Texten überlieferten — gesprochenen Sprache der unter arabischer Herrschaft lebenden spanischen Christen, der Mozaraber, identisch sein könnte; im Nordwesten, in Galicien, später auch im rückeroberten Portugal, ist es das Galicisch-Portugiesische und im Nordosten das Katalanische, das sich als Dichtungssprache erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts deutlicher vom Provenzalischen, der nahe verwandten Literatursprache der Troubadours, zu differenzieren beginnt. Dieser Plurilinguismus löst sich zwar im 15. Jahrhundert zugunsten des Kastilischen auf, so daß es im Siglo de Oro und im 18. Jahrhundert durchaus legitim ist, die Lyrik in kastilischer Sprache mit der »spanischen Lyrik« schlechthin gleichzusetzen. Mit Aribaus Oda a la Pàtria von 1832 erhält die »spanische Lyrik« allerdings wieder eine katalanische Komponente, die sich im Zuge der Renaixenga, der Neubelebung der katalanischen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu einer eigenständigen, bedeutenden Dichtungstradition entwickelt. Ähnliches, wenn auch nicht mit dem gleichen beachtlichen Ergebnis, gilt für die galicische Sprache, die 1880 — damit allerdings jenseits des hier gesteckten zeitlichen Rahmens — mit Rosalia de Castros Gedichtband Follas novas erneut neben die im Nordwesten Spaniens weiterhin dominierende Literatursprache Kastilisch tritt. Diese komplexe sprachliche Situation im mittelalterlichen und im modernen Spanien hat im vorliegenden Band insofern ihre Berücksichtigung gefunden, als am Anfang eine Interpretation verschiedener hargas steht, daß mit Jordi de Sant Jordi (um 1385-um 1424) und Ausiàs March (13977-1459) zwei ältere katalanische Lyriker und mit Bonaventura Carles Aribau (1798-1862) ein neuerer katalanischer Autor berücksichtigt wurden. Darüber hinaus enthält der Band auch Texte, die zwar außerhalb Spaniens verfaßt worden sind, jedoch im Laufe der neueren spanischen Geschichte Bestandteil der geistigen Identität des Landes wurden. Es muß daher nicht überraschen, wenn in diesem Rahmen mit dem Sonett Mysterious Night von José Maria Bianco-White (1775-1841) auch ein Text in englischer Sprache aufgenommen wurde. Dieses Gedicht, das als eines der besten Sonette der englischen Romantik gilt, steht in diesem Band für das Schaffen all jener Autoren, die im Laufe der spanischen Geschichte seit dem Ende des 15. Jahrhunderts Spanien verlassen mußten, sei es wegen ihres Glaubens, wie die jüdischen Sepharden, sei es wegen ihrer liberalen, »heterodoxen« Denkweise wie José Marchena (1768-1821) oder Bianco-White. Wie die Sepharden konnten sie in der Vertreibung ihre spanische Sprache entweder beibehalten oder aber sie mußten sie, wie die Mysterious Night belegt, zusammen mit der kulturellen und poetischen Tradition wechseln. Daß andererseits »spanische Lyrik« aufgrund der Ausweitung
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Spaniens nach Übersee auch außerhalb des geographischen Raums der Halbinsel geschrieben wurde, illustriert der Fall von Sor Juana Inés de la Cruz (16481695), die in Mexiko und zum Teil am Hof des spanischen Vizekönigs ihre Gedichte verfaßte. Die deutlichere Herausbildung nationaler kultureller Identitäten im Spanisch-Amerika des 19. Jahrhunderts hat dann allerdings eine weitere Berücksichtigung lateinamerikanischer Autoren nicht geboten erscheinen lassen. Die — für den ganzen Okzident gegebene — Tatsache, daß zumindest bis Mitte des 18. Jahrhunderts neben der jeweiligen volkssprachigen Literatur gerade auch eine anspruchsvolle lyrische Dichtung in lateinischer Sprache existiert hat, bedürfte eigentlich keines Hinweises. Die aus dem Nationalgeist des 19. Jahrhunderts entstandenen National- und Einzelphilologien haben dieses umfassende gemeinsame europäische Erbe jedoch häufig aus dem Blick verloren. Die Berücksichtigung wenigstens eines (neu-)lateinischen Gedichts schien daher angebracht, um die tatsächliche — und noch wenig erforschte — Fülle der »spanischen Lyrik« auch in dieser Hinsicht zu illustrieren.6 II Die Entstehung einer Lyrik im vielsprachigen Spanien des Mittelalters Die Anfänge der spanischen Lyrik sind ohne die multikulturelle und plurilinguistische Situation auf der iberischen Halbinsel im Mittelalter nicht zu verstehen. Als früheste Belege dieser Lyrik galten lange Zeit die im Nordwesten Spaniens in galicisch-portugiesischer Sprache verfaßten cantigas de amigo7 (»Freundeslieder«), Rollenlieder, in denen ein junges, unverheiratetes Mädchen seine Liebessehnsucht (bisweilen auch ohne Scheu vor sexueller Eindeutigkeit) zum Ausdruck bringt. Die in der Frühphase anonymen, meist kurzen, strophisch gegliederten, durch Wiederholungen und Parallelismen gekennzeichneten Gedichte8 entsprechen dem auch ansonsten in Europa zu findenden Typus der »Frauenlieder«, der als älteste europäische »mündlich tradierte, volkstümliche« Lyrik gilt. Ihre Ursprünge reichen noch vor die »höfisch-gebildete«, der Schriftkultur zuzurechnende (Minne-)Lyrik der provenzalisehen Troubadours zurück, deren erster Repräsentant der Graf Wilhelm IX. von Aquitanien (1071-1126) ist.9 Diese inhaltlich und formal anspruchsvolle und stark konventionalisierte (Minne-) Lyrik stellt die Liebe eines (dem Bereich der Ritter zugehörenden) Mannes zu einer sozial hochstehenden Frau dar (cantiga de amor). Der Sinn dieser Liebe und die Klage über ihre prinzipielle Nicht-Erfüllung ist die sittliche Veredelung des liebenden Mannes. Lange blieb jedoch die Frage prinzipiell unbeantwortbar, ob aus den einfacheren Formen und Aussagen der cantigas de amigo ohne weiteres geschlossen werden kann, daß diese auf ältere, vorhöfische Traditionen zurückzufuhren sind. Denkbar wäre auch, daß es sich bei den cantigas de amigo und der höfischen (Minne-)Lyrik um zwei Register handelt, deren sich Verfasser und Interpreten, die juglares, je nach Anlaß und Zuhörerschaft so bedienten, wie dies gleichzeitig mit den Registern »profane« und »religiöse« Musik geschah. Aus der Textüberlieferung ließ sich auf keine chronologische Abfolge schließen. Denn cantigas de amigo und höfische Lyrik sind für den spanischen Raum erst
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aus einer Sammelhandschrift — dem Cancioneiro de Ajuda — überliefert, die nicht vor 1300 niedergeschrieben wurde. Eine genauere chronologische Einordnung der cantigas de amigo wurde daher erst möglich, als der Orientalist Samuel Miklos Stern 1948 konkretere Belege für die Existenz einer vorhöfischen spanischen Lyrik entdeckte. Es handelt sich um die eingangs erwähnten hargas. Das arabische Wort bedeutet »Ausgang«; bezeichnet werden mit ihm die Schlußzeilen einer muwassaha, eines komplexen Gedichts fester metrischer Bauart, die im al-Andalus, dem arabischen Südspanien, in der zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts entstanden war und deren früheste überlieferte Beispiele auf die Zeit vor 1050 zu datieren sind. Die Besonderheit der muwassaha liegt darin, daß ihr Haupttext in klassischem Arabisch (gelegentlich auch in Hebräisch) verfaßt ist, während die hargas in gesprochenem Arabisch oder aber in einer arabisch-spanischen Mischsprache erscheinen. Thematisch, wenn auch nicht formal, zeigen diese nur wenige Zeilen umfassenden hargas eine recht große Nähe zu den cantigas de amigo. Auch in ihnen spricht ein junges Mädchen recht unverhohlen seine erotischen Sehnsüchte aus. Cantigas de amigo und hargas lassen sich als geographisch weit auseinander liegende, thematisch jedoch übereinstimmende Beispiele für die Existenz einer vorhöfischen Liebesdichtung verstehen. Denn die frühe Datierung der ältesten überlieferten hargas belegt, daß es diese Lyrik schon gab, bevor mit Wilhelm von Aquitanien der erste Troubadour zu dichten begann. Sollte sich diese Deutung der hargas als stichhaltig erweisen10, so wären sie die ältesten Belege für die Existenz einer volkssprachlichen Lyrik in Europa. Sie verdanken ihre Überlieferung der besonderen multikulturellen Situation in Spaniens Süden, wo Mauren, Juden und Christen in engem kulturellen Kontakt zusammenlebten. Neben den hargas und den cantigas de amigo belegt eine dritte Gruppe von Texten die Existenz einer vortroubadouresken Lyrik in Spanien. Es sind dies die villancicos^, die für das Zentrum des Landes, den kastilischen Sprachraum belegt sind. Der Refrainteil dieser Gedichte, das belegt ihre vorhöfische Liebesauffassung, der einleitende estribillo, entstammt jener frühen »poesia populär«, die sich auch in den hargas und den cantigas de amigo manifestiert. Die für das villancico typische anschließende Glosse, in der dieser Kopfteil kommentiert wird, ist jünger als dieser und stammt von einem »poeta culto«. Damit stellt sich das villancico ganz ähnlich wie die muwassaha als Mischung aus einem älteren Textteil, der der mündlichen Tradition entnommen ist, und einem jüngeren Teil dar, der aus der Feder eines späteren »gebildeten Autors« stammt. Belegt sind diese villancicos allerdings erst aus noch späterer Zeit als die cantigas de amigo. Sie sind in den verschiedenen — überwiegend kastilischsprachigen — Cancioneros überliefert, deren erster, der Cancionero de Baena um 1450 zusammengestellt und damit Bestandteil der schriftlichen Kultur wurde. Über die sicher zutreffende Vermutung hinaus, daß die Refrainteile der villancicos eine sehr alte Lyrik spiegeln, die lange mündlich (im »estado latente«, wie es Menendez Pidal bezeichnet) tradiert wurden, läßt sich keine genauere Datierung angeben. Die sicherlich nicht unberechtigte Frage, welches denn nun das älteste Gedicht in kastilischer Sprache ist, läßt sich daher nicht in positivistischer Manier beantworten. Neben dieser vorhöfischen Lyrik hat das mittelalterliche Spanien auch eine höfische Lyrik gekannt, wie sie im deutschen Sprachraum unter dem Begriff
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MANFRED TIETZ
»Minnelyrik« gefaßt wird. Wie die gesamte höfische Lyrik im damaligen Europa folgte sie auch in Spanien dem Vorbild der provenzalisehen Troubadours.12 Es ist historisch belegt, daß sich einzelne provenzali sehe Minnesänger in Spanien aufgehalten haben. Sie kamen in den christlichen Norden des Landes, im Gefolge all jener Menschenströme (und potentiellen Zuhörer), die angelockt vom — um 1100 mächtig aufblühenden — Santiago-Kult die Mühen der Pilgerreise nach Galicien auf sich nahmen. Hier im Nordwesten des Landes entstand in der Nachahmung der Provenzalen um 1200 eine spanische höfische Lyrik, die dem geographischen Raum ihrer Entstehung entsprechend jedoch nicht in kastilischer, sondern wie die cantigas de amigo in galicisch-portugiesischer Sprache verfaßt wurden. Die etwa 1700 überlieferten Gedichte gliedern sich, dem provenzalischen Gattungsschema folgend, in cantigas de amor (die idealisierende höfische Liebeslyrik der Kanzonen) und in cantigas de escarnho y maldizer (die realistischen Spott- und Kritiklieder des sirventes). Über 150 Autoren sind namentlich in den nach 1300 zusammengestellten Cancioneiros überliefert. Mit dem Tod des portugiesischen Königs Dionysius (1261-1325), der als großzügiger Mäzen gewirkt und selbst auch Gedichte geschrieben hat, setzt dann die rasche Dekadenz der galicisch-portugiesischen Minnelyrik ein. Eine höfische Lyrik in kastilischer Sprache hat sich nicht herausgebildet. Als Grund läßt sich wohl anfuhren, daß der kastilische Adel seinerzeit noch zu intensiv in das kriegerische Geschehen der Reconquista verwickelt war: 1085 war Toledo erobert worden, 1236 nahmen die christlichen Heere Cördoba, 1248 Sevilla ein. Erst als die Reconquista im 14. Jahrhundert vor dem Königreich Granada für fast 150 Jahre ins Stocken geriet, konnte der kastilische Adel intensiver an jenem höfischen Bildungs- und Disziplinierungsprozeß teilnehmen, der einst im 12. Jahrhundert zur Entstehung des Minnesangs geführt hatte. Soweit sich dennoch einzelne Kastilier an der höfischen Dichtung beteiligten, bedienten auch sie sich des Galicisch-Portugiesischen, das den Vorteil besaß, aufgrund einer langen Dichtungstradition die Qualitäten einer geschmeidigen Literatursprache zu besitzen. Selbst der »Schöpfer der kastilischen wissenschaftlichen Prosa«, der kastilische König Alfons X., der Weise (1221-1284), bediente sich so des Galicischen, als er seine 400 Cantigas de santa Maria schrieb. Erst als sich Spanien und Portugal dann nach der Schlacht von Aljubarrota (1385) endgültig voneinander abkehrten, verlor auch das GalicischPortugiesische rasch und definitiv sein Prestige als Sprache der Lyrik. Die provenzalische Troubadourlyrik wurde in Spanien jedoch nicht nur über den Nordwesten des Landes rezipiert; dies erfolgte vielmehr auch im Nordosten, im katalanischen Sprachgebiet, wo die große linguistische Nähe zum provenzalischen Literaturdialekt den Rezeptionsprozeß erleichterte. Als aufgrund der Kriege Ludwigs VIII. (1187-1226) gegen die südfranzösischen Katharer den Troubadours die Existenzgrundlage bereits lange entzogen war, blühte die »gaya ciencia« in Katalonien weiter. Jordi de Sant Jordi (um 1385um 1424) und Ausiäs March (13977-1459) als die herausragenden Repräsentanten dieses späthöfischen, bereits mit Dante und Petrarca kontaminierten Minnesangs sind im vorliegenden Band berücksichtigt, weil ihre Lyrik, insbesondere die von Ausiäs March, übersetzt und von den Autoren des 16. Jahrhunderts — Garcilaso, Cetina, Montemayor, Herrera — gelesen, eine direkte Brücke von
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der mittelalterlichen höfischen Lyrik zur kastilischen Lyrik der Renaissance schlägt. Wie der Cancionero de Baena belegt, der die spanische lyrische Produktion aus den 80 Jahren zwischen 1370 und 1450 anthologisch erfaßt, wird erst seit Beginn des 15. Jahrhunderts auch eine späthöfische Lyrik in kastilischer Sprache verfaßt. Exemplarisch ist der Fall von Alfonso Alvarez de Villasandino (um 1350-um 1425), der seine Gedichte bis etwa 1400 noch in Galicisch-Portugiesisch schrieb, um dann nur noch das Kastilische zu verwenden13. Das Mäzenatentum am Hof von Johann II. von Kastilien (1407-1454) hat dann den letzten entscheidenden Beitrag zur endgültigen Etablierung des Kastilischen als Dichtungssprache geliefert. Die seit dieser Zeit in kastilischer Sprache geschriebene späthöfische Lyrik verwendet das gesamte Repertoire der Troubadourlyrik: die Vollkommenheit und Unerreichbarkeit der geliebten Herrin, das Leiden des Liebenden, der aus diesem Leiden den Sinn seiner Existenz schöpft und als »amant martyr«, als Märtyrer der Liebe, zu sterben droht. Doch wie in Frankreich Alain Chartier in seiner Belle dame sans merci von 1424 und später François Villon in seinem Petit Testament die höfische Auffassung von der Liebe als veredelnder Kraft in Frage gestellt haben, so nehmen auch die spanischen Autoren des 15. Jahrhunderts die bereits seit mehreren Jahrhunderten wiederholten und neu kombinierten Elemente der höfischen Liebe nicht mehr so recht ernst. Allenthalben ist in ihren Gedichten ein Parodieren spürbar und ein bloßes Spielen mit den tradierten Auffassungen und Motiven. Diesem spielerischen Umgang mit der höfischen Liebe entspricht auch ein Wechsel im Formalen. Juan de Mena und Gómez de Manrique, um nur zwei der bedeutenderen aus einer großen Zahl von Autoren zu nennen, verwenden nicht mehr wie Jordi de Sant Jordi die große metrische Form der Kanzone und die gravitätischen »versos de arte mayor«, sondern die Kleinform der canción. Die Kurzverse des »arte menor« (vor allem 6- und 8-Silber), die Kürze des Gedichts insgesamt mit etwa 14 Versen sowie die Verwendung der gleichfalls spielerischen Refrainstruktur erlauben es nicht mehr, die tradierte Liebesthematik mit aller grundsätzlichen Ausführlichkeit zu behandeln. Dergleichen Kurzformen mit Refrainstrukturen neigen zu geistreichen, überpointierenden und damit häufig parodistischen Formulierungen, zum konzeptistischen Spiel, das Baltasar Gracián (1601-1658), der große Theoretiker des Konzeptismus im 17. Jahrhundert an den späthöfischen Autoren des 15. Jahrhunderts so bewundern sollte. Die Tatsache, daß diese Lyrik (wie die des gesamten Mittelalters) immer noch gesungen wurde und daß dabei die — musikalisch besonders eindrucksvollen — Refrainelemente stark hervortraten, unterstreicht nochmals den immer deutlicheren ludischen Charakter dieser Dichtung, wie ihn auch die hier aufgenommene canción von Juan de Mena (1411-1456) belegt. Im 15. Jahrhundert hat es innerhalb der höfischen Lyrik allerdings auch eine ernsthafte Dichtung gegeben. In Analogie zum französischen dit hatte sich in Spanien die Gattung des decir entwickelt, eine, wie die Bezeichnung bereits besagt, nicht mehr gesungene, sondern vorgetragene, beziehungsweise (laut) gelesene Dichtung. Die formal wenig strukturierten Gedichte aus Strophen zu je acht 8-Silbern und ihr didaktisch-moralisches Anliegen machten die Masse die-
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ser Texte eher zu höchst prosaischen Abhandlungen in Versform, die in der Geschichte der spanischen Lyrik nur eine Randstellung einnehmen und daher nicht in den vorliegenden Band aufgenommen werden. III Die Lyrik des 15. Jahrhunderts: Späthöfischer Ausklang, Kontinuitäten und Neubeginn Die späthöfische Lyrik des 15. Jahrhunderts wurde in Spanien vom Adel selbst gepflegt — oder von Autoren die sich seines Mäzenatentums erfreuten. Die Familie der Manrique etwa, die dem kastilischen Hochadel angehörte, hat drei Dichter hervorgebracht, die diese späthöfische Cancionero-hynk verfaßt haben: Jorge Manrique (1440-1479), den wohl bekanntesten Lyriker dieser Familie; seinen Vater Rodrigo Manrique (1406-1476) und seinen Onkel Gómez Manrique (14127-1490?). Diese Lyrik erfreute sich, zumal in der gesungenen Form, einer besonderen Beliebtheit am Hof der Reyes Católicos. Hier diente sie vorrangig dem Bildungsnachweis der Höflinge und der Unterhaltung eines — nach der Eroberung des letzten Maurenreichs auf spanischem Boden im Jahre 1492 — nicht mehr vorrangig vom Kriegsdienst in Anspruch genommenen Adels. Die Pflege der spätmittelalterlichen Lyrik am Hof der Reyes Católicos und ihre Aufnahme in die musikalische Praxis ist im übrigen ein bedeutsamer Grund dafür, daß die Formen der höfischen Lyrik in Spanien (anders als Frankreich) mit dem Beginn der Renaissance und der Rezeption der antiken und italienischen Formen wie der Ode, der Epistel oder des Sonetts nicht aus dem lyrischen Repertoire ausgeschieden wurden, sondern sich bis in die Romantik hinein gehalten haben. Einen weiteren Schritt für die Beibehaltung der mittelalterlichen lyrischen Formen hat Juan del Encina (1469-1529?), der »Vater des spanischen Theaters« vollzogen. Encina, der auch Lyriker und Musiker war, hat (gesungene und gesprochene) Gedichte in die Texte seiner Theaterstücke aufgenommen und so einem wichtigen Charakteristikum des Theaters des Siglo de Oro den Weg gebahnt: der Polymetrie der comedia und der Verwendung verschiedenster Gedichtformen im Theatertext, die in völligem Gegensatz zur durchgängigen, monotonen Verwendung des Alexandriners im klassischen französischen Theater steht. Form und Funktion der Lyrik im spanischen Theater des 17. Jahrhunderts ist in diesem Band anhand zweier Sonette in Calderóns Príncipe constante (1629) illustriert. *
Den Weg in die Theatertexte des Siglo de Oro hat auch die wahrscheinlich bekannteste und meist verwandte Gattung der spanischen Lyrik gefunden, die Romanze (el romance). Wie bei der vorhöfischen Lyrik verlieren sich auch ihre Ursprünge im Dunkel der Zeiten, auch wenn sie sicher nicht wie die der hargas noch vor das 11. Jahrhundert zurückreichen. Wohl zunächst entstanden aus einzelnen Episoden, die als Fragmente aus den mittelalterlichen Epen isoliert wurden, und in der Mündlichkeit von anonym gebliebenen »Autoren« zusammen
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mit der jeweiligen Musik weitergegeben, haben die Romanzen lange Zeit in einem »estado latente« existiert und sich in stets neuen Varianten weiterentwikkelt. Erstmals im Druck erschienen ist 1510 die recht lange Romanze »El conde Dirlos« als »pliego suelto«, als billiger Einzelblattdruck. Als 1511 der Cancionero General im Druck erscheint, enthält er auch eine bescheidene Sektion Romanzen. Daß die Romanze bis zu diesem Zeitpunkt zum Register der »poesía populär« gehört hat, die der Verschriftung nicht für wert befunden wurde, zeigt auch die Tatsache, daß die Romanze während des ganzen Mittelalters nicht in der offiziellen lyrischen Sprache der »poesía culta«, im Galicisch-Portugiesischen, verfaßt wurde. Bereits die erste Romanze, die uns überliefert ist, wurde in kastilischer Sprache niedergeschrieben. Sie findet sich als wenig wissenschaftlicher Zusatz in einer Vorlesungsmitschrift des katalanischen Studenten Jaume Olesa aus dem Jahre 1421. Der Proemio e Carta des Marqués de Santillana belegt die Existenz der Romanzen; er qualifiziert sie jedoch als nicht »literaturfahig« ab, da sie in der bloß mündlichen Kultur des einfachen Volkes existierten14. Auch die in formaler Hinsicht recht schlichte Gattung der Romanze mit ihren einfachen 8-Silbern, dem Fehlen einer strophischen Gliederung, der archaischen Assonanz, der Mischung von lyrischen und narrativen Elementen und ihrem häufig tief melancholischen Grundton erfuhr am Hof der Reyes Católicos eine Aufwertung durch die Aufnahme in die dortige reiche Musik- und Gesangkultur. Über eine unüberschaubare Zahl von Einzeldrucken und über den Cancionero de Romances von 1547 sowie eine umfangreiche Sektion in dem monumentalen Romancero General von 1600 stieg die Romanze auf in den Bereich der offiziellen, der schriftlichen Kultur. Autoren wie Lope de Vega und Góngora verwendeten sie neben Sonett und Ode als Kunstform, und schufen neben den (verschrifieten oder im Volk weiter mündlich tradierten) »romances viejos« eine Vielzahl von »romances nuevos« oder »artísticos«, ohne jedoch die einfache Form grundsätzlich zu ändern. Thematisch blieb die Romanze aber nicht mehr auf die nationale Geschichte, insbesondere die Kämpfe mit den Mauren um Granada, und auf Episoden aus der höfischen Erzählliteratur beschränkt. Sie öffnete sich allen nur erdenklichen Themen und wurde so das offenste lyrische Genus des spanischen Barock. Als gesprochene und gesungene Romanze erscheint sie allenthalben im Theater des Siglo de Oro. Lope wollte sie in den comedias vor allem für Berichte (»relaciones«) verwendet wissen. Im 18. Jahrhundert bedient sich Meléndez Valdés immer wieder der Romanzenform; im 19. Jahrhundert ist dies vor allem bei José Zorrilla der Fall und im 20. Jahrhundert bei Antonio Machado und Federico García Lorca. Daneben lebte die Romanze innerhalb und außerhalb Spaniens im Bereich der Mündlichkeit bis in unsere unmittelbare Gegenwart: sei es als Medium der politischen Propaganda im Bürgerkrieg, sei es bei den 1492 aus Spanien vertriebenen Sepharden oder in den einfacheren Bevölkerungsschichten auf dem Land oder selbst in den größeren Städten. *
Das 15. Jahrhundert ist in allen Bereichen eine Phase der Krise und des Übergangs. Politisch gesehen vollzieht sich in ihm der Übergang vom Feudalstaat
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mit zahlreichen partikulären Mächten, die vom Hochadel und den drei großen Ritterorden von Alcántara, Calatrava und Santiago getragen werden, hin zur zentralen monarchischen Macht der Reyes Católicos, die 1478 mit der Etablierung der Inquisition, 1492 mit der Eroberung des letzten islamischen Reichs auf der Halbinsel und der Vertreibung der Juden im gleichen Jahr die politische und geistige Einheit Spaniens herstellen. Geistesgeschichtlich vollzieht sich mit der Rezeption Dantes und Petrarcas im 15. Jahrhundert der Übergang vom Spätmittelalter zu Frühhumanismus und -renaissance. Kulturgeschichtlich läßt sich in der adligen Elite der Übergang vom Krieger zum Hofmann feststellen, der an einer Verfeinerung der Lebensformen, Kunst und Literatur interessiert ist. Der Hofmann bleibt jedoch nicht der einzige Kulturträger. An seine Seite tritt in den anwachsenden Städten und im Umfeld des gut ausgebildeten Verwaltungspersonals am Hof eine neue Form des Literaten, ein Vorläufer des modernen Intellektuellen, der nicht mehr aus der Autorität eines Standes oder einer Funktion, sondern aus dem Anspruch seiner Bildung argumentiert. Für die Literatur bedeutet die Krise des 15. Jahrhunderts eine weitgehende Aufwertung. Wenn auch erst in vorsichtigen Schritten, beginnt die Literatur in dieser Epoche, sich als eine eigenständige geistige Macht zu etablieren. Sie tritt als »laizistische Sinnstifterin« neben die Kirche, die im unmittelbar vorausgegangenen »christlichen Mittelalter« mit ihren tradierten Wahrheiten über das verbindliche Modell zur Weltdeutung verfugte. Dieser Wandel manifestiert sich in einer starken Zunahme eines moralischen, historiographischen und politischen Schrifttums, das gegen Ende dieses Jahrhunderts mit dem neuen Medium »Buch« eine zunehmende Verbreitung findet. Der Lyrik kommt in dieser Phase eine große Bedeutung zu, wird sie doch von den Theoretikern der Zeit höher eingeschätzt als die Prosa, da man ihr göttlichen Ursprung zumaß. Wie für die Literatur insgesamt vollzieht sich auch hinsichtlich ihrer »Produzenten« ein tiefgreifender Wandel. An Stelle des mittelalterlichen »Troubadours« und neben den Typus des höfischen Liebhaberdichters {aficionado) tritt der »Dichter« im moderneren Sinn, hier noch überwiegend als »poeta doctus«, der des Lateinischen mächtig ist und unmittelbare Kenntnis der profanen antiken Literatur hat, die er als begeisterndes, nachzuahmendes Vorbild ansieht und aus deren Kenntnis er sich legitimiert. Als Repräsentanten dieser Tendenzen sei auf Juan de Mena (1411-1456) und Jorge Manrique (14401474) verwiesen. Doch während der Hofbeamte Juan de Mena über eine seinerzeit moderne humanistische Bildung verfugte, ist für Jorge Manrique, der dem Hochadel angehörte, zu Recht von einer etwas veralteten, noch am Mittelalter orientierten und aus »zweiter Hand« stammenden Bildung gesprochen worden. Die Chronologie der beiden Viten zeigt aber auch, daß dieser Ablösungsprozeß nicht einfach und gradlinig erfolgt ist. Er hat sich in einem langen, die logische Chronologie bisweilen umkehrenden Prozeß vollzogen, wobei, wie der Fall Manriques besonders deutlich zeigt, im Einzelfall der »modernere« Autor keineswegs die bessere Lyrik geschrieben haben muß. Die eigentliche Schlüsselgestalt des Übergangs bei dieser Dignifizierung der Lyrik im 15. Jahrhundert ist Iñigo López de Mendoza, der Marqués de Santillana (1398-1458), ein Angehöriger des Hochadels und Verwandter der Manriques, der zugleich mit Juan de Mena befreundet war. Er schrieb seine frühesten Gedichte noch auf Galicisch, war ein kampferprobter späthöfischer Ritter, konnte zwar weder Griechisch
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noch Latein, sammelte aber dennoch Manuskripte in den beiden alten Sprachen; er kultivierte durchaus noch die spätmittelalterlichen lyrischen Genera und war doch der erste, der in Spanien 1438 — insgesamt 42 — petrarkistische Sonette verfaßte. Santillana ist der vielleicht früheste Vertreter jener spanischen Autoren, für die — im Sinne des auch von Cervantes vertretenen Ideals — das Waffenhandwerk und die literarische Kultur (»armas y letras«) zusammengingen und die im folgenden Jahrhundert in Garcilaso de la Vega für die Lyrik ihren bedeutendsten Repräsentanten finden sollte. Die tiefgreifende Krise des 15. Jahrhunderts, in der sich auch die »große Angst« des Spätmittelalters spiegelt, hat auch thematisch ihren Niederschlag in der Lyrik gefünden 15 : die Erfahrung der großen Pestepedemien im ausgehenden 14. Jahrhundert, die Krise der Ständegesellschaft und der Zweifel am christlich tradierten Weltbild spiegeln sich in der spanischen Version der europäischen Totentanzgedichte (»Danza general de la muerte«, verfaßt um 1400) , deren fernes Echo noch in Manriques Coplas por la muerte de su padre zu vernehmen ist. Die politischen Unruhen, insbesondere die Kritik am Hochadel, führten zu einer — formal recht schlichten — umfangreicheren satirischen Dichtung, von der hier ein Beispiel, die Coplas de ¡Ay Panadera! berücksichtigt ist. Sie stellt eine scharfe Satire auf den Adel dar, der mit seinem ganzen Prunk in der Schlacht von Olmedo (1445) gegen seinen eigenen König angetreten war und dort schmählich versagt hatte, nicht ohne die Kosten seiner Abenteuer auf das einfache Volk abzuwälzen. Es ist dies sicher dennoch keine Satire aus dem Volk, wohl aber ein frühes Beispiel einer »poesía comprometida«, in der das Genus Lyrik zu politisch propagandistischen Zwecken verwandt wird. Bei der Debatte um »poesía pura« und »poesía impura«, die im Vorfeld des Bürgerkriegs von der Generation von 1927 geführt wurde, konnte daher Rafael Alberti sowohl für seinen Poeta en la calle als auch später für die Gestalt seines Juan Panadero direkt auf die Coplas zurückgreifen. Thematisch hatte sich das Motivrepertoire der späthöfischen Lyrik im Laufe des Jahrhunderts ohnehin bereits tiefgreifend erweitert. An die Stelle des Motivs der stets unerfüllten Liebe war, zunächst in den decires, dann in Formen wie der Elegie (defunción), den proverbios bei Santillana oder den episch allegorischen Großformen wie Juan de Menas (in 297 8-zeiligen Strophen aus 12-Silbern verfaßten) Laberinto de Fortuna (1444), eine moralistische Dichtung getreten, die sich an Dante, Vergil und Lukian orientiert und — jenseits der Antworten der Religion — moralisch-metaphysische Fragen der menschlichen Existenz aufwirft. In diesen Großformen der Dichtung wird allerdings häufig die Grenze zwischen Lyrik und Verstraktat überschritten. Doch wird in ihr versucht, durch Latinismen, Metaphern, Hyperbeln, Inversionen, Periphrasen, Hyperbata und elitäre Dunkelheit eine eigene Kunstsprache zu schaffen, die den Weg für Góngoras cultismo bereitete, in der die spanische Dichtungssprache ihre bis weit ins 18. Jahrhundert hinein maßgebliche Prägung erhielt. Anders auch als in der späthöfischen Liebesdichtung, in der der einzelne Autor letztlich hinter dem für alle verbindlichen Motiv- und Sprachinventar verschwindet, beginnen sich im Laufe des 15. Jahrhunderts deutlicher unterscheidbare Individualstile und Dichterpersönlichkeiten herauszubilden. Dabei gewinnt trotz der musikalischen Moden am Hof der Reyes Católicos das gedruckte und gelesene Wort der Dichtung immer stärker den Vorrang vor der
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musikalischen Begleitung. Die dergestalt nobilitierte, thematisch geöffnete, auf die Gestaltung ihres eigentlichen Materials, der Sprache, verwiesene profane Lyrik konnte dann ihrerseits wieder zum Ausdrucks- und Propagandamittel der zweifelsohne weiterhin allgegenwärtigen religiösen Kultur werden. Der noch von Cervantes gelobte Franziskanermönch Fray Ambrosio de Montesinos (14487-1512?) hat systematisch Formen (coplas, romances, villancicos) und Themen der Lyrik ins Religiöse (a lo divino) gewendet und damit einer Flut religiöser Lyrik den Weg bereitet, die in Teresa de Avila (»Vivo sin vivir en mi«), Juan de la Cruz und in dem berühmten Soneto a Cristo crucificado ihre bekanntesten Ausformungen gefunden hat. Bereits 1579 veröffentlichte Juan Lopez de Ubeda einen Cancionero general de doctrina cristiana und 1582 einen Vergel de flores divinas. Diese religiöse Lyrik erfreute sich in den Klöstern größter Beliebtheit; sie hatte aber auch ihr weltliches Publikum, wie der Erfolg entsprechender Gedichte Lope de Vegas belegt. IV Die Lyrik des Siglo de Oro: Nobilitierung und Säkularisierung IV. 1
Garcilaso oder die italianisierende und antikisierende Kehre
Die Zeit von 1500 bis 1650 kann mit Fug und Recht als das Goldene Zeitalter der spanischen Lyrik bezeichnet werden, als eine Blütezeit, wie sie in Spanien erst wieder in der »Edad de plata« mit der Generation von 1927 — Federico García Lorca, Gerardo Diego, Rafael Alberti, Pedro Salinas, Jorge Guillén, Vicente Aleixandre und Luis Cernuda — erscheint. Zeitlich erheblich früher zur Blüte gelangt als das Theater des Goldenen Zeitalters (die Lyrik setzt keine materielle Institution wie Bühne und Theater voraus oder eine drucktechnische Infrastruktur wie der Roman), zeigen beide Genera doch gewisse Parallelen. Zu nennen ist zunächst die sehr große Zahl der damals verfaßten Texte sowie die Tatsache, daß viele dieser Texte nie zum Druck gelangten und nicht einmal als Handschriften erhalten sind. Weder Garcilaso de la Vega, noch Fray Luis de León, Juan de la Cruz oder Luis de Góngora, um nur die ganz großen Autoren zu nennen, haben versucht, so etwas wie eine Gesamtausgabe ihrer Gedichte zu veranstalten, was einen Grund sicher auch darin hat, daß literarische Texte damals noch nicht den sakralen Charakter hatten, der ihnen seit der Romantik häufig zugesprochen wird.17 Manche Texte wie der Burlador de Sevilla oder, im Bereich der Lyrik, die Epístola moral a Fabio sind anonym erschienen, was schwerwiegende Probleme der Zuordnung und des angemessenen Verstehens mit sich bringt. Auch die Authentizität der überlieferten Drucke ist keineswegs immer sichergestellt, da sich wohlmeinende Herausgeber nicht gescheut haben, die Texte zu verändern und in ihrem Sinne zu »verbessern«. Andererseits erlaubt das Erscheinungsjahr im Druck keinen sicheren Rückschluß auf die Entstehungszeit und die Wirkungsgeschichte des einzelnen Gedichts (oder des Theaterstücks), das Jahrzehnte früher geschrieben worden sein kann und das eventuell als Manuskript in abweichenden Fassungen zirkuliert
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hatte. Angesichts dieser Sachlage stellen sich eine Fülle von Fragen hinsichtlich der Chronologie, der Rezeption, der kritischen Textgestaltung und der Vollständigkeit eines Werks, so daß es schwierig und zum Teil unmöglich ist, ein vollständiges Bild von »der Lyrik« eines einzelnen Autors18 oder gar des Siglo de Oro insgesamt zu entwerfen. Wie im Fall des Theaters berücksichtigen die Darstellungen in aller Regel nur eine beschränkte Zahl von Texten, die im Laufe einer problematischen Kanonbildung als exemplarisch herausgestellt wurden. Dabei bleiben dann auch jene abertausende von Texten unberücksichtigt, die als sogenannte Gelegenheitsgedichte im Auftrag von Mäzenen, aus Anlaß religiöser oder politischer Ereignisse, im Zusammenhang mit Dichterwettbewerben (certámenes, justas poéticas) verfaßt wurden. Die auf wenige Anthologiestücke reduzierte Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts vermittelt so ein wenig angemessenes Bild von der tatsächlichen Vielfalt der Themen, der metrischen Formen und der literarischen Moden, was es auch schwer macht, die Werke der »großen Autoren« angemessen einzuordnen und in ihrer Eigenständigkeit zu bewerten." Metrisch und thematisch setzt die Lyrik des Siglo de Oro die beiden Haupttendenzen des 15. Jahrhunderts fort: die traditionelle Cancionero-Dichtung mit ihrer höfischen und ihrer volkstümlichen Komponente einerseits und die italianisierende und antikisierende Tendenz andererseits. So wurde der Cancionero general, der eine umfassende Sammlung der traditionellen Lyrik ist, von Hernando del Castillo 1511 erstmals gedruckt. Seine verschiedenen Neuauflagen erlaubten weit über 1600 hinaus den unmittelbaren Zugang zur Lyrik des 15. Jahrhunderts.20 Auch haben die Lyriker der Renaissance zunächst durchaus im alten Stil weitergedichtet. So hat Juan Boscán den ersten der drei Bände seiner Werke noch ganz mit traditioneller Lyrik (canciones, coplas, glosas, villancicos) gefüllt. Bei Garcilaso hat sich die Zahl der (in den Druck seiner Werke aufgenommen) »coplas castellanas« allerdings auf nur noch acht reduziert. Ansonsten nimmt im Verlauf des 16. Jahrhunderts der Anteil der »neuen Lyrik« stark zu. Erst Lope de Vega, Quevedo und Góngora sollten in den ersten Jahrzehnten des folgenden Jahrhunderts wieder stärker auf die traditionellen Formen (canciones, letrillas, seguidillas, romances) zurückgreifen. Was sich in der Renaissance als das Nebeneinander einer älteren und einer moderneren Form von Lyrik darstellte, hat sich zu Beginn des Barock als die Koexistenz zweier Register etabliert, die sich grundlegend in der Verwendung der Metren (des traditionellen, eher spielerisch gebrauchten 8-Silbers und des modernen, eher ernsthaftfeierlich eingesetzten 11-Silbers), in ihrer Thematik, der jeweiligen Sprache sowie den Strophen- und Gedichtformen unterscheiden. Eine Neuerung des 16. Jahrhunderts ist der häufige Gebrauch des 7-Silbers und seine Kombination mit dem gleichfalls neuen 11-Silber in einer 5-zeiligen Strophenform, die, nach dem ersten Vers von Garcilasos A la flor de Gnido (»Si de mi baja lira / tanto pudiese el son, que en un momento / aplacase la ira / del animoso viento, / y la furia del mar y el movimiento / [...]«) ais lira bezeichnet, ihre brillanteste Verwendung bei Luis de León und Juan de la Cruz finden sollte. Das Vordringen des verso de arte mayor ist begleitet von einem thematischen Wandel. An die Seite der — gleichsam zeitlosen — Liebesthematik, die in ihrer petrarkistischen Ausprägung im ganzen Siglo de Oro allgegenwärtig ist und in Sonetten von Góngora (»Mientras por competir con tu cabello«) und Quevedo (»En crespa tempestad del oro undoso«; »Cerrar podrá mis ojos la
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postrera / sombra [...]« als »poesía pura«)21 zu unübertroffenen, artifiziellen Höchstleistungen gelangt, tritt in immer stärkerem Maß eine moralistische, zeitkritische, philosophisch und politisch engagierte »poesía impura«. Sie setzt Tendenzen fort, auf die bereits bei Juan de Mena hingewiesen wurde. Das Genus Lyrik erlangt im Laufe des Siglo de Oro ein Höchstmaß an »literarischer Würde«, das sie zum elitären Medium werden läßt, in dem die anspruchsvollsten religiösen Vorstellungen ebenso wie das laizistisch-moralistische Denken des Siglo de Oro einen angemessenen Ausdruck finden. Als Beispiele sei für den religiösen Bereich auf die Gedichte von Luis de León und Juan de la Cruz verwiesen, für den profanen Bereich auf Góngoras späte Gedichte oder auf die vom Geist der Stoa erfüllte Epístola moral a Fabio. *
Zwei literarische »Revolutionen« und zwei damit verbundene »Literaturfehden« haben sich in der Lyrik des Siglo de Oro ereignet. Die erste Fehde ist mit den Namen von Garcilaso de la Vega und Cristóbal de Castillejo (um 14911550), die zweite mit denen von Luis de Góngora und Juan de Jáuregui (1583-1641) verbunden. Zu den Gründungsmythen der spanischen Lyrik des 16. Jahrhunderts gehört der Bericht von der Begegnung, die 1526 anläßlich der Heirat Karls V. in Granada zwischen dem venezianischen Gesandten Andrea Navagero (1483-1529) und Juan Boscán stattfand. In diesem Gespräch ermunterte der selbst neulateinische Lyrik schreibende Navagero den noch ganz der späthöfischen Lyrik verbundenen Boscán, sich im Stil der italienischen petrarkistischen Lyrik zu versuchen und dabei insbesondere den getragen wirkenden 11-Silber22 und die scharf strukturierte, geistig anspruchsvolle Form des Sonetts zu verwenden. Boscán, der diese Anregungen noch nicht sehr überzeugend umzusetzen wußte, gab sie an seinen Freund Garcilaso weiter, der mit ihrer Anwendung zum eigentlichen Neuerer und Begründer der italianisierenden, petrarkistischen Strömung in der spanischen Renaissance-Lyrik wurde. Über seine bald als modellhaft angesehenen Gedichte erwarben neben Petrarcas Sonett und Kanzone auch Dantes Terzine und die ottava rima Ariosts Heimatrecht im Formeninventar der spanischen Lyrik. An dieser »Revolution«, zu deren Vorläufern zweifelsohne der Marqués de Santillana zu rechnen ist, sind zwei Dinge von grundsätzlicher Bedeutung. Zum einen waren die neu übernommenen italienischen Formen gegenüber den tradierten spanischen Metren und Gedichtsformen nicht mit dem Makel des anspruchslos Volkstümlichen (wie im Fall der Romanzen) und des geistreichwitzigen Sprachspiels belastet, der insbesondere der Refrainstruktur der canción oder des villancico anhaftete. Gegenüber dem knappen und daher metrisch wenig variablen 8-Silber bot der italienische 11-Silber neue rhythmische Gestaltungsmöglichkeiten. Die sehr weite Form der Kanzone erlaubte schließlich eine ausfuhrlichere Darlegung des Gedankengangs als die canción, während das Sonett eine stringente, doch nicht in einen spielerischen Refrain einmündende Gedankenfuhrung verlangt. Bereits diese formalen Elemente haben ganz erheblich zur Intellektualisierung und Nobilitierung der Lyrik als Gattung beigetragen.
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Gleiches gilt für die inhaltliche Seite. Zwar ist die petrarkistische Liebesauffassung nicht grundsätzlich verschieden von der späthöfischen, haben sie doch ihren gemeinsamen Ursprung in der provenzalischen Troubadourdichtung. Doch während in den Gedichten des Cancioneros die Unerreichbarkeit der geliebten Dame und die Beteuerung des Liebenden, sein Tod als Märtyrer der Liebe stehe unmittelbar bevor, letztlich als ein unterhaltsames, ständig variiertes (Sprach-)Spiel zu durchschauen ist, erscheint in der petrarkistischen Lyrik die Liebe als eine die Existenz des Liebenden wirklich betreffende, ernsthafte und unmittelbare Erfahrung. Dieser neue Ton, der verbunden ist mit einer einfacheren und natürlicheren und weniger konzeptistisehen Sprachverwendung, vermittelt den Eindruck, daß es sich bei den Gedichten nicht um primär literarisch inspirierte Produkte, sondern um autobiographische Aussagen eines existentiell betroffenen Dichters handelt23. Dem Bemühen Garcilasos, die spanische Lyrik sprachlich und thematisch zu erneuern, ist von Castillejo in seiner Reprensión contra los poetas españoles que escriben en verso italiano parodierend widersprochen worden. Es wäre jedoch falsch, in Castillejo, der am Hof Karls V. gelebt und sich im damaligen Europa durchaus umgetan hat, einen nicht informierten und blinden Verteidiger des status quo zu sehen. Auch er war sich bewußt, daß die poesía cancioneril sozusagen ausgeschrieben, inauthentisch und weitgehend nur noch ein geistvolles Spiel geworden war. Er glaubte jedoch, im Bereich der von den Zeitgenossen zu Recht so hoch eingeschätzten Fragen der Metrik an eine Erneuerung aus der »poesía populär« und dem traditionellen 8-Silber. Hinter seiner Tendenz zum weniger feierlichen »verso menor« scheint sich der wahre Grund für seinen Dissenz zu verbergen: er teilt die neue außerordentlich hohe Wertschätzung der Dichtung nicht. Für diesen weitläufigen Höfling bleibt die Lyrik das, als was er sie in der höfischen Welt erfahren hatte: ein artifizielles Spiel von hohem Unterhaltungswert, das aber eben doch über die reine Unterhaltung nicht hinausgeht. Außerdem war er, wie sein in der spätmittelalterlichen antifeministischen Tradition stehender Diálogo de las condiciones de las mujeres (1544) zeigt, nicht bereit, die Grundvoraussetzung des Petrarkismus zu akzeptieren: die maßlose Idealisierung der Frau in physischer und moralischer Hinsicht. Ihr tritt er mit dem — natürlich parodistisch gemeinten — Vorschlag zu einem Gesetz entgegen, daß es den Männern erlauben soll, jederzeit und beliebig viele Frauen zu kaufen und zu verkaufen. Ein solches »Argument« mag davor warnen, diese Literaturfehde allzu ernst zu nehmen, statt die Reprensión auf den ihr zukommenden Platz einer spielerischen Replik zu verweisen. Ihre Wirkung blieb ohnehin recht gering. Der Text wurde erst 1573 gedruckt, zu einem Zeitpunkt, als sich die petrarkistische Lyrik in Spanien längst durchgesetzt hatte. Das angemessene Verständnis der Lyrik dieses Zeitraums erfordert eine — wenn auch nur knappe — Überlegung zur Dichtungsauffasung bei Garcilaso und in der Renaissance. Dichtung und Lyrik besaßen seinerzeit schon deshalb ein besonderes Prestige, weil sie sich nicht aus einem Erleben ableiteten, sondern — im Sinne der Intertextualität — aus der intellektuell anspruchsvollen Auseinandersetzung mit — von den Humanisten geradezu sakralisierten — Texten der Antike. Wirkliche Dichtung, nicht die der »poesía populär«, war gelehrte Dichtung; sie setzte ein umfassendes literarisches und philosophisches Wissen im Sinne des Humanismus voraus. Aus ihm bezog der Dichter seine Le-
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gitimation, um sich als Repräsentant des Geistes auf die gleiche Sufe wie die traditionellen Wissens- und Wahrheitsverwalter, die Theologen, zu stellen oder um sogar seine Stimme gegen sie zu erheben. Wie dem 15. Jahrhundert der Frührenaissance galt auch dem Siglo de Oro der vom »füror poeticus« erfaßte Dichter als göttlich inspiriert. Hinzukam, besonders im Barock, das auch biblisch legitimierte Vorbild des Psalmendichters David, das dem Dichter und der Dichtung eine entscheidende Würde verlieh. Garcilaso steht auch in dieser antikisierenden Tradition. Aus ihr hat er eine Reihe konkreter Dinge übernommen, insbesondere einige lyrische Formen, die, von ihm erstmals in Spanien in mustergültiger Form gebraucht, im gesamten Siglo de Oro und bis hin ins 19. Jahrhundert Verwendung finden sollten: die Ode, die Ekloge, die (Vers-)Epistel und die Elegie — alles formal wenig festgelegte »Großformen«. Sie waren nicht auf die Liebesthematik fixiert und erlaubten es, umfänglichere Gedankengänge im Dialog mit den italienischen und den antiken Musterautoren zu entwickeln. Denn nur derjenige, so sollte es der Humanist Francisco Sánchez de las Brozas (1523-1601), »el Brócense«, formulieren, kann überhaupt ein guter Dichter sein, der sich mit den hervorragendsten antiken Autoren auseinandersetzt oder, wie es damals hieß, sie nachahmt. So entstand im 16. Jahrhundert eine Dichtung der bewußten imitatio und aemulatio, die sich dem ästhetischen Ideal des aptum, der geistigen Klarheit und der Wahrscheinlichkeit verpflichtete, und die im Künstler ganz allgemein den Geisteshelden und in der Kunst die Erzieherin der Menschheit sah . Ihre höchste Bestätigung und Weihe erhielten dann die Gedichte Garcilasos, als sie von zwei spanischen Humanisten, 1574 durch den Brócense und 1580 durch Herrera, wie antike Texte dem Prozeß der Kommentierung unterworfen wurden. Deren Einschätzung hat mit zutreffenden Worten ein moderner Lyriker, Luis Cernuda, bestätigt: No creo que exista en nuestra literatura gloria poética tan envidiable como aquella de que goza Garcilaso. [...]. Cambian las modas literarias, pero la poesía de Garcilaso, como la de Teócrito, la de Virgilio, aparece hoy tan fresca y tan bella como ayer, como acaso ha de parecer siempre. En un sentido profano pudiera decirse que las puertas del infierno no han de prevalecer nunca contra ella.25 IV.2
Die Epoche Góngoras: der Streit um eine neue Lyrik
Die zweite Revolution in der spanischen Dichtung des Siglo de Oro vollzieht Luis de Góngora. Das halbe Jahrhundert von 1530 bis 1580 war im wesentlichen der Nachahmung und dem Wettbewerb mit den italienischen und klassisch-antiken Vorbildern gewidmet gewesen. Góngoras Dichtung, die in den beiden letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts einsetzt und zwischen 1610 und 1620 ihren Höhepunkt erreicht, nimmt die drei großen Traditionsstränge der Lyrik der Renaissance souverän auf, die petrarkistische Linie, die der poesía cancioneril mit ihren letrillas sowie die der volkstümlichen Tradition, die der Romanzen. Doch entgrenzt er die überkommenen Gattungen, indem er sie — darin durchaus in Übereinstimmung mit seinen literarischen Gegnern Lope de
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Vega und Quevedo — neuen Inhalten öffnet. Das Sonett ist bei ihm nur noch in geringem Umfang der Liebesthematik gewidmet. In einer durchaus barocken Vielfalt dient es ebenso der Panegyrik und einer kühlen religiösen Auftragslyrik, wie dem bewegten Ausdruck der Erfahrung von Vergänglichkeit und Zeit (»desengaño«) oder der reinen Gelegenheitsdichtung in der Form eines Bettelgedichts. Gleiches gilt für die Romanze, die Góngora zur Kunstromanze umgestaltet und neuen Inhalten öffnet (romance pastoril, piscatorio, venatorio, de cautivos). Besonders augenfällig ist Góngoras (und Quevedos) Tendenz zum Burlesken und Parodistischen, zur Karnevalisierung und Entidealisierung der tradierten Inhalte, seien dies die Liebe und die Frau, die in ihren physischen und moralischen Defekten gezeigt, oder seien es die mythologischen Gestalten wie Hero und Leander, Pyramus und Thisbe, denen alles Heroische genommen wird. Diese Aufhebung wesentlicher Elemente der Lyrik der Renaissance unternimmt Góngora in der Sprachverwendung. Hier folgt er nicht mehr dem Prinzip der rhetorischen Angemessenheit (aptum), er bemüht sich nicht mehr um die Harmonie zwischen dem Dargestellten (res) und dem sprachlichen Material (verba), sondern hebt ohne Bedenken, die Grenzen zwischen hohem und niederem Stil auf. Hugo Friedrich hat von einer »Überfunktion des Stils« bei Góngora gesprochen, die ihm seine Kritiker (und nicht nur sie) als Dunkelheit und culteranismo vorwerfen. Diese »Dunkelheit« resultiert aus der Aufnahme gelehrter, antiker Elemente, ohne deren Kenntnis der Text unverständlich bleibt, aus dem Gebrauch ungewöhnlicher Metaphern und Paraphrasen, aus bewußten, am Lateinischen orientierten Verstößen gegen die spanische Syntax. Die Vorstellung der imitatio, der Nachahmung der Natur oder der Modellautoren, hat Góngora in seinen großen Gedichten, der Fábula de Polifemo y Galateo (1610) und den Fragment gebliebenen Soledades (1613/14) aufgegeben. Creatio, das Schaffen von Neuem, steht für ihn im Vordergrund; das künstlerisch perfekte »livre sur rien«, von dem Mallarmé, in Kenntnis von Góngora, träumen sollte. Anders als dem nach politischen Einfluß strebenden Quevedo ging es ihm um eine höchst artifizielle, vollkommene und schöne »poesia pura«. Daß diese nur einer kleinen Elite zugänglich sein würde, war ihm völlig bewußt. Er hat sich deshalb auch nicht gescheut, eine in der gesamten Weltliteratur einmalige lyrische Kunstsprache zu schaffen, die der breiten Masse, dem von ihm verachteten »vulgo«, wie das im damaligen Spanien kaum noch gelehrte Griechisch erscheinen sollte. Als nihilistisch ist Góngoras Dichtung daher bezeichnet worden oder als eine Sackgasse in der Entwicklung der spanischen Lyrik. Daß zumindest das letzte Urteil unzutreffend ist, zeigt die Rezeption seiner Lyrik nach langen Jahren des Vergessens durch die Dichtergeneration von 1927, aus der die bedeutendsten Lyriker der spanischen Moderne hervorgegangen sind26. Schon bei Bekanntwerden der Manuskripte Góngoras und dann verstärkt nach den ersten Drucken seiner großen Gedichte, entfachte sich die zweite große Literaturfehde des Siglo de Oro. Auf der einen Seite hatte Góngora begeisterte Anhänger, die die ganze spanische und lateinamerikanische Lyrik bis weit ins 18. Jahrhundert im Sinne seines culteranismo geprägt haben. Mit Baltasar Gracián wurde die Prosa, mit Fray Hortensio Felix Paravecino (1580-1633) die Predigt und mit Calderón de la Barca (1600-1681) sogar das Theater »gongoristisch«. Für alle diese Autoren gilt, was der Góngora-Bewunderer Martín Siruela ein Jahr nach dessen Tod feststellte:
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¿Quién escribe hoy que no sea besando las huellas de Góngora, o quién ha escrito en España, después que esta antorcha se encendió, que no haya sido mirando esta luz? Nicht weniger entschieden war aber auch der Widerspruch gegen die »Dunkelheit« Góngoras: Juan Martínez de Jáuregui (1583-1641) mit seinem Antídoto contra la pestilente poesía de las Soledades (1624, gedruckt erst 1899), Lope de Vega und insbesondere Quevedo waren die Wortführer einer vehementen Opposition, in der auch persönliche Motive und Literatenneid eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Der bisweilen durchaus selbst recht »dunkle« Barockautor Quevedo veröffentlichte 1631 die bis dahin nur in Manuskripten und gelegentlichen Anthologien zirkulierenden Gedichte von Fray Luis de León und Francisco de la Torre, um so Góngoras Texten das Muster einer intellektuell anspruchsvollen und doch klaren und verständlichen Lyrik entgegenzustellen. Die Debatte um die Lyrik Góngoras war damit jedoch keineswegs entschieden; sie flammte fast ein Jahrhundert lang immer wieder auf und wurde erst durch die neoklassizistische Ästhetik des 18. Jahrhunderts, die in Luzáns Poética (1737) zu einer vorbehaltlosen Verurteilung Góngoras führte, beendet. Hinter dieser Literaturfehde stand jedoch mehr als nur ein Streit um die Zulässigkeit dunkler Metaphern, die häufige Verwendung von Bildungselementen und eine Relatinisierung der spanischen Sprache sowie der damit verbundene Gebrauch des Hyperbatons. In Góngora und Quevedo standen sich in letzter Instanz zwei verschiedene Sichtweisen von Dichtung, im Grunde sogar zwei verschiedene Weltanschauungen gegenüber. Góngoras Freund Luis Carrillo de Sotomayor hatte 1611 zur Dichtung festgestellt: »Engañóse por cierto quien entiende los trabajos de la Poesía haber nacido para el vulgo.« Die bei Góngora allenthalben zu findende Abwehr des »vulgo«, ist jedoch mehr als ein elitärer Gestus. Der »vulgo« steht bei ihm, der stark vom Neostoizismus beeinflußt war, für ein nicht authentisches, den Leidenschaften ausgeliefertes Leben, letztlich natürlich auch für die Weltsicht der Mehrheit seiner Zeit, die geistige Enge des gegenreformatorischen Spanien. Dieser Welt versucht er sich mit seiner Dichtung zu entziehen, indem er in seinen großen Gedichten eine schöne, in sich ruhende, nur der kleinen Elite zugängliche Gegenwelt entwirft, die fern von den menschlichen »pasiones« sich ganz der Feier der Natur hingibt. Einer solchen Deutung entsprechend kann Góngoras Lyrik als eine Art »poesia pura« verstanden werden, als ein bewußtes, selbstgenügsames Rückweichen vor der Wirklichkeit, als ein artifizielles Spiel. Hier setzt letztlich der Widerspruch Quevedos ein. Für ihn, den konservativen Altchristen, befindet sich das Spanien seiner Gegenwart in tiefster Dekadenz. Dieses Land in einem altchristlichen Sinne wiederherzustellen und die Bedrohungen der Moderne abzuwehren, ist daher das Ziel des Politikers und des Schriftstellers Quevedo. So vertritt er Positionen einer »engagierten Literatur«, die unmittelbare Wirkungen — moralische und politische — erzielen will. Góngora dagegen vertritt — darin geradezu prophetisch — die Idee der Autonomie der Kunst. Er wollte Künstler sein und nichts als Künstler, wie es sein Bewunderer Cernuda formuliert hat. Von ihm stammt auch das folgende Lob Góngoras:
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Mientras la lengua española exista, el nombre de Góngora quedará, a gusto de unos y a pesar de otros, como el del escritor que más espléndidamente supo manejarla. Si se me preguntara quién es para mí el primer escritor español, yo respondería: Góngora.27 *
Die Lyrik des Siglo de Oro kann jedoch nicht auf die Namen Góngora und Quevedo und auf den Streit um zwei Dichtungsauffassungen reduziert werden. Ihre historische Wirklichkeit war eine andere und unendlich reichere. Anders als in der poesía cancioneril und stärker auch als noch in der Lyrik des 15. Jahrhunderts lassen sich in ihr einzelne Dichterpersönlichkeiten und -stimmen unterscheiden. Ein Grund dafür liegt in der zunehmenden Professionalisierung des Schreibens der einzelnen Autoren. »Dichten« verliert im Laufe des Siglo de Oro zunehmend die Funktion, die Mußestunde eines gebildeten Soldaten, eines mit der Politik befaßten Adligen oder eines seinen Amtspflichten nachgehenden Geistlichen zu füllen. Es wird zum eigentlichen Hauptgeschäft des »Schreibenden«, zum Lebensinhalt, von dem auch das Lesepublikum mehr als eine folgenlose Unterhaltung erwartet. Wie überall im damaligen Europa erlangt auch in Spanien die Literatur zumindest für die gebildete Elite die Würde, Ort der Reflexion des Menschen über seine Existenz zu sein, und so neben die sakralen Texte der Bibel und die Schriften ihrer theologischen Interpreten zu treten, die diese Würde bis zum Beginn der Renaissance weitgehend unbestritten für sich allein hatten in Anspruch nehmen können.28 Diese »kopernikanische Wende« zeichnet sich deutlich ab bei Lope de Vega, der neben Cervantes, wenn auch mit ungleich größerem ökonomischen Erfolg, der erste spanische »hauptberufliche« Autor war; sie manifestiert sich auch bei Quevedo, der, in seinen politischen Ambitionen enttäuscht, mit den Mitteln der Literatur öffentlichen Einfluß zu nehmen versucht; sie zeigt sich schließlich bei Góngora, der seine geistlichen Ämter zur — häufig unzureichenden — Finanzierung einer Literatenexistenz verwendete. Um ein wenig Ordnung in die Fülle der »lyrischen Stimmen« des Siglo de Oro zu bringen, ist in der Literaturgeschichte immer wieder der Versuch gemacht worden, die einzelnen Dichter zu Gruppen oder »Schulen« zusammenzufassen, die allerdings häufig nicht über rein geographische Zuordnungen hinausgelangen. Das 16. Jahrhundert wird dabei ganz von der Gestalt Garcilaso de la Vegas her gesehen. Zu seiner »Schule«, die sich bis weit über die Jahrhundertmitte hin erstreckt, werden neben seinem Freund Juan Boscán unter anderen Hernando de Acuña (1518-1580?) und Gutierre de Cetina (1514/15-1557) gerechnet, ebenso Gregorio Silvestre (1520-1569), Francisco de la Torre (1534?um 1570), Fernando de Herrera (1534-1597), genannt »der Göttliche« (el divino), der Garcilaso-Kommentator, sowie Francisco de Aldana (1537-1578), der es wagte, in erotischen Gedichten die eng gezogenen Grenzen der petrarkistischen Liebesauffassung sehr deutlich zu überschreiten. Die Brücke zu Portugal schlugen, auch mit Gedichten in kastilischer Sprache, Luis de Camöes (1524-1579) und Jorge de Montemayor (1519-1561). Als »religiöse Schule« ließe sich die Lyrik von Fray Luis de León (1527?1591) und San Juan de la Cruz (1542-1591) zusammenfassen, die bei aller Ver-
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schiedenheit eines verbindet: das Erschließen der hebräischen Lyrik des Alten Testaments, insbesondere der Liebeslyrik des Hohenliedes, und in geringerem Umfang auch des Psalters als Inspirationsquelle der spanische Dichtung. Diese »Schule« hat in Fray Luis ihre asketische, in San Juan ihre mystische Seite zu einer solch zeitlos gültigen Vollendung gebracht, daß diese beiden Autoren wohl als der eigentliche Beitrag des spanischen 16. Jahrhunderts zur lyrischen Weltliteratur anzusehen sind. Allerdings gilt es, beide Autoren vor einer Fülle religiöser Lyrik zu sehen, die in sehr vielen Fällen über den Status schlichter und schlichtester Gebrauchs- und Gelegenheitsliteratur nicht hinauskommt. Hierher sind auch die zahlreichen — häufig von Ordensleuten verfaßten — religiösen Kontrafakturen profaner (Liebes-)Gedichte zu rechnen, die sogenannten a lo d/vi'no-Fassungen, wie sie sich in den bereits erwähnten Bänden von Juan López de Ubeda finden. Ausnahmeleistungen sind das ebenfalls bereits erwähnte und wohl berühmteste Sonett spanischer Sprache, das Soneto a Cristo crucificado, ein literarisch überzeugendes Beispiel der Meditationslyrik, sowie einige wenige Gedichte Teresa de Avilas, die jedoch in ihrer Originalität nicht überschätzt und nicht als »mystische Dichtung« mißverstanden werden dürfen. Die Lyrik des ausgehenden 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist natürlich ganz und gar geprägt von den Gestalten der »drei großen Autoren«, von Luis de Góngora, Lope de Vega und Francisco de Quevedo. Dieser »Madrider Schule« (auch der in Córdoba verwurzelte Góngora hat einen Teil seiner Lyrik am Hof geschrieben), zu der etwa auch Gabriel Bocángel y Unzueta (1603-1658) und der Dramatiker und Amerika-Chronist Antonio de Solís y Ribadeneira (1610-1686) zu rechnen sind, steht eine »Sevillaner Schule« entgegen, die, dem Leben der politischen Zentrale und dem Zeitgeschehen weniger verbunden, sich stärker an einer zeitlosen, geradezu archäologisch gesehenen Antike orientierte. Zu ihr gehören Francisco de Medrano (1569-1607), der nach Fray Luis de León einfühlsamste Übersetzer lateinischer Lyrik, der Dichter und reiche Mäzen Juan de Arguijo (1567-1623), Rodrigo Caro (1573-1647) mit seiner Canción a las ruinas de Itálica, Francisco de Rioja (15837-1659), Andrés Fernández de Andrada (15757-1648?) und seine vom Geist der Stoa und Epiktets erfüllte Epístola moral a Fabio sowie der im Zusammenhang mit Góngora bereits genannte Juan de Jáuregui. Zu einer besonderen, wenn auch sehr kleinen »aragonesischen Schule« werden bisweilen die beiden Brüder Lupercio (1559-1613) und Bartolomé Leonardo de Argensola (1562-1631) sowie Esteban Manuel de Villegas (1589-1669) zusammengefaßt. Insbesondere Villegas ist für die weitere Entwicklung der spanischen Lyrik bedeutsam geworden: seine von Anakreon, Catull und von Tibull inspirierte Liebeslyrik (Las eróticas o amatorias,, 1618) ist im 18. Jahrhundert von den spanischen Anakreontikern wieder aufgenommen worden. Nicht vergessen sei hier schließlich eine kleine — über Frankreich und die Niederlande — verstreute Gruppe von Autoren spanisch-jüdischer Abstammung, die noch bis Ende des 17. Jahrhunderts ihre zum Teil aus der Bibel inspirierte Trostlyrik in spanischer Sprache verfaßt und veröffentlicht haben: Antonio Enríquez Gómez (1600-1660?) und Miguel de Barrios (1635-1701) sind ihre hervorragendsten, wenn auch heutzutage wenig beachteten Vertreter. Ihnen zur Seite zu stellen sind all jene 1492 aus Spanien vertriebenen Sepharden, die
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den Schatz der spanischen Romanzen in ihren neuen Heimatländern bewahrt und bis ins 20. Jahrhundert fortgedichtet haben. Die Feststellung, daß die 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts keine besonders begabten Lyriker hervorgebracht hat und daß die Lyrik der Zeit insbesondere in einer weitgehend nur formalen Góngora-Nachfolge zu einem »sinnentleerten Ritual« (Georges Güntert) wurde, trifft für den spanischen Bereich sicher vorbehaltlos zu. Für das spanische Amerika ist jedoch zumindest eine Ausnahme zu nennen: der Fall der Sor Juana Inés de la Cruz (1648-1695), die von den Zeitgenossen als »zehnte Muse« gefeiert wurde. Sie war die erste erfolgreiche Schriftstellerin Mexikos, deren — spanische Vorbilder eher spielerisch nachahmende — Lyrik ihre geistlichen Vorgesetzten noch zu dulden bereit waren. Sie wurde jedoch zum Schweigen gebracht, als sie versuchte, sich ohne die zahlreichen sprachlichen Demutsgesten einer Teresa de Avila zu einer geistig eigenständigen Frau und Schriftstellerin zu entwickeln. 29 Insgesamt wird man den unbestrittenen Niedergang, den die spanischsprachige Lyrik und die spanischsprachige Literatur überhaupt in der zweiten Hälfte des 17. und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erfuhr, vor dem Hintergrund einer Retheologisierung des spanischen Denkens verstehen müssen, die ihrerseits nicht mehr zu schöpferischen Leistungen in der Lage war und in der Wiederholung dogmatischer Positionen erstarrte. V Die Lyrik im Dienst der Aufklärung Schenkt man einem weitverbreiteten Vorurteil Glauben, so war das von Rationalismus und Utilitarismus geprägte 18. Jahrhundert eine zutiefst unlyrische Epoche, die ihr aufklärerisches Denken im Wesentlichen in Prosaschriften und im Theater propagiert hat. Dem widerspricht jedoch der bibliographische Befund: nicht weniger als ein gutes Tausend »Lyriker« sind für das spanische 18. Jahrhundert nachgewiesen, wobei auch hier sicher mit einer weiteren Fülle von Texten zu rechnen ist, die, nicht verschriftet oder nicht zum Druck gelangt, verloren gegangen sind.30 Vieles ist auch hier wiederum bloße Gelegenheitsdichtung, in tradierte Versformen gefaßte gesellschaftliche, religiöse und politische Ereignisse. Zumindest die zweite Jahrhunderthälfte weist jedoch einige Dichtergestalten auf, die selbst aus einem enger gefaßten Kanon spanischer Lyriker nicht wegzudenken sind: Nicolás Fernández de Moratín (1737-1780), José Cadalso (1741-1782), Félix María Samaniego (1745-1801), Tomás de Iriarte (1750-1791), Juan Meléndez Valdés (1754-1817), Nicasio Alvarez de Cienfuegos (1764-1809) und Manuel José Quintana (1772-1857). In der ersten Jahrhunderthälfte wurde dagegen eine Vielzahl von Gedichten in der Nachfolge Góngoras und Quevedos geschrieben, die außer in einigen wenigen Fällen — Eugenio Gerardo Lobo (1679-1750), Diego de Torres Villarroel (1693-1770) und José Antonio Porcel y Salamanca (1715-1794) — nur noch von literarhistorischem Interesse sind. Diese Lyrik spiegelt den — noch nicht genügend geklärten — allgemeinen Niedergang der spanischen Kultur in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wider, von dem sich das Land erst ab dem dritten Jahrzehnt des
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18. Jahrhunderts allmählich wieder erholte, dank eines unter englischem, französischem und italienischem Einfluß vollzogenen Paradigmawechsels weg von einer spekulativen Theologie als Leitwissenschaft hin zu einem philosophischen, naturwissenschaftlichen und ökonomischen Empirismus. Bei den Versuchen, die Lyrik des 18. Jahrhunderts zu periodisieren und inhaltlich zu differenzieren, hat sich das folgende Dreierschema weitgehend durchgesetzt: Man unterscheidet eine erste Phase des Spätbarock von 1700 bis 1750, eine zweite Phase des Rokoko von 1750-1770 und eine dritte Phase der neoklassizistischen und präromantischen Lyrik, die von 1770 zumindest bis zu Napoleons Einmarsch in Spanien im Jahre 1808, im Grunde aber bis zum Ende der restaurativen Herrschaft Ferdinands VII. gedauert hat. Das wichtigste Datum während der Phase des Spätbarock ist das Jahr 1737, in dem Ignacio de Luzán (1702-1754) seine Poética veröffentlichte, die 1789 in erweiterter Form aufgelegt und zuvor von den Mitgliedern der einflußreichen Academia del Buen Gusto (1749-1751) propagiert, sich gegen den spanischen Barock und seine beiden Hauptrepräsentanten, Lope de Vega für das Theater und Luis de Góngora für die Lyrik, mit aller Entschiedenheit wandte. Von Góngoras Stil heißt es, er sei »sumamente hinchado, hueco y lleno de metáforas extravagantes, de equívocos, de antítesis y de una locución a mi parecer del todo nueva y extraña para nuestro idioma« (B. II, Kap. 3). Ihm wird das Ideal eines »Neoklassizismus«, einer »natürlichen«, einfachen, an den Prinzipien des (nicht barocken) »guten Geschmacks« orientierten Lyrik entgegengestellt, die sich wiederum unmittelbar auf die »klassischen« Vorbilder der Antike, besonders auf Horaz, und innerhalb der spanischen Tradition nach den RenaissanceAutoren Garcilaso de la Vega, Fray Luis de León und Herrera ausrichtet. Aus dieser Tradition werden auch alle Genera übernommen und weiterverwandt: das Sonett, das allerdings im Laufe des 18. Jahrhunderts seine fuhrende Stellung verlieren sollte, ebenso wie die Versepistel und die letrilla, aber auch die »volkstümlicheren« Formen wie der villancico und die Romanze. Stärker jedoch als dies in der Lyrik des 16. Jahrhunderts geschah, betont Luzán die von Horaz formulierte doppelte Zielsetzung der Dichtung, das prodesse und das delectare, die utilidad und den deleite (B. I, Kap. 11 »Del fin de la poesía«). Die neoklassizistischen Autoren der Folgezeit sollten dann den Aspekt der Nützlichkeit der Dichtung immer mehr in den Vordergrund stellen, womit sie auch die Gattung Lyrik zu einem Instrument der aufklärerischen Reform- und Erziehungsbemühungen machten. Der deutlichste Ausdruck dieses Strebens ist eine stärkere Berücksichtigung der Fabel im Gattungsspektrum, und dies nicht nur bei den beiden kanonisierten »fabulistas« Iriarte und Samaniego. Das aufgeklärte Streben nach Kritik und Belehrung fand seinen Niederschlag insbesondere auch in der Gattung der Satire, die wie z.B. die zweite Sátira a Arnesto von Jovellanos auf konkrete gesellschaftliche Mißstände wie das Versagen des Adels als Führungselite zielte. Daß dabei die Grenze zur gutgemeinten Reimprosa immer wieder überschritten wird, belegt etwa Francisco Gregorio de Salas (1729-1808), dessen idyllisches Observatorio rústico mit seinen mehr als 3000 Versen, seiner Kritik der Stadt und seinem Preis des Landlebens trotzdem bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gelesen wurde. Die spätbarocke Lyrik wird jedoch nicht unmittelbar durch eine »poesía ilustrada« abgelöst. In den beiden Jahrzehnten zwischen 1750 und 1770 folgt
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die spanische Lyrik der europäischen Mode des Rokoko, die sich vor allem in der tändelnden Dichtung der Anakreontik manifestiert. Die Autoren dieser Richtung scharten sich als sogenannte Schule von Salamanca um José Cadalso, unter ihnen José Iglesias de la Casa (1748-1791), Juan Pablo Forner (17561797), Juan Meléndez Valdés und die Augustinermönche Fray Diego González (1733-1794) und Fray Juan Fernández de Rojas (1750-1819). Sie alle beschränkten sich jedoch nicht darauf, das schmale Motivinventar der Anakreontik, insbesondere die Liebe zu all den jungen und sinnenfreudigen Dorilas, Filis, Nises und Cloris, als selbstgenügsames literarisches Spiel immer neu zu variieren. Die Lyrik der Anakreontik am Ende des körperfeindlichen Spätbarock ist ein Bekenntnis zum Diesseits und zur Körperlichkeit, das dem säkularisierenden Denken der Aufklärung insgesamt und insbesondere dem Sensualismus eines auch in Spanien stark rezipierten John Locke (1632-1704) entspricht. Den in Salamanca versammelten jungen Autoren, die sich als zukünftige Elite an der Universität auf eine Funktion im neuen, aufgeklärten Spanien vorbereiteten, diente diese Lyrik innerhalb ihrer Gruppe als Medium des gegenseitigen freundschaftlichen Verstehens, als eine schon erreichte Utopie und befreiende Abgrenzung gegenüber der weiterhin bestehenden und vielerorts in Spanien noch dominierenden theologiezentrierten Sicht der Welt31. Diese aufklärerischen Gedichte waren als »Kleinform« und wegen ihrer Beschränkung auf erotische Themen allerdings wenig geeignet, das Denken der Aufklärung außerhalb eines gleichgestimmten Freundeskreises zu propagieren, zumal manches Gedicht so eindeutig war wie die Besos de amor, so daß ihr Autor, Meléndez Valdés, es nicht wagte, sie zu veröffentlichen, wohl nicht nur aus Furcht vor der weiterhin funktionierenden Inquisition, sondern auch aus Rücksicht auf sein hohes Amt als königlicher Richter. Jovellanos war es dann, der in der Carta de Jovino a sus amigos salmantinos (1776) seine Freunde dazu aufrief, aus dem »dulce sueño / de amor« (V. 64-65) zu erwachen und sich zukünftig der »didascàlica poesía« (V. 30) zu widmen, einer didaktischen Poesie, deren Ziel es ist, das aufgeklärte Denken mit den emotionalen Mitteln der Lyrik zu propagieren. Insbesondere Meléndez Valdés ist diesem Rat gefolgt. Zwar hat er den »caramillo pastoril«, die Hirtenschalmei, nie ganz beiseite gelegt und mit der sensualistischen Anakreontik tatsächlich gebrochen, doch hat er sein lyrisches Werk seit Ende der 70er Jahre auch zum Sprachrohr der Aufklärung gemacht. Diese umfangreichen Gedichte (Versepisteln, Oden, Elegien, Romanzen und discursos) wenden sich an die reformbereite Elite des Landes, um sie für die Grundideen der spanischen Ilustración und deren praktische Umsetzung zu gewinnen: Toleranz und Fortschritt, Förderung der Wissenschaften, eine umfangreiche Bodenreform, die Reinigung der Religion von allen Formen des Aberglaubens, die Reform des Erziehungswesens und des Strafrechts. In diesen Gedichten bediente er sich einer stark affektiven Begeisterungsrhetorik, die seinerzeit ihre Wirkung nicht verfehlte, auch wenn sie heute als übertriebenes Pathos erscheinen mag. Im Spanien der Spätaufklärung jedoch, das den Roman noch nicht wiederentdeckt hatte und das im Theater über mittelmäßige Leistungen nicht hinauskam, wurde eine dergestalt utilitaristisch verwandte Lyrik von Meléndez Valdés zum Medium der fortschrittlichsten und aktuellsten geistigen Auseinandersetzungen der Epoche gemacht. Forner, Leandro Fernández de Moratín (1760-1828), Cienfuegos, José
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Marchena (1768-1821), Francisco Sánchez Barbero (1764-1819), Manuel José Quintana und Alberto Lista (1775-1848), um nur einige Namen aus einer langen Liste zu nennen, haben die gleiche, an der Ästhetik der Neoklassizistik orientierte poesía ilustrada geschrieben. Mit der Besetzung Spaniens durch die Napoleonischen Truppen und im Verlauf der Guerra de la Independencia entwikkelte sich diese Lyrik zu einer politischen Kampfdichtung und zum Medium eines irrationalen Patriotismus. Sie richtete sich, anders als die elitäre poesía ilustrada, direkt an die breite Masse des Volkes und bediente sich dabei einfacher metrischer Formen und einer ebenso einfachen Sprache. Dieser Typus einer »poesía impura«, einer »revolutionären« und einer »konterrevolutionären« Lyrik, ist in den ideologischen Auseinandersetzungen und in den Bürgerkriegen des 19. Jahrhunderts immer wieder verwandt worden. Als Beispiel wird in diesem Band der Himno de Riego angeführt, der, selbstverständlich gesungen und so das gesamte affektive Potential der Musik gebrauchend, für die Liberalen des 19. Jahrhunderts eine ähnliche identitätsstiftende Funktion ausübte wie die Marseillaise für das revolutionäre Frankreich. VI Die Lyrik zwischen Spätaufklärung und Romantik: Die Sakralisierung des Dichters Hinter dem pathosgeladenen, prophetischen Ton und Gestus der poesía ilustrada steht — europaweit — eine neue Auffassung vom Dichter und Schriftsteller, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dann in der Romantik herausgebildet hat. Jochen Schmidt hat diesen Prozeß für den deutschen Sprachraum aus dem Geniekult seit 1750 erklärt, in dessen Verlauf »der Dichter die Würde eines mit höchster Autorität auftretenden Schöpfers« erhält32. Paul Bénichou hat den analogen Vorgang fur den französischen Kulturraum als »Weihe des Schriftstellers« und als das »Aufkommen einer weltlichen geistigen Macht« bezeichnet33. Unter dieser Begrifflichkeit analysiert Bénichou die Sakralisierung des Schriftstellers, des philosophe, im Frankreich der Aufklärung, ein Vorgang, in dem alle jene sakralen Züge, die vorher die Gestalt des Priesters und des alttestamentarischen Propheten gekennzeichnet haben, auf den Schriftsteller (und Intellektuellen) übertragen werden: Er ist die Inkarnation der Vernunft und der sozial verpflichteten vertu, der neue Sinnstifter und Wegweiser für das Volk. Die Romantik hat, wie Bénichou weiter ausfuhrt, diese Auffassung von der Sakralisierung des Schriftstellers übernommen und sie insbesondere auf den Dichter (poète) angewandt, dessen Selbstverständnis und Funktion in der europäischen Romantik in Gedichten, Dramen und den Künstlerromanen immer wieder thematisiert worden ist. In den Odes (1823) von Victor Hugo (1802-1885) heißt es, »[autrefois, le Poète] / Parlait au ciel en prêtre, à la terre en prophète«; im Vorwort zu den Nouvelles Odes (1824) wird die gottgewollte Führungsverpflichtung (und der Führungsanspruch!) des Dichters mit aller Deutlichkeit und noch mit der Lichtmetaphorik der Aufklärung postuliert: »[Le Poète] doit marcher devant le peuple comme une lumière et leur montrer le chemin [...]. Il ne sera jamais l'écho d'aucune parole si ce n'est de celle de Dieu.«
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Der Dichter ist bei Hugo wie bei Hölderlin der neue Empedokles, ja der neue Christus, der sich stellvertretend für die Menschheit opfert. Hugo hat fur sich als Dichter festgestellt: »Je suis le fonctionnaire de Dieu.« Alfred de Vigny (1797-1863) hat diese Sonderstellung des Dichters als Mittler zwischen Gott und den Menschen in ein prägnantes Bild gefaßt: »II [sc. le Poète] lit dans les astres la route que nous montre le doigt du Seigneur« (Chatterton, III, 6)34. Die Frage, wie es zu dieser Sakralisierung des Dichters und des Geniekonzepts seit 1750 gekommen ist, läßt sich anhand der beiden fundamentalen Aspekte der Aufklärung beantworten. Die Aufklärung war allenthalben in Europa Kritik und Krise35, oder, wie es Jochen Schmidt in einer in ihren groben Zügen auch auf Spanien übertragbaren Argumentation ausfuhrt: Man könnte das ganze 18. Jahrhundert als eine einzige Entfesselung der Kritik beschreiben: der Gesellschaftskritik, der Reliogionskritik, der Literaturkritik, der Erkenntniskritik, und in allen Bereichen hat diese Kritik die gleiche Funktion: Erschütterung der bisherigen Autorität. Die Gesellschaftskritik erschüttert die Autorität der Monarchie und Aristokratie, die Religionskritik fuhrt zu einem raschen Abbau des Offenbarungsglaubens und der als höchster Autorität fixierten göttlichen Transzendenz, die Literaturkritik führt zur Überwindung der bisher geltenden Normen und Regeln, die hauptsächlich aus der antiken Tradition abgeleitet worden waren. Und alle Kritiken münden, indem sie die überlieferte Autorität untergraben und schließlich zerstören, in die revolutionäre Krise. Kritik und Krise gehören fundamental zusammen. Die Gesellschaftskrise fuhrt in die Französische Revolution, die Religionskritik in die Säkularisierung des Glaubens an einen transzendenten Gott, die Literaturkritik zu der Revolution der Literatur, die um 1770 ihren Höhepunkt erreicht und den Beginn unserer großen neueren Literatur darstellt. Bei dieser »Entfesselung der Kritik« und diesem Prozeß der Autonomisierung des einzelnen Menschen haben Schriftsteller und Literatur jene Rolle übernommen, die im überkommenen theologischen System Priester und Theologie innehatten. So erinnern dann auch das Pathos, die Begeisterungsrhetorik und die Heilsversprechungen der Spätaufklärung und der Romantik in sehr deutlicher Weise an Stil und Terminologie der Predigt. Die Sakralisierung des weltlichen »pouvoir spirituel« des Schriftstellers und seine selbstbewußte Stilisierung zum Dichterpropheten mit ausgeprägtem Sendungsbewußtsein und, so wäre kritisch hinzuzufügen, Allmachtsphantasien entsprach in der Realität sowohl der Spätaufklärung als auch der Romantik einer immer stärkeren Vergeblichkeitserfahrung. Die Melancholie eines François René Chateaubriand (1768-1848), die Flucht eines zum Dichter bestimmten Protagonisten aus der nichtbewältigbaren Welt ins Klosterleben37 oder, wie im Fall von Vignys Chatterton, der Freitod des scheiternden Dichters sind literarisch gespiegelte Reaktionen der Autoren, die nach den Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 feststellen müssen, daß ihr hochgespannter Führungsanspruch in der historischen Wirklichkeit des etablierten Bürgertums zum Scheitern verurteilt ist. Der Albatros aus dem gleichnamigen Gedicht der Fleurs du Mal (1857) von Charles Baudelaire (1821-1867) zeigt das neue, pessimistische Bewußtsein des an seinem gesellschaftlichen An-
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spruch gescheiterten Dichters: er versteht sich weiterhin als Ausnahmewesen, als Genie, doch ist gerade dieses Genie der Grund für sein Scheitern: Le Poëte est semblable au prince des nuées, Qui hante la tempête et se rit de l'archer, Exilé sur le sol au milieu des huées, Ses ailes de géant l'empêchent de marcher. An die Stelle einer Lyrik, die dem geistigen und politischen Deutungs- und Führungsanspruch des Dichters pathetischen Ausdruck verliehen hat, tritt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine intimistische Dichtung, die jene Vergeblichkeitserfahrung, dargestellt meist als Scheitern einer Liebe, immer wieder thematisiert. Sie zieht sich zurück auf die Position einer bürgerfeindlichen reinen Kunst (»l'art pour l'art«), oder aber sie richtet sich auch dichterisch im Salon jenes Bürgertums ein, das seit langem den Sieg über die Idealvorstellung der Schriftsteller und Dichter der Spätaufklärung und der Romantik davongetragen hatte. VII Die Register der spanischen Lyrik im 19. Jahrhundert: Der Übergang zur Moderne Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die spanischen Autoren unter den besonderen Bedingungen ihres Landes an dem Prozeß der Sakralisierung und der Vergeblichkeitserfahrung des Dichtens intensiv teilgenommen haben. Quintanas höchst pathetische Oden, und sei es die auf die Einführung der Pockenimpfung, sind ein überzeugender Beleg für den Anspruch der spätaufklärerischen Autoren auf Sinndeutung und geistig-politische Führerschaft. In der Epístola a Valerio (1790) hat Quintana diesen Anspruch auf Deutung der nationalen Geschichte und der Kunst im Sinne des Fortschrittsgedankens ausführlich dargelegt. Dieser Anspruch auf einen »pouvoir spirituel« des Dichters manifestiert sich auch in seinen journalistischen und direkten politischen Aktivitäten im Umfeld der Cortes von Cádiz, in seiner Verbannung durch das ultrakonservative Regime Ferdinands VII. sowie in seiner späten Dichterkrönung im Jahre 1855 durch Königin Isabela II. Diese Krönung und offizielle Sakralisierung der Lyrik war allerdings nur noch ein symbolischer Akt zu einer Zeit, als sich die Vorstellung vom Dichterpropheten — wie die oben angeführten französischen Beispiele zeigen — längst als Illusion erwiesen hatte. Dennoch ist Quintana ein Beispiel für eine größere Zahl von Autoren, die insbesondere zur Zeit der Romantik versucht haben, eine Brücke zwischen ihrem Dichtertum und einem Wirken als Politiker zu schlagen. Eine beeindruckende Antizipation der Vergeblichkeitserfahrungen der Dichter der Spätaufklärung und der Romantik ist das in diesem Band analysierte Gedicht A Jovino: el Melancólico von Meléndez Valdés, das dieser — sozusagen in seiner Identität als Batilo — 1794 gleichzeitig mit den großen Beispielen seiner poesía ilustrada verfaßt hat. Anstelle des fortschrittsbewußten, pro-
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phetischen Gestus des Aufklärers zeigt sich in dieser Ode eine tiefe Furcht vor dem Scheitern und ein Gefühl des völligen Verlassenseins. Verzweifelt sucht Battio Trost und Zuflucht bei dem zum Retter und Heiland stilisierten Freund Jovino, auf den alle jene religiösen Termini angewandt werden, die bis dahin für die Jungfrau Maria und Christus gebraucht wurden. Dieser emotionsgeladene Orientierungsversuch ist neben der »hellen«, zukunftsorientierten Aufklärung die »dunkle« Reaktion auf die Krise des 18. Jahrhunderts. In ihr hat die Romantik ihre Ursprünge. Mit Recht werden daher diese Elemente in der Lyrik von Meléndez Valdés, von Cadalso oder Jovellanos als Manifestationen einer Präromantik oder, wie es bei anderen Autoren heißt, einer »ersten spanischen Romantik« gedeutet. Die »zweite Romantik« sollte sich in Spanien — im europäischen Vergleich — allerdings erst spät durchsetzen. Das ultrakonservative Regime, das Ferdinand VII. nach der Guerra de la Independencia 1814 als spanische Parallele zur europäischen Restauration etablierte, hat das Land bis zu seinem Tod im Jahre 1833 weitgehend von allen modernen Entwicklungen abgekoppelt. Quintana wurde durch Zensur und Inquisition für lange Jahre zum Schweigen verurteilt. Meléndez Valdés, Blanco-White, auch Goya gingen ins Exil. Literarisch hielt sich in Spanien bis fast 1840 ein blutloser Neoklassizismus, der sich bereits seit Jahrzehnten überlebt hatte. Erst mit José de Espronceda (1808-1842) und dem Duque de Rivas (1791-1865), die zunächst beide noch im neoklassizistischen Stil geschrieben hatten und die dann im Exil mit der europäischen Romantik vertraut geworden waren, gelangte jener prophetische Anspruch des Dichtertums zumindest für eine kurze Phase auch noch nach Spanien. Espronceda schuf dort mit seiner Canción del Pirata (1835) das lyrische Manifest der spanischen Romantik. Beide Autoren, die die revolutionären Ansprüche der liberalen Romantik vertraten, versuchten im übrigen auch, die Brücke vom Dichtertum zur konkreten politischen Aktivität zu schlagen. Während Espronceda jedoch schon bald den oben skizzierten Desillusionierungsprozeß erlebte, den er in seinem pessimistisch-nihilistischen El Diablo mundo (1841) vor seinem frühen Tod nicht mehr endgültig zu gestalten vermochte, wandte sich der Duque de Rivas schon bald politisch dem konservativeren Lager zu und trug mit seinem weiteren Werk dazu bei, der spanischen Lyrik ihre »öffentliche Funktion« in den geistigen und politischen Debatten zu nehmen, die sie während der Spätaufklärung und der Romantik besessen hatte. An die Stelle der romantischen Lyrik traten in der Folge verschiedene lyrische Register. Eines dieser Register, ein seinerzeit außerordentlich erfolgreiches, stellt die Lyrik von José Zorrilla (1817-1893) dar. Von einem Tag auf den anderen durch ein einziges, 1837 bei Larras Beerdigung vorgetragenes Gedicht berühmt geworden, ist Zorrilla der erste wirkliche »Berufslyriker« spanischer Sprache, dem bei den Zeitgenossen ein Bekanntheitsgrad zukam wie kaum je wieder einem spanischen Lyriker. Ein technischer Virtuose, der alles, selbst seine Antrittsrede in der Real Academia, in wohlklingende Verse zu fassen wußte, schuf Zorrilla im Rückgriff auf die Gattung der Romanze narrative Gedichte, insbesondere aus einem romantisierten Mittelalter, in denen eine nicht weniger romantisierte Liebe das geistige und sentimentale Zentrum bildet. Seine an ein bürgerliches, überwiegend weibliches Publikum gerichteten Gedichte, schufen einen bislang nicht gekannten buchhändlerischen Markt für die Gattung Lyrik,
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die nie zuvor und nie wieder danach in solch hohen Auflagen und in solch rascher Folge produziert und rezipiert wurde. Dies alles verhinderte jedoch nicht, daß die Lyrik als Gattung im Laufe des Jahrhunderts an Terrain im Hinblick auf andere Gattungen der Literatur verlor, insbesondere im Hinblick auf den realistischeren, kritischeren und spannenderen Roman, der sich auch ein Publikum jenseits des von Zorrilla angesprochenen zu erschließen vermochte. Ein zweites Register stellt die Lyrik von Ramón de Campoamor (18171901) dar. Vor dem ideengeschichtlichen Hintergrund des Positivismus und Realismus plädierte er für eine sprachlich schlichte und gedanklich klare Lyrik, die ihren Niederschlag vor allem in seinen Dobras (1845; überarbeitet 1886; 30 Auflagen bis 1902) gefunden hat, kurzen, zum Teil epigrammartigen Gedichten, auch sie vorrangig bestimmt für das weibliche Publikum der bürgerlichen Salons. Campoamor geht es nicht um die großen Leidenschaften und Gefühle, er glaubt nicht mehr an das Sendungsbewußtsein des Dichters. Mit Ironie und bitterem Humor (Humoradas, 1885) begnügt er sich damit, die kleinen Schwächen im menschlichen Zusammenleben aufzudecken, den idealistisch verbrämten Egoismus und die allgegenwärtige soziale Heuchelei der Welt des Bürgertums, ohne daß dabei der Lyrik noch irgendeine Funktion der Reform oder Besserung zugesprochen würde. Rubén Darío (1867-1916) hat die in ihrer politischen Anspruchslosigkeit schlichte Lyrik Campoamors geschätzt, der er das Verdienst zusprach, mit dem leeren Pathos der Spätromantik gebrochen zu haben. Das dritte Register, das hier noch zu nennen ist, stellt die Lyrik von Gustavo Adolfo Bécquer (1836-1870) dar. In ihrer Gesamtheit erst postum veröffentlicht verzichten seine Rimas wie die Gedichte Campoamors auf die leere Rhetorik der Spätromantik, jener »poesía magnífica y sonora« wie er sie in seiner knappen Poética nur scheinbar bewundernd nennt. Bécquer zieht ihr eine andere Lyrik vor: »[una poesía] natural, breve, seca, que brota del alma como una chispa eléctrica, que hiere el sentimiento con una palabra y huye, y desnuda de artificio, desembarazada dentro de una forma libre, despierta, con una que las toca, las mil ideas que duermen en el océano sin fondo de la fantasía.« Diese kurzen (Liebes-)Gedichte, die mehr andeuten als sie explizit aussagen, versuchen nicht mehr, dem Leser eine Botschaft des Autors zu vermitteln. In Schlüsselwörtern wie Melancholie, Einsamkeit, Vergessen, Desillusion manifestiert sich jene hier bereits vielfach genannte Vergeblichkeitserfahrung des spät- und postromantischen, des modernen Dichters, für den die Lyrik längst aufgehört hat, ein tönendes Sprachrohr politischer und gesellschaftlicher Ideen zu sein, um ein ästhetisch anspruchsvoll gestaltetes Instrument der individuellen — vom Dichter nur angeregten und vom Leser selbst zu erbringenden — Erkenntnis zu werden. Bei der Ausformung seiner Dichtung, mit der formal und sprachlich die moderne spanische Lyrik einsetzt, ist Gustavo Adolfo Bécquer von der andalusischen Volksdichtung, der französischen und englischen Romantik, von Campoamor und in einem nicht geringen Maß von der deutschen Lyrik des 19. Jahrhunderts, von den romantischen Balladen und Liedern, ganz besonders aber von Heinrich Heine (1797-1856) angeregt worden: von einem Heine jedoch, der in
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einem komplexen Rezeptionsprozeß fast bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet nach Spanien gelangt war. In diesem Prozeß haben die Heine-Übersetzungen und Nachdichtungen von Augusto Ferrän y Fornies (1830-1880) eine wichtige Rolle gespielt. Mit der Behandlung dieses Autors schließt der vorliegende Band, ist damit doch die Schwelle zur spanischen Lyrik der Moderne erreicht, deren Darstellung in Einzelinterpretationen dem Leser bereits 1990 vorgelegt wurde. Anmerkungen 1 Spanische Gedichte aus acht Jahrhunderten. Zweisprachen-Ausgabe. Eingeleitet, herausgegeben und übertragen von Rudolf Grossmann. Bremen: Schünemann 1960 (Sammlung Dieterich, 237). Eine erste Ausgabe war Leipzig 1948 erschienen. 2 Poesie der Welt. Spanien. Berlin: Propyläen 1985 (Edition Stichworte). Der Band hat nicht nur eine recht problematische Auswahl getroffen, wenn er ohne Begründung die Lyrik des 18. Jahrhunderts vollständig übergeht und die der spanischen Romantik auf ein Gedicht von José Zorrilla reduziert. Er enthält auch einen knappen Essay über die »Spanische Lyrik in Deutschland« (S. 307-323), der seinem Titel nicht gerecht wird. Er ist zu ergänzen durch Gerhart Hoffmeister: Spanien und Deutschland. Geschichte und Dokumentation der literarischen Beziehungen. Berlin: Schmidt 1976 (Grundlagen der Romanistik, 9). 3 Spanische Lyrik von der Renaissance bis zum späten 19. Jahrhundert. Spanischdeutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Hans Feiten und Augustin [sie] Valcärcel. Stuttgart: Reclam 1990. Der Band reicht von Garcilaso de la Vega ( 1501 ?-1536) bis Rosalia de Castro ( 1837-1885). 4 Spanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Spanisch-deutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Gustav Siebenmann und José Manuel Lopez. Stuttgart: Reclam 1985. Der Band berücksichtigt die Lyrik von Miguel de Unamuno ( 1864-1936) bis Jaime Siles (* 1951 ). 5 Die spanische Lyrik der Moderne. Einzelinterpretationen. Herausgegeben von Manfred Tietz unter Mitarbeit von Siegfried Jüttner und Hans-Joachim Lope. Frankfurt/M.: Vervuert 1990. 6 Über die umfangreiche Forschung zur spanischen Lyrik informieren auf aktuellem Stand die einschlägigen Kapitel in: Rico, Francisco (Hg.), Historia y critica de la literatura espanola. Bd. 1/1 bis 5/1. Barcelona: Critica 1993/94. 7 Da im vorliegenden Band die cantigas nicht berücksichtigt werden konnten, sei hier zur Illustration wenigstens ein Textbeispiel angeführt: Ondas do mar de Vigo, / Se vistes meu amigo? / E ai Deus, se verrà cedo\ Il Ondas do mar levado, / se vistes meu amado? / E ai Deus, se verrà cedo\ Il Se vistes meu amigo, / o por que eu sospiro? / E ai Deus, se verrà cedo\ Il Se vistes meu amado, / por que ei gran cuidado? / E ai Deus, se verrà cedo\ (Wellen der See von Vigo, / Ob Ihr wohl meinen Freund gesehen habt? / Ach Gott, wenn er doch bald kämel II Wellen der stürmischen See, / ob Ihr wohl meinen Geliebten gesehen habt? / Ach Gott, wenn er doch bald kämel II Ob Ihr wohl meinen Freund gesehen habt, / nach dem ich mich so sehne? / Ach Gott, wenn er doch bald kämel II Ob Ihr wohl meinen Geliebten gesehen habt, / um den ich mich so sorge? / Ach Gott,
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wenn er doch bald käme\) Eine ausführliche Darstellung der cantigas de amigo findet sich im Aufsatz von Giuseppe Tavini: »La poesia galego-portoghese«, in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters (GRLMA). Bd. II, vol. 1, Heft 6, S. 5-165. 8 Zu einer angemessenen Behandlung der Metrik, die bei der Lyrikanalyse unabdingbar ist, vgl. das Standardwerk von Rudolf Baehr: Spanische Verslehre auf historischer Grundlage. Tübingen: Niemeyer 1962. 9 Die Begriffe «volkstümlich« oder »populär« und »gebildet« werden hier in der Nachfolge von Ramón Menéndez Pidais Termini (»poesía populär« als der mündlich tradierten und »poesía culta« als der schriftlich tradierten Dichtung) gebraucht. Zu diesem in der Hispanistik schon lange verwandten Oppositionspaar vgl. jetzt den klärenden germanistischen Aufsatz von Walter Haug: »Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität«, in: Joachim Heinzle (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Frankfurt a.M./ Leipzig: Insel 1994, 376-397. 10 Zu der diesbezüglichen Debatte vgl. Frenk Alatorre, Margit: »La lírica pretrovadoresca«, in: GRLMA Bd. II, vol. 1, Heft 2, S. 25-79. 11 Aus dem gleichen Grund wie im Falle der cantigas sei hier auch ein Beispiel eines villancico angeführt: Dentro en el vergel / moriré, / dentro en el rosal / matarme han. // Yo me iba, mi madre, / las rosas coger / hallé mis amores / dentro en el vergel. / [Moriré.] / Dentro en el rosal / matarme han. // {Drinnen im Garten / werde ich sterben, / drinnen im Rosengarten / wird sie [sc. die Liebe] mich töten. // Ich ging, Mutter, / um Rosen zu pflücken / und fand meine Liebe / drinnen im Garten. / [Ich werde sterben.] / Drinnen im Rosengarten / wird sie [sc. die Liebe] mich töten.) Cancionero musical de palacio, 366. Zitiert nach: Margit Frenk (Hg.), Lírica española de tipo popular. Edad Media y Renacimiento. Madrid: Cátedra 5 1984 (Letras Hispánicas, 60), S. 85. Vgl. außerdem Baehr, 1962: 231-236. 12 Die Auffassung, daß das Liebeskonzept der Troubadourlyrik sowie die metrischen und musikalischen Formen dieser Dichtung letztlich aus der damals im spanischen Raum beheimateten arabischen Kultur stammen (die sogenannte »Araberthese« in der langen Debatte um die Ursprünge der höfischen Lyrik), wird neuerdings wieder mit größerem Nachdruck vertreten. Vgl. Menocal, Maria Rosa: The Arabie Role in Medieval Literary History: A Forgotten Heritage. Philadelphia: 1987 und dies.: Shards ofLove: Exile And Origins of the Lyric. Durham/ London: 1994. 13 Noch 1448 stellte der Marqués de Santillana in seinem Proemio e Carta, der ersten spanischen »Literaturgeschichte«, fest: »[...] non ha mucho tienpo cualesquier dezidores e trabadores destas partes, agora fuessen castellanos, andaluces o de la Estremadura, todas sus obras componían en lengua gallega o portuguesa.« Eine frühe Ausnahme bildet nur die systematische Verwendung des Kastilischen für die lyrischen Texte, die Juan Ruiz, der Arcipreste de Hita, in sein Libro de buen Amor (1330/1343) eingefügt hat. 14 »Infimos son aquellos que syn ningund orden, regla nin cuento fazen estos romançes e cantares de que las gentes de baxa e servil condiçiôn se alegran.« 15 Delumeau, Jean: Angst im Abendland: die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1985. 16 Saugnieux, Joël: Les danses macabres de France et d'Espagne et leurs prolongements littéraires. Lyon: Vitte 1972.
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17 Im einzelnen liegen die Gründe aber sicher ganz verschieden. Der Salmantiner Professor Fray Luis de León tat seine Gedichte als Jugendsünden (»obrecillas«) ab, um seinen Ruf als ernsthafter Wissenschaftler nicht zu gefährden. Gleichwohl plante er eine umfassendere Ausgabe seiner Gedichte, die allerdings unter Pseudonym erscheinen sollte. Im Druck veröffentlicht wurden die Gedichte jedoch erst 30 Jahre nach seinem Tod von Quevedo, der sich ihres Beispiels im Kampf gegen die »dunkle Lyrik« des Kulteranismus bediente. Der Fall Góngoras verdeutlicht einen anderen, wichtigen Aspekt. Ein erster umfassenderer Druck von 45 seiner Gedichte, der noch in seinem Todesjahr (1627) erschien, wurde von der Inquisition mit der Begründung beschlagnahmt, die Texte atmeten heidnischen Geist, seien obszön und subversiv. Dieser Vorfall sollte den Leser wieder an einen nur allzu rasch ausgeblendeten Sachverhalt erinnern: die gesamte Literatur des Siglo de Oro fand den Weg zum Druck und in die Öffentlichkeit nur nach einer doppelten (staatlichen und kirchlichen) Zensur. 18 Wie Lope de Vega eine Fülle von Theaterstücken zugeschrieben wurden, um mit seinem Namen Geschäfte zu machen, so klafft, um nur ein herausragendes Beispiel zu nennen, auch bei Góngora die Zahl der als echt angesehenen und der ihm eventuell zuzuschreibenden Gedichte weit auseinander: bei den Sonetten ist das Verhältnis 169 zu 49, bei den Romanzen 94 zu 116 und den letrillas 59 zu 29. 19 Einen Versuch, diese Beschränkungen zu durchbrechen, macht José Manuel Blecua in seinen Anthologien Poesía de la Edad de Oro. I. Renacimiento. Madrid: Castalia 1982 und II. Barroco. Madrid: Castalia 1984. 20 Der Cancionero general stellt — auch im europäischen Kontext — eine einmalige Brücke zwischen späthöfischer und Renaissance-Lyrik dar. Er enthält über 1000 Gedichte von etwa 130 namentlich genannten und weiteren anonymen Autoren. Der Band enthält auch eine Abteilung mit 48 Romanzen. 21 Die petrarkistische Liebeslyrik darf ohnehin nicht als Erlebnisdichtung mißverstanden werden. Es handelt sich um ein artifizielles Register, das auch ein zölibatärer Kleriker wie Góngora benutzen konnte. 22 Zur Abgrenzung des aus der italienischen Dichtung übernommenem endecasílabo als dem »klassischen Vers der spanischen Kunstdichtung« gegenüber den in Spanien schon länger gebräuchlichen, doch rhythmisch weniger befriedigenden 11-Silbern vgl. Baehr, 1962: 87-104. 23 Entsprechend dieser Authentizitätsfiktion hat es nicht an Versuchen gefehlt, für die in den Gedichten angesprochene »Dame« nach realen Vorbildern im Leben der verschiedenen Dichter zu suchen und die Texte zu einer »Liebesgeschichte« im Sinne von Petrarcas Canzoniere zu konstruieren. 24 Vgl. hierzu das Kapitel »Die gesellschaftliche Stellung des Künstlers in der Renaissance« bei Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München: Beck 1967, S. 331-363, insbesondere die Ausfuhrungen zum Geniebegriff und zur Autonomie der Kunst. Dort vertritt Hauser die These, daß sich die Kunst in der Renaissance ganz entschieden von den kirchlichen Dogmen und der Künstler sich von der konkreten Bevormundung durch den Klerus befreit (352f.). 25 Cernuda, Luis: »Tres poetas clásicos (1941)«, in ders.: Prosa completa. Barcelona: Barrai 1975, S. 750. 26 Vgl. Dehennin, Elsa: La Résurgence de Góngora et la génération poétique de 1927. Paris: Didier 1962 und Gumbrecht, Hans Ulrich: »Warum gerade Góngora«, in: R. Warning und W. Wehle, Lyrik und Malerei der Avantgarde. München: UTB 1982, 145-192.
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27 Cernuda, Luis: »Góngora y el Gongorismo (1937)«, in ders., 1975: 1423. 28 Zu diesem komplexen Prozeß vgl. die umfangreichen Materialien, die Christoph Strosetzki erfaßt und ausgewertet hat: Literatur als Beruf. Zum Selbstverständnis gelehrter und schriftstellerischer Existenz im spanischen Siglo de Oro. Düsseldorf: Droste 1987 (Studia humaniora). 29 So die Deutung ihres Lebens und Werks bei Octavio Paz: Sor Juana Inés de la Cruz o las trampas de la fe. Barcelona/ México: Barrai 1982. 30 Aguilar Pifial, Francisco: Indice de las poesías publicadas en los periódicos españoles del siglo XVIII. Madrid: CSIC 1981 (Cuadernos bibliográficos, 43). 31 Die Mitglieder dieser Gruppe versuchten, durch Annahme eines fiktiven, teilweise aus der antiken Literatur übernommenen Namens (so nannte sich Cadalso Dalmiro, Jovellanos Jovino, Valdés Botilo, Forner Aminta) ihre soziale Identität zu wechseln und diesem utopischen Lebensgeflihl Ausdruck zu verleihen. 32 Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1. Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985, S. 1. 33 Le sacre de l'écrivain. 1750-1830. Essai sur l'avènement d'un pouvoir spirituel laïque dans la France moderne. Paris: Corti 1973. 34 Im deutschen Sprachraum hat Joseph von Eichendorff (1788-1857) in einem Sonett den Führungsanspruch des Dichters folgendermaßen legitimiert: »Nicht Träume sinds und leere Wahngesichte, / Was von dem Volk den Dichter unterscheidet. / Was er inbrünstig bildet, liebt und leidet, / Es ist des Lebens wahrhafte Geschichte. / [...] / Die Menge selbst, die herbraust, ihn zu fragen / Nach seinem Recht, muß den Beglückten tragen, / Als Element ihm bietend ihren Rücken.« 35 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973. 36 Schmidt, 1985: 5. 37 Diesen Weg geht die Romangestalt des Grafen Friedrich in Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart (1815).
NOTA Wie im vorausgegangenen Band (Die spanische Lyrik der Moderne. Einzelinterpretationen. Frankfurt/M.: Vervuert 1990) wurde die Auswahl der zu behandelnden Autoren von den Herausgebern des Bandes getroffen. Die Beiträger ihrerseits haben sich dann jeweils für einen konkreten Text, Methoden und Frageansatz entschieden. Dadurch ist wiederum ein breites Spektrum der möglichen und zur Zeit aktuellen »approaches« eingebracht worden. Außer im Fall der außerordentlich langen Egloga segunda von Garcilaso de la Vega ist der Text aller Gedichte vollständig abgedruckt worden, um all jenen Lesern entgegenzukommen, die auf keine entsprechend ausgestattete Bibliothek zurückgreifen können. In Anbetracht der häufig nicht ganz einfachen Sprache der spanischen Lyrik sollen die vollständigen Prosa-Übersetzungen den Zugang zum Wortverständnis der einzelnen Gedichte erleichtern. Alle hier veröffentlichten Beiträge wurden ausdrücklich für diesen Band verfaßt. Sie lagen zum großen Teil 1994 im Manuskript
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vor. Eine Aktualisierung der bibliographischen Angaben konnte nur in Einzelfällen erfolgen. Der Band enthält ein Namensregister, das Zusammenhänge zwischen den einzelnen Beiträgen und den Tendenzen innerhalb der spanischen Lyrik von ihren Anfängen bis 1870 punktuell nachvollziehbar machen will. Es berücksichtigt nicht die Autoren der Sekundärliteratur. Claudia Wolpers, Katharina Schede, Ruth Keddy, Friedrich Jasper und Gero Arnscheidt haben die Texte am Computer bearbeitet und Korrektur gelesen. Das Layout des Buches hat Gero Arnscheidt gestaltet und umgesetzt. Auch das Namensregister wurde von ihm erstellt. In Anbetracht der zwischenzeitlich bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen üblich gewordenen Regeln der Druck- und Buchgestaltung, ist es keine leere Floskel, wenn ich diesen Mitarbeitern meinen herzlichen Dank ausspreche und ausdrücklich feststelle, daß ohne ihre geduldige und kompetente Arbeit der vorliegende Band nicht zustande gekommen wäre. Dem Vervuert-Verlag gilt ein besonderer Dank für seine Bereitschaft, nunmehr einen zweiten Band zur spanischen Lyrik in sein Programm aufzunehmen. Die Göngora-Interpretation von Walter Pabst ist eine der letzten Arbeiten, die fertigzustellen ihm noch vergönnt war. Dem Andenken dieses großen Kenners der romanischen Lyrik widmen die Herausgeber den vorliegenden Band.
Bochum, im November 1995
Manfred Tietz
Georg Bossong
Sechs hargas, oder: Stationen femininer Erotik in Al-Andalus I. Widrigkeit des Verliebtseins adamey kered-lo
filyolo alyeno de mib betare
ed el a mibi suo al-raqibi; 1
Ich habe mich verliebt in einen fremden jungen Mann, und er in mich. / Ihn will von mir fernhalten sein Aufpasser. II. Verzweiflung und Sehnsucht gar ke fareyo est'al-habib espero
komo bibreyo por el morireyo 2
Sag, was soll ich tun, wie soll ich leben? / Diesen Geliebten erwarte ich, seinetwegen werde ich sterben. III. Einladung zur Liebesnacht mio sidi ibrahim ven-te mib 'in non, si non keres gar-me ob
ya tu uemne dulge de nohte irey-me tib legar-te3
Mein Gebieter Ibrahim, oh du süßer Mann / komm zu mir bei Nacht! / Wenn nicht, wenn du nicht willst, gehe ich zu dir. / Sag mir, wo ich dich treffe! IV. Das Spiel von Begehren und Verweigerung non me tankas [mordas] yä habibi al-gilala rahsa basta
ka enkara danyoso a toto me refiuso 4
Rühr mich nicht an [beiß mich nicht] mein Geliebter, denn noch ist es schädlich / Mein Schleierkleidchen ist aus zartem Stoff. Genug! Ich verweigere mich allem!
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GEORG BOSSONG
V. Die Erfüllung bokella al- c iqdi habibi gi c indi
dulge komo al-suhdi aduna-me amande
ben beiga-me ke moyrome 5
Mündchen aus Perlen, süß wie Honig, komm küß mich! / Mein Geliebter, komm her zu mir, vereinige dich mit mir in Liebe [Geliebter], denn ich sterbe! VI. Trennung im Morgengrauen bay yä sahhärä alba k'estä kon bei fogore kan'bene beda amore6 Geh, du Zauberer! / Die Morgenröte, die in schönem Glänze steht / wenn sie kommt, vertreibt sie die Liebe. I »Un siglo más para la poesía española«: so rief Dámaso Alonso 1950 in einem vielbeachteten Zeitungsartikel aus, als die erste Gruppe von hargas durch die Arbeit von Samuel M. Stern 1948 einem größeren Publikum bekannt gemacht worden war. Zwar wußte man grundsätzlich von der Existenz romanischer Verse in hebräischen Gedichten, schon seitdem Menéndez y Pelayo im Jahre 1894 den größten Dichter hebräischer Zunge in nachbiblischer Zeit, Yehuda ha-Levi, als »el primer poeta castellano de nombre conocido« bezeichnet hatte; in den 30er Jahren hatten die deutschen Hebraisten Hai'm Brody und Yitzchak Baer auf die Existenz der romanischen Schlußverse bei Todros Abu l- c Afia und bei Yehuda ha-Levi hingewiesen, gefolgt von dem Altmeister der spanischen Hebraistik Millás Vallicrosa im Jahre 1946, doch hatten diese frühen Erwähnungen keinen Einfluß auf die Darstellung der Geschichte der spanischen Lyrik. Erst die Entdeckung einer Vielzahl solcher Verse, zunächst in hebräischen, später dann in arabischen Gedichten, ihre immer sicherer werdende textuelle Deutung, ihre Einordnung in die Gattungsgeschichte und die genauere Erkenntnis ihrer Eigenart und ihres Stellenwertes seit 1948 und dann in den 50er und 60er Jahren erhoben die hargas im allgemeinen Bewußtsein zu dem, was sie tatsächlich sind: die ältesten Zeugnisse der lyrischen Dichtung (und damit der Literatur im engeren Sinne) in einer iberoromanischen Sprache überhaupt. Die Entdeckung der hargas als verbreiteter und blühender Gattung und als vergleichsweise umfangreiches Textkorpus hat den Blick geöffnet für eine bis dahin ungeahnte historische Tiefendimension des Dichtens in romanischer Volkssprache. Allerdings hat diese Entdeckung auch neue Fragen in Fülle aufgeworfen; sie hat die Existenz romanischer Dichtung lange vor dem Einsetzen der schriftlichen Überlieferung in lateinischem Alphabet deutlich gemacht, aber auch den immensen Abstand, der diese Dichtung von allem Späteren trennt: es führt kein Weg von
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diesen Versen zur Dichtung eines Berceo, eines Alfonso el Sabio, nicht einmal zu den galicisch-portugiesischen Cantigas de amigo; trotz gewisser Berührungspunkte dominieren die tiefgreifenden Unterschiede. Um die eingangs zitierte Formulierung von Dámaso Alonso wieder aufzugreifen: es ist nicht einfach »spanische Dichtung«, was uns hier entgegentritt, vielmehr Dichtung in einem frühspanischen Idiom, in Mozarabisch, aus einem Kulturkreis, den Welten vom christlichen Spanien trennen: Dichtung aus Al-Andalus. Um die hargas zu verstehen, muß man ihren Kontext betrachten. Diese Dichtungsform kann nur vor ihrem spezifischen Entstehungshintergrund interpretiert werden. Das Ziel der folgenden Ausfuhrungen ist weder linguistisch noch primär philologisch-textkritisch; es geht auch nicht um ein erneutes Aufwerfen der leidenschaftlich und oft diskutierten Frage, inwiefern die hargas auf einer oralen volkstümlichen Lyrik in romanischer Sprache basieren, oder der Frage, ob die Lyrik der Troubadours unmittelbar von dieser romanischen Volksdichtung beeinflußt ist oder nicht.7 Vielmehr soll ein Aspekt in der literarischen Wertung der hargas herausgearbeitet werden, der in der bisherigen Diskussion meiner Auffassung nach nicht hinreichend deutlich geworden ist: die hargas als Überschreitung gültiger und gängiger Normen, ihr revolutionäres Potential. Die spanischsprachige Dichtung hebt an mit einer Gattung, die sich in mehrfacher Hinsicht vom Vorgegebenen abhebt und es überschreitet: mit einer disidencia, durchaus auch im Sinne von Goytisolo. Zunächst einmal bedeutet harga im Arabischen (die Aussprache ist, gleich welches Transkriptionssystem verwendet wird, [xardja]) einfach »Ausgang = salida«; das Wort ist eine gängige und alltagssprachlich übliche Ableitung aus der zum Grundwortschatz gehörenden Wurzel hrg »hinausgehen = salir«. Es ist allgemein bekannt, daß es sich um Schlußverse im Rahmen arabischer bzw. hebräischer Strophengedichte (muwassahät) handelt, daß »Ausgang« hier also in einem konkreten, technischformalen Sinn als »letzter Refrain, Ausgangskehrreim« zu verstehen ist. Dazu muß man wissen, daß strophisch geformtes Dichten in der arabischen Literatur bis zum Erscheinen dieser Form unüblich war (die Form des sogenannten musammat, die man als Vorläufer interpretieren kann, ist marginal). Die klassische Form der arabischen Lyrik war vielmehr die qasida, die eine unbegrenzte, oft in die Hunderte gehende Anzahl von paarweise gereimten Versen in loser Form aneinanderreiht. Die muwassahä, das »mit einer Zierschärpe gegürtete« Strophengedicht, oder kurz das »Gürtelgedicht«, war eine revolutionäre Neuerung des europäischen Islam, des arabischsprachigen Spanien, eine Neuerung, die dann zwar auf den islamischen Orient ausgestrahlt hat, deren Ursprung aber eben doch im äußersten Westen, in Al-Andalus lag. Die »Schärpe« (wisäh), um die es dabei geht, ist der am Ende jeder Strophe wiederkehrende, in der harga am Ende gipfelnde Kehrreim; er gibt dem Gedicht die innere Geschlossenheit, die der klassischen qasida fehlt, metrisch und formal, aber auch inhaltlich: aus der endlosen Perlenkette einzelner Verspaare wird ein durch »den Gürtel der Kehrreime gebundenes« (muwassahä) Gedicht, ein in sich abgerundetes, zu sich selbst zurückkehrendes, verdichtetes Kunstgebilde. In einem ersten, oberflächlichen Angang bedeutet harga also nichts weiter als eine metrisch-formale Eigenart des tawsih, des Dichtens von muwassahät, von Strophengedichten mit festem Kehrreim. Ich denke aber, daß das Wort eine
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tiefere Bedeutung hat. Das Abfassen von »Gürtelgedichten« breitete sich in der islamischen Welt als eine Mode aus; von Marokko bis Ägypten und Persien ahmte man die im fernen Westen, in Al-Andalus entstandene neue Dichtungsform nach. Nach den Dichtern kamen die Poetologen; der wichtigste Theoretiker der harga wurde der ägyptische Autor Ibn Sana5 al-Mulk (1155-1211), der sich ausfuhrlich über die Regeln und die Ästhetik dieser Dichtungsgattung geäußert hat. Bei seiner Darstellung müssen wir hellhörig werden: ihm zufolge ist die harga der »Glanzpunkt des muwassahä, sein Salz, sein Moschus, sein Ambra«; der Dichter geht bei der Komposition des Ganzen von der harga aus, sie ist »der Schwanz, und er setzt den Kopf darauf«. Von der harga nimmt seine Inspiration den Ausgang, auf ihr baut er alles andere auf (Zitate nach Heger 1960: 186f; die Übersetzung ist Hartmann 1896/7 entnommen). Demzufolge ist die harga nicht einfach nur das Schlußelement des Gedichtes, vielmehr sein Zentrum (markazf und sein Kern. Und dieser Wesenskern läßt sich nun ebenfalls von der arabischen Wortwurzel hrg her deuten: es geht um ein »Herausgehen« oder, gesteigert formuliert, um ein »Ausbrechen«, ein »Überschreiten«, um eine »Transgression«9. Was wird in der harga »überschritten«? Ich meine, dreierlei: die Form, die Sprache, und die erotische Konvention. Betrachten wir dies im einzelnen. Zunächst einmal ist, wie soeben bereits festgestellt, die ganze Dichtungsgattung des tawsih eine Grenzüberschreitung der traditionellen Formen und damit der ästhetischen Ideale der klassischen arabischen Dichtung, einer Dichtung also, die ihre Wurzeln in vorislamischer Zeit hat und dann für die gesamte islamische Welt zum Vorbild geworden ist, auch für Al-Andalus; man denke etwa an Ibn Zaydün (1003-1071), den Dichter des imperialen Córdoba in seinem Glanz, einen der großen, formvollendeten Klassiker der arabischen Literatur10. Die muwassahä stellt sich als Form bewußt gegen die breit dahinströmende qaslda, und die harga ist als Endkehrreim der Inbegriff dieser »Überschreitung« vorgegebener klassischer Muster. Sodann ist die harga eine »Überschreitung« in Bezug auf die Sprache. Die ganze Dichtungsgattung des muwassahä lebt von der arabischen Diglossie"; sie ist ein Produkt der Spannung zwischen Hochsprache und Volkssprache, wie sie für die islamische Welt von Anfang an bestimmend gewesen ist. Dieser Punkt ist von zentraler Bedeutung; um ihn genauer zu verstehen, muß etwas weiter ausgeholt werden. Das koranische Arabisch, und damit die Sprache der klassischen arabischen Dichtung, ist eine »klassische« Sprache in einem vielleicht noch weitergehenden Ausmaß als die »klassischen« Sprachen Europas, vergleichbar dem Sanskrit sowie dem Chinesischen des Kaiserreiches. Es folgt unwandelbaren, der Zeitlichkeit enthobenen Normen, da es in dem als unmittelbare Inkarnation Gottes geltenden Text des Koran ein für allemal fixiert worden ist. Die Dichtung folgt den strengen, ehernen Regeln einer quantitierenden Metrik, die seit vorislamischen Zeiten unverändert geblieben sind. Noch mehr als beim Lateinischen des Mittelalters handelt es sich hier um ein »autoritäres Vorgut«12. Alles Schriftliche ist in dieser autoritativ vorgegebenen Sprachform abgefaßt, deren unwandelbare Festigkeit und Dignität letztlich theologisch begründet sind. Dies gilt bis heute: während in Europa das universale Latein längst den Volkssprachen Platz gemacht hat, gibt es bis heute keine ägyptische, irakische oder marokkanische Schriftsprache; auch banalste Zeitungsmeldungen
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folgen grammatisch den Regeln der Sprache des Propheten. Im Kontext dieser Kultur ist die harga eine revolutionäre Neuerung. In der harga kommt nämlich die Volkssprache an die Oberfläche, eine Sprache, die selbstverständlich im mündlichen Gebrauch immer vorhanden gewesen war und sich zu allen Zeiten nach den ihr eigenen Gesetzen weiterentwickelt hat, die aber ansonsten unter dem Firnis der autoritativen, der klassischen Sprache verborgen geblieben ist. Die harga ist in der gesprochenen Sprache abgefaßt, dem lebendigen, keiner Regulierung unterworfenen Idiom des Alltags. Das ist in aller Regel eine dialektale Form des Arabischen, und die große Mehrzahl aller hargas ist dementsprechend in einer Variante des Umgangsarabischen abgefaßt. In manchen Fällen gibt es daneben auch hargas in fremden Sprachen, in den Umgangssprachen islamisierter und kulturell arabisierter Völker, die sich aber im Alltagsleben ihr eigenes Idiom bewahrt haben. So gibt es beispielsweise hargas in persischer Sprache. Die hargas im iberoromanischen Dialekt der Mozaraber sind also nur ein Sonderfall in dem viel weiter gesteckten Rahmen der generellen Diglossie der arabischen Welt — allerdings ein für die Romanistik besonders glücklicher Sonderfall! Das koranische Arabisch hat die Vielfalt der real gesprochenen Dialekte und Sprachen überdacht, sie aber nie beseitigt. Die hargas repräsentieren den Aufstand gegen die Einheitlichkeit der klassischen Sprache; sie »überschreiten« die Strenge ihrer fixierten Regelhaftigkeit. Der bereits zitierte Ibn Sana 3 alMulk hat dies in der ihm eigenen pittoresken Ausdrucksweise so auf den Punkt gebracht: die harga muß »quzmänisch 13 in Bezug auf die Unkorrektheit der Sprache« sein, »verbrennend, versengend, scharf und schneidend, in Worten der Volkssprache und Vokabeln des Kinderjargons«; wenn sie in einer Fremdsprache abgefaßt ist, muß sie »so recht wüst und wirr und kauderwälsch klingen« 14 . Die muwassaha insgesamt ist ein strenges, formgebändigtes Gebilde, das die vielfaltigen metrischen und inhaltlichen Konventionen einer klassischen Sprache und Literatur mit ihren ungezählten intertextuellen Bezügen aufgreift und immer wieder neu abwandelt; man bewegt sich in einem vorgegebenen Rahmen mit feststehenden ästhetischen Werten, zu denen Erlesenheit und Eleganz der Sprache ebenso gehören wie die intellektuelle Brillanz der Metaphern und poetischen Wendungen. Aus diesem Rahmen sticht die harga in ihrer »wüsten und kauderwälschen« Art, in der Vulgarität ihrer Sprache, aber auch in der Naivität und Unmittelbarkeit ihres Ausdrucks als extremer Kontrast heraus. A u f diesen Kontrast ist die Wirkung des ganzen Gedichtes angelegt; er ist es, auf den das Gedicht hinausläuft und mit dem es endet. Die Spannung zwischen der elitären Kunstsprache und dem Alltagsidiom entlädt sich in der harga in einer Art Knalleffekt. Schließlich repräsentiert die harga eine Überschreitung der erotischen Konvention. Sie ist hierin nicht ohne Beispiel in der klassischen arabischen Lyrik, die in erotischen Dingen insgesamt ungleich freier ist als die christlichabendländische; nirgendwo sonst jedoch prägt sich die Überschreitung geltender Konventionen als zentrales Charakteristikum einer ganzen Gattung aus. Weitaus die meisten hargas sind Frauenlieder. Sie sind nicht das Werk individuell bekannter Dichterinnen, vielmehr werden sie einer Frau, der Liebespartnerin, in den Mund gelegt. Wir wissen nicht, oder wissen zumindest nicht immer mit Sicherheit, ob sich die mit Namen bekannten männlichen Dichter der
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jeweiligen muwassaha einfach einer literarischen Konvention bedienten und es sich um deren eigene Schöpfungen handelt oder ob sie tatsächlich aus einem Fundus anonymer Frauenlieder schöpften, die im Umlauf waren. In manchen Fällen läßt sich eine Antwort zumindest vermuten. Wenn etwa in der harga 32 eine historisch dokumentierte Persönlichkeit genannt ist, handelt es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die individuelle Schöpfung des Dichters der muwassaha (in diesem Fall Yehuda ha-Levi). Andererseits kann man in dem häufigen Fall der Mehrfachverwendung einer harga (siehe oben Texte I und IV) mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß ein allgemein bekannter, anonymer Text in Umlauf war, den der Dichter in seine individuelle Schöpfung eingebaut hat. Wie dem auch sei, jedenfalls werden die — fast ausnahmslos erotischen — hargas in 56 von 70 Fällen von der Frau gesprochen oder gesungen. Geradezu prototypisch ist etwa der erste Vers der die harga einleitenden letzten Strophe der zu unserem Text V gehörenden muwassaha: kam gädatin gannat »¡cuántas doncellas cantaron!«15. Es ist nicht nur die einzelne Frau, die singt, vielmehr sind es die Lieder, die in aller Munde sind und die deshalb von allen Freundinnen des im vorangegangenen Panegyrikus besungenen Mannes, eines gewissen c Abd al-Mun c im, sehnsüchtig vorgetragen werden. Die hargas als Frauenlieder' 6 durchbrechen die erotischen Konventionen in zweifacher Hinsicht: zum einen durch die Unmittelbarkeit ihrer Sprache, zum anderen durch die Unmittelbarkeit des weiblichen Liebesverlangens. Beides hängt miteinander zusammen. Betrachten wir beides nacheinander. Die arabische Dichtung in klassischer Sprache, gerade auch die erotische (der erotische nasib ist, wie der panegyrische madih, fester thematischer Bestandteil der qaslda), kommt wie in kostbar bestickten Gewändern einher.17 Die Metaphorik ist üppig, der Schmuck der rhetorischen Figuren schwer und kostbar. Das gesuchte, seltene Wort, die artifizielle und ingeniöse Metapher, der virtuose Umgang mit den zahlreichen Zwängen der Metrik, das ist es, was für den Dichter zählt. Zitieren wir aus der muwassaha, die unserem Text V vorangeht, zwei charakteristische Beispiele. Es heißt in der zweiten Strophe: yä gusnu mä > ahlä / ganä-ka min sadri / kal-marmarin (»oh Zweig, wie süß / [ist] deine Frucht aus einer Brust / wie Marmor!«). Hierzu muß man wissen, daß der »Zweig« eine konventionelle Metapher für den aus der Breite der Hüften schlank hervorwachsenden Oberkörper ist (eine andere Metapher dafür ist die Palme, die auf der Sanddüne wächst); diese gängige, intertextuell jederzeit verfügbare Ausdrucksweise wird hier geistreich und innovativ kontrastiert mit der marmornen Festigkeit der Brüste: die Frucht aus diesem »Zweig« ist süß und marmorkühl zugleich. Zeigt dieses Beispiel, dem sich beliebig viele zur Seite stellen ließen, das kreative Potential, das ein geschlossener metaphorischer Kosmos in sich birgt, so zeigen die folgenden Verse aus derselben Strophe den virtuosen Umgang mit den Möglichkeiten der arabischen Grammatik: di mabsimi bardi / bil-miski wal-suhdi / muhattami / mufaddadi l-nahdi / muwarradi lhaddi / muna^'ami (»Sie hat einen kühl-frischen Mund [wörtlich »Lächler«], mit Moschus und Honig versiegelt; sie ist versilbert in Bezug auf ihren Busen [wörtlich »Schwellendes«], rosig [wörtlich »be-rost«] in Bezug auf ihre Wange, weich/glatt/angenehm [wörtlich »mit Grazie/Weichheit/Glätte versehen«]). Aus der Holprigkeit der Übersetzung geht schon hervor, daß diese Art von sprachlicher Virtuosität im Grunde in einer europäischen Sprache nicht wiedergegeben
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werden kann; doch auch der des Arabischen unkundige Leser wird nachvollziehen können, wie hier die — auch lautlich eindrucksvolle — Form des passiven Partizips des 5. Verbalstammes muC¡aC2C1aC3 (Ch2,3 stehen für die drei Wurzelkonsonanten) eingesetzt wird: mit vier aufeinanderfolgenden, zum Teil ungewöhnlichen Ableitungen aus Nominalstämmen (hatm »Siegel« => muhattarrr, fidda »Silber« => mufaddad\ ward »Rose« => muwarrad\ nacma »Annehmlichkeit« oder nulma »Weichheit, Glätte, Zartheit« => muna^am) wird eine poetische Dichte erzielt, die kaum zu überbieten ist. Man beachte übrigens noch den Doppelsinn der Wurzel fdd: die Grundbedeutung ist eigentlich »durchstoßen, durchbohren«, woraus sich einerseits die Bedeutung »Silber« ableitet, da Silberstücke durchbohrt werden, um an Schnüren aufgefädelt zu werden, andererseits die Bedeutung »Defloration«; in mufaddad steckt also nicht nur eine Metapher, welche die vorher zitierte Metapher »Brust = Marmor« aufgreift und originell abwandelt, sondern auch eine direkte erotische Anspielung. Von solcher Virtuosität, von einer solchen Verdichtung der poetischen Strukturen in Metaphorik und Grammatik sind wir in den hargas denkbar weit entfernt. Es ist gerade der Kontrast zwischen der preziösen, vielfältig verschlüsselten Sprache der muwassaha einerseits und der unmittelbaren, vielleicht naiven, auf jeden Fall von formalen Komplikationen, von üppiger Metaphorik und von preziöser Intertextualität freien Sprache der das Gedicht abschließenden harga andererseits, der den Reiz des Gedichtes in seiner Gesamtheit ausmacht. In dem soeben bereits behandelten Text V unserer kleinen Anthologie wird das Maximum an Metaphorik verwendet, das in den hargas üblich ist, und dieses Maximum ist ein Minimum im Vergleich zu dem Hauptteil des Gedichtes, der muwassaha: die Perlenkette des Mundes, in der muwassaha als »Geschmeide in einer Quelle aus berauschendem Wein«, als »mit Moschus und Honig versiegelte frisch-kühle Quelle des Lächelns« apostrophiert, erscheint in der harga selbst nur noch als »Perlenmund, süß wie Honig«. Die Metaphorik ist reduziert auf wenige Stereotypen. Kein kunstvoll gedrechselter Behang aus Metaphern, keine ausgefeilte Rhetorik verstellt mehr den Blick auf die Kernaussage, die der Frau, der begehrenden Liebespartnerin in den Mund gelegt wird. Die Erotik wird ihrer Künstlichkeit entkleidet und auf das Wesentliche zurückgeführt. Die sprachliche Überschreitung der erotischen Konvention läuft also auf eine Reduktion der im nadib, im erotischen Teil der qaslda, üblichen Metaphorik hinaus. Sie ist nicht mehr kunstvoll, sie wird elementar. Inhaltlich geht es dabei um die Konzentration der Erotik auf das weibliche Begehren. Während die Metaphernfülle der klassischen Dichtung immer vom Mann her konzipiert ist, sich immer auf das männliche Begehren bezieht (wobei das Objekt der Begierde nicht unbedingt weiblich sein muß: der »Schenke«, der säql, ist oft der Ephebe, der »Ganymed«, der mit seinen adoleszenten Zügen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit in der Schwebe bleibt19), sprechen die hargas ausschließlich von der weiblichen Sehnsucht, vom Begehren der Frau nach dem Liebhaber, dem hablb. Die Bandbreite des Begehrens, das in diesen Gedichten zum Ausdruck kommt, reicht von der Verzweiflung des Mädchens angesichts des säumigen Geliebten bis hin zur unverblümten Einladung zur Liebesnacht und zur Vereinigung. Der Ton der Verzweiflung ist »volkstümlich«: als Helferinnen und Ratgeberinnen im Liebesschmerz werden angerufen die Mutter (yä mammä) oder die Schwestern (ay yermanellas), jedenfalls weibliche
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Verbündete, auf die sich das liebende Mädchen bedingungslos verlassen kann. Mit wachsendem Selbstbewußtsein, wachsender Sicherheit kann auf diese Verbündeten verzichtet werden; die Einladung an den Liebhaber, den habib, erfolgt ohne Vermittlung, ohne Ratschlag und Rückendeckung. Die Sprache ist einfach, das Begehren elementar. Es bedarf keiner künstlich verklausulierten Metaphern, keiner gedrechselten Rhetorik. Das Mädchen spricht ganz unmittelbar zu ihrem habib: »Komm zu mir heute nacht, wenn nicht, komme ich zu dir; küß mich, vereinige dich mit mir!« Der äußerste Punkt ist in der (ganz überwiegend vulgärarabischen) harga 48 erreicht, wo es heißt: non t'amarey >illä kon al-sarti / J an tagmac halhäli ma'a qurti (»ich werde dich nicht lieben außer unter der Bedingung, daß du mein Fußgeschmeide mit meinen Ohrringen verbindest«). Das Selbstbewußtsein, mit dem sich weibliche Erotik hier äußert, kennt in der mittelalterlichen Literatur Europas kaum Parallelen. Innerhalb des christlichen Kulturkreises mit seiner Tabuisierung des erotischen Verlangens, des weiblichen zumal, ist dies ohnehin evident. Es gilt aber auch im islamischen Kulturkreis, wo es in einem Meer männlicher Dichter zwar durchaus eine nicht unbeträchtliche Zahl von Dichterinnen gegeben hat, wo deren Schöpfungen aber im allgemeinen nicht aus dem Rahmen des üblichen Kanons fallen. Selbst eine Dichterin wie Walläda, selbstbewußte und emanzipierte Prinzessin aus Córdoba, die zunächst Geliebte des berühmten Dichters Ibn Zaydün gewesen war, dann jedoch sich neuen Geliebten beiderlei Geschlechts zuwandte, verbleibt im Rahmen des in der klassischen Lyrik Vorgegebenen, überschreitet nicht deren Formsprache und Ausdrucksweise. Die hargas sind in diesem Kontext insofern etwas Besonderes, als hier ein elementares Verlangen, eine durch künstlerische Zwänge aller Art ungefilterte Erotik unmittelbar zum Ausdruck kommt. Paradox formuliert: gerade indem sie »volkstümlich« ist, anonym und »in aller Munde«, ist diese Frauenlyrik persönlich, authentisch und ungekünstelt. Die hargas überschreiten die Konvention der erotischen Metaphorik und bringen das weibliche Begehren direkt zur Sprache. Der Kunstgriff der — natürlich ausschließlich männlichen — Dichter der muwassahät besteht genau darin, diese Unmittelbarkeit mit der hochkomplexen, kunstvoll-raffinierten Ausdrucksweise der klassischen Dichtersprache zu konfrontieren: was wir oben als »Knalleffekt« bezeichnet haben, ist, anders gewendet, der Glanz des ungeschliffenen Edelsteins in seiner natürlichen Schönheit, der durch die kostbare Fassung der klassischen muwassaha erst richtig zur Geltung kommt. II In den hier ausgewählten hargas kommt der Zyklus des Begehrens in seinem ganzen Umfang zur Sprache: von der Klage über die Hemmnisse der Liebe und die Verzweiflung des Liebeskummers, über die Einladung zur Liebesnacht und die Erfüllung in der Vereinigung bis hin zum Abschied im Morgengrauen. Betrachten wir die Texte im einzelnen. Es gehört nicht allzu viel Phantasie dazu, in den Text I eine Tragödie nach der Art von Romeo und Julia hineinzulesen. Der filyolo alyeno kommt, außer in unserem, mehrfach überlieferten Text, auch noch in harga 37 vor, er ist also im Kontext dieser Literatur keine isolierte Gestalt. Gemeint ist wohl der Geliebte, der einem »fremden« Stamm, einer »fremden« Sippe angehört, mit der die Verbindung unerwünscht ist. Man weiß, eine wie große Rolle die Zugehörigkeit zu
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einer bestimmten Großfamilie in der arabisch-islamischen Welt immer gespielt hat und bis heute spielt. Die Liebe, die sich über solche Schranken immer wieder hinwegsetzt, hat immer wieder Tragödien hervorgerufen, deren bekannteste die von Laylä und Magnün ist, eine Geschichte, die in ungezählten Versionen überliefert ist, am prominentesten von dem persischen Dichter Nezämi (1141-1209)20. In diesem persischen Epos finden wir übrigens denselben arabischen Ausdruck für die »Aufpasser/ Sittenwächter/ Neider« wie in unserer harga: die raqibän, die im Reim parallel gesetzt werden mit den garlbän, den »Fremden«21. Wie im persischen Epos, so ist auch hier, im äußersten Westen der islamischen Welt, der Liebende ein Fremder, ein nicht zur Sippe Gehörender, der von einem »Aufpasser« (raqlb) mißtrauisch beäugt wird. Der filyolo alyeno wird ferngehalten; er kann die Geliebte nicht erreichen, weil die Angehörigen seiner und ihrer Sippe eifersüchtig darüber wachen, daß niemand »fremdgeht«. Am Rande sei erwähnt, daß dieser raqlb, wörtlich der »Beobachter«, keineswegs, wie öfter vorgeschlagen, mit dem celös der provenzalischen Dichtung gleichgesetzt werden muß; es handelt sich wohl kaum um den eifersüchtigen Ehemann, sondern eben um den Aufpasser, der über die Ehre der Sippe wacht, also eine Gestalt, die im islamischen Kulturkreis eher heimisch ist als im christlichen Abendland. Die harga II ist der Prototyp der Klage des Mädchens, das nach dem habib, dem Liebhaber, schmachtet und ihren Kummer der Mutter oder der Freundin anvertraut. Die Sprache ist hier ganz einfach, ganz direkt, übrigens auch fast ganz romanisch: nur der gängigste und häufigste Arabismus, habib, der »Geliebte« durchbricht die sprachliche Einheit. Die Liebessehnsucht kommt hier so unmittelbar und ungekünstelt zum Ausdruck wie kaum irgendwo sonst. Der erwartete Geliebte bleibt aus; das Verlangen nach ihm stürzt das Mädchen in ein Wechselbad aus Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Leben und Tod, mit den elementarsten Worten, die denkbar sind. Die Einladung zur Liebesnacht, die in der harga III ausgesprochen wird, könnte nicht direkter sein. Wenn der Geliebte nicht selbst kommt, wird sich das Mädchen auf den Weg machen und ihn suchen, wo auch immer er sich befinden mag. Wir haben hier vielleicht eine der extremsten Überschreitungen (harga im wörtlichen Sinn) in dieser ganzen Literaturgattung vor uns: die erotische Werbung geht ganz und gar von der Frau aus; das männliche Verlangen spielt keine Rolle mehr. Die Initiative, die Aufforderung, die Aktivität kommt ausschließlich von der Frau, und daß der Liebhaber im ersten Teilvers als mio sidi, als »mein Herr« (mit genuin arabischem und zusätzlich romanisch verdoppeltem Possessivum) bezeichnet wird, ist als bloßes Zugeständnis an die übliche Ausdrucksweise zu werten; auch Ruy Diaz hieß ja bekanntlich mio £id\ Man beachte übrigens den — bisher nicht beachteten — Doppelsinn, der in dem Verbum legar steckt. Man kann es einerseits, mit Solä-Sole, deuten als Form des Verbs llegar (vom lateinischen plicare), das im Altspanischen bekanntlich oft die Bedeutung »antreffen, sich verbinden, sich vereinen« hatte, vor allem in der zusammengesetzten Form allegar. Andererseits kann es aber auch mit dem heutigen Verb ligar (vom lateinischen ligare) zusammengebracht werden, das im Altspanischen noch oft die volkstümliche Form legar aufwies und das semantisch ebenfalls »sich verbinden, sich vereinen« bedeutet. In jedem Fall entspricht die Polysemie des Wortes genau derjenigen der arabischen Wurzel wsl,
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die sowohl »ankommen« als auch »sich verbinden, sich vereinen« bedeutet. Dementsprechend steht das Verbalnomen wusül für die »Ankunft«, das Verbalnomen wisäl hingegen für die »Liebesvereinigung«, während das Verbalnomen wasl für beide Bedeutungen der verbalen Wurzel stehen kann. Die in der harga vorkommende Wendung legarte kann daher einerseits als »dich treffen, ankommen bei dir« gedeutet werden, andererseits aber auch als »(mich) mit dir vereinen«. Die oben charakterisierte Ausdrucksweise der erotischen Einladung ist also noch direkter und unverblümter, aber auch raffinierter, als in den herkömmlichen Übersetzungen deutlich wird. Für die Beliebtheit der harga IV spricht die Tatsache, daß sie in drei verschiedenen Gedichten überliefert ist. Aus allen drei muwassahät geht eindeutig hervor, wie die Situation zu interpretieren ist: als Spiel der Liebenden, die sich zur Vereinigung zusammengefunden haben, einer Vereinigung, die vom Mädchen mit den Worten der harga hinausgezögert, aber natürlich nicht verhindert wird. Das Mädchen, die »Gazelle«, wie sie von Yehuda ha-Levi apostrophiert wird, kokettiert mit ihrer Unerfahrenheit; sie wehrt sich zum Schein gegen die allzu rasche Zudringlichkeit des habib. Ob er sie, je nach Variante, nicht berühren oder nicht beißen soll, in jedem Fall dient die Empfindlichkeit des Kleidchens als Vorwand, den Geliebten zurückzuhalten und ihn dadurch um so mehr zu reizen. Auch hier hat ausschließlich die Frau die Initiative; sie bestimmt das Liebesspiel, sie hat die Zügel des Begehrens in der Hand und führt ihren Partner, wohin sie will. In der harga V sind die Geliebten am Ziel. Die Aufforderungen des Mädchens sind eindeutig. Sie fuhrt die Regie, wie so oft in diesen Frauenliedern. Wie oben bereits gezeigt, ist hier die ausladende Metaphorik der klassischen Dichtung auf elementare Vergleiche reduziert, für deren Verständnis es keiner komplexen intertextuellen Bezüge bedarf: der Mund als Perlenkette, dessen Küsse süß sind wie Honig. Mehr als in den anderen Gedichten unserer kleinen Anthologie spielt hier der Klang eine entscheidende Rolle. Die Färbung auf /u/ im zweiten Teilvers (dulgel al-suhdi) korrespondiert und kontrastiert mit der Färbung des vierten Teilverses, wo außer der einleitenden Silbe ha- nur stimmhafte Konsonanten in Verbindung mit dem Vokal /i/ vorkommen. Dazu paßt die Alliteration auf stimmhaftes Ibl im dritten Teilvers (ben beiga-me) ebenso wie die Alliteration auf das ohnehin reimbestimmende stimmhafte /d/ und die Häufung von nasalen Konsonanten im fünften Teilvers (aduna-me amande). Romanische und arabische Elemente sind hier zu einer Einheit verschmolzen, deren klangliches und grammatisches Zusammenspiel die Sprachgrenze völlig ignoriert. Die Harmonie zwischen den Sprachen ist perfekt; diese Verse sind ein vollkommenes Liebesgeflüster. Obwohl sie das Wort alba enthält, wurde die harga VI bislang noch nicht als a/ba-Gedicht (Tagelied) interpretiert. Dies ist um so erstaunlicher, als die hier vorgeschlagene Deutung mit dem überlieferten Text besser übereinstimmt als die Emendationen der bisherigen Herausgeber. Es ist evident, daß ein Liebesgedicht, in dem vom Morgengrauen die Rede ist, nur Trennung und Abschied zum Gegenstand haben kann. Mit diesem Gedicht schließt sich der Kreis. Der Glanz der Morgenröte, von dem immerhin gesagt wird, daß er schön ist, verhindert die Liebe; der Zauberer, der habib, muß gehen, ehe die Wächter ihn entdecken. Wieder erscheint, wie im ersten Gedicht, das Verb vedar
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»verbieten, verhindern« im Zusammenhang mit den Liebeshemmnissen. Auch in diesem Gedicht ist der Anteil an nicht-romanischen Elementen vergleichsweise sehr gering: nur die Anrede an den »Zauberer«, den Vollender der Liebesnacht, ist arabisch. III Wir kommen zum Schluß. Die hargas sind der vollendete Ausdruck einer Kultur, die in sich reich differenziert ist und in der sich verschiedene Ebenen in fruchtbarer Synthese wechselseitig durchdringen. Sie sind ein kostbares Zeugnis der arabisch-romanischen Zweisprachigkeit, von der wir für Al-Andalus während der gesamten Periode von der islamischen Eroberung bis zur »Großen Reconquista« ausgehen müssen, also bis zu der Periode, als mit der Schlacht von Las Navas de Tolosa (1212) und dem Fall der großen Zentren Córdoba (1242) und Sevilla (1248) das Schicksal des Islam auf der Iberischen Halbinsel besiegelt war. Die Sprache der hargas zeigt, was aus dem Spanischen vermutlich geworden wäre, wenn die Reconquista erfolglos geblieben wäre: ein lexikalisch zutiefst arabisiertes Idiom auf der grammatischen Grundlage einer nichtsemitischen Sprache, vergleichbar etwa dem Persischen, dem OsmanischTürkischen oder der Urdu-Variante des Hindustani.22 Sie zeigt aber auch eine Besonderheit von Al-Andalus gegenüber der übrigen islamischen Welt: auf spanischem Boden hat sich die Umgangssprache des Volkes aus dem Ghetto der Mündlichkeit befreit und ist zu literarischen Ehren gekommen. Dies gilt für das mozarabische Romanisch ebenso wie für das dialektale Arabisch. Die spezifische arabisch-romanische Zweisprachigkeit in AlAndalus ist eingebettet in die panarabische Diglossie. Die Spannung zwischen einer für die Ewigkeit fixierten Sakralsprache mit ihren enormen Potentialitäten und ihrem unerschöpflichen intertextuellen Beziehungsreichtum auf der einen Seite, der spontanen, naiv-unmittelbaren und ungekünstelten Volkssprache auf der anderen Seite ist nirgends in der Arabischen Welt so fruchtbar geworden wie im islamischen Spanien. Nur hier finden wir ein Opus in vulgärarabischer Sprache von höchstem literarischem Rang: die zagai-Dichtung des Ibn Quzmän aus Córdoba (1086-1160); hier zum ersten Mal finden wir eine Dichtung, die sich die interne sprachliche und kulturelle Schichtung der arabischen Welt gezielt zunutze macht. Die hargas sind auf diese Weise nicht nur ein Ausdruck der Mischkultur von Al-Andalus, sie sind auch ihre schönste Blüte, eine Blüte, die sich in anderen Teilen der islamischen Welt so nicht entfaltet hat. Die hargas sind ihrem Wesen nach Grenzüberschreitungen. Die klassische arabische Dichtung ist in ihrer Tiefe und künstlerischen Dichte ein Kosmos; indes bleibt sie gerade als Kosmos in sich geschlossen und daher begrenzt. Diese Geschlossenheit wird hier aufgebrochen: durch die Verwendung einer frischen, unverbrauchten Sprache, durch die Duldung einer Spontanität, welche die menschlichen Grundgefühle unter dem klassischen Firnis neu aufbrechen läßt und sie unmittelbar zum Ausdruck bringt; und schließlich durch eine Erotik, welche die Fesseln der Konvention aufbricht und das Begehren der Frau in all seinen Stufen und Schattierungen frei sich entfalten läßt. Das christliche Spanien kennt nichts auch nur entfernt Vergleichbares. Auch wenn sich in den galicisch-portugiesischen Cantigas de amigo durchaus wörtliche Anklänge an Formulierungen der hargas finden, so ist es doch
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unverkennbar, daß wir uns dort in einer völlig anderen Welt bewegen, einer ursprünglichen, ländlichen, fast noch heidnischen Welt, in welcher der Liebesakt von der Frau als Naturereignis erlebt und erduldet wird und nur in Anspielungen zur Sprache kommen kann, in archaischen, elementaren Bildern wie dem von der Quelle und dem Hirsch: tardei, mia madre, na fontana fria / cervos do monte a augua volvian / os amores ei (»Zurück blieb ich, Mutter, an der kalten Quelle / Berghirsche kehrten zum Wasser zurück / Liebe erfüllt mich«; Pero Meogo, um 1250). Im Gegensatz dazu setzen die hargas eine verfeinerte städtische Zivilisation voraus, wie sie zur damaligen Zeit auf der Iberischen Halbinsel eben nur in Al-Andalus bestanden hat. Es muß offen bleiben, ob und in welchem Ausmaß die hargas etwas von der sozialen Realität ihrer Zeit widerspiegeln. Jedenfalls sind sie ein Ausdruck der herrschenden Ideale, und es ist unleugbar, daß diese Ideale in einem für die Zeit erstaunlichen Maß die Frau als vollwertige, ja als aktive und zuweilen beherrschende Partnerin der Liebesbeziehung akzeptieren. Die Zeit der TaifaKönige, als Al-Andalus politisch und militärisch darniederlag, dafür aber in allen Dingen der kulturellen Verfeinerung eine einmalige Blüte erlebte, war eine Zeit des friedlichen Miteinanders, der Toleranz und der gegenseitigen Befruchtung der Kulturen. Es war eine Zeit, in der auch die jüdische Kultur sich frei entwickeln konnte und mit der arabisch-islamischen eine einzigartige Symbiose einging. Die hargas finden sich ebenso in arabischen wie in hebräischen Gedichten, wobei die letzteren metrisch-formal und inhaltlich völlig mit den ersteren übereinstimmen: gerade die hebräische Literatur des spanischen Mittelalters zeigt, zu welchen Höhen eine Kultur aufsteigen kann, wenn sie sich nicht in religiöser Intoleranz, sprachlicher Isolation und selbstgefälliger Borniertheit von ihren eigenen Quellen abkapselt.23 Die Epoche der Taifa-Könige war schließlich auch eine Zeit, in der die Frau als selbstbewußter, Eigeninitiative entfaltender erotischer Partner galt, in einem Maß, wie es danach viele Jahrhunderte lang nicht mehr erreicht worden ist. Mit der Intoleranz der fundamentalistischen Bewegungen der Almoraviden und Almohaden auf islamischer Seite, mit Kreuzzugsideologie und dem späteren Aufkommen von Inquisition, Hexenwahn und Judenhaß war diese Blüteperiode zu Beginn unseres Jahrtausends bald nur noch Geschichte, ein goldener Traum, von dem die hargas wie nichts anderes eine Ahnung vermitteln.
I. Textausgaben der hargas (chronologisch) Stern, Samuel M.: »Les vers finaux en espagnol dans les muwassahs hispanohebraïques. Une contribution à l'histoire du muwasäah et à l'étude du vieux dialecte espagnol 'mozarabe'«, in: Al-Andalus 13 (1948), S. 299-463. Cantera Burgos, Francisco: »Versos españoles en las muwassahas hispanohebreas«, in: Sefarad 9 (1949), S. 197-234. García Gómez, Emilio: »Veinticuatro jaryas romances en muwaSSahas árabes«, in: AlAndalus 17 (1952), S. 57-127. Stern, Samuel M.: Les chansons mozarabes. Les vers finaux (»kharjas«) en espagnol dans les 'muwashshahs' arabes et hébreux, édités avec introduction, annotation
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sommaire et glossaire. Palermo: Manfredi 1953 [repr. Oxford: Bruno Casirer 1964], Borello, Rodolfo A.: Jaryas andalusíes. Bahía Blanca: Universidad Nacional del Sur 1959. Heger, Klaus: Die bisher veröffentlichten Hargas und ihre Deutungen. Tübingen: Niemeyer 1960. García Gómez, Emilio: Las jarchas romances de la serie árabe en su marco. Edición en caracteres latinos, versión española en calco rítmico y estudio de 43 moaxajas andaluzas. Madrid: Sociedad de Estudios y Publicaciones 1965 [zitiert nach der 2. Auflage, Barcelona: Seix Barrai 1975]. Solá-Solé, Josep M.: Corpus de poesía mozárabe (las harga-s andalusíes). Barcelona: Hispam 1973. Frenk Alatorre, Margit: Las jarchas mozárabes y los comienzos de la lírica románica. México: El Colegio de México 1975. Gäzi, Sayyid: Diwän al-muwassahät al-'andalusiyya. Al-'Iskandariyya 1399 H. [1979], Jones, Alan: Romance Kharjas in Andalusian Arabic Muwassah Poetry: a Paleographical Analysis. Oxford: Ithaca Press 1988. Corriente, Federico: »Nueva propuesta de lectura de las xarajät de la serie árabe con texto romance«, in: Revista de Filología Española 73 (1993), S. 25-41.
II. Andere Textausgaben
und kritische Literatur
(in
Auswahl)
Alonso, Dámaso: »Cancioncillas 'de amigo' mozárabes (primavera temprana de la lírica europea)«, in: Revista de Filología Española 33 (1949), S. 297-349 [wieder in ders.: Primavera temprana de la literatura europea: Urica — épica — novela. Madrid: Guadarrama 1961, S. 17-79], Alonso, Dámaso: »Un siglo más para la poesía española«, in: ABC vom 29. 4. 1950 [wieder in ders.: De los siglos oscuros al de Oro. Madrid: Gredos 1958, S. 29-34], Baehr, Rudolf (Hg.). Der provenzalische Minnesang. Ein Querschnitt durch die neuere Forschungsdiskussion. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967. Baer, Yitzchak: »Ha-macav ha-politi gel yahude Safarad ba-doro sei Rabbi Yahuda haLewi« [»Die politische Situation der Juden Spaniens in der Generation von Yehuda Ha-Levi«, hebr.], in: Sion 1(1936), S. 6-23. Bataille, Georges: L'érotisme. Paris: Minuit 1957. Bossong, Georg: »Moriscos y sefardíes: variedades heterodoxas del español«, in: Christoph Strosetzki/ Jean-François Botrel/ Manfred Tietz (Hg.), Actas del I Encuentro Franco-Alemán de Hispanistas. Frankfurt/Main: Vervuert 1991, S. 368-392. Bossong, Georg: »Hebräische Dichtung im maurischen Spanien«, in: Theo Stemmler (Hg.), An die Gottheit. Bittgedichte aus zwei Jahrtausenden. Mannheim/ Tübingen: Forschungsstelle für europäische Lyrik u. Gunter Narr 1993, S. 169-194. Cantera Burgos, Francisco: La canción mozárabe. Santander: Publicaciones de la Universidad Internacional Menéndez Pelayo 1957. Carrillo Alonso, Antonio: La poesía tradicional en el cante andaluz. De las jarchas al cantar. Sevilla: Editoriales Andaluzas Unidas 1988. Corriente, Federico: Gramática, métrica y texto del cancionero hispanoárabe de Aban Quzmán (Reflejo de la situación lingüística de Al-Andalus tras concluir el período de las Taifas). Madrid: Instituto Hispano-Arabe de Cultura 1980.
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Zwartjes, Otto: »Hacia una nueva interpretación del término markaz (harga)«, in: Al-Qantara 10 (1989), S. 233-256. III.
Anmerkungen
1 Solà-Solé, 1973: 129-136 (Heger, 1960: 150-155; García Gómez, 1965: 298-313). Es handelt sich um eine harga, die in zwei arabischen und einer hebräischen muwassaha überliefert ist: von Abü Bakr Yahyà al-Saraqustï al-Gazzär (»der Fleischer aus Zaragoza«, um 1080); von Abü Bakr Yahhyà ibn Muhammad ibn c Abd al-Rahmän al-Qaysï ibn Baqï (aus Córdoba, gest. 1145); und von Mose ibn c Ezra
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(aus Granada, um 1055-1139). — Die immensen Schwierigkeiten bei der Deutung der hargas sind bekannt: Kopisten, die den Text nicht verstehen; Wiedergabe des Textes in semitischen Schriften mit abweichenden Konsonantensystemen und fehlender bzw. mehrdeutiger Angabe der Vokale; zahlreiche Verwechslungsmöglichkeiten ähnlicher Buchstaben in beiden Alphabeten (allerdings jeweils unterschiedlich im arabischen und hebräischen Alphabet, was die Aufgabe wiederum erleichtern kann); Abweichungen des Mozarabischen von anderen iberoromanischen Dialekten, wobei diese Abweichungen teilweise nur in den hargas selbst überliefert sind, wodurch die Gefahr von Zirkelschlüssen entsteht. Daher wurden von vornherein nur solche hargas ausgewählt, bei denen die Deutung auf relativ sicheren Füßen steht; es gibt viele hargas, deren Interpretation im Grunde immer noch weitgehend spekulativ ist. Bei wiederholtem Durchdenken der vorgeschlagenen Lösungen bin ich zu teilweise abweichenden Lösungen gelangt, die hier jeweils nach der Angabe von Quelle und Fundort kurz begründet werden. Im Wesentlichen basiert der Text auf Solá-Solé; darüber hinaus wird auf Heger und Garcia Gómez verwiesen. Die paläographische Ausgabe von Jones wurde eingesehen. Außer in einem Fall (S.u. V) wurden die neuen Deutungen von Corriente nicht berücksichtigt, da sie meiner Auffassung nach zu artifiziell sind. — Da der Text der harga I in drei verschiedenen Versionen überliefert ist, zweimal in arabischer und einmal in hebräischer Schrift, ist die Textdeutung relativ sicher. -3. Teilvers: ed statt e in Übereinstimmung mit zwei Mss. und der Metrik; -5. Teilvers: betare (asp. vedar) statt katare in Übereinstimmung mit zwei Mss., dem Sinn — und mit García Gómez. 2 Solá-Solé, 1973: 263-265 (Heger, 1960: 97-102). Diese harga ist überliefert in einer hebräischen muwassaha von Abraham ben Me'ir ibn c Ezra (aus Tudela, um 1092-1167). Der Text ist sicher und unkontrovers. 3 Solá-Solé, 1973: 115-119 (Heger, 1960: 118-121; García Gómez, 1965: 75-85). Diese harga ist in einer arabischen muwaSSaha von Muhammad ibn c Ubäda alQazzäz al Malaql (»der Seidenhändler aus Malaga«, um 1080) überliefert. — Der Text dieser harga ist insgesamt relativ sicher, mit gewissen Kontroversen. -2. Teilvers: mit Solá-Solé optiere ich für das lautgesetzlich plausiblere tu uemne (gegen García Gómez nuemne); die Lautform dulge ist für einen Dialekt des spanischen Diasystems plausibler als das von allen Interpreten angesetzte dolge (der Konsonantentext bietet keine Handhabe); -7. Teilvers: gar-me ob statt gari-me a ob in Übereinstimmung mit der Grammatik, dem Metrum — und dem Ms. 4 Solá-Solé, 1973: 201-209 (Heger, 1960: 79-82; García Gómez, 1965: 237-253). Diese harga ist (mit einer Variante) in zwei arabischen und einer hebräischen muwassaha überliefert: von Abü Bakr Yahhyä ibn Muhammad ibn c Abd al-Rahmän al-Qaysi ibn Baql (aus Cordoba, gest. 1145); von Abü Bakr Muhammad ibn Ahmad ibn Ruhaym (aus Boncairente (Valencia), um 1125); und von dem berühmten Klassiker der hebräischen Literatur, Abu 1-Hasan Yahuda ben Samu'el ha-Lewi (Jehuda Ha-Levi, aus Tudela, vor 1075 nach 1145). — Obwohl der Text dieser harga in vier Mss. überliefert ist, bleibt eine gewisse Unsicherheit, vor allem im letzten Teilvers. -2. Teilvers: ka encara statt fa-encara in Übereinstimmung mit einem Ms. und mit der Grammatik (die Verbindung des romanischen Adverbs mit einer arabischen Konjunktion wäre denn doch ungewöhnlich). 5 Solá-Solé, 1973: 267-270 (Heger, 1960: 162; García Gómez, 1965: 367 376). Diese harga ist in einer arabischen muwassaha von Abü Bakr Yahhyä ibn alSayrfi al-Garnäti (»der Geldwechsler aus Granada«, gest. 1174) überliefert. — Der
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Text ist im Detail etwas weniger sicher als in den anderen hier behandelten hargas; ich schließe mich insgesamt der plausiblen Interpretation von Solà-Solé an (zu dulge siehe oben Anm. 3); die Ausnahmen finden sich im 5. und 6. Teilvers. -5. Teilvers: hier ziehe ich die Deutung von García Gómez vor (das Verbum adunar »sich vereinigen« ist auch sonst belegt; amande paßt im Reim besser als die Lösung von Solà-Solé; es könnte auch eine Form von amante sein; jedenfalls stimmt die Gesamtdeutung besser mit dem Ms. überein als der Vorschlag von Solà-Solé {ad union amando). -6. Teilvers: hier übernehme ich ausnahmsweise den — meiner Auffassung nach zweifellos richtigen — Lösungseinfall von Corriente; die Emendation betrifft ein winziges, graphisch absolut einleuchtendes Detail, und Sinn und Rhythmus passen hervorragend. 6 Solà-Solé, 1973: 73-77 (Heger, 1960: 129-130; García Gómez, 1965: 1965: 121-133). Diese harga ist in zwei arabischen muwaiSahät überliefert: von Abü 1Walïd Muhammad ibn c Abd al- c Azïz ibn al-Mu c allim (Wesir des Königs Mu'tadid von Sevilla, reg. 1053-1075) und von einem anonymen Autor. — Der Text wird teilweise kontrovers interpretiert. Im Unterschied zu bisherigen Deutungen trägt die hier vorgeschlagene Lesart der Tatsache Rechnung, daß das Morgengrauen nicht Vereinigung, sondern Trennung der Liebenden bedeutet. -1. Vers: bay statt ben in Übereinstimmung mit dem Ms. und mit dem Sinn (der Liebhaber wird bei Anbruch der Morgenröte zum Gehen, nicht zum Kommen aufgefordert!); -2. Vers: (romanisch) bei statt (arabisch) bil- in Übereinstimmung mit früheren Deutungen und unter Vermeidung einer grammatischen Gewaltsamkeit; -3. Vers: beda statt pide (die alba begünstigt die Liebe nicht, sondern verhindert sie!). 7 Vgl. unter anderem Frings 1951, Menéndez Pidal 1951, Spitzer 1952 und 1962, Frenk Alatorre 1953, Zumthor 1954, García Gómez 1956, Ross 1956, Roncaglia 1957, Mettmann 1958, Le Gentil 1963, Stern 1964. 8 Vgl. jetzt auch Zwartjes 1989. 9 Dieser Ausdruck durchaus auch im Sinne von Bataille 1957, vgl. Teuber 1992. 10 Sein im übrigen ganz aus qasïdât bestehendes Opus enthält allerdings auch zwei muwassahät, vgl. u.a. Petit/ Voisin, 1989: 216-231. 11 Vgl. dazu jetzt auch Lafont 1990. 12 Dieser Ausdruck von Alfred Weber wird zitiert von Curtius, 1948: 35. 13 Ibn Quzmän aus Córdoba (nach 1086-1160) hat in seiner zagai-Dichtung die dialektale Umgangssprache von Al-Andalus zu ungeahnten literarischen Höhen geführt; vgl. vor allem García Gómez 1972 sowie Corriente 1980 und 1984. 14 Zitiert nach Heger, 1960: 187. 15 García Gómez, 1965: 374; Solà-Solé, 1973: 268. 16 Vgl. Rubiera Mata, 1990 und 1992: 158ff. 17 Vgl. neben vielen anderen, Pérès 1983. 18 Zitiert nach García Gómez, 1965: 370. 19 Vgl. unter vielem anderem Scheindlin, 1986: 82ff. 20 Zur ersten Orientierung über dieses Werk vgl. die ausfuhrliche Inhaltsangabe im Neuen Kindler Literaturlexikon, Bd. 12, 376-378. 21 Nezâmi, 1347 H, S. 46; vgl. Gelpke, 1963: 30. 22 Vgl. zu diesem Gedanken auch Bossong 1991. 23 Vgl. auch Bossong 1993.
Winfried Kreutzer
Juan Ruiz, Arcipreste de Hita. Cántica de Serrana Libro de Buen Amor, 959-971
959 Passando una mañana el puerto de Malangosto, salteóme una serrana al assomante del rostro: »Hadeduro«, diz, »¿dónde andas?, ¿qué buscas o qué demandas 964 por aqueste puerto angosto?« 960 Dixle yo a la pregunta: »Vóme para Sotosalvos.« Diz: »El pecado t' barrunta en fablar verbos tan bravos, que por esta encontrada que yo tengo guardada, non passan los omnes salvos.« 961 Paróseme en el sendero la gaha, roín e heda: »Alahé«, diz, »escudero, aquí estaré yo queda, fasta que algo me prometas: por bien que te arremetas non passarás la vereda.« 962 Dixle yo: »Por Dios, vaquera, non me estorves mi jornada: tuelte e dame carrera, que non trax para ti nada.« Ella diz: »Dende te torna, por Somossierra trastorna, ca no avrás aquí passada.« 963 La chata endiablada, ¡que Sant Illán la cofonda!,
arrojóme la cayada e rodeóme la fonda, enabentó el pedrero: »¡Par el Padre verdadero tú m' pagarás oy la ronda!« Fazié nieve e granizava. Díxome la chata luego, hascas que me amenazava: »Págam; si non, verás juego.« Dixle yo: »Par Dios, fermosa, dezirvos he una cosa: más querría estar al fuego.«
965 Diz: »Yo t' levaré a casa, demostrart' he el camino, fazert' he fuego e brasa, dart' he del pan e del vino; ¡alaúd! prometme algo, e tenert' he por fidalgo: ¡buena mañana te vino!« 966 Yo, con miedo, arrezido, prometíl una garnacha, e mandél, para el vestido, una broncha e una prancha. Ella diz: »¡Doymás, amigo! (C) anda acá, tréte comigo, non ayas miedo al escacha.« 967 Tomóm rezio por la mano, en su pescuezo me puso como a furrón liviano e levóm la cuesta ayuso:
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WINFRIED KREUTZER
»Hadeduro, non te espantes, que bien te daré qué yantes, como es de sierra uso.« 968 Púsome mucho aína enna venta con su enhoto; diome foguera de enzina, mucho ga?apo de soto, buenas perdizes assadas, hogazas mal amassadas, e buena carne de choto; 969 de buen vino un quartero, manteca de vacas mucha, mucho queso assadero, leche, natas e una trucha. Dize luego: »Hadeduro, comamos deste pan duro,
después faremos la lucha.« 970 Desque fui poco estando, fuime desatiriziendo; como me iva calentando, assí me iva sonriendo; oteóme la pastora, diz: »Ya compañón, agora...« »¡Creo que vo entendiendo!« 971 La vaqueriza traviessa dize: »Luchemos un rato: liévate dende apriessa, desbuélvete de aqués hato.« Por la moñeca me priso, ove a fazer quanto quiso. ¡Creet que fiz buen barato!*
Gesang von der Gebirglerin Als ich an einem Morgen / über den Paß von Malangosto ging, / überfiel mich eine Gebirglerin, / als ich mein Gesicht zeigte: / »Armer Teufel,« sagt sie, »wohin gehst du? / Was suchst du oder was willst du / auf diesem Engpaß?« Ich sagte auf die Frage: / »Ich gehe nach Sotosalvos.« / Sie sagt: »Der Teufel ist dir auf der Spur, / daß du so unerschrockene Worte sprichst, / denn an diesem Ort, / den ich besetzt halte, / kommen die Menschen nicht heil vorbei.« Mir stellte sich in den Pfad / die Räudige, Gemeine, Häßliche: / »Wahrhaftig« sagt sie, »Knappe, / hier werde ich ruhig stehen, / bis du mir etwas versprichst: / auch wenn du vielleicht angreifst, / du wirst nicht den Fußpfad weitergehen.« Ich sagte ihr: »Bei Gott, Kuhhirtin, / verdirb mir nicht meine Tagesreise: / geh weg und gib mir den Weg frei, / denn ich bringe nichts für dich mit.« / Sie sagt: »Geh zurück von hier, / wende dich nach Somosierra, / denn hier wirst du kein Vorbeikommen haben.« Die verteufelte Bäuerin / — der heilige Julian soll sie verderben! — / warf den Hirtenstab nach mir, / und schwang nach mir die Schleuder, / sie ließ den Stein los: / »Beim wahren Vater, / du wirst mir heute die Zeche zahlen!« Es schneite und hagelte. / Da sagte mir die Bäuerin, / fast drohte sie mir: / »Zahle mir, wenn nicht, wirst du sehen, was passiert.« / Ich sagte zu ihr: »Bei Gott, Schöne, / ich muß euch etwas sagen: / lieber wäre ich am Feuer.« Sie sagt: »Ich werde dich nach Hause bringen, / ich werde dir den Weg zeigen, / ich werde dir Feuer und Glut machen, / ich werde dir vom Brot und vom Wein geben; / bitte! versprich mir etwas, / und ich werde dich als einen Edlen behandeln: / ein guter Morgen kam für dich!« Voll Angst, gefroren, / versprach ich ihr ein langes Bergbäuerinnenkleid / und sagte ihr für das Kleid / eine Brosche und ein Schmuckplättchen zu. / Sie sagt:
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»Ich gebe mehr1, Freund! / Geh dorthin, komm mit mir, / hab keine Angst vor dem Reif.« Sie griff mich fest bei der Hand, / setzte mich auf ihren Nacken / wie eine leichte Hirtentasche / und trug mich den Abhang hinunter: / »Armer Teufel, rege dich nicht auf, / denn ich werde dir gut zu essen geben, / wie es im Gebirge Brauch ist.« Sehr bald setzte sie mich / in das Haus mit seiner Gemütlichkeit; / sie gab mir Scheite aus Eichenholz, / viel vom Waldkaninchen, / gute gebratene Rebhühner, / schlecht geknetete Brotlaibe / und gutes Fleisch vom Zicklein. Ein Viertel guten Wein, / viel Kuhbutter, / viel Rauchkäse, / Milch, Sahne und eine Forelle. / Dann sagt sie: »Armer Teufel, / laß uns von diesem harten Brot essen, / danach werden wir den Kampf machen.« Als ich ein bißchen da war, / verlor ich nach und nach das Frieren; / wie ich langsam warm wurde, / so lächelte sie mir langsam zu; / die Hirtin starrte mich an, / sie sagt: »Genosse, jetzt...«/ — »Ich glaube, ich verstehe schon!« Die kecke Kuhhirtin / sagt: »Kämpfen wir ein Weilchen: / steh schnell von da auf, / ziehe dir diese Kleider aus.« Sie griff mich beim Handgelenk, / ich mußte tun, soviel sie wollte. / Glaubt, daß ich billig kaufte! *
Das Libro de Buen Amor des Juan Ruiz, Arcipreste de Hita, von dem zwei Fassungen, die von 1330 und eine erweiterte von 1343, existieren, gehört zu den bedeutendsten Werken des spanischen Mittelalters. Der Autor ist, abgesehen von Angaben, die er selbst in seinem Werk macht, deren wörtliche Richtigkeit aber von der Kritik in mehr oder weniger großem Umfang in Zweifel gezogen wird, biographisch kaum faßbar, dürfte aber durchaus in Klerikerkreisen mit Verbindung zum Goliardenmilieu zu suchen sein. Der heute allgemein akzeptierte Titel des Buches wurde, gestützt auf eine im Text enthaltene diesbezügliche Bemerkung, von Menéndez Pidal geprägt. Das Buch, das in drei Manuskripten vorliegt (G, T und S), gibt auch heute noch hinsichtlich seiner Deutung der Forschung Fragen auf, besonders infolge seiner Struktur, die trotz der Verwendung verschiedenster Textsorten, Sprechhaltungen, Themen und einer nicht eindeutig konsistenten Protagonistenfigur zu kohärent ist, als daß man sie als willkürlich auffassen könnte, wobei es andererseits aber auch schwer fallt, eine konkretere Intention oder Gesamtaussage zu definieren, sieht man davon ab, daß das Thema der Liebe in den verschiedensten Ausprägungen im gesamten Werk präsent ist. Der vorliegende Text gehört zu einem innerhalb des Buches deutlich abgesetzten Block von vier cánticas de serrana, die jeweils ein zufalliges Zusammentreffen mit einem Bauern- oder Hirtenmädchen bzw. einer Bauersfrau oder Hirtin im Frühling auf einem Gebirgspfad oder einer Talweide, in der ersten Person und stark dialogisiert dargestellt, berichten. Der Protagonist, ein Fremder, bittet um Wegauskunft, Nahrung und Unterkunft und bekommt Gegenforderungen in verschiedener Form gestellt (Bezahlung, Sexualität, Heirat, Geschenke). Die Antwort impliziert das 'Ergebnis' der jeweils auf eine Klimax angelegten Gedichte. Den cánticas geht jeweils ein Vorspann voraus, der sich, in der prosodischen Form des mester de clerecía, der cuaderna vía, ebenfalls auf das im Gedicht geschilderte Geschehen, freilich in jeweils unterschiedlicher
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Weise und Ausdehnung, bezieht. Der obenstehende Text ist die erste dieser cánticas. Die Einleitung in der cuaderna vía bringt einerseits zusätzliche nähere Details (als Zeitangabe der Tag des Heiligen Emeterius, d.h. 3. März; den Verlust des Maultiers; die Selbstvorstellung der »serrana« unter der Bezeichnung »la chata«), erzählt wortreicher und expliziter, zeigt eine deutliche Neigung zur Einarbeitung von Zitierungen, Sprichwörtern und einschlägigen Redensarten sowohl in der Erzähler- als auch in der Figurenrede (cf. das einleitende »Provar todas las cosas el apóstol manda«, 950a; »Quien pide no escoge«, 956a; u.a.) und endet damit, daß die »chatas den Protagonisten auf dem Rücken durch das schwierige Gelände trägt; »fiz de lo que i passó lás coplas deyuso puestas« (95 8d). Die darauf folgenden coplas (959-971) sind reimende Achtsilbler, in dreizehn Strophen mit jeweils dem Reimschema a b a b c c b angeordnet (somit keine zéjeles oder estribotes, wie gelegentlich in der Kritik angegeben), die in chronologischer Reihenfolge, bei klar abgrenzbaren Handlungsschritten, einen Vorgang erzählen: das Zusammentreffen mit der »serrana«- und ein erster erfolgloser Versuch des Erzählers, sich zunächst noch etwas unwirsch den Weiterweg verbal zu erzwingen, enden mit der demonstrativ gewalttätigen Drohgebärde der »serrana« (die Schleuder) (959-963). Die prekäre Lage des Wanderers und weitere Drohungen der »serrana« lassen ihn einlenken; die »serrana« ihrerseits bietet ihm Essen und Unterkunft an und der Wanderer verspricht ihr — nochmals unter Hinweis auf die mißlichen Umstände (966) — Kleidung und Schmuck (964-966). Die »serrana«, erheblich zugänglicher geworden (966g; 967e s.), nimmt ihn mit in ihre Hütte, verköstigt ihn reichlich und formuliert affirmativ das weitere Programm: »la lucha« (969g). Das Verhalten der »serrana« angesichts des wachsenden Wohlbefindens ihres Gastes lassen diesen schließlich begreifen, was von ihm erwartet wird (970). Die Schlußstrophe räumt auch für den noch unsicheren Leser jeden Zweifel über das Gemeinte aus: der Gast ergibt sich in das angesichts des Kräfteverhältnisses Unvermeidliche. Der Schlußvers — wie auch immer zu interpretieren — scheint die Peinlichkeit der Situation gegenüber dem Leser witzig entschärfen zu wollen. Unbestreitbar ist die realistische Tendenz der Textanlage. Sie erscheint nicht nur in den geographisch lokalisierbaren Ortsangaben in der Sierra zwischen Hita und Segovia und der realistischen Notierung der Wetterverhältnisse. Costumbristisch ist die Darstellung des Mahles bzw. die Aufzählung der Speisen (neben guten Dingen auch die »hogafas mal amassadas«), aber auch die präzise Nennung der Kleidungs- und Schmuckstücke, die der Wanderer verspricht. Die Einnahme von Wegzöllen und Führung von Reisenden durch Hirtinnen sowie die Teilnahme von Mädchen und Frauen an rustikalen »luchas« im sportlichen Sinne scheint belegt.2 Die Umstände wirken in direkter Weise — als Einsamkeit, Hunger und Kälte, aber auch langsames 'Auftauen' des Gastes —, auf den Geschehensablauf. Realismus erscheint auch in der sorgfaltig ausgearbeiteten Strategie des Dialogs bzw. des handelnden Miteinanders der beiden Figuren und einer zumindest rudimentären, wenn auch typisierenden Charakterzeichnung: einerseits der Primitivität der »serrana«, die in ihrer spontanen Gier nach 'Geschenken' in jeder Form und dem selbstverständlichen Einsatz ihrer physischen Überlegenheit zum Ausdruck kommt, aber auch in ihrem raschen Sinneswandel angesichts der Versprechungen des Wanderers, wobei die Dar-
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Stellung ihres Verhaltens freilich auch eine gewisse Bauernschläue suggerieren mag: Warum gibt sie sich so rasch mit einem absolut unsicheren Versprechen ohne jede Sicherheit zufrieden? Kaschierung einer angesichts der erkannten oder vermuteten Mittellosigkeit des Wanderers eingeleiteten Rücknahme ihrer ursprünglichen Forderung, die ihr auf jeden Fall andere Befriedigungen sichern wird (und ob der Wanderer wirklich so mittellos ist, wird sich spätestens bei der »lucha« herausstellen...)? Oder wirkliche Naivität bzw. Dummheit, die im vorliegenden Fall freilich unwahrscheinlich wirken müßte, denn die Serratia stellt ihr Vorgehen als öfter geübt dar (in diesem Fall erhielte auch zumindest der Vers 960g eine durchaus sexuelle und als witzig intendierte bzw. empfundene Sinnkomponente). Oder wäre diese Naivität Teil eines literarischen Topos der »serrana«, von dessen Strukturierung vor und neben dem Libro de Buen Amor wir freilich nichts wissen3? Immerhin besteht die Pointe der vierten cäntica darin, daß die »serrana« eben nicht auf Versprechungen eingeht; die dritte »serrana« formuliert zwar Wünsche und erhält Versprechungen, erbringt aber keine Vorleistung; in der zweiten Begegnung wiederum spielen Versprechungen keine Rolle. Äußerlich erscheint die serrana der ersten cäntica zwar als häßlich (z.B. »chata«) und unweiblich, aber nicht als groteske Karikatur wie jene im Vorspann der vierten Begegnung. Der »serrana« steht der als Protagonist fungierende Ich-Erzähler in durchaus unheroischer Rolle gegenüber: zunächst etwas forsch, auf Drohungen dann zurückweichend, beeinflußt von physischen Mißlichkeiten, verlockt von Gedanken an ein angenehmeres Ambiente, das ihm schließlich auch die nolens-volens erfolgende Hinnahme einer argen Minderung seiner Manneswürde erleichtert, eine Situation, die er mit einem schließlichen Scherz gegenüber dem Leser als doch noch gewinnbringend — und damit der eigenen Würde weniger abträglich — zu retten sucht. Als Mensch, der aus Mißlichkeiten das Beste zu machen sucht und sich bemüht, sein wenig ideales Verhalten doch noch als möglichst wenig ehrenrührig hinzustellen, präsentiert sich dem Leser der mittelmäßige Protagonist des dargestellten Vorkommnisses. Realistisch, zumindest im Sinne des Costumbrismo, ist zweifellos auch die Sprachgebung intendiert: einerseits in der Direktheit und Gegenständlichkeit der Erzählersprache, andererseits in der costumbristischen Tönung des ländlichen Ideolekts der »serrana«. Gerade in diesem Bereich entgehen freilich dem modernen Leser wohl für den Zeitgenossen amüsante Details: Was mag emotional ein Wort wie das offenbar gebirglerisch wirken sollende »hadeduro« (959e; 967e; 969e), nach Corominas4 »desdichado« bedeutend, konnotiert haben (oder das in anderen Mss. an diesen Stellen erscheinende »fade maja«)? Das gleiche gilt für das recht kernig klingende »El pecado t'barrunta« (960c). Klang in »la chata« noch die ursprüngliche Bedeutung (»plattnasig«) durch oder hatte das Lexem bereits generellen oder figurativen Sinn? Welche Tönung hatte im Munde der serrana das »¡Alaüd!« (965e), dessen Bedeutungsfeld Corominas mit »por favor, por cortesia«5 angibt. Was bedeutet das in seinem wörtlichen Sinne an dieser Stelle des Geschehnisablaufs doch etwas merkwürdig plazierte »comamos deste pan duro« (969f)? Hinweis auf die »hogafas mal amassadas«? Standardisierte ländliche Form, sich auf das Essen zu beziehen, das hier freilich eher gut und reichlich ist (also Ironie des Erzählers — oder der »serrana«)? Unklar ist bisher auch in seiner exakten Bedeutung der pointierende Schlußvers (971g): »Es war ein gutes Geschäft«? »Die ganze Geschichte kostete mich recht
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wenig«? Oder: »Ich hab's ihr tüchtig besorgt!«?6 Oder möglicherweise das Gegenteil? Oder soll suggeriert werden, daß er dem Ganzen letztlich entgangen ist7, was vom sprachlichen Kontext aus gesehen aber eher unwahrscheinlich ist? Neben dem spontanen denotativen Erzählen einer Begebenheit, die in erheiternder Darstellung zeigt, wie man in einem gewissen Mittelmaß aus Gewünschtem und Gegebenem aus den Umständen das Beste machen kann — eine Ideologie des Mittelmaßes und praktischer Weltklugheit, jedenfalls aber eine Weltsicht, die weit entfernt ist von transzendental und sozial fundiertem Idealismus und höfisch-feudaler Selbstaffirmation — ist eine parodistische Intention der Darstellung offensichtlich. Parodiert wird zunächst im weitesten Sinne das höfisch geprägte Liebes- und Schönheitskonzept, seine Rituale und Darstellungsformen, wie es im Libro de Buen Amor etwa in der Liebe der Nonnen, hier in Bezug auf Dona Garoza, erscheint: »en noblezas de amor ponen toda su hemencia« (1338d): Como imagen pintada, de toda fermosura, fijasdalgo, muy largas e francas de natura, grandes doneaderas; amor siempre les dura; comedidas, cumplidas e con toda mesura [...] (1341) Im besonderen bezieht sich die Parodie wohl freilich auf das Genre der pastourelle provenzalisch-französischer Herkunft: ein Ritter trifft ein Hirtenmädchen und versucht, sie durch Versprechungen und Komplimente zur Liebe zu bewegen. In sehr vielen Fällen freilich handelt er sich eine mehr oder weniger höfliche Abfuhr des Mädchens ein. Diese lyrische Gattung, die auf volkstümliches Dichten zurückgehen dürfte und die durch die Troubadours und juglares eine weitere künstlerische Ausgestaltung erfahren hatte, verbreitete sich auf der iberischen Halbinsel sowohl in der Phase der galicisch-portugiesischen Dichtung wie auch, nach Annahme Menendez Pidais u.a., durch kastilische juglares und Goliarden8, wobei freilich nicht ausgeschlossen werden kann, daß es nicht vorher bereits Parodien dazu gegeben haben könnte. Auch darf nicht vergessen werden, daß die pastourelle — und die ihr im iberischen Raum vor allem entsprechende serranilla9 — an sich bereits ironisch angelegt ist und keine der Personen, die sich in ihr gegenüberstehen, »eine sehr brillante Rolle spielt«10. Die vorliegende cäntica erweist, wie in ähnlicher Weise auch die anderen dieses Komplexes, in der Übernahme bzw. direkt entgegengesetzten Darstellung einzelner Elemente ihren Bezug auf die Pastourelle: wie in der Pastourelle herrscht Frühling, aber bei eisiger Kälte, und nicht in amöner Landschaft, sondern in der Unwegsamkeit und Öde der Sierra; das Mädchen erregt nicht durch ihre Schönheit die Aufmerksamkeit des in heiterer Stimmung dahertrabenden Ritters, sondern sie ist häßlich und zwingt den sich zu Fuß voranquälenden durch ihre Aggressivität zum Anhalten, wobei er bald zum sexuell Verfolgten wird. Das Versprechen von Geschenken dient nicht der Verfuhrung, sondern der Selbstverteidigung. Das Mahl wird nicht zur genußvollen Präliminarie der Verführung, sondern soll das intendierte Opfer für die lucha zu Kräften bringen. Ovidische Verführungskunst wird duch offen gezeigte Lüsternheit ersetzt; die schließliche Niederlage des Opfers wird augenzwinkernd als positiv gesehen.
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Es ist offensichtlich, daß die cántica systematisch zur Erzeugung komischer Effekte auf die Pastourelle Bezug nimmt." Eine weitere mögliche Sinnebene scheint zunächst weniger naheliegend, kann aber, besonders im Gesamtkontext des Buches und im Hinblick auf die symbolisch-allegorische Perspektive, die wohl integrierender Bestandteil der Kulturtechnik des Lesens, aber auch anderer Formen kulturellen Verhaltens im Mittelalter war, nicht von der Hand gewiesen werden12: vor allem Casalduero nimmt einen ausschließlich allegorischen Sinn für die Serrana-Episoden an, basierend auf der Deutung des Gebirges und der Öde der Landschaft als Raum der Sünde.13 Besonders explizit folgt Beltrán dieser Perspektive. Er geht von den auffallig genauen Zeit- und Ortsangaben in der ersten Serrana-Episode, aber auch den anderen aus, und der Rolle des 3. März, der als Tag des Hl. Emeterius sozusagen ein erotisch signifikanter Tag war: der Heilige wurde gegen Unfruchtbarkeit der Frauen angerufen und die Wallfahrten zu seinen Stätten waren bekanntermaßen Anlässe zu außergewöhnlicher sexueller Aktivität; sein Weg zum Martyrium enthält ebenfalls direkt antithetische Elemente zur Reise des Erzählers. Beltrán deutet den Aufstieg des Wanderers aus der Stadt, wo er aus Kummer über den Tod der jungen dueña und Geliebten krank daniedergelegen war, als einen 'Aufstieg' in die Welt der Materie und einen Rückschritt aus der Frühlingswelt der Täler in die Kälte und den Winter. »Der Zeit- und Raumsinn scheint sich in dieser Suche nach dem Instinktiven und Infrahumanen, die unter dem Zeichen der Auferstehung beginnt [...], umzukehren. Die offensichtlichen Widersprüche wirken nicht mehr so absurd, wenn wir daran denken, daß mit der Selbst-Behauptung des Fleisches der Geist in die Agonie tritt, daß, wenn der Mensch zur fast reinen Materie wird, der Geist auf dem Weg zur Hölle ist.«14 In dieser der christlich zivilisierten Welt der Stadt entrückten Ode — man erinnere sich, daß dieser Zustand der Welt als Folge der Erbsünde aufgefaßt und die »loca deserta« als Aufenthaltsort böser Geister bzw. des Teufels angesehen wurden (Versuchung Jesu, Matth. 4,1s. u.ö.; böse Geister, Luk. 8,29; 11,24) — vollziehen sich weitere Inversionen: mit der »hembra«, die die Initiative über den Mann ergreift, dominiert ein niederer Teil der Schöpfung. Bedenkenswert erscheint auch Beltráns Hinweis, daß in der Welt der serranas nie von Liebe die Rede ist, sondern blanke »lujuria« herrscht; auch dem Wunsch nach 'Heirat' (»desposar«; »casar«) der dritten und vierten serrana schreibt Beltrán vornehmlich sexuelle und nicht christlich-sakramentale Konnotationen zu. Er erinnert im weiteren an Frühlingsfeste mit ihren ordnungsumkehrenden Implikationen, vor allem an die in einigen Städten Spaniens am 5. Februar (Santa Agueda, was an Gadea de Riofria, die zweite serrana, erinnert) instituierte Weiberherrschaft, die sich vor allem 'gegen' Unverheiratete und zufallig anwesende fremde Besucher richtete. Mit der vierten serrana kommt der Wanderer wieder in die Ebene und findet mit dem Gedicht über die Passion Christi an Santa María del Vado aus der fleischlichen Irrnis zurück.15 Die Deutung der cánticas als Parodien höfischer Lyrik, insbesondere der Pastourelle, oder ihre anagogische lectura als allegorisches Exemplum einer Verirrung in die Sünde stellen bereits Perspektivierungen bzw. Sinnerschließungen durch Bezugnahme auf explizite intertextuelle Verknüpfung bzw. das System der Kulturtechniken des 14. Jahrhunderts dar. Wenden wir uns unserem Text mit der Frage nach seinem Stellenwert — somit neuen 'Bedeutungen' —
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im Corpus des Libro de Buen Amor und im weiteren der Literatur seiner Epoche zu, so wäre der Text zunächst im Rahmen des deutlich abgesetzten Komplexes der Sierra-Episoden (950-1042) zu situieren. Täte geht in seiner diesbezüglichen Untersuchung sogar von der Prämisse aus, daß innerhalb dieses Komplexes keine Bezüge zu anderen Teilen des Libro de Buen Amor feststellbar seien, die die Episoden in einer größeren Sequenz zu situieren erlaubten.16 Ein erster zu untersuchender auffalliger Bezug ist der zwischen dem 'Vorspann' in der cuaderna vía und der cántica, was auch die Darstellungsstruktur der drei anderen Serrana-Begegnungen ist. Menéndez Pidal hat versucht, die Signifikanz dieser Opposition dahingehend zu bestimmen, daß jeweils der Teil in cuaderna vía in realistischer und karikaturesker Form das Zusammentreffen mit der serrana schildert und anschließend die gleiche Begegnung nochmals in Liedform, in idealistischen Tönen, in ausgeprägtem Gegensatz zur vorhergehenden Erzählung dargestellt wird.17 Er nimmt auch eine Vortragsform des Libro de Buen Amor an, die der der französischen chantefable entsprochen habe. So naheliegend auch die obige Unterscheidung zu sein scheint, zumal auch der Prosaprolog des Libro de Buen Amor von 1343 auf die u.a. bestehende Intention des Buches verweist, über verschiedene prosodische Techniken zu informieren, so weist doch Täte, zu Recht, wie uns scheint, darauf hin, daß kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen einem karikaturesken Ton der Version in cuaderna vía und dem vorgeblichen idealistischen Ton der cántica besteht.18 Es muß überhaupt festgestellt werden, daß inhaltlich wie darstellerisch kein erkennbar einheitlich bleibendes Verhältnis zwischen den beiden Formen existiert; eine nähere inhaltliche Entsprechung besteht eigentlich nur in der ersten und zweiten Begegnung, wobei in der ersten Begegnung der Vorspann in der Darstellung der serrana in Namen (»la chata«), Erscheinung und Tätigkeit, in den Rahmenbedingungen und der Dialogführung recht genau der cántica entspricht, aber damit endet, daß sie ihn auf den Rücken nimmt und über Stock und Stein trägt. Könnte man diese Verteilung damit erklären, daß der Verfasser sich den deftigsten Teil und die Pointe für die cántica aufgespart hat — eine in der Tat künstlerisch geschickte Strukturierung —, so gilt dies schon nicht mehr für die Darstellung der zweiten Begegnung. Insgesamt erscheint im Rahmen der vier Begegnungen die erste als darstellerisch am bewußtesten in ihren beiden Teilen aufeinander abgestimmt. Ob mit ihr eine formale Reihe begonnen werden sollte, die dann aber thematisch, d.h. durch Anfügen von weiteren semiHa-Gedichten, fortgesetzt wurde, bei möglicher nachträglicher Abfassung von Ein- oder Überleitungstexten — der der zweiten Begegnung mit einem kurzen Bezug auf die erste —, muß angesichts der Unsicherheiten über ursprünglichen oder geplanten Umfang und Entstehung des Corpus bzw. des Buches rein hypothetisch bleiben.19 Sicher ist, daß die cánticas, wie sie heute vorliegen, als Einzelgedichte, ohne jeden weiteren unmittelbaren Kontext verständlich, existieren könnten. Hinsichtlich der Situierung der Sierra-Texte im Gesamtverbund des Libro de Buen Amor, die in jedem Fall als sehr locker gesehen werden muß, gibt es kaum befriedigende Bestimmungen. Es ist freilich richtig, daß der Vorspann der ersten Episode vor allem in Gestalt und Struktur des Erzählers eine gewisse Verbindung zum Rest des Buches darstellt, vor allem in der Verfolgung einer »loca demanda« (95 ld), wie überhaupt die Teile in cuaderna vía in Ton und Attitüde in engerem Zusammenhang mit dem Rest des Buches stehen. Ulrich Leos
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diesbezügliche Deutung, die sich besonders auf den Text der Fassung von 1343 stützt, sieht den Entschluß zur Sierra-Wanderung nach dem Tod der jungen »dueña« und den niederdrückenden Ermahnungen der Alten (945) als eine Art Flucht des Protagonisten aus der Stadt, aus dem sündigen Leben der Welt, um Buße in rauher Natur zu tun, wobei ihn auch hier die 'Liebe', freilich unfreiwillig und wenig vergnüglich, verfolgt — eine Deutung, die angesichts der in 959a-b gegebenen Erklärung und in Bezug zur ersten Fassung, aber auch zu den angekündigten (947b), jedoch nicht vorhandenen (und vor den SerranaEpisoden einzufugenden) cantos cagurros problematisch scheint.20 Hinsichtlich des Bezugs zum weiteren literarischen Rahmen wäre neben der parodistischen Verweisung auf die Pastourelle und der möglichen symbolischen lectura sowie dem als mittelalterlicher Märchenstoff hier möglicherweise relevanten Thema der »mujeres salvajes«21, hinter dem ein allgemein mythischer, in der mittelalterlichen Folklore noch spürbar gebliebener mythischer Fundus chthonischer Implikationen steht, auf das Phänomen der juglaría hinzuweisen, der sich nach eigener Aussage das ganze Libro de Buen Amor verpflichtet fühlt (1633b); ihr nahestehend wäre die Goliardenlyrik zu nennen. Menéndez Pidal weist darauf hin, daß die juglares die neue Dichtung als Schauspiel und Publikumsunterhaltung verstehen und daß aus dieser Perspektive, die schon im Moment der schriftlichen Redaktion bestimmend sein kann, spezifische inhaltliche und formale Züge entwickelt werden22: in unserem Fall entspräche dem etwa das Parodistische, die dem gesamten Thema innewohnende Komik und Deftigkeit mit ihren 'szenischen' Möglichkeiten, formal sicherlich die auffallend ausfuhrliche dialogische Anlage mit ihren vielfachen stimmlichen Umsetzungsmöglichkeiten. Über die Popularität des Libro de Buen Amor in der zweiten Hälfte des 14. und im 15. Jahrhundert liegen zahlreiche Belege vor.23 Die möglicherweise früheste Zitierung des Libro de Buen Amor in der Literatur erfolgt im Cancionero de Baena durch den Dichter Pero Ferruz, der am Ende einer Stellungnahme gegen die negative Darstellung der Sierra explizit darauf hinweist, daß die Frauen dort nicht auf »luchas« versessen wären, »nin es mala esta frontera / de monte nin de rrybera, / e nin hay mengua de truchas.«24 Der Bezug auf unseren Text ist sehr wahrscheinlich und wäre auch ein erstes Indiz für seine Bekanntheit. Über den Sinn des Libro de Buen Amor und die Absicht des Arcipreste ist viel diskutiert worden angesichts eines reichen Spektrums von Elementen, die nur schwer auf eine näher definierte Bedeutungsachse zu bringen sind, wobei es dem Autor offensichtlich widerstrebte, irgendeine seiner Positionsnahmen, irgendeinen seiner Texte oder eines seiner Exempla aufzugeben. 25 Man sucht integrierende Elemente, vergleicht mit Dantes Divina commedia und zitiert Menéndez Pidais Formulierung von der »Comedia humana del siglo XIV«. Die zu integrierenden Teile sind nach Menéndez Pidal ein weitgefächerter Cancionero und eine humoristische Autobiographie26; andere zählen »moralismo o sátira, juglarismo o clerecía, mudejarismo o castellanidad, didactismo o entretenimiento, teología moral o parodia eclesiástica, realismo autobiográfico o fantasía e imitación literaria« als im Werk vorliegende antithetische Oppositionen auf.27 Der Gesamtnenner des Werks dürfte in der Tat am ehesten im Bereich der autobiographischen Anlage und des Konzepts der durchgehend thematisierten Liebe liegen, Widerspiegelung eines im 14. Jahrhundert sich vollziehenden so-
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zialen und moralischen Umbruchs, der dem sich neu affirmierenden Individuum Themen wie Leben, Tod und Liebe unter neuen Vorzeichen vorlegte, so daß der Autor ein vielgestaltiges proteisches Ich die verschiedenen Ausformungen der Liebe, von der reinen Gottesliebe bis zur unmittelbarsten Kreatürlichkeit, durchspielen lassen konnte. In der Annahme aller dieser Aspekte, in der Verbindung des universellen thomistischen Liebeskonzepts mit philosophischem Naturalismus, gewinnt die Darlegung etwas Doppeldeutiges, aber auch Züge einer ausgleichenden Weltweisheit. Die Parodie, aufgefaßt als zentraler Stilzug des Libro de Buen Amor,2* als generelle Perspektive des Autors auf die Welt, fungiert dabei als Ort der Versöhnung logisch unversöhnbar erscheinender Widersprüche.29 Beltrán spricht davon, daß es im Libro de Buen Amor keine Verzweiflung gebe.30 Le Gentil fragt angesichts der Tatsache, daß die verfeinerten, von Ovid und »doña Venus« inspirierten Liebesstrategien des Erzählers in der Regel ohne Wirkung bleiben und die instinkthafte Brutalität der Serranas zum Ziel fuhrt, ob der Arcipreste als Vertreter eines philosophischen Naturalismus gesehen werden müsse. Doch werden die Serranas nicht positv dargestellt, sie erscheinen eher als Persiflage des »loco amor«, die Wanderung durch die Sierra selbst als »loca demanda« (950b). Le Gentil sah schon in der Pastourelle, die sich der chanson courtoise, der ländlichen Idylle, aber auch der sötte chanson annähern kann, eine Gattung, die sich tendenziell diversifiziert, gegenteiligen Absichten zu dienen vermag und eine gewisse Ambiguität pflegt. Durch die Parodie sichere sich der Arcipreste einen Ausweg in Moral und Glauben. Und während er die Kraft und Verführungsmacht der menschlichen Liebe anerkennt, führt er sie auf ihre rechten Proportionen zurück. Die natürliche, dem Menschen angeborene Liebe fuhrt nicht automatisch in die Verdammnis, aber doch in die Lächerlichkeit. Diese Erkenntnis wiederum bereitet das Verständnis der Höherwertigkeit des »Buen Amor«, der Gottesliebe, vor.31 I. Verzeichnis der Ausgaben des Libro de Buen Amor des Arcipreste de Hita Erstausgaben: Libro de Buen Amor. Hg. v. Tomás Antonio Sánchez. Madrid: A. de Sancha 1790. Libro de Buen Amor. Edición facsímil del manuscrito Gayoso (1389). Madrid: Academia Española 1974. Libro de Buen Amor. Edición facsímil del Códice de Salamanca. Salamanca: Edilan 1975. Neuere Ausgaben: Libro de Buen Amor. Hg. v. Julio Cejador y Frauca. 2 Bde. Madrid: Ediciones de La Lectura 1913. Madrid: Espasa-Calpe s1960 (Clásicos Castellanos, 14; 17). Libro de Buen Amor. Hg. v. Giorgio Chiarini. Milano: Ricciardi 1964. Libro de Buen Amor. Hg. v. Manuel Criado de Val/ Eric W. Naylor. Madrid: CSIC 1965. Libro de Buen Amor. Edición crítica de Joan Coraminas. Madrid: Gredos 1967. Libro de Buen Amor. Hg. v. Jesús Cañas Murillo. Barcelona: Plaza & Janes 1984.
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Libro de Buen Amor. Estudio preliminar y bibliografía Florencio Sevilla y Pablo Jauralde. Edición, notas y versión moderna de Pablo Jauralde. Barcelona: PPU 1988. Deutsche Übersetzungen: Juan Ruiz: Aus dem Buch der guten Liebe. Altspanische Gedichte über die Liebe. Aus dem spanischen Original übertragen und eingeleitet von Wenzel Goldbaum. München: Goldmann 1960 (Goldmanns gelbe Taschenbücher, 535). Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de Buen Amor. Übersetzt und eingeleitet von Hans Ulrich Gumbrecht. München: Fink 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters, 10). II. Kritische
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III.
Anmerkungen
* Spanischer Originaltext nach Coraminas, 1973: 375-381; auf die bei Coraminas speziell verwendeten diakritischen Zeichen wurde im Hinblick auf eine leichtere Lesbarkeit des Textes hier verzichtet. Die hier zitierte Serranilla entspricht den Strophen 959-971 des Gesamttextes des Libro de Buen Amor. Die folgende Übersetzung nach Gumbrecht, 1972: 271-277. 1 Coraminas (1973: 376; 379) verwirft diese in der Ausgabe von J. Cejador präsentierte Lesart. Er schreibt »D'oy más«, d.h. »desde ahora, desde luego« etc., kann aber den genauen Sinn dieser Passage auch nicht angeben. 2 Pérez de King, 1938: lOOf. 3 Le Gentil, 1963: 133. 4 Coraminas, 1973: 374. 5 Ebd.: 376. 6 Ebd.: 378. 7 So Zahareas, 1965: 147. 8 Menéndez Pidal, 1975: 240; 101. 9 Die galicisch-portugiesische pastorela wird oft als Untergruppe der cantiga de amigo gesehen, da das Mädchen bzw. die Frau von ihrer Liebe sprechen. 10 Le Gentil, 1963: 134. 11 Ebd.: 136. 12 José Eusebio Lillo Rodelgo: El sentimiento de la naturaleza en la pintura y en la literatura española del siglo XIII al XVI. Toledo: F. Serrano 1929, S. 112, bestreitet einen allegorischen Sinn und die Möglichkeit seiner Annahme für die SerranaSzenen. Emilio Orozco-Díaz: Paisaje y sentimiento de la naturaleza en la poesía española. Madrid: Ediciones del Centro 1974, S. 20f., macht freilich deutlich, daß
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Sinn für Realität, Naturgefuhl etc. und ein symbolisches Verständnis der Realität sich nicht notwendigerweise ausschließen. Casalduero, Joaquín: »El sentimiento de la naturaleza en la Edad Media Española«, in: Estudios de Literatura española. Madrid: 1962, S. 16. Beltrán, 1977: 262. Ebd.: 262-274. Tate, 1970: 219. Menéndez Pidal, 1975: 147f. Tate, 1970: 219. Cf. Alan D. Deyermond: La Edad Media. Barcelona: Ariel 1978 (Bd. 1 der Historia de la literatura española. Dir. R.O. Jones. Barcelona: Ariel), S. 202; Tate, 1970: 226; 221 i. Leo, 1958: 43-45. Vgl. Spitzer, 1934: 262 (Anm.). Menéndez Pidal, 1975: 242f. Deyermond, 1978: 201; Real de la Riva 1985: 59. Zit. nach Deyermond, Alan D.: »Early Allusions to the Libro de Buen Amor — a postscript to Moffat«, in: Modern Language Notes 88 (1973), S. 317-321; hier 319. Deyermond, 1978: 206. Menéndez Pidal, 1975: 147. Real de la Riva, 1985:61. Deyermond, 1970: 53. Deyermond, 1978: 206. Beltrán, 1977:377. Le Gentil, 1963: 134-140.
Axel Schönberger
Jordi de Sant Jordi. Dompna, tot jorn vos vau preyan Dompna, tot jorn vos vau preyan quem retingats per servidor, e vos disets que dreyt'amor no us port, si com de fin aman, 5 mas ab engan, qu'en autra part ay mon voler, e que no-us cuyt dar entenden aur per argen; mas veramen 10 escus'avez de mal deuter. Car vos sabets, certes, lo ver e conexets m'entencio, si co l malalt qui per rayso lo metge conex que soffer 15 mal vertader; e vos no vey, per molt que jur ne me-n blastom, que me-n credats, ans vos trufats del temps passais: 20 de jorn en jorn feu me tal fur. Dompna, trop mays que no me-n cur vos [am] e mils que no say dir; si no-u fay, prey Dieu [que] morir me vegats pigor que taffur. 25 Donchs, ¿per que dur me fayts tants mais, pus vesets be mon fin voler qu'en vos s'es mes, que, mal que-m pes, axi-m te près 30 que d'altre no-m cur ne-m sove?
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i A, cors ten belh, car de merce! ¿Com no volets considerar que muyr languen per vos amar, e no suy cresutz de ma fe? 35 Janosayre que us puxa dir, plus de que-us ay, ne mon voler, qui ja-1 sabetz; mas vos havets en car tals fets, 40 que mon afany ges no-us desplay. Mas d'er anan pus no-us diray, quem fessats mal ne bon respost, pus que tal lo-m fessats tentost, ans, vulhats ho no, vos amaray. 45 Qu'amor Ii play e volch del tot que vostre fos lo jorn que-u[s] vi primeramen. D'on pas türmen e tan soven, 50 que vau marrits e cossiros. TORNADA Reyna d'onor, lunhs amoros no passech may tal penssamen com cest, qui-m fen 55 lo cor e-1 cen can de mon dan no-us sentits vos.* Herrin, jeden Tag bitte ich Euch, / daß ihr mich als Diener in Eure Dienste nehmt, / und Ihr sagt, daß ich aufrichtige Liebe / nicht für Euch empfinde, so wie [die] eines vollkommenen Liebenden, / sondern [Euch] mit Täuschung [liebe], / daß meine Wünsche woanders ruhen [daß ich mein Wollen woanders habe] / und daß ich es nicht unternehmen möge, Euch dazu zu bringen, daß Ihr / Silber für Gold haltet; / aber, in der Tat, / Ihr habt die Entschuldigung eines schlechten Schuldners. Denn sicherlich wißt Ihr die Wahrheit / und kennt meine Absicht, / so wie der Kranke, von dem durch Erfahrung / der Arzt weiß, daß er leidet / an einer wahrhaften Krankheit [=so wie der Arzt durch seine Erfahrung weiß, daß der Kranke an einer wahrhaften Krankheit leidet; Vers 13-15]; / und von Euch sehe ich nicht — so sehr ich auch schwöre / und mich deswegen verwünsche —, daß Ihr mir glaubt, / sondern Ihr scherzt und spottet / über die vergangene Zeit: / jeden Tag [von Tag zu Tag] unterwerft Ihr mich solchem Gesetz.
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Herrin, zu sehr, als daß ich mich nicht darum kümmern könnte, / und besser, als ich es zu sagen vermag, [liebe] ich Euch; / wenn ich es nicht tue, [so] bitte ich Gott, daß sterben / Ihr mich seht schlimmer als einen Betrüger. / Also, warum zu ertragen / heißt [macht] Ihr mich so großes Ungemach [Pl.], wo Ihr doch gut seht / mein vollkommenes Wünschen [Wollen], das sich Euch zum Ziel ausgesucht hat [das sich in Euch gesetzt hat], / das, obwohl ich es nur schwer aushalte [es mir schwer wiegt], / mich so gefangen hält, / daß ich mich um keine andere kümmere und mich auch nicht [an eine andere] erinnere? Ah, wunderbarer Körper, spärlich mit Gnade versehen [=wunderbarer und doch so spröder Körper] ! / Wie [warum] wollt Ihr nicht zugeben, / daß ich sterbe, indem ich mich in Liebe zu Euch verzehre, / und daß mir fur meine Treue kein Glauben geschenkt wird? / Schon weiß ich nichts mehr, / was ich Euch sagen könnte, mehr als das, [was] ich Euch [gesagt] habe, / und auch nicht mein Wünschen, Ihr kennt es [ja] schon; / aber Euch sind / teuer solche Dinge [Taten], / daß mein Streben Euch überhaupt nicht mißfallt. Aber von nun an werde ich Euch nichts mehr sagen, / ob Ihr mir [nun] eine schlechte oder eine gute Antwort gebt, / da Ihr ja eine solche mir bald geben werdet; / ganz im Gegenteil, ob Ihr es wollt oder nicht, ich werde Euch lieben. / Denn der Liebe gefiel es, / und sie wollte, daß ich gänzlich der Eure würde / an dem Tag, an dem ich Euch zum ersten Mal sah. / Deswegen leide ich [Von wo ich Qual leide], / und zwar so oft, / daß ich traurig und betrübt bin. [Tornada] Ehrenvolle Königin', kein Liebender / ertrug jemals ein so großes Leiden / wie dieses, das mir verletzt / das Herz und das Gemüt [den Verstand], / immer wenn Ihr Euch nicht um mein Leiden kümmert. I Über das Leben und Wirken von Jordi de Sant Jordi, der in der katalanischen Literaturgeschichtsschreibung als einer der bedeutendsten katalanischen Dichter vor Ausiàs March gilt2, ist nur wenig bekannt. Seine Lebensdaten sind unbekannt, es wird vermutet, daß er jung starb und wahrscheinlich in den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts geboren wurde;3 hierfür gibt es allerdings keinen einzigen direkten Hinweis oder Beweis.4 Eine Ehefrau oder eheliche Kinder werden in den wenigen überlieferten Zeugnissen über sein Leben und sein Werk nicht erwähnt; wahrscheinlich war er nicht verheiratet.5 Erstmals wird der valencianische6 Dichter kurz nach der Thronbesteigung von Alfons el Magnànim (Alfons V. der Großmütige) erwähnt7; das neue Königspaar setzte sich — zunächst erfolglos 8 — dafür ein, daß die Schwester des Dichters, Isabel, in ein valencianisches Kloster aufgenommen werden sollte. In diesem Zusammenhang werden »los agradables serveys fets e que continuament no cessa fer lo feel cambrer nostre En Jordi de Sent Jordi« erwähnt9. Wie auch andere Dichter im Dienste des Königs — darunter Don Inigo Lopez de Mendoza, der spätere Marqués de Santillana, und Andreu Febrer — erhielt er zwischen 1416 und 1419 verschiedene, dokumentierte Schenkungen. Im Jahre 1420 nahm er — zusammen mit anderen Dichtern, darunter Ausiàs March, Andreu Febrer und Luys de Vilarrasa10 — an einem Feldzug nach Sardinien und Korsika teil; am 3. Dezember 1420 erhielt er von König Alfons ein Lehen (La Vall d'Uixö) zugesprochen, wobei er zum ersten Mal als Ritter bezeichnet wird. Möglicherweise wurde er auf dem Feldzug zum Ritter geschlagen." Ab diesem Zeitpunkt wird er in den
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Dokumenten als »Mossèn« Jordi de Sant Jordi erwähnt. Bis zum Ende seines Lebens blieb er als Ritter, Höfling und Gesandter in den Diensten seines Königs. 1422 hielt er sich in Neapel auf, am 30. Mai 1423 wurde er dort von Francesco Sforza bei der Einnahme der Stadt durch dessen Truppen gefangengenommen12, wovon sein heute »Presoner« betiteltes Gedicht Zeugnis ablegt. Seine Gefangenschaft dauerte nicht lange, bereits am 21. Juni 1423 war er wieder in diplomatischer Mission für seinen König tätig13. Am 30. Januar 1425 war Jordi de Sant Jordi bereits tot; er muß somit zwischen dem 21. Juni 1423 und dem 30. Januar 1425 gestorben sein; man geht heute davon aus, daß er wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1424 gestorben sein dürfte 14 . Infolge einiger Selbstzeugnisse sind auch einige Details über sein Aussehen bekannt. Nur wenige Gedichte Jordis de Sant Jordi sind überliefert. Nach dem Urteil seiner Zeitgenossen soll er auch ein exzellenter Komponist gewesen sein,16 die Melodien seiner Gedichte sind allerdings alle verloren. Die Sprache seiner Gedichte ist ein archaisches, von okzitanischen Einflüssen durchdrungenes Katalanisch, eine literarische Koiné der damaligen Zeit, die keinerlei dialektale Einflüsse erkennen läßt.17 Erst Ausiàs March, »lleixant a part l'estil dels trobadors«, vollzog den definitiven Schritt zur Schaffung einer authentischen katalanischen Lyrik ohne okzitanische Einflüsse. II Das Gedicht »Dompna, tot jorn vos vau preyan«18 weist formal ein einfaches, für die Vertonung bestimmtes Schema auf: alle 55 Verse enden mit männlichen Reimen. Der letzte Vers einer jeden Strophe wird mit dem ersten der folgenden durch einen Reim verbunden. Jede Strophe besteht aus zehn Versen, die nach dem Schema abbaacdddc gereimt sind; auf vier Achtsilbler folgt ein erster Viersilbler und ein abschließender Achtsilbler.19 Die Schlußstrophe (»tornada«) ist um die ersten fünf Verse verkürzt; sie reimt cdddc, auf zwei Achtsilbler folgen zwei Viersilbler und ein Achtsilbler.20 Bereits der erste Vers läßt erkennen, daß im Stile der Trobadors eine Liebesklage — die Beschreibung einer unerfüllten, »aufrichtigen« Liebe — vorliegt. Das lyrische Ich, ein Mann, ist inständig — ausgedrückt durch »tot jorn« und das intensivierende periphrastische Präsens »vau preyan« — damit befaßt, eine sozial über ihm stehende Dame (»Dompna«) durch Bitten dazu zu bringen, daß sie ihn als Diener (»servidor«) anerkennen möge; diese Bezeichnung war für einen zumeist platonischen Verehrer einer höher gestellten Dame, der von ihr explizit als »servidor« angenommen und bestätigt werden mußte, üblich. Hatte eine Dame einen »servidor« in ihre Dienste genommen, so durfite sie ihn gegen dessen Willen nicht ohne triftigen Grund wieder entlassen; wie in einem Lehnsverhältnis ging auch sie gegenüber ihrem Diener eine Verpflichtung ein. Eine viel diskutierte Frage gegen Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts war der Verhaltensspielraum, welcher der Dame angesichts des »Antrags« eines vollendet Liebenden zukam; durfte sie einen wahrhaft Liebenden zurückweisen oder mußte sie ihn zumindest als »servidor« in ihre Dienste nehmen, wenn er jeglicher Etikette entsprach? (Alain Chartier löste im Jahre 1424 mit seinem Versgedicht »La belle dame sans mercy« eine über hundert Jahre währende, heftige Debatte aus, als er der Frau das Recht einräumte, sich selbst unabhängig von der Art, Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit des Liebeswerbens
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auch negativ zu entscheiden.) Im Kreis der Zuhörer, an die Jordi de Sant Jordi bei der Abfassung dieses Gedichtes bzw. Liedes wohl gedacht haben dürfte, scheint die (ältere) Meinung überwogen zu haben, daß ein vollkommener Liebender, ein »fin aman«, auch einen Anspruch darauf habe, als »servidor« von seiner Dame anerkannt zu werden.21 So ist ihre Argumentation in der ersten Strophe, die uns der Dichter wiedergibt, zu verstehen. Sie darf sein Werben nicht ignorieren, sondern muß darauf eingehen; wenn sie ihm nachweisen kann, daß er nicht aufrichtig liebt, daß keine »dreyt'amor« ihn leitet, er also kein vollkommen Liebender ist, so ist die Dame ihm gegenüber zu nichts verpflichtet. Vers 1-2 verbalisieren so das Begehren des Dichters, Vers 3-4 dessen Ablehnung durch die Dame mit einem doppelt formulierten negativen Grund, dem Fehlen einer »wahren« Liebe. In Vers 5-8 wird dieser Vorwurf noch verstärkt, indem ihm darüber hinaus unlautere Absichten vorgeworfen werden: seine Wünsche zielten auf einen anderen Teil [sc. ihres Körpers], womit das Verlangen nach »amor carnalis« evoziert wird; der Dichter solle gar nicht erst versuchen, die Dame davon zu überzeugen, sein »niederes« Begehren sei vollkommene Liebe, oder, mit der wertenden Metapher des Gedichtes, daß Silber Gold sei22. Vers 9 besteht nur aus zwei Wörtern, der adversativen Konjunktion »mas« und dem affirmativen Adverb »veramen«, die beide eindringlich unterstreichen, daß die referierte Meinung der Dame nach Meinung des Dichters nicht der Realität entspreche; tatsächlich sei ihre Entschuldigung, ihn nicht als »servidor« in ihre Dienste nehmen zu müssen, die eines schlechten Schuldners (V. 10). Der letzte Vers kann als Beleg für die oben vermutete Situierung des Gedichtes im Kontext einer Liebesetikette gewertet werden, welche der Dame unter bestimmten Bedingungen die Annahme eines »servidor« zur Pflicht macht. Indem die zweite Strophe mit einem Kausalsatz (»car«) beginnt, scheint sie die Begründung für die in Vers 10 aufgestellte Behauptung zu liefern; tatsächlich geht sie aber noch darüber hinaus und inkriminiert die Dame, die so als gedankenlos, grausam und ungerecht erscheinen soll. Die Gedankenführung ist einfach: derjenige, welcher den Kranken zu heilen vermag, der Arzt, kennt genau Ursache und Art des Übels (V. 13-15). Die Vorstellung von der Liebe als einer Krankheit, von der man nicht aus eigener Kraft geheilt werden könne, wird vorausgesetzt, so daß von der Dame, welche die Möglichkeit hätte, die Liebeskrankheit des Dichters zu heilen, indem sie ihn erhörte, durch die geschickte Gleichsetzung mit dem in seinen entsprechenden Eigenschaften erwähnten Arzt auch vorausgesetzt werden kann, daß sie die Symptome und den Grund der Liebeskrankheit des Dichters kennt. Daß der Vergleich hinkt, wird dem Hörer dadurch weniger bewußt, daß die logische Reihenfolge des Vergleichs umgedreht wird; so wird der Eindruck erweckt, auf eine wahre Aussage folge lediglich ein bekräftigendes Beispiel, obwohl die Scheinwahrheit der vorgenommenen Behauptung sich nur auf den hinkenden Vergleich stützen kann. So spielt der Dichter nicht nur mit der Vorstellung der Liebe als einer (heilbaren) Krankheit und stellt nicht nur aus auktorialer Perspektive seine Interpretation der Psyche der Dame als die richtige hin, er läßt so auch en passant seine Darstellung als objektive Wahrheit erscheinen, denn wenn er vorgibt, daß die Dame das Wahre (»lo ver«) und seine wahre Absicht (»m'entenciö«) erkannt habe, so postuliert er hiermit zugleich deren objektive Existenz. Nachdem der Hörer/Leser so auf die Seite des Dichters gezogen wurde, wiegt es um so
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schwerer, daß die Dame diesem, was er auch tut, keinen Glauben schenkt (V. 16-17). Der Gipfel von allem aber ist, daß sie sich sogar noch über sein Begehren lustig macht und ihn so fortwährend quält — zu Unrecht, wie suggeriert wird. Die dritte Strophe enthält eine eindringliche Beteuerung der tiefen Liebe, die der Dichter für seine Dame zu empfinden vorgibt. Die ersten zwei Verse drücken das Übermaß seiner Liebe in Form einer Hyperbel aus, die folgenden beiden Verse beteuern die Richtigkeit der Aussage der vorangegangenen mit einer bei Gott vorgenommenen Selbstverfluchung. Die folgenden drei Verse (25-27) knüpfen mit geschickter Psychagogie an die ersten beiden Strophen an: Das Wort »voler« aus Vers 6, in dem es aus Sicht der Dame negativ konnotiert war, wird wieder aufgegriffen und erhält diesmal eine positive Wertung (»mon fin voler«); die Argumentation der zweiten Strophe, die besagt, daß die Dame ihn nicht nur »heilen« kann, sondern dazu auch verpflichtet ist — wie der Arzt gegenüber dem Kranken, um im Bilde zu bleiben —, kehrt in der rhetorischen Frage wieder, warum sie den Dichter soviel Ungemach erdulden ließe. Der letzte Halbvers von Vers 27 ist antithetisch mit dem letzten Vers der Strophe (V. 30) verbunden: auf seine Dame und auf keine andere zielt sein »voler« und seine Liebe, wobei der Konsekutivsatz in Vers 30 durch die vorangehende Einleitung (V. 28-30) als (möglichst glaubhafte) Hyperbel zu werten ist. Die vierte Strophe beginnt mit einer antithetischen Synekdoche, indem nicht die Dame direkt, sondern ihr »cors« angeredet wird; sie wird auf diese Weise als zwar einerseits schön, andererseits aber »gnadenlos« — wobei »merce« die Erfüllung des Begehrens des lyrischen Ichs bedeutete — charakterisiert. In Vers 32-34 schließt sich die nächste rhetorische Frage an, die mit einer erneuten Hyperbel in Vers 33 das Übermaß an Liebe und Liebesleiden des Dichters belegen soll. Der an exponierter Stelle, nämlich am Ende von Vers 34 stehende Begriff »fe«, ein vielseitig besetztes, im damaligen Kontext ungemein wichtiges Wort, meint die Treue des Dichters gegenüber seiner Dame, die als Treueverhältnis auch die Aufrichtigkeit seiner Worte einschließt. Dieses Wort wurde ebenso für religiösen Glauben wie für Lehensverhältnisse oder Liebesbeziehungen verwandt und untermauert den Anspruch des Dichters, »servidor« »seiner« Dame zu sein bzw. zu werden. Die zweite Hälfte der vierten Strophe, Vers 35-40, leitet zu einem Aprosdoketon in der fünften Strophe über: der Dichter hat schon alles gesagt, was zu sagen ist, weiß darüber hinaus nichts mehr hinzuzufügen, unterstellt nochmals, daß die Dame sein »voler« genauestens einzuschätzen wisse (V. 37), und darüber hinaus, daß sein »afany« der Dame überaus angenehm sei — die Litotes »ges nous desplay« (V. 30) dient zum Ausdruck einer sehr positiven Aussage. Die fünfte Strophe enthält schließlich als Aprosdoketon und sozusagen »Pointe« des Gedichts die Beschreibung des zukünftigen Verhaltens des Dichters: wie auch immer die Dame sich ihm gegenüber äußern wird (V. 42) — sie wird ihm wohl baldigst zu verstehen geben, was sie mit ihm vorhat (V. 43) —, so wird er sich in Zukunft nicht länger mit verbalen Erklärungen seiner Liebe aufhalten (V. 41), sondern sie — auch gegen ihren Willen — lieben (V. 44). Hier stehen die Tätigkeitsfelder »dir« und »amar« zueinander in Gegensatz, obwohl sie sich eigentlich in keiner Weise ausschließen; den Willen der Dame, den er, so er ein guter »servidor« werden bzw. sein möchte, eigentlich zu re-
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spektieren hätte, wird er überhaupt nicht berücksichtigen, er wird die Dame also in jedem Fall lieben. Zur Begründung wird »Amor« angeführt, der schon vom ersten Tag ihrer Begegnung an wollte, daß er ihr gehöre; vorausgesetzt wird hier die Vorstellung von der Allgewalt der Liebe und von der schicksalhaften Liebe auf den ersten Blick. Die letzten drei Verse der Strophe betonen wieder das Liebesleid des Dichters (V. 48-50). Wieder ist der letzte Vers ein Konsekutivsatz; der wiederholte Gebrauch dieser Konstruktion bei ansonsten relativ einfach gebauter Syntax dient der sprachlichen Veranschaulichung der Zwangsläufigkeit des Liebesverlangens, von dem das lyrische Ich gepeinigt wird bzw. zu werden vorgibt. Die Tornada enthält eine bekannte, seit langem literarisch verwandte Hyperbel; kein Liebender habe jemals so gelitten wie der Dichter. Der letzte Vers gibt erneut als Grund die Dame an, welche sich nicht um den Dichter und seine Liebe zu ihr kümmert (V. 55). Die Gedankenfuhrung des Gedichtes ist relativ einfach und linear; Jordi de Sant Jordi bemüht sich hier, »seine« Darstellung der Dinge als »richtige« Sichtweise erscheinen zu lassen. Er verzichtet auf komplexe Satzstrukturen und größeren rhetorischen Schmuck; pointierte Hervorhebungen einzelner Stellen bzw. Wörter waren ihm ja auch durch die Vertonung des Liedes möglich. Durch die eindringliche Betonung, daß die Liebe des Dichters den sozialen Konventionen genüge und die Dame ihn einerseits deswegen, andererseits aus einer undefinierbaren Fürsorgepflicht (wie der Arzt den Kranken zu heilen verpflichtet ist) eigentlich als »servidor« in ihre Dienste nehmen und so von seinem Liebesleid heilen müsse, in Verbindung mit der Anspielung auf die Allgewalt der Liebe wird die Entwicklung der zunächst den Konventionen gehorchenden Liebe des lyrischen Ichs zu einer nicht mehr eingeschränkten, dem Willen der Dame nicht unterworfenen »einseitigen« — und der Kontext suggeriert darüber hinaus »grenzenlosen« und »kompromißlosen« — Liebe, welche die Dame nicht als gleichberechtigtes Subjekt versteht, sondern nur noch als Objekt, dem keinerlei Recht eingeräumt wird, diese Liebe zu untersagen, dargestellt.23 III
Ein Blick auf das überlieferte Werk von Jordi de Sant Jordi läßt erkennen, daß hier nicht im romantischen Sinne ein verliebter Dichter versucht hat, seine Gefühle zu Papier zu bringen, sondern daß ein gelehrter Trobador sich bewußt — und in ständigem Kontakt zu einem höfischen Milieu, welches seinen Bildungshorizont teilte, — in eine damals modische literarische Tradition stellte und Gedichte schrieb, die sich glaubwürdig in eine bestimmte Überlieferung einreihen sollten. Es kann hier nicht auf alle anderen Gedichte verwiesen werden, doch sei kurz angemerkt, daß es für Jordi de Sant Jordi eminent wichtig war, seine Gedichte mit sowohl berühmten wie auch nicht leicht erkennbaren Zitaten anderer Trobadors zu »würzen«; vermutlich hat er auch tonale Anspielungen und Zitate in seine Melodien aufgenommen. In dem insgesamt nicht sehr großen Korpus seiner Gedichte findet sich eine Fülle von Zitaten vor allem aus okzitanischen und katalanischen, weniger aus italienischen Gedichten;24 vermutlich gibt es noch mehr, bis heute nicht entdeckte Zitate aus nicht mehr bekannten Originalen. Im Katalonien des 15. Jahrhunderts — und hier vor allem in Valencia — war es offenbar ein beliebtes Spiel, bei gleichbleibendem, sich änderndem oder
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sogar konträrem Sinnzusammenhang berühmte und abgelegene Zitate offen und versteckt in eigene literarische Werke einzubauen; berühmtestes Beispiel hierfür ist Tirant lo Blanc(h), für den noch immer kein vollständiger Zitatschlüssel vorliegt. Am eindeutigsten ist dieses Kompositionsprinzip in Jordis de Sant Jordi »Passio Amoris secundum Ovidium«, einer teilweise auf Bilder des Rosenromans rekurrierenden Allegorie von 154 Versen, zu erkennen; für die hier kunstvoll eingearbeiteten Zitate wird der Dichter eigens vom Marqués de Santillana gelobt25. Die Allegorie in »Lo setge d'amor«, einem Gedicht, welches nach antikem Vorbild den Verlauf einer Liebe mit kriegerischen Bildern schildert, scheint ebenso wie das besprochene Gedicht auf eine intensive Liebeserfahrung des Dichters zu verweisen; andere Gedichte aber, wie z.B. das in der Gefangenschaft geschriebene »Presoner«, in dem der Dichter sich nur mit sich selbst und seinem Schicksal beschäftigt und keine Rede von einer/»seiner« Dame ist, weisen darauf hin, daß die intensiven, hyperbolischen Liebeserklärungen wohl eher im Sinne eines literarischen Spiels zu verstehen sind.26 Dies wird besonders an seinem berühmten Gedicht »Ära hojats, dompnas, queus fau sauber« deutlich, in dem er die Damen vor der Verlogenheit und Falschheit der Dichter und Liebeserklärungen — ihn selbst explizit einbegriffen — warnt.27 Ein anderes Gedicht, »Midons«, laut Marti de Riquer nach »Stramps« eines seiner bedeutendsten Lieder28, lobt unter Berufung auf die Bibel gerade die Keuschheit der Damen. Wie mit den Inhalten, so spielte Jordi de Sant Jordi auch mit den Formen und Versmaßen. Die meisten seiner Gedichte sind gereimt — er soll nach Marti de Riquer wahrscheinlich das Verslexikon des Jaume March benutzt haben29 —, sein Lied »Stramps« jedoch ist in ungereimten Zehnsilblern verfaßt; es thematisiert die pfiffige Idee, daß er noch im Tode das Bild seiner Geliebten auf der Netzhaut tragen und so Zeugnis ablegen werde, durch wessen Grausamkeit er an unerfüllter Liebe gestorben sei. (Nach damaligem Volksglauben prägt sich das Bild des Mörders als letzter Eindruck fest in die Augen des Opfers ein.) Jordi de Sant Jordi war einer der letzten Trobadore des Mittelalters und behauptet zu Recht seinen festen Platz zwischen Andreu Febrer und Ausiàs March im Kanon der katalanischen Literaturgeschichte. Er findet heute in Katalonien große Beachtung; die Kenntnis seiner Gedichte kann bei den meisten zeitgenössischen Lyrikern des Principats, Valèncias und der Balearen vorausgesetzt werden.
I. Verzeichnis der lyrischen Werke von Jordi de Sant Jordi Die achtzehn überlieferten Gedichte wurden im 20. Jahrhundert fünfmal ediert. Die maßgebliche Textedition findet sich in der auf allen sieben Manuskripten beruhenden kritischen Ausgabe von 198430; bedingt zitierfähig ist auch die Ausgabe von 1955. Die übrigen Ausgaben sind nicht zitierfähig. Obres poetiques de Jordi de Sant Jordi (Segles XlV-XV). Hg. v. Jaume Massö Torrents. Barcelona: L'Aven? 1902; Madrid: Libreria de M. Murillo 1902. Jordi de Sant Jordi: estudi critic i ediciö. Hg. v. Marti de Riquer. Barcelona 1935.
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Jordi de Sant Jordi: estudio y edición. Hg. v. Martí de Riquer. Granada: Universidad de Granada 1955 (Colección filológica, 15). Próixita, Gilabert de/Febrer, Andren/ Gualbes, Melcior de/ Sant Jordi, Jordi de: Obra Urica. Hg. v. Marti de Riquer. Barcelona: Edicions 62 1982 (MOLC, 91). Les poesies de Jordi de Sant Jordi: cavaller valencia del segle XV. Hg. v. Marti de Riquer/ Lola Badia. Valencia: Tres i Quatre 1984 (Biblioteca d'estudis i investigacions, 7) (mit einem nützlichen Glossar).
II. Kritische
Literatur
Jordi de Sant Jordi wurden bisher sehr wenige Studien gewidmet. Jede der oben angeführten Textausgaben enthält auch einen Aufsatz zu Leben und Werk des Dichters, wobei Riquer 1935 in Riquer 1955 enthalten und wiederum — mit einigen Änderungen — in Riquer/ Badia 1984 eingegangen ist, während der Jordi de Sant Jordi betreffende Teil des Vorwortes aus Riquer 1982 größtenteils mit dem entsprechenden Passus im zweiten Band von Riquers katalanischer Literaturgeschichte identisch ist. Darüber hinaus verzeichnen Riquer/ Badia 1984 für den Zeitraum von 1913 bis zum Erscheinen ihrer Ausgabe lediglich neun Aufsätze zu Jordi de Sant Jordi, von denen heute nur noch die vier »neueren« (1947-1977) lesenswert sind; nach 1984 sind noch einige Rezensionen ihres Buches erschienen, die sich auch mit einzelnen Sachfragen beschäftigen. Ferrando, Antoni: »Rezension zu Riquer / Badia 1984«, in: Espill 21 (Juni 1985), S. 171-173. Mateu y Llopis, Felipe: »'Lo Caniviador' de Jordi de Sant Jordi (comentario numismático)«, in: Boletín de la Sociedad Castellonense de Cultura 23 (1947), S. 215-224. Nicolau d'Olwer, Lluís: »Literatura catalana (notes i comentaris)«, in: Estudis Universitär Catalans 7 (1913), S. 163-181 (zu Jordi de Sant Jordi, S. 163-179). Pujol, Josep: »Rezension zu Riquer/ Badia 1984«, in: Llengua i Literatura 1 (1986), S. 595-601. Riquer, Martí de: »'Stramps1 y 'Midons' de Jordi de Sant Jordi: estudio y edición«, in: Revista Valenciana de Filología 1/1 (Enero-Abril 1951), S. 9-62. Riquer, Martí de: »Reconstrucción de una poesía de Jordi de Sant Jordi«, in: Boletín de la Sociedad Castellonense de Cultura 28 (1952), S. 207-212. Riquer, Martí de: Historia de la literatura catalana: part antiga, volum II. Barcelona: Ariel "1984 (' 1964), S. 154-176. Romeu i Figueras, Josep: »Comentaris al Can£oner de Jordi de Sant Jordi«, in: Ser ra d'Or 19/20 (15.03.1977), S. 25-28 [153-156]. Schönberger, Axel: »Jordi de Sant Jordi«, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Bd. 14. München: Kindler 1991, S. 745-746.
III.
Anmerkungen
* Text nach Riquer/ Badia, 1984: 100; 102. Anmerkung des Verfassers zu Vers 19 »passats«: Das Schluß-s im Wortauslaut, durch welches die Endung mit den beiden vorhergehenden Versen reimt, ist gram-
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matikalisch falsch, da weder Nominativ Singular noch Obliquus Plural vorliegen; hier wurde bei dem Bemühen um eine okzitanische Kunstsprache offensichtlich des Guten zuviel getan. Der »Fehler« geht möglicherweise nicht auf den Dichter selbst, der an anderen Stellen relativ gute Vertrautheit mit der okzitanischen Deklination unter Beweis stellt, als vielmehr auf spätere Abschriften zurück. Vgl. zu dieser Form auch Riquer/ Badia, 1984: 304; 101, Anm. zu Vers 19. Anmerkung zu Vers 34 »cresutz«: Die s-Endung des Nominativ Singular geht auf okzitanischen Einfluß in der dichterischen Kunstsprache zurück; vgl. weiter unten »marrits« (V. 50) und »lunhs« (V. 51). Anmerkung zu Vers 36: Riquer/ Badia, 1984: 28, Anm. 25, weisen auf eine literarische Aufnahme dieser Verse zu Beginn eines kastilischen Gedichtes von Juan de Valtierra/ Valterra hin (Text ebda.: »¡Ah, duenya pobre de mercé! / ¿Por quál razón quieres matar / a mí, que siervo sin cansar / pues no te fiz lo per qué? / Dame razón, que no la-y sé.«) Anmerkung zu Vers 44 »ho«: Kontrahierte Form aus »ho« (lat. »hoc«) und »o« (oder). Man geht heute davon aus, daß mit der »Reyna d'onor« die Witwe von Martí I, l'Humà (auch als »l'Eclesiastic« bekannt, 1356-1410, regierte seit 1396), Margarida de Prades, gemeint sein dürfte, welche unter anderem auch der Marqués de Santillana und Oswald von Wolkenstein in ihren Liedern gerühmt haben (vgl. Riquer/ Badia, 1984: 29-34 [»Les dames en la poesía de Jordi de Sant Jordi«], insbesondere 31-34, sowie 34-43 (»La reina Margarida de Prades i Jordi de Sant Jordi«; literarische Zeugnisse des Marqués de Santillana zu Jordi de Sant Jordi und Margarida de Prades gibt Anhang IV [ebd.: 314-322], über Oswald von Wolkenstein und die Königin siehe Anhang V [ebd.: 323-326]. Mit der »Reyna d'onor«, die außer im vorliegenden Lied auch noch in sechs anderen Gedichten apostrophiert wird, dürfte in jedem Fall immer die gleiche Person gemeint sein. Vgl. Riquer, "1984: 154. Vgl. z.B. Riquer/ Badia, 1984: 23. Auch verschiedene Realia und historische Ereignisse, die in seinen Gedichten vorkommen, erlauben keine weiteren Präzisierungen; so fuhrt beispielsweise eine numismatische Studie zu dem Gedicht »Pus que tan be sabetz de cambiar« (Mateu y Llopis, 1947) auch nur zu dem Ergebnis, daß dieses Gedicht vor 1426 (S. 222), vielleicht gegen 1407 (S. 224) geschrieben worden sei; Riquer/ Badia, 1984: 23, datieren dieses Gedicht in Anlehnung an Mateu y Llopis 1947 auf die Jahre zwischen 1407 und 1426. Vgl. Riquer/ Badia, 1984: 23. Ein von Alfons V. (Alfons el Magnànim; 1396-1458) am 3. Dezember 1420 unterzeichnetes Dokument bezeichnet ihn (im Genitiv) als »militis valentini et de civitate Valencie oriundi«; vgl. Riquer, 1951: 9. Dessen Vorgänger Ferran I. d'Antequerra (geboren 1380, regierte seit 1412) starb am 2. April 1416, die Erwähnung Jordis de Sant Jordi datiert vom 4. April 1416. Zumindest bis 1419 widersetzte sich die Äbtissin des Klosters Saidia dem königlichen Willen; vgl. Riquer, 41984: 156. Riquer, "1984: 154. Zu seinen Beziehungen zu anderen zeitgenössischen katalanischen Schriftstellern siehe Riquer/ Badia, 1984: 24-29,
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Vgl. Riquer, "1984: 156. Vgl. Riquer, "1984: 156. Vgl. Riquer, "1984: 158. Vgl. Riquer/ Badia, 1984: 23. Vgl. Riquer/ Badia, 1984: 13-22; eine Abschrift der wichtigsten Dokumente, die sich auf Jordi de Sant Jordi beziehen, ebd.: 44-53. 16 So z.B. der Marqués de Santillana: »En estos nuestros tiempos floresçiô Mossén Jorde de Sanct Jorde, cavallero prudente, el quai çiertamente compuso assaz fermosas cosas, las quales él mesmo asonava, ca fue müsico exçellente; e fiço, entre otras, una Cançiôn de oppösitos que comiença: Tosjorns aprench e desaprench ensems; fiço la Passion de Amor, en la quai copilö muchas buenas cançiones antiguas, asy destos que ya dixe como de otros.« (Zitiert nach Riquer, 4 1984: 175.) Zum Lob der dichterischen Qualitäten von Jordi de Sant Jordi durch den Marqués de Santillana siehe auch Riquer/ Badia, 1984: 55-57. 17 Vgl. Riquer, 1982: 7; eine genaue Beschreibung seiner Kunstsprache in ihrem historischen und literarischen Kontext geben Riquer/ Badia, 1984 im Anhang II: 302-311 (»Notes per a la caracteritzaciö lingüistica«). 18 1914 hatten Jaume Massô Torrents und Jordi Rubiö dieses Gedicht noch Peire Vidal zugeordnet; erst 1952 konnten über dem ersten Vers mit Hilfe von ultraviolettem Licht die Worte »Autra Jordi« (im Manuskript geht das Gedicht »Estat d'honor e d'amor« Jordis de Sant Jordi voraus) von D. Pedro Bohigas und Marti de Riquer entziffert werden. (Vgl. Riquer, 1952: 208.) Dieses Manuskript enthält nur die ersten drei Strophen; die letzten beiden Strophen und die Tornada, die Lluis Nicolau d'Olwer bereits 1917 veröffentlicht und hierbei zu recht eine Autorenschaft Jordis de Sant Jordi angenommen hatte, wurden von Marti de Riquer richtig als bruchloser Schluß des Gedichtes (infolge der Reime, welche jeweils den letzten und den ersten Vers einer jeden Strophe miteinander verbinden) erkannt; vgl. Riquer, 1952: 209. (Dort wird auch auf ältere Sekundärliteratur zu diesem Gedicht hingewiesen, die noch der Frage nachging, ob es von Peire Vidal stammen könnte; desgleichen ist neben dem Text eine spanische Übersetzung [1952: 21 lf.] von Marti de Riquer abgedruckt.)
19 Acht- und Viersilbler finden sich auch noch in zwei anderen Gedichten Jordis de Sant Jordi. Ansonsten bevorzugt er — gemäß der okzitanischen und katalanischen Trobadortradition und wie auch Ausiàs March — Zehnsilbler und aus jeweils acht Versen gebildete Strophen. 20 Vgl. Riquer/ Badia, 1984: 285. 21 Aus Raumgründen sei zur allgemeinen Orientierung über den Hintergrund mittelalterlicher Trobadorlyrik lediglich auf eine spezialisierte Studie zum 12. Jahrhundert sowie auf ein Standardwerk verwiesen: Jörn Gruber: Die Dialektik des Trobar: Untersuchungen zur Struktur und Entwicklung des occitanischen und französischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1983 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, Bd. 194); Rüdiger Schnell: Causa amoris: Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern: A. Francke 1985. 22 Riquer/ Badia, 1984: 101, Anm. zu Vers 8, weisen daraufhin, daß diese Metapher auch bei Aimeric de Peguilhan und Guilhem Ademar zu finden ist.
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23 Riquer/ Badia, 1984: 97f., gehen in ihrer Kurzinterpretation allerdings davon aus, daß es sich hier um eine »ehrliche« Liebeserklärung im Sinne der »fina amor« handele. (»[...] el motiu dominant és la declarado d'una fermesa amorosa indestructible i sincera, concebuda plenament en eis termes de la fina amor trobadoresca. Jordi de Sant Jordi parla de dreyt'amor (V. 3) i d'ell mateix com d'un fin aman (V. 4).«; (ebd.: 97). 24 Riquer, "1984 und Riquer/ Badia 1984 (passim) zählen suis locis jeweils die bisher bekannten Übernahmen aus anderen literarischen Werken auf; vgl. auch Schönberger, 1991:746. 25 Dies ist ein Grund, der dafür spricht, dieses Gedicht zum Korpus der Lieder von Jordi de Sant Jordi zu zählen; die Position von Romeu i Figueras, 1977: 28 [165], welcher in Kenntnis des Zitates von Santillana (siehe oben, Anm. 21) die Autorenschaft des valencianischen Ritters bezweifelt, erscheint mir nicht schlüssig. 26 Zur Liebeskonzeption des Dichters siehe auch Riquer/ Badia, 1984: 70ff. 27 Vgl. die Übersetzung der ersten Verse bei Schönberger, 1991: 745: »Jetzt hört, Damen, wie ich euch lehre, / von welchem Stand oder Gesetz auch immer [ihr seid], / daß ihr mir nicht glaubt, wenn ich euch meine Liebe erkläre, / denn, ich schwöre bei Gott, daß ich es aus Falschheit tue. / So wenige Damen sind zur Liebe bereit, / daß ich jegliches Verlangen und Wünschen ablege; / aber damit ihr euch hierin gut auskennt, / unterrichte ich euch hiervon in meiner öffentlichen Bekanntmachung.« Dieses Gedicht, welches oft als »Crida« bezeichnet wird, relativiert nicht nur andere Gedichte des Dichters bezüglich der heute gerne aufgrund romantischer Vorurteile unterstellten »Aufrichtigkeit« des Dichters, es zeugt vor allem vom spielerischen Umgang des Dichters mit seinem Stoff. 28 Siehe unter anderem Riquer, 1951 und Riquer, 4 1984: 163. 29 Der Anhang I von Riquer/ Badia, 1984: 285-301 (»Esquemes métrics i rimari«) stellt sämtliche Versmaße und Reimmuster im Korpus von Jordi de Sant Jordi ausführlich vor. 30 Diese fuhrt im Anhang III auch einige Fragmente auf, welche Jordi de Sant Jordi zugeordnet werden (Riquer/ Badia, 1984: 312f.).
Kurt Schnelle
Juan de Mena. Donde yago en esta cama
Donde yago en esta cama, la mayor pena de mí es pensar cuando partí de entre bragos de mi dama. 5
A vueltas del mal que siento de mi partida, pardiós, tantas vezes me arrepiento cuantas me miembro de vos: tanto que me hazen fama 10 que de aquesto adolecí, los que saben que partí de entre braqos de mi dama. Aunque padezco y me callo, por esto mis tristes quexos 15 no menos cerca los hallo que vuestros bienes de lexos: si la fin es que me llama, ¡o que muerte que perdí, en vivir cuando partí 20 de entre braqos de mi dama! (Cancionero castellano I, Nr. 38)*
Auf dieses Lager hingestreckt / ist es für mich die größte Pein, / wenn ich daran denke, wie ich / aus den Armen meiner Herrin schied. Und dann der Schmerz, den ich über meinen Abschied empfinde, / bei Gott, / so viele Male bereue ich, / wenn ich mich an sie erinnere. / Viele wissen davon, / wie ich daran erkrankte, / da ich aus den Armen meiner Herrin schied. Obschon den Schmerz ich fühle, schweige ich / über meine traurigen Erinnerungen. / Und doch sind sie mir so nahe, / je ferner ich von ihren Gnaden bin: / und sollte sich jetzt mein Ende nahen, / ach, was für einen Tod habe ich damals verloren, / da ich leben blieb, als ich schied / aus den Armen meiner Herrin!
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/ Die Verse dieses Liebesliedes wurden unter König Juan II. von Kastilien und León geschrieben. In seiner Regierungszeit dehnte sich zwischen 1419 und 1454 das Reich aus, freilich um den Preis ständiger kriegerischer Verwicklungen und Adelsfehden um Macht und Einfluß bei Hofe. Gleichzeitig begann sich das Kastilische zu befestigen, dem die ritterliche Trägerschaft der Reconquista Vorherrschaft verschaffte; und eine höfische Kultur entwickelte sich, die vorher mehr den Provenzalen, Galiciern und Portugiesen abgeborgt war, nun aber selbständig wurde, wie das in den Worten des Marqués de Santillana zum Ausdruck kam: »[...] non han mucho tiempo qualesquier deçidores e trovadores destas partes, agora fuessen castellanos, andaluçes o de la Extremadura, todas sus obras componían en lengua gallega o portuguesa.«1 Der Verfasser des Gedichtes, Juan de Mena (1411-1456), war nach einer humanistischen Ausbildung in Salamanca, Córdoba und Rom zu einem Hofamt als cronista regio gekommen. In seiner Person verkörperten sich die hochgeschätzte Verbindung von armas y letras, und mit dem Marqués de Santillana und Jorge Manrique bildete er das Trio der großen Dichter des 15. Jahrhunderts. Kein anderer Dichter dieses Jahrhunderts wurde so oft gedruckt und kommentiert wie Juan de Mena. Sein Aufstieg war verbunden mit dem großen didaktischen und politischen Werk Las trescientas de Juan de Mena, llamadas el »Laberinto de Fortuna«, eine allegorische Dichtung, die er Juan II. widmete. Sie lief seit 1444 in Manuskriptform um, wurde 1481 erstmals in Salamanca gedruckt und brachte es bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf 18 nachgewiesene Ausgaben. Und hier wurde auch das von uns behandelte Gedicht angehängt, das die Überschrift trug: »Canción que hizo Juan de Mena estando mal.« Die Verse gingen Juan de Mena leicht von der Hand. Sie zeichneten sich durch den individuellen Stil und die meisterhafte Beherrschung aller Techniken aus, die in den Gattungen der höfischen Dichtung, in den epischen und lyrischen Werken und in der Volksdichtung Anwendung fanden. Seine künstlerische Arbeit entsprach einem neuen Lebensstil, der mit dem Versuch verbunden war, die innerständischen Rangordnungen mit der Herausarbeitung eines dem niederen Adel angemessenen Gesinnungsadels zu überwinden. Dieser neue Geist der Sittlichkeit, der sich in der Lyrik zeigte, entfaltete sich zunächst in Südfrankreich, ehe er sich im 13. Jahrhundert in allen romanischen Ländern befestigte. Stärker und intensiver als andere Länder bewahrte Spanien die Spuren dieses Einflusses der höfischen Lyrik der Troubadoure bis in das 15. Jahrhundert. Für die ritterliche Lyrik in Deutschland steht noch immer der Name von Walther von der Vogelweide auch im Hinblick auf die Vielseitigkeit der Themen und der Empfindsamkeit an erster Stelle. Halten wir uns nun an das vorliegende Gedicht, das ausdrücklich als canción bezeichnet wird, obschon es eher für den Vortrag oder die Lektüre als für den Gesang gedacht war, der Autor aber die Frage damit offenläßt, ob nicht doch der metrischen Komposition wegen das Gedicht hätte gesungen werden können. Vermutlich rührt der Dichter mit der Benennung aber dazu an die Traditionen der Lieddichtung, die noch aus der Antike übernommen worden waren (Carmen, Canticum, cantica amatoria). Der an das Bett gefesselte Liebende gibt sich einer gefühlsbetonten Betrachtung darüber hin, ob es denn nicht leichter gewesen wäre, auf diesem La-
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ger den Tod anzunehmen, als sich aus den Armen seiner Dame zu lösen, deren »Gnaden« er nun entbehren muß, was ihm eine viel größere Pein bereitet, als an den Tod verloren zu sein. Der Refrain unterstreicht die tiefe Betroffenheit des Liebenden, könnte er doch die Achtung seiner Dame verloren haben. Das Gedicht gehorcht den Regeln einer verfeinerten höfischen Kultur, die mit der Unterwerfung nicht unter einen Höhergestellten, sondern mit der unter eine Herrin (domina-dama), deren Namen wir niemals erfahren werden, Quell aller den Liebenden bewegenden Hoffnung und aller Pein ist. Der Liebende exaltiert sein Leiden, steigert seine Erwartung nach der Erfüllung seines Sehnens, obschon das den Verlust der »hohen Minne« bedeuten könnte, die einer höhergestellten verheirateten Frau gezollt wird. Denn der vielleicht erlangte körperliche Besitz würde die ständige Anspannung, die in dem gesuchten Konflikt zwischen Leiden und Lust liegt, auslöschen. Der Gegenstand der Belagerung jedoch fordert eine ständig erneute Unterwerfung, die ihre Entsprechung im Vasallitätsprinzip hat. Daher die immer wieder auftauchenden Hindernisse, die die Konsumierung der Liebe verzögern. Oft verdunkelt sich die Rede an oder über die Herrin, so daß Außenstehende keinen Anteil mehr daran haben; oft scheint man sich in mystischen Gefilden zu befinden. Der Inhalt dieser Dichtungen steht in Beziehung zur Zahl der Strophen, der Verse und der Silben. Darüber kann man spekulieren. Gleichzeitig entstanden aber dafür Regelwerke. Eine dieser frühen Dichtungstheorien verfaßte der aus den königlichen Familien Aragóns und Kastiliens stammende Enrique de Villena (1384-1434). Sein Arte de trobar, dessen Titel an die Kunst der provenzalischen Trobadors gemahnt, die auf der Suche nach Kompositionselementen und deren ( E r f i n dung begriffen waren (trouver, composer), entwickelte für die in Mode gekommenen öffentlichen Dichterwettstreite, die man »Blumenspiele« nannte, Bewertungskriterien und stellte die Ansicht vor, daß die Poetik eine Wissenschaft sei, die der Lebensführung nützlich wäre. Das verpflichtete den Dichter zur ständigen Verfeinerung seiner Bildung. Darüber wachte dann ein »consistorio de la gaya ciencia«, so nannte man die rechte Poetik. In unserem Fall ist die Formel für eine canción de amor — auch canción troveresca genannt — gewahrt. Betrachten wir nun unseren Text unter diesem Gesichtspunkt. Das Thema schlägt ein Vierzeiler mit umschlingendem Reim an (abba). Als Form der Strophe hat der Vierzeiler eine alte Tradition und war vor allem in der erzählenden Dichtung beliebt.2 Soche Strophen wurden mit dem Namen redondillas belegt und besaßen als Eingangsformen für Lieddichtungen seit Alfons dem Weisen (1252-1284) einen wichtigen Platz. Der berühmte Diccionario de Autoridades, der Philipp V. (1700-1746) zugedacht wurde und »en que se explica el verdadero sentido de las voces, su naturaleza y calidad, con las phrases o modos de hablar, los proverbios o refranes y otras cosas convenientes al uso de la lengua«3, sagt zu redondilla-. »Estancia de quatro versos á ocho sylabas, en que concierten los consonantes, primero y quarto, tercéro y secundo, y alguna vez alternados«. Was die Silbenzahl angeht, so zeigt sich in dieser Festschreibung ein späterer Entwicklungsstand. Redondillas (»Rundreime«) konnten auch zwischen 5 und 11 Silben variieren, wenn auch im Laufe der Zeit der 8-Silbler nach vorn rückte.
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Die redondilla, von der Lope de Vega meinte, sie sei besonders für die »cosas de amor« zu empfehlen 4 , schlägt das Grundmotiv der Dichtung an. Man kann sagen, daß die über dem vorgebrachten Anliegen gebauten Teile eigentlich das gesamte Gedicht zu einer glosa des Gedichtanfangs machen. Im vorliegenden Text sind die Teile zwei Oktaven, die dem Dichter einen großen Spielraum für die Versart und den Reim lassen. Unter den verschiedenen Kombinationen der Oktava erreicht die Form mit drei Reimen die höchste Frequenz, wobei unter den möglichen Varianten das Schema abab: bccb geschätzt wurde (einmal gekreuzter, einmal umschließender Reim).5 Die strukturelle Beweglichkeit, das Fluktuieren, erlaubte eine fortgesetzte Erneuerung oder »Modernisierung« bis in die heutige Zeit. Eine Dichtung lebt nicht nur aus der Metrik, aus Reim oder Rhythmus, es gewinnen auch die angewandten Zeiten eine große Bedeutung. In dem bezaubernden »Spanischen Brief«, den Karl Vossler zum 50. Geburtstag an Hugo von Hofmannsthal richtete (1924), sprach der Hispanist vor allem die Romanzen an, aber das dort Vorgebrachte steht unserem Text nicht fern. Was Vossler für die Unmittelbarkeit des Stils in der spanischen älteren Dichtung anführte, betraf den »Gebrauch des Imperfekts mit präsentischer Bedeutungsfunktion, was in der ganzen Romania kaum seinesgleichen hat.« Hier aber ist dieses Imperfekt in der direkten Rede sinnvoll und bedeutungsschwer, »denn dort wirkt es wie ein Zurückgleiten in die indirekte oder bedingte. Es veranschaulicht dann die Spreizstellung oder den schwebend gehemmten Sprung der Erzählung, die eben keine Erzählung, sondern ein tönendes Fluidum ist, zwischen dem Jetzt und dem Damals«6. II Unter der Bezeichnung Cancioneros findet man zuerst Sammlungen von Werken oder canciones eines einzelnen Dichters. So kennt man die Cantigas de Santa Maria des gelehrten Königs Alfons X., geschrieben in einem portugiesisch-galicischen Dialekt. Der Neffe des Königs, Don Juan Manuel, verfaßte u.a ein Libro de los Cantares; der Markgraf von Santillana, López de Mendoza, sammelte ebenfalls seine Sonette, Canciones y Decires. Solche individuellen Sammlungen gingen den größeren und allgemeineren Sammlungen voraus, Kompilationen, die Cancioneros genannt wurden. Ihre Zahl ist noch nicht annähernd genau zu bestimmen, denn es waren zunächst handschriftliche Texte, die in den höfischen Bibliotheken aufbewahrt wurden. Ja selbst in der Zeit, da der Buchdruck schon begonnen hatte, ließ man es oft bei Abschriften bewenden, da selbst die »ricos hombres« eher Abschreiber denn ein Buch finanzieren konnten. Eines der ersten und vorzüglichsten Zeugnisse solcher Liedsammlungen ist der nach dem Namen des Sammlers benannte Cancionero de Baena, der 1445 abgeschlossen wurde. Vom Leben des Juan Alfonso de Baena ist nur wenig bekannt. Er soll aus Andalusien stammen. An den Hof Juans II., König von Kastilien und León (1406-1454), kam er wohl durch die Protektion der Regentin und Witwe Enriques III., Doña Catalina de Lancáster. Er schrieb eine Composición a la muerte de Enrique III. Der mit 27 Jahren verstorbene König hatte sich in heftigen Auseinandersetzungen mit den Ansprüchen des Adels befunden und versuchte, auch in den Städten die königliche Jurisdiktion mit Beamten durchzusetzen. Baena
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wurde in dieser Situation »ecrivano del Adelantado Diego de Ryvera« (i.e. Ribera). Der Nachfolger Juan II. war beim Tode seines Vaters gerade ein Jahr alt, und eine Regentschaft, gebildet von seiner Mutter Catalina und seinem Onkel Don Fernando, — genannt »el de Antequera«, der mit Autorität auch die Reconquista wieder aufnehmen ließ und dabei Antequera eroberte (1410) — führte die Geschäfte. Fernando mußte jedoch noch vor der Großjährigkeit seines Neffen Juan 1412 die Krone von Aragon übernehmen. In Kastilien begannen danach wilde Raufereien um Einfluß und Macht. Man hielt den jungen König für einen Schwächling, verheiratete ihn mit der Tochter seines Onkels Fernando, Maria von Aragon, deren Brüder nun Juan die Macht streitig machten, den König erneut zu entmachten suchten und verfolgten. Der suchte sich als verläßliche Stütze Don Alvaro de Luna aus, gegen den es nun zu vielen Verschwörungen kam, bis sich dann der König von ihm abwandte und ihn hinrichten ließ (1453). In dieser Zeit legte Baena den Cancionero an; er war nunmehr »escribano del Rey«, verrichtete bürokratische Arbeiten, die wenig mit Poesie zu tun hatten. Als er seinem König 1445 die Sammlung widmete, war er schon in die internen Streitereien hineingezogen worden; man begann, Witze über seine jüdische Herkunft zu machen, und literarische Kämpfe kamen dazu, wobei Beschimpfungen und Großmäuligkeit nicht fehlten. Der Schluß des Inhaltsverzeichnisses des Cancionero lautete deshalb: »Johan Alfonso de Baena / lo compuso con grand pena«. Hatte sich die Anstrengung gelohnt? An wen war die Sammlung insgesamt gerichtet? Zunächst bescheinigte Marcelino Menendez y Pelayo dem Cancionero historisch höchsten Wert für die inneren und äußeren Verhältnisse Kastiliens. Dazu trägt bei, daß wir es hier nicht mit einer bloßen Kompilation, sondern mit einer kritischen Auswahl zu tun haben, die freilich keine Systematisierung nach der Zeit, nach der Ästhetik oder nach poetischen Schulen und Tendenzen vornimmt. Es fehlen zumeist die führenden Literaten, bis auf wenige Ausnahmen, zu denen Juan de Mena zählt. Seinem Cancionero stellte Baena eine Widmungsbrief an Juan II. voran, in dem der Versuch deutlich wird, König und Hof ein Diktum näher zu bringen, nämlich die Werte und Erfahrungen aufzunehmen, die aus der Geschichte der literarischen Werke, aus ihren Inhalten zu gewinnen wären: Segund que disponen e determinadamente afirman los filosofos e sabios antiguos, natural cosa es amar e desear e cobdyc^iar [= codiciar] saber los omnes todos los fechos que acaes9en en todos los tiempos, tan bien en el tiempo que es ya pasado, como en el tiempo que es presente, como en el otro tiempo que es por venir.7 Am Schluß des Briefes zählt Baena die auf, in denen sich »virtud e efectos de la cortesia« verkörpern: König und Königin, Thronfolger, die großen Herren des Reiches, Prälaten, Infanten, Herzöge, Grafen, Statthalter, Admirale, Ordensgroßmeister, Priore, Marschälle (Hofmeister), Doktoren, »caballeros, escuderos e todos los otros fidalgos e gentiles omnes, sus donseles e criados e oficiales de la su casa real.«
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Im folgenden Prolog läßt sich erkennen, daß Baena zeitkritische Betrachtungen vorlegt, so etwa in dem Aufruf zur Bildung; auch wenn sich zeigt, daß viele Abwechslungen dagegen stünden: [...] porque la pereza es contrarya é enemiga del saber, la qual faze á los omnes que no se lleguen á él, ni busquen carreras por donde los conoscan, ovyran los sabios é los entendidos el saber por grande tesoro, é prefiaronlo mucho sobre todas las otras cosas, é tovieronlo por lus para alumbar á sus entendymientos, é de todos los otros que lo sopiessen, dexandolo todo en memorya é por escriptura [...]. Für die großen Herren wird nachdrücklich angemerkt, daß viele ihrer Beschäftigungen, ihrer kriegerischen Übungen, Karten- und Schachspiele und der Zeitvertreib mit »lidear toros«, sowie Jagden nicht zu einer Hebung der Kenntnisse beitragen, die sie für eine verantwortliche Herrschaftstätigkeit benötigten. Und es wird erneut unterstrichen, daß Lehren aus den großen geschichtlichen Ereignissen gezogen werden müssen, um zugleich bescheidener und erfahrener zu werden. Beispielhaft tritt die Bedeutung und Kultivierung literarischer Meisterschaft und die derjenigen hervor, die sie ausüben. Dichter und Dichtung sowie verfeinerter Lebensstil stehen im Mittelpunkt der Bildung: El arte de la poetrya é gaya (jien^ia es vna escriptura é conpusy^ion muy sotil é bien granosa, é es dul9e é muy agradable a todos los oponientes é r e s pondientes d'ella é conponedores é oyentes [...]. Bedeutung und Nützlichkeit der Dichtung ist gebunden an ihre Vertreter, die weniger Bestätigung durch die Menge, sondern die Perfektion in der Ausübung einer hochkünstlerischen Technik suchen. Alles wird zum Inhalt eines vertieften höfischen Lebens, das vom Kleinadel getragen wird, den Hidalgos, die aus dem kriegerischen Leben, in das sie mit der Reconquista eingebunden wurden, nun in einen neuen Raum treten. Am Schluß des »Prologus Baenensis« heißt es deshalb: [...] noble fydalgo é cortés é mesurado é gentil é granoso é polido é donoso é que tenga miel é apucar, é sal é donayre en su rrasonar, é otrosy que sea amador, é que siempre se precie é se finja de ser enamorado; porque es opynion de muchos sabyos, que todo omne que sea enamorado, conviene á saber, que ame é quien deve é como deve é donde deve, afirman é disen quel tal de todas buenas doctrinas es dotado. Damit wird deutlich, daß die poesía cancioneril in engster Beziehung zur cortesía steht, die ihrerseits, wie José Antonio Maravall zeigte, auf enge Weise mit Wissen und Vernunft verknüpft ist. Was Baenas Arbeit dazu noch auszeichnet, sind die kleinen biographischen Notizen zum jeweiligen Verfasser; einige Hinweise auf ihren Stil, auf die Umstände der Entwicklung sowie zur Technik sind zu finden, und an wen die Dichtung gerichtet war. Man zählt 576 Kompositionen von 54 namentlich genannten und mehr als 35 anonymen Autoren. Sie kommen aus den Zeiträumen der Regierung von Pe-
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dro I. (1350-1369), Enrique II. (1369-1379), Juan I. (1379-1390), Enrique III. (1390-1406) und von einem Teil der Regierungszeit von Juan II. Zwei Gruppen von Dichtung sind zu unterscheiden: einmal die in sprachlichen Mischformen auftretende ältere galicisch-provenzalische Gruppe und dann die alegorischdanteske Gruppe, die das Kastilische durchsetzte. In der Reihe der Cancioneros bietet der Cancionero de Stúñiga (auch Estúñiga) eine interessante Variante. Die Sammlung entstand am Hofe Alfons' V. von Aragón in Neapel und enthält vor allem Gedichte der Ritter, die den Sohn Ferdinands I. von Aragón begleiteten, um Spanien im Mittelmeerraum eine aktive Rolle zu verschaffen. Hier nahm man engsten Kontakt mit der italienischen Renaissance und dem Humanismus auf. Der Fürst selbst war ein Latinist, der Seneca übersetzte und weitere Übersetzungen von Aristoteles und Xenophons anregte. Der Cancionero spiegelt vor allem das kriegerische und höfische Leben in Neapel, das neben der Kulturblüte am Hofe Juans II. von Kastilien einen nicht weniger gediegenen Charakter annahm. Neben der lateinischen Sprache der italienischen Humanisten war die Dichtung der Katalanen und Aragonesen vor allem auf das Kastilische hin orientiert, was eine Lehre von Dante ins Gedächtnis ruft, der feststellte: »Der, der in der Volkssprache zu dichten sich anschickte, tat es, um seine Worte der Herrin verständlich zu machen, der es schwer fiel, lateinische Verse zu verstehen« (Vita nuova, Kap. XXV). Die Sammlung entstand um 1460/63, also kurz nach dem Tode von Alfons V. (1416-1458), der den Namen »der Großmütige« trug und dem sein Bruder Juan II. auf den Thron von Aragón und in Neapel sein natürlicher Sohn Don Fernando nachfolgten. Den Namen erhielt der Cancionero nach dem Verfasser des zufallig ersten Gedichtes, Lope de Stúñiga. Dessen Vater hatte schon im Cancionero de Baena gestanden. Den betont lyrischen Charakter der Sammlung Stúñiga machen auch die hier aufgenommenen volkstümlichen Dichtungsformen aus, wie villancetes, motes, glosas und romances. Man begegnet zudem dem ersten bekannt gewordenen Romanzendichter Carvajal oder Carvajales, der der Inspirator der aragonesischen Dichtergruppe war. An seinen serranillas wollte man ihn als einen Meisterschüler des Marqués de Santillana erkannt haben. Der Cancionero de Baena erschien 1851 erstmals gedruckt, der Cancionero der Stúñiga 1872. Anders verhielt es sich mit der großen Sammlung, die den Namen Cancionero general trägt. Sie wurde 1511 in Valencia mit dem Titel gedruckt: Cancionero General y muchas y diversas obras de todos i d'los más principales trovadores de España en lengua castellana copilado y maravillosamente ordenado por H. del Castillo. Der Drucker war der Deutsch-Schweizer Christop Kofman. Lope de Vega soll der Meinung gewesen sein, die Sache sei »a bulto« — a u f s Geratewohl — entstanden. Aber dieser Cancionero erlangte für die Verbreitung der höfischen Kultur und der kastilischen Sprache eine schwer zu überschätzende Bedeutung. Dazu tritt das Element der typographischen Revolution und des Buchgeschäftes. Fangen wir bei dieser Frage an, so stellt sich das Werk als ein Meisterstück dar, was seine Ausstattung und den Druck auf 484 Folio-Seiten angeht. Gedruckt wurden die etwa 1000 Gedichte in meist drei Kolumnen mit gotischen Buchstaben. In keinem anderen Land wurde je eine solche Kompilation vorgelegt.
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Hernando del Castillo, ein Kastilier, lebte am Hofe des Conde de Oliva in Valencia. Die Stadt war ein Anziehungspunkt für Liebhaber der Dichtung. Del Castillo begann hier um 1490 mit der Sammlung von Gedichten von Juan de Mena an etwa bis zu seiner Zeit, die der Katholischen Könige. In der Kompilation erscheinen um die 200 Autoren, von denen nicht alle ein Publikum wie die ebenfalls vertretene erste Reihe von Dichtern, wie Mena, Santillana, Montoro, Alvarez Gato, Gómez Manrique, Pérez de Guzmán, oder Guillén de Segovia besaßen. Del Castillo hatte wohl trotz seines Sammeleifers kaum andere Cancioneros nutzen können; es fehlen eine ganze Reihe religiöser Dichter. Was vorgestellt wird, gibt einen guten Einblick in die Mentalität der Epoche. Nach einem Prolog an den Conde de Oliva nennt del Castillo neun Gruppen von Dichtungen, nach denen seine Arbeit aufgebaut sein sollte: 1. »Obras de devoción y moralidad«, 2. »Obras de amores«, 3. »Canciones«, 4. »Romances«, 5. »Invenciones y letras de justadores«, 6. »Glosas de motes«, 7. »Villancicos«, 8. »Preguntas«, 9. »Obras de burlas provocantes o risa«. Dieser schöne Plan wurde nicht eingehalten; die Gruppen wurden vermischt. Wichtig erscheint heute die Gruppe 4, weil hier ein Keim für die Romanceros gelegt wurde, die später in Druck gingen. Für seine Auswahl verband sich der Sammler mit einem Drucker und einem Schreiber, die Geschäftsbedingungen wurden notariell festgehalten. Die Auflage hatte 1000 Exemplare; del Castillo erhielt als einziger Autor 25% des Verkaufspreises. Es wurde ein königliches Privileg erlangt, das jeden Neudruck für 5 Jahre in Kastilien und für 10 Jahre in Aragón verbot und den Verkauf allein den Herausgebern gestattete. Da die Ausgabe in 2 Jahren ausverkauft war, verfertigte del Castillo überarbeitete Ausgaben, die, zum Teil erweitert, dann 1514, in Toledo 1517, mit Nachdruck nochmals 1520 und 1527 in Toledo erschienen. Es beginnt nun die Zeit der Abdrucke in Belgien (1559), mit aktuellen Themen bereichert, z.B. »Romance que trata cómo el Emperador renunció los estados de Flandres en el rey don Felipe su hijo«. Zu dieser Zeit spielte der Cancionero General in Spanien kaum eine Rolle mehr. Er hatte seine Rolle bei der Herstellung der sprachlichen Einheit in der Dichtung ausgespielt. Der Fortbestand der Tradition war gesichert.
I. Verzeichnis der Cancionero-Ausgaben in Auswahl Cancionero de Baena. 2 Bde. Hg. v. F. Michel. Leipzig: Brockhaus 1860. Cancionero de Baena. 3 Bde. Hg. v. J. M. Azáceta. Madrid: CSIC 1966. Cancionero de Herberay des Essarts. Hg. v. Charles V. Aubrun. Bordeaux: Féret et fils 1951. Cancionero general. Faks. Druck mit Bibliographie, Index und Anhängen v. A. Rodriguez-Monifio. Madrid: Real Academia Española 1958. Cancionero general de Hernando del Castillo {Antología temática del amor cortés). Hg. v. J. M. Aguirre. Salamanca: Anaya 1971. Cancionero general de H. del Castillo. 2 Bde. Madrid: Sociedad de Bibliófilos Españoles 1982 (Madrid 1958, 2 Bde.). Poesía de cancionero. Hg. v. Alvaro Alonso. Madrid: Cátedra 1986.
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Ausgaben der Lyrik von Juan de Mena: Obra Urica. Hg. v. Miguel Angel Pérez Prieto. Madrid: Alhambra 1979. Poesie Minori. Hg. v. Carla de Negris. Neapel: Liguori 1988. Juan de Mena. Antología de su obra poética. Hg. v. J.M. Azáceta. Barcelona: Plaza y Janes 1986. II. Kritische
Literatur
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Anmerkungen
* Zitiert nach: Cancionero castellano del siglo XV. Hg. v. R. Foulché-Delbosc. Bd. I. Madrid: CEBB 1912, S. 215. Vgl. auch Azáceta, 1986: 79. Dort jedesmal ohne die signos de admiración, die jedoch von M. Menéndez Pelayo in seinem Aufsatz über Juan de Mena zu finden sind. (Genutzt wurde dazu: Menéndez Pelayo, Marcelino: Poetas de la Corte de Don Juan II. Hg. v. E. Sánchez Reyes. Madrid: Espasa-Calpe 31959, S. 182.) Die Herkunft des Textes ist nicht angezeigt, da aber andere Gedichte in Vielzahl nach dem Cancionero general zitiert sind, kann die Quelle entweder das Original (Ausgabe 1511) sein, oder die Reproduktion dieses Textes mit den hinzugefügten Gedichten der Ausgaben von 1527, 1540 und 1557, in: C.G. de Hernando del Castillo. Madrid: SBE 1882 (2 Bde.). Das Vorhandensein der signos zur Hervorhebung des aktuellen Empfindens (vgl. Karl Vossler) kann sich auch auf andere verlebendigte Texte von Mena stützen. 1 »Comiença el prohemio e carta quel Marqués de Santillana envió al Condestable de Portugal con las suyas«, in: El Marqués de Santillana, Obras. Hg. von Augusto Cortina. Madrid: Espasa-Calpe 5 1975 ('1946), S. 29-41: 36. 2 Baehr, 1962: 169-171. 3 So der vollständige Titel dieses Wörterbuches, das in 6 Bänden zwischen 1726 und 1739 erschien. Faksimiledruck in 3 Bänden. Madrid: Gredos 1964. 4 Arte nuevo de hacer comedias, in: Obras escogidas. Estudio preliminar, biografía, bibliografía, notas y apéndices de Federico Carlos Sainz de Robles. Bd. II. Madrid: Aguilar 1961, S. 895 b. 5 Navarro Tomás, 1966: 99. 6 Vossler, 1924: 132. 7 Genutzt wurden hier für den ursprünglichen Text die zuverlässige Ausgabe El Cancionero de Juan Alfonso de Baena. Siglo XV. Madrid: M. Rivadeneyra 1851 (aufbereitet von P.J. Pidal), S. 5, 6, 8, 9. Vgl. dazu mit Text im Faksimiledruck von H.R. Lang: Cancionero de Baena. Reproduced in Facsímile from the unique manuscript in the Bibliothèque Nationale. New York: Printed by order of the trustées 1926: fol. 1 u. recto, 3 u. recto. Weiter: Azáceta, 1966: 7ff. (Bd. I).
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Marqués de Santillana. Soneto V En este quinto soneto el actor fabla en nonbre del ynfante don Enrrique, e muestra commo se quexa por la muerte de la señora ynfante, su muger, e dise que non solamente al fielo e perdurable gloria la quisiera conseguir, donde él cuyda e ha por dicho ella yua, según la vida e obras suyas, mas aún al ynfierno e maligno fentro, sy por ventura dado le fuese ferirse él mesmo e darse a la muerte por golpe de fierro o en otra qualquiera manera. Non solamente al templo diuino, donde yo creo seas refeptada segund tu santo ánimo benigno, preclara infante, muger mucho amada, 5 mas al abismo o fentro maligno te seguiría, sy fúesse otorgada a cauallero por golpe ferrino cortar la tela por Cloto filada. Assí non lloren tu muerte, maguer sea 10 en hedad nueua e tiempo triumphante, mas la mi triste vida que dessea yr donde fueres, commo fiel amante, e conseguirte, dulfe mía Ydea, e mi dolor aferbo e in^essante. In diesem fünften Sonett spricht der Autor im Namen des Infanten Don Enrique, der den Tod seiner Frau beklagt und sagt, daß er ihr nicht nur in den Himmel folgen wolle, wo er sie vermutet, sondern auch in die Hölle, wenn es ihm gegeben wäre, sich durch Waffengewalt oder wie auch immer den Tod selbst zuzufügen. Nicht nur in den göttlichen Tempel / wo ich glaube, daß Du angekommen bist / gemäß Deinem heiligen, milden Wesen, / hohe Infantin, vielgeliebte Frau, sondern auch in den Schlund oder Zentrum des Übels / würde ich Dir folgen, wenn es gegeben wäre / dem Ritter mit Eisenschlägen / Klothos Leintuch zu durchschneiden.
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Darum soll nicht Dein Tod beweint werden, obwohl / in jungen Jahren und ruhmreicher Zeit geschehen, / sondern mein trauriges Leben, das sich sehnt, dorthin zu gehen wo Du bist, wie ein treuer Liebhaber, / und Dir folgen, mein süßes Ideal, / und meinen bitteren, unstillbaren Schmerz. I Die Lyrik des Marqués de Santillana gehört zum Wichtigsten, was es in der kastilischen Literatur des 15. Jahrhunderts zu verzeichnen gibt. Vor allem die zehn Serranillas erfreuen sich anthologischer und kritischer Beliebtheit, gefolgt von den Canciones y decires. Weniger bekannt sind außerhalb der Fachkreise die Comedieta de Ponça und die moralischen Gedichte, von denen die Proverbios, Bias contra Fortuna und die Copias a don Alfonso de Portugal besonders hervorzuheben sind. Die Sonetos fechos al itâlico modo, aus denen der hier gewählte Text stammt, stehen den Serranillas an Bekanntheitsgrad kaum nach, da es sich um den ersten Versuch handelt, die Sonettform in der kastilischen Lyrik einzuführen, und sind schon deswegen literaturhistorisch von Bedeutung. Darüber hinaus aber ist die ästhetische Wertschätzung, die ihnen entgegengebracht wird, schwankend. Fast topisch ist die Anmerkung in der Forschung, daß es sich um Versuche mit einer neuen Form handle, die nicht immer geglückt seien, wobei häufig die metrischen Vorschriften dieser Gedichtform nur ungenügend erfüllt worden seien. Alles in allem also eine historisch respektable Leistung, die nur allzu deutlich hinter der ihrer italienischen Vorbilder — allen voran Petrarca — und auch derjenigen späterer spanischer Autoren — insbesondere Garcilaso — geblieben sei.1 Einiges von diesem Urteil ist auf die Editionslage des Werkes zurückzuführen. Nachdem Amador de los Rios 1852 das Gesamtwerk Santillanas publizierte, dauerte es bis 1982, bevor eine neuere Gesamtausgabe entstand (von Manuel Durân), die den mittlerweile nicht unbeträchtlichen weiteren Erkenntnissen über den Autor Rechnung trug.2 Erst in den letzten Jahren sind Ausgaben entstanden, die als kritisch zu bezeichnen sind.3 Santillana selbst hat die Bedeutung seiner Werke freilich anders gesehen. Die heute vor allem geschätzten Serranillas und seine höfische Liebeslyrik hat er als weniger wichtig abgetan: »[...] estas obras [...] no son de taies materias, ni asy bien formadas e artizadas, que de memorable registro dignas parescan.«4 Es sind die großen moralischen Werke, Bias contra Fortuna, La comedieta de Ponça oder eben die Sonetos, die ihm als erhaltenswert und wichtig erscheinen. Das hängt mit den literarischen Vorstellungen des 15. Jahrhunderts zusammen und mit einigen ganz pragmatischen Produktions- und Rezeptionsumständen bestimmter lyrischer Formen. Canciones, Deçires und Serranillas hatten nicht nur eine feste metrische und strophische Struktur, sondern auch präzise Redeund Inhaltsvorgaben; in letzterer etwa ist die Wechselrede zwischen »serrana« und »caballero« ebenso vorgeschrieben wie der äußere Rahmen, die weit abgelegene, offene Gebirgslandschaft und der Liebeshandel zwischen den beiden Sprechern des Gedichts. Einzig im Ausgang ist eine Alternative erkennbar, denn die Werbung des Herren kann, muß aber nicht erfolgreich sein. Ähnliche Fixierungen sind in den Canciones festzustellen.5 Die Texte sind, mit oder ohne Musik, für den öffentlichen Vortrag bestimmt als Teil des höfischen Lebens; daher der leichte, spielerische Inhalt und die weitgehend konventionelle Gestal-
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tung. Manche dieser Texte wurden von mehreren Autoren verfaßt, und auch von Santillana sind einige Texte bekannt, in denen er nur eine oder wenige Strophen schreibt.6 Ganz anders dagegen ist die Lage bei den längeren, moralischen oder politischen Werken; nicht nur ist ihr Inhalt von erheblich größerer Ernsthaftigkeit, sondern auch das heranbemühte Bildungsgut setzt die Beherrschung ganz anderer Register voraus, die in angemessener Weise zu erkennen und aufzuschlüsseln kaum im Rahmen höfischer Geselligkeit möglich ist. Santillana bevorzugt die Behandlung des richtigen menschlichen Verhaltens angesichts der Wechselfalle des Lebens und der Unbeständigkeit des Glücks und lehnt sich dabei in besonderem Maße an Seneca an.7 Für diese Vorliebe und für die spezifische Haltung, die dabei als vorbildlich herausgestellt wird, sind vor allem biographische Motive genannt worden. Don Iñigo López de Mendoza, seit 1445 Marqués de Santillana und Conde del Real de Manzanares, wurde 1398 als ältester Sohn des Almirante de Castilla, Diego Hurtado de Mendoza geboren und gehörte damit zum allerhöchsten — und allermächtigsten — kastilischen Adel. Sein Leben fallt in die Regierungszeit des Königs Juan II. und seines allmächtigen Favoriten Alvaro de Luna, gegen den sich der kastilische Adel formierte und heftig befehdete; die Zeit ist angefüllt von ständigen Kämpfen zwischen Adel und Krone, im Adel untereinander, zwischen Kastilien und Aragon; Santillana war daran aktiv beteiligt, im allgemeinen an der Seite des kastilischen Königs, aber gelegentlich auch gegen ihn, und vor allem erbittert gegen Alvaro de Luna, an dessen Verhaftung 1452 er maßgeblich beteiligt war. In diesen ständigen Kämpfen für die Krone und für das eigene Haus hat er solche Wechselfälle des Glücks, die er in mehreren Werken thematisiert hat, selbst erlebt. In der Bildung und in der Literatur hat er das Bleibende gesucht und wohl gefunden: »La sabiduría más çierta cosa es e más segura que todas las otras posessiones.«8 In einer vielzitierten Stelle des Proemio e carta wird die Literatur in genau diesen Zusammenhang gestellt: »¿E qué cosa es la poesía [...] syno un fingimiento de cosas útyles, cubiertas o veladas con muy fermosa cobertura, conpuestas, distinguidas e scandidas por cierto cuento, peso e medida?«9 Die Vorstellung, daß Literatur didaktisch wirken soll, und daß die Lehrhaftigkeit ein elementarer Bestandteil davon ist, ist dem ganzen Mittelalter gemein. Gerade deswegen aber stehen Gattungen und Schriften, die als wichtig anerkannte Inhalte vermitteln, an höherer Stelle der Wertschätzung als solche, deren didaktischer Wert gering ist — obgleich auch solchen eine Rolle im gesellschaftlichen Leben zuerkannt wird. Der Inhalt ist allerdings nicht alles; in dieser Definition wird auf die »muy fermosa cobertura« nachdrücklich hingewiesen als notwendigen Teil der Dichtung, als unerläßliches Instrument, damit die Lehre ihre volle Wirkung entfalten kann. Die Einordnung der Sonette innerhalb dieses hierarchischen Spektrums der Gattungen ist nicht ganz einfach, gerade weil sie als Gattung erst von Santillana in die kastilische Literatur eingeführt werden. Die Vorbilder, auf die er zurückgreift, stammen im wesentlichen aus Italien, teilweise aus Frankreich, und sind inhaltlich recht deutlich eingegrenzt.10 Als kurze, geschlossene Gedichtform erlaubt das Sonett einerseits keine langen thematischen Ausführungen, doch stellt
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es andererseits große Ansprüche an die Fähigkeit des Autors, mit der komplexen strophischen und metrischen Struktur umzugehen. Insofern stellt es eine literarische Herausforderung dar, die in literarischen Kreisen durchaus geschätzt werden konnte. Weiterhin ist für die Klärung dieser Frage wichtig, welche Autoren Santillana vor Augen hatte und wie er sie eingeschätzt hat. Im Proemio e carta nennt er insbesondere Dante und Petrarca, diesen als »poeta laureado«, jenen als Instanz literarischen Urteils. Von Dante übernimmt er die Einschätzung Homers (»soberano poeta«) und Vergils, wobei er zu dessen Lob in etwas entstelltem Italienisch Purg. VII, 16-18 zitiert. Dantes Vita Nuova hat die Sonetos stärker beeinflußt als Petrarcas Canzoniere und natürlich als die französischen Vorbilder für den silbenzählenden Vers, die hier gleichfalls eine Rolle spielen. Die Epigraphen, die — wie im Sonett V — dem Gedicht vorangehen, könnten auf Dantes Vorbild zurückgehen." Santillanas Bibliothek wies auch eine beeindruckende Anzahl an Werken von und über diesen auf: neben der Divina Commedia im italienischen Original auch die Übersetzung Enrique de Villenas, das Convivio, Texte aus der Vita Nuova sowie die Kommentare Pietro Alighieris und Benvenuto da Imolas zur Divina Commedian. Das macht deutlich, daß er mit Sicherheit in der mittelalterlichen lectura Dantis bewandert war, und tatsächlich griff er bestimmte Aspekte von dessen allegorischer Weltdeutung auf. Überhaupt gilt Dante im Spanien des 15. Jahrhunderts als Autorität, als ein Autor, dessen Werke den Charakter von nahezu verbindlichen Lehrmeinungen hatten.13 Diese Bedeutung strahlt auf sein gesamtes Werk aus und gibt ihm innerhalb der Literatur einen hervorgehobenen Stellenwert; nicht unwesentlich trägt dazu bei, daß Dantes »donna angelicata« sich von geläufigen Vorstellungen der höfischen Dichtung ablöst und mit metaphysischen Bedeutungsebenen verknüpft wird.14 Das Sonett erscheint dadurch mit einem bestimmten, ernsten Bedeutungsregister verbunden, das es von der leichten Liebeslyrik abhebt. Demzufolge steht es innerhalb der Hierarchie der Dichtung den langen Werken ernsten, moralischen Inhalts näher als den kurzen Liebesgedichten, obwohl die Mehrheit von ihnen gleichfalls die Liebesthematik aufgreifen. Es fällt aber auf, daß Santillanas »sonetos amorosos« im Ton weniger spielerisch, das Verhältnis zwischen Liebenden und Geliebte weniger höfisch-konventionell gefugt ist und die Instanz des lyrischen Ich nicht zuerst darin, sondern sich in ihrem Empfindungsgefuge konfiguriert. Die Einschätzung der Sonette als gelegentliche, verstreute lyrische Versuche ist noch in einer weiteren Hinsicht zu präzisieren. Iñigo López de Mendoza war in seiner Jugend an den Hof gekommen und verbrachte etwa sechs Jahre in Aragón, wo er Katalanisch, Galizisch, Italienisch und Französisch lernte. Dantes Werk lernt er durch dessen spanischen Übersetzer Enrique de Villena kennen, mit dem er befreundet war und von dem er die Übersetzung geschenkt bekam. Am aragonesischen Hof steht er in persönlichem Kontakt mit den großen katalanischen Dichtern der Zeit, Jordi de Sant Jordi, Ausiás March und Andreu Febrer, die ihm die provenzalische Tradition nahebringen. Nach seiner Rückkehr nach Kastilien versammelt er wie andere hohe Herren seiner Zeit — König Juan II. oder Alvaro de Luna unter anderem — einen Literatenhof um sich, zu dem Juan de Mena, Pedro Díaz de Toledo, Gómez Manrique, Alfonso Hernández de Palencia, Hernando Pérez de Guzmán und noch einige andere gehören. Mit Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni und Pier Candido Decembrio (dessen
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Homerübertragung in seiner Bibliothek war) stand er in brieflichem Kontakt.15 Selbst wenn Santillana dadurch nicht zum Renaissanceflirsten wird, so sind doch einzelne Merkmale seines Werkes gerade wegen dieses Hintergrundes mit dem Humanismus in Verbindung zu bringen.16 Die Hinwendung zur Sonettform gehört wegen ihres eindeutigen Ursprungs und des kulturellen Zusammenhangs, in dem sie steht, dazu; insofern fugt sie sich als Baustein in eine Vorstellung von höfischer Bildung ein, die den vollendeten Hofmann nicht mehr nur an seiner Gewandtheit mit dem Schwert und am ritterlichen Hofdienst oder an bestimmten Tugenden mißt, sondern auch an seiner Bildung und an der dadurch erreichten Einsichtsfahigkeit: »la sciencia no embota el fierro de la lança, ni faze floxa el espada en la mano del cavallero.«17 Die Könige müssen »[...] fuertes e justiçieros, / temprados, dottos, sçientes [...]«18 sein, und nur Wissen und Bildung können den Menschen über das Unglück hinweg helfen und ihm Halt geben: »La sabiduría más çierta cosa es e más segura que todas las otras posessiones.«19 Mit dieser Haltung verkörpert Santillana eine interessante Stufe des europäischen Frühhumanismus, denn er praktiziert bereits — wahrscheinlich in Aragón gelernt und italienischen Ursprungs — ein Fürstenideal, zu dem die Förderung der Bildung und vor allem die persönliche Teilhabe daran zu den Attributen seiner Würde gehört; die kulturelle Praxis dort ist die einer ausdrücklich weltzugewandten Laienkultur, die sich dadurch von den traditionell mittelalterlichen, hauptsächlich kirchlich geprägten Formen des Wissens — von den Grundsätzen der Schriftexegese bis zur Organisation der Bildungseinrichtungen — entfernt, obwohl sie noch ganz auf deren Grundlagen beruht. Daß Santillana durchaus frühzeitig eine gesamteuropäische Strömung aufgreift und zeitgleich mit der außerspanischen Entwicklung pflegt, zeigt die Tatsache, daß die modellbildend wirkende platonische Akademie in Florenz, die als Ausgangspunkt der italienischen und gesamteuropäischen Renaissance gilt und frühhumanistische Erkenntnisse bündelt, erst 1459, ein Jahr nach Santillanas Tod, gegründet wurde und ihre wirkungsreichste Zeit im letzten Viertel des Jahrhunderts erlebte.20 In diesem frühhumanistischen, »vorflorentinischen« Rahmen ist der Autor zu betrachten. Die Sonette, als besonders innovative Texte, sind gewiß als Versuche, aber auch und in besonderem Maße als Teil eines literarischen Programms zu verstehen. II Das »Soneto V« ist ein repräsentatives Beispiel der Sonetos al itálico modo. Der Text ist enthalten im sogenannten Cancionero de lxar, einer Kopie des Codex', den Santillana 1444 der Gräfin von Módica schenkte, in dem mehrere seiner Werke, darunter siebzehn der insgesamt 42 Sonette enthalten sind. Der Todesfall, der im Gedicht beklagt wird, fallt auf das Jahr 1439; es handelt sich um die Infantin Doña Catalina, Ehefrau des Infanten Don Enrique, Bruder des Königs Alfonso V. de Aragon. Das Sonett ist vermutlich kurz nach diesem Datum entstanden und gehört damit zu den wenigen, die auch nur annähernd datiert werden können. Alle Sonette im Cancionero de lxar tragen einen relativ ausfuhrlichen Epigraphen, im Gegensatz zu anderen Textüberlieferungen, die nur ganz kurze Zeilen aufweisen. Ob diese Epigraphen auf Santillana selbst zurückgehen, ist nicht auszumachen,21 da es sich nicht um ein Originalmanuskript des Autors handelt. Die Praxis der Epigraphierung findet sich freilich schon in Dan-
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tes Vita Nuova, das großen Einfluß auf Santillana ausgeübt hat.22 Sie könnte durchaus auf Santillanas Veranlassung hin vorgenommen worden sein, nicht nur, weil er gewiß für ein Geschenk besondere Sorgfalt bei der Herstellung der Handschrift verlangen würde — und er wußte saubere Codices sehr zu schätzen. Möglicherweise sollte die Paraphrasierung des Inhalts als Stütze für die in der Sonettlektüre ungeübten Leser dienen. Die Gedichtform war ja zu diesem Zeitpunkt auf Kastilisch völlig neu und damit inhaltlich noch nicht so vorgeprägt wie andere Formen höfischer Lyrik; um ein möglichst umfassendes Verständnis des Inhalts und der Kunstfertigkeit des Autors zu schaffen, kann die Epigraphierung als angebracht erschienen sein. Hervorzuheben ist eine inhaltliche Eigenart: Die Paraphrasierung erstreckt sich nur bis zum Motiv der Selbsttötung, »darse a la muerte por golpe de fierro« bzw. V. 7, »[...] por golpe ferrino / cortar la tela por Cloto filada.« Sie umfaßt also nur die Ausführungen der zwei Vierzeiler, während die Terzinen nur kursorisch angesprochen werden (»commo se quexa por la muerte [...]«), und konzentriert sich damit auf den syntaktisch kompliziertesten Teil des Gedichtes. Die metrische Beschaffenheit des Gedichts entspricht den häufigst vorkommenden Merkmalen in Santillanas Sonettproduktion. Das Reimschema in den Quartetten, ABABABAB, weicht von den italienischen Vorbildern ab, die den umschlingenden Reim bevorzugen, doch könnte darin ein Absetzungsversuch von der Strophe de arte mayor zu sehen sein, die im 15. Jahrhundert in Spanien noch dominiert.23 Durch den Einfluß des arte mayor könnte die Unregelmäßigkeit in V. 9 erklärt werden, der zwölf statt sonst durchgängig elf Silben umfaßt, doch kommt das insgesamt nur drei Mal in allen Sonetten vor, so daß ebensogut die unsichere Überlieferung dafür verantwortlich sein kann.24 Die Abweichungen in der Akzentuierung und im Gebrauch der Zäsur machen letzteres wahrscheinlich.25 Ansonsten besteht das Gedicht aus regelmäßigen Elfsilbern, deren einzige Besonderheit aus heutiger Sicht darin besteht, bei aufeinandertreffenden Vokalen betont von der Möglichkeit des Hiats Gebrauch zu machen, statt wie seit dem 16. Jahrhundert üblich die Synaloephe vorzuziehen. Allerdings entspricht das ganz den Gepflogenheiten der italienischen Vorbilder Santillanas.26 Die Zäsur ist in allen Versen noch relativ stark ausgeprägt, sei es durch rhythmisch erforderlichen Hiat, sei es syntaktisch oder interpunktiv markiert; mehrheitlich erfolgt sie zwischen der fünften und sechsten Silbe, außer in V. 11 und 14, die sie nach der siebten einfügen. Auch hier weicht er von petrarkistisehen Vorlagen ab und behält eine Zäsurstellung bei, die dem verso de arte mayor nahe ist. In diesem sind die Zäsuren aber sehr viel stärker betont und fuhren zu einer erkennbaren Zweiteilung des Verses, die sich auch häufig syntaktisch auswirkt, während Santillanas endecasílabo sie in Betonung und rhythmischem Einsatz an das italienische und provenzalische Modell der silbenzählenden Verse anlehnt. Im Sonett V bewirkt die Zäsur a maiori in V. 11 und 14, daß die rhythmische Spannung aus der Mitte des Verses genommen und hinausgezögert wird; der Spannungsabfall im zweiten Hemistich ist schneller als in den restlichen Versen und wirkt deswegen stärker. Die Stellung dieser beiden Verse aber ist wichtig, denn sie bilden den Ausgang der Terzinen, V. 14 auch den Ausgang des Gedichts. Die Spannungsmodulierung leitet also den Ausgang der Rede ein und beschließt ihn phonologisch in Übereinstimmung mit dem syntaktischen Ende.
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Diese metrischen Eigenschaften zeigen, wie Santillana die Sonettform bearbeitet, die er in Spanien einführen wollte. In der spanischen Lyrik des 15. Jahrhunderts ist der verso de arte mayor der Ausgangspunkt, der nicht nach fester Silbenzahl, sondern nach Akzenten aufgebaut wird. Für den silbenzählenden Elfsilber stammen die Vorbilder aus Italien und aus der provenzalischen Lyrik. Kein Wunder also, daß er in seinen Versen aus beiden Bereichen gleichermaßen schöpfte und sie bewußt mischte, um die Ausdrucksmöglichkeiten dieser Gedichtform auszuloten. An der Zäsur war auch zu sehen, daß eine vermeintliche »Unregelmäßigkeit« so wirksam eingesetzt wird, daß es schwerfallt anzunehmen, sie sei das zufällige Produkt der Unbeholfenheit des Autors. Das syntaktische Gefiige zeigt denn auch seine Fähigkeit, den Gegenstand wie gefordert innerhalb der vierzehn Verse zu gliedern und abschließend zu behandeln in einer Weise, die das Interesse des Lesers weckt. Bereits der Anfang »non solamente al templo diuino« zeigt an, daß der hier beginnende Satz eine Erweiterung erfahren wird, so daß die Konstruktion »nicht nur / sondern auch« vollständig ist. Dies geschieht im fünften Vers: »mas al abismo o fentro maligno«, dessen zweites Hemistich semantisch als Gegensatz zum entsprechenden im 1. Vers steht: »templo diuino / 9entro maligno«. Die dazwischenliegenden Verse 2-4 betreffen die angesprochene Dame, und erst im 6. Vers kommt das Verb des ersten Hauptsatzes vor, »seguiria«; die Konditionalkonstruktion verlangt nun aber die Klärung ihrer Bedingung, um als vollständige abgeschlossene Aussage begreiflich zu sein. Dies wird im zweiten Teil des zweiten Vierzeilers (V. 6b-8) erfüllt, und zwar so, daß das konjunktive beigeordnete Verb unmittelbar auf den konditionalen Hauptsatz folgt und erst dann die weiteren Teile des Nebensatzes folgen. Der sechste Vers funktioniert dadurch als syntaktisches Scharnier für den ersten Teil des Gedichts; er löst die informative Spannung auf, die die ersten fünf Verse aufbauen, und leitet eine neue zweite, kürzere und schwächere Spannungsreihe ein zum Abschluß der Vierzeiler. Die erste Textperiode (V. 1-8) ist also von einem Spannungsbogen gekennzeichnet, dessen Umschlagspunkt in V. 6, also von der symmetrischen Mitte leicht abgerückt, lokalisiert ist. Die zweite Textperiode, die die Terzinen umfaßt, bildet eine neue syntaktische Einheit, die durch »assi« in V. 9 konsekutiv an die erste geknüpft ist; die Konstruktion »nicht / sondern« wird wiederholt zwischen V. 9 und 11, wobei diesmal mit dem exhortativen Gebrauch des Konjunktivs »non lloren« (V. 9) die Notwendigkeit der Auflösung des folgenden Paradoxons angezeigt wird. Wie schon in der ersten Periode verteilt sich die Auflösung des Paradoxons »non lloren tu muerte / mas la mi triste vida« (V. 9 u. 11) auf beide Terzinen, indem die zweite als Relativsatz zu »mi triste vida« gebaut ist, wobei das Enjambement zwischen V. 11 und 12 »que dessea yr donde fueres« den Zusammenhang zwischen beiden Strophen verstärkt. Umgekehrt zur ersten Textperiode, die durch das Verb die zwingenden Strukturierungslinien der Rede erst gegen Ende (in V. 6) zeigt, geschieht das in der zweiten gleich zu Beginn, so daß die syntaktischen Grundlinien klar erkennbar vorbestimmt sind; der Spannungsbogen der Aussage klingt sacht und stetig aus, hinausgezögert nur durch »[...] maguer sea / en hedad nueua e tiempo triunphante« zur Steigerung des Paradoxons. Der syntaktische Spannungsbogen des Gesamttextes schlägt am 9. Vers um, zum Ausklang hin, leicht von der Mitte versetzt. Das ist dieselbe Grundstruktur, die schon der ersten Textperiode zugrundeliegt. Somit erscheint die Rede kunstvoll ausbalan-
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eiert und aufgebaut, und es wird verständlich, weshalb der Epigraph den Inhalt der vielfach verschachtelten ersten Textperiode paraphrasiert. Die leichte Asymmetrie entspricht der Natur des Sonetts aus 8+6 Versen und ist dessen fast kanonisches Gliederungsprinzip bis zum 17. Jahrhundert, wobei der langsame, getragene Ausgang Santillanas seiner Thematik angepaßt ist. Im Sonett beklagt sich Don Enrique, Bruder des Königs, über den Tod seiner Frau. Der Autor leiht ihm sein literarisches Können und seine Stimme, ein im Mittelalter durchaus geläufiges, anerkanntes Verfahren, das Santillana auch bei anderen Gelegenheiten praktiziert hat. Die Sprechsituation ist typisch für Liebesgedichte »in morte della donna«, analog zu jener, die Petrarca im Canzoniere »in morte di madonna Laura« verfaßt; zur Bildersprache der Liebe tritt die Klage über ihre Unerfullbarkeit, doch nicht wegen der Grausamkeit der Dame — topisch in der mittelalterlichen Liebeslyrik —, sondern als potenziertes Gefühl der Ohnmacht und des Verlustes. Die Grenze des Todes ist nicht überschreitbar, die Liebe kann nur noch im geistigen Bereich Erfüllung finden, in der Erinnerung oder im Jenseits. Das Bild der Frau ist ebenso wie die Vorstellung der Liebe völlig von materiellen und sinnlichen Elementen befreit. Der Sprecher besingt weder einen Körperteil — Hand, Gesicht, Haar — noch bezieht er ihn in seine Metaphorik ein, wie es in anderen Texten der Fall ist. Die Empfindung der »muger mucho amada« gegenüber ist frei vom sinnlichen Begehren, das häufig der mittelalterlichen Liebeslyrik unterlegt ist.27 Einzig in V. 13 erinnert »conseguirte« daran, doch erstreckt sich die Bedeutung lediglich auf »folgen, erreichen«;28 die Bezeichnung der Frau als »dul?e mia Ydea«, zugleich Akkusativobjekt von »conseguir«, macht deutlich, daß ihr Bild und das Streben zu ihr rein geistiger Natur ist. Die Intensität der Gefühle des Sprechers wird nachhaltig durch die steigernde Konstruktion in den Vierzeilern untermauert: nicht nur in den Himmel — die leichte Prüfung — sondern in die Hölle — die schwere Probe — würde er der Geliebten folgen, [...] sy fuesse otorgada a cauallero por golpe ferrino cortar la tela por Cloto filada. Wenn es ihm gegeben wäre, würde er sich selbst töten, um der Geliebten ins Totenreich zu folgen. Der Tod als Teil und Gipfel des Liebsdienstes gehört zum festen Bestandteil der Motivik der mittelalterlichen Liebeslyrik; auch der Selbstmord aus Liebe gehört dazu und wurde in den verschiedenen artes amandi der Zeit — z.B. im Sermón Diego de San Pedros (ca. 1485) — behandelt. Santillana hat darauf zurückgegriffen, um die Liebeshölle seines Infierno de los enamorados zu bevölkern; dort befinden sich jene mythologischen Paare, die durch Manipulation der Todesgrenze ihr Zusammenleben forsetzen wollen — Orpheus und Eurydike — oder aus Liebesleid Selbstmord begehen und im Tod vereinigt sind — Dido und Aeneas. Im Bias contra Fortuna ist die Möglichkeit des Selbstmordes sogar ausdrücklich angesprochen, um die Unabhängigkeit des Menschen von den Wechselfallen und Widrigkeiten des Schicksals zu demonstrieren.30 Im Sonett ist diese Möglichkeit ausgeschlossen: dem Sprecher ist es nicht gegeben, den Zeitpunkt seines Todes zu entscheiden.31 Santillana greift die Sage der Parzen in der Gestalt Klothos auf, eine von ihm gern verwendete
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Metapher für den Tod — Atropos erscheint im Prohemio e carta — und verbindet sie implizit mit einem christlichen Inhalt, dem Verbot des Selbstmordes.32 Eindeutig ist damit das Instrumentarium der mittelalterlichen Liebeslyrik für dieses Gedicht abgewandelt und zurückgestellt und dafür die Klage in den Vordergrund geschoben, obwohl die Terzinen zum Mitleid mit dem leidenden Liebhaber aufrufen, der als »fiel amante« die ritterliche Tugend der Beständigkeit aufweist. Die Ausdrucksmittel und Bestandteile der mittelalterlichen Liebeslyrik sind modifiziert und umgedeutet, entsprechend der christlich gedeuteten antiken Umschreibungen, und zu Trägern des Gefühls von Trauer und Schmerz gemacht. Thematisch nimmt der Autor damit einen wichtigen Topos der spanischen Lyrik vorweg, den des »amor constante más allá de la muerte«, dessen bekanntester Vertreter Quevedo mit einem so betitelten Sonett ist, der aber auch z.B. in Garcilasos Sonett XXV vorkommt. Bemerkenswert ist daran weniger die Thematisierung an sich als vielmehr die Verknüpfung von christlichen mit antiken Inhaltsbereichen. Das gilt nicht nur für die Behandlung der Selbsttötung, sondern auch, und wichtiger, für die Vergeistigung, die das Frauenbild und die Liebesempfindung erfahren. Die »muger mucho amada« wird am Ende des Gedichtes zu »dul?e mía Ydea«, eine ungewöhnliche Metaphorisierung der Frau. Kerkhof gibt in seiner Ausgabe schlicht »diosa« als Bedeutung an, eine zu einfache und irreführende Umschreibung. Santillana benutzt dieselbe Bezeichnung im Sonett XXXVI (Amador und Durán: XXXV) im inhaltlichen Zusammenhang eines Mariengedichts. Coraminas weist das Wort erst 1570 nach,33 zu spät, um in der angegebenen Bedeutung hier von Nutzen zu sein. Der Begriff taucht aber in der Divina Commedia in genauer, an Thomas von Aquin orientierter theologischer Darstellung auf {Paradiso XIII, 51 ff.). Demnach sind Ideen göttliche Archetypen der Schöpfüng, die abstrakten, vollkommenen Muster der vielfaltigen Formen der Existenz. In Santillanas Sonett XXXVI lautet die Verknüpfung des Begriffes im Text folgendermaßen: Virginal templo do el Verbo diuino vistió la forma de humanal librea, a quien anela todo amor benigno, a quien contempla commo a santa Ydea. Der Sprecher will die heilige Jungfrau besingen und spricht sie direkt an. Der Inhalt des Hauptsatzes wird erst in der zweiten Strophe erkennbar; V. 3 und 4 bilden hier die rhetorische amplificatio der Apostrophe, die sich an sie richtet. Insofern liegt der Bezug der »Santa Ydea« auf »Virginal templo« (= Maria) nahe. Dantes Darstellung untermauert das nicht; Ideen sind ja als göttliche Archetypen immer perfekt, während die ganze weltliche Existenz nur in unterschiedlichem Maße daran teilhaftig wird. Nur in zwei Fällen ist diese Vollkommenheit irdisch geworden, bei Adam und bei Christus, denn nur in diesen Fällen hat Gott selbst, an der Natur vorbei, geschöpft (Paradiso XIII, 79-87). Die Vollkommenheit der Idee wird durch die unbefleckte Empfängnis in Christus verwirklicht, aber eben in ihm: im »verbo divino«, das »humanal librea« annimmt. Durch die uneindeutige Syntax kommt es zur Unsicherheit in der Satzzuweisung.34 Im »Sonett V« kann »Ydea« nicht in dieser klaren Bedeutung gebraucht sein; nur die göttliche Erhabenheit in der Natur der Idee ist übernommen wor-
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den. Die hier vorkommende »Ydea« ist dem platonischen Ideenbegriff aus dem Phaidon nahe; daraus stammt auch Thomas von Aquins und Dantes Begriff.35 Tatsächlich kannte Santillana Piatons Phaidon; das Exemplar in seiner Bibliothek war eine kastilische Übersetzung aus dem Lateinischen, die sein Kaplan Pedro Diaz de Toledo angefertigt und mit einem langen Prolog versehen hatte.36 Piaton wird dort als Stoiker ausgewiesen, der die Unsterblichkeit der Seele, eine christliche Vorstellung, allein durch Betrachtung der »ley natural« erschlossen habe, was seine Ausführungen eigentlich wertvoll macht. Die moralischen Anregungen ergeben sich daraus erst an zweiter Stelle, die möglichen ästhetischen Implikationen sind noch ganz ausgeklammert. Die Kennzeichnung als Stoiker könnte Santillana zu verstärktem Interesse veranlaßt haben, da er in seinen moralischen Schriften sehr stark Senecas Vorstellungen von tugendhaftem Verhalten rezipiert. Piaton schüfe, in einer solchen Lesart, eine Verknüpfung zwischen weltlich ausgerichteten und metaphysisch ausgreifenden Darstellungen des Stoizismus. Was den Phaidon für das »Sonett V« interessant macht, ist zweierlei: erstens ist hier die Ideenlehre in allgemeiner, nicht theologisch gerichteter Form expliziert, und zweitens beschäftigt sich der Dialog ausfuhrlich mit den Eigenschaften und Bestreben der Seele vor und nach dem Tode. Beide Punkte sind im Gedicht angesprochen und zum Bestandteil der Bildwelt gemacht worden, die ihm zugrundeliegt, und zwar nach dem Verständnis, das Piaton im Dialog von beiden zeigt. Der Sprecher drückt die Sehnsucht nach der verlorenen Geliebten aus und damit den Wunsch, die Grenze zwischen Leben und Tod zu überschreiten, um ihr zu folgen: »[...] mi triste vida que dessea / yr donde fueres« (1 lf.). Nur die Seele kann das tun, doch ist dem Sprecher verwehrt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Genau dies legt Piaton in seinem Dialog dar; dort erklärt Sokrates, daß jeder Philosoph den Tod herbeiwünschen müßte, weil er dadurch der Erkenntnis näherkäme, doch verwehrt er die Möglichkeit der Selbsttötung (.Phaidon 64-67b; Selbstmordverbot 61c-62c). In einem weiteren Gedankenstrang erläutert er die Natur der Seele, ihre Gefangenschaft im Leib und, damit bedingt, ihre nur partielle Fähigkeit zur Erkenntnis (Phaidon 67a-b); erst die freie Seele kann das Wahre, Unwandelbare erschauen, das eben die Ideen sind (78d). Auf die Ideen strebt die Seele hin, ohne sie je völlig erreichen zu können. In dieser Hinsicht bleiben sie also ein Ideal.37 In Santillanas Gedicht passiert genau dasselbe: der Sprecher strebt seiner »Ydea« zu, seiner geliebten Frau, die er erschauen, aber nicht erreichen kann. Das Gedankensystem, das mit dem Gebrauch des Begriffs »Ydea« dem Gedicht unterlegt wird, ist hier »a lo humano« ausgelegt, direkt aus ihrem antiken Ursprung geleitet, während er in XXXVI »a lo divino« eingesetzt wird im Sinne einer ehrwürdigen patristischen, theologischen und literarischen Tradition. Diese spezifische Nutzung der inhaltlichen Dimension des Wortes macht Santillana nicht zum Platoniker — und noch weniger zum Neuplatoniker —, aber führt zur genaueren Einschätzung der Bandbreite seiner literarischen Ausdrucksfähigkeiten. Außerdem wird dadurch deutlich, daß für die literarische Vorstellung der Liebe und für das Frauenbild neue Aspekte eingeführt werden, mit denen das feste Gefüge der höfischen Liebeslyrik aufgebrochen wird. Die Empfindungen des Sprechers sind nicht mehr Haltungen, die aus einer Verhaltensweise herauslesbar sind, sondern Gefühlslagen, die das Ich in seinem Innersten betreffen. Die praktisch-tätige Seite des Liebes-
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dienstes weicht der seelischen Sehnsucht, und die Erfüllung der Liebe rückt in den geistigen Bereich. Das Frauenbild, das auf die Ebene der »Ydea« gehoben wird, eines absoluten Ideals also, bleibt in der weiteren Entwicklung offen. Santillana hat Petrarcas Idealisierung aufgegriffen, aber gelegentlich auch Dantes Vorstellung der zur sapientia werdenden donna angelicata, was im behandelten Text durch den Verweis des Begriffes »Ydea« auf den Vorgang des Erkenntnisgewinns ermöglicht wird. In »dulçe mía Ydea« schließlich tritt die Subjektivität des Sprechers auf den Plan, insofern diese »Ydea« nicht eine universale, göttliche ist, sondern vom Sprecher erkoren und erhoben worden und, weil »mia«, Teil seiner subjektiven Vorstellung ist. Es wäre nun leicht, die Reichweite dieses Hintergrundes zu vereinfachen und zu übertreiben. Angesichts von Santillanas Gesamtwerk kann kein Zweifel bestehen, daß er noch als mittelalterlicher Autor zu betrachten ist. Die Elemente, die auf später zentrale literarische Interessen, Themen und Ansichten weisen, sind vorerst nur Andeutungen, die gattungsspezifischen Ursprungs sind. Gerade weil die Texte der italienischen Dichter, die er sich zum Vorbild nimmt, diese Aspekte in verstärktem Maße aufweisen, gelangen sie als sonettspezifisch in seine eigenen Kompositionen und damit in die spanische Literatur. Mit der Übernahme der Form ist jene des Inhalts und des Hintergrundes verbunden, wodurch Santillana sicher den Bildungshorizont seiner Weltvorstellung erweitert hat; nur weil und insoweit er das tut, steht er im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Frühhumanismus. Das mittelalterliche System des Wissens ist aber für ihn weiterhin eine anerkannte und gültige Grundlage, auf deren Basis eine weltliche Bildung nur entstehen kann, ihr jedoch noch durchaus nachgeordnet. Erst auf dieser Grundlage kann in Spanien überhaupt ein Humanismus im eigentlichen Sinne entstehen. Gerade die Tatsache, daß die Sonetos fechos al itálico modo diesem Vorgang vorgreifen, hilft zu erklären, weshalb sie in ihrem Jahrhundert isoliert und den Autoren des 16. Jahrhunderts nicht bekannt sind. Form, Inhalte und Wissensbereiche, die darin angesprochen werden, verlangen ein respektables literarisches —- und philosophisches — Wissen außerhalb des Geläufigen. Erst als solche Komplexe in vereinfachter Form zum Topos werden und stärkere Verbreitung finden — was z.B. der Cortegiano für den Neuplatonismus leistet — werden sie literarisch wirksam. Es sagt einiges über Iñigo López de Mendoza aus, daß er das vorweggenommen hat. I. Verzeichnis der lyrischen Werke des Marqués de
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Titel und Entstehungsdaten der wichtigsten Werke (soweit bekannt): Serranillas, Canciones, Decires; Decires narrativos; Comedieta de Ponça (1436); Sonetos fechos al itálico modo; Proverbios (1436); Bías contra Fortuna (1448); Prohemio e carta al condestable de Portugal (1449). Neuere Ausgaben: Obras. Hg. v. José Amador de los Ríos. Madrid: Rodríguez 1852. Poesías completas. 2 Bde. Hg. v. Manuel Durán. Madrid: Castalia 1982 u. ö. (Clásicos Castalia, 64; 94). Los sonetos »al itálico modo« del Marqués de Santillana. Hg. v. José Solá-Solé. Barcelona: Puvill 1980.
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Los sonetos »AI itálico modo«. Kritische Ausgabe von Maxim P.A.M. Kerkhof und Dirk Tuin. Madison Wise.: Hispanic Seminary of Medieval Studies 1985. La comedieta de Ponza. Kritische Ausgabe von Maxim P.A.M. Kerkhof. Madrid: Espasa-Calpe 1987 (Clásicos Castellanos/ Nueva Serie, 4). Refranero. Hg. v. María Josefa Canellada. Madrid: EMESA 1980. Serranillas. Hg. v. Rafael Lapesa. Santander 1958.
II. Kritische
Literatur
Azáceta, José M./ Albéniz, G.: »Italia en la poesía de Santillana«, in: Revista de literatura III (1953), S. 17-54. Bliss Luquiens, Frederick: »The Roman de la Rose and Medieval Castilian Literature«, in: Romanische Forschungen XX (1907), S. 286-320. Carr, Derek C.: »Another look at the Metrics of Santillana's Sonnets«, in: Hispanic Review 46(1978), S. 41-53. Cátedra, Pedro-Manuel: »Sobre la biblioteca del marqués de Santillana: La Iiiada y Pier Candido Decembrio«, in: Hispanic Review 51 (1983), S. 23-28. Duffell, Martin N.: »The Metre of Santillana's Sonnets«, in: Medium Aevum 56 (1987), S. 276-303. Durán, Manuel: »El Marqués de Santillana y el prerrenaeimiento«, in: Nueva Revista de Filología Hispánica XV (1961), S. 343-363. Farinelli, Arturo: »La biblioteca del Santillana e l'umanesimo italoispanico«, in ders.: Italia e Spagna. 2 Bde. Torino: Bocca 1929, Bd. 1, S. 387-425. Fernández-Jiménez, Juan: »Petrarquismo en los sonetos amorosos del Marqués de Santillana«, in: Romance Notes 20 (1979), S. 116-124. Foster, David W.: »The Misunderstanding of Dante in XVth Century Spanish Poetry«, in: Comparative Literature XVI (1964), S. 338-347. Gómez Moreno, Angel: »Una carta del marqués de Santillana«, in: Revista de Filología Española 63 (1983), S. 115-122. Green, Otis H.: »Courtly Love in the Spanish Cancioneros«, in: PMLA LXIV (1949), S. 247-301. Kantor, Sofía: »Ocho máscaras para el requerimiento de amores: las 'serranillas' del marqués de Santillana«, in: Boletín de la Real Academia Española 63, 230 (1983), S. 393-441. Lapesa, Rafael: La obra literaria del marqués de Santillana. Madrid: Insula 1957. López Bascuñana, María Isabel: »El mundo y la cultura grecorromana en la obra del marqués de Santillana«, in: Revista de Archivos, Bibliotecas y Museos 80 (1977), S. 271-320. López Bascuñana, María Isabel: »Algunos rasgos petrarquescos en la obra del marqués de Santillana«, in: Cuadernos Hispanoamericanos 111, 331 (1978), S. 19-39. Reichenberger, Arnold: »The Marqués de Santillana and the Classical Tradition«, in: Iberoromania I (1969), S. 15-34. Runcini, Romolo: »La biblioteca del marchese di Santillana«, in: Letterature Moderne Vili (1958), S. 626-636. Schiff, Mario: La bibliothèque du marquis de Santillane. Paris: Bouillon 1905. Seronde, Joseph: »A Study of the Relations of some Leading French Poets of the XIV and XV Centuries to the Marqués de Santillana«, in: Romanic Review IV (1915), S. 60-86.
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Seronde, Joseph: »Dante and the French Influence on the Marqués de Santillana«, in: Romanic Review VII (1916), S. 194-210. Swan, A./ Gronow, M./ Aguirre, J.M.: »Santillana's 'serranillas': a poetic genre of their own«, in: Neophilologus 63 (1979), S. 530-542. Vanutelli, Evelina: »II Márchese di Santillana e Francesco Petrarca«, in: Rivista d 'Italia 15 (1924), S. 138-150. III
Anmerkungen
1 Vgl. Lapesa, 1957; Carr, 1978; Duffell, 1987, dieser mit einer kritischen Revision vor allem der metrischen »Unregelmäßigkeiten«. 2 Keine der beiden Ausgaben erfüllt die Kriterien einer kritischen Ausgabe. Amador führte an den Sonetten Korrekturen durch, die nicht durch die Manuskriptlage untermauert waren, sondern dem Versuch entsprachen, eine hypothetische metrische Regelmäßigkeit in Analogie zu Garcilaso de la Vega zu erreichen. Durán hat gerade an den Sonetten weitgehend Amadors Textvorlage aufgegriffen, so daß die Unsicherheiten im Umgang mit diesem Abschnitt des Werkes bleiben, da es sich dabei um die derzeit leichtestzugängliche Ausgabe handelt. Es muß betont werden, daß die Editionsprobleme vor allem die Sonette betreffen; ansonsten ist Duráns Ausgabe alles in allem zuverlässig und wird hier mit herangezogen. Vgl. dazu Duffell, 1987: passim. 3 Für die Sonetos fechos al itálico modo ist maßgebend Kerkhof, 1985. Von demselben Herausgeber liegen auch weitere kritische Ausgaben Santillanas vor. 4 Prohemio e carta al condestable de Portugal, Durán II, 1982: 209f. 5 Vgl. Lapesa, 1957: Kap. III. 6 Vgl. Durán I, 1982: 121ff. und Lapesa, 1957: 265ff. 7 López Bascufiana, 1977: 309ff. 8 Prólogo zu Blas contra Fortuna, Durán II, 1982: 88. 9 Durán II, 1982:210. 10 Vgl. Lapesa, 1957; Duffell, 1987; Seronde, 1915 und 1916; Schlüttner, 1979: 23 u.v.a. 11 Seronde, 1916: 210; Schiff, 1905: LXXVI. 12 Schiff, 1905 und Seronde, 1916: 196. Die genannten Kommentare sind gleichfalls ins Kastilische übersetzt. 13 Foster, 1964: passim. Daß Dante nicht in seiner ganzen Tragweite verstanden wurde, ändert nichts an dieser grundsätzlichen Lage. 14 Als einziger im Spanien des 15. Jahrhunderts kommt Santillana gelegentlich dieser Vorstellung nahe, obwohl auch bei ihm das Frauenbild aus der höfischen Liebe überwiegt. Vgl. Green, 1949: 269. 15 Runcini, 1958: 628-630; Cátedra, 1983. 16 Durán, 1961: 347. Ebd.: 356 unterstreicht wiederum mittelalterliche Charakteristika, die im Prinzip richtig sind - immerhin schreibt Santillana in der 1. Hälfte des Jahrhunderts - jedoch in mehreren Punkten, etwa den aristotelischen Didaktizismus der Scholastik betreffend, in seinem Werk einer differenzierten Prüfung zu unterziehen wären. Vgl. Kristeller, Paul Oskar: Humanismus und Renaissance. 2
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Bde. München: Fink 1974 (UTB 914) Bd. I, Kap. V und passim und ebd. Bd. II, 1975: 96f. Duränl, 1982: 14. Ebd. II: 77. Hervorhebungen vom Verfasser. Duränll, 1982: 88. Hofimeister, Gerhart: Petrarkistische Lyrik. Stuttgart: Metzler 1973 (Sammlung Metzler, 119), S. 15. Kerkhof, 1985: 50. Schiff, 1905: LXXVI. Baehr, Rudolf: Spanische Verslehre auf historischer Grundlage. Tübingen: Niemeyer 1962, S. 291 f. Ebd.: 99. Vgl. Kerkhof, 1985: 66f. die Varianten zum Vers. Baehr, 1962: 125ff. Duffell, 1987: 278 und passim. »el amor es cobdifia que se fafe en el cora9Ön«, zit. nach Green, 1949: 270, Anm. 98; vgl. Ruiz, Juan: Libro de buen Amor, passim. Green weist mit Nachdruck darauf hin, daß im Mittelalter Liebe als sinnlicher Natur angesehen wird und das sublimierte Begehren in der Lyrik durchscheint. Corominas, Diccionario Critico Etimolögico de la lengua Castellana (DCEC) IV: 175 »Seguir«. Green, 1949: 263f. Durän II, 1982: 133f. (coplas CXIX-CXXIII). Alle Beispiele von Selbstmord, die Santillana in seinem Gesamtwerk aufführt, stammen aus der klassischen Antike, auch Bias selbst. Dem christlichen Ritter, dem Bruder des Königs von Kastilien ist dies natürlich verwehrt. Der Selbstmord als Akt der Selbsttötung ist als solcher nicht akzeptiert, sondern nur insoweit er die Fähigkeit des Menschen demonstriert, die Angst vor dem Tod und vor Ungemach zu überwinden - so im Bias. Was den Liebestod anlangt, so geht es hier immer darum, sich dem Sterben anheimzugeben, wenn es die Geliebte verlangt, aber nicht, den eigenen Tod aktiv herbeizufuhren. Darum erscheint er immer mit dem Verb »morir«, nicht mit »matarse« verbunden.
32 Klotho und Atropos sind zwei der drei antiken Parcae, fatae oder griechisch Moirae (MoTpai), die das Schicksal des Menschen einem Stoff ähnlich spinnen und messen. Klotho spinnt den Faden, Lachesis mißt den Stoff und Atropos schneidet ihn, am Ende des Lebens, durch. 33 DCEC IV: 701, »ver«. 34 Santillana setzt diese Art der amplificatio, relativ weit von ihrem eigentlichen grammatikalischen Bezug, häufig ein. So im »Sonett V«, Strophe 4, wo »e mi dolor aferbo e infessante« als Erweiterung von »lloren [...] mi triste vida« anzusehen ist. Auch hier ist der erweiternde Satzteil drei oder mehr Verse von ihrem syntaktischen Zusammenhang entfernt. 35 Kristeller I, 1974: 163. 36 Schiff, 1905: 12ff. Dort auch den Text des Prologs. 37 Graeser, Andreas: »Nachwort zu Piaton«, in: Piaton, Phaidon. Übers, v. Friedrich Schleiermacher. Stuttgart: Reclam 1987, S. 113.
Beate Kempkens
Coplas de la Panadera
Panadera, soldadera que vendes pan de barato, cuéntanos algún rebato que te aconteció en la Vera. 5 Di, Panadera. Un miércoles que partiera el prín