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German Pages 296 Year 2015
Eckhardt Köhn Erfahrung des Machens
In memoriam M.
Eckhardt Köhn (PD Dr. phil.) lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt a.M.
Eckhardt Köhn Erfahrung des Machens. Zur Frühgeschichte der modernen Poetik von Lessing bis Poe
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INHALT Eineitung: Aktualität der Produktionsästhetik 9 Wiederkehr des Autors 9 Technische Poetik im 19. Jahrhundert 29 Valérys Poietik 50 Gestalt der Frage 59
I. Der antike Gedanke einer „königlichen Techne“ 69 Kult der Musen 69 Techne als Wissensform 76 Philosophische Legitimation des Enthusiasmus und der Techne bei Platon 82 Poetische Techne 90
II. Metaphysische Poetik im Zeichen des Platonismus 103 Die Unwissenheit des Genies 106 Das Mechanische 115
III. Poetik der Hand 121 Suche nach dem Werk 123 Die Geste des Machens 126
IV. Selbstbeobachtung als Aufklärung – Lessings Probleme 135 Was sich machen lässt 135 Raffael ohne Hände 140
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V. Elemente einer „lebendigen Theorie“ des Schaffens – Goethe 153 „Es kommt auf das Machen an.“ 153 Was die Materie erlaubt 162 Die Vorteile der Ausführung 165 Kunst und Technik 172
VI. Schillers Wende 175 Krieg gegen die Materie 177 „Ich sehe mich jetzt selbst erschaffen.“ 182 Krieg gegen Schelling 193
VII. Poetische Poetik der Frühromantik 199 Physik der Kunst 209 Sprache als Material 216 Dialektik der Ausführung 220 Möglichkeiten einer technischen Theorie 224
VIII. Formalismus des Bewusstseins – Edgar Allan Poes Illustrationen 235 Modus operandi und menschliches Agens 237 Praktiken der Ausführung – eine öffentliche Darbietung 242 Siglen 265 Literaturverzeichnis 267
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Nur einem Gott ist die unaussprechbare Einheit von Schöpfungsakt und Gedanke vorbehalten. Wir aber müssen uns abmühen, wir müssen die bittere Erfahrung machen, daß Akt und Gedanke etwas Grundverschiedenes sind. (Paul Valéry)
Kunst und Technik beruhen darauf, daß das Ereignis ,Welt’ wesentlich material ist, das Ereignis Bewußtsein wesentlich ,formal’. (Hans Blumenberg)
Ihrer Verschwisterung mit dem Gehalt wegen hat Technik ein legitimes Eigenleben. (Theodor W. Adorno)
Die Geste des Machens ist von einer Komplexität, die der Beschreibung spottet. (Villem Flusser)
Ich ziehe, wenn ich nach längerer Zeit zu schreiben anfange, die Worte wie aus der leeren Luft. Ist eines gewonnen, dann ist eben nur dieses eine da und alle Arbeit fängt von vorne an. (Franz Kafka)
EINLEITUNG: AKTUALITÄT DER P R O D U K T I O N S Ä ST H E T I K Wiederkehr des Autors Neben Rezeptionsästhetik und Texttheorie kann die Produktionsästhetik einen festen Platz im Objektbereich der Literaturwissenschaften beanspruchen. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die beiden zuerst genannten Theorien innerhalb der wissenschaftlichen Öffentlichkeit seit geraumer Zeit mehr Interesse gefunden haben und, sofern man von der Konjunktur bestimmter theoretischer Ansätze sprechen kann, ungleich erfolgreicher waren als die Bemühungen um eine Analyse des literarischen Produktionsprozesses. Das war am Beginn des Modernisierungsprozesses der Literaturwissenschaften in den sechziger Jahren in dieser Form nicht unbedingt abzusehen. In dem Maße jedoch, wie dessen Ursprungsbedingungen aus der historischen Distanz deutlicher hervortreten, läßt sich die geistespolitische Konstellation, die diese theoretische Entwicklung begünstigt hat, genauer bestimmen. Betrachtet man die ersten Ergebnisse der im Umkreis der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ geführten Diskussionen, so drängt sich der Eindruck auf, daß der in der programmatischen Namensgebung verwendete Begriff der Poetik im Hinblick auf mögliche Forschungsperspektiven beide der mit ihm verbundenen Bedeutungen berücksichtigt: Eine hermeneutisch aufgeklärte Theorie der Dichtung ist am Horizont literaturwissenschaftlicher Interessenbildung ebenso erkennbar wie das Projekt einer historischen Poetik, die versucht, die Geschichte der Auffassungen vom Wesen des literarischen Produktionsprozesses zu rekonstruieren. Wenn in der Folge eine um die Begründung des Zusammenhangs von Werk und Wirkung bemühte Theorie der Dichtung sich durchsetzt und damit die Rolle des Autors und mit ihm der Prozeß der Entstehung eines Werkes in den Hintergrund tritt, so darf doch ein Umstand nicht übersehen werden. Das genuin historische Interesse, das ja letztlich die Rezeptionsästhetik als theoretische Begründung einer neuen Form der Literaturgeschichtsschreibung, nämlich der des Lesers begreift, hätte gleichermaßen die neuzeitliche Geschichte des Produktionsverständnisses auf Seiten der Autoren einschließen können. Es ist alles andere als ein Zufall, daß Hans Blumen-
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berg 1964 in seiner bedeutenden Studie „Sokrates und das objet ambigue. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes“ die Möglichkeit der Begründung einer vergleichbaren historischen Forschungsperspektive für die Produktionsästhetik vorgestellt hat. Blumenberg, dessen Beiträge zur Poetik literaturwissenschaftlich ohnehin in keiner Weise ausgeschöpft sind, erläutert am Beispiel der Beschäftigung mit einem Gedicht, daß der Eindruck, den ein Leser von einem Werk gewinnen kann, sich niemals auf jene Erfahrungen beziehen kann, die der Autor bei der Arbeit daran gemacht hat. Was sich dem Leser bei der Lektüre eines Werkes erschließt, ist prinzipiell von dem verschieden, was dem Autor während des Herstellungsprozesses widerfährt. „Eine Poetik der ästhetischen Produktion wird daher ganz anders aussehen müssen als eine Poetik der ästhetischen Rezeption, ohne daß die eine die andere ausschließt oder durch ihren Widerspruch entkräftet, man wird aber bei jeder vorliegenden Aussage zu fragen haben, in welche der beiden Poetiken sie gehört. Es ist also nicht wahr, daß der Betrachter, Zuschauer oder Leser eben die Handlungen zu wiederholen hätte, die der Autor vollzogen hat, oder sich in dessen Situation und Stimmung versetzt fühlen müßte.“1
Für die Durchsetzung der Rezeptionsästhetik scheint von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein, daß die Zeugnisse der Wirkung eines Werkes im Zeichen des ihnen eigenen empirischen Gehalts an Aussagekraft gewannen, während jene, die die Geschichte des Produktionsverständnisses dokumentieren, aufgrund ihrer traditionell metaphysischen Prägung an Bedeutung verloren: „Als Gegenstand der Geisteswissenschaften haben die wirkenden Werke keinen Vorrang vor den Resultaten ihrer Wirkung und sofern es keine besondere Dignität ihres Ursprungs – z.B in einer Metaphysik der Kunst als orginärer Her-
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Hans Blumenberg, Sokrates oder das ,objet ambigue’. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes, in: Epimeleia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen. Hg. v. Franz Wiedemann, München 1964, 319. Aus der Sicht eines modernen Autors hatte Hans Magnus Enzensberger mit Blick auf die Aufgaben zukünftiger Wissenschaft bereits 1961 in seinem Vortrag „Wie entsteht ein Gedicht?“ festgestellt: „Die Frage nach der Genese eines Werkes ist zu einer zentralen, vielleicht zu der zentralen Frage der modernen Ästhetik geworden.“ Hans Magnus Enzensberger, Gedichte/Wie entsteht ein Gedicht? Frankfurt a.M. 1962, 41. Das produktionstheoretische Interesse dieser Jahre belegen auch die Erscheinungsdaten der beiden maßgeblichen deutschen Anthologien mit poetologischen Texten der Moderne: Walter Höllerer, Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I, Reinbek bei Hamburg 1965 und Ars Poetica. Texte von Dichtern des 20. Jahrhunderts zur Poetik. Hg. v. Beda Allemann, Darmstadt 1966.
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EINLEITUNG vorbringung, sei es mit Hilfe der Musen, der Magie oder der Inspiration, sei es durch das Genie selbst – mehr gibt. Produktion und Rezeption sind äquivalent, sofern die Rezeption sich zu artikulieren vermochte.“2
Diese Begründung der historischen und theoretischen Legitimität der Rezeptionsästhetik weist zu Recht die Ansprüche der traditionellen Hermeneutik ab, die die Möglichkeit der Interpretation eines vermeintlich in den Werken zum Ausdruck gelangenden objektiven Sinns an die Autorität der ihnen zugrunde gelegten metaphysischen Ursprungsmacht gebunden hatte. Vor allem hier lagen die Chancen für ein Forschungsprogramm, das auf der Grundlage einer theoretischen „Ineinssetzung von Werk und Wirkung“3, den Weg zu einer „notwendigen Umerzählung der Literaturgeschichte“4 einschlagen wollte. Was aber, so läßt sich fragen, könnten Zeugnisse, in denen sich die Produktion in der nachmetaphysischen Phase artikuliert hat, über den literarischen Schaffensprozeß aussagen, wenn für ihn nicht mehr die Dignität eines besonderen Ursprungs, sondern lediglich die spezifische Form einer genuin menschlichen Hervorbringung geltend gemacht wird? Anders gefragt: Welches Bild entwerfen Schriftsteller von sich selbst und der Besonderheit ihres Arbeitsprozesses, wenn die traditionellen auf Magie, Gunst der Musen und Genialität sich berufenden Vorstellungen ihre Verbindlichkeit verlieren? Der Gedanke, die Geschichte der Poetik ästhetischer Produktion in diesem Sinne komplementär zu jener der Rezeption zu rekonstruieren, ist in den folgenden Jahren niemals ganz aus dem Gesichtskreis der „Konstanzer Schule“ verschwunden, noch die in ihrem Umkreis erfolgte Wiederentdeckung der theoretischen Ansätze des russischen Formalismus
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Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeitspotential des Mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1971, 28. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1991, 63. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1974, 170. „Eine Erneuerung der Literaturgeschichte erfordert, die Vorurteile des historischen Objektvismus abzubauen und die traditionelle Produktions– und Darstellungsästhetik in einer Rezeptions– und Wirkungsästhetik zu fundieren.“ (171) Wie eine aus dem Nachlaß veröffentlichte Glosse verrät, hat Blumenberg rückblickend für das Ausmaß dieses Anspruchs auf theoretische Innovation nur noch eine ironische Bemerkung übrig: „Der Umschwung von der scheußlich benannten ,Produktionsästhetik’ zur nicht weniger abstoßend bezeichneten ,Rezeptionsästhetik’ erreichte den Grad von Begeisterung, der nur mit Verleihung des gerade greifbaren Titels eines ,Paradigmenwechsels’ angemessen honoriert werden konnte.“ Hans Blumenberg, Lebensthemen. Aus dem Nachlaß, Stuttgart 1998, 29. Vgl. auch die amüsierten Bemerkungen ‚Das Hohelied der Rezeption’, in: Hans Blumenberg, Goethe zum Beispiel. In Verbindung mit Manfred Sommer hg. vom Hans Blumenberg Archiv Frankfurt a.M./Leipzig 1999.
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läßt diese Option zu.5 Dennoch bleiben produktionstheoretische Fragestellungen zunächst lange im Hintergrund und finden bei Jauß erst in dem Maße stärkere Beachtung, wie der rezeptionsästhetische Ansatz zu einer Theorie der ästhetischen Erfahrung6 erweitert werden soll. Poiesis als deren produktive Seite erschließt Jauß, indem er in Anlehnung an Blumenbergs problemgeschichtliche Erörterung des Begriffs den Prozeß der theoretischen Selbstbehauptung des neuzeitlichen Menschen rekonstruiert, der sein poietisches Können dem antiken Gebot der Nachahmung der Natur entgegengesetzt und auf diese Weise den zunächst in der Kunst artikulierten „ontologischen ,Spielraum’ des Schöpferischen“7 entdeckt und damit die Möglichkeit, „das orginär Menschliche, das authentisch ,Neue’ zu realisieren“8. Im Kontext seiner Theorie ästhetischer Erfahrung findet der Akt der Hervorbringung zwar Berücksichtigung, steht aber ganz im Zeichen seines Abschlusses in Gestalt des Werkes, von dem die Rezeption ihres Ausgang nimmt. Rückblickend hat Jauß noch einmal in aller Deutlichkeit den systematischen und historischen Bezugspunkt seines Projekts herausgestellt, den für ihn ein „fulminanter Satz“ von Paul Valéry dargestellt habe: „,C’est l’exécution du poème, qui fait le poème.’ Aus ihm ging nicht nur die Poetik der klassischen Moderne, sondern letztlich auch die Rezeptionsästhetik hervor.“9 Man kann es zu den paradoxen Fällen der Wirkungsgeschichte rechnen, daß ausgerechnet der moderne Klassiker der literarischen Produktionstheorie dergestalt das Fundament für die Rezeptionsästhetik gelegt hat. Produktionsästhetische Überlegungen gelten den dem Werk vorausliegenden Arbeitsprozessen, sie finden ihr Ende dort, wo die Rezeptionstheorie einsetzt. Das abgeschlossene Werk markiert die logische Grenze, die die rezeptionsästhetische Perspektive prinzipiell von der produktionsästhetischen trennt. Wo die Rezeptionsästhetik, wie begrenzt auch im5
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Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, 164–167, sowie den zusammenfassenden Überblick von Rainer Warning, Rezeptionästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik, in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, Hg. v. Rainer Warning, München 1975. Siehe den Abschnitt ‚Poiesis: die produktive Seite der ästhetischen Erfahrung’, in: Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literaturwissenschaftliche Hermeneutik. Hans Blumenberg, ,Nachahmung der Natur’. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 82. A.a.o., 83. Hans Robert Jauß, Wege des Verstehens, München 1994, 379. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß Todorow noch 1970 für die Literaturwissenschaft programmatisch fordert, daß sich „zwei komplementäre Theorien mit den Beziehungen zwischen Werk und Autor oder Leser befassen müssen. Valérys Poetik stimmt mit ersterer überein; die letztere scheint heute in Deutschland zunehmend ein vielversprechender Forschungsgegenstand zu sein.“ Tzvetan Todorov, Valérys Poetik, in: Paul Valéry. Hg. v. Jürgen Schmidt–Radefeld, Darmstadt 1978, 82.
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mer, Fragen der Produktion berücksichtigt hat, konkurriert sie zunächst mit literaturwissenschaftlichen Ansätzen, die sich als Beiträge zu einer materialistischen Literaturtheorie verstehen und entsprechend dem Marxschen Begriff der Produktion auch das literarische Schaffen als Form gesellschaftlicher Arbeit begreifen.10 Im Zentrum der produktionstheoretischen Überlegungen dieser Art steht der Begriff der Technik. Er bezeichnet operativ einzusetzende literarische Verfahrensweisen, für die sich ein Autor unter dem Aspekt ihrer spezifischen Wirksamkeit für die Zwecke politischer Aufklärung entscheidet. Darüber hinaus liefert der Begriff den historischen Einsatzpunkt für eine Rekonstruktion der bis zu diesem Zeitpunkt von der Literaturwissenschaft nicht beachteten und innerhalb der orthodoxen marxistischen Tradition weitgehend verdrängten kunsttheoretischen Debatten, in denen Ansätze zu einem rationalen Verständnis des literarischen Schaffensprozesses entwickelt wurden, die Brecht immer wieder für die Literatur und nicht zuletzt für die politisch gleichgesinnten Kollegen angemahnt hatte: „Im Vergleich zu der literarischen stehen andere Künste, wie die Musik und die bildenden Künste, freier und natürlicher ihrer Technik gegenüber. Musiker und Maler diskutieren gern ihre Technik, entwickeln Fachausdrücke, verlangen Spezialstudium. Die Schriftsteller sind darin viel gehemmter und geheimnisvoller; selbst wenn sie schon vielem gegenüber recht realistisch geworden sind, lieben sie es immer noch nicht, ihre Technik zu diskutieren.“ (GW 19, 349)
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Dieser Kategorie weisen die Autoren der Avantgarde, in Deutschland vor allem Brecht und Walter Benjamin, aus unterschiedlichen Gründen eine 10 Vgl. Heinz Brüggemann, Aspekte einer marxistischen Produktionsästhetik. Versuch über theoretische Beiträge des LEF, Benjamins und Brechts, in: Literaturwissenschaften und Sozialwissenschaften Bd. 4. Erweiterung der materialistischen Literaturtheorie durch Bestimmung ihrer Grenzen. Hg. v. Heinz Schlaffer, Stuttgart 1974; Günther K. Lehmann, Phantasie und künstlerische Arbeit, Berlin/Weimar 1976; Mechtild Curtius (Hg.), Seminar: Theorien der künstlerischen Produktivität. Entwürfe mit Beiträgen aus Literaturwissenschaft, Psychonanalyse und Marxismus, Frankfurt a.M. 1976; Hans–Thies Lehmann (Hg.), Beiträge zu einer materialistischen Theorie der Literatur, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1977; Bernd Jürgen Warneken, Literarische Produktion. Grundzüge einer materialistischen Theorie der Kunstliteratur, Frankfurt a.M. 1979; Zusammenfassend: Günter Peters, Theorie der literarischen Produktion, in: Dietrich Harth u. Peter Gebhardt (Hg.), Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaften, Stuttgart 1982. 11 Zu Brecht siehe: Burkhardt Lindner, Brecht/Benjamin/Adorno – Über Veränderungen der Kunstproduktion im wissenschaftlich–technischen Zeitalter, in: Text und Kritik. Sonderband Bertolt Brecht I, München 1972; Heinz Brüggemann, Literarische Technik und soziale Revolution. Versuche über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und literarischer Produktion in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts, Reinbek b. Hamburg 1973.
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fundamentale Bedeutung für die Theorie der literarischen Produktion zu. Technik bezeichnet zunächst eine Fähigkeit oder ein Vermögen, und in diesem Sinne hat sich für Benjamin jeder Schriftsteller als Techniker seines Faches auszuweisen. „Was er kann, macht die technische Qualität eines Autors.“ (GS VI, 168) Im Zusammenhang des Problems, wie dieses Können erworben werden kann, ist er, so Benjamin, auf das Studium der ihm vorliegenden Werke verwiesen: „Am Kunstwerk lernen die Künstler das Metier.“ (GS IV/1, 107) Es erschließt sich, indem dessen Technik als spezifische Art seines Gemachtseins beschrieben werden kann. „In Wahrheit läßt sich keine große Dichtung – in ihrer Größe! – ohne das Moment des Technischen verstehen. Dieses aber ist ein schriftstellerisches.“ (GS III, 363)12 In einem Exposé für die gemeinsam mit Benjamin geplante Zeitschrift „Krise und Kritik“, die als Forum der theoretischen Verständigung über genuin schriftstellerische und damit technische Probleme konzipiert war, skizziert Brecht die Aufgaben einer produktiven Kritik, die die Analyse von Werken als Prozeß von Aneignung und Indienstnahme der darin wirksamen Mittel versteht: „Diese Kritik löst also fertige in unfertige auf, geht also analytisch vor, jeweils das Werk als persönliches Dokument ihres Verfassers außer acht lassend, aber die Punkte sammelnd, die ihm für weitere Werke nützlich sind, also geeignet für unpersönliche Anwendung. Die K.B. errichten den Standpunkt, daß es in der Literatur Erfindungen und Entdeckungen gibt, die die Methoden sämtlicher Schriftsteller verändern müssen, so wie alle wissenschaftlichen und handwerklichen Sparten in jedem Augenblick einen technischen Standard haben – den der einzelne in ihnen Beschäftigte erreicht haben muß.“ (GW 18, 13
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Der Begriff der Technik bezeichnet also sowohl den Modus des Hervorbringens als auch die Art, wie das hervorgebrachte Objekt gemacht ist. 12 Zu Benjamins Vorstellungen zum Zusammenhang von politischer Tendenz und literarischer Technik siehe seinen Aufsatz ‚Der Autor als Produzent’ (GSII/2). Zum Verhältnis von ästhetischer Technik und gesellschaflicher Technologie bei Benjamin vgl. Burkhardt Lindner, Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie. ‚Positives Barbarentum im Kontext’, in: ‚Links hatte noch alles sich zu enträtseln...’. Walter Benjamin im Kontext. Hg. v. Burkhardt Lindner, Frankfurt a.M. 1978. Zur Bedeutung der schriftstellerischen Technik für Benjamins Poetik und ihrem literaturgeschichtlichen Kontext vgl. Eckhardt Köhn, ‚Ein Letzter, wie ich es bin.’ Bemerkungen zum schriftstellerischen Selbstverständnis Walter Benjamins, in: ‚Was nie geschrieben wurde lesen’. Frankfurter Benjamin Vorträge. Hg. v. Lorenz Jäger u. Thomas Regehly, Bielefeld 1992. 13 Zu diesem gescheiterten Vorhaben vgl. Erdmut Wizisla, ‚Krise und Kritik’. Walter Benjamin und das Zeitschriftprojekt, in: Aber ein Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu Walter Benjamin. Hg. v. Michael Opitz u. Erdmut Wizisla, Leipzig 1992.
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Er bezieht sich auf den Prozeß der Produktion und auf das Produkt. Nirgendwo ist der Leser oder Rezipient dem Schriftsteller oder Künstler näher als dort, wo er sich den im Werk erkennbaren technischen Problemen und Lösungen oder deren Vorstufen und Vorarbeiten zuwendet und damit jenen Schwierigkeiten, die der Künstler bei seiner Arbeit zu bedenken und praktisch zu bewältigen hatte. Diese weitreichende Möglichkeit einer Angleichung der Perspektive von Künstler und Interpret begründet, wie Henri Focillon hervorgehoben hat, die herausragende heuristische Leistungsart des Begriffs der Technik: „Wir haben immer das Gefühl gehabt, daß die Beobachtungen und Erscheinungen im technischen Bereich in diesen schwierigen, ständig in Unbestimmtheit der Werturteile und im höchsten Grad fließenden Auslegungen unterworfenen Untersuchungen nicht nur eine gewisse kontrollierende Sachlichkeit verbürge, sondern daß sie uns mitten in die Probleme hineinführe, weil sie uns eben diese unter den gleichen Voraussetzungen und unter dem gleichen Gesichtswinkel wie dem Künstler zeigt.“14 Als Schlüsselkategorie fungiert der Begriff der Technik auch in der Ästhetik Adornos, aus der die mit der Rezeptionsästhetik rivalisierenden Ansätze ihre stärksten theoretischen Impulse erhielten, selbst wo sie sich kritisch von bestimmten Aspekten seiner Philosophie abzugrenzen versuchten. Technik, für Adorno „der ästhetische Name für Materialbeherrschung“ (GS 7, 316)15 führt ins Zentrum seiner Philosophie der Kunst insofern „die Fähigkeit Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziertseins zu sehen [...] wohl die allein mögliche Gestalt von Ästhetik heute“ (GS 11, 159) ist. Die philosophische Bedeutung, die Adorno dem Begriff der Technik zuweist, sieht er in seiner analytischen Leistungsfähigkeit begründet: „Angesichts des Gehalts ist der technische Aspekt nur einer unter anderen: kein Kunstwerk nichts als der Inbegriff seiner technischen Momente [...]. Konstitutiv jedoch für die Kunst ist Technik, weil in ihr sich zusammenfaßt, 14 Henri Focillon, Das Leben der Formen, München 1954, 68. Es ist nicht ohne Interesse, daß die 1934 erschienene französische Ausgabe von Focillons Studie zu den letzten Titeln gehört, die Benjamins ,Verzeichnis der gelesenen Schriften’ anführt. Vgl. GS VII/1, 476. 15 Vgl. dazu Adornos Erläuterungen zum Begriff der Technik im Zusammenhang seiner Ausführungen zur „Tendenz des Materials“ in der Musik (GS 12, 38–42). Zur zentralen Bedeutung der Begriffe Technik und Material in Adornos Ästhetik vgl. Peter Bürger, Vermittlung–Rezeption–Funktion. Ästhetische Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1979, 82–87; Burkhardt Lindner, ‚Il faut etre absolument moderne’. Zur Geschichtsphilosophie und ästhetischen Theorie Adornos, in: Materialien zur ästhetischen Theorie. Th.W. Adornos Konstruktion der Moderne. Hg. v. Burkhardt Lindner u. W. Martin Lüdke, Frankfurt a.M.. 1980, 294–301; Hartmut Scheible, Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter, Bern/München 1984, 477–482.
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ERFAHRUNG DES MACHENS daß jedes Kunstwerk von Menschen gemacht wird [...] Schlüsselcharakter hat Technik für die Erkenntnis von Kunst; sie allein geleitet die Reflexion ins Innere der Werke; freilich nur den, welcher ihre Sprache spricht.“ (GS 7, 317)
Gehalt und Technik sind zu unterscheiden, jedoch nur im Sinne einer Dialektik, die die Wahrheit eines Kunstwerks nicht mit der Technik identifiziert, sie aber gleichwohl unlösbar mit ihr verbunden sieht: „Weil der Gehalt kein Gemachtes ist, umschreibt Technik nicht das Ganze der Kunst aber nur aus ihrer Konkretion ist der Gehalt zu extrapolieren. Technik ist die bestimmbare Figur des Rätsels an den Kunstwerken, rational und begriffslos in eins.“ (GS 7, 316) Angesichts der Überzeugung, daß im industriellen Zeitalter die im Kunstwerk sedimentierte Form der Materialbeherrschung stets dem fortgeschrittensten Stand gesellschaftlicher Naturberrschung zu entsprechen habe und mit deren progessiver Dynamik aufs engste vermittelt ist, bekommt die Kategorie der ästhetischen Technik für Adorno einen geschichtsphilosophischen Index, indem kein Künstler hinter den jeweils avanciertesten Stand der Materialbeherrschung zurückgehen darf. „Die Sphäre, in der über richtig und falsch doch ohne Rekurs auf trügerische Leitbilder sich entscheiden läßt, ist die technische. Diese Einsicht, die in den Schriften Valérys unvergleichlich formuliert ward, sollte aller neuen Kunst gegenwärtig bleiben, solange sie nicht wirklich in den schlechten Zufall abgleiten will.“ (GS 10/1, 300)16 Anstrengungen die entsprechenden Diskussionen aus den zwanziger und dreißiger Jahren historisch zu rekonstruieren und für die Entwicklung einer zeitgemäßen Produktionsästhetik zu nutzen, hat es durchaus 16 Auch Heidegger geht davon aus, daß „das Wesen des Materialismus sich im Wesen der Technik (verbirgt), über die zwar viel geschrieben, aber wenig gedacht wird.“ Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt a.M. 1978, 171. Entsprechend findet sie Eingang in sein Denken über Kunst: „Inwiefern ist die Frage nach dem Wesen der Technik zugleich die Frage nach der Kunst? Nicht insofern Technik und Kunst das Gleiche sein müßten – das sind sie nicht –, wohl aber insofern das Wesen der Technik, hinreichend bedacht, eine Besinnung auf die Kunst nicht nur ermöglicht, sondern verlangt.“ Martin Heidegger, Technik und Kunst – Gestell, in: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Hg. v. Walter Biemel u. Friedrich–Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a.M. 1989, 21. Heideggers Bemerkung folgend, daß „das ‚Und’ dieser Beziehung zu dem (gehört), was ins Fragwürdigste gehört“ (21) versucht Friedrich–Wilhelm von Herrmann in seinem Beitrag ‚Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont’ zu verdeutlichen, wie in Heideggers Philosophie „das Wesen der Kunst und das Wesen der modernen Technik [...] aus der geschichtlich erfahrbaren Wesung des Seyns erfragt“ (25) werden. Das ist eben doch eine andere Fragestellung als bei Adorno. Zu Heideggers ästhetischer ‚Kehre’, die ihn von einer entschlossenen Kritik der metaphysichen Kunsttheorie zu einem mythischen Seinsbegriff führt, der der Evokationskraft ‚elementarster’ Worte glaubt vertrauen zu dürfen, siehe: Karl Heinz Bohrer, Der Ernstfall Heidegger, Basel 1998.
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gegeben, ohne daß es in der Folge zu einer systematisch und kontinuierlich betriebenen Fortsetzung dieser historischen Ansätze gekommen wäre. Damit rückte die Figur des Autors im Vergleich zu der des Lesers, der die theoretische Neugierde weitgehend absorbiert hatte, immer weiter in den Hintergrund. Daß aber von einem Verschwinden des Autors gesprochen werden kann, in dessen Folge die Literaturwissenschaft ihn nahezu vollständig aus dem Blickfeld verloren zu haben schien, ist nicht zu trennen vom nachhaltigen Einfluß poststrukturalistischer Theorien. Sofern er sich überhaupt formalisieren und als ein System von Regeln oder methodologischen Prämissen begreifen läßt, versucht der Dekonstruktivismus im Sinne Derridas „einen Typ von Wissen, Prinzipien und Theoremen vorzuschlagen, die größtenteils Prinzipien der Interpretation und der Lektüre, weniger solche des Schreibens sind“17. Aber auch der Dekonstruktivismus hat eine Geschichte und es darf daran erinnert werden, daß Derrida 1971 anläßlich der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Paul Valéry eine Rede gehalten hat, die 1972 veröffentlicht und unter dem Titel „Qual Quelle. Die Quellen Valérys“ 1988 erstmals in deutscher Übersetzung erschien. Derrida nimmt darin die bereits von Valéry formulierte Frage auf, unter welchen Bedingungen es zur Wiederentdeckung oder Neubewertung von Texten kommen kann, wie der Prozeß ihrer Vergegenwärtigung, die Rückkehr zu den Quellen im Hier und Jetzt funktioniert. Derrida interessiert die Bedeutung des Selbstbezugs in Valérys Poetik, dessen Gedanke, daß es bei der literarischen Arbeit für den Dichter um die methodische Ausbildung des Vermögens gehe, genau das herzustellen zu können, worauf sein Verlangen sich richtet. Um die Besonderheit von Valérys Position18 zu verdeutlichen, bemüht Derrida eine geistesgeschichtliche Konstellation, die Freud und Nietzsche einbezieht, und unvermittelt eröffnet Derridas Text in diesem Zusammenhang eine Fragestellung, die engste Berührung mit dem für den deutschen Kontext skizzierten produktionstheoretischen Interesse der Literaturwissenschaft aufweist: „In einem bestimmten historischen Moment ist man – aus Gründen, die zu analysieren wären – davon abgegangen, den Dichter als von einer fremden Stimme besessen zu betrachten – in der Manie, im Delirium, im Enthusiasmos oder in der Inspiration.“19 In der Folge läßt der 17 Jacques Derrida, Einige Statements und Binsenwahrheiten über Neologismen, New–Ismen, Post–Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen, Berlin 1997, 52. 18 Im Hinblick auf Valérys geistespolitischen Ort ist auch Derridas späteres Spiel mit André Maurois’ berühmter genealogischer Formel nicht ohne Witz: „Shakespeare, der Marx zeugt, der Valéry zeugt (und einige andere).“ Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die 19 Jacques Derrida, Qual Quelle. Die Quellen Valérys, in: Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie. Hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, 281. Über
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von den maßgeblichen Theoretikern der Dekonstruktion beschrittene Weg von „Monsieur Teste“ zu „Monsieur Texte“20 ebenfalls erkennen, wie nahe und wichtig ihnen Probleme dieser Art anfangs waren, ehe sich das Interesse weitgehend auf das dem Schriftsteller bei seiner Arbeit prinzipiell unverfügbare Element des Mechanismus sprachlicher Bedeutungsproduktion zu konzentrieren begann. Dieses markiert gewissermaßen den blinden Fleck seines Schreibens und eröffnet dergestalt den logischen Raum der Dekonstruktion, den die Lektüre ausmißt. Der Schriftsteller, so Derrida bereits in seinen frühen Bemerkungen zur „Methodenfrage“, „bedient sich eines Systems, indem er sich bis zu einem gewissen Grade von ihm beherrschen läßt. Die Lektüre hingegen muß ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem, was er an verwendeten Sprachschemata beherrscht, und dem, was er nicht beherrscht, im Auge behalten. Dieses Verhältnis ist jedoch nicht durch eine bestimmte qualitative Verteilung von Schatten und Licht gekennzeichnet, sondern durch eine signifikante Struktur, die von der Lektüre erst produziert werden muß.“21
Die durch das Spiel der Zeichen ermöglichte Pluralität von Figuren, die die Interpretation entfaltet, bleibt dem Autor, obwohl von ihm ins Werk gesetzt, verschlossen. Folglich verliert das, was er über sich und seine Arbeit weiß und zu sagen hat, an Bedeutung gegenüber dem, was eine dekonstruktive Lektüre in seinen Texten glaubt, lesen zu können, zumal ihre Neugierde durch ein nicht-thematisches Lesen bestimmt wird. Da noch die Selbstzeugnisse der Autoren über ihre Arbeit der Bewegung der Sinnverschiebung unterstellt werden, kommen Versuche, im Zeichen dieses Denkens dennoch eine theoretische Konzeption von Autorschaft zu skizzieren getrost ohne Berücksichtigung entsprechender Dokumente aus.22
die mögliche Wiederkehr Valérys prognostiziert Derrida 1971: „Indem ich zu ihm zurückkam, zu diesem riesigen kartonierten Netz, das buchstäblich seine Signatur trägt, sagte ich mir, daß ihm, und nicht nur in Form seiner ,Cahiers’, so manche Wiederkehr gewiß ist.“ (262). 20 Siehe Geoffrey H. Hartman, Monsieur Texte, in: Geoffrey H. Hartman, Saving the Text. Literature/Derrida/Philosophy, Baltimore/London 1982. „I am not going to choose between Valéry (his desire for clarity, often self–subverted) and Derrida.“ (xxx iii). 21 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M., 1983, 273. 22 Exemplarisch dafür: Erich Kleinschmidt, Autorschaft. Konzepte einer Theorie, Tübingen/Basel 19981. Zur dekonstruktivistischen Abwertung von künstlerischer Urheberschaft und Orginalität vgl. die kritischen Anmerkungen von Felix Peter Ingold, Der Autor am Werk. Versuche über literarische Kreativität, München/Wien 1992.
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Als Weiterführung produktionstheoretischer Überlegungen, wenngleich völlig anderer Art, lassen sich noch am ehesten die dem Konzept einer analytischen Literaturtheorie verpflichteten Ansätze verstehen, die auf der Grundlage einer linguistischen Formulierungstheorie das Interesse verfolgen, „die Handlungsrolle des Autors dadurch ernst zu nehmen, daß der literarische Herstellungsprozeß aus der Perspektive des Produzierenden abgebildet wird.“23 Indem literarische Textherstellungstheorie als Spezialfall der Problemlösetheorie angesehen und literarisches Formulieren als problemlösendes Handeln begriffen wird, läßt sich aus der Sicht ihrer Anhänger „die Kernaussage der Theorie so zusammenfassen: Literarisches Textherstellen ist als Lösen von Formulierungsproblemen zu charakterisieren.“24 Der Entwurf einer systematischen Theorie literarischer Produktion hat freilich mit anderen Problemen zu kämpfen als die bescheideneren Versuche, die Geschichte produktionsästhetischer Vorstellungen zu rekonstruieren und sich dabei von der Überzeugung leiten zu lassen, daß es im Prozeß der theoretischen Entwicklung zwar beschreibbare Erkenntnisfortschritte im Hinblick auf die Sache der ästhetischen Produktion gibt, ohne doch dem Glauben zu erliegen, sie ließe sich jemals rational vollständig erhellen. Die Diskontinuität in der wissenschaftlichen Behandlung produktionstheoretischer Fragestellungen darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß die entsprechenden Ansätze durchaus folgenreich waren. Das in jedem Diskurs über künstlerische Technik angelegte demokratische Potential, das darin besteht, daß alles, was über Herstellungsprozesse gewußt werden kann, prinzipiell jedem die Möglichkeit seiner Anwendung eröffnet, hat sich am stärksten in einem Bereich entfaltet, wo es vermutlich am wenigsten erwartet werden konnte. In der Literaturdidaktik hat die Bevorzugung handlungs- und produktionsorientierter Verfahren im Deutschunterricht durchaus zu einer Entmystifizierung literarischer Schaffensprozesse beigetragen25 und korrespondiert mit dem an 23 Manfred Beetz, Gerd Antos, Die nachgespielte Partie. Vorschläge zu einer Theorie der literarischen Produktion, in: Peter Finke/Siegfried J. Schmidt (Hg.), Analytische Literaturwissenschaft, Braunschweig/Wiesbaden 1984, 91. Siehe auch: Gerd Antos, Grundlagen einer Theorie des Formulierens, Textherstellung in geschriebener und gesprochener Sprache, Tübingen 1982; Gerd Anthos, Rhetorisches Textherstellen als Problemlösen. Ansätze zu einer linguistischen Rhetorik, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 43/44, 1981. Einen konzentrierten Überblick über die Ergebnisse aus der Sicht von Textlingustik und empirischer Schreibforschung bietet Gerd Antos: Textproduktion. Ein einführender Überblick, in: Gerd Antos u. Hans P. Krings, Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick, Tübingen 1989. 24 Manfred Beetz, Gerd Antos, Die nachgespielte Partie, 108. 25 Vgl. Holger Rudloff, Produktionsdidaktik und Produktionsästhetik. Kunsttheoretische Voraussetzungen literarischer Produktion, Opladen 1991. Zur Bedeutung des produktionsorientierten Literaturunterrichts in der gegenwärtigen Diskussion vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen von Kaspar H Spinner,
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den Hochschulen immer stärker hervortretenden Interesse der Studierenden an Schreibseminaren, die in dem Maße als wünschenswerte Alternative zum üblichen Studienbetrieb angesehen werden, wie das Lernen durch kreative Verfahren und eigene Praxis als sinnvolle Ergänzung einer primär analytisch-theoretisch strukturierten Ausbildung erfahren wird.26 Wenn die Zeichen nicht trügen, so ist gegenwärtig auch in der Literaturwissenschaft selbst erneut eine stärkere Hinwendung zu Fragen der Produktion und zur Rolle des Autors festzustellen. Starke Impulse verdankt das neu erwachte Interesse dem vom Pariser „Institut des Textes et Manuscrits Modernes“ entwickelten und mittlerweile auch im Kontext der deutschen Literaturwissenschaft sehr einflußreichen Verfahren der „critique genetique“. Ihre Untersuchungen konzentrieren sich darauf, auf der Grundlage von Handschriftenkorpora die Entstehungsprozesse von Werken genauer zu bestimmen. Der Ausgangspunkt dieser Bemühungen ist strikt antipsychologisch; es geht nicht darum, die Werkentstehung aus biographischen Daten abzuleiten. „Die ,critique genetique’ arbeitet empirisch an einem konkreten Gegenstand – dem handschriftlichen Zeugen der Textentstehung – und rekonstruiert zunächst durch eine Reihe quasi archäologischer Verfahren die Vielfalt der tatsächlich überprüfbaren Schreibprozesse.“27 Klaus Hurrelmann hat den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund dieser Forschungsrichtung zutreffend charakterisiert: Literaturdidaktik der 90er Jahre, in: Albert Bremerich–Vos (Hg.), Handlungsfeld Deutschunterricht im Kontext, Frankfurt a.M. 1993. Im Hinblick auf den Stellenwert, den produktionästhetischen Fragestellungen im Kontext gegenwärtiger literaturwissenschaftlicher Einführungen zugemessen wird, vgl. Jürgen Schutte, Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1985, 44–75, sowie Friedrich Vollhardt, Zur Selbstreferenz im Literatursystem: Rhetorik, Poetik, Ästhetik und Klaus Michael Bogdal, Akteure literarischer Kommunikation, beide Beiträge in: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hg.) unter Mitwirkung v. Susanne Landeck, Literaturwissenschaft, München 1995; Gerhard Plumpe, Autor und Publikum, in: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1997 (5. Aufl.). Nach Abschluss der vorliegenden Arbeit erschien: Jan–Peter Pudelek, Der Begriff der Technikästhetik und ihr Ursprung in der Poetik des 18. Jahrhunderts, Würzburg 2000. 26 Vgl. Hans Arnold Rau (Hg.), Kreatives Schreiben an Hochschulen, Berichte, Funktionen, Perspektiven, Tübingen, 1988, darin besonders: Kaspar H. Spinner, Kreatives Schreiben und literaturwissenschaftliche Erkenntnis. Über das Spektrum der methodischen Ansätze vgl. Anne Berkemeier, „Didaktik des Schreibens an der Hochschule“. Bericht über eine Fachtagung vom 5. bis 7. Juli 1997 in Erfurt, in: Der Deutschunterricht, H. 6, 1997. 27 Louis Hay, Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu eine ,critique genetique’, in: Poetica, H. 3/4, 1984, 308. „Die Poetik wird mit einem neuen Textverständnis konfrontiert, insofern sie das Werk nicht mehr bloß als ein Gegebenes hinnimmt, sondern als Glied in einer Verkettung von Möglichkeiten zu verstehen lernt. Die Literaturwisssenschaft dringt vor in einen Raum, in dem die Spannung zwischen dem Gelebten und dem leeren Blatt sich immer aufs neue entlädt und auflädt.“ (323). Zur Position der „critique geneti-
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EINLEITUNG „Entwickelt hat sich die ,critique genetique’ aus der französischen strukturalistischen Literaturtheorie, mit der sie den methodischen Objektivismus teilt: die Konzentration auf die raum-zeitliche Textualität der Werke. Was sie vom Strukturalismus unterscheidet, ist die Erweiterung des Blickfeldes: vom Text als einem geschlossenen semiologischen Gebilde auf die Produktion des Textes (textualisation, avant-texte, le texte n’existe pas), vom Geschriebenen (l’ecrit) auf das Schreiben (l’ecriture), vom Druck auf die Handschriften.“28
Die Hoffnung indes, über eine vergleichende historische Werkgenese nicht nur zur Typologie von schriftstellerischen Arbeitsweisen, sondern weit darüber hinaus zu einer strukturellen Theorie literarischer Produktion vorzudringen, wird sich wohl als trügerisch erweisen, da aus der Perspektive des Interpreten immer nur die Unterschiede der einzelnen Manuskriptfassungen genetisch beschrieben werden können, es aber logisch unmöglich ist, den Produktionsakt selbst vollständig zu analysieren. Dennoch bezeichnet die exakte Beschäftigung mit den materialen Aspekten des Schreibprozesses, die den Gestus des Schreibens, Textträger, Schreibmittel und die Gestaltung von Schriftzügen einbezieht, einen Fortschritt innerhalb der Produktionstheorie. Die Analyse der handschriftlichen Textzeugen erinnert daran, daß dem Werk nicht nur der Akt des Schreibens vorausliegt, sondern dieser sich bis zur Entwicklung der modernen technischen Medien in der Form des Schriftzeichnens vollzogen hat, so daß auch die Form einer Manuskriptseite Teil eines ästhetischen Gestaltungswillens sein und dergestalt als bewußtes Element des Herstellungsprozesses im Rahmen einer Produktionsästhetik Anspruch auf Berücksichtigung erheben kann.29 Vor allem aber verweist die Konque“ vgl. Louis Hay, La critique genetique, in: Essais. Le texte n’existe pas, Poetique 62; Louis Hay, Über die Entstehung von Texten und Theorien. Deutsch–französische Randglossen zu einem Forschungsgebiet, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 68. Eine Übersicht bietet Peter Stolz, Ergebnisse der neueren Forschung in den Bereichen Textgenese, Narrativik und Gattungsfragen, in: Germanisch–Romanische Monatschrift, H. 1, 1991. Siehe auch die kritischen Bemerkungen von Jean Starobinski, Approches de la genetique des textes: Introduction pour un debat, in: Naissance du texte. Publie par Louis Hay, Paris 1989. 28 Klaus Hurrelmann, Deutungen literarischer Arbeitsweise, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft ,Editionsprobleme der Literaturwissenschaft’, 1986, 8. 29 Siehe Serge Tisseron. All Writing is drawing. The spatial development of the manuskript, in: Yale French Studies ,Boundaries : Writing and Drawing’, no. 84, 1994. Zur Bedeutung dieser Dimension in der modernen Literatur vgl. Robert Pickering, Writing and the page: Rimbaud, Mallarmé, Valéry, in: The Modern Language Review, Jan. 1992, Vol. 87, part 1. Zur besonderen Bedeutung der heterogenen Materialität mittelalterlicher Manuskripte und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für Philologie und Editionspraxis vgl. Stephan G. Nichols, Philology in a Manuscript Culture, in Speculum, January 1990.
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frontaton mit den Manuskripten auf die Bedeutung des Autors, der für den empirischen und logischen Zusammenhang des Prozesses einsteht, den sie dokumentieren und der im Werk einen Abschluß finden kann, aber nicht muß. „The manuscript specially refers back to the person who wrote ist, and to his day-to-day existence. It bears the mark, the imprint, the signature of his work. The autor is here in the manuscript, keeping watch and affirmung his presence: he cannot be ignored any longer. [...] After long beeing eclipsed, the autor ist making a comeback and so is his history.“30 In Deutschland haben die Arbeiten der critique genetique vor allem im Kontext der Editionstheorie starkes Interesse gefunden.31 Nicht zu übersehen, daß auch Hans Robert Jauß unter dem Eindruck der neuen Diskussion in seinen späten Beiträgen die frühen Problemkomplexe wieder aufgenommen hat, wie der programmatische Titel des 1989 erschienen Aufsatzes „Réception und production: le mythe des frères ennemis“ verrät, in dem er feststellt, daß innerhalb der Geschichte der Ästhetik Produktion und Rezeption niemals „feindliche Brüder“ gewesen seien und es überraschend wirke, rückblickend feststellen zu müssen, daß sie in einem bestimmten historischen Augenblick dafür gehalten worden seien. „C’est dans les annees soixante, lors du débat sur la critique des ideologies, que l’on vit s’enflammer la ,polemique des interpretations.’“32 Blumenbergs aus dem Nachlaß veröffentlichte Bermerkungen lassen oh30 Martine Reid. Editor’s Preface: Legibel, Visible, in: Yale French Studies, no. 84, 1994, 4 Zum Thema der Wiederkehr des Autors vgl. Michel Contat, La question de l’auteur au regard de manuskripts, in: L’auteur et le manuskript, Paris 1991; L’auteur. Actes publiés sous la direction de Gabrielle Chamarat et Alain Goulet, Caen 1996 und Felix Philipp Ingold u. Werner Wunderlich (Hg.), Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven, Konstanz 1992. 31 Vgl. die Beiträge des Sammelbandes: Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen, hg. v. Axel Gellhaus u.a., Würzburg 1994. Jürgen Fohrmann hat in seinem Beitrag: ,Textherstellung. Ein Resumee’, den mit der Sicht auf die Herstellung von Texten verbundenen Erkenntnisgewinn herausgestellt, der sich auf die Wahrnehmung der Differenz zwischen dem Werk und der es konstituierenden Texte bezieht: „Der Blick ermöglicht die Korrelation von genealogischer Faktur und der spezifischen Art des Textes und setzt Möglichkeiten wechselseitiger In–Bezug–Setzung frei.“ (346) Welche Aufschlüsse es erbringen kann, der „Produktionsspur“ eines Autors anhand verschiedener Textvarianten zu folgen, hat Hans–Jost Frey in seiner subtilen Analyse, Ändern. Textrevision bei Hölderlin’ gezeigt und die für Autor und Leser gleichermaßen gültige Einsicht in die Logik der Textrevision präzise bestimmt: „Ändern ist nicht enden. Die Möglichkeit, anders zu sein, macht den Text unabschließbar.“ Hans–Jost Frey, Der unendliche Text, Frankfurt a.M. 1990, 77. Ein anschauliches Beispiel für eine an den Manuskripten orientierte neue philologische Editionstheorie gibt die Dokumentation: Franz Kafka. Der Prozeß. Die Handschrift redet. Bearbeitet von Malcom Pasley. Marbacher Magazin 52/1990. Vgl. auch die Beiträge der neuen Zeitschrift „Text“, hg. im Auftrag des Instituts für Textkritik e.V.; vor allem Heft 3 zum Thema „Entzifferung“. 32 Hans Robert Jauß, Réception et production: le mythe des frères ennemis, in: La naissance du texte, 163.
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nehin keinen Zweifel an seiner Überzeugung, von welcher Priorität letztlich ausgegangen werden müsse: „Produktion und Rezeption stehen nicht in gleichrangiger Symmetrie. Darin ist der Vorrang jeder Produktionsästhetik vor jeder Theorie der Rezeption begründet [...].“33 Schließlich ist das wiedererwachte Interesse an produktionstheoretischen Fragestellungen nicht von der Erfahrung zu trennen, daß auch aus der Perspektive des modernen Autors die Bedeutung seiner konkreten literarischen Praxis erneut zur Diskussion gestellt worden ist, so vor allem in Italo Calvinos brillanten Vorlesungen „Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend“, in denen er Überlegungen zur Rolle des Autors unter den Bedingungen eines grundsätzlichen Wandels literarischer Erfahrung im Medienzeitalter mit dem Versuch verbindet, die auch in Zukunft zu bewahrenden Werte der Literatur genauer zu bestimmen. Vor allem ein Wert ist es, den Calvino über alle anderen stellt und dem er auch in Zukunft uneingeschränkte Anerkennung wünscht: „Eine Literatur, die sich dem Sinn für geistige Ordnung und Genauigkeit, die Intelligenz der Poesie und zugleich die der Wissenschaft und der Philosophie so sehr zu eigen gemacht hat wie die des Essayisten und Prosaisten Valéry“34. Zur Intelligenz der Poesie und des modernen Schriftstellers gehört ein bis zum äußersten gesteigertes Bewußtsein von den Prozessen seiner Arbeit und der Rolle die ihm als schaffendes Subjekt darin zukommt. In dieser Hinsicht formuliert Calvino, wie zu Recht vermerkt worden ist, eine neue Perspektive:
33 Hans Blumenberg, Lebensthemen, 70. 34 Italo Calvino, Sechs Vorlesungen für das nächste Jahrtausend, Harvard Vorlesungen, München/Wien 1991, 158. Blumenberg hat Paul Valéry als einen „der wenigen modernen Dichter“ bezeichnet, „von denen ohne Übertreibung gesagt werden kann, sie seien auch bedeutende Denker gewesen“. Hans Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1979, 83. Besonders ein Blick auf den Gehalt der deutschen Autorenpoetiken nach 1945 verdeutlicht, daß dies kein ungerechtes Urteil ist. Läßt man Hans Magnus Enzensberger beiseite und nimmt als Maßstab theoretischer Einsichten die poetologischen Beiträge von Gottfried Benn, etwa seinen Vortrag „Probleme der Lyrik“ von 1951, der sich ausdrücklich auf die Tradition der modernen Autoren bezieht, die „alle am Prozeß des Dichtens ebenso interessiert sind wie an dem opus selbst“ (GW, Bd. 4, 1060), so zeigt sich, daß schon Benn eine kaum mehr von anderen Nachkriegsautoren erreichte Sonderstellung einnimmt, obwohl auch sein Vortrag, wie Blumenberg in Hinsicht auf Benns Konzeption poetischer Sprache kritisch vermerkt hat, nicht ohne die „Banalität von ,Zauber’ und letztem ,Mysterium’“ auskommt. Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 151. Zu Benns Vorstellung vom Schaffensprozeß vgl. das entsprechende Kapitel in: Edgar Lohner, Passion und Intellekt. Die Lyrik Gottfried Benns, Neuwied/Berlin–Spandau 1961, 50–67.
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ERFAHRUNG DES MACHENS „Leitend für dieses poetische Manifest der Postmoderne ist der Wandel im Selbstverständnis des Autors. Er verzichtet darauf, als schöpferischer Ursprung autonomer Werke zu gelten und betrachtet sich stattdessen als bloßes Referenzsubjekt. Seine primäre Tätigkeit besteht im Lesen und in der Verarbeitung der gelesenen Texte zu neuen Texten. Darin ähnelt die poetische Tätigkeit ihrer Struktur nach den modernen Textverarbeitungsverfahren. ,Dichtung’ wird zur intertextualistischen Kombinatorik.“35
Die weitgehende Zurücknahme des schöpferischen Subjekts zugunsten eines Verständnisses von literarischer Produktion als autopoetischer Prozeß kann aber nicht vollständig auf die Beziehung zum schreibenden Autor verzichten, denn alle Texte bleiben letztlich bezogen auf ein Referenzsubjekt, das ihr den Prozeß ihrer Hervorbringung ebenso beglaubigt wie die Aspekte der formalen und inhaltlichen Gestaltung, so daß dergestalt die jeder Textproduktion zugrundeliegende individuelle Erfahrung der Arbeit am Werk durch keine Systemkonstruktion ersetzt werden kann. „Insofern behält auch und gerade im Rahmen der Rezeptionsästhetik die Produktionsästhetik ihre unaufhebbare fundamentale Bedeutung.“36 Daran gilt es zu erinnern, selbst wenn in der anbrechenden Epoche des Hypertextes die Bedeutung des Autors weiter geschwächt zu werden scheint. Calvinos Poetik, die der Vorstellung schöpferischer Souveränität sehr enge Grenzen zieht, dafür aber den Prozeß des Schreibens durch äußerste Präzision der angewandten literarischen Verfahrensweisen bestimmt wissen will, verkörpert das produktionsästhetische Selbstverständnis des modernen Autors gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf exemplarische Weise, exemplarisch deshalb, weil Calvino sich selbst in der Tradition der modernen europäischen Poetik sieht und darin den historischen Ort seiner Position sehr genau zu bestimmen weiß. Läßt sich auf der Grundlage von Calvinos Überlegungen ein Bild des Autors konturieren, der sich als Exponent der späten Moderne begreift, so lenkt es zugleich den Blick auf die Anfänge der Geschichte des Verständnisses zurück, das Schriftsteller von der literarischen Produktion entwickelt haben. Auch wenn der Autor im Hypertext der Zukunft im dezentrierten Netzwerk der Codes zu verschwinden droht, darf doch – wie melancholisch auch im35 Ferdinand Fellmann, Poetische Existentialien der Postmoderne, in: DVjS, H. 4, 1986, S. 752. Zum Bedeutungsschwund der Kategorie des Autors in der Literatur der Moderne vgl. auch die aufschlußreichen Analysen aus komparatistischer Sicht von Felix Philipp Ingold, Der Autor am Werk. Poetologische Notizen und Exzerpte und Felix Peter Ingold, Schöpfertum und Führungskraft. Zum Wandel der Funktion Autor in der Moderne, in: Werner Wunderlich (Hg.), Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur, Bern/Stuttgart 1989 36 Ferdinand Fellmann, Poetische Existentialien der Postmoderne, 753.
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mer – danach gefragt werden, über welches Wissen er zu verfügen glaubte, als er noch annehmen durfte, das literarische Schreiben sei auf besondere Weise seine Sache. Doch selbst wenn der Eindruck stimmt, daß die jüngere literaturwissenschaftliche Diskussion Anzeichen einer erneuten Hinwendung zu produktionsästhetischen Problemen aufweist, ist der mögliche Einwand nicht zu vernachlässigen, damit würde letztlich weniger ein im Zeichen der Vorherrschaft von Texttheorie und Rezeptionsästhetik vernachlässigter Problemkomplex zu Recht erneut Beachtung finden als vielmehr ein Vorhaben propagiert, daß nach der endgültigen Verabschiedung des Autors längst anachronistisch geworden sei. Ist der Weg seiner Wiederkehr nicht durch Foucaults Theorie vom Verschwinden des Autors in der Tat ein für alle Mal versperrt? Foucaults berühmter Aufsatz „Was ist ein Autor“ lenkt die Frage auf den „Bezug Text-Autor“ [...], die Art, in der der Text auf jene Figur verweist, die ihm wenigstens dem Anschein nach, äußerlich ist und ihm vorausgeht.“37 Diese ist nicht mit dem empirischen Autor identisch, sondern kann nur in dem Maße bestimmt werden, wie sie als Funktion eines Diskurses verstanden wird, den drei große „Ausschließungssysteme“ prägen: „das verbotene Wort; die Ausgrenzung des Wahnsinns, der Wille zur Wahrheit“38 . Erst die Beschreibung der funktionalen Elemente führt zu den „Regeln der Autor-Konstruktion“39, also den institutionellen Voraussetzungen und epistemischen Einschränkungen, die die Arbeit des Autors bereits beeinflussen, ehe er das erste Wort geschrieben hat. „Ich denke“, so Foucault, „daß – zumindest seit einer bestimmten Epoche – das Individuum, das sich erst daran macht, einen Text zu schreiben, aus dem vielleicht ein Werk wird, die Funktion des Autors in Anspruch nimmt. Was es schreibt und was es nicht schreibt, was es entwirft, und sei es nur eine flüchtige Skizze, was es an banalen Äußerungen fallen läßt – dieses ganze differenzierte Spiel ist von der Autor-Funktion vorgeschrieben, die es von seiner Epoche übernimmt oder die es seinerseits modifiziert.“40
Es liegt in der Natur dieser Art von Historik, das Problem der Hervorbringung in den Hintergrund zu rücken, da die Priorität des Diskurses ihr den Status eines sekundären Geschehens verleiht. Ausgeschlossen ist es 37 Michel Foucault, Schriften zur Literatur, München 1974, 10. 38 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M./Berlin/Wien, 1977, 14. 39 Michel Foucault, Schriften zur Literatur, 20. Vgl. Jürgen Fohrmann, Über Autor, Werk und Leser aus poststrukturalistischer Sicht, in: Diskussion Deutsch, H. 116, 1990. 40 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 20
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damit aber nicht. So sehr das diskursbedingte „negative Spiel einer Beschneidung und Verknappung“41 die Offenheit des Denkens zu beeinträchtigen mag, so wenig läßt sich doch die Vermutung von der Hand weisen, es sei ihm nirgends stärker entzogen als dort, wo es sich historisch auf das zu richten beginnt, was den Akt des Schreibens als Form der Produktion und die Ausbildung eines spezifisch schriftstellerischen Wissens um das Wie des Machens betrifft. „Foucault war immerhin so vorsichtig, die Produktivität des Autors nicht gänzlich in Abrede zu stellen. Vielmehr war er der Ansicht, daß man die positive Rolle des Autors nur verstehen kann, wenn man zugleich auch seine einschränkende Funktion beachte.“42 Daß also durchaus ein Weg von Foucaults Diskursanalyse zur Produktionstheorie führen kann, zeigen nicht zuletzt die von ihm inspirierten neueren Ansätze zum Problem der Autorschaft.43 Während Foucault deren Voraussetzungen gleichsam von außen beschreiben will, läßt sich die Frage, wie der Akt des literarischen Schreibens wirklich vonstatten geht, von der Hypothese leiten, dieser könne, zumindest für eine bestimmte Phase der historischen Entwicklung, nur von innen, aus der Perspektive der Autoren selbst beschrieben werden, da nur in der empirischen Sphäre ästhetischer Praxis sich zunächst ein Diskurs über die reale Beschaffenheit literarischer Produktionsprozesse ausbilden kann. Die historische Rekonstruktion dieses Wissens ist freilich an eine unabdingbare Voraussetzung gebunden: Nur wenn der, der Werke geschaffen hat, sich auch über den Prozeß der Herstellung geäußert hat, kann über die Produktion mehr gesagt werden, als das, was als Ergebnis in Gestalt des Werkes in Erscheinung tritt. Aber eben das ist keinesfalls selbstverständlich. Solange Schriftsteller glaubten, es genüge, die in den traditionellen Lehren der Dichtkunst überlieferten Regeln anzuwenden, oder aber im Zeichen der Genieästhe41 A.a.o., 32 42 Uwe Japp, Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses, in: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u. Harro Müller, Frankfurt a.M. 1988, 233. Es ist nicht ohne Reiz zu sehen, daß der späte Foucault für seine eigene Arbeit emphatisch den Aspekt schriftstellerischer Selbsterfahrung, also die Erkundung des Neuen durch Schreiben, betont: „Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiß, was ich von dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt. So daß ein Buch mich verändert, wie das, was ich denke. Jedes Buch verändert das, was ich gedacht habe, als ich das vorhergehende abschloß. Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. [...] Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.“ Michel Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt a.M. 1996, 24. 43 Siehe Felix Philipp Ingold u. Werner Wunderlich (Hg.), Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven, Konstanz 1992; Felix Philipp Ingold u. Werner Wunderlich (Hg.), Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft, St. Gallen 1995. L’auteur. Actes publiés sous la direction de Gabrielle Charmarat et Alaib Goulet, Caen 1996.
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tik der Überzeugung waren, es ließe sich über das Wirken der maßgeblichen metaphysischen Ursprungskräfte schlechterdings nicht reden, bestand kein Anlaß, sich über den Schreibprozeß zu äußern. Daß darüber geschrieben wird, ist bereits ein historisches Anzeichen dafür, daß die überlieferten Schaffensvorstellungen als unzureichend empfunden wurden. Hinter der Kritik an ihnen tritt das Bedürfnis nach einem neuen Produktionswissen hervor, das der Besonderheit literarischer Arbeit als Form der ästhetischen Produktion theoretisch gerecht werden will und bei der Klärung dieser Problematik allein auf die Erfahrungen der eigenen Schreibpraxis zu vertrauen gedenkt. Der Versuch, ein spezifisches Produktionswissen auszubilden, dessen Objektivität der Beurteilung durch andere standhält44, hat dabei Anteil an dem von Heinz Schlaffer45 beschriebenen historischen Prozeß der Transformation der Poesie, deren Werke, ursprünglich als Quelle metaphysischer Wahrheit verstanden, sich in immer stärkerem Maße zu Objekten menschlichen Wissens, später dann zu Gegenständen einer spezifischen Wissenschaft, der Philologie, verwandeln. Die Gründe, weshalb der literarische Produktionsprozeß es ist, der erst sehr spät dem neuzeitlichen Wissensgebot unterstellt wird, daß Dinge nur als erkannt gelten können, wenn man weiß, wie man sie herstellen kann, sind ebenso zu untersuchen wie die besondere Rolle, die den Autoren selbst in diesem Zusammenhang zukommt. Es ist jene, die sich, wie Blumenberg verdeutlicht hat, aus dem logischen Status des Schaffensprozesses ergeben. Natürlich vermag der Leser, insofern er das Werk des Autors als gemachtes begreift, einzelne Elemente seiner Struktur zu objektivieren und daraus Rückschlüsse auf intentionale Handlungen des Autors zu ziehen. Doch bereits die Frage, ob es eine bewußte oder unbewußte Entscheidung war, die zeitliche Abfolge der Produktionsphasen oder das Verhältnis von ursprünglicher Konzeption und Werkgestalt bleibt ihm, sofern er sich auf das Werk beschränken muß, ebenso verschlossen, wie die weiterreichende Frage, zwischen welchen Möglichkeiten der Autor gewählt, was er verworfen hat, was sich dem Zufall verdankt. Selbst die weitreichendste Dokumentation durch Manuskripte, die die einzelnen Phasen der Werkentstehung sichtbar machen, erlaubt letztlich nur eine Untersuchung von Verände44 Jean Starobinski hat diese Entwicklung modellhaft skizziert; der Autor, der zunächst als Dichter–Prophet „im Dienst einer antezendenzen, ihm überlegenen, von ihm unabhängigen Autorität“ in Gestalt der Götter oder Musen stand, unterwirft sich in seiner Arbeit zunehmend der Autorität der öffentlichen Kritik, die seine Leistungen nach bestimmten Kriterien beurteilt. Siehe Jean Starobinski, Der Autor und die Autorität (Aus einem Notizbuch über die Beständigkeit und Metamorphosen der Autorität), in: Der Autor im Dialog, 11– 14. 45 Siehe Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a.M.. 1990.
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rungen und ihres zeitlichen Ablaufs, sie sagt aber nichts darüber aus, was im Autor bei der Abfassung eines Werkes wirklich vor sich gegangen ist. „Der Leser kann die Erfahrungen des Autors nicht teilen, die Selbstbeobachtung des Autors gewinnt vielleicht aus dem mißglückten Versuch, mit den Bedingungen des Werkes fertigzuwerden, mehr als aus ihrer geglückten Bewältigung – der Leser gewinnt aus solchen Schiffbrüchen des Dichters unmittelbar nichts.“46 Für den Autor hingegen ist es logisch ausgeschlossen im Augenblick des Schreibens zugleich die Perspektive des Lesers einzunehmen, der sich der Wirkung eines Werkes auf sich selbst zu versichern sucht. Es ist, so Valéry, „unmöglich, in ein und demselben Zustand oder in ein und demselben Aufmerken die Bedeutung des Geistes, der das Werk erzeugt, und die Beobachtung des Geistes, der irgendeinen Wert dieses Werkes erzeugt, zu vereinigen. Kein Blick vermag diese beiden Funktionen gleichzeitig zu beobachten: Produzent und Konsument sind zwei wesensmäßig verschiedene Systeme“ (W 5, 125). Selbst seinem abgeschlossenen Werk gegenüber gelingt es dem Autor nicht, die Haltung eines unbefangenen Lesers einzunehmen. Sartre hat diese Unfähigkeit des Schriftstellers zur Lektüre der eigenen Texte anschaulich beschrieben: „Das Erschaffene wird angesichts der schöpferischen Aktion unwesentlich. Selbst wenn das erschaffene Objekt den anderen zunächst unwesentlich vorkommt – uns erscheint es immer noch im Stadium des Aufschubs: diese Linie, diese Farbschattierung, dieses Wort können wir immer noch ändern. [...] die Resultate, die wir auf dem Papier oder auf der Leinwand erhalten haben, kommen uns nie objektiv vor: zu genau kennen wir das Verfahren, dessen Wirkungen sie sind. Dieses Verfahren bleibt ein subjektiver Fund: wir selber sind, unsere Inspiration ist unsere List, und wenn wir unser Werk wahrzunehmen versuchen, schaffen wir immer noch daran. Wir wiederholen in Gedanken die Vorgänge, die es hervorgebracht haben.“
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Dem Leser tritt das Werk als Objekt gegenüber, in dem ein Prozeß zum Abschluß gekommen zu sein scheint, auch wenn er sich letztlich immer die Einsicht vergegenwärtigen muß, daß „der Schnitt, der die Entstehung eines Textes beendet, nie durch das Ende der Möglichkeit bestimmt (ist.) Die Endstufe eines Textes ist erreicht, wenn der Vorgang seiner Entste-
46 Hans Blumenberg, Sokrates und das ‚objet ambigue’, 319. 47 Jean–Paul Sartre, Was ist Literatur ? Hamburg 1958, 25. Zum ‚Hiatus zwischen Schreiben und Lesen’ vgl. Hans Robert Jauß, ’Wenn ein Reisender in der Winternacht’. Plädoyer für eine postmoderne Ästhetik, in: Hans Robert Jauß, Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990, 270–275.
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hung abbricht.“48 Der moderne Autor arbeitet im Bewußtsein der prinzipiellen Unabschließbarkeit seines Werkes, das seine Form vor dem Horizont unendlicher Möglichkeiten des Änderns finden muß: „Im Sinne der Vorstellung eines gänzlichen Fertigseins ist das Werk nie vollkommen. Die Geste des Machens ist eine unendliche Geste.“49
Technische Poetik im 19. Jahrhundert Anders als bei der Rezeptionsästhetik, die in der Gestalt des Lesers eine Figur entdeckt, die erst im 20. Jahrhundert theoriefähig erscheint, liegt bei Fragen der Produktionsästhetik die Vermutung nahe, auf entsprechende Vorarbeiten aus dem 19. Jahrhundert zurückgreifen zu können. Sowohl der historische Sinn als auch das dem wissenschaftlichen Geist der Epoche entsprechende Bedürfnis der Erforschung von Herstellungsprozessen sprechen dafür, daß auch im Fall der Literatur der Produzent und die Besonderheit seines Schaffens Berücksichtigung gefunden haben. In der Tat steht im Zentrum der empirischen Kunstlehre und Poetik, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an die Stelle der idealistischen Ästhetik tritt, der Begriff der Technik. Während die philosophische Theorie der Kunst den Begriff des Kunstwerks ebenso wie den des Schönen im Hinblick auf das Erscheinen der Idee beschworen hatte, rücken nun die Genese des Werkes und die bei seiner Herstellung wirkenden kausalen Faktoren in den Mittelpunkt eines theoretischen Interesses, das mit den Studien von Gottfried Semper zunächst im Bereich der Baukunst zum Ausdruck gelangt. Das Kunstwerk erscheint wie andere menschlich hervorgebrachte Werke als Produkt eines technischen Prozesses und kann Sempers Theorie zufolge in dem Maße genetisch erklärt werden, wie die an seiner Herstellung beteiligten Materialien und Mittel genau beschrieben und im Werk selbst die Verwirklichung eines symbolischen Zweckes bestimmt werden kann.50 „Dieser ,induktiven’ antispekulativen Ästhetik werden die Methoden verschiedenener Wissenschaften zum Vorbild; es sind vor allem Psychologie, Physiologie, Biologie.“51 Ästhetische Prinzipien sollen nicht mehr deduktiv abgeleitet werden, sondern sind für jede einzelne Kunst „aus der Erfahrung zu gewinnen, und zwar aus der kunst48 Hans–Jost Frey, Der unendliche Text, 76. 49 Villem Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf/Bensheim 1991, 82. 50 Zur Bedeutung Sempers für die von der Ästhetik sich lösenden empirischen Kunstlehre vgl. Alois Halder, Kunst und Kult. Zur Ästhetik und Philosophie der Kunst in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Freiburg/München 1964, 14f. 51 Stephan Nachtsheim, Kunstphilosophie und empirische Kunstforschung 1870– 1920, Berlin 1984, 34.
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geschichtlichen Erfahrung. Denn die Geschichte der Kunst selbst ist nichts anderes als ein großes Reservoir von durch Erfahrung gewonnenen ästhetischen Gesetzen.“52 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung eröffnen sich auch Perspektiven einer neuen Poetik. In seinem programmatischen Aufsatz „Gegen die spekulative Ästhetik“ hatte Hermann Hettner bereits 1845 betont, „wie der innere Sinn eines Kunstwerks doch immer zugleich ein Mangel der Technik sei, oder, um dies allgemeiner auszudrücken, wie der Charakter aller Kunstgestaltungen mit Konsequenz aus der Technik hervorgeht“.53 Ganz im Zeichen der gemeinsamen Bemühungen um ein im Hinblick auf den Kunstcharakter der Literatur als notwendig erachtetes neues Wissen steht der Briefwechsel zwischen Hermann Hettner und Gottfried Keller aus den Jahren zwischen 1850 und 1875. Er kann zugleich modellhaft die Kooperation zwischen einem Vertreter der sich etablierenden Literaturwissenschaft und einem realistischen Autor von Rang illustrieren. Beide gehen gleichermaßen davon aus, wie Hettner 1850 schreibt, daß es an der Zeit sei, „in Weise der Aristotelischen ,Poetik’ klar und scharf die Hauptgesetze des Dramas, besonders der Tragödie herauszuheben, nicht aber wie die gewöhnlichen Ästhetiker, von oben herab, in metaphysischen Deduktionen, sondern praktisch als Maximen der Technik, der Komposition und Gestaltung.“54 In seinem Antwortbrief bestätigt Keller angesichts seiner Erfahrungen als Schriftsteller den großen Nutzen von Bemühungen dieser Art: „Ich, der ich mich einstweilen noch, bis auf weitere vielleicht eintreffende Enttäuschung, für einen Produzenten und Experimentator halten möchte, muß Ihnen offen gestehen, daß ich bislang noch keine dramaturgische Arbeit [...] gelesen habe, ohne etwas daraus gelernt zu haben.“55 Das für die Epoche typische Bedürfnis, die Mittel der Kunst und die Kraft ihrer Wirkung zu begreifen, um in Kenntnis der eigenen Möglichkeiten selbstbewußt mit der Rolle als Künstler umgehen zu können, läßt Keller auch den jugendlichen Protagonisten der Urfassung seines Romans „Der grüne Heinrich“ empfinden, als er sich darüber klar zu werden versucht, warum ihn Theateraufführungen immer aufs Neue in ihren Bann zu ziehen vermögen: „Ich sehnte mich auch sonst, mit einem Schlage hinter die Kulissen zu kommen und dies berückende Spiel und seine Spieler, wie ihre Mittel in der Nähe zu besehen, denn es bedünkte mich, daß es dort besser zu leben
52 A.a.o., 35. 53 Hermann Hettner, Gegen die spekulative Ästhetik, in: Hermann Hettner, Schriften zur Literatur, Berlin 1959, 38. 54 Der Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Hermann Hettner. Hg. v. Jürgen Jahn, Berlin/Weimar 1964, 15. 55 A.a.o., 45.
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sein müsse als irgendwo auf der Welt, leidenschaftslos und überlegen.“56 Ganz im Zeichen des von Hettner präzise bezeichneten Interesses, auf empirische Weise des Aristoteles in praktischer Absicht die Mittel und Formgesetze der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden neuen literarischen Genres zu objektivieren, erscheint seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Werken, die diesen Anspruch im Hinblick auf einzelne Gattungen einzulösen beanspruchen. Neben Gustav Freitags „Die Technik des Dramas“ (1863) kommt in diesem Zusammenhang Otto Ludwigs Schrift „Wesen und Technik des Romans bei den Engländern“, vor allem aber seinen zwischen 1840 und 1860 verfaßten, aber erst posthum veröffentlichten „Shakespeare-Studien“ eine besondere Bedeutung zu, bei deren Niederschrift ihm, bei aller Verehrung für Hegel, wie ihr späterer Herausgeber berichtet hat, „auf dem Wege der Beobachtung des Lebens, der Kunst und der eignen Natur [...] der Unterschied zwischen der philosophischen und künstlerisch-technischen dramaturgischen Kritik immer klarer“57wurde. Auch eine erste systematische Übersicht, die sich bemüht, den zeitgenössischen Autoren ein den Erfordernissen der Zeit entsprechendes allgemeines Produktionswissen an die Hand zu geben, läßt nicht lange auf sich warten. So heißt es in einer zuerst 1858 und bereits 1882 in der fünften Auflage erschienenen zweibändigen Darstellung mit dem programmatischen Titel „Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik. Vom Standpunkte der Neuzeit“ von Rudolf von Gottschall: „Wenn überhaupt in Deutschland seit langer Zeit keine spezielle technische ,Poetik’ erschienen ist, so fehlt es noch mehr an einem wissenschaftlichen Werke, welches den neuen dichterischen Bestrebungen als Fahne dienen, die Gleichstrebenden um sich versammeln könnte, und nach den ewigen Regeln des Schönen, die Berechtigung derjenigen neueren Erscheinungen nachzuweisen versuchte, die von einer vorurteilsvollen Ästhetik verdammt werden, weil sie den gewohnten Kreis der Dichtung mit freieren Bahnen vertauschten.“
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Als Anleitungen zur Technik der Dichtkunst gelten Ausführungen zu sprachlichen Bildern und Figuren, Versmaß und Strophenformen sowie Erörtungen zu Wesen und Erscheinungeformen von epischer, lyrischer und dramatischer Dichtung. Technik wird als an den historisch vorlie56 Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hg. von Clemens Heselhaus, München/Wien 1958, Bd. I, 125. 57 Otto Ludwig, Shakespeare–Studien. Mit einem Vorbericht und sachlichen Erläuterungen von Moritz Heydrich. (2. Aufl.), Halle 1901 Moritz Heydrich, Vorbericht zu Otto Ludwigs Shakespeare–Studien, LXXV. 58 Rudolf von Gottschall. Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik, Bd. 1, Breslau 1882, S. IV.
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genden Werken der Literatur auf deskriptivem Wege gewonnenes und jeweils gattungsspezifisch differenziertes Wissen von Formelementen verstanden, das in Gestalt der Poetik systematisch zusammengetragen und im Hinblick auf praktischen Gebrauch vorgestellt wird, wie Gustav Freytag im Vorwort seiner Studien zum Drama ausdrücklich hervorhebt: „Der Dichter der Gegenwart ist geneigt, mit Verwunderung auf eine Arbeitsweise hinabzusehen, welche den Bau der Szenen, die Behandlung der Charaktere, die Reihenfolge der Wirkungen nach einem überlieferten Lehrgebäude fester technischer Regeln einrichtete. Leicht dünkt uns solche Beschränkung der Tod eines freien künstlerischen Schaffens. Nie war ein Irrtum größer. Gerade ein ausgebildetes System von Einzelvorschriften, eine sichere, in volkstümlicher Gewohnheit wurzelnde Beschränkung bei der Wahl der Stoffe und Bau der Stücke sind zu verschiedenen Zeiten die beste Hilfe der schöpferischen Kraft gewesen.“59
An die Stelle der Regeln der traditionellen Poetik, deren normativer Charakter die Verwendung zwingend vorschrieb, sind Verfahrensweisen getreten, die zu benutzen im Hinblick auf die Gestaltung einer bestimmten Form aus empirischen Gründen naheliegt. Die normative Poetik hat sich in eine deskriptive verwandelt, der Gestus der regulativen Anweisung wird durch den einer Anleitung ersetzt, die gute Gründe für den jeweiligen Gebrauch eines Formelements geltend macht. Die von Freytag verkörperte Haltung wirkt auf das Verständnis der früheren Wissensformationen der Poetik zurück. Aus historischer Sicht besitzen die in der aristotelischen Tradition ausgebildeten normativ verstandenen Regeln nun ebenfalls nur noch den Status von Verfahrensweisen. Der neue Begriff der Poetik verbindet sich mit der Vorstellung von empirisch zu ermittelnden Gesetzen der Gestaltung und versteht sich auf diese Weise als Lösung der Krise der Poetik des 18. Jahrhunderts, indem sie sich auf das besinnt, was sie für den Kern der aristotelischen Poetik ansieht: die methodische Untersuchung literarischer Formelemente. Darauf vertrauend, daß mit ihrer Hilfe aus der historisch vorliegenden Fülle der Werke die jeweiligen Formungsgesetze der einzelnen Gattungen erschlossen werden können, kennzeichnet die empirische Poetik des 19. Jahrhunderts das Selbstverständnis, der von Aristoteles ermittelten Technik der griechischen Tragödie die des Shakespeareschen Dramas zur Seite stellen zu können. In der Beschränkung auf die Beschreibung von äußeren Merkmalen, deren Kenntnis es erlauben soll, das Werk einem bestimmten Gattungsrahmen zuzuweisen, liegt freilich auch die Grenze dieser Bemühungen. Doch auch weiterführende Perspektiven deuten sich 59 Gustav Freytag, Dramatische Werke. Technik des Dramas, Leipzig o.J., 510.
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an, wenn etwa Friedrich Spielhagen in seinen „Beiträge(n) zur Theorie und Technik des Romans“ der Frage nachgeht, ob der Dichter als ein auserwählter, gottbegnadeter „Erfinder“ von Neuem verstanden werden müsse oder aber lediglich als „Finder“ von etwas, das jeder vor Augen hat und entsprechend von jedem gefunden werden kann. Spielhagen macht auf eine andere methodische Möglichkeit aufmerksam, zu einem erweiterten Wissen über Besonderheit des literarischen Produktionsprozesses zu gelangen. Er setzt auf die Auswertung von empirischen Zeugnissen und Dokumenten, in denen Autoren über die konkreten Erfahrungen bei der Arbeit an Werken berichtet haben, muß aber mit Bedauern feststellen, daß Aufzeichnungen dieser Art rar sind oder jedenfalls nicht dem entsprechen, was er sich vorstellt: „Aber mir ist außer vereinzelten, zum Teil allerdings unendlich wichtigen Äußerungen, – besonders in dem Goethe-Schillerschen Briefwechsel – und was sonst gelegentlich von Dichtern und Künstlern über ihr Schaffen vorgebracht ist, nichts, was einigermaßen auf Vollständigkeit abzielte, bekannt“.60 Die folgenden Großprojekte der positivistischen Poetik versuchen im Geist des Historismus eine Bestandsaufnahme des zu allen Zeiten über Dichtung je Gesagten und möchten, wie Borinski im Vorwort seiner 1886 veröffentlichten Arbeit „Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland“ hervorhebt, theoretische Aspekte zwar nicht ausblenden, vor allem aber der Arbeit der Autoren als pragmatisch konzipierte Werke technischer Überlieferung zugute kommen: „Poetik als Wissenschaft von der Dichtkunst umfaßt nicht nur die Summe ihrer technischen Regeln, sondern auch die philosophische Erkenntnis ihres Wesens und ihrer Beziehungen zur Welt. Sie unterscheidet sich von der direkt aus ihr hervorgegangenen modernen Wissenschaft durch ihr vorzugsweise praktisches Interesse. Sie steht in viel näherem Bezug zur Produktion.“61 Ende der achtziger Jahre erscheinen zwei Schriften, mit denen im Verständnis der Zeitgenossen die Epoche der wissenschaftlichen Poetik beginnt. Sie verfolgen nicht mehr unmittelbar praktische Ziele, sondern bemühen sich um eine umfassende und möglichst vollständige Erklärung aller mit der Dichtung zusammenhängenden Aspekte. Die 1888 posthum veröffentlichte „Poetik“ von Wilhelm Scherer, der 1885 an der Berliner Unversität gehaltene Vorlesungen zugrunde liegen, entwirft die Perspek60 Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, Leipzig 1883, 8. 61 Karl Borinski , Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deuschland, Berlin 1886 (Nachdruck Hildesheim 1967), 1. Allgemein über die Geschichte der Poetik als Lehre von der Dichtkunst informieren: Fritz Martini, Poetik, In: Deutsche Philologie im Aufriß, 2. überarbeitete Auflage, Bd. 1 und die neuere Darstellung von Hermann Wiegmann, Geschichte der Poetik. Ein Abriß, Stuttgart 1967.
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tive einer sich am beschreibenden Verfahren der Naturwisssenschaften älteren Stils orientierenden Lehre von der Dichtung, die alle mit diesem Gegenstand verbundenen Phänomene inventarisieren und begrifflich klassifizieren möchte. Von besonderer Bedeutung in Scherers Poetik ist der unter dem Titel „Die Dichter“ unternommene Versuch einer Analyse des dichterischen Prozesses, die nicht mehr danach fragt, welche von Einzelwerken abstrahierte Technik in dessen Vollzug zur Anwendung gelangt, sondern sich auf die inneren Vorgänge des Subjekts sich beschränkend die „schaffenden Seelenkräfte“62 erforschen will. Scherer berücksichtigt zwar äußere Faktoren der Produktion: die Natur als Inbegriff der Erscheinungen, die dem Dichter als Stoff entgegentreten, ein spezifisches dichterisches Kapital in Gestalt seiner Kenntnis der überlieferten Formen, die Arbeit als Art, wie er sich die Tradition aneignet und auf welche Weise er sie fortsetzt. Daneben finden sich Erörterungen, die die Möglichkeit der Beteiligung mehrerer Dichter an einem Werk betreffen oder nach der Wirkung fragen, die Kontinuität und Unterbrechung des Arbeitsprozesses auf die Gestaltung eines Werkes auszuüben vermögen. Im Mittelpunkt seiner Poetik steht jedoch die Frage, welche Bedeutung den schaffenden Seelenkräften bei der Entstehung eines Werkes zukommt. „Der ganze Prozeß, der zur Schaffung poetischer Kunstwerke führt, von dem ersten Aufleuchten des poetischen Motivs bis zur letzten vollständigen Behandlung in Sprache und Rhythmus kann als ein Prozeß der Phantasie bezeichnet werden. Aber darauf kommts uns hier nicht an, sondern wir wollen jetzt vor allem die elementare Fähigkeit unserer Seele erkennen, welche dabei in Tätigkeit ist – diejenige Fähigkeit, welche wir als Kraft der Phantasie zu bezeichnen pflegen.“63
Scherer beschreibt die dichterische Phantasie als ein komplexes produktives Vermögen, die aus der Außenwelt aufgenommenen Vorstellungen nicht nur zu reproduzieren, sondern durch Kombination mit anderen Elementen des inneren Geschehens, wie Traumelementen, Erinnerungsspuren oder Ideen so zu variieren, daß eine unendliche Zahl neuer Vorstellungen entsteht. Aus deren Fülle wählt der Dichter mit Hilfe des Verstandes jene aus, die er künstlerisch gestalten will. Es war Scherer durchaus bewußt, daß seine Thesen auf der Sichtung einer sehr geringen, 62 Wilhelm Scherer, Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien zur Rezeptionsanalyse, hg.v. Gunter Reiss, Tübingen 1977, 108. Zu Scherers Ort in der Literaturwissenschaft vgl. die Einleitung des Bandes von Gunter Reiss: Germanistik im Kaiserreich. Wilhelm Scherers ,Poetik’ als wissenschaftsgeschichtliches Dokument. 63 A.a.o., 109.
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auf Zeugnisse von Gustav Freiytag und Otto Ludwig beschränkten Materialbasis beruhten und einer weiteren empirischen Absicherung bedurften: „Hätten wir doch mehr solche Selbstbekenntnisse von Dichtern. Das, was etwa vorhanden, wäre sorgfältig zu sammeln.“64 Was bei Scherer lediglich skizzenhaft entworfen und als Forschungsperspektive angedeutet wird, erscheint in Wilhelm Diltheys 1887 veröffentlicher großer Studie „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik“ bereits weitgehend ausgeführt. Dilthey hebt ausdrücklich hervor, daß seine ästhetischen Bemühungen sich als bewußte Abkehr von der traditionellen Poetik verstehen: „Die von Aristoteles geschaffene Poetik ist tot.“ (GW V, 103); eine auf bloße Bestimmung von Formelementen der Dichtung bedachte deskriptive Lehre hat für ihn keine Zukunft.65 Im Rahmen seiner theoretischen Anstrengung für die Philosophie eine systematische Theorie der Erfahrung zu begründen, die anders als die Naturwissenschaften der Komplexität des menschlichen Bewußtseins gerecht werden soll, ist für ihn der Vorgang der dichterischen Produktion von besonderem Interesse, und zwar deshalb, weil er Diltheys zentrale Frage berührt, in welcher Relation die Zuständlichkeit des menschlichen Erlebens und die aus ihr hervorgehenden produktiven Handlungen gesehen werden müssen. Eine differenzierte Analyse des Bewußtseins soll auch der Sache der Poetik ein neues Terrain erschließen und sie von den Beschränkungen eines Positivismus befreien, der lediglich die Objektivierung von literarischen Techniken kennt. Stattdessen versucht Dilthey Poetik als Psychologie des dichterischen Schaffens zu konzipieren; als solche soll sie sowohl die empirischen Verengungen als auch die metaphysischen Voraussetzungen der bisherigen Lehre von der Dichtkunst hinter sich lassen und diese gleichsam neu begründen: „Die Poetik hatte zuerst einen festen Punkt in dem Mustergültigen, aus dem sie abstrahierte, dann in irgendeinem metaphysischen Begriff des Schönen: nun muß sie diese im Seelenleben suchen.“ (GW V, 126) Der dichterische Schaffensprozeß soll mit Hilfe einer beschreibend verfahrenden Psychologie untersucht werden, der es im Hinblick auf die Werke aufgegeben ist, „eine Kausalerklärung aus den erzeugenden Vorgängen durchzuführen“ (GW V, 125). Die Schwierigkeit seines poetologischen Ansatzes ist nicht von dem Problem zu trennen, das sein Projekt einer Strukturpsychologie insgesamt charakterisiert. Es bezieht sich, wie Dilthey selbst nicht ver-
64 A.a.o., 114 65 Zur Poetik Diltheys siehe Fridjof Rodi, Morphologie und Hermeneutik. Zur Methode von Diltheys Ästhetik, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1969 und Dagmar Weber, Zum Problem des ästhetischen Erkennens bei Wilhelm Dilthey. Ein Beitrag zur Theorie der Poetik als einer sich entwickelnden Wirkungseinheit, Phil. Diss., Köln 1983.
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borgen geblieben ist, auf die Möglichkeit, innere Zustände direkt zu beobachten: „Die Aufgabe der Poetik, welche sich aus ihrer lebendigen Beziehung zur Kunstübung selber ergibt, ist: kann sie allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche als Regeln des Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und wie verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu diesen allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir die doch überall auf den Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit, allgemeingültige Sätze abzuleiten aus der inneren Erfahrung, die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, so zusammengesetzt und doch unzerlegbar sind?“ (GW V, 107)
So bleibt die Kategorie des Erlebens für Diltheys Philosophie zwar unbestimmt, bezeichnet aber einen grundlegenden Vorgang menschlicher Welterschließung, indem die innere Erfahrung neue Aspekte der Wirklichkeit hervortreten läßt. Poetologisch erscheint diese Focussierung für Dilthey als spezifische Konstellation von Erlebnis und Dichtung beschreibbar. Im Verlauf eines inneren Geschehens wird ein Einzelnes aus dem Zusammenhang der Wirklichkeit herausgehoben und mit einer besonderen Bedeutsamkeit versehen. Dieser Vorgang läßt sich als „Kernpunkt der ganzen Diltheyschen Poetik“66 bezeichnen. Das Erlebnis, das nur sehr schwer beschrieben werden kann, erfährt der Dichter als inneren Zustand, der sich mit dem starken Bedürfnis nach Mitteilung und dem Wunsch, andere an dem von ihm Erlebten teilhaben zu lassen, verbindet. „Poesie entsteht aus dem Drang, Erlebnis auszusprechen.“ (GW V, 194) Die Absicht, dem Leser das eigene Erlebnis zu vermitteln, verweist ihn darauf, im Verlauf des Schaffensprozesses das Werk so zu organisieren, daß es die beabsichtigten Wirkungen auch zuverlässig erzielt. Damit ist auch für Dilthey der Dichter auf die Technik zurückverwiesen, bei der es zwei Elemente zu berücksichtigen gilt: „Hieraus folgt die Zweiseitigkeit der poetischen Technik. In ihr wirkt unwillkürliches unablässiges Bilden und zugleich die Berechnung des Eindrucks und der Mittel, ihn herbeizuführen. Beides ist im Dichter vereinbar; denn die verstandesmäßige Technik, welche den poetischen Eindruck hervorrufen will, muß dieselbe Metamorphose der Bilder anstreben, welche aus dem unwillkürlichen und nicht vollbewußten Bilden von selber hervorgeht; sie kann dabei die Wirkungen klarer berechnen und schärfer zuspitzen. [...] Die technische Theorie muß danach von beiden Seelenvorgängen und deren innerem Verhältnis im Dichter ausgehen. Wenn die Poetik vom Eindruck ausgeht, macht sie die Dichtung mehr oder weniger zum Werk des Verstandes, welcher Wir66 Fridjof Rodi, Morphologie und Hermeneutik, 82.
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Im Zusammenhang seiner psychologisch-genetischen Erklärung des Schaffensprozesses bezeichnet Technik67 für Dilthey die Wechselwirkung von bewußtem Wissen, das sich auf die durch den Einsatz bestimmter Formelemente zu erzielenden Wirkungen bezieht, und unbewußten Kräften, die den Erhalt der Erlebnisstruktur als ins Werk zu transformierende Dimension garantieren. Mit dem Anspruch eine technische Theorie der Dichtung müsse von „beiden Seelenkräften“ und deren „innerem Verhältnis im Dichter“ ausgehen, eröffnet Diltheys Poetik eine Perspektive, die über die positivistische Verengung des Technik-Begriffs auf bloße Verfahrensweisen hinausführt. Dilthey ist überzeugt, mit den Mitteln einer erklärenden Psychologie gezeigt zu haben, daß „in der Natur des Menschen ein Vorgang des Bildens“ (GW V, 198) angelegt sei. Der durch das Erlebte hervorgerufene „Bildzusammenhang [gewähre] dem Schaffenden selber Befriedigung“, sei aber als innerer Zustand zugleich so beschaffen, daß er auf künstlerischen Ausdruck dränge und „dauernde Befriedigung im Hörer oder Leser zum Ziel des Dichters und zum Maßstab seiner Leistung wird“ (GW V, 198). Angesichts dieses feststellbaren Bedürfnisses nach Objektivierung des eigenen Erlebens im Werk und dem Willen des Künstlers zur Wirkung, ändert Dilthey in dem Kapitel „Die Technik des Dichters“ die Methode, indem er die psychologische Frage nach der Dialektik der im Inneren des Dichters wirksamen Kräfte historisch wendet: „Die literaturhistorische Empirie hat jetzt die Führung.“ (GW V, 197) Von der beabsichtigten Wirkung auf den Leser ausgehend, will Dilthey die Arbeit des Dichters näher bestimmen, die „wie jede andere zielbewußte Tätigkeit ihre Technik“ (GW V, 198) erzeugt: „Unter poetischer Technik verstehen wir das seines Ziels wie seiner Mittel bewußte und deren sichere Schaffen des Dichters.“ (GW V, 198) Dilthey trifft diese Aussage im Vertrauen darauf, daß sich durch umfassende literaturwissenschaftliche Forschungen die „Zusammensetzung der poetischen Gebilde und Formen“ (GW V, 211) kausalgenetisch aus den Wirkungen erklären 67 Zu Diltheys Begriff der Technik vgl. Karol Sauerland, Diltheys Erlebnisbegriff. Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturwissenschaftlichen Begriffs, Berlin/New York 1972, 103–117.
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läßt, die damit erzielt werden. Dilthey meint das Programm einer Poetik, die, von der historischen Relativität aller literarischen Formen ausgehend, „geschichtliche Typen der Technik“ (GW V, 233) zu systematisieren versucht, die einer jeden Gegenwart als Grundlage neuer Formenbildungen zur Verfügung stehen können. Wenn alle literaturgeschichtlich erfaßbaren Formen analysiert worden sind, lassen sich, so Diltheys Hoffnung, „allgemeingültige Prinzipien der poetischen Wirkung in unbestimmter Zahl (ableiten) und als Regeln oder Normen darstellen.“ (GW V, 201) Insofern aus der Mannigfaltigkeit der literarischen Formen jeweils spezifische Wirkungselemente isoliert werden können, wird der Autor in die Lage versetzt, durch Verwendung dieses Mittels die beabsichtigte Wirkung zuverlässig zu erzielen. Angesichts der Erkenntnis dieser Gesetze wäre Technik dann wirklich identisch mit dem seines Ziels sicheren Schaffens des Dichters. „Es gibt Kunstgesetze der Poesie, aber keine allgemeingültige poetische Technik. Versuche wie die Freytags, eine Technik des Dramas zu entwerfen, können nicht gelingen. Form und Technik sind vom Gehalt auch geschichtlich bedingt. Und die Kunstgeschichte hat eben die einander folgenden Typen dieser Technik zu entwickeln.“ (GW, 284) Zeigt der Blick auf die Literaturgeschichte, daß die Techniken als Verfahrensweisen zutiefst historisch bedingt sind, so verlieren sie damit für Dilthey den letzten Rest an normativer Verbindlichkeit. Daß im Verlauf der kulturellen Entwicklung aber die unterschiedlichsten Techniken auf Leser zu wirken vermochten, sieht Dilthey darin begründet, daß die höchst unterschiedlichen Formen alle gleichermaßen auf eine anthropologisch konstante Sphäre der Subjektivität treffen. Dilthey versucht dergestalt die befreiende Kraft des historischen Bewußtseins mit dem Glauben an eine im Kern unveränderliche Menschennatur zu verbinden. Konsequenz dieser Einsicht ist für Dilthey die poetologisch weitreichende Überlegung, daß demnach die Formen der Poesie und ihre technischen Möglichkeiten im Zeichen einer potentiell offenen Zukunft noch gar nicht ausgeschöpft worden sind. „Die moderne Poetik leistet der Poesie der Gegenwart einen weiteren Dienst, indem sie die geschichtliche Natur der Technik erkennt und so den heutigen Poeten mit den aus der Natur des Menschen fließenden Regeln und den in geschichtlicher Arbeit erworbenen Kunstgriffen bekannt macht, dagegen ihn von den Fesseln ererbter Formen und Regeln befreit.“ (GW V, 238)68 Der ganz dem wissenschaftlichen Geist des 19. Jahrhunderts verpflichtete Ansatz der Studie Diltheys und das ihre Argumentation bestimmende, wenngleich in späteren Arbeiten zurückgenommene Vertrauen in die Erkenntnisleistungen der Psychologie diskreditieren nicht den 68 Zu Diltheys gemäßigtem Historismus siehe Gerhard Bauer, Geschichtlichkeit. Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1963, 60–72.
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Wert seiner methodischen Perspektiven im Hinblick auf eine Theorie des dichterischen Schaffens: „Der lebendige Vorgang, in welchem die Dichtung entspringt, kann von dem Keim einer solchen bis zu ihrer vollendeten Gestalt an dem heute lebenden Dichter beobachtet werden. [...] Hinzu kommen die Selbstzeugnisse der Dichter über den Vorgang des Schaffens in ihnen. (GW V, 125; vgl. V, 178-184) Auch wenn Dilthey in seiner eigenen Arbeit diesen theoretischen Vorgaben nicht mehr gefolgt ist, bleibt es eines seiner großen Verdienste, sich für die organisatorische Vorbereitung ihrer Durchführung engagiert zu haben. In dem 1889 gehaltenen programmatischen Vortrag „Archive der Literatur“ hat er die Forderung nach einer systematischen Erfassung und Archivierung handschriftlicher Nachlässe von Dichtern und Philosophen erhoben, um damit die Voraussetzung für die systematische Erforschung der Entstehungsgeschichte von Werken und den Fragen der dichterischen Produktion zu schaffen: „Genuß und Verständnis unserer Literatur empfängt aus diesen Handschriften eine unberechenbar wertvolle Bereicherung, und die wissenschaftliche Erkenntnis ist an ihre möglichst ausgiebige Benutzung schlechthin gebunden.“ (GW XV, 4) Angesichts der methodischen Schwierigkeit, innere Vorgänge direkt beobachten und psychologisch beschreiben zu können, und vor dem Hintergrund eines völlig unzureichenden empirischen Materials dichterischer Selbstzeugnisse, deren Archivierung und Sichtung Dilthey der Literaturwissenschaft zur Aufgabe gemacht hat, nimmt Diltheys Interesse an psychologisch-genetischen Fragestellungen ab, und der Blick auf die Beziehung zwischen Dichter und Werk verliert ebenso an Bedeutung wie die Dynamik des Entstehungsprozesses. In den Mittelpunkt seiner Philosophie rückt nun der Strukturzusammenhang geistiger Gebilde und mit ihnen das methodische Problem, wie von dem Zustand, in den ein Werk den Rezipienten versetzt hat, auf das dem Werk zugrundeliegende Erlebnis des Künstlers und den Zustand seiner schöpferischen Aktivität geschlossen werden kann. Waren in seiner Poetik die dem Werk vorausliegenden Prozesse der Produktion für Dilthey von Interesse, so ist es nun im Rahmen seines Versuchs einer lebensphilosophischen Begründung der Hermeneutik69 und der von ihr aufgeworfenen Frage, nach welchen Regeln der Prozeß des Verstehens organisiert werden kann, das Werk selbst als von allen Prozessen, aus denen es hervorgegangen ist, abgelöstes Gebilde. 69 Zur produktiven Rezeption Diltheys im Rahmen einer Theorie des Bewußtseins, die insbesondere in seinen dichtungstheoretischen Analysen kategoriale Ansätze zu einer Theorie des Bildbewußtseins findet, siehe: Ferdinand Fellmann, Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey, Reinbek b. Hamburg 1991; zur Poetik siehe vor allem ‚Eine mediale Theorie des Bewußtseins’ (67–73).
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ERFAHRUNG DES MACHENS „Vor mir liegt das Werk eines Dichters. Es besteht aus Buchstaben, ist von Setzern zusammengestellt und durch Maschinen gedruckt. Aber die Literaturgeschichte und die Poetik haben nur zu tun mit dem Bezug dieses sinnfälligen Zusammenhangs von Worten auf das, was durch sie ausgedrückt ist. Und nun ist entscheidend: dieses sind nicht die inneren Vorgänge in dem Dichter, sondern ein in diesem geschaffener aber von ihnen ablösbarer Zusammenhang.“ (GW VII, 85)70
Es ist allerdings nicht zu übersehen, daß Dilthey noch in seinen späten Entwürfen zur Kritik der historischen Vernunft die frühe produktionsästhetische Perspektive nicht ganz aus den Augen verliert, indem er die gegen Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschende Lehre von der Dichtkunst in Analogie zur Frühgeschichte der philologischen Auslegungskunst gesehen wissen will: „Wenn nun die Hermeneutik sie auf Regeln gebracht hat, so geschah dies im Sinne einer geschichtlichen Stufe, welche Regelgebung auf allen Gebieten durchzuführen strebte, und dieser hermeneutischen Regelgebung entsprachen Theorien künstlerischen Schaffens, welche dieses als ein Machen, das als Regel geschehen kann, auffaßten. (GW VII, 217) Mit dem Aufstieg des historischen Bewußtseins in Deutschland sei die hermeneutische Regelgebung durch eine „Ideallehre“ ersetzt worden, „die das neue tiefere Verstehen auf eine Anschauung vom geistigen Schaffen gründet“ (GW VII, 217), das durch Fichtes und Friedrich Schlegels Vorarbeiten möglich geworden sei. Die von Dilthey nahegelegte Frage, was anolog dazu im Bereich der Theorie des künstlerischen Schaffens passiert, die Machen nicht mehr als Geschehen einer Regel begreift, bleibt offen, Diltheys Poetik weitgehend folgenlos.71 Hatte sich die positivistische Lehre von der Dichtkunst auf die Inventarisierung von Techniken im Sinne beschreibbarer Verfahrensweisen beschränkt und damit lediglich das Gattungswissen des 18. Jahrhunderts um die Vielzahl der darin noch nicht berücksichtigten oder im Verlauf des 19. Jahrhunderts von der Literatur des Realismus und Naturalismus hervorgebachten neuen Genres zu erweitern versucht, so treten produktionstheoretische Probleme in den in der Folgezeit entstehenden Poetiken,
70 Zu Diltheys Ausblendung aller materiellen Aspekte eines Textes, die erst den Ausdruck eines „Innern“ ermöglichen, vgl. die kritischen Bemerkungen von Hans Ulrich Gumbrecht, Das Nicht–Hermeneutische, in: Ethik der Ästhetik. Hg. v. Christoph Wulf, Dietmar Kamper u. Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 1994. 71 Angesichts des Urteils, mit „Diltheys Bausteinen für eine Poetik“ läge „das Beste vor, was auf diesem Gebiet geschrieben worden ist“, folgt deren Vorgaben der kursorische Überblick über entsprechende Selbstzeugnisse von Otto Behagel, Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen, Leipzig 1909.
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die mit dem Schritt von der „Technik zur Wissenschaft“72 ihre Eigenständigkeit zu begründen versuchen, immer stärker in den Hintergrund. Die Poetik der ästhetischen Produktion bleibt theoretisch weitgehend ungeklärt. Diese Situation hatte Husserl vor Augen, als er im Rahmen seiner fundamentalen Kritik an der theoretischen Begründung des Objektivitätsanspruchs wissenschaftlicher Erkenntnis auf den Künstler zurückkam, um an seinem Beispiel die Unwissenheit und den Mangel an Rationalität im Hinblick auf die unzureichende Klärung der logischen Grundlagen der eigenen Praxis zu illustrieren: „Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß die Vorzüglichkeit, mit der ein Künstler seinen Stoff meistert, und daß das entschiedene und oft sichere Urteil, mit dem er die Werke seiner Kunst abschätzt, nur ganz ausnahmsweise auf einer theoretischen Erkenntnis der Gesetze beruht, welche dem Verlauf der praktischen Betätigungen ihre Richtung und Anordnung vorschreiben und zugleich die wertenden Maßstäbe bestimmen, nach welchen die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des fertigen Werkes abzuschätzen ist. In der Regel ist der ausübende Künstler nicht derjenige, welcher über die Prinzipien seiner Kunst die rechte Auskunft zu geben vermag.“73
Husserl konnte noch nicht übersehen, daß sich mit der Literatur des europäischen Ästhetizismus das Verhältnis von Poetik und literarischer Praxis grundlegend zu verändern begonnen hatte. Während die wissenschaftliche Poetik ihren Anspruch darauf beschränkte, theoretische Einsichten in das Wesen der Dichtung darzustellen und Fragen der Produktion weitgehend zurückstellte74, sind es auf Seiten der Autoren gerade die mit dem Schaffensprozess verbundenen Probleme, denen höchste theoretische Bedeutung zugebilligt wird. Was die Historiker der Poetik als abgeschlossenes Kapitel einer überholten Epoche abzutun gedachten, tritt in der Literatur und im Bewußtsein der Autoren selbst als Verschärfung eines spezifischen Problembewußtseins hervor, das allen Fragen, die den 72 Rudolf Lehmann, Poetik, München 1907, 2. 73 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana, Bd.XVIII, Den Haag 1975, 25. 74 Programmatisch heißt es in der Poetik von Rudolf Lehmann: „Die wissenschaftliche Poetik als solche hat kein unmittelbar praktisches Ziel mehr, so wenig wie die wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt: sie will weder dem Dichter noch dem Kritiker dienen; sie will nur Einsicht in das Wesen der Dichtkunst sein.“ (2) Diltheys Poetik wird zwar gewürdigt, die von ihm geforderte Erforschung des dichterischen Schaffensprozesses aber ganz der Psychologie zugewiesen, die von einer „objektiven Kunstlehre“ zu trennen sei (21–22). Zu Diltheys Denken und dessen Wirkungen auf die Poetiken der Folge vgl. den ,Exkurs zur fachwissenschaftlichen Poetik’ von Bruno Markwardt in seiner ,Geschichte der deutschen Poetik’, Bd. V, Das 20. Jahrhundert, Berlin 1967.
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Prozeß der literarischen Produktion und die Besonderheit ihrer Mittel betreffen, besondere Aufmerksamkeit schenkt. Für die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnde Form einer spezifischen Autorenpoetik steht vor allem das Werk Mallarmés, das wie kein anderes zuvor den Gedanken exponiert, Dichtung habe es allein mit der Sprache zu tun, und literarische Arbeit sei der strengste Versuch, den Raum der Sprache im Hinblick auf das Sagbare auszumessen und die magischen Kräfte der Wörter zur Wirkung zu bringen: „Sait-on, c’est que c’est qu’écrire. Une ancienne et très vague mais jalouse pratique dont git les sens au mystère du coeur“.75 Foucault hat den Prozeß, in dessen Verlauf sich die Literatur „mehr und mehr vom Diskurs der Vorstellungen (unterscheidet, und sich) in eine radikale Intransitivität“76 einschließt, als Akt gedeutet, in dem gleichsam die Sprache selbst gegen ihre zunehmende Vergegenständlichung als Objekt der Wissenschaft revoltiert und auf diese Weise die Philologie ebenso in Frage stellt wie die Definition der Gattungen „als einer Ordnung von Repräsentationen angepaßten Formen“.77 Die Literatur wird „zur reinen und einfachen Offenbarung einer Sprache, die zum Gesetz nur die Affirmation – gegen die anderen Diskurse – ihre schroffe Existenz hat. Sie braucht also nur noch in einer ständigen Wiederkehr sich auf sich selbst zurückzukrümmen, so als könnte ihr Diskurs nur zum Inhalt haben, ihre eigene Form auszusagen. Sie wendet sich an sich selbst als schreibende Subjektivität, oder sie sucht in der Bewegung, in der sie entsteht, das Wesen jeder Literatur zu erfassen, und so konvergieren all ihre Fäden zu der feinsten – besonderen, augenblicklichen und dennoch absolut universalen – Spitze, zum 78
einfachen Akt des Schreibens.“
Er steht bei Mallarmé ganz im Zeichen des absoluten Werkes, das angesichts der Überzeugung „le monde est fait pour aboutir à un beau livre“79 höchsten metaphysischen Rang besitzt, und vollzieht sich als Prozeß der Realisierung von im Wesen der Sprache selbst angelegten Potenzen, denen der Autor zum Ausdruck verhilft.
75 Stephane Mallarmé, Oeuvres complètes, hg. v. Henri Mondor u. G. Jean– Aubry, Paris 1945, 481. 76 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 365. 77 A.a.o., 366. 78 A.a.o., 366. Vgl. dazu das für das Verständnis der ,Poetik’ Foucaults grundlegende, letzte Kapitel seiner frühen Studie über Raymond Roussel, das „Elend und Fest des Signifikanten“ (190) beschwört: „Es gibt kein der Existenz und der Sprache gemeinsames System; aus dem ganz einfachen Grund, weil nämlich die Sprache und nur sie allein das System der Existenz bildet.“ Michel Foucault, Raymond Roussell, Frankfurt a.M. 1989, 185 79 Stephane Mallarmé, Oeuvres complètes, 872.
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EINLEITUNG „Nicht beim individuellen Autor [...], sondern einzig beim Wort liegt also die Initiative, die den Text veranlaßt und die dessen strukturelle und thematische Entfaltung weitgehend vorbestimmt. Die Sprache als solche wird zu einer dem Autor grundsätzlich vor – und übergeordneten Autorität, deren Normen im wesentlichen anerkannt, jedoch immer auch – und das bleibt allein dem auktorialen Willen vorbehalten – erneuert und erweitert, ja überhaupt erst angewandt werden müssen; der Autor seinerseits wird, so, wie [...] Mallarmé betont hat, zum Medium der absolut gesetzten Sprache, durch ihn spricht sie sich aus – er selber, als Autorität, ‚ist nichts; er ist ganz Unterwerfung’.“80
Damit geht die „schöpferische Initiative an die Sprache über, deren autopoietische Dynamik jegliches Wollen neutralisiert.“81 In dem Maße, wie sich der Autor vollständig dem ausliefert, was die Sprache gleichsam von sich aus will und die immanente Logik des Werkes verlangt, verschwindet er hinter dem Text, „er wird in einem suizidalen Akt der Selbstauflösung eliminiert und durch das absolute Ich des Werkes als seiner eigenen Negation ersetzt.“82 Während Mallarmés Poetik bereits auf die spätere texttheoretisch formulierte These vom Verschwinden des Autors vorausweist, ermöglicht das dieser Haltung zugrundeliegende Prinzip einer völligen Durchbildung des Werkes im Denken Valérys eine veränderte Perspektive. An die Stelle des Werkes tritt für ihn der Modus seiner Hervorbringung, und das theoretische Interesse am Akt des Schreibens und an den Handlungen des Autors führt ihn, wie er in seinen grundlegenden Überlegungen zur „Existenz des Symbolismus“ dargestellt hat, „direkt zum Prinzip seiner technischen Tätigkeit, welches das freie Forschen ist, das absolute Abenteuer innerhalb der Ordnung künstlerischen Schaffens“ (W 3, 326). Die Entwicklung der deutschen Literatur verläuft völlig anders. Im frühen Werk von Friedrich Nietzsche deutet sich eine vergleichbare Perspektive an. In seinen Reflexionen zur Psychologie des Künstlers in „Menschliches, Allzumenschliches“ geht es ihm, in dieser Phase noch ganz im Zeichen positivistischer Wissenschaftlichkeit, zunächst darum, jene Interessenlage aufzudecken, die Künstler dazu bewegt, ihre Werke gegenüber dem Publikum als Produkt einer „wundergleichen Plötzlichkeit der Entstehung [...] und der begeisterten Unruhe“ (KSA II, 141) aus80 Felix Philipp Ingold, Der Autor am Werk, 358. 81 A.a.o., 359. 82 A.a.o., 359. Maurice Blanchot hat diesen Schwund von Autorschaft in seinen Kommentaren zu Mallarmés Projekt „des kommenden Buches“ herausgestellt: „Der Dichter kann sich nicht zuschreiben, was er schreibt. Und was er schreibt, sei es auch unter seinem Namen, bleibt im Grunde namenlos.“ Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982, 306.
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zugeben. Während die Künstler angesichts der Einschätzung, ein Werk wirke nur in dem beabsichtigten Sinne, wenn es als „plötzliches Hervorspringen des Vollkommenen“ (KSA II, 141) aufgefaßt werden könne, sich des Mittels der Täuschung der Öffentlichkeit bedienen, fordert Nietzsche von der Wissenschaft der Kunst, dem „auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen, vermöge welcher er dem Künstler ins Netz läuft.“ (KSA II, 141) Auch wenn Nietzsches Ästhetik letztlich in vielen Punkten dem Geniebegriff verhaftet bleibt, ist der rationale produktionstheoretische Kern seiner Kunsttheorie dieser Phase seiner Philosophie unübersehbar. Indem er „den tüchtigen Handwerkerernst“ (KSA II, 153) und die „mannigfache Übung“ (KSA II, 153) als entscheidendes Element künstlerischer Tätigkeit geltend macht, teilt er den technischen Geist der positivistischen Poetik; dort, wo er den Blick auf die Selbstzeugnisse der Künstler lenkt, um den besonderen Modus ästhetischer Produktion zu erfassen, führt er darüber hinaus: „In Wahrheit produziert die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmäßiges und Schlechtes, aber seine Urteilskraft, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethovens ersieht, daß er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen Ansätzen gewissermaßen ausgelesen hat.“ (KSA II, 146)83 Auch die Aufzeichnungen des jungen Hugo von Hofmannsthal belegen ein vergleichbares Interesse am Problem der Produktion, das ebenfalls deutlich erkennen läßt, was er den Ergebnissen der positivistischen Poetik verdankt. In einem Brief an Marie Herzfeld schreibt Hofmannsthal 1892: „Was Sie über die ,concentrierte Natürlichkeit im Dialog und Berechnung für die Formwirkung der Bühne sagen, leuchtet mir sehr ein. Ich lese ungefähr dieselben Sachen mit vielen anderen aus den prachtvollen Studien von Otto
83 Zu Nietzsches Geniebegriff vgl. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie– Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 2, Darmstadt 1985; zur Entwicklung von Nietzsches Kunsttheorie und dem kritisch aufklärerischen Ort, den „Menschliches, Allzumenschliches“ darin einnimmt, siehe: Volker Gerhardt, Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst, in: Nietzsche–Studien, Bd. 19, 1984. Zur These, daß die Aufzeichnungen dieser Jahre es erlauben, deren zentrale Themen näher an die Person Nietzsches zu rücken und sie entsprechend als Ausdruck eigener künstlerischer Produktionserfahrungen zu deuten vgl. Giorgio Colli, Menschliches, Allzumenschliches I, in: Giorgio Colli, Distanz und Pathos. Einleitungen zu Nietzsches Werken, Hamburg 1993; zu Nietzsches theoretischer Position im Kontext des europäischen Ästhetizismus siehe Ralph–Rainer Wuthenow, Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus, Frankfurt a.M. 1978, 103– 130.
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EINLEITUNG Ludwig, die ich auch hier mithabe. Vielleicht das einzige deutsche Buch, aus 84 dem sich wirkliches für die Technik lernen läßt.“
In einer aus dem Nachlaß veröffentlichten Notiz, die aus der gleichen Zeit stammt, heißt es im Hinblick auf das eigene Selbstverständnis: „Künstler untereinander verstehen sich nicht als Künstler, sondern als Handwerker. (Am Tempel der Kunst trägt die Außenseite des Portals die mystischen Zeichen der Schöpfung und Begeisterung, die Innenseite Winkelmaß, Brille, Zirkel und Lineal. Künstler lieben vollendete Kunstwerke nicht so sehr wie Fragmente, Skizzen, Entwürfe und Studien, weil sie aus solchen am meisten für das Handwerk lernen können.“
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Die Frage, „inwieweit der „Kritik und der technischen Theorie Raum gewährt werden soll“86, beschäftigt ihn am meisten, als Carl Georg Klein im Auftrag Stefan Georges die Möglichkeit einer Mitarbeit an den geplanten „Blättern für die Kunst“ sondiert. Er fordert von den Herausgebern „weniger landläufige kritische Essays als vielmehr Reflexionen über technische Fragen, Beiträge zur Farbenlehre der Worte und ähnliche Nebenprodukte des künstlerischen Arbeitsprocesses [...], durch deren Mitteilung einer den anderen, wie ich meine, wohl zu fördern im Stande wäre.“87 Zwar akzentuiert auch George den handwerklichen Aspekt des Dichtens, das „BAULICHE (construktive) von dem heut nur die wenigsten wissen“88, die in den „Blättern für die Kunst“ veröffentlichten Beiträge dokumentieren indes, daß nicht nur Hofmannsthals Wunsch keine Berücksichtigung gefunden hatte, sondern Georges Bemerkung alles an84 Hugo von Hofmannsthal, Briefe an Marie Herzfeld. Hg. v. Horst Weber, Heidelberg 1967, 29. 85 Hugo von Hofmannsthal, Reden und Aufsätze III (1925–1929) Aufzeichnungen. Hg. v. Bernd Schoeler u. Ingeborg Beyer–Ahlert, Frankfurt a.M. 1989, 321. 86 Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Zweite ergänzte Auflage, München u. Düsseldorf 1953, 22. 87 A.a.o., 25. 88 A.a.o., 160. Ernst Morwitz erinnert sich: „Für ihn war das Bemühen, ein architektonisch gegliedertes Werk zu schaffen, ein Zeichen echter Kunst, die ebensoviel Arbeit wie Inspiration, ebensoviel Denken und Können wie Intuition erfordere, wie er oft sagte. Er behauptete, dass die Inspiration, die den Grundrhythmus und Inhalt eines Gedichts bestimme, ein Sache des Geistes sei und sich nicht künstlich hervorrufen lasse, dass aber der Aufbau und die Vollendung des Gedichts und Werks vom Können, Geschmack und Verstand des Dichters abhingen und erst durch bewußte, zähe Arbeit die endgültige Gestaltung erhalten könnten. Er selbst sann lange über jede Zeile eines Gedichtes schweigsam und konzentriert nach, nachdem er das, was er den Grundvers nannte, durch Inspiration gefunden hatte, und begann mit der Niederschrift erst dann, wenn das Ganze in ihm Form gewonnen hatte.“ Ernst Morwitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, München/Düsseldorf 1960, 22/23.
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dere meint als die aufklärerische Intention, die literarische Öffentlichkeit an der technischen Selbstverständigung der Schriftsteller teilhaben zu lassen. Im Gegenteil, nichts liegt ihm ferner. Adorno hat in seiner Analyse des Briefwechsels zwischen George und Hofmannsthal gezeigt, daß die Dimension des Technischen zwar im Zentrum ihrer jeweiligen Poetik anzusiedeln, „das Geheimnis der Symbolisten nicht sowohl eines von Innerlichkeit als von Metier“ (GS 10.1, 228) ist, dieses Wissen jedoch nicht verbreitet, sondern anderen vorenthalten und bei George buchstäblich als Geheimwissen in den Dienst geistespolitischer Interessen gestellt wird: „Würde aber die Technik öffentlich, die über die Stoffe disponiert, so ginge mit ihr der Anspruch des Dichters auf eine Herrschaft verloren, die längst an die Veranstaltung zediert ward. Geheimgehalten wird das nicht Geheime; eingeweiht wird ins Rationale die Technik selber. Je mehr die Fragen der Dichtung in Fragen der Technik sich übersetzen, um so lieber bilden sich exklusive Zirkel.“ (GS 10.1, 200)
Die Folgen dieser Haltung, vor allem die Konsequenzen des von George dominierten Lagers, sind fatal, indem sie dazu führen, daß die Diskussion über literarische Technik angesichts der demonstrativen Beschränkung letztlich selbst in der eigenen Gruppe nicht wirklich entfaltet wird, vor allem aber ein unaufgeklärtes deutsches Publikum, zumal das akademische, umso weniger versteht, was in Frankreich in diesem Zusammenhang öffentlich diskutiert wird. Entsprechend heftig fällt die Ablehnung der Autoren aus, und mit ihr wird der Weg versperrt, über eine komplexe Rezeption des französischen Symbolismus noch im Jahrhundert ihres Beginns Anschluß an die Tradition der modernen Poetik zu gewinnen.89 Die Hinwendung zu Problemen der literarischen Technik erscheint, wie ein deutscher Historiker der Poetik 1907 formuliert, als eine Gefahr, vor der es zu warnen gilt, weil sie die Dichtung um ihren Inhalt bringe: „So könnte man versucht sein, einen künstlerischen Wert der Intention als solcher, die Tiefe und Bedeutsamkeit einer Dichtung, überhaupt nicht zuzugestehen und denselben vielmehr auschließlich in der künstlerischen Ausführung zu suchen. Es ist dies der Grundsatz, den man neuerdings mit dem Schlagwort l’art pour l’art zu bezeichnen pflegt. Im Wesen einer Kunst, die nichts als Technik sein will, liegt es, daß sie nur auf den berechnet ist, der die Technik in ihren Einzelheiten zu würdigen weiß. Diese Anschauung setzt den Artisten an die Stelle des Dichters; sie setzt den Inhalt zurück hinter der 89 Zu den vielfältigen Schwierigkeiten dieser Rezeption, in der, wie Adorno noch 1953 hervorgehoben hat, Mallarmé Deutschland „wesentlich verschlossen“ blieb, vgl. Manfred Gsteiger, Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869–1914), Bern u. München 1971.
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EINLEITUNG Form, den metrischen und sprachlichen Ausdrucksmitteln. Ja dieses Formenprinzip führt in seinem Extrem zu einer gänzlich inhaltlosen Kunst, die nur noch durch den Klang der Worte und Rhythmen wirken will; eine Reihe französischer und deutscher Poeten verkörpert diesen Typus“.90
Die Wirksamkeit einer literaturwissenschaftlichen Kritik wie dieser tritt noch deutlicher hervor, wenn man berücksichtigt, daß die Ablehnung produktionstheoretischer Fragestellungen in der wissenschaftlichen Poetik Ausdruck einer zeittypischen Haltung war, die Unterstützung aus anderen geistespolitischen Lagern bekam. Im Umkreis des in der Philosophie dieser Jahre wiedererwachten Idealismus wird erneut der Begriff des Genies beschworen, so in Benedetto Croces 1905 erschienenem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel: „Vom Herrschgelüste der Technik“: „Technik als etwas Mechanisches verstanden, gibt es in der genialen Produktion, die doch die einzig künstlerische ist, überhaupt niemals.“91 In einer Passage, die als Manifest der Technikfeindschaft neoidealistischer Ästhetik der Jahrhundertwende gelesen werden kann, spart Croce nicht an Pathos, um seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, „daß in dem Prozeß des künstlerischen Schaffens niemals ein praktisches oder technisches (wie mans nun nennen mag) Element Eingang findet: die Spontaneität der Phantasie herrscht, ohne Nebenbuhlerschaft, vom Beginn bis zum Ende des Prozesses: der Begriff der Technik ist der reinen Ästhetik ebenso fremd wie der wahren und eigentlichen Kunstkritik.“92
Der Schärfe dieser Ablehnung steht jene in nichts nach, die Rudolf Borchardt 1920 in seinem programmatischen Vortrag „Über den Dichter und das Dichterische“ aus der Sicht eines Betroffenen formuliert hat, dem anderes als „Dichter“ in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes zu sein und entsprechend berufen darüber Auskunft geben zu können, niemals in den Sinn gekommen ist. Für das Verständnis dessen, was der Dichter macht, läßt Borchardt nichts anderes gelten als die Vorstellung des von einem Gott Besessenen, der nicht weiß, was er tut, wenn er dichtet. Während die Praxis des bildenden Künstlers durch die sichtbare Verausgabung von körperlicher Kraft und kenntnisreicher Handhabung seines Stoffes geprägt sei, mangele es ihm am wesentlichen, das „allein der Dichter für sich und sein Schaffen beanspruchen könne: am Geheimnis, am Problem. Und handele es sich auch um Geschicklichkeiten eines sehr hohen Ranges, eines immer, immer höheren Ranges,– was Ihnen fehlte, 90 Rudolf Lehmann, Poetik, 74. 91 Benedetto Croce, Kleine Schriften zur Ästhetik. Bd. II. Ausgwählt und übertragen von Julius von Schlosser, Tübingen 1929, 264. 92 A.a.o., 261.
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war der Rausch, jenes Bewußtsein von etwas Transzendentem. Die Muse der bildenden Künstler heißt nicht Muse, sie heißt techne. Was fehlt ist die Dämonie, das Inkalkuble.“93 Zwar gab es neben Brecht und Benjamin in den zwanziger Jahren Bemühungen, produktionstheoretische Fragestellungen wiederaufzunehmen, etwa im Rahmen der auf Initiative Alfred Döblins von der Sektion für Dichtung der Preußischen Akademie der Künste im Wintersemester 1928/29 an der Berliner Universität veranstalteten Vortragsreihe „Technik der Dichtkunst“94, die zur Annäherung zwischen literaturwissenschaftlicher Theorie und schriftstellerischer Praxis beitragen sollte. Walter von Molo sprach in diesem Zusammenhang über „Dichterische Konzeption“, Oskar Loerke über „Formprobleme der Lyrik“ und Alfred Döblin über den „Bau des epischen Werkes“95, den er am Beispiel der Entstehung seines Romans „Wallenstein“ zu erläutern versuchte. Anstrengungen dieser Art blieben jedoch vereinzelt und waren für die meisten Autoren der Epoche ohne Interesse. Es scheint jedoch, als hätte bereits der schwache Versuch einer rationalen Annäherung an die Probleme des eigenen Metiers ausgereicht, um einen Dichter wie Rudolf Borchardt erneut herauszufordern, der auf das als Provokation empfundene Thema in grundsätzlicher Weise zu reagieren als seine Pflicht ansah. In einer Rede mit dem nicht minder charakteristischen Titel „Geheimnis der Poesie“ reklamiert Borchardt 1930 erneut für sich und die mit ihm Berufenen nicht weniger als die Rolle des vates, des Propheten und Sehers, der, sofern man diesen Begriff überhaupt akzeptiere, über „die Technik der dichterischen Arbeit [...] nichts weiß, nichts wissen kann, nichts wissen darf.“96 Es gebe keine Technik der Dichtkunst, und Poesie sei keine Kunst, in der Begabte durch Übung und Schulung und Arbeit an sich selbst es zu etwas bringen könnten. Entsprechend seien alle Bücher, in 93 Rudolf Borchardt, Über den Dichter und das Dichterische, in: Rudolf Borchardt, Prosa I, Stuttgart 1957, 46. Zu den theoretischen Übereinstimmungen und der Beziehung zwischen Borchardt und Croce vgl. Michael Neumann, Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg, in: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen. Hg. v. Ernst Osterkamp. Berlin /New York 1997. 94 Vgl. Inge Jens, Dichter zwischen links und rechts. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste dargestellt nach den Dokumenten, München 1971, 153–155. Siehe dazu auch den bislang kaum wahrgenommenen, aber historisch äußerst aufschlußreichen Band ‚Kunst und Technik’. Hg. v. Leo Kestenberg, Berlin 1930, dessen Beiträge vor allem der Frage nachgehen, welche Konsequenzen die Reproduktionsbedingungen der neuen Medien wie Rundfunk, Film und Schallplatte für die einzelnen Künste mit sich bringen. 95 Die Vorträge erschienen in: Jahrbuch der Sektion für Dichtkunst, Berlin 1929; Döblins Beitrag ist auch enthalten in: Alfred Döblin, Schriften zur Literatur, Freiburg 1963. 96 Rudolf Borchardt, Das Geheimnis der Poesie, in: Rudolf Borchardt, Reden, Stuttgart o. J., 124.
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denen Dichter über ihre Arbeit an ihren Werken berichtet hätten, nichts als ein „Hokuspokus, der [...] von Spaßvögeln mit ernst verdrießlich verläßlicher Miene vorgegaukelt wird.“97 Bereits Nietzsche hatte es eher umgekehrt gesehen und das egoistische Interesse der Künstler an der „Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung“, wie Borchardt sie zu diesem Zeitpunkt noch inszeniert, gebrandmarkt. Unmittelbar nach Ende des zweiten Weltkriegs kommt es zu einem vereinzelten Versuch, den produktionstheoretischen Kern der modernen Poetik endlich auch in der deutschen literarischen Öffentlichkeit heimisch zu machen. Die poetologische Essayistik Albrecht Fabris verdient eine Erwähnung nicht zuletzt deshalb, weil es zu diesem Zeitpunkt keine vergleichbaren Bemühungen in Deutschland gegeben hat, die Linie Baudelaire, Mallarmé, Valéry für alle sichtbar so zu ziehen, daß mit dem politischen Neubeginn auch ein neuer theoretischer Anknüpfungspunkt, gewissermaßen eine ästhetische Westorientierung, möglich werden sollte.98 Fabris Eigensinn hat ihm die Wertschätzung Gottfrieds Benns eingetragen, ohne daß sein Werk irgendeine Wirkung gehabt hätte. Auch Adornos 1953 mit dem Essay „Der Artist als Statthalter“ beginnende Bemühung um Valéry setzen nicht zuletzt im Bewußtsein der in Deutschland weitgehend ausgebliebenen Mallarmé- und ValéryRezeption99 ein. Für die Entwicklung des produktionstheoretischen Den97 A.a.o., 128. Zur Kritik an Borchardts Position vgl. Adornos Aufsatz „Die Kunst und die Künste“ (GS 10/1). 98 Siehe Albrecht Fabri, Der schmutzige Daumen, München 1948; Albrecht Fabri, Interview mit Sisyphos, München 1952; Albrecht Fabri, Variationen, Wiesbaden 1959. Im Bewußtsein, daß Fabris „dezidiert–diskrete Lektion jahrzehntelang überhört, ja mißachtet worden ist“ hat Felix Peter Ingold ihn und sein Werk nachträglich in einer sehr einfühlsamen und persönlichen Weise gewürdigt. Siehe: Felix Philipp Ingold, Freie Hand. Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder, München 1996, 109–121. Ingold macht für Fabris Einflußlosigkeit vor allem den Umstand verantwortlich, daß Fabri die universitäre Nachkriegsgermanistik, die herrschenden Kritiker und die zeitgenössichen Autoren ebenso unbeachtet gelassen habe wie – als Folge – diese ihn. Bemerkenswert ist aber auch, wie er zurecht hervorhebt, daß „Fabri auch jene paar wenigen Autoren – namentlich Benjamin, Kracauer, Bloch – mit konsequentem Schweigen übergeht, die in Deutschland, zwischen den Kriegen, jenes marginale Terrain präpariert hatten, das er selbst eine Generation später, als Grund und Boden für die Errichtung seines Elfenbeinturmes nutzen konnte.“ (116). 99 Zu den historischen Phasen und besonderen Schwierigkeiten der Valéry– Rezeption in Deutschland vgl. Carl Buchner/Eckhardt Köhn, Paul Valérys Phänomenologie der Moderne und ihre Rezeption in Deutschland, in: Carl H. Buchner/Eckhardt Köhn (Hg.), Herausforderung der Moderne. Annäherungen an Paul Valéry, Frankfurt a.M., 1991. Zu den mit der Qualität der bis dahin vorliegenden Übersetzungen zusammenhängenden Schwierigkeiten eines angemessenen Verständnisses bemerkt Fabri polemisch: „Würde Valéry, wenn er deutsch geschrieben hätte, auch nur ein Zehntel dessen geschrieben haben, was ihn unsere Übersetzer schreiben lassen?“ Albrecht Fabri, Der schmutzige Daumen, 97.
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kens in Deutschland ist es durchaus charakteristisch, daß sich Adorno noch 1966 in seinem in der Berliner Akademie der Künste gehaltenen Vortrag „Die Kunst und die Künste“ zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Borchardts Thesen aus den zwanziger Jahren veranlaßt sieht. Er hält es für geboten, dessen dubioses Credo, der Dichter „sei kein Künstler, sondern vollstreckender Schöpfer einer Schöpfungswelt“100 im Namen der modernen Ästhetik entgegenzuhalten, daß „auch dem Dichter sich über die Schulter sehen läßt, wenn er schreibt.“ (GS 10/1, 44) Mit der Neugierde für das, was dabei gesehen werden kann, zumal wenn es der Dichter selbst ist, der den Blick auf die Prozesse seiner Arbeit zu richten beginnt, und in der Entschiedenheit, mit der Adorno diesen Aspekt zur Geltung bringt, ist seine Kritik an Borchardt nicht nur der späte Beitrag zu einer geschichtlichen Kontroverse oder eine weitere Verdeutlichung der eigenen Kunstphilosophie, sondern gleichermaßen Hinweis auf die Notwendigkeit einer literarischen Produktionsästhetik und korrespondiert dergestalt aufs engste mit dem Projekt einer historischen Poetik der ästhetischen Produktion, die auch Blumenberg Mitte der sechziger Jahre vor Augen gestanden haben mag.
V al ér y s P o i e ti k In Frankreich nimmt die Entwicklung der produktionsästhetischen Diskussion seit dem 19. Jahrhundert einen völlig anderen Verlauf. Ein wesentlicher Grund dafür ist bekanntlich der Einfluß des Werkes von Edgar Allan Poe auf die französischen Autoren der Moderne. Das theoretische Fundament für jede weiterführende Beschäftigung mit den Problemen des Schaffensprozesses stellt für sie Poes Essay „The Philosophy of Composition“ von 1846 dar, in dem er nicht nur die Erfahrungen bei der Arbeit an seinem Gedicht „The Raven“ detailliert beschrieben hat, sondern in seiner Darstellung den streng logischen und rationalen Charakter des Werkprozesses herauszustellen bemüht war. Baudelaire hat das Werk Poes in die französische Literatur eingeführt und ihn selbst als Begründer einer neuen Poetik gewürdigt, der „der Wissenschaft, der Arbeit und der Analyse einen Anteil zuweist, der dem Hochmut der Ungelehrten übertrieben vorkommen mag.“101 In Poes Versuch, „die Inspiration auch der Methode, der strengsten Analyse“102 zu unterwerfen, sieht Baudelaire den Geist einer neuen Epoche der Literatur am Werk, der die überlieferten Schaffensvorstellungen mit einer neuen Konzeption konfrontiert: 100 Rudolf Borchardt, Das Geheimnis der Poesie, 131. 101 Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 2, München 1983, 355. 102 A.a.o., 355.
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EINLEITUNG „Kann sein, solche zynischen Maximen verstimmen die Liebhaber des poetischen Wahnsinns; doch möge jeder es damit halten, wie er mag. Es wird immer angebracht sein, ihnen zu zeigen, wie sehr reifliche Überlegung der Kunst zum Vorteil gereicht, und den Weltleuten das Auge dafür zu öffnen, welche harte Arbeit dieser Luxusgegenstand erfordert, den man Poesie 103
nennt.“
Diese produktionstheoretische Einsicht Poes wird in der französischen Literatur seit Baudelaire produktiv rezipiert und stiftet eine Tradition der modernen Poetik, die in T.S.Eliots Aufsatz „Von Poe zu Valéry“104 ihre klassische Darstellung gefunden hat. T.S. Eliot hat zudem darauf aufmerksam gemacht, daß die Elemente einer neuen Poetik in der französischen Literatur der Moderne umso wirksamer werden konnten, als „Mallarmé und wiederum Valéry nicht nur über Baudelaire herzuleiten sind: ein jeder von ihnen unterwarf sich diesem Einfluß unmittelbar und hat überzeugende Beweise für den Wert hinterlassen, den er der Theorie und Praxis von Poe selber beimaß.“105 Die Frage, was alle gleichermaßen der Beschäftigung mit Poes Werk zu verdanken haben, hat Paul Valéry in seinem Aufatz „Die Situation Baudelaires“ von 1924 zu beantworten versucht: „Poe hat begriffen, daß die moderne Literatur sich der Tendenz einer Zeit anpassen muß, in der die Arten und Gebiete sich klar voneinander scheiden, und erkannte, daß sie den Anspruch erheben darf, ihren eigenen Stoff darzustellen und sich gewissermaßen im reinen Zustand zu geben. Darum auch die Analyse der Bedingungen des poetischen Genusses und die erschöpfende Definition der absoluten Poesie – und Poe zeigte einen Weg und gab eine sehr verführerische und sehr strenge Lehre, in der eine Art Mathematik und eine 106 Art Mystik vereinigt sind.“ (W 3, 228)
Sich dieser Lehre lange Zeit verschlossen zu haben, charakterisiert hingegen die deutsche Diskussion. Nicht daß sein Werk nicht wahrgenommen worden wäre, aber der Kern seiner Poetik wird zunächst schroff ab103 104 105 106
A.a.o., 363. In: T.S. Eliot, Der Vers. Vier Essays, Frankfurt a.M. 1952. A.a.o., 86. Vgl. James Lawler, Edgar Poe and the poètes francais, Paris 1989. In einem frühen Brief an André Gide bemerkt Valéry über Poe: „Ich habe meinem Vorgesetzten ,Heureka’ vorgelesen. Ich empfinde dabei, daß es vielleicht falsch gewesen ist, vor x Jahren keinen Artikel über Poe geschrieben zu haben. Jetzt habe ich keine Lust mehr dazu. Dabei ist er von einzigartiger Qualität. Er ist wirklich der einzige Schriftsteller, der intuitiv die Literatur mit dem Verstand verknüpfte.“ André Gide, Paul Valéry, Briefwechsel 1890– 1942. Eingeleitet und kommentiert von Robert Mallet, Frankfurt a.M., 1987, 448. 1921 erschien Valérys Text: Zu ,Eureka’, jetzt in: Paul Valéry, Werke, Bd. 4.
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gewiesen. Es wirkt wie eine merkwürdige Ironie der Literaturgeschichte, daß ausgerechnet Friedrich Spielhagen, dessen Beitrage zur technischen Diskussion im 19. Jahrhundert durchaus Beachtung verdienen, Poe 1883 in diesem Zusammenhang zwar nennt, aber nur, um ihn um so entschiedener wieder auszuschließen: „Die sonderbare sogenannte ‚Analyse’, die der amerikanische Dichter Edgar Allan Poe von seinem berühmten Gedicht ‚Der Rabe’ gemacht hat, kann man doch wohl schwerlich, selbst den speziellen Fall als Lösung des Rätsels nehmen [...] Ich wiederhole, daß man diese sogenannte Analyse, oder sagen wir geradezu: nicht ersthaft nehmen kann, ohne sich zu dem Schluß getrieben zu sehen, daß die Dichter nicht anders wie jener Rabe auch nur vernunftlos 107 sprechenden Wesen seien“.
Noch in einer der frühesten Übersetzungen der „Philosopohy of Composition“, die 1901 im Rahmen der ersten deutschen Werkausgabe erschien, sieht sich der Herausgeber veranlaßt, der Übertragung einer Anmerkung hintanzustellen, in der Poes Text eine Mischung aus „Wahrheit und Blague“108 unterstellt wird; Blague deshalb, weil Poe „ein Mensch war, „der die Düpierung der Menschheit über alles liebte“109 und aus diesem Grunde einer skandalösen Überhöhung der verstandesmäßigen Elemente des Schaffens das Wort geredet habe. Man wird nicht abstreiten können, daß ein bestimmter Ton, der Zug einer auch von Baudelaire registrierten „leichten Impertinenz“110 in Poes Text Widerstände dieser Art leicht provozieren können, nur haben diese in der deutschen Literatur dazu geführt, die entscheidend neuen Elemente seiner Poetik gänzlich zu übersehen, mißzuverstehen oder mit Schweigen zu übergehen, wie im Falle Stefan Georges, dem, wie ein Vertrauter überliefert hat, Poes Poetik bekannt war111. So heißt es im Vorwort des 1922 erschienenen Bandes 107 Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, 9. Zu den wenigen frühen Bewunderern Poes in Deutschland gehört Nietzsche. 108 Edgar Allan Poes Werke in zehn Bänden. Hg.v. Hedda u. Arthur Moeller– Bruck, Bd. 2, Minden i.W. 1901, 105. 109 A.a.o., 106. 110 Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 2, 360. 111 „Der Dichter kannte sowohl Poes Gedichte als auch seine Kunsttheorien und bemerkte dazu, daß Poe nicht glaubhaft machen könne, daß er den Urvers von „The Raven“ aufgrund von bewußter Errechnung gefunden habe.“ Ernst Morwitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, 1960. Manfred Durzak hat die These geltend gemacht, Georges Kunsttheorie sei stärker von Poe beeinflußt als die der französischen Symbolisten, „die Poe öffentlich als ihren Lehrmeister deklarierten.“ (42) „Daß George niemals explizit auf Poe hingewiesen hat – sein Name wird nur ein einziges Mal in den ,Blättern für die Kunst’ erwähnt – ist [...] eine Gebärde der Verhüllung, die indirekt die Intensität der Beeinflussung bezeugt.“ Manfred Durzak, Zwischen Symbolismus und Expressionismus. Stefan George, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1974, 33/34.
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EINLEITUNG
„Gedichte und Aufsätze“ der von Franz Blei herausgegebenen „Gesammelten Werke“, der Poes poetologische Arbeiten erstmals in einem Band versammelt und den Gedichten zur Seite stellt: „Es ist bezeichnend, daß von Poes kritischen Schriften, in denen von seinem Besten liegt, auf keinem Weg etwas zu uns gekommen ist, weder direkt noch indirekt.“112 Es wird darauf zurückzukommen sein, welche Folgen diese Leerstelle in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts nicht nur für die Entfaltung der produktionstheoretischen Diskussion unter den Autoren, sondern ebenso für die wissenschaftliche Rekonstruktion ihrer Geschichte gehabt hat. Im Gegensatz dazu führt Poes Einfluß in Frankreich zum Ideal einer vollständig durchgebildeten Form des Kunstwerkes und – davon nicht zu trennen – zur Radikalisierung der Frage, inwieweit dessen Verwirklichung mit den Verfahren bewußter Konstruktion einer als Wortkunst begriffenen Literatur zusammenhängt. Mit dem Bild, das Valéry von Mallarmé entwirft, deutet er eine neue Sichtweise an, die, das Werk selbst in den Hintergrund rückend, sich auf die Isolierung eines spezifischen Produktionswissens bezieht, das er in Gestalt des bewunderten Meisters auf unvergleichliche Weise verkörpert sah: „Ich versuchte mir vorzustellen, welche Wege das Denken dieses Autors gegangen war, welche Vorarbeiten es durchgeführt hatte. Ich sagte mir, daß dieser Mensch über jedes Wort meditiert, jede Form erwogen und inventarisiert haben mußte. Für die Arbeitsweise dieses Geistes – der von dem meinen so verschieden war- interessierte ich mich nach und nach vielleicht noch mehr als für die Ergebnisse seines Schaffens. Ich rekonstruierte mir den konstruierenden Autor dieses Werkes.“ (W 3, 263)
Selbst wenn dies zutrifft, zeigt es die Problematik der öffentlichen Verständigung über die technische Dimension des Schreibens in Deutschland nur um so deutlicher. Historisch kann sie nicht von der Aufnahme der Poeschen Poetik, insbesondere im Ästhetizismus, getrennt werden. Auch Rudolf Borchardt spart Poe nahezu vollständig aus, wenngleich aus anderen Gründen als George. Werner Kraft hat die einzige kurze Bemerkung in dem Aufsatz „Die Entdeckung Amerikas“ von 1935 kommentiert: „Er erwähnt Poe, der ,in Frankreich in den Händen erlesenster, kritischer und nachahmender Leser’ war, aber es ist fast sicher, daß Poes Theorie des Gedichts alles das in Frankreich, von Baudeleire bis Valéry, hervorgebracht hat, was er leidenschaftlich ablehnte. Er scheint nicht mehr abzulehnen, oder selbst seine Ablehnung verliert ihre Schroffheit.“ Werner Kraft, Rudolf Borchardt, Welt aus Poesie und Geschichte, Hamburg 1961, 505. Auch Gottfried Benn begnügt sich mit wenigen Verweisen in seinen späten Vorträgen ,Probleme der Lyrik’ und ,Vortrag in Knokke’, in: Gesammelte Werke, Bd. 4. Zu den vielfältigen Brechungen dieser Rezeption vgl. die Anmerkungen im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit. 112 Edgar Allan Poe, Gesammelte Werke. Hg. v. Franz Blei, Bd. 6, München 1922, 12. Zur Poe–Rezeption in Deutschland vgl. Harro H. Kühnelt, Die Aufnahme und Verbreitung von E.A. Poes Werken im Deutschen, in: Festschrift für Walther Fischer, Heidelberg 1959.
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Bereits der erste, wenngleich unveröffentlichte Aufsatz von Valéry trägt den Titel „Über schriftstellerische Technik“. Unter dem Eindruck seiner Beschäftigung mit Poe, dessen Werk er nicht geringer schätzte als Baudelaire und Mallarmé, beschwört Valéry „das Problem der Ästhetik des Wortes, das heißt das Problem der FORM“ (W 5, 12) im Zeichen eines Geistes, dessen Rationalität auch die moderne industrielle Welt bestimmt. Valéry entwirft ein Bild des Dichters, das Schluß macht mit allen Formen der romantischen Stilisierung: „Er ist nicht mehr der zerzauste Schwärmer, jener, der ein Gedicht in einer Fiebernacht schreibt, er ist ein kühler Wissenschaftler, fast ein Rechenkünstler, im Dienste eines verfeinerten Träumers.“ (W 5, 12) Es ist nicht so, daß es in Frankreich keine Widerstände gegen diese Linie der Poetik gegeben hätte, im Gegenteil, im Mittelpunkt der in den zwanziger Jahren mit großer Heftigkeit geführten Debatte über das Wesen der reinen Poesie stehen die vor der französischen Akademie von dem Geistlichen Abbé Bremond vorgetragenen Angriffe gegen die „modernen Theoretiker der reinen Poesie, Edgar Poe, Baudelaire, Mallarmé und Herr Paul Valéry“113, denen er zur Last legt, falsche Vorstellungen über das poetische Schaffen des Dichters, das er als profane Form mystischer Aktivität verstanden wissen will, verbreitet zu haben. Albert Thibaudet hat in einem wichtigen Beitrag zu dieser Debatte 1926 darauf hingewiesen, daß die Vorstellung, was unter reiner Poesie zu verstehen sei, nicht davon getrennt werden könne, daß die maßgeblichen Autoren der ihr verpflichteten Tradition „sont des hallucinés, des passionnés de la technique“114. „Cette poésie pure à la maniere de Poe, de Mallarmé et de Valéry“ sei, so Thibaudet, „mariée tragiquement a la technique pure, comme Madame a Monsieur Teste“.115 Entsprechend müsse als Element der Kontroverse der Sachverhalt Berücksichtigung finden, daß der Idee der reinen Poesie jeweils unterschiedliche Vorstellungen des Verhältnisses von Inspiration und Technik zugrundelägen. Nicht daß die Debatte zu neuen Lösungen geführt hätte, aber es ist für die Entwicklung der poetischen Theorie in Frankreich von außerordentlicher Bedeutung gewesen, daß die traditionellen Fragen der Lehre von der Dichtkunst und die Bedeutung der Technik für den literarischen Schaffensprozeß unter den Bedingungen der modernen Literatur in Form einer 113 Henri Bremond, Mystik und Poesie, Freiburg 1929, 12. 114 Albert Thibaudet, Réflexions sur la Littérature, in: La Nouvelle Revue Francaise, no. 148, 1926, 106. 115 A.a.o., 107. Vgl. Henry W. Decker, Pure Poetry, 1925–1930.Theory und Debate in France, University of California Press 1962, insbesondere Kap. XIV. Inspiration and Technique. Vgl. dazu auch die Thesen und Kommentare von Roger Caillois: „Die Gnade kommt nur über die, die viel gearbeitet haben. Sie schenkt nichts, sie erstattet nur zurück, doch auf einen Schlag, ohne Vorankündigung, und nachdem sie sich lange bitten ließ.“ Roger Caillois, Ars Poetica, München 1968, 41.
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öffentlichen Debatte und mit äußerster Intensität diskutiert worden sind, so daß auf diese Weise die Legitimität produktionstheoretischer Fragestellungen nicht mehr zur Disposition stand und vor allem unabhängig von politisch-thetischen Optionen diskutiert werden konnte. Selbst Louis Aragon, nach Valérys Aufnahme in die Académie Francaise wahrlich nicht mehr im Verdacht, weiterhin dessen Parteigänger zu sein, kritisiert 1928 die „blödsinnige Vernachlässigung technischer Fragen“116 als modische Attitüde bestimmter Vertreter der jüngeren Autorengeneration. Valérys eigenes Projekt gewinnt mit der Distanzierung von Mallarmés Metaphysik des Werkes seine unverwechselbaren Konturen: Indem der Prozeß der literarischen Arbeit für ihn weniger auf ein Produkt, sondern auf die mit seiner Herstellung gegebene Möglichkeit methodischer Selbstbeobachtung zielt, wird der „Arbeit des Schreibens selbst eigene Bedeutung“ (C 6, 179) beigemesssen, und sie rückt von nun an in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit: „Es muß der Begriff Aktivität oder Produktion eingeführt und der alten Erkenntnis – welche abgewertet ist – gleichgestellt werden. Das ,Machen’.“ (C 6, 145) Es erweist sich für Valérys Denken von entscheidender Bedeutung, daß er sein Projekt von einer Ästhetik abgrenzt, die davon ausgeht, die Genese eines Werkes rekonstruieren zu können, und zwar „durch ein direktes und irgendwie lineares Verfahren. So entfernt (sie) sich, ohne es zu ahnen, vom Wahren und vom Wirklichen. Vom Wahren, weil ein Werk sich nur innerhalb eines wohlbestimmten Beobachters oder seiner Meinung betrachten läßt und niemals für sich selbst genommen werden darf. Vom Wirklichen, weil die tatsächlichen Umstände bei der Ausführung dieses Werks sich aus zahllosen inneren Ereignissen oder äußeren Zufällen ergeben, deren Wirkungen sich akkumulieren und im Inhalt des Werkes zusammenfließen [...] In Kunstdingen sind hauptsächlich drei Faktoren zu unterscheiden: ein Schöpfer oder Autor; ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand, also das Werk; ein ,Patient’, Leser, Zuschauer, Zuhörer.“ (C 6, 169)
Erst spät, im Rahmen seiner akademischen Vortragstätigkeit in den dreißiger Jahren, hat Valéry als Forschungsprogramm konzipiert, was zunächst nur auf ihn selbst und seine literarische Arbeit bezogen war. Hinzu tritt eine theoretische Erweiterung, indem er sich von seiner bisherigen Beschränkung „auf mehr oder weniger ,technische’ Probleme der Verskunst“ (W 5, 172) löst.117 Theoretische Anstrengungen, die der Er116 Louis Aragon, Über den Stil. Surrealistisches Trakat,Berlin 1987, 40 117 Zur Bedeutung dieser Vorlesungen für die Literaturwissenschaft vgl. Paul de Man, Modern Poetics in France an Germany, in: Paul de Man, Critical Writings 1953–1978. Edited and introduced by Lindsay Waters, University of Minnesota Press, Minneapolis 1989. „His efforts culminates in the establishment of a
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forschung der menschlichen Sinnesempfindung und damit den Prozeß der Rezeption zum Gegenstand haben, weist er der Ästhetik zu und stellt dieser eine Disziplin gegenüber, die sich auf alles bezieht, was „die Produktion von Werken betrifft. Hierbei würde eine allgemeine Idee von der vollständigen menschlichen Handlung, angefangen bei den psychischen und physiologischen Wurzeln, bis hin zu den Eingriffen in die Materie oder zu den Einwirkungen auf die Individuen, eine Unterteilung dieser zweiten Gruppe ermöglichen, die ich als Poetik oder vielmehr als Poietik bezeichnen würde. Zum einen die Erforschung der Erfindungsgabe und der Komposition, der Rolle des Zufalls, der Reflexion und der Nachahmung sowie der Rolle von Kultur und Umwelt; andererseits die Untersuchung und Analyse der Techniken, Verfahrensweisen, Werkzeuge, Materialien, Mittel und Grundlagen des Handelns.“ (W 6, 238)
Der Anspruch, den Akt der literarischen Produktion im Sinne der Idee einer vollständigen Handlung zu beschreiben und auf diese Weise die Perspektiven einer Produktionsforschung zu entwerfen, steht im Mittelpunkt seiner Bemühungen um eine Poetik, deren Begriff von Technik komplexer ist als jener, den die empirischen Poetiken des 19. Jahrhunderts ihrer Produktionsvorstellung zugrundegelegt hatten. So heißt es programmatisch in seiner 1937 gehaltenen „Antrittsvorlesung zum Kolleg über Poetik am Collège de France“: „Das Wort Poetik erweckt fast nur noch die Vorstellung ärgerlicher und altmodischer Vorschriften. Ich glaube es also in einem Sinn wiedereinführen zu dürfen, der sich an die Etymologie hält, wenn ich es auch nicht als Poietik auszusprechen wage, wie die Physiologie, die von hämatopoietischen oder galactopoietischen Funktionen spricht. Letzlich ist es aber der ganz einfache Begriff des Machens, den ich ausdrücken wollte. Das machen, das poien, mit dem ich mich beschäftigen will, ist das, was sich an einem beliebigen Werk vollenden kann.“ (W 5, 120)118 chair in poetics at the Collège de France, where Valery himself, from 1937– 1945, delivered a series of lectures that, unfortunatly, have not been recorded.“ (153) Peter Bürger hat die Besonderheit des theoretischen Anspruchs der Poetik Valérys hervorgehoben: „Mit der Behauptung, man verfahre wissenschaftlich, ist in den Künstlerprogrammatiken unseres Jahrhunderts oft leichtfertig umgegangen worden; Valéry kann jedoch mit Recht von sich sagen, er habe Poesie und Philosophie mit den Anforderungen des modernen Geistes der Wissenschaft in Übereinstimmung zu bringen versucht.“ Peter Bürger, Prosa der Moderne. Unter Mitarbeit von Christa Bürger, Frankfurt a.M. 1988, 224. 118 Zu Valérys Poetik vgl. Jean Hytier, La poétique de Valéry, Paris 1953; Judith Robinson, The place of literary and artistic creation in Valérys thougt, in: Modern Language Review 56, 1961; Walter Ince, The poetic theory of Paul
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Poietik bezeichnet bei Valéry nicht mehr wie in der traditionellen Poetik die Lehre von den Regeln oder Verfahrensweisen, sondern ein auf das Ganze des Herstellungsprozesses gerichtetes Wissen, das die Bedeutung des schaffenden Subjekts im Zentrum eines komplexen Aktes der Herstellung erfassen will. „Der künstlerische Produktionsprozeß kommt dadurch zustande, daß eine willensmäßige Tätigkeit, die in jeder der Künste aus sehr vielen Komponenten zusammengesetzt ist und langwierige Arbeiten, höchst abstrakte Beobachtungen, sehr präzise Kenntnisse erfordern kann, sich einem inneren Zustand des Daseins zuwendet, der an sich auf keinen fertigen Ausdruck rückführbar ist und sich auf kein lokalisierbares Objekt bezieht, das man durch ein System gleichförmig bestimmter Handlungen ertfassen könnte. Am Ende steht dann das Werk. [...] Einerseits also das Undefinierbare, andererseits eine notwendigerweise begrenzte Tätigkeit: einerseits ein seelischer Zustand [...], andererseits der Akt, das heißt eine wesentliche Determination, denn ein Akt ist eine wunderbare Flucht aus der geschlossenen Welt des Möglichen in die Welt des Faktischen. [...] Im allgemeinen gibt es eine Periode der Ausführung, während welcher ein mehr oder weniger lebhafter Austausch stattfindet zwischen den Ansprüchen, den Kenntnissen, den Mitteln, zwischen allem Mentalen und allen Instrumenten, zwischen allen Komponenten einer Tätigkeit, die ihren Anstoß nicht aus der Welt empfängt, in der die Zwecke der gewöhnlichen Tätigkeit liegen: infolgedessen läßt sie auch keine Voraussicht zu, die das Ziel der auszuführenden Akte derart formulieren könnte, daß es mit Sicherheit zu erreichen wäre.“ (W 5, 139)
Der Akt oder Prozeß des Machens vollzieht sich für Valéry als Vermittlung eines inneren, nicht weiter definierten Zustandes, mit den Kenntnissen, Mitteln und vom Künstler beherrschten Verfahrensweisen im Hinblick auf ein Ziel, das zunächst nicht weiter bestimmt werden kann. Insofern realisiert sich der Vorgang der Herstellung als permanente Konfrontation mit unbekannten Elementen, die sich aus dem ergeben, was die Vermittlung von mentalen und materiellen Elementen in jeder Phase des Prozesses hervorbringt. Das Bewußtsein des Künstlers muß sich allen Elementen der Arbeit mit gleicher Intensität zuwenden. „Il n’y a point de détails dans l’exécution“.119 Angesichts der prinzipiellen Offenheit des Valéry. Inspiration and Technique, Leicester University Press 1961; Helene Harth, Leo Pollmann, Paul Valéry, Frankfurt a. Main 1972; Tzvetan Todorov, Valérys Poetik, in: Paul Valéry. Hg. v. Jürgen Schmidt–Radefeld, Darmstadt 1978. Ralph–Rainer Wuthenow, Paul Valéry zur Einführung, Hamburg 1997. 119 Paul Valéry, Oeuvres II. Hg. v. Jean Hytier, Paris 1960, 84. Zu Valérys Poetik siehe insbesondere seine Aufzeichungen in den ,Cahiers’ unter den Rubriken ,Ego Scriptor’ (C 1, 300–398) und ,Poietik’ (C 6, 97–181).
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Vermittlungsprozesses von geistigen und anderen Elementen ist die Praxis des Schriftstellers zurecht als Erforschung eines Spielraums bezeichnet worden, der eben nur durch den Prozeß des Schreibens selbst ausgelotet werden kann. „In seinem Schreiben erkundet und realisiert er Möglichkeiten des Schreibens, die außerhalb seines Schreibens (noch) nicht faßbar sind.“120 Diese Möglichkeiten beziehen sich für den Schriftsteller zuallererst auf das spezifische Material, mit dem er umgeht: „Der wahre Schriftsteller ist ein Mensch, der seine Wörter nicht findet, also sucht er sie, und während er sie sucht, findet er neue.“ (C 6, 97) Valérys theoretische Neugierde bezieht aber auch die materielle Seite des Schreibprozesses ein, da für ihn der Prozeß der ästhetischen Formung die visuelle Dimension, die Gestaltung der Seite durch die Schriftzeichen gleichermaßen betrifft. „Oftmals habe ich Mallarmé von der Macht der weißen Seite sprechen hören – Zeugungsmacht. Man setzt sich nieder vor der papierenen Leere, und es setzt etwas ein, gelangt auf das Papier – usw.“ (C 6, 155) Das graphische Element des Schreibprozesses korrespondiert aus Valérys Sicht aufs engste mit einem theoretischen Problem, das für ihn gleichermaßen relevant ist und der Frage gilt, welche Bedeutung der Hand als ausführendem Organ im Prozeß künstlerischer Arbeit zukommt, genauer gesagt, was sie wirklich macht, wenn sie über die Seite fährt und schreibt: „Ich habe mich manchmal gewundert, daß es keinen ,Traktat über die Hand’ gibt, keine gründliche Untersuchung der zahllosen Möglichkeiten dieser Wundermaschine, die die feinste Sensibilität mit den ungebundensten Kräften verknüpft. Doch dies wäre eine Untersuchung ohne Grenzen.“ (W 4, 196) Poietik bezeichnet für Valery die Theorie von der Logik des der Dichtkunst eigenen Aktes der Hervorbringung und sie hat das Ensemble der in ihm wirkenden lebendigen Kräfte zum Gegenstand, die erst in Gestalt des Werkes als „Totenmaske der Konzeption“ (Benjamin GS IV/1, 107) zur Ruhe kommen. Wenn Valéry seinen Forschungen den Aspekt des Machens und der schriftstellerischen Technik zugrundelegt und seine Haltung immer wieder auf engste mit der Methodik der modenen Technik und Naturwissenschaften in Verbindung bringt, darf doch kein Mißverständnis darüber aufkommen, er rede auf diese Weise einem falschen Technizismus das Wort. Ihm geht es allein darum, seine Analyse des künstlerischen Herstellungsprozesses so weit wie möglich zu treiben, ohne doch der Illusion zu erliegen, er ließe sich jemals vollständig erklären. Gelänge dies, wäre das ästhetische Objekt nur eines unter anderen, es wäre dann in der Tat vollständig technischer Natur. „Wenn es eine Ästhetik geben könnte, müßten die Künste vor ihr notwendig zunichte wer120 Martin Seel, Über die Arbeit des Schriftstellers (und die Sprache der Philosophie), in: Martin Seel, Ethisch–ästhetische Studien, Frankfurt a.M. 1996, 149.
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den – das heißt vor ihrer Essenz.“ (W 6, 109)121 Es ist das produktive Paradox der Valéryschen Poetik, daß sie im Wissen um die Unmöglichkeit einer vollständigen Erkenntnis des künstlerischen Aktes versucht, das Projekt der theoretischen Aufklärung über die unendliche Geste des Machens bis zum Äußersten zu treiben.
G e s t al t d er F r ag e Im Lichte der besonderen Entwicklung der Poetik in Deutschland wird vielleicht deutlicher, warum die jüngere Literaturwissenschaft nur sehr schwer einen Ansatzpunkt finden konnte, um die Theorie der Produktion wiederaufzunehmen. Sofern die Rolle des Autors angesichts der neuen rezeptionsgeschichtlichen Perspektiven überhaupt von Bedeutung war, galten die Ergebnisse der positivistischen Poetik des 19. Jahrhunderts als ebenso überholt wie die der sie ablösenden geistesgeschichtlichen Formenlehre, die produktionsästhetische Überlegungen ohnehin kaum berücksichtigt hatte. Die wenigen Ansätze aus den zwanziger Jahren, die dem Typus der modernen Autorenpoetik zuzurechnen sind und produktive Anschlüsse hätten ermöglichen können, waren angesichts der weitgehenden Verdrängung durch die konservative Germanistik der Nachkriegszeit selbst zunächst notwendigerweise Gegenstand der Analyse und in hohem Maße kommentierungsbedürftig. Daß sich vor allem aus dem Werk Benjamins auch Perspektiven im Hinblick auf die Geschichte der Poetik ästhetischer Produktion ergeben, zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf seine in der „Einbahnstraße“ unter dem Titel „Ankleben verboten. Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen“ mitgeteilten Ratschläge für die Arbeit des Schriftstellers. Ihren logischen Ausgangspunkt hat Benjamin allerdings in den unmittelbar darauf folgenden „Dreizehn Thesen wider Snobisten“ formuliert: „Der Künstler macht das Werk“. Benjamins wichtigste Thesen lauten: „IV. Meide beliebiges Handwerkszeug. Pedantisches Beharren bei gewissen Papieren, Federn, Tinten ist von Nutzen. Nicht Luxus, aber Fülle dieser Utensilien ist von Nutzen. V. Laß Dir keinen Gedanken inkognito passieren und führe dein Notizheft so streng wie die Behörde das Fremdenregister. VI. Mach Deine Feder spröde gegen die Eingebung und sie wird mit der Kraft des Ma121 Auch Luhmann rückt unter Berufung auf Valérys Feststellung den Aspekt einer Selbstbeschreibung des Kunstsystems, die sich nicht als Beleg für allgemein philosophische Theorien versteht, in den Vordergrund: „Denn wenn es Ästhetik als Philosophie wirklich gäbe, die alles weiß, was die Kunst selbst zu wissen meint, welche Eigenständigkeit hätte die Kunst dann selbst.“ Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, 399.
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ERFAHRUNG DES MACHENS gneten sie an sich ziehen. Je besonnener du mit der Niederschrift eines Einfalls verziehst, desto reifer entfaltet wird er sich Dir ausliefern. Die Rede erobert den Gedanken, aber die Schrift beherrscht ihn. IX Nulla dies sine linea – wohl aber Wochen. XIII. Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption.“ (GS IV/I, 107)
Es besteht wenig Anlaß, daran zu zweifeln, daß Benjamin damit auch die eigene schriftstellerische Arbeit charakterisiert, aber wichtiger ist, daß seine Thesen einen strengen Begriff von literarischer Technik entwikkeln, der nichts mehr mit der positivistischen Sammlung von gattungsspezifischen Verfahrensweisen zu tun hat, sondern sich auf den komplexen Vorgang des Schreibprozesses bezieht, indem er dessen Materialität ebenso zur Sprache bringt wie ihm eigene Logik und Psychologie. Benjamins Anliegen verdeutlicht gleichermaßen die Form seiner Darstellung. Die Folge der Thesen stellt den Schreibprozeß als Geschehen dar, das eine logische Folge von Akten strukturiert. Sie beginnt, so die erste These, mit dem Entschluß des Autors, ein Werk zu schreiben, und endet mit der Existenz des Werkes, das als Totenmaske der Konzeption erscheint. Von Interesse sind für Benjamin wie für Valéry die lebendigen Kräfte des Werkprozesses, deren Wirkungsstätte das Innere des Autors ist und die nur er genau kennt. Mit dem abgeschlossenen Werk ändert sich die Perspektive, die Leser blicken auf die Totenmaske der Konzeption, die sie zum Gegenstand ihrer Interpretation machen, aber nur der Autor kennt die Genese des Werkes, seine „Zustände“ im Prozeß des Machens, der mit der Fertigstellung in der Form erstarrt, und es, wenn man so will, damit in ein neues Leben entläßt, mit dem der Autor nichts mehr zu tun hat. Maurice Blanchot hat auf die Erfahrung aufmerksam gemacht, daß für einen Autor das Werk selbst durchaus nicht die größte Rolle spielen muß: „Was den Künstler anzieht, den Schriftsteller bewegt ist nicht unmittelbar das Werk, sondern die Suche nach ihm, die Bewegung, die zu ihm hinführt, die Annäherung an etwas, das erst das Werk ermöglicht.“122 Benjamins Begriff der Technik bezieht sich auf die Logik des literarischen Poduktionsprozesses insgesamt, der der Sache nach jede mögliche Form oder Gattung unterworfen ist. Diese können in ihren einzelnen Erscheinungsformen unberücksichtigt bleiben, da sie innerhalb der Logik des Vollzugs immer nur den Ort der bewußten Anwendung bestimmter Verfahrensweisen bezeichnen. Das Bauprinzip einer Kurzgeschichte ist ebenso Element eines notwendigen Wissens wie die Strophenform des Sonetts. Als solches gehen sie in den Produktionsprozeß ein, aber nur als Elemente unter anderen.
122 Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen, 271.
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Die moderne Autorenpoetik, nicht die wissenschaftlich-akademische Lehre von der Dichtkunst hat die entscheidenden systematischen Fragestellungen der literarischen Produktionsästhetik hervorgebracht, und entsprechend findet der Versuch einer Rekonstruktion ihrer Geschichte hier ihren hermeneutischen Ausgangspunkt. Valérys Poietik, die in Benjamins Werk tiefe Spuren hinterlassen hat, ist die Frage nach der Logik des der Dichtkunst eigenen Aktes der Hervorbringung zu verdanken. Aber auch Diltheys methodische Perspektive, daß die Frage, wie in bestimmten Phasen der deutschen Literaturgeschichte über den Entstehungsprozeß von Dichtung gedacht worden ist, an jene zu richten ist, die darüber aufgrund ihrer professionellen Erfahrung Auskunft geben können und dies auch in Form von Selbstzeugnissen getan haben, sollte nicht gering geschätzt werden. Was diese im Hinblick auf den Prozeß der literarischen Produktion aussagen, versuchen die folgenden Studien näher zu untersuchen. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem Zeitraum zwischen 1770 und 1800. Die Beschränkung auf diese Phase der deutschen Literatur und damit auf ein besonderes Kapitel aus der Geschichte der modernen Poetik läßt sich vor allem damit begründen, daß es jener Zeitraum ist, in der der Herstellungsprozeß erstmals zum theoretischen Problem wird, nachdem die Regelpoetik ihre normative Verbindlichkeit eingebüßt hat und die Genieästhetik sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ohnehin eher für Zwecke der Popularsierung eines veränderten Selbstbildes des Schriftstellers geeignet war als reale Schaffensprobleme zu erfassen. Die komplexe Überlagerung mehrerer Diskurse der literarischen Produktion in dieser Epoche macht das Gebiet der Poetik zu einem höchst unübersichtlichen Gebiet unterschiedlichster intellektueller Positionen. Peter Szondi hat zu Beginn seiner Vorlesung „Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit“ darauf hingewiesen, daß „beide Seiten, die philosophische und die technische, im Grunde nicht auseinandergerissen werden dürfen. Lange bildeten sie ein Ganzes; die Abstraktion von der Praxis hatte zur Aufgabe, in die Praxis einzuführen“123. Diese Einheit zerfällt allerdings in dem Maße, wie die normative Poetik der aristotelischen Tradition seit dem Sturm und Drang in eine Krise gerät und spätestens seit der Klassik als anachronistisch gilt. Als Theorie der Dichtung geht die Poetik in die idealistische Ästhetik ein, während die praktische Linie der Poetik an Bedeutung verliert. Mit der Autonomie der Kunst, ihrer philosophischen Begründung durch die idealistische Ästhetik und ihrer Konzentration auf die Besonderheit des Kunstwerks werden die traditionellen Fragen der Praxis weitgehend verdrängt, und dies um so mehr, 123 Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 2. Hg. v. Senta Metz u. Hans–Hagen Hildebrandt, Frankfurt a.M. 1974, 13.
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je weniger sich die Dichter in der Lage sehen, sie in neuer Gestalt zu formulieren. Für die ästhetische Reflexion bringt diese Entwicklung überaus problematische Konsequenzen mit sich, indem, wie Niklas Luhmann verdeutlicht hat, die Kunst zwar auf der Basis eines eigenen Systems Autonomie verlangt, damit aber „die moderne Selbstbeschreibung [...] bei der strukturellen und nicht bei der operativen Ebene der Herstellung von Einheit (ansetzt), das genügt vollauf, um das Thema für Abgrenzungen nach außen, Wissenschaft, Moral, Religion, Politik betreffend, durchzusetzen. Die Autonomie ist damit philosophisch etabliert – allerdings so, daß ihre operativen Grundlagen nicht wirklich einsichtig gemacht sind.“124 Der nicht zu bezweifelnde Erkenntnisfortschritt, daß die ästhetische Qualität eines Kunstwerks nicht an die Einhaltung von Regeln gebunden ist, geht in der Ästhetik des Idealismus mit einer grundsätzlichen Geringschätzung der mit der künstlerischen Arbeit verbundenen Probleme einher: „Allein wenn der Philosoph auch am ehesten das Unbegreifliche der Kunst darzustellen, das Absolute in ihr zu erkennen fähig ist: wird er ebenso geschickt sein, das Begreifliche in ihr zu begreifen und durch Gesetze zu bestimmen? Ich meine die technische Seite der Kunst: wird sich die Philosophie zu dem empirischen der Ausführung und der Mittel und Bedingungen der selben herablassen können? [...] Wenn man sich auch darauf berufen wollte, daß das Technische der Kunst, wodurch sie den Schein der Wahrheit erhält, was also dem Philosophen anheimfallen könnte, so ist doch diese Wahrheit bloß empirisch; diejenige, welche der Philosoph in ihr erkennen und darstellen soll, ist höherer Art und mit der absoluten Schönheit eins und dasselbe, die Wahrheit der Ideen.“125
Wahrheit der Idee versus Wahrheit des bloß Empirischen – im Zeichen dieses von Schelling konstruierten Gegensatzes bleibt das, was die Dichter über die Erfahrungen ihres Metiers zu sagen haben, zweitrangig, Während bei Schelling zumindest die Gestalt der Frage noch auf das Bewußtsein einer mit der Ausführung sich möglicherweise verbindenden Problematik hinweist, verschwindet sie vollends im Begriff der genialen Kunst, den Hegel seiner Ästhetik zugrundelegt: „Der echte Genius ist seit jeher mit den Außenseiten der technischen Ausführung leicht zustande gekommen und hat auch selbst das ärmste und scheinbar ungefügigste Material so weit bezwungen, daß es die inneren Gestalten der Phantasie in sich aufzunehmen und darzustellen genötigt wurde [...]. Beide Seiten, 124 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, 453. 125 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, Darmstadt 1974, 389.
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die innere Produktion und deren Realisierung, gehen dem Begriff der Kunst gemäß Hand in Hand.“126 Das Ideal im Inneren des Künstlers schließt die Leichtigkeit seiner Realisierung im Werk ein. „Was in seiner Phantasie lebt, kommt ihm dadurch gleichsam in die Finger, wie es uns in den Mund kommt, herauszusagen, was wir denken.“127 Die idealistische Ästhetik tilgt die Spannung zwischen Idee und Werk, läßt die Bedeutung des zwischen beiden liegenden Arbeitsprozesses verschwinden, setzt die mit diesem einhergehenden materialen Vermittlungen als im Begriff der Kunst bereits enthaltene voraus. Schellings und Hegels Theorien des Geistes begründen eine Ästhetik, aber nur um den Preis, daß „die praktische Umsetzbarkeit dieser ambitionierten Problemlösung unklar (bleibt), und damit fehlt es an auch an überzeugenden Vorschlägen für die künstlerische Praxis.“128 Doch bereits in der Schwellenphase dieser theoretischen Entwicklung um 1800 waren durchaus nicht alle Autoren bereit, ihre Entmündigung durch die spekulative Philosophie hinzunehmen, und dies umso weniger, als ihnen nur allzu bewußt war, daß deren Konstruktionen nur noch wenig mit dem zu tun hatten, was sie in der täglichen literarischen Arbeit beschäftigte und bedrängte. Die Einsicht, daß es für die Schriftsteller mit dem Ende der Regelpoetik auch einen Verlust zu beklagen gelte, für den die Philosophie der Kunst zunächst keine Entschädigung biete, hat Jean Paul seinem Projekt einer elementaren „Vorschule der Ästhetik“ zugrundegelegt: „Allein wenn man bei den englischen und französischen Ästhetikern, z.B. Home, Beattie, Fontenelle, Voltaire, wenigstens etwas, obgleich auf Kosten des Philosophen, gewinnt, nämlich einige technische Kallipädie: so erbeutet bei den neuen transzendenten Ästhetikern der Philosoph nicht mehr als der Künstler, d.h. ein halbes nichts.“129 Dennoch hat Jean Paul nicht auf eine Ästhetik verzichten wollen, nur daß sie neben den theoretischen Ansprüchen der Philosophie auch den praktischen der Dichtkunst zu genügen habe und dergestalt nur von jemandem zu erwarten sei, der in beiden Disziplinen gleichermaßen zuhause sei: „Die rechte Ästhetik wird daher nur einst von einem, der Dichter und Philosoph zugleich zu sein vermag, geschrieben werden; es wird eine angewandte für den Philosophen geben, und eine angewandtere 126 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke 13, Frankfurt a.M. 1970, 370. 127 A.a.o., 370. 128 Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems, Bern 1994, 20. Luhmann verweist in diesem Zusammenhang völlig zurecht darauf, daß die Dimension künstlerischer Praxis im Sinne der Objektivierung realer Produktionserfahrungen erst mit der „Kunstlehre“ August Wilhelm Schlegels thematisch wird. Vgl.dazu Kapitel VII der vorliegenden Arbeit. 129 Jean Paul, Werke, Bd. 9, Vorschule des Ästhetik. Hg. v. Norbert Miller, München/Wien 1975, 22.
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für den Künstler.“130 Als Beitrag zur letzteren kann Jean Pauls eigenes Werk gerechnet werden. Wie kein anderer Autor seiner Zeit hat er den Arbeitscharakter des Schreibens betont und, die Möglichkeiten auktorialen Erzählens exzessiv ausschöpfend, in den „Vorreden“, Anmerkungen und Abschweifungen seines Erzählwerks zum Thema gemacht. Wenn er darin „die Gegenwart seines Schreibens permanent dem Leser vor Augen führt, so geschieht dies auch und gerade, um das Schreiben als materiellen Produktionsakt zu kennzeichnen“.131 Jean Pauls antiidealistischer Impuls ist darauf gerichtet, nicht nur die fortwährende Reflexion des Autors auf die Möglichkeiten inhaltlicher Gestaltung und sprachlicher Variation als mühevolle intellektuelle Anstrengung auszuweisen, sondern gleichermaßen dem Publikum eine „Vorstellung vom Schreiben als körperlicher Schwerarbeit“132 vor Augen zu führen. Um 1800 entsteht eine geistespolitische Konstellation, in der es zu einer Überlagerung des spezifisch schriftstellerischen Diskurses durch den ästhetischen der Philosophie kommt. So gibt es gute Gründe, daß sich die bisherige literaturwissenschaftliche Forschung vorwiegend damit beschäftigt hat, die Entwicklungsphasen der Philosophie der Kunst zu rekonstruieren, wenn es ihr darum ging, ihren Gegenstand auf der Höhe des durch die idealistische Philosophie erreichten Begriffs der Kunst zu erörtern. Aber was ist mit der von Jean Paul geforderten „angewandteren Ästhetik“ für Künstler? Wäre es nicht denkbar, daß die auf die Positionen der idealistischen Ästhetik gerichtete Geschichtsschreibung vorschnell deren Abwertung der dichterischen Praxis übernommen hat und auf diese Weise eine genaue Sichtung von Zeugnissen unterblieben ist, in denen das Problem der literarischen Produktion in veränderter Form reflektiert wird? Die Vermutung, die Schriftsteller der Epoche könnten im Sinne von Jean Paul schon aus Gründen berufspraktischer Notwendigkeit ein Interesse daran besessen haben, durch eigene Mittel zu einem neuen Produktionswissen zu gelangen, findet zunächst eine gewisse Bestätigung durch die Beobachtung, daß jenseits des im Lichte der Öffentlichkeit und in Gestalt von Publikationen geführten „herrschenden“ Kunstdiskurses, der sich der neuen Lösungen sicher wähnt, die bedeutendsten
130 A.a.o., 24. 131 Burkhardt Lindner, Jean Paul. Scheiternde Aufklärung und Autorrolle, Darmstadt 1976, 163. Zu Jean Pauls expliziter Auseinandersetzung mit den Schriften des transzendentalen Idealismus siehe: Götz Müller, Jean Pauls Ästhetik im Kontext des Frühromantik und des deutschen Idealimus, in: Früher Idealimus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795– 1805). Hg. v. Walter Jaeschke u. Helmut Holzey, Hamburg 1990. 132 Burkhardt Lindner, Scheiternde Aufklärung und Autorrolle, 164. Vgl. auch die an Lindners Untersuchung anknüpfende neue Studie von Andreas Erb, Schreib–Arbeit. Jean Pauls Erzählen als Inszenierung ‚freier Autorschaft’, Wiesbaden 1996.
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Schriftsteller an Fragen festhalten, die den ebenfalls nach neuen Lösungen verlangenden Problemen der konkreten literarischen Produktion gelten. „Verzeihen Sie“, schreibt Goethe an Körner, „daß ich gewissermaßen nur vom Technischen spreche, dies ist aber, wie Sie wissen unter Handwerksburschen der Brauch, denn das sich das Werk durch Gehalt und Form empfehle, wird [...] vorausgesetzt.“ (B 3, 182) Auch wenn vorläufig ungeklärt bleibt, was Goethe in diesem Zusammenhang unter dem Begriff Technik versteht, läßt seine Bemerkung doch erkennen, in welchem Maße Fragen der Produktion sein Bewußtsein als Künstler bestimmen. Auf welchem Wege er als Naturforscher wie als Künstler zu einem neuen Wissen gelangen will, das die Praxis ebenso zuverlässig fundieren kann wie zuvor die Regeln der Anweisungspoetik, hat er in einem Brief an Zelter vom 4.8.1803 formuliert: „Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen.“ (B 2, 454) Goethes „Faust“ ist als exemplarische Figur einer neuen Haltung des Schreibens gedeutet worden, die „auf keine externe Diskurskontrolle“133 mehr hört. Jedenfalls erfüllt ein Schreiber, „der um den Satz ich schreibe herumschreibt, den modernen Begriff von Autorschaft, [da] dessen Handschreiben die Tat seiner eigenen Selbstgegenwart ist“134. Goethes Werk enthält eine Reihe von Hinweisen auf eine neue Poetik, die, nach dem Ende des Geltungsanspruchs der aristotelischen Poetik und neben der spekulativen Ästhetik, untergründig ihr Eigenrecht anmeldet. Die mit ihr verbundenen kunsttheoretischen Reflexionen, um die es im folgenden gehen soll, lassen sich in aller Vorläufigkeit als Ansätze zu einer Poetik des literarischen Schreibens bezeichnen. Da man aber „des Schreibens als eines Untersuchungsgegenstandes nicht habhaft werden kann, man betreibe es denn, kann die Theorie des Schreibens nur Reflexion auf das Schreiben im Vollzug sein.“135 In diesem Sinne soll die von Dieter Henrich aufgeworfene „Frage der Präludien der Moderne im 18. Jahrhundert“136 nicht nur für die Theorie der Dichtung, sondern auch für die Lehre von der Dichtkunst geltend gemacht werden. Zu diesem Zweck ist es 133 Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1987 (2. erw. Aufl.), 19. 134 A.a.o., 21. 135 Klaus Weimar, Enzyklopädie der Literaturwissenschaft. 2. Aufl., Tübingen/Basel 1993, 123. 136 Poetik und Hermeneutik II. Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Hg. v. Wolfgang Iser, München 1966, 419. Unter Berücksichtigung der traditionellen Vorstellungen des dichterischen Aktes folgt den theoretischen Implikationen des im 18. Jahrhundert formulierten Erkenntnisanspruchs von Dichtung, den bestimmte Positionen der modernen Poetik und Philosophie im Sinne eines in den Werken sich offenbarenden Wahrheitsgeschehens weiterführen, die Studie von Axel Gellhaus, Enthusiasmos und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung, München 1995.
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unerläßlich, zunächst den historischen Ausgangspunkt der Ansätze zu einer neuen Poetik zu bestimmen und jene Traditionsbestände zu konturieren, die in den Jahrzehnten nach 1770 gewissermaßen umgeschmolzen werden. Bereits ein flüchtiger Blick auf die Geschichte der Poetik zeigt, daß die theoretische Besonderheit der Vorstellungen über literarische Produktion, und darin unterscheidet sie sich maßgeblich von anderen Künsten, nicht zu trennen ist von bestimmten, rationaler Begründung entzogenen Vorstellungen, die im Hintergrund wirken. Das in den Poetiken fixierte Regelwerk zur Herstellung von Werken korrespondiert mit der Annahme spezifischer Voraussetzungen metaphysischer Art, die dem Schaffensprozeß zugrundegelegt werden. Ob es sich um die Gunst der Musen, göttlichen Enthusiasmus oder schöpferische Genialität handelt, in den überlieferten poetologischen Konzeptionen erscheint das zunächst im Zeichen des Begriffs der Technik entwickelte Wissen mit einer Sphäre verbunden, die dem Bewußtsein nicht zugänglich ist und als unverfügbare Gunst einer höheren Instanz anerkannt wird. Wenn also danach gefragt wird, wie Poetik nach dem Ende des normativen Regelverständnisses und unter den Bedingungen der philosophischen Ästhetik als Theorie der Dichtkunst begründet wird, erscheint es sinnvoll, zunächst die historische Entwicklung der Konstellation der beiden produktionstheoretischen Paradigma von Wissen und Enthusiasmus oder, moderner gesprochen, von bewußten und unbewußten Elementen des literarischen Schaffensprozesses zu skizzieren, um die Lage deutlich zu machen, in der sich die Schriftsteller am Ende des 18. Jahrhunderts im Hinblick auf die Formulierung eines produktionstheoretisch fundierten Selbstbildes befanden, das den Erfahrungen der eigenen Arbeit entsprechen sollte. Insofern die historische Entwicklung dieses Diskurses bis zur endgültigen Durchsetzung der Genieästhetik im Zeichen der Vorstellung eines bewußten Machens von Literatur steht, ohne daß hinreichend deutlich wäre, was jeweils der Sache nach darunter verstanden werden kann, ist die Einsicht nicht von der Hand zu weisen, daß eine „Durchquerung der Geschichte“137, die Voraussetzung bildet, „wenn man damit anfängt über die offensichtliche Polysemie von techne nachzudenken, um den einfachen Kern bloßzulegen, der sich hinter der Vielheit verbirgt.“138 Der Versuch, den Entstehungssprozeß einer neuen an den realen Erfahrungen schriftstellerischer Produktion orientierten Poetik zu beschreiben, läßt sich von der Frage leiten, ob und unter welchen Bedingungen es dazu kommt, daß Autoren überhaupt die Position einer Selbstbeobachtung einnehmen und somit auf empirischem Weg zu Erkenntnissen über den literarischen Produktionsprozeß zu gelangen hoffen. Der Künstler 137 Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, 37. 138 A.a.o., 37.
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EINLEITUNG
„selbst kann nicht (oder nur mit unerträglichen Vereinfachungen) beobachtet werden“139, die Untersuchung findet deshalb ihr Material in den Selbstzeugnissen von Schreiberfahrungen, in Dokumenten, in denen Schriftsteller etwas von den realen Erfahrungen des Schaffensprozesses überliefern und auf diese Weise zur Ausbildung einer immanten Poetik beitragen, die sich von der Tradition des metaphysisch geprägten Dichtungsverständnisses freimacht, das den Vorgang der Werkentstehung wesentlich durch exogene Faktoren bestimmt sieht: „Wer vom Blitz getroffen ist – und sei es nur vom Blitz der Inspiration – kann darüber nicht auch noch Protokoll führen bzw. glaubt sicher es nicht zu können, ohne seiner Präsumtion widersprechen zu müssen. Die Mitteilung von Selbstbeobachtungen setzt mithin voraus, daß überhaupt die Beobachterstellung gleichzeitig mit der Produktionsstellung eingenommen werden kann, eine Voraussetzung ästhetischer Versachlichung, die mit der Annahme inspirierender Faktoren von der Muse bis zum Narkotikum nicht vereinbar ist. Das bloße Vorhandensein von Texten, die ihr Autor als Selbstbeobachtung klassifiziert wissen möchte, unabhängig von der Frage ihrer Glaubwürdigkeit und Genauigkeit, ist ja schon ein Faktum immanenter Poetik, bezogen auf ein Gesamtwerk.“140
Daß die von Blumenberg angesprochenen Voraussetzungen einer neuen Poetik erst in den ästhetischen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts geschaffen werden konnten, ist nicht zu trennen von einer komplexen Entwicklung ästhetischen Denkens, in deren Verlauf die seit der Antike wirksamen mythischen Bilder literarischer Produktivität an Bedeutung verlieren und der Schriftsteller sein neues Selbstbewußtsein als Künstler findet. Die Wiederkehr des Autors als aktuelles Problem der Literaturwissenschaft aufzunehmen, bedeutet im Kontext dieser Studie, 139 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, 123. Luhmann macht auf das Problem aufmerksam, wenn Künstler sich, etwa als Autor, in das eigene Werk einbringen: „Damit entsteht ein Problem der Authentizität – nicht zuletzt auch das Problem der zeitlichen Authentizität, daß der Künstler sich als wiederholt beobachtbar zur Verfügung stellt, obwohl er immer schon wieder ein anderer ist. [...] Jedenfalls erzeugt das re–entry der Erzeugungsoperation in das erzeugte Werk die Paradoxie, daß das authentische, weil unmittelbare Handeln als inauthentisch beobachtet wird – und dies durch den Betrachter und durch den Künstler, der es darauf anlegt, selbst.“ (123). 140 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 140. Im gleichen Sinne bemerkt Luhmann: „Aller Umgang mit Kunst ist zunächst ein unterscheidendes Beobachten, aber und gerade während des Prozesses, in dem die Herstellung des Kunstwerks sich vollzieht. Der Künstler ist daran als Beobachter beteiligt.“ Niklas Luhmann, Weltkunst, in: Niklas Luhmann, Ferderick D. Bunsen, Dirk Baecker, Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, 21.
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maßgebliche Elemente jenes Prozesses zu rekonstruieren, in der der „Veränderung des Selbstbildes der Literaturproduzenten“141 mit der Entwicklung eines spezifisches Wissens über das Metier des literarischen Schreibens einhergeht. Angelegt als Beitrag zur Frühgeschichte der modernen Poetik, teilen die folgenden Überlegungen die Einschätzung, daß letzlich nicht nur die Werke der Literatur, sondern auch das Wissen um den Modus ihrer Hervorbringung sich einer abschließenden wissenschaftlichen Deduktion, sei es psychologischer, linguistischer oder funktionalistischer Art, grundsätzlich entzieht, und nur genetisch in den jeweils dokumentierten historisch-spezifischen Ausprägungen untersucht werden kann. Wie immer man die Aktualität gegenwärtiger Anknüpfungen an die theoretische Problematik ästhetischer Produktion beurteilen mag – für sie gilt wie für die Literatur überhaupt, daß „sie nur aus ihrer besonderen, ja einmaligen Geschichte und Vorgeschichte verstehbar [ist]: genauer, aus dem Spannungsverhältnis zwischen ihrer Geschichte und Vorgeschichte, die sich auf dem Hintergrund differenter, in manchem entgegengesetzter Denkweisen vollziehen.“142 Noch ein Wort zu dem möglichen Einwand, in Unternehmungen dieser Art feiere eine überholte Geschichtsphilosophie der Kunst fröhliche Urständ. Zweifellos ist die Vorstellung eines allgemeinen künstlerischen Fortschritts naiv. „Beckett ist nicht avancierter als Franz Kafka, sowenig wie Dantes ‚Göttliche Komödie’ die ‚Äneis’ des Vergil hinter sich gelassen hat.“143 Geschichtsphilosphie geht immer aufs Ganze und der Bezug auf eine falsche Allgemeinheit macht ihre Aussagen über den Verlauf des historischen Prozesses fragwürdig. Wohl aber gibt es in Kunst und Literatur Fortschritte im Besonderen, etwa in der Beschaffenheit und Beherrschung ihrer Mittel. So wie sich diese Evolution im Roman als fortschreitende „sprachliche Erorberung der durchschnittlichen sozialen und psychologischen Erfahrung im modernen Weltalltag darstellt“144, lässt sich in der Poetik ein Fortschritt der Erkenntnis im Hinblick auf die Erfahrung des Machens beschreiben.
141 Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1989, 286 142 Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen, 99. 143 Gustav Seibt, Damit wir wissen, was wir erlebt haben, Berlin 1998, 15. 144 A.a.o., 14.
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I. D E R A N T I K E G ED A N K E E I N E R „KÖNIGLICHEN TECHNE“ K u l t d e r M u se n Die Frage, auf welche Weise Dichtung entsteht, die Bemühung, sich über die Frage ihres Herstellungsprozesses Aufklärung zu verschaffen, markiert bereits einen Erkenntnisfortschritt in der Geschichte des Umgangs mit sprachlichen Werken, an deren Beginn nichts fragloser war als der Modus ihrer Hervorbringung. Im Kontext elementarer Formen religiöser Praxis, der auch die Poesie zunächst unterworfen ist, erscheint es undenkbar, daß der Mensch eigenständiger Schöpfer seiner poetischen Werke sein könne. Waren in der Vorstellungswelt frühgriechischer Mythologie zunächst Priester und Seher die einzigen Instanzen, deren sich die Götter bedienten, um ihren Willen kundzutun, so wurden die festen Formen des religiösen Inspirationsglaubens innerhalb des appolinischen und dionysischen Kultus auf die Dichter übertragen, denen nun ebenfalls die Fähigkeit zugeschrieben wurde, Künder der göttlichen Wahrheit zu sein. Dazu bedurfte es freilich einer besonderen Eingebung, einer die eigene Individualität tilgenden Zustands der Entrückung, den die Griechen als Enthusiasmus bezeichnet haben, was wörtlich ,Besessenheit durch einen Gott’ bedeutet und seine früheste Formulierung in einem Fragment des Demokrit gefunden hat: „Was ein Dichter, des Gottes voll, in heiliger Begeisterung niederschreibt, das ist sicherlich schön.“1 Dieser Enthusiasmus als ein rauschhafter, das Bewußtsein des Dichters auslöschender Zustand ist die notwendige Bedingung einer dichterischen Äußerung als Verkündigung göttlichen Wissens. Der dichterische Akt wird nicht als Hervorbringung eines sprachlichen Gebildes, sondern gebunden an die Form der mündlichen Äußerung und in Gestalt des ekstatischen Sprechens, innerhalb eines kultischen Festes als Ereignis gefeiert, in dem ein Gott sich offenbart. Folglich kann der Dichter nur Medium, niemals aber in dieser der Präsenz des Heiligen vorbehaltenen Sphäre eigenständig schaffendes Subjekt sein. Mit Blick auf die frühsten Quellen dieses Ver1
Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, Übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968, 465.
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ständnisses von Dichtkunst bei den Griechen resümiert Walter Kranz: „Der Gedanke, daß der Mensch mitnichten der Schöpfer des Werkes ist, das da gesungen oder gesprochen oder aufgeschrieben wird, sondern daß er selbst, das Ich als solches, entweder scheinbar gar nicht vorhanden oder nur Empfangender oder nur Instrument einer höheren Gewalt ist – dieser Gedanke kann als der zentrale der ältesten hellenischen Literatur bezeichnet werden.“2 Prägend für die Tradition der frühgriechischen Poesie wird die Vorstellung, der Dichter habe sein Werk als göttliches Geschenk zu betrachten, das er den Musen verdankt. Ihre ursprüngliche Aufgabe, das KitharaSpiel ihres Herrn, Apollon, im Olymp mit Gesängen zu begleiten, die die Unsterblichkeit und Größe der Götter rühmen, verändert sich in dem Maße, wie die archaische Befragung des göttlichen Willens durch Orakel sich mit einer neuen an die Gestalt Apollons gebundenen Inspirationsmantik verbindet. Ihr Zentrum war das Apollon-Heiligtum in Delphi, wo die Pythia als Orakel befragt werden konnte, deren ekstatisch hervorgebrachten Laute Auskunft über den Willen ihres Gottes zu geben versprach. Auch die Musen hatten ihre heiligen Orte, etwa am Berg Helikon oder an der Südseite des Apollon-Tempels in Delphi. Ursprünglich waren diese Orte von den Quellnymphen bewohnt, die die Musen freundlich aufgenommen haben oder mit ihnen verschmolzen sein sollen. Jedenfalls bleibt die Besonderheit dieser Orte wirksam in der antiken Vorstellung der Dichterweihe3, derzufolge die Dichter aus dem Musenquell tränken wie die Pythia aus der heiligen Quelle Kassotis, um inspiriert sprechen zu können. Wie das Verhältnis zwischen den Musen und dem Dichter, die besondere Weise ihrer Zuwendung, im einzelnen letztlich verstanden wurde, ist nicht ausreichend geklärt. Dodds vermutet, die ursprüngliche Beziehung habe darin bestanden, daß der Dichter nicht darum bittet, von einer Muse besessen zu werden, sondern sich nur als ihren Dolmetsch versteht. „Epische Tradition stellt den Dichter dar als jemanden, der sein übermenschliches Wissen von den Musen herleitet, aber nicht als jemanden, der in Ekstase gerät oder von ihnen besessen ist.“4 Neben der dem 2
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Walter Kranz, Das Verhältnis des Schöpfers zu seinem Werk in der althellenischen Literatur, in: Walter Kranz, Studien zur antiken Literatur und ihrem Fortwirken. Kleine Schriften. Hg. v. Ernst Vogt, Heidelberg 1967, 8/9. „Gemeinsam mit der Vorstellung von der Trankinspiration werden auch die anderen Formen, die der apollinische und dionysische Inspirationsglaube ausgebildet hatte, zur Schilderung der Beziehungen zwischen dem Dichter und dem göttlichen Patron übernommen.“ Hans Lewy, Sobria Ebrietas. Untersuchungen zur Geschichte der antiken Mystik, Gießen 1929, 46. Zur Bedeutung der Dichterweihe und ihrer Symbolik vgl. Kurt Latte, Hesiods Dichterweihe, in: Antike und Abendland 2, 1946; Athanassios Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik. Untersuchungen zu Heiodos, Kallimachos, Properz und Ennius, Heidelberg 1965. Eric Robbertson Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970, 53.
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Orakelgott Apollon gewidmeten rituellen Praxis entwickelte sich innerhalb der für die frühe griechische Kultur charakteristischen musischen Feste eine spezifische Verehrung für die Musen, allerdings in einer Form, die sich grundsätzlich von allen anderen Kulten unterscheidet: „In der Gestalt der Musen begegnet uns eine höchst eigentümliche und weltgeschichtliche neue Form der Götterverehrung: die Götterverehrung ohne Kult.“5 Die Dichtung selbst ist der Kult, ihre Realisierung als feierlicher Vortrag dessen rituelle Praxis. Unter religionsgeschichtlichen Aspekten liegt die Bedeutung der antiken Dichter darin, daß sie durch ihre Darbietungen den Musenkult verbreiteten und, dies unterscheidet die frühgriechischen Glaubensvorstellungen von allen anderen Religionen, in ihrer Eigenschaft als Sendboten der Musen und des Apollon den Göttern jene individualisierten Erscheinungsformen gaben, die der späteren religiösen Verehrung der einzelnen Gottheiten historisch zugrundeliegt. In Griechenland hat nicht die Vielfalt der volkstümlichen Kulte, „sondern die Dichtung dem, was wir Religion zu nennen pflegen, seine Gestalt gegeben.“6 Liegt die exponierte Rolle der Dichter für die Götter in ihrer Funktion als Medium der Vermittlung göttlicher Weisungen, so begründet die ihnen von jenen gewährte Gunst ihre besondere Stellung in der sozialen Gemeinschaft. Wie die authentische Form des enthusiastischen Sprechens in den frühesten Epochen der griechischen Kultur ausgesehen hat, muß aufgrund der Quellenlage im Dunkeln bleiben. Eric A. Havelock hat jedoch in seinem Beitrag „Psychology of the Poetic Performance“ versucht, eine Vorstellung der mit ihr verbundenen Intensität körperlicher und sprachlicher Ausdrucksformen zu entwickeln. Er deutet die poetische Darbietung unter funktionalem Aspekt als identitätsstiftenden Belehrungsakt hypnotischer Art und sieht die von ihm ausgehende Kraft als „part of an unconscious design to preserve und transmit a tradition and a way of life“7. Zudem erweisen anthropologische Untersuchungen, daß in einer Reihe von ethnischen Gruppen eine enge Verwandtschaft zwischen dem Seher, Schamanen oder Propheten, der im lateinischen Sprachraum auch als vates bezeichnet wird, und dem Dichter besteht: „Überall ist auch die Gabe der Poesie untrennbar mit göttlicher Inspiration verbunden [...] Unveränderlich ist auch, daß der Dichter-Seher seine Inspiration der Berührung mit übernatürlichen Mächten zuschreibt. Sein Gemütszustand 5
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Georg Picht, Kunst und Mythos, Stuttgart 1987, 557. Zum Kult der Musen: Walter F. Otto, Die Musen. Düsseldorf 1955; Elke Bermeyer, Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationslehre, München 1968; Maximilian Meyer, Musai, in: Real–Enzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft. Hg. v. Pauly, Wissowa, Kroll, (Neue Bearbeitung) 31. Halbband, Stuttgart 1933. Georg Picht, Kunst und Mythos, 564. Eric A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge/London 1963, 151.
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ist exaltiert und abweichend von seiner normalen Existenz.“8 Die Tanz, Zauberworte, Musik und Gebärde umfassenden Handlungen des Schamanen enthalten Formen einer elementaren Poesie. Das Selbstverständnis der Besessenheit durch einen Gott, das die neben den Priestern sich bildende Gruppe der Dichter auszeichnet, dokumentiert umgekehrt die Nähe der Poesie zur Institution des Schamanentums. Solange die sprachlichen Realisationsformen der Praxis eines religiösen Bewußtseins angehören, bleiben Dichtung und Poesie Begriffe der Annäherung an einen letztlich nicht präzise beschreibbaren Vorgang des Ausdrucks, der wesentlich Ereignischarakter trägt. Erst mit den Schilderungen Homers gewinnt er ein Maß an Anschaulichkeit, das es erlaubt, sowohl das Subjekt dieser spezifischen Art des Sprechens als auch die Besonderheit seiner Hervorbringung genauer in den Blick zu nehmen. Die Beschreibung des Schildes von Achill in der „Ilias“ enthält eine Szene, in der die Praxis des ,Aoidos’, des frühgriechischen Sängers, dargestellt wird. Als Empfänger und Vermittler der göttlichen Inspiration vereint er in seiner Darbietung Gesang, Tanz und musikalische Begleitung. Die Art seiner Vortrags wird durch eine Besonderheit bestimmt, die sich aus der spezifischen Struktur der ihm zur Verfügung stehenden Sprache ergibt. „Die altgriechische Sprache unterscheidet sich von den modernen europäischen Sprachen vor allem durch ihre Musikéstruktur. Diese Struktur liegt der musischen Äußerung unmittelbar zugrunde; der Äußerungsträger begegnet ihr als einem überpersönlichen Schema, dessen Geltung von den Musen selbst gewährleistet ist. Altgriechische Sprache drängte aufgrund ihrer rhythmischen Struktur – besonders in ihrer frühen Periode – zu totaler Äußerung, zum von Bewegungen begleiteten Wortgesang. Die Totaläußerung stellte ein erreichbares Ziel der altgriechischen Sprache dar.“9
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N. Kershow Chadwick, Poetry and Prophecy, Cambridge 1942 zit. nach Heinz Schlaffer, Wissen und Poesie, 39; siehe dazu auch Schlaffers Ausführungen in dem Kapitel ‚Der Enthusiasmus’. Vgl. zu diesem Problemkomplex die klassischen Studien: F. M. Cornford, Principium Sapientiae. The origins of the Greek philosophical thought. Ed. by W.K.C. Guthrie, Glouster, Mass. 1971, darin besonders Chap. 5: ,Seer, Poet, Philosopher’; Alice Sperduti, The Divine Nature of Poetry in Antiquity, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association, Vol. LXXXI 1950 und Mircea Eliade, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt 1975. Zu den vielfältigen Übereinstimmungen zwischen den Motiven schamanistischer Poesie und griechischer Heroendichtung siehe: Karl Meuli, Scythica, in: Hermes, Bd. 70, 1935; Zu dem mit der Entwicklung der Polis einhergehenden Bedeutungsverlust der Zauberei vgl. Walter Burkert, Goes. Zum griechischen Schamanismus, in: Rheinisches Museum für Philologie, Bd. 105. 1962, H. 1. Elke Bermeyer, Die Musen, 70.
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In den Jahrhunderten nach Homer fand ein Prozeß der Auflösung der Musikéeinheit statt, die in Gestalt des Aoides vereinten Funktionen verteilen sich auf unterschiedliche Gruppen. „Neben den musizierenden Sängern traten ungefähr zur Zeit Hesiods immer häufiger eigenständige Musikanten, Instrumentalmusik löste sich von der Bindung an den Sänger. In einer besonderen Entwicklung gelangte der ,Aoides’ mehr und mehr zur Rezitation: er wurde zum Rhapsoden.“10 Sein Vortrag nimmt Züge eines Sprechgesangs an, der auf musikalische Begleitung verzichtet, doch bleibt seine Praxis, die sich auf eine eigenständige epische Form zu konzentrieren beginnt, zunächst wie die des Aoidoi durch das Attribut des Musischen, genauer durch die Musikéstruktur der Sprache bestimmt, die auf intensivste Weise zum Ausdruck zu bringen die „Verbindlichkeit des göttlichen Sängerberufs“11 kennzeichnet. Seine historische Rolle und deren Bedeutung für die griechische Kultur hat Harald Patzer beschrieben: „Wir wissen, daß diese umherziehenden Vortragsvirtuosen im 5. Jahrhundert an keinem der größeren Götterfeste fehlten, wo sie im Wettkampf mit ihresgleichen vor der staunenden Menge ihren Homer oder Hesiod, manchmal auch Archilchochos vortrugen. Wir kennen sie auch aus dem 7. und 6. Jahrhundert, als sie noch vor dem Aufblühen der Tragödie und der neuen Prosakunstrede und neben der anfangs noch örtlich beschränkten Lyrik die Alleinverwalter und –verbreiter einer öffentlich über die Nation hin wirkenden Redekunst waren, und, wie sich versteht, auch noch selber dichteten: die Dichter der ,homerischen’ (= rhapsodischen) Hymnen und des kyklischen Epos, auch Hesiod und Eenoiphanes, waren Rhapsoden.“12
Mit dem zunehmenden Verfall der Musiké als einheitlicher Verwirklichungsform sprachlicher, gestischer und musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten entsteht ein Problem, das das Verhältnis zwischen dem Dichter/Sänger und seiner Äußerung betrifft. In diesem Zusammenhang, hebt Elke Bermeyer in ihrer grundlegenden Untersuchung hervor, „scheint es von bisher kaum beachteter Bedeutung zu sein, daß mit dem Wandel der Musiké gegen Ende des 5. Jahrhunderts auch die neuartige Benennung ,Poietes’ – als Name für die Träger musischer Äußerung – auftritt“13 . Angesichts der Verselbständigung des musikalischen Elements tritt die Verbindlichkeit des den Vortrag bestimmenden Sprachrhythmus in 10 A.a.o., 72. 11 Elke Bermeyer, Die Musen 76. Vgl. Thrasybulos Georgiades, Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958, darin besonders Kap. 4, Griechische Sprache, Musike. 12 Harald Patzer, Rhapsodos, in: Hermes, Bd. 80, 1952, 314. 13 Elke Bermeyer, Die Musen, 83.
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den Hintergrund, mit der Folge, daß die sich in den Musiké manifestierende überpersönliche „Macht“ Bedeutung zu verlieren beginnt. Damit, die aufkommende Bezeichnung ,Poietes’ kündigt es an, richtet sich das Interesse „auf die eigentliche, d.h. erstmalige Erschaffung eines dichterischen Gebildes und den Menschen, der es hervorbringt“.14 Fielen im Vortrag des Aoidos göttliche Eingebung und Musike als ereignishafte Präsentationsform zusammen, so steht die Praxis des Poietes im Zeichen der Produktion einer tradierbaren Vorlage. Voraussetzung seiner Tätigkeit ist die sich verbreitende Kunst des Schreibens. Die damit gegebene Möglichkeit der schriftlichen Fixierung führt zu einer Differenzierung zwischen der primären Aktion des Dichtens, der von nun an die sekundäre des Vortragens gegenübersteht. In der Zeit zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v. Chr. lösen sich epische, lyrische und dramatische Formen aus dem Zusammenhang des Kultes und in Gestalt des Poietes geht die Tradition der Oralität in die einer literalen Kultur über: „Der Poietes stellt ein fixiertes Gebilde in die Welt, wo es als Phänomen greifbar bleibt, während im Gegensatz dazu der Gesang des Aoides (als göttliches Phänomen) nur innerhalb des Ereignisrahmens auftauchte. [...] Poiesis ist Aktion, die etwas Seiendes schafft, – im weitesten Sinne – Gegenstände herstellt. Dichterische Poiesis ist zu erkennen an ihrem metrischmusikalischen Charakter.“15 Gleichwohl ist die Stellung des Poietes im Vergleich zu seinem Vorgänger prekär. Während dieser nichts hervorbringt, für das er die Verantwortung zu tragen hätte, ist die Gestalt des Poietes zum ersten Mal mit dem Problem der Bewertung des von ihm geschaffenen Werkes konfrontiert, insofern seiner Hervorbringung auch ein spezifisch menschlicher Anteil zugrundegelegt wird. An den Ausprägungen des sich entwickelnden dichterischen Selbstbewußtseins wird allerdings auch erkennbar, daß die Dichter damit auch die Chance erkannten, ihre gesellschaftliche Besonderheit nicht mehr nur durch göttliche Auserwähltheit, sondern durch eine einzigartige menschliche Leistungsfähigkeit zu begründen. Pindar hat sein Lied als Brief der Musen vorgestellt, der sich schnell überallhin verbreiten werde, und mit dieser Metapher sowohl die neue von ihm beanspruchte Stellung als auch den veränderten Status seiner Werke präzise bezeichnet. Zwar weiß auch er sich der Gunst der Musen verpflichtet, aber er ist es, der den „Brief“ schreibt, dessen Schriftlichkeit wiederum 14 A.a.o., 85. 15 Elke Bermeyer, Die Musen 87/88. Zu den Gründen für die dominierende Stellung des Verses in der griechischen Dichtung siehe Rudolf Kassel, Dichtkunst und Versifikation bei den Griechen, Opladen 1981. Zum Begriff der Dichtung bei den Griechen siehe Wolfgang Schadewaldt, Der Umfang des Begriffs Literatur in der Antike, in: Literatur und Dichtung. Versuch einer Begriffsbestimmung. Hg. v. Horst Rüdiger, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973.
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die Unabhängigkeit von einem einmaligen Ereignis garantiert, an das der Sänger gebunden war. So wird vor allem bei Pindar deutlich, „wie sich zuerst ein Bewußtsein von der Dichtung als ,Literatur’ entwickelt, d.h. nicht mehr allein, das am Fest aufgeführte, unmittelbar gesungene und gehörte Lied, sondern die an die Buchstaben, an die Schrift und an die schriftliche Verbreitung gebundene, vom Ort der aktuellen Aufführung sich lösende und eben als Literatur sich verbreitende Dichtung.“16 Als unmittelbare Auswirkung dieses Übergangs nennt Havelock „die Schaffung eines Themas als des Subjekts eines Diskurses, ermöglicht durch die Umwandlung einer akustisch aufgewahrten Rede in material aufbewahrte sichtbare Artefakte, die neu zusammengesetzt werden können.“17 Im Rahmen der neueren Forschung hat vor allem Eric A. Havelock den Einwand geltend gemacht, daß die Bedeutung der Muse für das Selbstverständnis der frühen griechischen Dichter gemeinhin überschätzt werde: „She was the symbol of the bard’s command of professionel secrets, not of his dependence on divine guidance.“18 Solange die griechische Poesie durch die Bedingungen der Oralität geprägt gewesen sei, habe das Bewußtsein seiner virtuosen Fähigkeiten das Selbstbild der Dichter bestimmt. Erst im Lichte einer spezifisch philosophischen Betrachtungsweise erscheine der ursprüngliche poetische Akt als unstrukturiert und werde nun theoretisch und gleichsam von außen mit dem Begriff des Enthusiasmus belegt: „The contrary conception of poetic inspiration was born in Greece precisely at that time toward the end of the fifth century, when the requirements of oral memorisation were no longer dominant and when the functional purposes of poetry as a tribal education were being transfered to prose. At this point those who thought in prose and preferred prose – that is the philo16 Herwig Maehler, Die Auffasung des Dichterberufs im frühen Griechentum bis zur Zeit Pindars, Phil. Diss. Hamburg 1963, 90. Zur bewußten Handhabung fixierter überlieferter Gestaltungselemente bei Homer, die seinen „Formelstil“ begründen, siehe: Harald Patzer. Dichterische Kunst und poetisches Handwerk im homerischen Epos, in: Harald Patzer, Gesammelte Schriften. Hg. v. Rüdiger Leimbach u. Gabriele Seidel. Wiesbaden/Stuttgart 1985. Patzer spricht von einer spezifischen Verwendungsweise handwerklicher Formeln bei Homer, denen eine „Funktionsstelle in einem dichterischen Plan“ (13) zukomme. Zur Entwicklung des Wissensbegriffs in der nachhomerischen Zeit, der auch die Ablösung des anonymen vortragenden Sängers durch den Verfertiger der Poesie betrifft, siehe: Bruno Snell, Wie die Griechen lernten, was geistige Tätigkeit ist, in: The Journal of Hellenic Studies, Vol. XCIII, 1973. 17 Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte, 44. Zur „literalen Revolution’ in Griechenland vgl. Havelocks Studie „The Literate Revolution in Greece and its Culturall Consequences“. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die zusammenfassenden Bemerkungen von Heinz Schlaffer in der Einleitung des Bandes Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Von Jack Goody, Ian Watt und Kathleen Gough, Frankfurt a.M. 1986. 18 Eric A. Havelock, Preface to Plato, 155.
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Freilich wird auch deutlich, daß in dem historischen Augenblick, als die „Muse schreiben lernte“ und die Dichter sich auf das einsame Geschäft des Schreibens zurückverwiesen sahen, das subjektive Vermögen zuverlässiger Werkformung einer erweiterten Fundierung bedurfte, selbst wenn man Havelocks Einwand berücksichtigt und den Glauben an die Musen weniger den Dichtern selbst als vielmehr den Philosophen zuschreibt, die den Kult der Musen als Diskurs des Irrationalen etablierten, um die vermeintliche Rationalität der eigenen Rede um so deutlicher hervortreten zu lassen.
T e c h n e al s W i ss e n s f o r m Die Frage nach dem Zusammenhang von Poesie und Wissen, sofern dieses sich auf den spezifisch menschlichen Anteil ihrer Hervorbringung bezieht, kann erst in dem Maße genauer beantwortet werden, wie der Begriff des Wissens selbst eine schlüssige Bestimmung erhält. Die Vorstellung eines Wissens im Sinne der Formierung eines Komplexes übertragbarer gegenständlicher Erkenntnisse, entwickelt sich, wie Bruno Snell an frühgriechischen Quellen20 gezeigt hat, zunächst im Kontext handwerklicher Erfahrungen und nimmt ihren Ausgang, so die wortgeschichtlichen Belege, im Bereich der Holzverarbeitung. „Aus einem indogermanischen Wortstamm, der etwa ‚tekp’ gelautet und ‚holzverarbeiten’ bedeutet hat und der im altgriechischen früh in tekton, dem ,Baumeister’ und ,Zimmermann’ erscheint, gehört das wichtige techne, das die Kunst des Baumeisters und des Zimmermanns bezeichnet.“21 Ehe das Wort techne auch nur annähernd das anzeigt, was sowohl im antiken als auch im modernen Verständnis mit Technik assoziiert wird, bedarf es eines umfassenden Prozesses der Bedeutungserweiterung, in dessen Verlauf der Begriff sehr 19 A.a.o., 156. 20 Siehe Bruno Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin 1924. 21 Wolfgang Schadewaldt, 45. Vgl.auch Erich J. Heyde, Zur Geschichte des Wortes Technik, in: Humanismus und Technik (9) 1963; Rudolf Loebl, Techne. Untersuchungen zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles. Bd. 1. Von Homer bis zu den Sophisten, Würzburg 1997.
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differenzierte Prägungen erhält, an denen auch erkennbar wird, daß die semantische Entwicklung des Begriffs der Techne nicht zu trennen ist von der sich darin manifestierenden Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt. In der wohl bislang gründlichsten Untersuchung zum antiken Begriff der Techne bis Platon verdeutlicht Jörg Kube, daß es zunächst verschiedene Entwicklungsphasen des Begriffs zu unterscheiden gelte: „Techne bedeutete wahrscheinlich in seiner ursprünglichen Form das Bauen eines Hauses, das aus Stämmen und Zweigen zusammengeflochten und von einer Familie oder Gruppe in Gemeinschaftsarbeit erstellt wurde [...] Die Tätigkeiten des Techniten, der Techne, ist also dadurch gekennzeichnt, daß besonderes Geschick, Wissen und Erfahrung dazu gehören, die nicht jeder besitzt. Von diesem Gesichtspunkt her ist das Wort dann verallgemeinert und auf andere Fähigkeiten ausgedehnt worden.“22
Bei Homer findet das Wort Techne an verschiedenen Stellen Verwendung. Zwar noch auf die Arbeit des Zimmermanns und des Schmiedes beschränkt, tritt nun neben den subjektiven Aspekt der individuellen Geschicklichkeit, Fähigkeit und Erfahrung ein objektives Element: das der Kenntnis, die sich „an Objekten (beweist), zu deren Bearbeitung oder Herstellung ein bestimmtes Wissen gehört. [...] Am besten läßt sich Techne hier mit dem subjektiven Infinitiv ,können’ übersetzen, in dem subjektive und objektive Seite eines ,richtigen’ Tuns enthalten sind.“23 In dieser Differenzierung kündigt sich eine Aufwertung der Verstandestätigkeit gegenüber dem körperlichen Vermögen an. Als Ausdruck einer neuen Erfahrung gesellschaftlicher Praxis, in der intellektuelle Prozesse der Planung und Vorausschau immer stärker rein physischen Anstrengungen der Lebenserhaltung vorauszugehen beginnen, erfährt auch der Begriff der Techne eine entscheidende Veränderung. „Techne löst durch die Antithese ihre Verbindung mit den handwerklichen Disziplinen und bezeichnet die sich im fachmännischen Können manifestierende intellektuelle Fähigkeit überhaupt.“24 War Techne, sowohl Geschick wie objektives Wissen, bislang an die Person des Ausübenden gebunden, so beginnt sie sich in nachhomerischer Zeit von dieser Beschränkung zu lösen und nimmt Züge eines vom Subjekt unabhängigen und für sich existierenden Wissens an, das durch Anstrengung erlangt werden kann und entsprechend nicht mehr als Gabe der Götter angesehen werden muß. „Techne ist vom Können zur Kunst 22 Jörg Kube, Techne und Arete, Sophistisches und platonisches Tugendwissen, Berlin 1969, 13. 23 Jörg Kube, Techne und Arete, 15/16. 24 A.a.o., 17.
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geworden, zum ,Wissen’, wie man etwas erreicht.“25 Diese Ausprägung des Begriffs, sein neuer Charakter als vom einzelnen Menschen und seinen Begabungen unabhängiges, aber von ihm zu findendes Ordnungsgefüge, ist Ausdruck eines veränderten Weltbewußtseins der Antike und signalisiert den Beginn einer neuen Phase der Bewußtseinsgeschichte, in der sich der Mensch von der mythischen Einbettung der Welt zu lösen und den eigenen Kräften zu vertrauen beginnt. Im Rahmen dieser Entwicklung nimmt der Begriff der Techne formale Züge an und bezeichnet weniger einen Inhalt als vielmehr die praktische Intelligenz des Menschen überhaupt. Über Techne zu verfügen wird nun auch dem Töpfer, Krieger oder Seemann, schließlich nahezu allen beruflich ausgeübten Tätigkeiten zugestanden. In der Bedeutung eines auf Mittel und Verfahren der Herstellung von Objekten gerichteten Wissens umfaßt der Begriff der Techne die Gemeinsamkeit aller professionellen Tätigkeiten, unter denen es in der Antike, und dies muß hervorgehoben werden, noch keine Differenzierung zwischen einer handwerklichen und einer spezifisch ästhetischen Praxis gibt, wie sie für das neuzeitliche Denken selbstverständlich geworden ist. Mit dem Begriff der Techne bezeichneten die Griechen „mehr als das, was wir heute ‚Technik’ nennen: sie verfügten hier über einen Inbegriff für alle Fertigkeiten des Menschen, werksetzend und gestaltend wirksam zu werden, der das ‚Künstliche’ ebenso wie das ‚Künstlerische’ (worin wir heute so scharf unterscheiden) umfaßt.“26 Dies betrifft vor allem das Verhältnis der Griechen zu den bildenden Künsten. Während jeder schöpferische Akt des Dichters auf eine bestimmte aktive Form der Präsenz der Götter verweist, wurden Malerei und Bildhauerei zu jenen Kunstfertigkeiten gerechnet, die die Götter einmal den Menschen mitgeteilt hatten und seitdem von den Meistern von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Bernhard Schweitzer hat in seiner klassischen Studie zur Geschichte des Verhältnisses der Antike zur bildenden Kunst die Gründe beschrieben, weshalb die Griechen der Poesie einen Vorrang gegenüber den bildenden Künsten einräumten: „Wenn bei der Bewertung des dichterischen Schaffens schon früh das Hauptgewicht auf das Geistig-Schöpferische gelegt wurde, das sich in einer unmittelbaren Verbindung mit der Gottheit darstellte, schienen Plastik und Malerei sich in der Ausübung überlieferter Kunstfertigkeit zu erschöpfen. Der Dichter war ein von göttlichem Geist beseeltes Instrument der die Welt lenkenden
25 A.a.o., 18. Zum schwindenden Einfluß der Götter vgl. Jörg Kube, Techne und Arete, 25. 26 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 20.
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DER ANTIKE GEDANKE EINER „KÖNIGLICHEN TECHNE“ und ordnenden Mächte, der Künstler nur der Bewahrer eines ursprünglich göttlichen Erbes von Kenntnissen, nicht anders als der Bauer, der Tischler, der Schmied, der Schiffserbauer, ohne daß man schöpferisches Vermögen in ihm suchte. So erscheinen die materiellen Werte schaffenden Verrichtungen des Menschen noch nicht getrennt nach mechanischen und frei schöpferischen. Was Handwerk, Baukunst, Malerei und Plastik einte, war der Begriff der Techne. Sie ist ihrem Inhalt nach ein Schatz nützlicher Regeln, ihrem Wesen nach handwerkliche Tradition, Gewerbe. Die Fähigkeit des Künstlers konnte nicht über die Meisterschaft in der Ausübung von Regeln steigen.“27
Mit der fortschreitenden Arbeitsteilung im 7. bis 5. Jahrhundert vor Chr. fand eine Übertragung des Begriffs der Techne auf Tätigkeiten statt, die nicht mehr nur im handwerklichen Sinne auf die Herstellung materieller Dinge zielten. Er bezeichnet nun auch die Kunstfertigkeit des Musikers, des Sehers und des Arztes, angesichts einer Veränderung ihrer Praxis erstmals aber auch die des Sängers und Dichters. Mit der Trennung zwischen Vortrag und Verfertigung der Poesie im Medium der Schrift hatte sich um das 5. Jahrhundert v. Ch. für die Poietes das Problem der Machbarkeit in aller Schärfe gestellt. Mit der Entwicklung des TechneBegriffs und dessen Übertragung auf die Tätigkeit des Dichters zeichnet sich eine Lösung dieses Problems ab. Der historische Ort der Vermittlung von poetischem Schaffen und Techne ist die Sophistik. In ihren Schriften erhält die Techne eine wegweisende theoretische Begründung, die sich sowohl im Hinblick auf die lebenspraktische und gesellschaftliche Dimension als auch im Bezug auf das Verhältnis zur Dichtkunst scharf von den überlieferten Vorstellungen abgrenzt. In Gestalt der Techne, so die sophistische Lehre, ist dem Menschen „das einzig zuverlässige Mittel gegeben [...], sich gegen die unberechenbaren Mächte der Tyche zu behaupten, insbesondere in jenen Extremsituationen, wo seine physische oder materielle Existenz unmittelbar bedroht ist.“28 Medizin, Rhetorik, Ackerbau, Kriegskunst und Nautik gelten als Disziplinen, bei denen der Nutzen der Anwendung eines präzisen Wissens unmittelbar hervortritt, zumal in Situationen großer Gefährdung. Vier Elemente sind es vor allem, die den sophistischen Begriff der Techne auszeichnen: Sie muß sich auf ein bestimmtes Ziel, eine konkrete Aufgabe richten, die allgemeine Anerkennung finden; sie hat sich damit als nützlich, lebensfördernd oder lebenserhaltend zu erweisen; darüber hinaus muß sie auch im Stande sein, es zu erreichen; und sie setzt die 27 Bernhard Schweitzer, Der bildende Künstler und der Begriff des Künstlerischen in der Antike, in: Neue Heidelberger Jahrbücher. N. F. Jahrbuch 1925, 65/66. 28 Felix Heinimann, Eine vorplatonische Theorie der Techne, in: Museum Helveticum, vol. 18, 1961, 108.
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Lehrbarkeit ihrer Verfahren voraus. Die Medizin verfolgt das Ziel, dem Kranken zur Gesundheit zu verhelfen, die Rhetorik will, etwa in politischen oder rechtlichen Zusammenhängen, Zuhörer für eine Sache gewinnen. Dergestalt erweisen beide im Zeichen der Techne ausgeübten Disziplinen ihren gesellschaftlichen Nutzen, allerdings bleibt die Anerkennung des Erfolges an den Nachweis gebunden, daß er sich tatsächlich der Techne und nicht zufälligen Umständen verdankt. Das Gelingen muß also jederzeit vom Techniten erklärt werden können. Insgesamt steht die sophistische Theorie der Techne ganz im Zeichen der zuverlässigen Sicherung von elementaren Funktionen der Lebenserhaltung und bezieht ihre Legitimation zuallererst aus dem individuellen und gesellschaftlichen Nutzen, den ihre Ergebnisse in den unterschiedlichen Bereichen menschlicher Praxis zeitigen. Die methodische Reflexion der Sophisten hängt aufs engste mit ihren berufsständischen Interessen als professionelle Redner zusammen, die sich immer wieder gezwungen sahen, die Grundlagen ihrer Aktivität gegen Angriffe zu verteidigen, die den Bildungswert der Rhetorik in Zweifel zogen. Die Einwände richteten sich darauf, den Sophisten ein formalrhetorisches Bildungsideal vorzuwerfen, das es gestatte, die Techne der Rhetorik für die unterschiedlichsten Interessen einzusetzen, ohne an der Wahrheit einer Sache, etwa im politischen Bereich, interessiert zu sein. „Das sophistische Angebot versprach eine Ausbildung, nach der man nur noch zu wissen brauchte, wie man es macht, die die Handgriffe und Kunstgriffe beherrschen lehrt, die zu jedem beliebigen Ziele zu führen vermochten unter Absehung von jeder Einsicht in Recht und sachliche Notwendigkeit der überlieferten Formulare.“29 Die Erfordernisse einer effektiven Verteidigung führten bei den Sophisten, insbesondere bei Gorgias und seinen Schülern, zu einer methodischen Reflexion ihrer Praxis, in deren Mittelpunkt das Problem der Lehrbarkeit rückt. Vor allem an der Fixierung jener Redemittel interessiert, deren Gebrauch eine zuverlässige Beeinflussung der Gefühle der Zuhörer garantiert, entwickelt sich die sophistische Rhetorik ganz im Zeichen der Techne, diese wiederum erlangt ihre methodisch reflektierte Gestalt im Bereich sprachlicher Verfahren, die entsprechend von den sophistischen Rhetoriken gelehrt und von den Schülern durch Übung angeeignet werden können. Das Bewußtsein von der Besonderheit der Sprache, die wie eine Art Wirkstoff auf die menschliche Seele Einfluß zu nehmen vermag, forciert intellektuelle Anstrengungen, die Effektivität der Sprache als Medium in diesem Sinne weiter zu steigern, und führt die Sophisten zur Auseinandersetzung mit der Poesie, die bekanntermaßen die Affekte der Zuhörer am stärksten hatte stimulieren können. Entscheidend ist in diesem Zusam29 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 13.
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menhang, daß Gorgias methodisch das a apriori der Rhetorik, nämlich Techne zu sein, auf die Dichtung überträgt: „Die gesamte Dichtung erachte ich als Rede, die ein Versmaß hat. Von ihr aus dringt auf die Hörer schreckenserregender Schauder ein und tränenreiche Rührung und wehmütiges Verlangen und in Fällen von Glück und Unglück für fremde Angelegenheiten und von fremden Personen leidet die Seele stets vermittelt durch Reden und ein eigenes Leiden.“30 Die sophistische Hinwendung zur Dichtung verdankt sich dem Interesse an der in Form der poetische Rede sich entfaltenden Kraft der Sprache und den ihr eigenen Wirkungsqualitäten, die mit den bekannten Mitteln der Rhetorik nicht zu erzielen waren. Gemeint sind damit zuallererst die magischen Elemente der Sprache, und da Gorgias als Schüler des Empedokles, der für sich das Vermögen der Zauberkunst in Anspruch nahm, die Magie selbst als Techne31 begreift, versucht er, die bewußte Verfügung über die Sprache auch auf die Beherrschung ihrer magischen Elemente zu erweitern, deren Evokationskraft versprach, die Gefühle der Zuhörer noch stärker beeinflussen zu können, als mit den überlieferten rhetorischen Schemata möglich war. Walter Burkert hat in diesem Zusammenhang gefragt, ob „nicht wirklich der Sophist weithin [als] Nachfolger des wandernden Wundermannes“32, des ,Schamanen’, angesehen werden könne, der statt magischer Formeln Redefiguren verwendet, die auf ihre Weise die Zuhörer berauschen und bezaubern und an die Stelle der Geisterbeschwörung die intensive Wirkung auf den Hörer treten lassen. Die von den Sophisten angestrebte umfassende Entfaltung der Möglichkeiten sprachlicher Darstellung zielt nicht auf rhetorische Ausschmückung der Rede, wie sie später mit der Lehre vom decorum zur Schulweisheit wurde, sondern bezieht sich auf die Entbindung der gleichsam im Inneren der Sprache angelegten medialen Potenzen. Gorgias ist nie „ein Dekorateur der Sprache gewesen, sondern ein Logoplast, d. h. ein freier Komponist im eigenen Entfaltungsraum der Sprache. Allein weil die Sprache eine eigene Erfindung kennt, taugt sie zur echten Kunstform. Dichtung ist 30 Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, Hg. mit Übersetzung und Kommentar v. Thomans Buchheim, Hamburg 1989, 9. Die „Macht des Logos exemplifiziert der Sophist an der emotionalen Wirkung der Poesie; er glaubt sich dazu berechtigt, weil ihm die gesamte Dichtung als verifizierte Rede, Rede im Versmaß gilt.“ Rudolf Kassel, Dichtkunst und Versifikation bei den Griechen, 12. 31 Siehe dazu: Jacqueline de Romilly, Gorgias et le pouvoir de la poésie. In: Journal of Hellenic Studies no. 93, 1973. „La magie ne peut donc servir à Gorgias de référence de modèle que parceque qu’elle est devenue, selon le mot même qu’il emploie, une techne.“ (156). Vgl. auch die daran anknüpfenden Überlegungen von Thomas Buchheim, Maler, Sprachbildner: Zur Verwandtschaft des Gorgias mit Empedokles, in: Hermes, H . 4, 1985. 32 Walter Burkert, Goes. Zum griechischen ‚Schamanismus’, 55.
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ERFAHRUNG DES MACHENS deshalb sowohl das Muster, nach welchem Gorgias seine Kunst auffaßte, als auch zugleich das Reservat des Sprachsinnes, in dem dieser den Verfall der Rhetorik zur Dekoration – das aber ist ihr Schielen nach der Philosophie – sowie der Sprache als bloßer Vermittlung einer Bedeutung überdauert hat.“33
Dieses Verständnis des „denk- und sprachkünstlerischen Technikers“34 Gorgias, dessen Reden eine bis zum äußersten getriebene Durchformung erkennen lassen, führt zu einer Annäherung der rhetorischen Prosa an die Poesie, umgekehrt aber auch zu einer starken Beeinflussung der Dichtung durch die Rhetorik, vor allem im Bereich der Tragödie.35 Wichtiger, als die in den unterschiedlichen Darstellungsformen jeweils nachweisbaren Übernahmen, erscheint die Tatsache, daß der von den Sophisten weiterentwickelte und in der Rhetorik spezifizierte Begriff der Techne ein theoretisches Modell für das Problem der Machbarkeit von Dichtung bereitzustellen vermochte. Mit der durch das Denken der Sophistik eingeleiteten Integration von Techne und Dichtung erschloß sich für die Poietes die Möglichkeit, den ihnen selbst bei der Herstellung von Werken eingeräumten individuellen Anteil im Zeichen eines zu erwerbenden Wissens zu erschließen, das die eigene Arbeit stärker von den Unwägbarkeiten der göttlichen Gaben emanzipierte.
P hi l o s o p hi sc he L e g i t i m a ti o n d e s E n t hu si a sm u s u n d d e r T e c hn e b e i P l at o n In Platons Dialogen, in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Denken der Sophisten, erhielten die Figuren des Widerspruchs gegenüber dem frühgriechischen Techneverständnis ihre deutlichste Ausprägung. Dabei steht zunächst nicht das überlieferte und von den Sophisten methodisch und lebenspraktisch systematisierte Verständnis der Techne als eines auf Herstellung gerichteten Wissens in Frage. Im Gegenteil, die dort angelegte Tendenz, möglichst viele Gegenstandsbereiche der Techne zu unterstellen, erfährt im sokratischen Denken eine Steigerung, indem sie auf die Sphäre des Ethischen ausgeweitet wird. Sittliches Handeln wird als „Objekt“ begriffen, das auf der Grundlage eines Wissens 33 Thomas Buchheim, Einleitung, Gorgias von Leontnoi, Reden, Fragmente und Testmonien, XIV. 34 Heinrich Gomperz, Sophistik und Rhetorik, Darmstadt 1965 (Neudruck), 47. 35 Zur Auffassung einer weitgehenden Übereinstimmung von Dichtung und Rhetorik bei den Sophisten vgl. Eduard Norden, Die antike Kunstprosa. Vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, 1. Bd. Darmstadt 1971, 63–79. Zu den Anfängen der Poetik bei Gorgias siehe Max Polenz, Die Anfänge der griechischen Poetik, in: Max Pohlenz, Kleine Schriften II. Hg. v. Heinrich Dörrie, Hildesheim 1965.
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ebenso hervorgebracht werden kann wie jeder andere Gegenstand der physischen Welt. Dies ist von größter Bedeutung für das Leben der Polisgemeinschaft, da Sittlichkeit als höchste Wertsphäre Einfluß auf die politische Praxis nehmen kann, insofern sie diese den Kriterien einer logischen Begründung unterwirft. „Sokrates bringt, [...] geleitet [...] vom Techne-Modell den Sachverhalt des Herrschens als eines kunstmäßigen Handhabens von Leben zur Geltung. Die Handhabung ist sinnvoll, d.i. kunstmäßig, nur denkbar als Dienst an dem beherrschten Leben im Hinblick auf das, was diesem Leben ‚gut’ ist.“36 Verweisen die im Zeichen der Techne vereinten Disziplinen wie Fechtkunst, Heilkunst oder Hausbaukunst auf einen in sich selbst beruhenden Zusammenhang von Wissen-Tun-Können, so formuliert Sokrates über das mit den Mitteln der Techne Erstrebte hinaus ein letztes absolutes Ziel: „Es liegt im Tun, um einer ‚Sache’, d.i. eines Guten willen, getan zu werden. Der Kranke trinkt die Arznei um der Genesung willen, oder der Händler treibt sein Geschäft um des Reichtums willen [...] Das Gute schlechthin als Ziel des sokratischen Wissens ist das ‚Worum willen’ allen menschlichen Lebens in seiner genügenden Endgültigkeit“.37 Die lebensdienliche Pragmatik des Nutzens, die im Zentrum des sophistischen Techne-Verständnisses gestanden hatte, tritt im sokratischen Denken zurück hinter den Verpflichtungscharakter, der jede Techne auf das sittlich Gute, die Herstellung eines glückseligen Lebens, ausrichtet, um dessenwillen sie allein ins Werk gesetzt wird. Das sich bereits in der nachhomerischen Zeit in der Semantik der Techne andeutende neue Verhältnis von Mensch und Welt bekommt mit der sokratischen Ausrichtung des Techne-Begriffs auf das absolute Ziel des Guten eine philosophische Fundierung und eine theoretische Figuration, die, wie Helmut Kuhn hervorgehoben hat, für die abendländische Geistesgeschichte bestimmend geworden ist: „Die griechische Philosophie, so dürfen wir summarisch sagen, hat das menschliche Leben als Gegenstand einer ‚Leistung’ zu sehen vermocht, die ihr Richtmaß aus der Erkenntnis empfängt. Sie hat nach dem Modell der spezialisierten kunstmäßigen Leistung, der Techne, den Gedanken einer „königlichen Techne’ gedacht.“38 36 Helmut Kuhn, Sokrates. Ein Versuch über den Ursprung der Metaphysik, Berlin 1934, 57. Zur Techne als Norm und methodisches Vorbild für Politik und Ethik in der griechischen Polis vgl. Hans Joachim Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959, 220–232. 37 Helmut Kuhn, Sokrates, 53. 38 Helmut Kuhn, ‚Klassisch’ als historischer Begriff, in: Das Problem des Klassischen in der Antike. Hg. v. Werner Jaeger, Darmstadt 1968 (Neudruck), 119. Es ist aufschlußreich, daß Walter Benjamin in seiner Rezension des erstmals 1930 erschienenen Bandes seine Anerkennung vor allem diesem Beitrag aussprach, allerdings nicht ohne verhaltene Kritik an einer bestimmten fachwissenschaftlichen Verengung des Blicks: „Wie nahe rückt nicht die vorzügliche
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Als solche ist sie im Werk Platons gegenwärtig, wenngleich sein Versuch, ihr im Kontext seiner Philosophie einen systematischen Ort zuzuweisen, den damit bezeichneten Sachverhalt ungeheuer kompliziert. Platons theoretische Anstrengung, menschliche Erkenntnis durch den Rekurs auf den Logos zu begründen und den Ursprungsmächten des Mythos zu entziehen, betrifft sowohl sein Verständnis von Dichtung als auch seine Konzeption der Techne. Der fundamentale Anspruch des platonischen Denkens, an die Stelle der Poesie als Quelle eines göttlich verbürgten Wissens die Philosophie39 als wahre Form der menschlichen Erkenntnis zu setzen, führt zunächst zu der merkwürdigen Verteidigung des Enthusiasmos als Voraussetzung jeder Dichtung. So wenig es Platon um eine Weiterführung der Ansätze einer Poetik geht und so widersprüchlich seine die Dichtung betreffenden Ausführungen innerhalb seiner Ideenlehre erscheinen, bereits der frühe Dialog „Ion“40 zeigt in aller Deutlichkeit, daß Platon an dem Punkt, wo er die Dichtung unabhängig von den Prioritätsansprüchen der Philosophie behandelt, den in der sophistischen Tradition ausgebildeten Gedanken strikt abweist, Verfertigung oder Vortrag von Poesie könne etwas mit Wissen zu tun haben. Sokrates zwingt den Rhapsoden Ion, der nur über Homer, nicht aber über andere Dichter zu reden vermag, zu dem Eingeständnis, daß sein Vermögen nicht auf Techne beruhe, da diese die Urteilsfähigkeit über andere Dichter und deren Werke einschließen müsse. Ganz im Sinne des alten Dichtungsverständnisses exponiert die Figur des Sokrates den Dichter als Gestalt, der seine Fähigkeiten allein der Gunst der Götter verdanke: Ableitung des Klassischen aus dem Gedanken einer ,königlichen Techne’, welche das Griechentum ,nach dem Modelle der spezialisierten kunstmäßigen Leistung,’ der Techne überhaupt, sich gebildet habe, an das Tiefste, was Valéry über die Klassik zu sagen hat. Macht eine Forschertagung sich von Schranken des berufsmäßigen Alltags einmal frei, so sähe man gern, daß sie, wenn nicht in persona so im Zitat bedeutende Denker zu Gast bäte. Heute hat über Klassik kaum einer mehr zu sagen als der Verfasser des ‚Eupalinos’.“ (GS III, 293). 39 Zu den aus Platons Ontologie und den Prämissen seiner metaphysischen Ethik sich ergebenden systematischen Motiven seiner Dichtungskritik vgl. Hans– Georg Gadamer, Plato und die Dichter, Frankfurt a.M. 1934; Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt a.M. 1963, 29–48; Egidius Schmalzriedt, Platon. Der Schriftsteller und die Wahrheit, München 1969; Gerhard Müller, Platons Dichterkritik, in: Philosophisches Jahrbuch, 82. Jg., 2. Halbband, 1975; Zum geistesgeschichtlichen Kontext: Richard Kannicht, ‚Der alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung’. Zwei Vorlesungen über Grundzüge der griechischen Literaturauffassung, in: Der altsprachliche Unterricht, H. 6, 1980; Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen, 11–44; Zu den Tendenzen der jüngeren um eine Revision der Einseitigkeiten Schleiermachers bemühten Platon–Forschung siehe Hans–Joachim Krämer, Zum neuen Platon–Bild, in: DVjS, H. 1, 1981. 40 Siehe dazu: Hans Diller, Probleme des platonischen Ion, in: Hermes, H. 2, 1955; Hellmuth Flashar, Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, Berlin 1958; Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen, 11–25.
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DER ANTIKE GEDANKE EINER „KÖNIGLICHEN TECHNE“ „Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene all diese schönen Gedichte und ebenso die rechten Liederdichter, und so wenig die, welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind, mit vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie von Harmonie und Rhythmus erfüllt sind, dann werden sie den Bacchen ähnlich [...]. Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. Denn solange er diesen Besitz noch festhält, ist jeder Mensch unfähig, zu dichten oder Orakel zu sprechen. [...] Natürlich nicht durch Kunst bringen sie dieses hervor, sondern durch göttliche Kraft.“ (Ion 533e-534c)41
Auch wenn in den Interpretationen des „Ion“ wiederholt darauf hingewiesen worden ist, daß dort, wo Sokrates von göttlicher Eingebung spreche, ein ironischer Grundton nicht zu überhören sei, ist die Kontinuität, mit der Platon dieses Problem innerhalb der Entwicklung seines Werkes behandelt, ein Zeichen dafür, wie sehr ihn dieses Thema philosophisch bedrängt. Im „Phaidros“, aber auch in der „Apologie“ wird die Vorstellung, die Entstehung von Dichtung habe die Gegenwart der Götter und damit die „Bewußtlosigkeit“ des Schaffenden zur Voraussetzung, erneut aufgegriffen. „Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst ungeweiht und auch seine, des Verständigen, Dichtung wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt“. (Phaidros, 245a) Es kann hier weder darum gehen, die platonischen Kunstlehren, die „als ganzes betrachtet unauflösliche Widersprüche“42 aufweisen, zu rekonstruieren, noch die mit ihr verbundenen Aspekte der Idee des Schönen, der Mimesis-Konzeption und ihrer Stellung innerhalb der Ideenlehre zu erörtern und damit Fragen aufzuwerfen, die der PlatonForschung seit jeher die größten Schwierigkeiten bereitet haben. Wichtig bleibt für den hier verfolgten Zusammenhang, daß Platon die überlieferte mythologische Vorstellung der Bewußtlosigkeit literarischen Schaffens nicht nur fortschreibt, sondern zugleich philosophisch legitimiert, wenngleich, und darauf ist wiederholt hingewiesen worden, für Platon „die Anerkennung des dichterischen Enthusiasmus [...] voll der gefährlichsten
41 Zur Problematik des Ion in den späteren Dialogen Platons vgl. Hellmut Flashar, Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, 106–113; E.N. Tigerstedt, Plato’s Idea of Poetical Inspiration, in: Commentationes Humanorum Litterarum. Societa Scientiarum Fennica, vol. 44. Nr. 2, 1969. 42 Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 72.
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Zweideutigkeit“43 bleibt, denn wenn Platon die menschliche Erkenntnis durch den Logos begründen und auf diese Weise dem mythischen Ursprungswissen entziehen will, warum sollte dann gerade der Dichtung, die über ihre Entstehung keine Rechenschaft abgeben kann, besondere Wertschätzung zuteil werden? Daß Platon die göttliche Eingebung der Dichter verteidigt und damit an der traditionellen religiösen Deutung des Phänomens festgehalten hat, mag, wie Dodds vermutet, damit zusammenhängen, daß „ihm keine andere Sprache zur Verfügung stand, um dieses ‚Gegebensein’ auszudrücken“.44 Wie dem auch sei, für das Verständnis Platons scheint jedenfalls, wie Hermann Gundert in seinen Ausführungen über „Enthusiasmus und Logos bei Platon“ dargelegt hat, „die Einsicht wichtig, daß er durch diese Deutung das eigentliche Wesen der Dichtung in der Schwebe läßt: er entzieht es, wenigstens vorläufig, nicht nur dem sophistisch aufgeklärten, sondern auch dem sokratisch fragenden Logos. Als Ganzes bleibt sie dadurch freilich fragwürdig. Eine Sache, die Sokrates bewundert und gar für göttlich erklärt, weil er sie ‚nicht versteht’, ist immer fragwürdig.“45 Mag Platon gegen die systematischen Absichten seiner Philosophie die Stellung der Poesie gestärkt haben, so ist dies möglicherweise die unfreiwillige Konsequenz seiner Auseinandersetzung mit dem sophistischen Techne-Begriff, der mit der Entwicklung seiner Ideenlehre in den Mittelpunkt der Kritik rückt. Vielleicht sah Platon zunächst keine andere Möglichkeit, als an die religiöse Deutung der Dichtkunst anzuknüpfen, um die ganze Kraft der noch wirksamen Autorität des Götterglaubens gegen die Profanierung der Dichtung als Techne durch die Sophisten einsetzen zu können. Der Rhapsode Ion tritt Sokrates zunächst als jemand gegenüber, der vorgibt, über seine Kunst begründet sprechen zu können, also durchaus im Sinne der sophistischen Techne. Im Verlauf des Gesprächs aber „vollzieht sich Schritt für Schritt der Abbau sophistischen Scheinwissens“46, das Sokrates allerdings weniger am unzureichenden Wissen über den Modus der Hervorbringung als vielmehr daran fest43 Hans–Georg Gadamer, Plato und die Dichter, 8. 44 Dodds, Die Griechen und das Irrationale, 116. 45 Hermann Gundert, Enthusiasmos und Logos bei Platon, in: Lexis, Bd. II.1, 1949, 30; Kritischer als Gundert urteilt Gerhard Müller, der bei Platon eine im Zeichen radikaler Wissensethik formulierte vollständige Ablehnung der Dichtung sieht. „Die platonische Vernunftreligion duldet nicht neben sich die mythische Religion, auch nicht in der geläuterten Gestalt, die sie seit Hesoid, Solon und Aischylos angenommen hat. Homer und seine Nachfolger vertreten für Platon eine minderwertige Auffassung von den menschlichen und göttlichen Dingen, und dafür sind sie verantwortlich zu machen.“ Gerhard Müller, Platons Dichterkritik und seine Dialogkunst, 293. 46 Hellmut Flashar, Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, 88. Zur Kritik an der sophistischen Techne siehe auch: Jörg Kube, Techne und Arete, 126.
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macht, daß der Rhapsode nicht wirklich über die Gegenstände Bescheid weiß, die sein Vortrag zum Inhalt hat. Dieser Punkt, eine Sache darzustellen, ohne ihr Wesen selbst erfaßt zu haben, über die Seefahrt zu singen, ohne die Techne der Nautik zu beherrschen, bezeichnet für Platon den prinzipiellen Mangel der Dichtung, deren verwerflichste Form er in der Praxis des sophistischen Redners findet, der über Dinge reden kann, ohne sie verstanden haben zu müssen. Die Art, wie Sokrates den Techneanspruch des Ion abweist „zeigt, in welcher Richtung Platon weitergehen will: die von den Sophisten beanspruchte, aber nicht besessene Techne, [...] soll auf neuen Grundlagen aufgebaut werden.“47 Das neue Verständnis von Techne, das unverwechselbar platonische Züge erkennen läßt, entfaltet sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der sophistischen Rhetorik. Hatte für die sophistischen Virtuosen der bloße Erfolg ihrer Überredungskünste bei den Zuhörern, gleichgültig für welche Partei sie eingesetzt worden waren, ausgereicht, um ihre Techne im Sinne eines lebenspraktischen Nutzens zu legitimieren, so setzt Platon dem entgegen, daß ein Redner die Sache selbst kennen und verstehen muß, über die er spricht und für die er sich engagiert: Als ein Schüler unter Berufung auf Gorgias geltend macht, daß die Kunst zu überreden vor allen anderen bei weitem den Vorzug verdiene, denn sie mache „alles unterwürfig freiwillig und nicht mit Gewalt und sei bei weitem die trefflichste unter den Künsten“ (Philebos 58b) antwortet Sokrates, daß eine Kunst nicht deshalb den Vorzug verdiene, „weil sie die größte und stärkste und uns am meisten Nutzen bringende ist“, sondern nur diejenige, „welche das Gewisse und Genaue und Wahrste im Auge hat“ (Philebos 58c). Techne als bloßes Mittelwissen für angebbare Zwecke, so wie es in der frühgriechischen Tradition verstanden und in der Sophistik begrifflich erfaßt worden war, bleibt für Platon ein beschränktes Wissen, das ganz in den Schatten der Ideenschau als höchste Form des philosophischen Wahrheitsbesitzes tritt. Nur insofern der Technit über die Kenntnis seiner Mittel hinaus auch am Ideenwissen teilhat, billigt Platon seine Praxis; Techne kann philosophische Legitimation nur dann beanspruchen, wenn sie drei Kriterien entspricht: „Erstens, daß sie ein Wissen ist, welches auf der wahren Natur ihres Gegenstandes beruht, zweitens, daß sie fähig ist, Rechenschaft von ihrem Tun abzulegen, weil sie die Erkenntnis der Gründe besitzt, drittens, daß sie dem Besten ihres Gegenstandes dient.“48
47 Jörg Kube, Techne und Arete, 132. 48 Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen Bd. 2, Berlin 1944, 194. Zu Platons Begriff der Techne vgl. Fritz Jeffre, Der Begriff Technik bei Platon, Gütersloh 1922; Morichomo Kato, Techne und Philosophie bei Platon, Frankfurt 1986; John Wild, Plato’s Theory of Techne. A Phenomenologi-
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Im Hinblick auf die hier verfolgte Fragestellung kommt Platon und der mit seinem Werk vollzogenen Integration der Techne in ein substantiell auf Wahrheitswissen angelegtes philosophisches Denken eine höchst prekäre Rolle zu. Im Spannungsfeld zwischen einer halbherzigen Verteidigung des traditionellen Enthusiasmus als Grundlage aller Poesie und dem neuen auf den Besitz der Wahrheit verpflichteten Techne-Begriffs verliert die Dichtung nicht nur an Bedeutung, sondern ihr Existenzrecht wird zutiefst problematisch. Dies tritt vor allem dort in aller Schärfe hervor, wo Platon ihr im Namen seiner Ideenlehre den Prozeß macht. In der im zehnten Buch der „Politeia“ vorgestellten Argumentation werden drei Seinsstufen voneinander unterschieden, deren Verhältnis zueinander durch Mimesis bestimmt ist: Urbild, gegenständliches Abbild und künstlerisches Abbild des Abbildes. Blumenberg hat gezeigt, daß die platonische Nachahmungstheorie an zwei ontologische Voraussetzungen gebunden ist, die sich auf die Annahme einer exemplarischen Realität und auf deren essentielle Vollständigkeit beziehen. Es liegt im Sinne „einer aus sich selbst exemplarischen Gegebenheit, daß sie nicht nur wiederholt werden kann, sondern auch wiederholt werden soll, daß sie also zu ihrer Nachahmung gleichsam herausfordert, weil sie in ihrer Urbildlichkeit ohne die erfolgte Veranlassung des Abbildes steril bliebe. So begründet die platonische Idealität, weshalb es künstliche und künstlerische Gebilde gibt, zugleich aber auch, weshalb in ihnen nichts Wesentliches ‚geleistet’ sein kann. Hier ist die eigentümliche Ambivalenz des Platonismus in der Geschichte der Kunsttheorie angelegt: er war stets Rechtfertigung und Entwertung der künstlerischen Tätigkeit zugleich.“49
Während das Abbild des Urbildes seine Legitimation durch den normativen Charakter der Idee, nämlich „daß es sein soll“50 , findet, kann diese Begründung für die Nachahmung auf der zweiten Stufe nicht geltend gemacht werden und entsprechend radikal wertet Platon sie ab. Während der Handwerker mit Blick auf die Idee, also im Besitz des wahren Wesens einer Sache und auf der Grundlage seines Wissens um Mittel und Wege der Herstellung einen Gegenstand anfertigt, bilden Dichter und Maler nur die Erscheinungen nach. Freilich bleibt damit, so Blumenberg, eine entscheidende Frage offen: „Weshalb aber läßt Plato es nicht zu, daß der Maler – genauso wie der Handwerker – auf die Idee selbst blickt, wenn er solche Gegenstände darstellt und damit der Forderung genügt, cal Interpretaion, in: Philosophy and Phenomenological Research, Vol. 1, No. 1, 1940; Jörg Kube, Techne und Apeth, 115–226. 49 Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Nachahmung und Illusion. Hg. v. Hans Robert Jauß, München 1964, 15. 50 A.a.o., 15.
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ein unmittelbares Abbild des Urbildes zu geben? Diese Frage bleibt im Text des zehnten Buches des Staates unbeantwortet. Sie ist aber von Wichtigkeit, wenn man die Ambivalenz des Platonismus für die Theorie des Ästhetischen verstehen will.“51 Dem Anblick der Urbilder entzogen, bleiben Maler und Dichter für Platon ohne ein Verständnis der Sache selbst, damit fehlt ihnen im Grunde auch die notwendige Voraussetzung wahrer Techne. Zwar wird die Dichtkunst von Platon in das Spektrum der Technai aufgenommen, aber sowohl im Hinblick auf die Seinsweise der Produkte als auch unter Berücksichtigung der vom Techniten verlangten Sachkenntnis steht sie „auf der untersten Stufe der Hierachie der Technai, weil ihr Produkt auf der niedrigsten Seinsstufe rangiert und sie weder Erkenntnis noch richtigen Glauben besitzt und erstrebt.“52 Im „Phaidros“ siedelt Platon sie nach Philosophie, Kriegskunst, Staatskunst, Heilkunst und der Kunst des Wahrsagens auf dem sechsten Rang an, dem nur noch die von ihm verachtete sophistische Redekunst sowie die Praxis des Tyrannen folgt (248e). Auch in diesem Zusammenhang tritt überdeutlich hervor, daß Platons Auseinandersetzung mit der Dichtung durch den Anspruch geprägt wird, die Philosophie als allein gültige Form des Wissens53 an die Stelle zu setzen, die bislang die Dichtung als göttliche Quelle des Wissens eingenommen hatte. Wo er die Dichtung erkenntniskritisch als Pseudo-Techne abwerten will, beziehen sich sein Einwände, wie das Paradigma seiner Homer-Kritik zeigt, stets auf die Inhalte der Dichtung: Homer schreibe über die Staatskunst, ohne wirklich etwas davon zu verstehen. Vollständig von den Wissensansprüchen und Begründungsleistungen seiner Philosophie in Anspruch genommen, gerät Platon das eigentliche Problem der dichterischen Hervorbringung gar nicht in den Blick. Bekanntermaßen führt auch von Platons Begriff des Schönen, insofern er als Idee in der Sphäre des ewigen unveränderlichen Seins neben jene des Guten und des Wahren angesiedelt wird, kein Weg in die Welt der durch Techne hergestellten Dinge. Das wahrhaft Schöne hat bei Platon keine sinnliche Erscheinungsform, und so ist nicht einmal ein Bezug zu den Werken der bildenden Kunst denkbar, da dem Bildhauer oder Maler, die nur die Dinge nachahmen, die Möglichkeit, die Ideen zu schauen, 51 A.a.o., 16. 52 Morimichi Kato, Techne und Philosophie bei Platon, 70; Vgl. Heinrich Niehues–Proebsting, Überredung zur Einsicht, 193. 53 Vgl. Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. Zum Problem der Ideenlehre als Zentrum der platonischen Philosophie bemerkt Wieland zusammenfassend: „Das eigentliche Problem der Ideenlehre liegt also weder in ihrer Genese noch in den innertheoretischen Schwierigkeiten oder Inkonsistenzen. Es zeigt sich vielmehr in der Verlegenheit dessen, der den Versuch unternimmt, den Inhalt dieser Lehre anzugeben.“ (97).
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abgesprochen wird. „Einmal in die Bahnen des philosophischen Denkens gerissen, folgte der Begriff des Schönen dessen eigener Richtung, und die Kluft zwischen ihm und dem Begriff des künstlerischen Wirksamen in der Techne vergrößerte sich immer mehr.“54 Platons Beitrag zum Problem des dichterischen Schaffens ist kein Fortschritt in der Erkenntnis der Sache, eher eine Befrachtung mit folgenreichen Schwierigkeiten. Den Enthusiasmus bemüht er, wie zu sehen war, nicht mehr vorrangig aus Gründen religiöser Überzeugung, sondern im Rahmen einer Argumentationsstrategie gegen die sophistische Vermittlung von Techne und Dichtkunst, im Rahmen seiner Ideenlehre wird sie erkenntnistheoretisch in Zweifel gezogen und als unterklassige Techne ontologisch abgewertet, der Begriff des Schönen schließlich weist bei Platon überhaupt keinen Bezug zur Dichtkunst auf. Konsequenzen dieser Art sind für Platon unproblematisch, da seine Philosophie aus den benannten Gründen nicht nur keine Poesie braucht, sondern auch keine erträgt. Die theoretischen Folgelasten allerdings, die er allen aufbürdet, die am Platonismus festhalten, ohne die Dichtung aufzugeben, sind unabsehbar, da, wie Blumenberg verdeutlicht hat, mit der Trennung von Philosophie und Rhetorik, Theorie und Technik in die begrifflichen Fundamente der klassischen Philosophie Festlegungen aufgenommen wurden, die es in der Tradition immer wieder ermöglichten, Technik als nicht auf das Wahre und Gute bezogene Wissen „ins Unrecht“55 zu setzen.
P o e ti sc he T e c hn e Eine differenziertere Prägung erhält der Begriff der Techne in der Philosophie des Aristoteles, indem er es unternimmt, seine Bedeutung innerhalb der Sphären des Wissens genauer zu bestimmen. Unter der Berücksichtigung der überlieferten Vorstellungen des Begriffs definiert Aristoteles Techne als Form eines „auf Herstellen gerichteten, mit klarer Rechenschaft über die Sache selbst verbundenen Wissens, das zum festen Besitz geworden ist“56 . Techne wird als besondere Form des Wissens verstanden, die sich von anderen Wissensformen unterscheidet. Als solche sieht er Erfahrung und Grundwissenschaften an. Erfahrungswissen 54 Bernhard Schweitzer, Der bildende Künstler und der Begriff des Künstlerischen in der Antike, 73. Zu der in den einzelnen Phasen seines Werkes sich verändernden, schließlich in den Altersschriften zu einer schroffen Ablehnung führenden Haltung Platons zu den bildenden Künsten vgl. Bernhard Schweitzer, Platon und die bildenden Künste, Tübingen 1953. 55 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 13. Zu den Konsequenzen des Gegensatzes von Philosophie und Rhetorik, von Theorie und Technik für die philosophische Tradition siehe Blumenberg, 13–14. 56 Aristoteles, Nikomachische Ethik Z 4 1140 a ff, 20f (Bartels 276).
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beruht auf der wiederholten Erinnerung an bestimmte wahrgenommene Zusammenhänge und bestimmt weitgehend das Alltagshandeln. Wenn wir registrieren, daß bei einer leichten Erkrankung ein Hausmittel in der Regel Heilung bewirkt, haben wir ein Erfahrungswissen gewonnen. Wir wissen, daß etwas hilft, aber wir wissen nicht, warum es hilft. Das Wissen der Grundwissenschaften hingegen bezieht sich auf die Bedingungen des unveränderlichen Seins, auf die Gegenstände der Mathematik oder auf die ewig wirkenden Gesetze des Kosmos und wird in Gestalt theoretisch vollständig ausgewiesener Lehrsätze fixiert. Im Vergleich zu diesen beiden Wissensformen nimmt die Techne „eine Art Mittelstellung zwischen der bloßen Erfahrung, Empirie, und der Grundwissenschaft, epistéme, ein“57 Die Techne rekurriert gleichermaßen auf das Erfahrungswissen, sie verfügt jedoch im Gegensatz zu diesem über die Gründe ihres Handelns. Sie weiß nicht nur, daß im Bereich der Heilkunst eine bestimmte Therapie wirkt, sondern sie kann auch die Ursachen dafür angeben. Der Arzt vermag ein Krankheitsbild zu diagnostizieren, er kennt die Mittel der Heilung und ist in der Lage, ihren Einsatz zu begründen. Während die Erfahrung immer auf Einzelnes bezogen bleibt, die gleiche Dosierung eines Mittels bei der gleichen Erkrankung bei Menschen mit unterschiedlicher Konstitution also problematische Folgen haben kann, da die Wirkungsgründe nicht bekannt sind, bezieht sich die Techne notwendig auf das Allgemeine, denn das Wissen, warum etwas wirkt, ist allgemein und kann je nach Bedarf die Besonderheit jedes Einzelfalls berücksichtigen. Techne unterscheidet sich vom bloßen Erfahrungswissen also durch die Kenntnis der Gründe ihres Tuns; der Bezug aufs Allgemeine hingegen verbindet sie mit der Grundwissenschaft, von der sie sich wiederum dadurch abhebt, daß diese sich auf das unveränderliche Sein richtet, während es die Techne mit dem Veränderlichen des je herzustellenden Gegenstandes zu tun hat. Neben die Bemühung um eine logische Begründung der Techne als Wissensform tritt bei Aristoteles der Versuch, die der Techne immanente Zeitstruktur zu bestimmen. Er geht davon aus, daß sich jeder Herstellungsprozeß in zwei zeitlich aufeinanderfolgende Phasen gliedert: „Die vom Ziel des Prozesses, der Form des herzustellenden Gegenstandes ausgehende ‚Analyse’: Planung (Kalkulation des eigentlichen Herstellungsprozesses), die Bestimmung der Mittel, durch die das Ziel hergestellt werden kann und 2. die tatsächliche Anwendung, das Ins-Werk-Setzen dieser Mittel, den eigentlichen Fertigungsprozeß, der schließlich zur Herstellung des anfangs gesetzten Zie-
57 Wolfgang Schadewaldt, Die Begriffe ‚Natur’ und ‚Technik’ bei den Griechen, in: Wolfgang Schadewaldt, Natur. Technik. Kunst. Drei Beiträge zum Selbstverständnis der Technik in unserer Zeit, Göttingen/Berlin/Frankfurt a.M. 1960, 48.
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les, des Hauses oder der Gesundheit führt.“58 Ausgangspunkt der Analyse ist das Ziel, auf das sich der Herstellungsprozeß richtet. Von diesem Ziel ausgehend, analysiert der Technit in streng kontrollierten logischen Schritten der Reihe nach alle Bedingungen, die zur Erreichung seines Ziels erfüllt weden müssen. Die Analyse erfordert eine umfassende Kenntnis der Materialien, der Werkzeuge und Mittel sowie der Organisation des Arbeitsprozesses, die das präzise Ineinandergreifen der einzelnen Herstellungsphasen garantiert. Dabei sind für den Techniten stets zwei Größen fest vorgegeben: „der herzustellende Gegenstand, mit allen seinen Bestimmungen und eine nahezu unbegrenzt hohe Zahl von Bezügen, in denen notwendige Wechselwirkungen festgelegt sind.“59 Das Gelingen des Werkes schließlich setzt das handwerkliche Geschick des Ausführenden voraus. Der aristotelische Begriff der Techne bezieht sich damit auf die präzise beschreibbare Sachlogik eines Herstellungsprozesses: „Während des gesamten Herstellungsprozesses wird so Bewegung von der Techne über die Werkzeuge – Arm, Hand, Messer – auf den Werkstoff übertragen, so lange bis der Werkstoff aus den Veränderungen, die er erfährt, die gewünschte Form erhalten hat [...] Das aristotelische Schema: Form (im Entwurf) – Bewegung der Werkzeuge – Form (im fertigen Produkt) hat also allgemeine Gültigkeit.“60 Wenn die Form am Anfang und am Ende des Fertigungsprozesses steht, was geschieht dann aber mit ihr während der durch das Wirken der Werkzeuge bestimmten Phase, denn auch zu diesem Zeitpunkt muß sie ja auch auf eine bestimmte Weise vorhanden sein. Zurecht ist bemerkt worden, daß sie in dieser Phase, „nicht unmittelbar ablesbar ist wie zu Anfang im Entwurf; etwa in einer Zeichnung, und am Ende wieder am fertigen Produkt; sie erscheint hier in einer anderen Darstellung, deren Kennzeichen die Erstreckung der Zeit ist. Wir können sagen: Zu Anfang und Ende, im Entwurf und im Produkt erscheint sie im Klartext, in der Mitte in der Bewegung der Werkzeuge chiffriert. [...] Die Bewegung der Werkzeuge ist die Tätigkeit der Techne, die Techne die Form des Hergestellten. Die Bewegung der Werkzeuge ist also die in Tätigkeit, Bewegung übersetzte Form des Gegenstandes.“61
Im Hinblick auf die logische Analyse des Herstellungsvorgangs ist die aristotelische Bestimmung der Form im Akt der Fertigung von weitrei58 Klaus Bartels, Der Begriff Techne bei Aristoteles, in: Synusia. Festgabe für Wolfgang Schadewaldt. Hg. v. Hellmut Flashar u. Konrad Gaiser, Pfullingen 1965, 278. 59 A.a. O., 280. 60 A.a.o., 282. 61 A.a.o., 282.
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chender Bedeutung. Die zu Beginn vorhandene Form nimmt im Produktionsprozeß einen anderen Aggregatzustand an, die Statik der Form verwandelt sich für die Dauer der Ausführung in Dynamik und Bewegung, ehe sie im Werk genau so in Erscheinung tritt, wie es zuvor geplant worden war. Die Ausführung verändert das zu realisierende Ziel in keiner Weise, oder um im Bild der zitierten Interpretation zu bleiben, aus dem für die Dauer der Herstellung chiffrierten Text geht kein anderer als der ursprünglich vorhandene Text hervor. Ursprung, Planung, Ausführung und Werk sind für Aristoteles lediglich logische Variationen einer mit sich selbst in allen Akten identischen Techne. Aristoteles siedelt die Idee nicht mehr wie Platon in einer transzendenten Sphäre, sondern in der Seele des Menschen an. Dort ist sie als immanentes Formprinzip der Natur selbst wirksam, das durch den Menschen zur Geltung kommt. Seine Praxis bleibt jedoch darauf beschränkt, nur das zu vollenden, was die Natur angesichts ihrer wesenhaften Vollständigkeit zwar immer schon potentiell umfaßt, aber nicht selbst hervorgebracht hat. Zudem hält Aristoteles daran fest, daß das Eidos bereits alle Wesensbestimmungen des durch Techne herzustellenden Gegenstandes in sich umschließt, wie er in seiner „Metaphysik“ ausdrücklich hervorhebt: „Durch Techne entstehen alle Gegenstände, deren Eidos der Seele innewohnt.“62 Es herrscht eine Identität zwischen dem vorgängigen Eidos mit dem am Ende des Entstehungsprozesses vorhandenen einzelnen Seienden. Die Form eines Hauses, das gebaut werden soll, ist nichts anderes als die Materialisierung der bereits in der Seele des Urhebers vorhanden Form. Neben dieser setzt die aristotelische Vorstellung einer durch Techne bestimmten Genesis von Seiendem das Vorhandensein eines Stoffes, der zu etwas werden soll, voraus; bei einem Haus sind es die Steine, aus dem es erbaut werden soll. Das Eidos ist selbst nicht entstanden, „sondern das aller Entstehung zuvorkommende, anfänglich Seiende [...]. Was entsteht, ist die Vereinigung von Eidos und Stoff, dergestalt, daß die Vereini62 Aristoteles, Metaphysik, 6. Buch, 7 1032a (Übersetzung zitiert nach Bartels, 32). In einer anderen Übertragung heißt es: „Durch Kunst aber entsteht das, dessen Form in der Seele ist.“ Aristoteles, Metaphysik. Schriften zur ersten Philosophie. Übersetzt und hg. v. Franz F. Schwarz, Stuttgart 1979, 177. Bernhard Schweitzer hat die Bedeutung dieser Aussage kommentiert: „Das Eidos in jener Metaphysikstelle ist also nicht eine durch einen Einzelgegenstand hervorgerufene oder bestimmte Vorstellung, sondern ein [...] Intellegibles, ein Wissen um die Wesensform, besser noch um die Endform, auf dem Weg zu deren Verwirklichung sich alles einzeln gestaltete, das Haus, die Kline, das Bildwerk befindet. Es ist ein Begriff, welcher der Erkenntnislehre, nicht der Psychologie im engeren Sinne, der Wahrnehmungs– und Vorstellungstheorie, angehört.“ Bernhard Schweizer, Der bildende Künstler und der Begriff des Künstlerischen in der Antike, 78. Vgl. Karl–Heinz Volkmann– Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, Frankfurt a.M. 1979, darin besonders § 9 ‚Wesen, Natur, Techne’.
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Ontologisch bezieht Aristoteles also „das Schaffen der Techne stillschweigend in die allgemeine Lehre von den Formen ein.“64 Daß mit diesen keineswegs bloß subjektive Vorstellungen gemeint sind, zeigt die Stellung, die Aristoteles dem Schaffenden im Prozeß der Hervorbringung zuweist. Nicht als schöpferisches Individuum ist der Mensch daran beteiligt, sondern nur insofern er selbst als Mittel verstanden wird, dessen sich die Technik bedient. Sie allein ist die objektive geistige und unpersönliche Potenz, die sich des Techniten zur Realisierung ihres Zweckes als eines lebendigen Werkzeugs bedient. Die Mittel, die die Idee des herzustellenden Gegenstandes auf den Werkstoff übertragen und in ihm realisieren sollen, umfassen sowohl den Körper des Techniten als auch seine spezifischen Werkzeuge. Zu diesen zählt Aristoteles auch die Hand, der er erstaunlicherweise denselben Status als Mittel zuweist wie dem Messer, das sie führt. „Dieser allein aus der Funktion gewonnene Begriff des Werkzeugs ist dem modernen Denken fremd. Unser Werkzeugbegriff legt den Schnitt zwischen dem Herstellenden und dem Mittel, das er gebraucht, also zwischen Hand und Stock [...], der griechische Werkzeugbegriff, der Körperglieder und Werkzeuge unter dem Begriff des ‚Organon’ zusammenfaßt, legt den Schnitt zwischen Techne, die der Bewegung entspringt, und das erste Glied, das die Bewegung nur übermittelt – selbst Bewegung erfährt, und sie weitergibt – d.h. zwischen die Techne und den Körper des Herstellenden.“65
Die funktionale Gleichsetzung der Hand mit dem Werkzeug, das sie benutzt, hat Aristoteles jedoch nicht daran gehindert, im Hinblick auf das Verhältnis des Menschen zur Techne der besonderen Rolle der Hand im Herstellungsprozeß größte Aufmerksamkeit zu widmen. Als Werkzeug ist sie für ihn von einzigartiger Bedeutung: „Die Hand ist offensichtlich nicht nur ein Werkzeug, denn sie ist gleichsam ein Werkzeug anstelle von Werkzeugen“.66 Die herausragende Stellung der Hand zeigt sich darin, daß sie für alle Werkzeuge stehen kann, die sie in sich aufnehmen 63 Karl–Heinz Volkmann–Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, 79. 64 Fritz Wehrli, Die antike Kunsttheorie und das Schöpferische, in: Museum Helveticum, Vol. 14. Fasc. 1, 1957, 41. Zum Problem der Nachahmung vgl. Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 55. 65 Klaus Bartels, Der Begriff der Techne bei Aristoteles, 284. 66 A.a.o., 285.
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kann. Ist sie im Hinblick auf die Umsetzung der Techne in Bewegung nur eines unter vielen Werkzeugen, so erscheint sie innerhalb der Sphäre der Mittel für Aristoteles durch nahezu unbeschränkte Möglichkeiten des Gebrauchs von Werkzeugen bestimmt; sie kann ein Messer ebenso führen wie ein Schreibgerät, einen Meißel ebenso wie einen Speer. Aristoteles gelangt zu der anthropologisch weitreichenden Erkenntnis, daß im Gegensatz zu anderen Lebewesen, deren Organausstattung durch Spezialisierung geprägt ist, der Mensch in Gestalt der Hand das vielseitigste, verwandlungsfähigste Mittel besitzt, das durch den beliebigen Austausch von Werkzeugen größte Spezialisierung und höchste Adaptionsfähigkeit in sich vereint, „denn die Hand wird Kralle und Schere und Horn und Speer und Schwert und jedes beliebige Werkzeug, denn zu all dem kann sie werden, weil sie alles ergreifen und festhalten kann.“67 Die Hand vermittelt zwischen der körperlichen Ausstattung und den Werkzeugen, eine Funktion, die im Begriff des Hand-Werks für die Besonderheit einer Tätigkeit und eines entsprechenden Berufsstandes prägend geworden ist. Angesichts ihrer Universalität und ihrer zentralen Funktion der Vermittlung von Techne und Bewegung, Physis und Mittel ist der Begriff der Techne bei Aristoteles nicht von dem zu trennen, was die Hand macht, zumal die antike Technik vollständig handwerklich geprägt ist. Es ist früh gesehen worden, daß Aristoteles den Begriff der Techne zwar in jener durch die Verrichtungen der Hand bestimmten Sphäre entfaltet, gleichwohl aber darunter drei Tätigkeitsarten und Berufsgruppen faßt, „für die wir keinen zusammenfassenden Begriff mehr haben: [...] das Herstellen des Handwerks wie der bildenenden Künste als auch das der Wortkunst“68 . Angesichts der Vorzüge, die der „Bereich der manuellen Tätigkeit als Basis der Begriffsentwicklung“69 für die theoretische Erklärung des modernen Technisierungsprozesses besitzt, hat der in der aristotelischen Philosophie begründete systematische Zusammenhang von Techne und Dichtung vergleichsweise wenig Beachtung gefunden, am wenigsten dort, wo seine Klärung am naheliegendsten gewesen wäre. Immerhin gehört die „Poetik“ des Aristoteles seit jeher zu den kanonischen Texten der Literaturwissenschaft und es herrscht kein Mangel an Interpretationen, weder zu ihren Aussagen noch zu ihrer Wirkungsgeschichte. Allerdings wird der Blick traditionell durch zwei wirkungsmächtige Topoi der Rezeption gelenkt, die noch in Manfred Fuhrmanns „Einführung in die antike Dichtungstheorie“ die Darstellung der aristotelischen Poetik bestimmen, wenn er diese vor allem als Gattungspoetik 67 Aristoteles zitiert nach Bartels, 285. 68 Karl Ulmer, Wahrheit, Kunst und Natur bei Aristoteles, Ein Beitrag zur Aufklärung der metaphysichen Herkunft der modernen Technik, Tübingen 1953, 131. 69 A.a.o., 131.
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würdigt und grundsätzlich davon ausgeht, daß das „Mimesis-Prinzip und die starke Hervorhebung des rezeptionsästhetischen Ansatzes bewirken, daß die Probleme des dichterischen Hervorbringens nahezu völlig außer acht bleiben“70. Erst in der jüngeren Aristoteles-Forschung ist gegen diese Sichtweise massiv Einspruch erhoben worden. In dem Maße, wie nicht einzelne Fragestellungen aus der „Poetik“ herausgelöst und isoliert betrachtet werden, sondern der innere Zusammenhang des Textes Beachtung findet, erschließt sich die Einheitlichkeit einer Argumentation, in deren Mittelpunkt vor allem die Frage nach dem Problem der dichterischen Hervorbringung steht. Bereits der erste Satz der „Poetik“, der auf den Gang der Gedankenführung vorausweist, deutet darauf hin, daß hier jenem systematischen Zusammenhang nachgegangen werden soll, der die Dichtkunst als eigenständigen Wissensbereich konstituiert und dergestalt der philosophischen Analyse zugänglich ist: „Wir wollen hier von der Dichtkunst als solcher sprechen, ihren Gattungen und deren verschiedenen Wirkungen, ferner davon, wie man Erzählungen aufbauen muß, wenn eine Dichtung schön werden soll, außerdem aus wie vielen und welchen Teilen eine Dichtung besteht und was schließlich noch zu diesem Gegenstand gehört.“71 Insbesondere das 17. Kapitel wendet sich explizit produktionstheoretischen Fragestellungen zu. Aristoteles erteilt hier den Ratschlag, der Dichter habe sich vorzustellen, er sei bei den Ereignissen selbst dabeigewesen, zudem gewährleiste nur der erregte Zustand eine wahrheitsgetreue Darstellung von erregten Figuren und schließlich sei deren Individualisierung im Sinne der Gestaltung charakteristischer Einzelheiten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zwar fällt in diesem Abschnitt auf, daß Aristoteles die konkreten Ratschläge mit der grundsätzlichen Feststellung verbindet: „Darum ist die Dichtkunst Sache entweder großer Begabung oder großer Leidenschaft.“72 Doch ist zu Recht vermerkt worden, daß „das Postulat in seiner Kürze hier rätselhaft und bezugslos wirkt [...] denn das hohe technische Niveau, das die Poetik bei einem gutem
70 Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, 9. In der Einleitung der von ihm übersetzten und erläuterten ‚Poetik’, München 1976, hat Fuhrmann den technischen Charakter der Schrift noch stärker betont, vgl. 26– 26. Zu einzelnen Problemen der „Poetik“ unter Berücksichtigung der älteren Literatur siehe Fuhrmann, Einführung; in die antike Dichtungstheorie; daneben: Gerald F. Else, Plato and Aristotle on Poetry; Despina Moraiou, Die Äußerungen Aristoteles über Dichter und Dichtung außerhalb der Poetik 1994; Essays on Aristotels Poetics (ed. Amelie Aksenberg Roty) 1992. Zur Topik der ,Poetik’–Rezeption: Ada B. Neschke, Aristoteles und Aristotelismus oder Der Fall der Poetik, in: Neue Hefte für Philosophie, H. 15/17, 1977. 71 Aristoteles, Poetik. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen v. Olof Gigon, Stuttgart 1961, 23. 72 A.a.o., 48.
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Dichter voraussetzt, läßt sich wohl kaum mit der Anschauung vereinbaren, daß Dichtung eine Frage der Ekstase sei“73. Daß die Erörterung von Tragödie und Epos, die Untersuchung der Gestaltung von Handlung und Charakteren sowie die Beschreibung historischer Entwicklungsphasen der einzelnen Formen nicht auf die Begründung einer normativen Gattungspoetik zielen, sondern die Einheit der Argumentation im Zeichen der theoretischen Anstrengung steht, eine produktionsorientierte Theorie der Dichtung als Techne zu begründen, haben vor allem die Detailuntersuchungen der grundlegenden Arbeit von Ada B. Neschke74 verdeutlicht. Die Beschreibung der Gattungen ist für Aristoteles insofern von Bedeutung, als er in ihnen Grundmöglichkeiten formaler Gestaltung sieht, die sich im Rahmen der historischen Entwicklung der Dichtung von naiv betriebenen „Improvisationen“75 bis zu einer bewußten Hervorbringung ausprägen, in denen sie schließlich „ihre eigentliche Natur gewonnen hat“76. An der Entwicklung der Tragödie hat Aristoteles exemplarisch den Prozeß der fortschreitenden Differenzierung einzelner Formelemente beschrieben: „Die Zahl der Schauspieler hat Aischylos von einem auf zwei gebracht; zugleich hat er den Chor zurücktreten lassen und die gesprochene Rede zum Träger der Handlung gemacht. Sophokles hat drei Schauspieler und die Bühnenmalerei eingeführt. Zugleich nahm die Tragödie an Größe gegenüber den kleinen Geschichten des Anfangs zu, und nachdem die Redeweise anfangs lächerlich gewesen war (weil sie sich zuerst im Satyrspiel entwickelt hatte), wurde die Tragödie erst spät feierlich und das Versmaß wandelte sich vom trochäischen Tetrameter zum iambischen Trimeter. Zuerst nämlich verwendeten sie den Terameter, weil die Dichtung satyrspielartig und eher für den Tanz war; als aber der Sprachvers durchdrang, fand die Natur selbst das ihm angemessene Versmaß. Denn der Iambus ist das ausgesprochenste Vers77
maß.“
Wie hier das Auffinden des Iambus als des der Tragödie gemäßen Versmaßes sind es praktische Erfahrungen der Bühnenkunst, die die Dichter 73 Werner Söffing, Deskriptive und normative Bestimmungen in der ,Poetik’ des Aristoteles, Amsterdam 1981, 143. 74 Ada B. Neschke, Die ,Poetik’ des Aristoteles. Textstruktur und Textbedeutung. Bd I Interpretationen, Bd.II, Analysen, Frankfurt a.M. 1980, darin vor allem Kapitel 3 und 4. Bereits in seiner grundlegenden Monographie: Aristoteles. Darstellung und Deutung seines Denkens, Heidelberg 1966, hatte Ingemar Düring hervorgehoben: „Das Schlüsselwort in der Poetik ist Techne.“ (125) Es geht allerdings darum, was dies für das Verständnis der Dichtkunst besagt. Eben dies zeigt Neschkes Arbeit. 75 Aristoteles, Poetik, 27. 76 A.a.o., 28. 77 A.a.o., 29.
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motivieren, einzelne Elemente der Tragödie weiterzuentwickeln und sie auf diese Weise zu dem führen, was Aristoteles als Telos ihrer Form begreift und als klassische Definition der Tragödie gilt: „Aus dem bisher Gesagten entnehmen wir die Bestimmung ihres Wesens. Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, daß jede Form einer solchen Rede in gesonderten Teilen erscheint und daß gehandelt und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe von Furcht und Mitleid eine Reinigung von eben derartigen Affekten bewerkstelligt wird.“78 Das wichtigste Formelement der Dichtung, der „Aufbau der Handlung“79, hat für Aristoteles ihre endgültige und wesenhafte Ausbildung in der attischen Tragödie des 4. Jahrhunderts v. Chr. gefunden, so daß die Behandlung dieser Gattung das gesamte Projekt der „Poetik“ fundiert. An ihrer Entwicklung will er vor allem demonstrieren, daß das Wissen der älteren Dichter lediglich dem Bereich der Empirie zuzuordnen sei, während sein Anspruch darauf zielt, Dichtkunst als Techne zu begründen, da sie mit der Form der klassischen Tragödie nicht mehr nur über die Kenntnis der Mittel verfügt, sondern deren Verwendung im Hinblick auf das Ziel auch zu begründen vermag und entsprechend über richtige und falsche Gestaltung technisch zu urteilen vermag. So kritisiert Aristoteles es zum Beispiel als technischen Mangel, wenn ein Tragödienschreiber, angesichts der Erfahrung, daß die Zuschauer nur Mitleid für einen Helden empfinden, der ohne eigenes Verschulden ins Unglück gerät, diesen so gestaltet, „daß er weder an Tugend und Gerechtigkeit ausgezeichnet ist noch durch Schlechtigkeit und Gemeinheit ins Unglück gerät, sondern dies erleidet durch irgendeinen Fehler.“80 Die von Aristoteles aufgewiesenen Formelemente der Tragödie oder des Epos sind also weniger Gattungsnormen, sondern vielmehr als definitive Mittel dichterischer Produktion zu verstehen, deren Leistungsfähigkeit er im Rahmen der theoretischen Anstrengung zu begründen versucht, die Dichtung als eine philosophischen Kriterien standhaltende Techne auszuweisen. In diesem Sinne ist die „Poetik“ des Aristoteles eine Lehrschrift der poetischen Hervorbringung als Techne, eine materiale Techne der Dichtung, wie es zuvor bereits vergleichbare Schriften, etwa in der Medizin, gegeben hatte. „Es zeigt sich also ein philosophisches Interesse, das Studium der natürlichen Entwicklung einer Techne, ihrer gewordenen Gestalt und ihrer noch offenen Möglichkeiten. Diesen Prozeß, die Entelechie des Darstellens zum ‚bewußt gemachten Darstellen’, sieht Aristoteles vermittelt durch Funde. Da nun die Poetik dieses Wissen zu vermitteln ver78 Aristoteles, Poetik, 30. 79 A.a.o., 31. Vgl. dazu Richard Kannicht, Handlung als Grundbegriff der aristotelischen Theorie des Dramas, Poetica, H. 3/4, 1976. 80 Aristoteles, Poetik, 41.
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spricht, fällt ihr die Rolle zu, die Dichtkunst, sofern sie begründetes Wissen ist, zu vollenden.“81 Der philosophische Anspruch, das Dichten als bewußtes Machen auszuweisen, verbindet sich mit dem paradigmatischen, den Dichtern seiner Zeit eine Techne an die Hand zu geben, die ihnen die Produktion von Werken erlaubt, die dem entspricht, was Aristoteles als erreichtes Telos der jeweiligen Form auszuweisen versucht hatte und was unter dem Gesichtspunkt der Wissensform nichts anderes bedeutet als technische Richtigkeit.82 Joachim Ritter hat allerdings darauf verwiesen, daß sich die Kunstfertigkeit im Sinne von Techne bei Aristoteles auch auf das bezieht, was gewußt und gekonnt werden muß, ohne daß es sich in Regeln fixieren ließe. Erst diese auf das Ganze des Herstellungsprozesses bezogene Kenntnis macht den Ausübenden zum Meister und seine Tüchtigkeit zur Weisheit.83 Die aristotelische „Poetik“ erweist sich als Versuch, Dichtung wieder im vorsokratischen Sinne und damit an die Bemühungen der Sophisten anknüpfend in die Sphäre der durch Techne bestimmten Disziplinen einzugliedern.84 War nicht zuletzt die Lehrbarkeit ihrer Verfahren ein entscheidendes Element der Techne, so zeigen insbesondere neuere Forschungen, daß es in Athen Dichterfamilien gab, in denen bestimmte handwerkliche Kunstgriffe von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden. Es existierten über Jahrhunderte sich erstreckende Dynastien von Tragödien- und Komödiendichtern. Aristophanes zum Beispiel hatte drei Söhne, die alle wie ihr Vater Komödiendichter wurden.85 Wenn Aristoteles’ „Poetik“ als materiale Techne der Dichtkunst verstanden werden kann, bleibt zu klären, inwieweit die Auseinandersetzung mit der von Platon geschaffenen Situation, alle Techne müsse auf eine sie begründende Erkenntnis des Wahren bezogen werden können, ihre Spuren darin hinterlasssen hat. Die Frage hat um so mehr Gewicht, als 81 Ada B. Neschke, Die ,Poetik’ des Aristoteles, 98/99. 82 Vgl. Hellmut Flashar. Die ‚Poetik’ des Aristoteles und die griechische Tragödie in: Poetica H 1/2, 1984. Daß Aristoteles vor allem auf die Tragödie des 4. Jahrhunderts eingeht und Eigenarten und Besonderheiten der des 5. Jahrhunderts unberücksichtigt läßt, führt auch Flashar auf das der Poetik zugrundeliegende und von aktuellen produktionstheoretischen Überlegungen bestimmte Interesse zurück. „Die Aristotelische Poetik ist [...] als Techne eine Schrift, die sich konkret an die Dichter und Dichtung der eigenen Zeit wendet“. (12) 83 Siehe Joachim Ritter, Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks, in: Joachim Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a.M. 1969, 80. 84 Pohlenz bemerkt zu diesem Zusammenhang: „Zweifellos ist Aristoteles der erste, der ein wissenschaftliches System der Poetik gegeben hat. Aber schwerlich war es ganz verdient, wenn dadurch die Anfänge der Poetik, wie sie bei Georgias vorlagen, völlig in den Schatten gestellt wurden.“ (471). 85 Siehe dazu: Dana Ferein Sutton, The Theatrical Families of Athens, in: American Journal of Philology, No. 1, Vol. 108, 1987.
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Platon selbst, trotz seiner höchst widersprüchlichen Ausführungen zur Dichtung, im „Phädros“ doch ein provisorisches Modell der Vermittlung von Dichtung, Enthusiasmus und Techne entwickelt hatte. Der für den platonischen Techne-Begriff konstitutive Bezug jedes Könnens auf Erkenntnis, jedes Wissens auf Wahrheit findet in Gestalt der Psychologie jene Disziplin, die, im „Phädrus“ als Zentrum der Rhetoriklehre eingeführt, auch Aristoteles Möglichkeiten eröffnet, an das Programm seines Lehrers anzuknüpfen. Der Ort dieses Anschlusses ist die Rhetorik. „Was die Kunst der Rhetorik im engeren Sinne ausmacht, von den zeitgenössischen Theorien aber nicht gelehrt werden kann, ist die Kenntnis der Seele [...]. Innerhalb der Rhetorik entsteht für ihren Zweck und als ihre Kerndisziplin die empirische Psychologie [...] Die Psychologie wird zur Philosophie zugelassen, obwohl ihre Ergebnisse nicht denselben Wahrheitsanspruch wie die Ideen erheben können.“86 Aristoteles nimmt das platonische Prinzip, daß zur Redekunst eine grundlegende Kenntnis der seelischen Kräfte gehöre, zwar auf, mindert aber deren Bedeutung, indem er ihnen gegenüber auch die Rolle der Persönlichkeit des Redners und die konkrete emotionale Disposition der Zuhörer zur Geltung bringt. Er verzichtet in seiner Rhetorik auf eine allgemeine Seelenkunde als Grundlage rhetorischer Praxis und entfaltet stattdessen die von einem Redner für seine Zwecke zu gebrauchenden Elemente, unter denen die Stimmung der Zuhörer „selbst als ein Mittel, Überzeugung zu erreichen“87, angesehen wird. Das in der Rhetorik dominierende Schema der Argumentation entspricht formal dem der „Poetik“. Auch für die Tragödie macht Aristoteles die kathartisch wirkenden Handlungselemente als Mittel seelischer Einflußnahme geltend, die dergestalt als Elemente der Techne auf die menschliche Psyche wirken und damit auf einen im platonischen Sinne wahrheitsfähigen Bereich bezogen sind. Dieses Verständnis sprachlicher Mittel weist die Psychologie nicht nur als Basisdisziplin der Rhetorik und Dichtkunst aus, sondern gerade der Rekurs auf ihre Erkenntnisse im Sinne eines rationalen Mittelgebrauchs für die Planung von Rede und dichterischem Werk läßt den technischen Charakter, nicht nur der Rhetorik, sondern auch der Dichtkunst hervortreten. Als Techne erfüllt die Dichtkunst, die sich auf die Erkenntnisse der Psycho86 Heinrich Niehues–Proebsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a.M. 1987, 193. Düring rückt diesen Bezug ebenfalls in den Mittelpunkt seiner Darstellung der aristotelischen Rhetorik: „Das Hauptmittel ist also wirklich psychologische Einsicht. Als zweite Forderung kommt die Kenntnis der Mittel hinzu, mit denen man die psychagogica [...] betreibt. Ohne eine sichere Methode wird die Redekunst so etwas wie die Wanderung eines Blinden. Methodisch richtig betrieben, wird sie aber eine techne.“ (133). 87 Antje Hellweg, Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Platon und Aristoteles, Göttingen 1973, 234.
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logie und damit auf ein Wahrheitswissen bezieht, wie verdeckt auch immer die platonischen Kriterien philosophischer Anerkennung. Welchen epochalen Einschnitt innerhalb der Geschichte der Dichtkunst die aristotelische „Poetik“ bedeutet, auch wenn sich bis zur Renaissance keine Spuren einer unmittelbaren Rezeption des Textes selbst nachweisen lassen, zeigt sich vor allem an den Auswirkungen, die der von der Philosophie ausgebildete Begriff der Techne sowohl für das Selbstverständnis als auch für die Entwicklung der einzelnen Disziplinen gehabt hat. Für die Dichtung gilt in besonderer Weise, was sich ebenso am Fortschritt in der antiken Heilkunst ablesen läßt. Durch den Begriff der Techne und über „die damit verbundene Vorstellung über die Methode wird es gerade möglich, ihre Eigenständigkeit gegenüber aller Spekulation ausdrücklich festzulegen, eine Eigenständigkeit, die sie zwar schon vorher hatte, aber ohne hinreichenden Begriff ihrer eigenen Wissensstruktur“88. Die Tatsache, daß die Dichtkunst seit der aristotelischen Poetik eben darüber verfügt, hat zur Folge, daß sie in der ausgehenden Antike einen Platz innerhalb der artes zugewiesen bekommt, die bis zum 12. Jahrhundert „die Fundamentalordnung des Geistes bilden“89. Selbst wenn der Poetik innerhalb der artes liberales keine Eigenständigkeit zukommt, sondern ihre Gegenstände sowohl der Grammatik als auch der Rhetorik zugewiesen werden, bleibt doch der entscheidende Gesichtspunkt die Einschätzung der dichterischen Hervorbringung als bewußter durch Wissen und Können bestimmter Vorgang der Herstellung, den nun der lateinische Begriff ,ars’ als Übersetzung des griechischen Wortes ,techne’ bezeichnet. Daß er der Sache nach das gleiche bedeutete, zeigt die für das mittelalterliche Denken maßgebliche Definition, die Isidor von Sevilla im 7. Jahrhundert formuliert hat: „Kunst heißt ars, weil sie aus festen Regeln und Vorschriften besteht.“90 Und: „Der Künstler (artifex) heißt allgemein so, weil er Kunst (ars) schafft wie der Goldschmied Goldsachen.91 War die relative Eigenständigkeit der Dichtkunst vom Ausgang der Antike bis zum Ende des Mittelalters durch die ihr eigene Wissenstruktur gesichert, so wird deren Fundament zudem dadurch gefestigt, daß die konkreten Schritte der sprachlichen Arbeit durch die in der Rhetorik festgelegten Dispositionsschemata (inventio, dispositio, elocutio) geregelt werden. Die bereits bei Aristoteles sich andeutende Dominanz der 88 Karl Ulmer, Wahrheit Kunst und Natur bei Aristoteles, 214. 89 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 1965, 52. 90 Zit. nach Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963, 134. Zum Bedeutungswandel von Techne zu ars vgl. Ernesto Grassi, Kunst und Mythos, Hamburg 1957, 53–59. 91 Zit. nach Rosario Assunto, 135. Zur Theorie der ars und zu den Poetiken im Mittelalter vgl. auch Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München/Wien 1991.
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ERFAHRUNG DES MACHENS
Rhetorik gegenüber der Poetik ermöglicht jenen durch die ,Ars Poetica’ des Horaz in der römischen Tradition forcierten Prozeß der Rhetorisierung der europäischen Literatur, der als „die folgenschwerste Entwicklung innerhalb der Geschichte der antiken Rhetorik“92 angesehen werden muß. Mit der Wiederentdeckung des Orginaltextes der aristotelischen „Poetik“, ihrer Publikation und Kommentierung und der damit beginnenden „Epoche des Aristotelismus“93, verfestigt sich die Überzeugung, in Gestalt seiner Abhandlung sei das Wesen der Dichtung vollständig erfaßt und entsprechend könnten alle Normen und Herstellungsregeln ihr entnommen werden, so daß die bis zur Aufklärung entstehenden Poetiken ihre Aufgabe vor allem darin sahen, die aristotelischen Grundsätze fortzuschreiben, ehe das überlieferte poetisch-rhetorische System um die Mitte des 18.Jahrhunderts an eine „paradigmatische Grenze“94 stößt.
92 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 79. Zu den neueren um die Erfassung des widersprüchlichen Charakters der ,christlichen Ästhetik’ bemühten Ansätzen, die gezeigt haben, daß die christlichen Autoren durch Kombination von traditionellen Versatzstücken und ihren Verschleierungen im Gewand des Konventionellen zu höchst individuellen Aussagen fähig waren, die die konventionelle Toposforschung angesichts ihrer Fixierung an den wiederkehrenden Gebrauch bestimmter Formelemente nicht gesehen hat, siehe die Übersicht von Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985. 93 Manfred Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, 189. Zur Wirkungsgeschichte der aristotelischen ,Poetik’ in der deutschen Dichtungstheorie siehe vor allem 252–308. Blumenberg hat darauf hingewiesen, daß in der vorangehenden Tradition „die allgemeine metaphysische Auslegung von Kunst/Techne im weitesten Sinn beherrschend geworden ist, bevor das, was wir Ästhetik des Aristoteles nennen würden, mit der Wiederentdeckung der Poetik wirksam werden konnte. Die Kommentierungsarbeiten des Mittelalters hatte einen Aristotelismus abzüglich der Poetik (die nur über die arabische Linie der Tradition läuft) zum Ergebnis; welche Folgen das gehabt hat, müßte dringend untersucht werden.“ Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Nachahmung und Illusion. Poetik und Hermeneutik. Hg. v. Hans Robert Jauß, München 1964, 17. 94 Helmut Schanze, Rhetorik und Literaturwissenschaft. Zum Verhältnis von Produktionstheorie und Analysesystem von Texten im 18. Jahrhundert, in: Heinrich F. Plett (Hg.), Rhetorik, Kritische Positionen zum Stand der Forschung, München 1977, 69. Vgl. dazu Heinrich Bosse, Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770, in: Jahrbuch für internationale Germanistik, H. 1.1978. Zum Wandel zentraler poetologischer Grundbegriffe im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert siehe vor allem die vorzügliche Untersuchung von Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970.
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II. METAPHYSISCHE POETIK IM ZEICHEN PLATONISMUS
DES
Nicht nur der Begriff der poetischen Techne, sondern auch die Vorstellung des Dichters als vom göttlichen Geist beseelten Sehers, der sich dergestalt schon immer von den Vertretern der anderen Künste unterschieden hatte, weist seit der Antike eine spezifische Wirkungsgeschichte auf, wenngleich eine eher untergründige. Nachdem der Topos des Enthusiasmus in der Ausdeutung des Mittelalters die Form einer theologisch argumentierenden Inspirationslehre1 angenommen hatte, erhebt sich gegen das Mittelalter und seinen scholastischen Aristotelismus ein „neues Welt- und Selbstverständnis [...] im Namen und mit der Selbstdefinition des Platonismus“2, das unmittelbare Konsequenzen für das dichterische Selbstverständnis mit sich bringt: „Ohne den ‚Phaidros’ zu kennen, übernahm das Mittelalter von der Spätantike als Gemeinplatz den Begriff des ‚furor poeticus’. Mit der PlatonRenaissance des 15. Jahrhunderts greift man nun wieder auf die ursprüngliche Quelle zurück. Neben den ‚poeta rhetor’ tritt damit der gottbegnadete Musenpriester, in dem eine geheimnisvolle Macht wirkt , die durch keinerlei Studium erworben werden kann.“3
Über die Tradition der Lehre von der Bedeutung göttlicher Eingebung im Schaffensprozeß und ihren Einfluß auf das Selbstbild der RenaissanceAutoren bemerkt Edgar Zilsel zusammenfassend: 1
2
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Zum topologischen Kontext und den ihn bestimmenden Kontrast zwschen heidnischer und christlicher Dichtung siehe Ernst Robert Curtius: Die Musen im Mittelater I u. II, in: Zeitschrift für Romanische Philologie, H. 2, 1939 und H. 3, 1943; zur Überwindung der antiken Vorstellung von der Gunst der Musen durch die christliche Lehre von der göttlichen Inspiration vgl. Friedrich Ohly, Metaphern für die Inspiration, in: Euphorion, H. 2/3, 1993. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989, 193. Vgl. Paul O. Kristeller, Platonismus in der Renaissance, in: Paul O. Kristeller, Humanismus und Renaissance I. Die antiken und mittelalterlichen Quellen. Hg. v. Eckhard Keller, München 1975. August Buck, Italienische Dichtungslehren. Vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952, 88.
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ERFAHRUNG DES MACHENS „Schon Dante fühlt sich, mehr oder weniger allegorisch, durch Minervas Anhauch begeistert, von Apoll geleitet und von den Musen unterwiesen, die Vorstellung vom Dichter-Seher, vom vates bildet gerade im 13. Jahrhundert einen wesentlichen Bestandteil der literarischen Standesideologie und noch Boccaccio leugnet die Grenzen zwischen Theologie und Poesie, zwischen Priestern und Dichtern.“4
An Bedeutung, so Zilsel, vermag diese Vorstellung in den kommenden Jahrhunderten vor allem deshalb zu gewinnen, weil die Aufnahme der göttlichen Inspiration in immer stärkerem Maße von der Besonderheit des Ingeniums, als eine den Künstler auszeichnende Naturanlage schöpferisch tätig zu sein, abhängig gemacht wird. In diesem Zusammenhang bereitet sich eine Verschmelzung beider Begriffe vor, an deren Ende dem Ingenium des Dichters selbst göttliche Züge zugesprochen werden. In der Poetik des humanistischen Gelehrten Scaliger nimmt die neue Gestalt der Lehre bereits deutliche Konturen an. Der Dichter erscheint nicht mehr nur als Medium, dessen sich eine höhere Instanz bedient, sondern er verwandelt sich angesichts seiner schöpferischen Fähigkeiten selbst in eine gottähnliche Gestalt. Dennoch wird die Berufung auf den göttlichen Furor bis ins 18. Jahrhundert beibehalten, wenngleich sie einen weitgehend äußerlichen Charakter erhält und Züge einer formelhaften Legitimation annimmt, auf die in der Regel in den Vorworten der Poetiken zurückgegriffen wird, um die Besonderheit des eigenen Berufsstandes und seiner Praxis demonstrativ von anderen abzugrenzen. Inhaltlich ist damit kaum etwa anderes gemeint, als den Anforderungen des normativen Regelsystems und dem Nachahmungspostulat genüge leisten zu wollen. „Den heimlichen Einfluß des Himmels fühlen“, heißt für Gottsched, „ein gutes und zum Nachahmen geschicktes Naturell“5 zu besitzen, das sich mit Witz als der Fähigkeit, Ähnlichkeiten wahzunehmen, sowie Scharfsinnigkeit und Gelehrsamkeit und Einbildungskraft verbinden müsse. Dies, so stellt Gottsched mit rationalistischer Selbstgewißheit fest, ist nun „meines Erachtens die beste Erklärung die man von dem Göttlichen in der Poesie geben kann.“6 Im Hinblick auf die Sache der Produktion herrscht das ganz von praktischen Erfahrungen bestimmte Bewußtsein, Werke durch die in den Poetiken enthaltenen Anweisungen und in der Rhetorik festgelegten methodischen Schritte herstellen zu können. „Daß 4 5 6
Edgar Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926, 274. Johann Christoph Gottsched, Schriften zu Theorie und Praxis aufklärender Literatur. Hg. v. Uwe–K. Ketelsen, Reinbek b. Hamburg 1970, 13. A.a.o., 14. Vgl. Paul Franz Reitze, Beiträge zur Auffassung der dichterischen Begeisterung in der Theorie der deutschen Aufklärung. Mit einer Darstellung problem– und wirkungsgeschichtlich wichtiger Ansätze in der Antike sowie in Italien, England und Frankreich. Phil. Diss. Bonn 1969.
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man daneben immer auch noch von einem ‚ingenium’ [...], dem göttlichen Wahnsinn spricht und ‚Eingebung’ anzuerkennen bereit ist, soll den Aussagen vieler Dichter über ihr Schaffen Rechnung tragen, stört aber im Ernst die Einheit der Problemstellung der Poetik nicht.“7 Erst nach Gottsched und mit dem Fortschreiten der Aufklärung verliert der Begriff des Enthusiasmus seinen rhetorischen Charakter im Rahmen der theoretischen Umwälzungen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts zur Ausbildung der Ästhetik als philosophischer Disziplin führen, die den Prozeß der funktionalen Differenzierung zwischen künstlerischem Schaffen und Handwerk reflektiert. Kunst wird zur schönen Kunst im modernen Sinne, zu der auch die Literatur gezählt wird.8 Die durch den aristotelischen Begriff der Techne gestiftete Einheit von Handwerk, Kunst und Sprachkunst zerbricht. Damit aber auch das traditionelle Paradigma der Produktion, das den literarischen Schaffensprozeß als durch Wissen und Können bestimmten Vorgang der Herstellung begriffen hatte. Techne bleibt von nun an auf die Sphäre des Handwerks beschränkt, dessen Solidität wie zuvor an die strenge Befolgung ihrer Prämissen gebunden ist. Zwar hält man auch weiterhin „eine Wissenschaft von der Dichtung für möglich. Gerade die Techne jedoch, die ursprünglich zum Titel der ‚Poetik’ gehört, fällt weg, [...] Dieser Zweifel an der Lehr- und Lernbarkeit der Dichtung gilt als Ausdruck einer wahreren Erkenntnis und Ehrfurcht vor ihrem Geheimnis.“9 Die der Dichtkunst eigene Wissensstruktur, die ihre Selbständigkeit seit der Antike gesichert hatte, zerfällt, wenngleich nicht übersehen werden darf, daß in der literarischen Praxis normative Vorstellungen und rhetorische Schemata in der Literatur des 18. Jahrhunderts lange Zeit weitaus wirksamer waren, als die Autoren im Zeichen der neuen Ästhetik zuzugestehen vermochten.10 7 8
Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1951, 236. Zur theoretischen Begründung der von den ,arts et métiers’ zu unterscheidenden ,Beaux arts’ bei Voltaire siehe: Geog Picht, Kunst und Mythos, 77–91. 9 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, 237. „Damit war das Zeitalter der ,Mimesis’ und der Ars vorbei; die Kunst wird nur noch als ,poiesis’ gedacht, und die Ästhetik bewegt sich in neuen Bahnen.“ Armand Nivelle, Literaturästhetik der europäischen Aufklärung, Wiesbaden 1977, 73. 10 Zum gemeinhin unterschätzten Fortwirken stilbildender Elemente der Rhetorik in der deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts siehe: Klaus Dockkorn, Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur– und Geistesgeschichte, in: Klaus Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1968; Zu den aus uneingestandenen Regelabweichungen ebenso wie aus verdeckter Regelbefolgung sich ergebenden Gestaltungsspielräumen und ihrer Wirkung auf literarische Innovationsprozesse siehe Thomas Anz, Literarische Norm und Autonomie. Individualitätsspielräume in der modernisierten Literaturgesellschaft des 18.Jahrhunderts, in: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. v. Wilfried Barner unter Mitarbeit v. Elisabeth Müller–Luckner, München 1989.
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ERFAHRUNG DES MACHENS
D i e U n w i s se n he i t d e s G e n i e s Literatur als schöne Kunst gilt fortan als Werk des Genies. Es kann in diesem Zusammenhang nicht darum gehen, die Entwicklung des Geniebegriffs, seine Bedeutungsveränderung im 18. Jahrhundert sowie seine Ausprägungen im Werk einzelner Autoren nachzuzeichnen. In seiner grundlegenden Untersuchung „Die Geschichte des Geniegedankens“ hat Jochen Schmidt diese Aspekte historisch umfassend rekonstruiert. Der Frage, was unter Genialität zu verstehen sei, haben die Dichter und Denker des 18. Jahrhunderte ein ähnliches Gewicht zugemessen wie die spätere literaturwissenschaftliche Forschung angesichts der Überzeugung, damit den „bedeutungsvollsten ästhetischen Begriff des 18. Jahrhunderts überhaupt“11 vor sich zu haben. Neben den aus der englischen Tradition stammenden Einflüssen, die den Aspekt der schöpferischen, gottähnlichen Hervorbringung eines als eigene Welt zu verstehenden Werkes betonen, werden aus der französischen Klassik herrührende Vorstellungen wirksam, ein Dichter müsse von Natur aus bestimmte jeder Regelkenntnis vorausliegende Fähigkeiten mitbringen. Vor allem aber prägt der aus der deutschen Schulphilosophie überlieferte Gedanke einer Kombination unterschiedlicher Vermögen wie Einbildungskraft, Witz, Gedächtnis, Reflexion und Urteilsvermögen das Bild des Genies. Entscheidend für die Einzigartigkeit seiner kreativen Potenz ist jedoch, daß „das Genie in einer Welt nur ihm zugänglicher Bedeutungsbeziehungen zwischen den Dingen“12 lebt. Im Kontext der hier verfolgten Fragestellung ist es vor allem von Interesse, jenen produktionstheoretischen Aspekten nachzugehen, die der Begriff des Genies einschließt und die unabhängig von einzelnen philosophischen Abschattungen ihr systematisches Zentrum im platonischen Begriff des Enthusiasmus finden. Er wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Shaftesbury aufgenommen und in den Mittelpunkt des auf den Prozeß des ästhetischen Schaffens bezogenen philosophischen Interesses gerückt, auch wenn es für ihn „die schwierigste Sache der Welt ist, ihn vollends und klar zu erkennen.“13 Für ihn hat die Größe der empfangenen 11 Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts, Darmstadt 1981, 155. Vgl. Günter Peters, Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1982. 12 Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts, 156. 13 Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Ein Brief über den Enthusiasmus an Mylord ****, in: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassenen Schriften. Hg. übersetzt u. kommentiert von Gerd Hemmerich, 373. Zu Shaftesburys Geniebegriff und seiner ‚Ästhetik der Intuition’, die den platonischen Grundgedanken der Nachahmung in der Form modifiziert, daß das Genie nicht ein Produkt, sondern das reine Werden nachbil-
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Vorstellungen, ihre das menschliche Fassungsvermögen überfordernde Dimension, einen Zustand des ‚Außer sich seins’ zur Folge: „Wenn die empfangenen Ideen oder Bilder zu groß für das enge menschliche Gefäß sind, wird etwas wie Zügellosigkeit oder Raserei entstehen. Deshalb kann man mit Recht die Inspiration göttlichen Enthusiasmus nennen; denn das Wort selbst bezeichnet göttliche Gegenwart und wurde von jenem Philosophen gebraucht, den die ältesten Kirchenväter göttlich nannten, um alles auszudrücken, was an menschlichen Leidenschaften erhaben war.“14
Die Vorstellung eines durch göttliche Inspiration bestimmten Schaffens, die durch Shaftesbury in der deutschen Literatur wirksam wird, richtet sich vor allem gegen das handwerkliche Dichtungsverständnis im Sinne der didaktischen Vorgaben der überlieferten Gattungspoetiken und der rhetorischen Tradition. „Wo Wirkung Kraft, Tat, Gedanke, Empfindung ist, die von Menschen nicht gelernt und gelehrt werden kann – da ist Genie....Nenn’s und beschreib’s wie du willst und kannst – allemal bleibt das gewiß – Das Ungelernte, Unentlehnte, Unlernbare, Unentlehnbare, innig Eigentümliche, Unnachahmliche, Göttliche – ist Genie – das Inspirationsmäßige ist Genie.“15
Gegen das Wissen wird nun bewußt die Unwissenheit gesetzt, die beim Genie allerdings nur ein höhere, wenngleich nicht weiter erklärbare Form des Wissens bezeichnen soll, wie Hamann an dem für ihn maßgeblichen Beispiel aus der antiken Literatur deutlich zu machen versucht: „Was ersetzt bey Homer die Unwissenheit der Kunstregeln, die ein Aristoteles nach ihm erdacht, oder was bei einem Shakespeare die Unwissenheit oder Übertretung jener kritischen Gesetze? Das Genie ist die einmütige Antwort.“16 Erfüllt die Berufung auf die göttliche Inspiration zunächst vor allem die Funktion einer Legitimation für die Abweisung oder det, vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1973, 424–428. Eckhard Lobsien hat gezeigt, welche hochdifferenzierte Gestalt der Begriff des Genies in Gerards ‚Essay on Genius’ von 1774 annimmt, wenn die Frage, was das Genie sei, durch jene ersetzt wird, wie Assoziation als spezifische Produktivkraft wirkt, die Erinnerung und Imagination als kreative Kombinatorik des Geistes entfaltet. Siehe: Eckhard Lobsien, Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München 1999, darin: ‚Assoziation als Produktionsästhetik’, 58–77. 14 Shaftesbury, Ein Brief über den Enthusiasmus an Mylord ****, 373. 15 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. 1. Abschnitt, 10. Fragment, in: Sturm und Drang, Kritische Schriften, ausgewählt u. hg. v. Erich Loewenthal, Heidelberg 1949, 815, 817. 16 Johann Georg Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar. Hg. v. Sven–Age Jorgensen, Stuttgart 1968, 55.
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Durchbrechung regelpoetischer Normen, so nimmt die Vorstellung vom besonderen Modus genialer Hervorbringung innerhalb der philosophischen Entwicklung des 18. Jahrhunderts immer stärker die Form eines von der Natur gegebenen Vermögens an, das sich zunehmend weniger mit dem Gedanken einer von außen hinzutretenden und ihm gleichsam von einer höheren Instanz gewährten Eingebung verträgt. So drängt die naturhafte Konzeption des sich als vollständig autonom verstehenden Genies, wie Jochen Schmidt gezeigt hat, „mit der inneren Logik des Naturbegriffs schließlich zur Überwindung der heterogenen Inspirationstheorie“.17 Vor dem Hintergrund des sich zersetzenden Nachahmungsgebotes der Dichtung, werden die Werke der Dichter zudem nicht mehr als Nachahmungen der vorfindlichen Wirklichkeit, sondern als originale Schöpfungen begriffen, deren Hervorbringung allein der eigenen naturgegebenen kreativen Potenz zu verdanken sind. „Wo Genie ist, da ist Neuheit, da ist Erfindung, da ist Original.“18 Der Entstehungsprozeß eines Kunstwerks, das, nun gebunden an die Individualität seines Schöpfers und durch Neuheit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit bestimmt sowie seine Regeln jeweils mit sich selbst setzend, kann schon aus logischen Gründen nicht mehr durch Wissen, wie es die Techne vorsah, erklärt werden. Blumenberg hat auf den bereits in Scaligers Poetik hervorgehobenen Unterschied zwischen der Dichtung und den anderen Künsten aufmerksam gemacht, der darin zu sehen sei, daß die Tätigkeit des Dichters „ein condere sei, die aller übrigen Künstler ein narrare, ein Nacherzählen im Unterschied zur Seinssetzung des Poeten, der als alter deus eine natura altera zu begründen vermag.“19 Diese Qualität der Dichtung, eine eigene Welt zu verkörpern, die nur den logischen Kriterien, nicht unmöglich und nicht unwahrscheinlich zu sein, zu entsprechen hat, begründet, warum allein dem Dichter der Name eines Schöpfers20 zugebilligt werden kann und seinen Werken im Vergleich zu denen der anderen 17 Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie–Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 1, 134. 18 Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur. Dritte Sammlung, zwanzigster Brief, in: Sturm und Drang. Kritische Schriften, 55. Damit beginnen auch die Regeln der Gattungspoetik ihre Verbindlichkeit zu verlieren und werden auf die Bedürfnisse des Genies zugeschnitten. „In Deutschland wird diese Entwicklung am deutlichsten durch die kritischen Arbeiten Klopstocks, Gerstenbergs und Herders.“ Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18.Jahrhundert, Stuttgart 1968, 224. 19 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 90. 20 „Der Vergleich Gottes mit dem schöpferischen Künstler (enthält) schon das Sich–Vergleichen des Künstlers mit Gott; logisch war hier zwischen Renaissance und Sturm und Drang nichts hinzuzufügen.“ Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, 89. Zur Vorgeschichte der Vorstellung vom künstlerischen Schöpfertum im Mittelalter siehe Thomas Cramer, Solus creator est Deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum, in: Daphnis, H. 2/3, 1986.
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Künste eine singuläre Bedeutung zukommt. Allerdings bringt diese höchste Auszeichnung eine problematische Konsequenz mit sich. Dem biblischen Gedanken eines Schöpfergottes liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Schöpfungsakt ohne jede Schwierigkeit vollzogen wird, die Handlung des Erschaffens auf keine Widerstände stößt, und schon gar nicht einer Logik unterworfen ist, in der Stoff, Mittel und Arbeitsschritte genau bedacht und im Hinblick auf eine notwendige Abfolge von Phasen organisiert werden müssen. Jede Berührung mit der Faktizität und damit auch mit der potentiellen Widerständigkeit der stofflichen Welt könnte nur als Einschränkung der göttlichen Allmacht aufgefaßt weden, und entsprechend kann die Gott eigene Form des Schaffens nicht das geringste mit ihr zu tun haben. „Das Gemeinsame des platonischen Demiurgen und des biblischen Schöpfers, das über der Hervorhebung der Differenz von gegebenem Stoff und ungegebenem Nichts übersehen wird, ist dies, daß die Herkunft ihrer Weltkonzeption unbefragt bleibt. Diese Frage ist im Fall des Demirurgen vorweg gelöst durch die ihm ewig vorgegebene Idee und im Falle des biblischen Schöpfergottes durch die scheinbare Selbstverständlichkeit dessen, daß die Worte seiner Befehle ‚Bedeutung’ hatten, bevor es die ihnen entsprechenden Dinge gab, also durch ein Art von impliziten Platonismus.“21
Mit dessen Übernahme und der am Modell göttlicher Schöpfung orientierten Schaffensvorstellung wird der Möglichkeit, auch unter den Bedingungen der Literatur als schöner Kunst Spielräume eines rationalen Produktionsverständnisses auszuloten, weitgehend der Boden entzogen. Lavater hat das Bild des Dichters gezeichnet, der seine Werke wie ein Gott schafft und weder über den Schöpfungsakt etwas zu wissen noch zu sagen braucht, da seine Werke das im Inneren Geschaute „herausblitzten, herausleuchteten, strömten, darstellten. Schöpfungen, in denen sich die Seele, wie die Gottheit in ihren Werken erspiegelt.“22 Seine theoretisch weitreichendste Begründung erhält das neue Paradigma ästhetischer Produktion schließlich im Kontext von Kants 1790 erschienener „Kritik der Urteilskraft“, in der es in den systematischen Kontext der idealistischen Philosophie einbezogen wird. Im Rahmen seiner Analyse des ästhetischen Urteils versucht Kant die Bedingung der Möglichkeit schöner Kunst zu begründen und kommt zu dem Ergebnis, die „schöne Kunst ist nur als Product des Genies möglich“23. Er be21 Blumenberg, Sokrates und das ‚objet ambigue’, 290. 22 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, in: Sturm und Drang. Kritische Schriften, 822. 23 Kants Werke, Akademie–Textausgabe, Bd.V. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft, Berlin 1968, 397.
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schreibt das Genie „als Talent [...] dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt hervorzubringen; nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgendeiner Regel gelernt werden kann, sondern, daß es wie es sein Product zu stande bringe, selbst nicht beschreiben, oder wissenschaftlich anzeigen könne, sondern, daß es als Natur die Regel gebe“.24 Aus dem Unverfügbaren in Gestalt der göttlichen Eingebung ist nun die Gunst der Natur geworden, wie diese als Schöpfer gleichsam organisch Geschöpfe hervorbringen zu können. Unbewußtheit des Schöpfungsvorgangs wird gleichsam zur Bedingung dafür, daß ein Werk als Werk der schönen Kunst überhaupt entstehen kann. Entscheidend sei, so Kant, „daß der Urheber eines Productes, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich die Ideen dazu herbei finden:“25 Natürlich geht es hier nicht darum, die theoretische Bedeutung der Genieästhetik zu schmälern und ihre fundamentale Erkenntnis, daß weder die Produktion eines Kunstwerkes, noch die Erscheinung des Schönen jemals rational vollständig erklärt werden kann, ja, diese logische Unmöglichkeit das Kunstwerk in seiner Individualität und Einmaligkeit überhaupt erst konstituiert. Es ist keine Geringschätzung ihrer Leistungen, wenn man aber auch betont, daß der Preis für die neue „philosophische Fundamentalgeltung“26 der Geniekunst und ihrer Einsichten in das Wesen der ästhetischen Hervorbringung darin bestanden hat, nach der Abweisung des alten Techne-Verständnisses der Entwicklung neuer produktionstheoretischen Überlegungen den Weg verbaut hat, indem sie, wie von Kant verdeutlicht, die Entstehung von Werken der schönen Kunst daran bindet, daß der Künstler sich weder den Herstellungsprozeß bewußtmachen noch ihn beschreiben kann, weitgehend intuitives Schaffen und Unwissen entsprechend als die entscheidenden Kategorien seiner Identität zu gelten haben. Für die Entwicklung der idealistischen Ästhetik, vor allem aber für das in ihrem Zeichen sich entwickelnde neue Selbstbild 24 A.a.o., 307. 25 A.a.o., 308. „Der Geniebegriff und der Naturbegriff gehören also zusammen. Die Genielehre steht nicht in Verbindung mit der Theorie der Kunst.“ Alfred Baeumler, Ästhetik, 86. Zur Wendung der transzendentalen Philosophie zur Natur in Gestalt der Ästhetik vgl. Odo Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts. In: Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1973. 26 Odo Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, 95. Vgl. Peter Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1983, 104–119. „In der Genieästhetik, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildet, kündigt sich eine Auffassung von Kunst an, in der diese nicht in Übereinstimmung mit dem Modernisierungsprozeß steht, sondern als dessen Widerpart gedacht wird. Die Bestimmungsmomente der Genieästhetik enthalten explizit oder implizit eine Kritik an den Prinzipien der Rationalität und der kalkulierten Arbeit.“ (118).
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der Dichter hat dieser problematische Aspekt der Genieästhetik kaum zu überschätzende Folgen gehabt. In den Worten Adornos: „Falsch ist der Geniebegriff, weil Gebilde keine Geschöpfe sind und Menschen keine Schöpfenden. Das bedingt die Unwahrheit der Genieästhetik, welche das Moment des endlichen Machens, der Techne an den Kunstwerken zugunsten ihrer absoluten Ursprünglichkeit, qua ihrer natura naturans unterschlägt und damit die Ideologie vom Kunstwerk als einem Organischen und Unbewußten in die Welt setzt, die dann zum trüben Strom des Irrationalismus sich verbreitert.“ (GS 7, 255) Ebenso aber gilt: „In der Tastatur jeden Klaviers steckt die ganze Apassionata, der Komponist muß sie nur herausholen, und dazu freilich bedarf es Beethoven“ (GS 7, 403).
Das Bild in der Seele Das zweite Element, das untergründig die Tradition der artes begleitet und erst in Gestalt der Genieästhetik zur zentralen Denkfigur avanciert, bezieht sich ebenfalls auf das platonische Erbe. Die Philosophie der Antike hat bekanntermaßen keinen Begriff des Kunstschönen hervorgebracht. Die von Platon entwickelte Konzeption des Schönen bleibt ausschließlich auf die Sphäre des Ethischen beschränkt und verbindet sich weder bei ihm noch in der an sein Denken anknüpfenden philosophischen Tradition mit der Kunst. Erst im Zusammenhang des Neuplatonismus und seiner Prägung durch die Philosophie Plotins kann man von einer begrifflich strukturierten Sphäre des Kunstschönen sprechen, in der das Problem des schöpferisch-künstlerischen Menschen einen theoretischen Ort findet, dessen Bestimmungen ihn und seine Tätigkeit von der des Handwerkers unterscheiden. Für Platon ist „die Idee des Schönen [...] ‚das Schöne’ selbst; das Urphänomen der Schönheit, welches, sobald es aufleuchtet, durch sich überzeugt“27. Plotin variiert diesen Gedanken im Rahmen einer Metaphysik, deren Ausgangspunkt die Präsenz des Höchsten-Einen, des Göttlichen verkörpert. Dieses Höchste-Eine, das Gute und Schöne in sich umschließend, gliedert sich als emanierender Weltgeist stufenförmig bis in die Materie aus und kann von Menschen in Form einer mystischen Schau wahrgenommen werden. Das Vorhandensein von Schönem in der gegenständlichen Welt begründet Plotin mit der Möglichkeit, daß deren Phänomene an der göttlichen Schönheit partizipieren können. „Wie kann aber das Irdische ebensowohl schön sein als 27 Romano Guardini, Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der platonischen Schriften Euthyhron, Apologie, Kriton und Phaidon, Reinbek bei Hamburg 1966, 156.
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das Jenseitige? Das geschieht, so lehren wir, durch Teilhaben an der Gestalt (Idee).“28 Der Mensch vermag das Schöne in der Wirklichkeit wahrzunehmen, weil er die sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen „an der ihm zugänglichen Idee abmißt und diese Idee bei seinem Urteil benutzt wie man ab der Richtschnur das Gerade mißt“.29 Die folgenreichste Konsequenz dieser Vermittlung zwischen dem höchsten Schönen und empirischen Erscheinungen der Schönheit liegt für Plotin in der Möglichkeit des Menschen, in der Praxis seiner Herstellung von Dingen diese an jener Schönheit teilhaben zu lassen, die sich ihm zuvor im Akt der mystischen Schau dargeboten hatte. Gemäß des „wahren Urbildes in seinem eigenen Inneren“30 kann der Mensch schöne Dinge herstellen, wenn auch deren Stofflichkeit für Plotin immer den Charakter des Störenden behält: „Und wie kann ein Baumeister das Haus draußen nach seiner Idee des Hauses in seinem Inneren abstimmen und es als schön ansprechen? Nun, weil das äußere Haus, wenn man die Steine ausscheidet, eine Teilung der inneren Idee vermöge der äußeren Masse der Materie bedeutet, eine Sichtbarmachung des Unteilbaren in der Vielheit.“31 Auf diese Weise begründet Plotin mit platonischen Mitteln, was Platon als Nachahmung von Nachahmenden verworfen hatte: Den Sinn der Herstellung von Dingen, die nicht primär durch ihre Nützlichkeit, sondern durch ihre Schönheit definiert sind, anders gesagt, das Lebensrecht von Kunstwerken im modernen Sinne. Was sich dergestalt als ästhetische Begründung der Möglichkeit von Kunst verstehen läßt, erweist sich im Kontext der plotinischen Philosophie allerdings eher als Anstrengung, die Notwendigkeit der Kunst aus einem religiös zu verstehenden Schuldverhältnis herzuleiten, das die Beziehung des Menschen zu Gott belastet. Diese Begründung der Kunst vollzieht sich jedoch auf eine für das antike Denken einzigartige Weise, da sie, wie Bernhard Schweitzer gezeigt hat, vor allem als metaphysische Legitimation der bildenden Künste auftritt: „Der Abfall der Natur von der Gottheit schafft den Raum für die bildende Kunst, die ihren Werken höhere Wirklichkeit verleiht, indem sie sie mit einem höheren Grad von Schönheit ausstattet, als sie die niedere Körperwelt besitzt. Der Abfall des Menschen von Gott bildet die metaphysische Ursache des Kunstschaffens, das nur Ausdruck der zu dem göttlichen Urgrund zurückstrebenden Seele ist und nur dem Gott Schauenden ganz gelingen kann. Beides zusammen führt zu der einzigen und letzten metaphysischen Begründung des Kunstphänomens, welches das Altertum hervorgebracht hat; die irdische Natur, unvollkommen wie sie ist, leidet unter ihrer Entfernung von Gott und be28 29 30 31
Plotin, Ausgewählte Schriften, hg. v. Walter Marg, Stuttgart 1973, 133. A.a.o., 134. A.a.o., 134 .Vgl.dazu Alfred Baeumler, Ästhetik, 24. Plotin, Ausgewählte Schriften, 134.
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METAPHYSISCHE POETIK IM ZEICHEN DES PLANTONISMUS darf der Kunst als eines Spiegels, in dem sie sich selbst erschaut und so ihres totalen Seins im intelligiblen Urgrund aller Dinge gewahr wird.“32
Wo Plotin auf den Akt der Herstellung des einzelnen Werkes zu sprechen kommt, wird allerdings deutlich, daß er der Struktur der platonischen Ideenlehre folgt. Ein Götterbild, das ein Bildhauer aus einem großen Stein angefertigt hat, ist allein deshalb schön, weil der Künstler auf den Stoff jene Form übertragen hat, die er zuvor in seinem Inneren gesehen hat. Der Stein selbst ist reines Material, als solcher substantiell von der Schönheit ausgeschlossen. Die Besonderheit des Bildhauers, und darin erweist sich seine Künstlerschaft, besteht in seinem Vermögen, die zuvor geschaute Schönheit auf den Stein zu übertragen. Insofern sein Geschick das Medium der Vermittlung der Schönheit, ihrer Übertragung aus der Sphäre der Idee in die Sphäre der Realität darstellt, ist die Schönheit auch in den Akten selbst mit denen er den Stein bearbeitet, vorhanden. „Der Stein ist schön, weil er die Form besitzt, mit der ihn die Kunst begabt hat. Diese Form nun enthielt nicht die Materie, sondern sie war im Geist des Schöpfers vorhanden, schon als sie in den Stein einging; sie war aber in dem Bildhauer nicht als Vermögen seiner Augen und Hände, sondern weil er an der Kunst als Vermögen teil hatte. In der Kunst folglich wohnte diese Schönheit in weit reinerer Form, denn der Inhalt der Kunst siedelt nicht einfach in den Stein über, sondern er bleibt an seinem Ort, und nur ein anderes löste sich jener ab, das an Wert eingebüßt hat; und auch dieses blieb nicht rein an seinem neuen Ort und konnte sich nicht nach Wunsch verwirklichen, sondern nur soweit der Stein der Kunst nachgab. Wenn aber die Kunst alles, was in ihren Werken unterliegt und was sie berührt, zu einem solchen macht – so ist sie selbst als Gefäß der künstlerischen Schönheit in höherem und wahreren Maße schön und selbst erhabener und schöner als die Außenwelt.“33
Dieses spezifische Vermögen, durch das Gesetz seines Schaffens die transzendente Schönheit in die reale Welt zu überführen, unterscheidet den künstlerisch-schöpferischen Menschen von den Vertretern der anderen artes. Werden bei Plotin dergestalt erstmals „das Schöne und die Kunst in einen einzigen Begriff gegossen“34, so tritt die probematische Seite seiner Metaphysik dort um so deutlicher hervor, wo er die der platonischen Lehre eigene Spannung zwischen der Idee und der Erscheinung weiter verschärft. Der Künstler überträgt die innere Vorstellung 32 Bernhard Schweitzer, Der Begriff des Künstlers und des Künstlerischen in der Antike, 124. 33 Plotin zitiert nach Schweitzer, 127. 34 Benedetto Croce, Aesthetik als Wissenschaft vom Ausdruck und Allgemeine Sprachwissenschaft. Theorie und Geschichte, Tübingen 1930, 174.
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durch seine Arbeit in das Werk, aber alle Bestimmungen von diesem sind bereits in der Idee von ihm enthalten. Oskar Walzel hat diese ontologische Priorität im Denken Plotins charakterisiert: „Das Kunstwerk ist, ehe es Erscheinung wird, im Kopf des Künstlers da. Er erblickt es vor sich, ehe er es gestaltet. Das bleibt ein geistiger Vorgang. Der Wert des Kunstwerks beruht nach Plotin in diesem geistigen Vorgang. (Das Schwergewicht der künstlerischen Leistung fällt somit ganz auf die Vorbereitung im Geiste.)“35 Die Eigenart der neuplatonischen Variation der Ideenlehre erweist sich zudem darin, daß der Urheber nicht mehr nur ein dem Werk vorausliegendes inneres Bild von ihm besitzt, sondern, daß dieses niemals rein in die Materie einzugehen vermag, weil diese ontologisch das Gegenprinzip zum Geistigen verkörpert. Zwar war auch Aristoteles dem platonischen Einfluß verhaftet geblieben, indem er davon ausging, daß die Form eines Werkes in der Seele sei, bevor sie in der Sphäre des Materiellen realisiert würde, „auch für ihn ist die Form in jeder Beziehung der Materie überlegen: sie ist mehr Sein, mehr Substanz, mehr Natur, mehr Ursache als die Materie, ist ihr gegenüber etwas Besseres und Göttlicheres. Allein gleichwohl ist Aristoteles sehr weit davon entfernt, der Materie ein grundsätzlich Widerstrebendes oder nur eine grundsätzliche Gleichgültigkeit gegen das Geformtwerden zuzumessen.“36 Plotins Metaphysik hingegen verschärft die platonische Abwertung der Erscheinungswelt, indem für ihn die „Materie [...] das Urschlechte, der Grund aller Schlechtigkeit“37 ist. Blumenberg hat darauf hingewiesen, daß der spätantike Neuplatonismus die Unbestimmbarkeiten des genuinen Platonismus, der die Ausbildung einer homogenen Tradition nicht erlaubt hatte, durch vage und unterschiedliche Rezeptionen neu besetzt. Dergestalt seinem Wesen nach eher ein „Pseudoplatonimus“38, vermag er jedoch durch eine schulmäßige Verfestigung seiner Positionen auf massive Weise traditionsmächtig zu werden. Im Kontext des ästhetischen Schaffens hat dies vor allem die Vernachlässigung des Interesses an der Bedeutung des Materials zur Folge. Wie bereits bei Shaftesbury erkennbar, rückt die neuplatonische Fassung der Idee als dem künstlerischen Schaffen zugrundeliegendes, Gestalt erzeugendes Prinzip ins Zentrum des sich entwickelnden Geniebe35 Oskar Walzel, Plotins Begriff der ästhetischen Form, in: Oskar Walzel, Vom Geistesleben alter und neuer Zeit, Leipzig 1922, 17. Vgl. Bernhard Schweitzer, Der bildende Künstler und der Begriff des Künstlerischen in der Antike, 126–127. 36 Erwin Panofsky, Idea, 34. 37 Walter Bröcker, Platonismus ohne Sokrates. Ein Vortrag über Plotin, Frankfurt a.M. 1966, 16. 38 Vgl. Hans Blumenberg, Pseudoplatonismen in den Naturwissenschaften der frühen Neuzeit, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes– und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1971, Nr. 1.
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griffs. Die Popularität dieser Vorstellung im 18. Jahrhundert verdeutlicht kaum etwas besser als die Tatsache, daß Sulzer in seiner verbreiteten „Allgemeine[n] Theorie der schönen Künste“ sich vor allem um eine Veranschaulichung dieses Zusammenhangs bemüht, um dem Publikum die schöpferische Potenz des Genies verständlich zu machen. „In der Seele des Mannes von Genie herrscht ein heller Tag, der ihm jeden Gegenstand wie ein nahe vor Augen liegendes und wohl erleuchtetes Gemälde vorstellt, das er leicht übersehen und darin jedes Einzelne genau bemerken kann.“39 Im Kopf des Genies ist das Werk immer schon seinem Wesen und seiner Form nach vollständig antizipiert, der praktische Prozeß seiner Realisierung bleibt ohne Interesse; die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten werden nicht dem eigenen Unvermögen zugeschrieben, sondern als notwendige Folge der gottgewollten ontologischen Differenz zwischen Geist und Materie verstanden und da die höhere Wertigkeit des Geistigen gegenüber dem bloß Stofflichen ohnehin vorausgesetzt wurde, gab in dieser Konzeption die Praxis keinen Anlaß zur Sorge. Es ist zurecht hervorgehoben worden, daß im strengen Sinne „weder aus Platons noch aus Plotins Schule eine Poetik oder eine Kunsttheorie hervorgegangen ist. Unter der Perspektive der Philosophie des Schönen bezöge sich eine solche Theorie nur auf ein ‚Äußeres’“40, und als solches ist es in der daran anknüpfenden Genieästhetik auch behandelt worden. In der Tat, der Tradition dieser ästhetischen Problemerörterung und ihrer schematischen Unterscheidung, „neuplatonische Innerlichkeit auf der einen Seite, Äußerlichkeit einer formalen Kunsttheorie auf der anderen, liegt nichts anderes als die neuplatonische Philosophie selbst zugrunde.“41
D a s M e c h an i s c h e Die neue Qualität, die die Philosophie den Werken der schönen Kunst und dem Künstler als genialem Urheber zuweist, bleibt jedoch ambivalent. Hatte er als Vertreter der artes sein Selbstbewußtsein aus der 39 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, II, Hildesheim 1967 (Neudruck), 36. Ganz ähnlich beschwört Lenz in seinen ‚Anmerkungen übers Theater’ von 1774 das besondere Vermögen des Genies: „Legt einem solchen eine Sprache, mathematische Demonstration, verdrehten Charakter, was ihr wollt, eh ihr ausgeredt habt, sitzt das Bild in seiner Seele, mit allen seinen Verhältnissen, Nicht, Schatten, Kolorit dazu.“ Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm, Frankfurt a.M. 1992, Bd. 2, 648. 40 Alfred Baeumler, Ästhetik, 44. 41 A.a.o., 44.
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Kenntnis und aus der Beherrschung der zu seinem Fach gehörigen Verfahrensweisen bezogen, so erweist sich die philosophische Lizenz, nun als Genie die schönen Künste zu vertreten, als problematisch. Zwar verhilft das Attribut der Genialität der Gestalt des Künstlers zu einer historisch neuen Aura des Besonderen und Rätselhaften, das seine Praxis von den üblichen Tätigkeiten bürgerlicher Berufsausübung trennt, doch liegt nun die Schwierigkeit darin, daß der philosophische Diskurs, der im Hinblick auf die künstlerische Praxis voraussetzt, daß das Entscheidende darin nicht erklärt werden kann, keinen realen Bezug zu dem aufweist, was den Ausübenden in seiner täglichen Arbeit beschäftigt. Die ihnen von der Philosophie angetragene Rolle anzunehmen, erscheint für die Künstler des 18. Jahrhunderts neben der damit legitimierten neuen Freiheit der Regelabweichung vor allem aus Gründen der berufsständischen Profilierung vorteilhaft, wie Diderot mit dem ihm eigenen Scharfsinn bereits 1763 am Beispiel von Skulpturen des Bildhauers Bourchardon bemerkt: „Gewiß, es gibt einen Dämon, der im Inneren dieser Männer arbeitet und sie schöne Dinge hervorbringen läßt, ohne daß sie wissen, wie und warum. Es gereicht dem Philosophen zum Lobe, sie zu lehren, wieviel sie wert sind [...] Unbewußt haben sie im Gleichklang mit den feststehenden Gesetzen der Natur und den Beobachtungen der Physik gearbeitet: Ihr Genie bewirkte alles andere; der Philosoph macht sie darauf aufmerksam und sie können nicht umhin, an seiner Überlegung Gefallen zu finden. Das ist eben die Aufgabe des Philosophen: denn im Hinblick auf die Teile und das Mechanische (le mecanisme) der Kunst muß man Künstler sein, um das Verdienst zu würdigen.“42
Diderot ist bewußt, daß dem Künstler die Philosophie in seiner konkreten Praxis wenig nützt und der Künstler gut beraten ist, sich an die ihm vertrauten Regeln und Verfahrensweisen zu halten, deren Anwendung im Werk wiederum nur kompetent von den Fachkollegen seines Metiers beurteilt werden kann. Zwar schließt das Pathos des unwissend und unbewußt schaffenden Genies, auf das sich Diderot ironisch bezieht, die Haltung ein, technische Probleme und Fragen der Kunsttheorie weitgehend auszuschließen, aber die konkrete Arbeit des Künstlers bleibt nicht völlig verborgen. Innerhalb der Genieästhetik entwickelt sich als theoretisches Zugeständnis an diese Problematik ein bescheidenes Interesse für jene Fragen, die vermutlich als Altlasten der Poetik angesehen wurden. Die Art der Behandlung steht ganz im Zeichen der neuplatonisch geprägten 42 Denis Diderot, Ästhetische Schriften. Hg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 1., Berlin/Weimar, 1967, 492. Vgl. Herbert Diekmann, Diderot’s Conception of Genius, in: ders., Studien zur europäischen Aufklärung, München 1974.
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Philosophie des Schönen, indem die Beschäftigung mit den materiellen Aspekten als etwas dem Kunstwerk Äußeres betrachtet und unter dem Begriff des Mechanischen verhandelt wird. Zugestanden wird, wie Kant mit aufklärerischer Nüchternheit und unter dem Eindruck des Wirkens der Originalgenies aus dem Umkreis des „Sturm und Drang“ hervorhebt, daß es „doch keine schöne Kunst gibt, in welcher nicht etwas Mechanisches, welches nach Regeln der Kunst gefaßt und befolgt werden kann, und also etwa Schulgerechtes die wesentliche Bedingung der Kunst ausmacht“43. Die Frage ist nur, in welchem logischen Zusammenhang das Mechanische mit dem Modus der genialen Hervorbringung steht. Im Verständnis des 18. Jahrhunderts bezeichnet der Begriff des Mechanischen zunächst die handwerksmäßige Bearbeitung von Stoffen. In Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Altertums“ von 1764 wird jener Teil der Kunst, der „erstlich die Materie, in welcher die griechischen Bildhauer gearbeitet haben, und zum zweiten die Art der Ausarbeitung selbst“ betrifft, unter dem Titel „Von dem mechanischen Theile der griechischen Bildhauerei“44 abgehandelt. Als repräsentativ für die Verwendung des Begriffs im Kontext der schönen Künste kann wiederum Johann Georg Sulzers „Allgemeine Theorie der Schönen Künste“ gelten, die, erstmals von 1771–1774 veröffentlicht, in erweiterter Form bereits 1792 erschien und zu den einflußreichsten Werken der Epoche gezählt werden muß. Auch wenn darin dem Begriff des Mechanischen kein eigener Artikel gewidmet wird, findet der von ihm bezeichnete Sachverhalt in einer Reihe von wichtigen Beiträgen Berücksichtigung. So heißt es in dem maßgeblichen Artikel „Kunst. Schöne Künste“: „Wir sind in Ansehung der Talente und des Kunstgenies nicht soweit hinter den Alten zurück, als daß man uns bisweilen zu bereden versucht. Das Mechanische der Künste besitzen wir, und in manchen besser als die Alten.“45 Worin der Besitz des Mechanischen zu sehen sei, erläutert Sulzer in dem Beitrag „Kunst/Künstlich“ am Beispiel der Malerei: „Es gibt auch Werke, die bloß Kunst sind, daß auch nicht einmal das besondere Künstlergenie dazu erfordert wird; die bloß durch Ausübung, die jeder Mensch lernen kann, ihre Wirklichkeit erlangen. So ist eine nach allen Linien der Perspektive gemachte Zeichnung, darin nichts als gerade Linien vorkommen. Da sie kann jeder Mensch machen, der sich die Mühe gibt, die Regeln genau zu lernen und zu befolgen. Dergleichen Werke machen ohne Zweifel
43 Kant, Werke V, 310. 44 Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums. Hg.v. Wilhelm Senff, Weimar 1964, 207. 45 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste III, 89.
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ERFAHRUNG DES MACHENS die unterste Classe der Kunstwerke aus; oder vielmehr gehören sie gar nicht mehr zu den Werken der schönen Kunst, weil sie bloß mechanisch sind.“46
Die Regeln der perspektivischen Darstellung kann jeder ebenso erlernen, wie er sich die Kunstfertigkeit, entsprechend ihrer Vorgaben zu zeichnen, aneignen kann. Erworben wird sie „durch Arbeitsamkeit und tägliche Übung in dem Mechanischen der Kunst [...] Darum ist die Maxime, die man Apelles zuschreibt, keinen Tag ohne einige Striche zu machen, sehr gut.“47 Sofern das Handwerkliche im Bereich der Malerei als schöner Kunst Aufmerksamkeit findet, wird es als Wissen und praktische Beherrschung von regelgeleiteten Verfahren unter dem Begriff des Mechanischen erfaßt, der eine wichtige Voraussetzung schöner Kunst benennt, die zu beachten auch für das Genie unverzichtbar ist: „Je mehr Erfahrung und Übung der Künstler mit seinem Genie verbindet, je leichter entdekket er die Mängel des bloß durch Genie entworfenen Werks.“48 Als anschauliches Beispiel für die Bedeutung des Begriffs im Bereich der Dichtung kann Sulzers Artikel über den „Knoten“ gelten, mit dem in der epischen und dramatischen Handlung jene Form der Verwicklung bezeichnet wird, „aus welcher beträchtliche Schwierigkeiten hervorgehen, wodurch die handelnden Personen veranlasset werden, ihre Kräfte zu verdoppeln, um sie zu überwinden und die Hindernisse aus dem Weg zu räumen“.49 Als das „vornehmste Beispiel eines wohlgeknüpften und glücklich aufgelösten Knotens“50 führt Sulzer die „Ilias“ an, in der die Trennung des Achilles vom Heere der Griechen den Hauptknoten darstelle. Einen Knoten knüpfen zu können gilt als handwerkliches Vermögen, über das jeder Dichter verfügen muß, der im Bereich der Epik oder der Dramatik ein Werk vorzulegen gedenkt. Kriterium für die gelungene Ausführung ist der Zeitpunkt, an dem der Knoten geknüpft wird, und die Art und Weise, wie er im Verlauf der Handlung zugezogen wird. „Eigentlich besteht die mechanische Vollkommenheit der Epopoe und des Trauerspiels eben darin, daß gleich von Beginn der Handlung der Knoten allmählich geknüpft und nach und nach fester werde; daß dadurch eine allgemeine Anstrengung aller wirkenden Kräfte entstehe, auf der einen Seite die Schwierigkeiten zu vermehren, auf der anderen Seite sie zu überwinden.“51 Während die Knüpfung des Knotens als handwerkliches Element angesehen wird, bleibt dessen Auflösung für 46 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste III, 97. Zu Sulzers Artikel, die Fragen der Dichtkunst betreffen, siehe Oskar Walzel, Johann Georg Sulzer über Poesie, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, H. 3, 1937. 47 Johann Georg Sulzer , Allgemeine Theorie der schönen Künste III, 104. 48 A.a.o., 97. 49 A.a.o., 54. 50 A.a.o., 57. 51 A.a.o., 58.
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Sulzer der Sphäre des Mechanischen entzogen, da sich dafür keine praktischen Verfahrensweisen angeben lassen. Formen der Auflösung gelten als „Kunstgriffe“. „Die wahren Kunstgriffe“, so Sulzer, „sind allemal ein Werk des Genies, und nicht der eigentlichen Kunst“52. Genialität erweist sich darin, daß der Künstler das Mechanische beherrscht und Kunstgriffe zu erfinden weiß, vor allem jedoch durch die „Bilder, die der Künstler nur in seiner Phantasie sieht. [Sie] sind das Ideal, wonach er seinen Gegenstand bildet“53 und verkörpern das „Urbild eines Gegenstandes in der Kunst“54. Sulzers platonische Konstruktion läßt erkennen, daß das Mechanische in keiner Weise auf das in Gestalt der Idee immer schon antizipierte Werk bezogen ist, sondern einer prinzipiell anderen Seinsschicht angehört. Das Mechanische hat sein begrenztes Recht allein dadurch, daß beim Eintritt der Idee in die Wirklichkeit die entsprechenden Stoffe, in denen das Werk realisiert werden soll, eine ihren Eigenschaften entsprechende Behandlung erfahren muß. Ein Bildhauer, der an einer Plastik arbeitet, muß die unterschiedliche Härte von Stein und Marmor kennen und bei der Bearbeitung des Materials zu berücksichtigen wissen; ein Dichter, der ein Trauerspiel schaffen will, hat sich zu vergegenwärtigen, daß zu dessen Einrichtung notwendigerweise die Katastrophe im letzten Akt gehört. Das Mechanische bleibt prinzipiell auf die Sphäre des Stofflichen beschränkt, die Sphäre des Schönen, in der sich das Werk in seiner Idealität bereits gebildet hat, bleibt davon vollständig unberührt. Sie bedarf der mit dem Mechanischen verbundenen Fertigkeiten insofern, als die Mißachtung elementarer Eigenschaften des Materials auch die Existenz des Kunstwerks gefährden oder seine Gestalt durch mangelnde Kunstfertigkeit beinträchtigen könnte. Diese metaphyische Konzeption des Verhältnisses von Idealität des Werkes im Inneren des Genies und seiner Realisierung in einer völlig nachgeordneten Sphäre der Materialität bringt weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung des eigentlichen Werkprozesses im Sinne von „Ausführung“ mit sich. Als zwischen innerem Bild und abgeschlossener Werkgestalt sich zeitlich erstreckender Arbeitsvorgang bedeutet er im platonischen Kontext nichts anderes als einen Spiegelungsprozeß der Werkidee im Material. Deren ontologische Priorität läßt keine Veränderung im Entstehungsprozeß des Werkes zu, im Gegenteil, die Mechanik hat durch Berücksichtigung der spezifischen Besonderheiten des Materials lediglich jene Hohlformen in der Seinsschicht der Materialität bereitzustellen, in denen das in der Seele des Genies präexistente Werk in Erscheinung treten kann und dabei soweit wie möglich von stofflichen be52 A.a.o., 100. 53 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste II, 669. 54 A.a.o., 669.
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dingten Trübungen verschont wird. Das eigentliche Geschehen ist, so Sulzer, nicht der Vorgang der Ausführung, sondern die Auffindung des Werkes im Inneren: „Der Künstler, der in dem Feuer der Begeisterung seine Arbeit entwirft, findet jeden einzelnen Teil des Werkes ohne ihn lange zu suchen; die Gedanken drängen sich in seinem Kopf und bieten sich an Ort und Stelle von selbst dar; der Entwurf wird fertig und ist oft fürtrefflich, ohne daß der Künstler die Gründe kennt, aus denen er gehandelt hat, dies ist die Natur.“55 Korrekturen im Prozeß der Ausführung können niemals etwas anderes sein als Veränderungen im Mechanischen, Verbesserung der Regelanwendung, stoffgerechtere Verarbeitung. Das Urbild des Werkes wird von Änderungen im Bereich des Mechanischen nur berührt, insofern es noch besser zur Darstellung gelangen kann, was nichts anderes bedeutet als eine Reduzierung der ontologischen Trübungen, die jeder Prozeß der Materialisierung mit sich bringt. Wenn etwas neben der Unwissenheit des Schaffenden und der Priorität der im Inneren vorhandenen Werkgestalt die metaphysische Dimension der platonisch geprägten Poetik bezeichnet, so ist es ihr Verständnis von Ausführung als Nebensächlichkeit des Werkprozesses. Daß diese Struktur letztlich den Begriff des genialen Schaffens bestimmt, tritt noch einmal in aller Deutlichkeit hervor, als Herder 1800 im Zeichen einer bereits historisch distanzierenden Betrachtungsweise auf die Bedeutung des Begriffs zurückblickt und erläutert, wer ihn auf sich und sein Werk beziehen durfte. Für ein Genius galt, wem „im Augenblick des Erschaffens, als (so sagt die begeisterte Sprache) der göttliche Funke in ihm schlug, [...] in einem Gedanken sein Werk oder Geschäft ihm ganz da stand [...]. Wenn in Vollbringung oder Darstellung seines Werkes der Genius ihn verließ, so bedauern wir den Verlassenen, ehren aber noch die Idee, die sein ist und bleibet.“56 Die Chancen, zu einem Erkenntnisfortschritt zu kommen, der weder die von der Metaphysik des Schönen gewonnenen Einsichten in die Struktur des Ästhetischen preisgibt noch in das traditionelle ars – Verständnis zurückfällt, liegen dort, wo es gelingt die dualistisch geprägte Struktur des Diskurses, hier „inneres Bild“, dort „Mechanik“, zu überwinden. „Theorie der Kunst ist eben etwas anderes als Bestimmung der zur ‚inneren’ Form gehörigen Technik. In der Trennung von ‚Technik’ und ‚innerer Form’ liegt schon eine Theorie, und zwar diejenige Theorie der Kunst, die der Metaphysik des Schönen entspricht.“57
55 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste III, 97. 56 Johann Gottfried Herder, Von Kunstrichterei, Geschmack und Genie, in: Werke in 2 Bänden, Bd. 2. Hg. v. Karl–Gustav Gerold, München 1953, 586. 57 Alfred Baeumler, Ästhetik, 44.
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III. POETIK
DER
H AN D
Der Geist dient zu allem, wie die Hand (Paul Valéry)
Die ersten Anstrengungen, zu einer Theorie der Kunst zu gelangen, die sich von metaphysischer Bevormundung emanzipiert und auf dem Weg eigener Erfahrung Einsichten in den realen Herstellungsprozeß von Werken gewinnt, werden nicht im Bereich der Dichtung, sondern in den bildenden Künsten unternommen. Dieser Sachverhalt erscheint zunächst verwunderlich, da gerade die Praxis der bildenden Künstler, seit der Antike mit dem Stigma der körperlichen Arbeit behaftet, vollständig dem Handwerk zugeordnet war. Noch in der Spätgotik und frühen Renaissance ist das Selbstverständnis der Bildhauer und Maler ganz durch die in den Werkstätten überlieferten Fertigkeiten und von den in Musterbüchern dokumentierten Kunstgriffen geprägt.1 Erst im 15. Jahrhundert entwickelt sich eine veränderte Auffassung vom Künstler, in der die Züge des Handwerklichen in den Hintergrund treten und sein Metier in weit stärkerem Maße als Sphäre einer geistig bestimmten Tätigkeit begriffen wird. „Die Malerei, im Mittelalter zu den ,artes mechanicae’ zählend, erhebt sich in den Rang der ,artes liberales’, ein Prozeß der bei Giotto begonnen haben dürfte, wenn man in einer Lobrede auf ihn und seine Kunst nicht nur das Handwerk, ars, sondern auch ingenium, die Erfindung, und traditio, die Überlieferung, als mitbestimmende Faktoren des künstlerischen Prozesses rühmt.“2 Mit dem sich entwickelnden Bewußtsein der Besonderheit künstlerischer Praxis und angesichts des Bedürfnisses, diese als primär geistige Tätigkeit auszuweisen, greifen die Künstler, wie Erwin Panofsky in seiner klassischen Studie „Idea“ gezeigt hat, um so begieriger auf die philo1 2
Vgl. Hans Huth, Künstler und Werkstatt der Spätgotik, Augsburg 1923 (Nachdruck Darmstadt 1977). Hans Roosen, Kunstanschauung als Selbstverständnis bei Leonardo, Dürer und Michelangelo in ihrer historischen Bedingtheit und Auswirkung, in: Kunstunterricht und Gegenwart. Hg. v. Hermann K. Ehmer, Frankfurt a.M./Berlin/ Bonn/München 1967, 109.
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sophische Spekulation zurück: „War es früher die Kunstlehre gewesen, das künstlerische Schaffen zu fundieren, so muß sie nunmehr versuchen, es theoretisch zu legitimieren; das Denken nimmt nunmehr Zuflucht zu einer Metaphysik, die es rechtfertigen sollte, wenn der Künstler für seine inneren Vorstellungen eine übersubjektive Geltung im Sinne der Richtigkeit einerseits, im Sinne der Schönheit anderseits in Anspruch nahm.“3 Ganz im Zeichen des plotinischen Einflusses erscheint in der Malerei und der Bildhauerei die künstlerische Darstellung zunächst als materiale Realisierung einer im Inneren geschauten Idee, die das Werk in seiner Wesenhaftigkeit und essentiellen Vollständigkeit vorwegnimmt und für dessen Existenz einsteht. Welche Folgen diese Neigung, die Idea über die Sinne zu erheben, für den Betrachter von Werken der Renaissancekunst mit sich bringt, hat Robert Klein eindrücklich beschrieben: „Wenn der konzeptuelle Kern alles ist, so bleibt für die Malerei und die Architektur nur mehr ein piktographischer Diskurs und für die Architektur ein visuelles Schema, das irgendwie die privilegierten arithmetischen Bezüge übersetzt. Aber ein solches Bemühen um unnütze und offensichtlich absurde Vollkommenheit beruht auch auf einer positiven ästhetischen Tendenz, einer Art Raserei der Disposition. Der Schmuck des Palazzo Vecchio läßt so an jene Meisterwerke denken, die seit den Polyphonisten die Geschichte der Musik markieren: ‚Schlüsselkompositionen’, die weder für das Publikum noch für die ausübenden Musiker existieren, sondern allein für die Analyse, und deren wirkliche Auslegung durch Berechnung geschieht.“4
Die Gewißheit, über Ideen solcher Art zu verfügen, begründet das neue Selbstbewußtsein der Maler und Bildhauer in der Renaissance, und mit der spezifischen Ausprägung dieses metaphysischen Konzepts hat der Neoplatonismus auch wesentlichen Anteil an der Ausbildung der von Ernst Kris und Otto Kurz beschriebenen „Legende vom Künstler“, die seine Rolle als „Heilsgestalt [...] in der Geniereligion der Neuzeit“5 vorbereitet.
3 4
5
Erwin Panofsky, Idea, 46. Robert Klein, Gestalt und Gedanke, in: Robert Klein, Gestalt und Gedanke. Zur Kunst und Theorie der Renaissance. Mit einem Vorwort v. Horst Günther, Berlin 1996, 9°. Ernst Kris u. Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Mit einem Vorwort von Ernst H. Gombrich, Frankfurt a.M. 1980, 75.
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POETIK DER HAND
Suche nach dem Werk Es mag mit der unmittelbar sinnlichen Erfahrung zusammenhängen, daß die von den bildenden Künstlern zu bearbeitenden Materialien wie Holz, Stein, Farbe oder Leinwand jedem Versuch der Formgebung eine besondere Anstrengung abverlangen, die dazu nötigt, in der Praxis dem Prozeß der Übertragung der Ideen ins Material dennoch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als es die Metaphysik vorsah. Hatte diese die Abweichung von Idee und Werkgestalt mit der ontologischen Differenz von Geist und Materie erklärt, so zeigt sich, daß die Künstler die damit gebotene Möglichkeit, sich über ein als unzureichend empfundenes Werk philosophisch zu beruhigen, nicht zu akzeptieren bereit waren, sondern ein spezifisches Interesse für das entwickeln, was sich im Prozeß der Arbeit ereignet und aus der Sicht der Ausübenden beobachten läßt. Diese neue Perspektive auf den künstlerischen Herstellungsprozeß tritt vor allem im Werk Leonardos hervor. Auch Leonardo greift die dem Künstler vertraute Erfahrung auf, daß das geschaffene Werk den Künstler nicht zufriedenstellt, aber er sieht darin nicht einen ontologisch unvermeidlichen Sachverhalt, sondern ein Problem des Künstlers und seiner Urteilsfähigkeit. Die Fähigkeit, jene Differenz zu bestimmen, die die vorliegende Werkgestalt noch von der in ihr liegenden, durch weitere Arbeit zu erzielenden Verbesserungen trennt, den Blick für das, was noch weiter geformt werden könnte, erhebt Leonardo zum Kennzeichen künstlerischer Meisterschaft: „Wenn das Werk dem Urteil entspricht, ist dies ein schlechtes Zeugnis für das Urteilsvermögen; wenn das Werk die Erwartung des Urteils übersteigt, ist es noch schlechter, wie es einem geschieht, der sich wundert, so gut gearbeitet zu haben, und wenn das Urteilsvermögen das Werk übersteigt, ist es das beste Zeichen, und wenn der Maler in jungen Jahren diese Veranlagung hat, dann wird zweifellos ein hervorragender Schaffender aus ihm.“6
Die Wahrnehmung richtet sich nicht auf die Abweichung des Werkes von einem unterstellten inneren Bild, sondern findet ihren Ausgangspunkt in der erreichten Werkgestalt und konfrontiert diese mit den ihm noch innewohnenden Möglichkeiten weiterer Ausarbeitung. Damit erschließt sich für Leonardo eine weitreichende Konsequenz: der Werkprozeß ist nicht die Verwirklichung eines bereits im Inneren gefundenen Werkes, sondern ein Vorgang, der von mehr oder weniger abstrakten, nur schwer zu bestimmenden Vorstellungen ausgehend, im Fortschreiten der Arbeit seine eigene Logik entfaltet. Die Ausführung erweist sich als Su6
Leonardo da Vinci, Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei. Hg., kommentiert u. eingeleitet v. André Chastel, München 1990, 162.
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che nach dem Werk und steht im Zeichen der Einsicht, daß der Künstler mit seinem Werkprozeß objektiv nie an ein Ende kommen kann, sondern dieses gleichsam dezisionistisch herbeiführen muß. Leonardos Denken weist auf die in der Struktur der menschlichen Wahrnehmung begründete Unabschließbarkeit des Kunstprozesses voraus, ein Gedanke, der erst in der modernen Ästhetik und ihrer Kritik am Begriff des Vollendeten wieder aufgenommen wird. So hat Merleau-Ponty „eine der großartigen Leistungen des modernen Denkens und der modernen Kunst“ darin gesehen, „die falsche Verbindung von gültigem und fertigem Werk aufgelöst zu haben. Da die Wahrnehmung selbst ja niemals fertig ist, da sie uns eine Welt auszudrücken und zu denken gibt nur durch partielle Perspektiven hindurch, welche die Welt von allen Seiten her überflutet, da ihre unaussprechliche Evidenz nicht zu denen gehört, über die wir verfügen, und da auch sie sich schließlich nur durch blitzartige Zeichen andeutet, wie ein Wort es zustande bringt, deshalb besagt die Duldung des Nicht-‚Vollendens’ nicht notwendig eine Bevorzugung des Individuums gegenüber der Welt, des Nicht-Bedeutenden gegenüber dem Bedeutenden.“7
Kunstfertigkeit, Regelkenntnis und praktisches Vermögen sind auch für Leonardo notwendige Bedingungen künstlerischer Qualifikation, aber nicht im Hinblick auf die Realisierung einer lediglich als „äußere Form“ begriffenen Werkgestalt, sondern als Kräfte, die in das Ganze des Schaffensprozesses als wirkende Elemente eingehen, ohne ihn jedoch zu umfassen. Im Hinblick auf das, was sich im Prozeß der Ausführung ereignet, steht für Leonardo die Beobachtung im Mittelpunkt, daß sich die Arbeit des Künstlers als Prozeß einer permanenten Veränderung und Umformung von Werkgestalten vollzieht. Während die platonische Philosophie des Schönen angesichts der präexistenten Werke nur die eine Möglichkeit ihrer authentischen Realisierung kennt und den Spielraum auf eine mehr oder weniger stoffgerechte Darstellung beschränken muß, zeigt Leonardos Vorliebe für die erste Phase der Arbeit, die in seinem Gesamtwerk als ungeheure Fülle von Skizzen und Entwürfen präsent ist, daß er die mit einem Werkprozeß verbundenen Möglichkeiten der Gestaltung höher schätzt als das Werk selbst, das gleichsam als letzte und einzige Gestalt übrig bleibt. Man hat in den „Präfigurationen“, die jeder 7
Maurice Merleau–Ponty, Die Prosa der Welt, München 1984, 77. Merleau– Ponty verweist auf die Untersuchungen von André Malraux zur ,Vollendungsidee’ in der Malerei und erinnert an einen Satz von Baudelaire, den bereits Malraux hervorgehoben hatte: „Gelegentlich der Betrachtung Corots verkündet Baudelaire daher als Entdeckung: ‚Ein fertiges Werk muß nicht unbedingt vollendet, ein vollendetes Werk nicht unbedingt fertig sein.’“ André Malraux, Psychologie der Kunst. Das imaginäre Museum, Hamburg 1957, 41.
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Figuration vorausgehen, mit guten Gründen den Schlüssel zu Leonardos Denken und Werk gesehen: „Leonardo verhält sich so, weil einzig und allein in diesen Skizzen und Notizen seine Welt wirklich zusammenhängt, weil nur in ihrer vorläufigen und unverbindlichen Form, die noch alles werden kann, jene ‚Transfusion’ von Gattung zu Gattung, von Kunst zu Wissenschaft, von Wissenschaft zu Fusion hinüber möglich ist, die für Leonardo ein Lebenselement gebildet haben muß.“8 Leonardo ist an den Übergängen, den Transformationen der einzelnen Werkphasen interessiert und da die am wenigsten gestalteten ersten Skizzen das größte Potential an möglichen Umformungen in sich bergen, gilt ihnen seine besondere Vorliebe. Ausführung erweist sich für Leonardo vor allem durch die Prozesse des Suchens und der Veränderung bestimmt, die, ohne das eigentliche Werkziel zu verlieren, eigenen Richtungen folgen können. Der Prozeß der Gestaltung setzt Möglichkeiten der Werkformung frei, die nicht antizipiert werden können, aber gesehen werden müssen, um dem Werk zugute kommen zu können.Wenn Leonardo dem Arbeitsprozeß höchste Wertschätzung zuteil werden läßt, dann deshalb, weil das Werk nur im Akt der Ausführung und nicht im Inneren des Künstlers gefunden werden kann. Doch nicht nur das, was im künstlerischen Prozeß geschieht, sondern die Tatsache der Materialisierung selbst, den die Platoniker nur als notwendiges Übel zugestanden, ist für Leonardo von größter Bedeutung, und zwar im Hinblick auf die Überlegenheit der Kunst gegenüber der Wissenschaft. Insofern diese über ihre Objekte nur im Geist verfügt, setzt sie sich für Leonardo stets der Gefahr aus, nicht über wirkliches Wissen zu verfügen. Im Gegensatz dazu vermöge die Malerei dem Wahrheitsanspruch jederzeit dadurch genügen, daß sie das, was zunächst nur im Kopf des Künstlers vorhanden sei, auch real erzeugen könne. Während die Astronomie sich mit dem Besitz der Wissens im Kopf des Gelehrten begnügen müsse, könne die Malerei das ihre jederzeit darstellen: „Dunkelheit und Helligkeit und Farbe, Körper, Gestalt, Lage, Ferne, Nähe, Bewegung und Ruhe, und das alles ist nur mit dem Geist ohne manuelle Tätigkeit zu verstehen. Und darin besteht die Wissenschaft der Malerei, die im betrachtenden Geist wohnt, ihm entspringt dann die Ausführung, die weitaus würdiger ist als die vorher genannte Wissenschaft.“9 Es ist die Würde der Ausführung, die Leonardo für die bildenden Künste entdeckt. „Die Kraft und das Geheimnis des Künstlers liegt also im Machen [...]. 8
9
Joseph Gantner, Leonardos vierte Gestalt und das Problem der Anfänge, in: Joseph Gantner, ‚Das Bild des Herzens’. Über Vollendung und Un–Vollendung in der Kunst. Reden und Aufsätze, Berlin 1979, 18. Vgl. E. H. Gombrich, Leonardo’s Method for Working out Compositions, in: E. H.Gombrich, Norm and Form. Studies in the art of the Renaissance, London 1966. Leonardo da Vinci, Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, 135.
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Es gibt hier keine Entgegensetzung von innen und außen, von Kopf und Hand, Theorie und Praxis.“10
D i e G e s te d e s M ac h e n s Der Prozeß der Ausführung ist für den bildenden Künstler auf besondere Weise mit einem Organ verbunden: der Hand. Mehr noch: „Das Geistige in der Kunst wird mit der Hand gemacht.“11 Dennoch vermögen die Autoren der kunsttheoretischen Traktatliteratur der Renaissance, wie Martin Warnke gezeigt hat, der Hand und ihrer Funktion im künstlerischen Gestaltungsprozeß zunächst kein Interesse entgegenzubringen: „Da es das Anliegen der Theoretiker war, die Malerei und Skulptur als geistige Tätigkeiten zu bestimmen, hätten Beobachtungen zu den Eigentümlichkeiten der Hand wieder auf die manuellen Bedingungen künstlerischer Handlungen gelenkt. Es galt, jene Meinung zu neutralisieren, die eine Überlegenheit des dichtenden Ingeniums über den Malenden daraus ableitete, daß jener mit dem Geist, dieser aber mit der Hand arbeitete.“12
Die kunstwissenschaftliche Forschung hat verdeutlicht, daß jedoch in dem Moment, in dem die Dignität der Malerei nicht mehr zur Disposition stand, die bedeutendsten Künstler mit größter Intensität sich dem Problem des Verhältnisses von Kopf und Hand zugewandt haben. War die Notwendigkeit der Handarbeit zuvor des Stigma der bildenden Künste gewesen, so wird bei Leonardo der Sachverhalt, daß ihr Gegenstand zwar „zuerst im denkenden Geist erscheint, aber ohne die Arbeit der Hände nicht vollendet werden kann,“13 zum Ausweis ihrer Überlegenheit gegenüber den Wissenschaften, die sich auf bloße theoretische Einsichten beschränken. Leonardo ist „ganz Auge und Hand; was für ihn ist, muß sichtbar sein, und was er erkennt, muß mit der Hand hervorgebracht werden“.14 Als Organ der Ausführung bestimmt die Hand die Realisierung der künstlerischen Vorstellung, aber nur in dem Maße, wie es ihr gelingt, die sich aus der Konfrontation mit dem Material ergebenden Schwierigkeiten zu überwinden. Die Hand fungiert auf diese Weise nicht länger als blo10 Alfred Baeumler, Ästhetik, 76. 11 Hans Platschek, Warum Malerei? In: Merkur, H. 5, 1992, 432. 12 Martin Warnke, Praxisfelder der Kunsttheorie. Über die Geburtswehen des Individualstiles, in: Idea, Bd. 1, 1982, 58. 13 Leonardo da Vinci, Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, 135. 14 Karl Jaspers, Leonardo als Philosoph, in: Karl Jaspers, Aneignung und Polemik. Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie. Hg. v. Hans Saner, München 1968, 78.
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ßes Werkzeug der Idee im Hinblick auf eine stoffgerechte Darstellung, sondern indem sie den konzeptionellen Vorgaben folgt, eröffnet sich ihr in der Berührung mit der Sphäre des Materials zugleich ein Feld von vorher nicht gesehenen Möglichkeiten der Gestaltung. Angesichts der theoretisch nur schwer beschreibbaren, aber für den Künstler immer wieder erfahrenen Leistungsfähigkeit dieses Organs entwickelt sich in der ausgehenden Renaissance ein spezifischer Kult der Hand, der besonders deutlich im Werk Dürers hervortritt, sowohl als Bildmotiv als auch als Gegenstand in seinen Schriften. Dürers Überzeugung, so Panofsky, bestehe darin, dem Arbeitsprozeß „ein funktionales Abhängigkeitsverhältnis“15 zwischen Idee und Hand zugrundezulegen, das bewirke, „daß das Werk sich in ihrer gegenseitigen Durchdringung vollendet.“16 Die Qualität eines Werkes ist damit nicht mehr allein durch die Größe der Idee, sondern gleichermaßen durch die Leistungsfähigkeit der Hand definiert. In der Theorie der Hand, die nun im Kontext der Kunsttheorie entfaltet wird, objektiviert sich zum ersten Mal die Erfahrung der Widerständigkeit des Materials, die nun nicht mehr im Sinne einer unaufhebbaren ontologischen Differenz verstanden, sondern als künstlerische Herausforderung begriffen wird, die anzunehmen, wie Gaston Bacherlard sehr anschaulich am Beispiel der Arbeit eines Graveurs beschrieben hat, vom Künstler nicht wenig verlangt: „Ein Schriftsteller der Romantik, Maler in seiner Freizeit, glaubte sich zum Realismus zu bekennen, indem er sagte: ‚Für mich existiert die äußere Welt.’ Der Graveur geht eine größere Verpflichtung ein: für ihn existiert die Materie. Und sie existiert unmittelbar; sie ist Stein, Schiefer, Holz, Kupfer, Zink ... Selbst das feinkörnige, faserige Papier fordert die Hand heraus zum zarten Wettstreit. So ist die Materie der erste Gegner der Hand.“17
Die Vorstellung, daß die Hand zwar für die Verwirklichung der Idee gearbeitet hat, ihr gegenüber aber die Bewährung in einer Sphäre geltend machen kann, die vom platonischen Dualismus gar nicht erfaßt wird, be15 Erwin Panofsky, Dürers Kunsttheorie, vornehmlich in ihrem Verhältnis zur Kunsttheorie der Italiener, Berlin 1915, 172. Zum Kult der Hand und ihrer expressiven Symbolik in der antiken und christlichen Tradition siehe Walter Spoerri, Späthelenistische Berichte über Welt, Kultur und Götter, Basel 1959, 148–152; Karl Gross, Lob der Hand im klassischen und christlichen Altertum, in: Gymnasium, H. 5, 1976; Karl Gross, Menschenhand und Gotteshand in Antike und Christentum. Aus dem Nachlaß hg. v. Wolfgang Speyer, Stuttgart 1985. 16 Erwin Panofsky, Dürer Kunsttheorie Panofsky, 172. Vgl.auch Erwin Panofsky, Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, Frankfurt a.M. 1995, darin vor allem das letzte Kapitel ‚Dürer als Theoretiker der Kunst’. 17 Gaston Bachelard, Materie und Hand, in: Gaston Bachelard, Paul Eluard, Albert Flocon, Die Bücher des Albert Flocon, Düsseldorf/Bensheim 1991, 37.
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gründet die Eigenwertigkeit der Ausführung als zwischen Idee und Werk liegende Phase des künstlerischen Herstellungsprozesses. Ausführung ist nicht länger im Sinne des Mechanischen stoffgerechte Regelanwendung, sondern der offene Prozeß der Vermittlung zwischen einer zur Konzeption depotenzierten Idee und dem Material. Im Akt der Ausführung erschließen sich Möglichkeiten der Gestaltung, die für den Künstler nicht zu antizipieren waren, und in der Berührung mit dem Material findet seine Hand etwas, das der Suche nach der Werkgestalt zugute kommt. Wie die Kunstliteratur zeigt, entwickelt sich seit dem 15. Jahrhundert ein Bewußtsein von der Leistungsfähigkeit der Hand, die zwar begrifflich noch nicht zureichend erfaßt, dafür aber umso eindrücklicher dargestellt wird.18 Als Bildmotiv findet es seinen stärksten Ausdruck in Zeichnungen Dürers, etwa in dem berühmten Selbstbildnis, daß eine überdimensionierte Hand neben dem Kopf des Künstlers zeigt, deren manirierte Haltung die von Dürer mit Stolz demonstrierte Kunstfertigkeit symbolisiert. Damit einher geht die Aufwertung der Handzeichnung, in der die Hand gleichsam ihre eigenen Möglichkeiten feiert, die sich ihr vor allem dort erschließen, wo sie nicht im Rahmen der Traditionsbestände überlieferter Bildmotive agieren muß, sondern mit der neuen Konzentration auf die Darstellung subjektiver Vorgänge eine neue Funktion bekommt: „Das Zeichnen war jetzt nicht mehr ein reproduktiver, Vorgaben und Normen bewahrender und einübender Akt, sondern dasjenige Medium, in dem ‚Erfindungen’ und Neuerungen, auch persönliche Einfälle, Beobachtungen und Ideen niedergelegt wurden. Entsprechend schnell, flüchtig und summarisch und virtuos kann jetzt der Zeichenstift verfahren: Beim Zeichnen konnte sich der Kopf ganz unmittelbar der Hand anvertrauen.“19 Diese Funktion zu erfüllen, das Attribut einer docta manus zu er-
18 „Als die Ausführung, die Maniera, zu einem selbständigen Wert wird“, so Robert Klein, fand das künstlerische Bewußtsein „keine Kunsttheorie vor, die davon Rechenschaft geben konnte“ (106). In diesem historischen Augenblick, um 1600, wird die Magie als Modell der Kunsterklärung wiederentdeckt. Vgl. dazu den Abschnitt ,Magie und Kunst’, in: Robert Klein: Gestalt und Gedanke, 96–103. 19 Martin Warnke, Der Kopf in der Hand, in: Werner Hofmann, Zauber der Medusa. Europäische Manierismen, Wien 1987, 60. Vgl. Hans Roosen, Die Rolle der Hand im künstlerischen Produktionsprozess, in: Kunstpädagogik ‘74. Festschrift für Richard Pfenning, Düsseldorf 1974. Auch Hegel hat in seiner ,Ästhetik’ der Handzeichnung seine Bewunderung nicht versagt, allerdings die Rolle der Hand ganz im Sinne des Platonismus gedeutet: Sie vermöge Geistiges perfekt abzubilden. „Handzeichnungen haben dadurch höchstes Interesse – indem man das Wunder sieht – daß der ganze Geist unmittelbar in der Fertigkeit der Hand übergeht, die nun mit der größter Leichtigkeit, ohne Versuch in augenblicklicher Produktion alles, was im Geist des Künstlers liegt, hinstellt.“ G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke Bd. 15, Frankfurt a.M. 1970, 69. An anderer Stelle heißt es über die Hand des Menschen, sie sei „der beseelte Werkmeister seines Glücks, man kann von ihr sa-
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langen, vermag die Hand des Künstlers jedoch nur durch ständige Schulung und unermüdliches Üben. „Bald schon wird man die zeichnende Hand als Abreviatur für künstlerische Arbeit einsetzen, wenn man etwa in einem Emblem für Übungsfleiß die Empfehlung des Apelles: ‚Nulla dies sine linea’ illustrieren wollte.“20 Im Rahmen der modernen Kunstwissenschaft hat sich die systematische Kritik an den metaphysischen Implikationen der traditionellen Schaffensvorstellung am Leitfaden des Gedankens entwickelt, daß es, wie Konrad Fiedler in seinem bahnbrechenden Aufsatz „Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit“ von 1887 gezeigt hat, „auf einer großen Selbsttäuschung beruht, wenn der Mensch meint, das geistige Tun und Dasein, was er in sich wahrnimmt, mehr und mehr von der Gemeinschaft eines leiblichen Geschehens befreien zu können [...] Nicht in der Emanzipation sogenannten geistigen Tuns von leiblichem kann Fortschritt vor sich gehen, vielmehr lediglich und auschließlich durch die Entwicklung sinnlich körperlicher Tätigkeit zu immer greifbareren Vorhandensein, zu immer steigender Bestimmtheit und Deutlichkeit.“21
Diese leibliche Dimension des künstlerischen Schaffens repräsentiert für Fiedler vor allem die Hand, deren Leistungsfähigkeit mit jener des Auges konkurriert, indem ihre Funktion nicht darauf reduziert werden kann, in sehr beschränkter Form „etwas nachzubilden, was in vollkommener Weise dem schauenden Bewußtsein mühelos zuteil wird“22. Im Gegenteil: „Selbst in der den Augenblick ihrer Entstehung nicht überlebenden Gebärde, in den elementaren Versuchen einer bildnerisch darstellenden Tätigkeit tut die Hand nicht etwas, was das Auge schon getan hätte; es entsteht vielmehr etwas neues, und die Hand nimmt die Weiterentwicklung dessen, was das Auge tut, gerade an dem Punkte auf und führt sie fort, wo das Auge selbst am Ende seines Tuns angelangt ist.“23 Auch die von Henri Focillon kunsttheoretisch entfaltete „Poetik und Technik der Hand“24 geht davon aus, daß die Beziehung zwischen Geist
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gen, sie ist das, was der Mensch tut.“ G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt a.M. 1970, 237. Martin Warnke, Der Kopf in der Hand, 58. Conrad Fiedler,Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, in: Conrad Fiedler, Schriften über Kunst. Mit einer Einleitung von Hans Eckstein, Köln 1977, 187. A.a.o., 184. A.a.o., 185. Henri Focillon, Lob der Hand Bern 1958, 30. Zur Hand als Motiv in den Künsten siehe die reich illustrierten Anthologien: Hände. Eine Sammlung von Handabbildungen großer Toter und Lebender. Mit einer Einführung in die Handkunde von Rolf Voigt und einem kunsthistorischen Geleitwort von Kurt Pfister, Hamburg 1929; Karl Riha, Das Buch der Hände. Eine Bild– und Text– Anthologie. Mithg. v. Getrud Stinner u. Waltraud Wende–Hohenberger, Nörd-
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und Hand nicht durch die Vorstellung von Befehl und Gehorsam erfaßt werden könne, sondern allein durch die genaue Beobachtung dessen, was die entdeckende und formende Kraft der Hand dem Geist im Akt der Ausführung „zuspielt“: „Man kann sich fragen, ob diese Werke, die am Ende eines inneren Kampfes stehen, nicht auch zugleich ein neuer Anfang sind. – Genies [...] brauchen Anhaltspunkte. Die Wahrsagerin muß, um die Gestalt der Zukunft voraussagen zu können, die ersten Züge davon in den Flecken und Mäandern suchen, die der Kaffeesatz auf dem Tassengrund zurückläßt. Je nachdem das Ungefähre seine Form in den Zufälligkeiten der Materie bestimmt, je nachdem die Hand diesen Zufall ausnutzt, erwacht seinerseits der Geist. Diese Gestaltung einer chaotischen Welt zieht ihre überraschenden Wirkungen aus den Stoffen, die scheinbar wenig für die Kunst geschaffen sind, aus improvisiertem Handwerkszeug, aus Splittern und Abfällen, die in ihrer Abnutzung und Zerbrochenheit ganz besondere Hilfsquellen eröffnen. Die zerbrochenen und schmierenden Federn, die stumpf gewordenen Holzspitze, der zerzauste Pinsel arbeitet in trüben Bereichen, der Schwamm befreit feuchtglänzende Lichter, Spuren von Tusche besternen die Fläche. Diese Alchemie entwickelt nicht, wie man allgemein glaubt, das Negativ einer inneren Vision: sie formt diese Vision, sie gibt ihr Gestalt, sie vergrößert ihre Perspektiven. Die Hand ist nicht mehr die gehorsame Dienerin des Geistes, sie sucht, sie grübelt für ihn, sie durchläuft alle Arten von Abenteuern, sie versucht ihr Glück.“25
Für die Theorie der Produktion bedeutet dieses Verständnis der Hand als „das Organ des Möglichen“ (Valéry, W 4, 196) nicht nur die Emanzipation vom Mechanischen, sondern gleichermaßen wie Villem Flusser in seiner scharfsinnigen phänomenologischen Analyse der Geste des Machens beschrieben hat, die Begründung des fundamentalen Satzes, der jeder antiplatonischen Theorie der künstlerischen Produktion zugrundegelegt werden kann: „Das Schaffen ist die Erarbeitung von Ideen während der Geste des Machens.“26
lingen 1986; Die Hand des Künstlers, Ausstellungs Katalog, Museum Ludwig, Köln 1991. 25 Henri Focillon, Lob der Hand, 46. Zum ‚Abenteuer der Hand’ vgl.die Bemerkungen von Ranko Marinkovic: „Die Hand vollbrachte einen wunderbaren Durchbruch in die ‚Große Zukunft’. Sie konstruierte Intelligenz außerhalb des menschlichen Kopfes. Sie zwang Materie zu merken. Sie hauchte den geheimnisvollen Vorgängen in lebloser Substanz Geist und Gedanken ein und organisierte diese für uns fast okkulten Energien zu äußerst raffinierten kombinatorischen Winkelzügen, die an phantasievolle prognostische Visionen erinnern.“ Ranko Marinkovic, Hände. Eine Erzählung und ein Traktat, Salzburg/Wien 1989, 33. 26 Villem Flusser, Gesten, 79.
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Es ist kein Zufall, daß überall dort im modernen Denken, wo dem äußerst wirkungsvollen Nachleben der platonischen Metaphysik begegnet werden soll und gewissermaßen „drängelnd um die Position des ersten wirklich radikalen Antiplatonikers der Geschichte“27 gestritten wird, die Beschäftigung mit der anthropologischen Bedeutung der menschlichen Hand für die Welterschließung größte Bedeutung beigemessen wird. In Valérys Werk ist die „Universalität der Hand“ (C 3, 314)28 ohnehin lebenslanges Thema der Reflexion, ohne daß er jedoch darüber die beabsichtigte Abhandlung geschrieben hätte. Kaum weniger fasziniert von diesem Motiv war Walter Benjamin. Er hat die spezifischen Möglichkeiten der Hand wiederholt behandelt, am eindringlichsten in seinem kurzen Prosastück „Übung“, in dem er am artistischen Vermögen des Jongleurs Rastelli demonstriert, daß nach intensivster Übung „endlich der Körper und ein jedes seiner Glieder nach eigener Vernunft handeln können. [...] Der Erfolg ist, daß der Wille im Binnenraum des Körpers, ein für alle Mal zu Gunsten der Organe abdankt – zum Beispiel der Hand“ (GS IV.1, 406)29. In Hellmuth Plessners Forschungen zur Anthropolgie der Sinne30 wird die Privilegierung der Hand ebenso reflektiert wie in Heideggers Vorlesungen „Was heißt Denken?“31oder zuletzt bei Derrida, dem es, Heideggers Gedanken radikalisierend, geboten erscheint, „die Hand zu denken. Doch kann man sie nicht denken wie ein Ding, ein Seiendes, und noch weniger wie ein Objekt. Die Hand denkt,
27 Richard Rorty, Dekonstruieren und Ausweichen, in: Richard Rorty, Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, Stuttgart 1993, 126. 28 Vgl. Agathe Rouart –Valéry, L’apologie de la Main chez Paul Valéry, und Gérald Antoine, Quelques Linéaments du ,Traité de la Main’ du ,Traité de la main’, in: Paul Valéry Contemporain. Hg. v. Monique Parent u. Jean Levaillant, Paris 1974. 29 Vgl. auch Benjamins kurze Erzählung ,Die glückliche Hand’, in: GS IV.2. Zum Motiv der schreibenden Hand in Benjamins Texten vgl. Thomas Schestag, Lampen, in: Übersetzen: Walter Benjamin. Hg. v. Chistiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt a.M., 64–65 30 Hellmuth Plessner, Anthropologie der Sinne, in: Hellmuth Plessner, Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M. 1980. Anthropologisch orientiert sind auch die vergleichbaren Überlegungen zur Bedeutung der Hand in Elias Cannettis Studie, Masse und Macht, Aufl., Hamburg 1960, 241–250. 31 Martin Heidegger, Was heißt Denken? Tübingen 1984;50–51; Vgl. auch Martin Heidegger, Parmenides. Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923– 1944, 124–125. „Die Hand verwahrt gleich dem Wort den Bezug des Seins zum Menschen und dadurch erst das Verhältnis des Menschen zum Seienden.“ [125). Erst der „mit der Schreibmaschine gewandelte neuzeitliche Bezug der Hand zur Schrift“ (126), so Heidegger, befördere das übliche Verhängnis. Wer tippt, trägt also auf seine Weise zur Persistenz der Verborgenheit des Seins bei. Sehr viel nüchterner fallen die Bemerkungen von Gadamer über die „Hand als geistiges Organ“ aus: Vgl. Hans–Georg Gadamer, Der Mensch und seine Hand im Zivilisationsprozeß, in: Hans–Georg Gadamer, Lob der Theorie, Frankfurt a.M. 1983.
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bevor sie gedacht wird, sie ist Denken, sie ist ein Gedanke, sie ist das Denken.“32 Zu dem, was die kunsttheoretische und philosophische Forschung über die reale Funktion der Hand erschlossen haben, gehört nicht zuletzt das Bewußtsein ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit als Metapher. Die Hand gibt mit ihren „Operationen und Erfahrungen die Bilder her, um das Denken selber auszudrücken. Wir be-greifen mit der Hand tatsächlich und dann im Gleichnis.“33 Was immer die Hand wirklich im Kunstprozeß zu leisten imstande ist, ihre entdeckende Funktion vermag für die Eigenwertigkeit künstlerischer Ausführung überhaupt zu stehen. Im Hinblick auf das Subjekt des Werkprozesses erschließt die Geste der Hand einen Raum, in dem dieses sich erst eigentlich konstituiert: „Die Geste, das Ornament des Subjekts, kein bloßes Beiwerk, das verzichtbar wäre. Das Subjekt geht vielmehr in seiner Geste völlig auf. Es ist seine Geste.“34 Als Metapher kann die Hand für das Ganze des ästhetischen Schaffensprozesses stehen, der innere Vorstellungen, Regeln und Verfahrensweisen, also Techne im antiken Sinne umfasst, sie aber immer wieder durch die im Akt der Ausführung sich realisierende Eigenlogik transzendiert: „Das artistische Subjekt konstituiert sich über diese Technik und vergißt sich darin, indem es sich verliert. ‚Ziehen Sie Linien, viele Linien’, riet der alte Ingres dem jungen Degas um ein guter Artist zu werden. Es wurde zum zentralen Satz seiner Kunst und Lebenskunst.“35 32 Jacques Derrida, Heideggers Hand, in: Jacques Derrida, Geschlecht (Heidegger). Hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, 63. Zum Motiv der Hand auf dem von ihm interpretierten Bild von Matthew Paris vgl. Jacques Derrida, Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. Lieferung, Berlin 1983, 47. Vgl. auch Karl Jaspers Bemerkungen zum Denken als Praxis: „Das denkende Tun mit der Hand ist die Schulung des Denkens selber.“ Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1947, 359. 33 Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1947, 359. 34 Wilhelm Schmid, Die Geste der zeichnenden Hand – Edgar Degas, In: Merkur H. 5, 1988, 361. „Die Schrift ist nur ein Sonderfall dieser Geste der zeichnenden Hand, wobei es noch einen wesentlichen Unterschied macht, die Umsetzung der Schrift im Druck vor sich zu haben, oder die Spur der ausführenden Hand selbst: erregende Spur einer Intensität, ihrer Nähe.“ (360). 35 Wilhelm Schmid, Die Geste der zeichnenden Hand – Edgar Degas, 361. Die Gespräche zwischen Ingres und Degas, dem der Ratschlag galt, hat Paul Valéry überliefert, vgl. Paul Valéry, Tanz. Zeichung und Degas. Degas habe, so Valéry, auch eine andere Äußerung von Inges oft zitiert: „Die Zeichung lebt nicht außerhalb des Strichs, sie steckt darinnen... .“ (W 6, 289); siehe auch die Eintragungen in Cahiers/Hefte 2, 216. Im Rahmen einer vergleichenden kulturwissenschaftlichen Analyse ist es bemerkenswert, daß insbesondere im japanischen Nachdenken über Kunst diesem Aspekt eine hervorragende Bedeutung zugewiesen wird: „Japanern wird nachgesagt, daß sie besonders gut im ‚Denken mit der Hand‘ sind. Auch für die japanische Ästhetik ist das ,Denken mit der Hand’ zentral. So umfaßt diese ,Ästhetik der Hand’ eine Menge von Regeln, die man erst vergessen kann, wenn man sie verinnerlicht und Meisterschaft erlangt hat, um sich dann der Freiheit des Ausdrucks zu widmen. [...] Diese Art von Flexibilität wird im Ja-
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Daß sich Einsichten dieser Art zunächst im Bereich der bildenden Kunst und nicht im Feld der Dichtung entwickeln konnten, erscheint naheliegend. Zwar ist ihre Praxis ebenfalls an die Verwendung bestimmter Mittel und Materialien wie Papier, Federn oder Tinte gebunden, aber letztlich galt seit der Antike Schreiben als geistige Tätigkeit, indem es bestimmte Inhalte als Zeichen fixiert. Selbst wenn man auf die ursprüngliche Form des Schreibens als Zeichnen zurückgeht, das eine Anstrengung der Hand und die Schulung eines bestimmten Vermögens verlangt, geht es bis zum 18. Jahrhundert allein darum, das Schreiben im buchstäblichen Sinne als mechanisches Stellen der Schrift zu erlernen.36 Wer die Schrift stellen konnte, sah die Probleme der Darstellung naturgemäß auf Unklarheiten im Bereich des Geistigen beschränkt. Die Erfahrung der Widerständigkeit eines bestimmten Materials, die die bildenden Künstler frühzeitig dahin geführt hatten, den Prozeß der Ausführung zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen über den Schaffensprozeß zu machen, entzog sich den Schriftstellern ebenso wie die ihm innewohnende Dimension der Leiblichkeit, erfahrbar vor allem an der Bedeutung der Hand im Akt des Machens. Es ist eine historisch späte Einsicht, dass „Schreiben, jetzt im umfassendsten Sinn genommen, als das Einfließen des Denkens in die Hand und die Ausformung des Gedankens zum Wort durch sie geschieht, so daß eine scharfe Grenze zwischen Innen und Außen, Denken und Sprache, Geist und Hand sich nicht mehr ziehen läßt. Die Übergänge werden unmerklicher, und die Bedächtigkeit der Hand macht ebenso den Gedanken handlich wie das Denken die Hand lenkt.“37 panischen manchmal kan, also ,Kniff’ genannt. Es ist eine Art stillen Wissens, das nicht durch gewohnte Worte vermittelt werden kann.” Es wird mithilfe eines speziellen Jargons weitergegeben. Akiko Tsukamoto, Zur Flexibilität der japanischen Künste, in: ,Kultur’ und ,Gemeinsinn’. Hg. v. Jörg Huber u. Alois Martin Müller,Basel/Frankfurt a.M. 1994, 244. Zum „Linkischen“ der Hand, die sich dem Diktat des Auges entzieht vgl. Roland Barthes, CY Twombly oder Non multa sed multum. In: Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M. 1990, 170–173. Vgl. auch die Bemerkung von Maurice Blanchot zur Bedeutung der Hand, die nicht schreibt: „Die Meisterschaft ist immer Sache der anderen Hand, die nicht schreibt und imstande ist, im gegebenen Augenblick einzugreifen, den Bleistift zu fassen und ihn wegzulegen. Die Meisterschaft besteht also in der Fähigkeit, mit dem Schreiben aufzuhören und das zu unterbrechen, was sich von selber schreibt.“ Maurice Blanchot, Die wesentliche Einsamkeit, Berlin 1984, 14. 36 Zum Unterschied zwischen Malen und Schreiben als Handlungsformen siehe die klugen Bemerkungen von Hans Platschek in „Malerei als Aktion“. In: Hans Platschek, Bilder als Fragezeichen. Versuche zur modernen Malerei, München 1962. 37 Hans–Jost Frey, Lesen und Schreiben, Basel/Weil am Rhein/Wien 1998, 49. Zu dem mit dem mechanischen Schreibvorgang hervortretenden Riß der Verbindung zwischen Hand und Schrift siehe Freys scharfsinnige Beschreibung „Tastatur“, 48–53. Zu den Folgen für das Schreiben, zur Revolution durch die
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Daß die maßgeblichen Schriftsteller des ausgehenden 18. Jahrhunderts das sachliche Problem des künstlerischen Schaffens gleichermaßen beschäftigte, zu dessen Klärung weder das alte Techne-Verständnis, noch die wiederbelebte Enthusiasmuslehre ausreichend waren, verdeutlichen die vielfältigen Anstrengungen zu einer neuen Form des Wissens zu gelangen, dessen Ausrichtung Klopstock 1774 mit seinem „Vorschlag zu einer Poetik, deren Regeln sich auf die Erfahrung gründen“38, programmatisch formuliert hat. „Daß sie lernen der Hände Geschik“39, lautet nicht weniger deutlich, doch ungleich poetischer eine Forderung Hölderlins. Aber den in der Literatur virulenten Platonimus und die durch ihn bestimmten Voraussetzungen eines Diskurses zu überwinden, der das „Machen“ als sekundäres Geschehen begreift, das dem ontologisch vorrangigen inneren Bild prinzipiell äußerlich bleibt, erweist sich angesichts der besonderen Materialität ihres Metiers als schwierige Angelegenheit.
Schreibmaschine seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. Friedrich Kittler, Gammophon Film Typewriter, Berlin 1986. 38 Friedrich Gottlieb Klopstock, Zur Poetik, in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hg. v. Winfried Menninghaus, Frankfurt a.M. 1989, 164. Zu den auf die Probleme der modernen Poetik vorausweisenden Elementen in Klopstosks Sprachkonzeption siehe das instruktive Nachwort von Winfried Menninghaus, Klopstocks Poetik der schnellen ,Bewegung’. 39 Friedrich Hölderlin, Werke und Briefe. Hg. v. Friedrich Beißner u. Jochen Schmidt, Bd. 1. Gedichte, Hyperion, Frankfurt a.M. 1969. Ausgehend von Walter Benjamins Hinweis, Hölderlins Briefe gäben einen Blick frei ins „Innere“ der „Werkstatt“ des Dichters und gingen der „meisterhaften, präzisen Technik seiner späten Dichtungen“(GS IV.1, 171) nach, hat Peter Szondi das „Geschick der Hände“ als Fähigkeit gedeutet, „die Töne zu ordnen. [...] Geschik ist mit dem griechischen Wort, téchne.“ Peter Szondi, Schriften I, Frankfurt a.M.h 1978, 366. Auch Walter Bröcker hatte bereits 1955 deutlich gemacht, „dass das Dichten mit Recht ein Machen (heißt). Das sieht man nirgends deutlicher als bei Hölderlin selbst, dem wir dank der großartigen Arbeit der Philologen gleichsam in die Werkstatt zu blicken vermögen.“ Walter Bröcker, Die Auferstehung der mythischen Welt in der Dichtung Hölderlins. In: Walter Bröcker, Das, was kommt, gesehen von Nietzsche und Hölderlin, Pfullingen 1963. Zuletzt hat Jean–Luc Nancy hervorgehoben, Hölderlin stelle zwar „die Frage nach einer neuen ars oder techne“(9), räumt aber im Hinblick auf die entsprechenden Ausführungen ein, seine spekulativ idealistische Begrifflichkeit führe zu den „ungeheuren, geradezu unendlichen Komplikationen in der Analyse des poetischen Geistes, die Hölderlin (insbesondere in Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes) unternimmt, ohne je zu einer zufriedenstellenden Formalisierung zu gelangen.“ Jean–Luc Nancy, Kalkül des Dichters : nach Hölderlins Maß, Stuttgart 1997, 21. Hölderlin ist also durchaus dem Projekt einer neuen, immanenten Poetik verpflichtet, doch da sich in seinem Werk nicht recht ausmachen lässt, welche Antworten er auf seine Fragen findet, bleibt es im Folgenden unberücksichtigt.
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IV. SELBSTBEOBACHTUNG ALS AUFKLÄRUNG – L E S S I N G S P R O BL E M E W a s s i c h m ac he n l ä s st War deutlich geworden, daß es in der ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts weniger um einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen genialem und handwerklichem Schaffen, sondern vielmehr um den Stellenwert der mit dem Begriff des Mechanischen bezeichneten bewußten Verfahrensweisen geht, die den Erscheinungen des Schönen äußerlich bleiben, so tritt die Problematik dieser philosophischen Konstruktion im Bereich der Dichtung in dem Moment hervor, wo der Blick eines Autors sich auf die konkreten Vollzüge der eigenen schriftstellerischen Praxis zu richten beginnt. Es ist vor allem das Werk Lessings, das exemplarisch die veränderte Haltung dokumentiert, aber ebenso die Gründe verdeutlicht, denen sich das neue Interesse verdankt. Auch Lessing exponiert den Begriff des poetischen Genies, aber die Verwendung schwankt in den einzelnen Phasen seines Werkes. Das Genie beibt für ihn weitgehend rational organisiert und ist in „erster Linie ein Wertbegriff“1, mit dem er seine Idealvorstellung vom Dichter umschreibt. Mögen Lessings Bemühungen, den Begriff des Genies mit der Geltung von Regeln zu vermitteln, zur Entfaltung eines philosophisch differenzierten Geniebegriffs kaum beigetragen haben, so gewinnen sie doch in dem Maße an Bedeutung, wie man sie als Ausführungen eines Schriftstellers betrachtet, der zuallererst über die Erfahrungen seiner konkreten Arbeit reden will, dem aber dafür nur die begrifflichen Mittel des philosophischen Geniediskurses oder die historisch fragwürdig gewordenen der Regelpoetik zur Verfügung stehen, der also gefangen bleibt in dem von der platonischen Tradition geschaffenen Gegensatz von Theorie der Kunst und Metaphysik des Schönen. Lessings Chancen, 1
Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie–Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik I, 92. Vgl. Lessing. Epoche–Werk–Wirkung. Hg. v. Wilfried Barner, Gunter Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer, 3. Neubearbeitete Auflage, München 1977, 159–161.
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sich diesen Voraussetzungen zu entziehen, ergeben sich aus den Prämissen seiner Haltung als Aufklärer, der im Prinzip nur seinen Beobachtungen vertraut, vor allem dort, wo es um sein eigenes Metier geht. Es ist, wie bereits Scherer gesehen hat, „Lessings eigentümlicher Vorzug, daß er sich auf dem Weg des Aristoteles wieder einlenkend so vielfach empirisch, inductiv verfuhr“2 und die auf diese Weise gewonnenen Einsichten zum Fundament seines poetologischen Denkens und seiner Praxis als Kritiker gemacht hat. „Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen; ich glaube die Dichtkunst studiert zu haben, sie mehr studiert zu haben, als zwanzig, die sie ausüben. Auch habe ich sie insoweit ausgeübt, als nötig ist, um mitsprechen zu dürfen: denn ich weiß wohl, so wie der Mahler sich von niemanden gerne tadeln läßt, der den Pinsel ganz und gar nicht zu führen weiß, so auch der Dichter. Ich habe wenigstens versucht, was er bewerkstelligen muß, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen vermag, doch urteilen, ob es sich machen 3 läßt.“ (B 6, 685)
Lessings gesamtes theoretisches und kritisches Werk entwickelt sich im Zeichen eines Pathos des Machens, untersteht dem Willen, die Sphäre der schriftstellerischen Arbeit auf der Grundlage eigener Schreiberfahrungen theoretisch zu erhellen und leidet zugleich unter der Schwierigkeit, daß dafür kein ausreichendes begriffliches Instrumentarium zur Verfügung steht. „Weit begieriger, das Wie als das Warum zu wissen“ (L 8, 24), geht Lessing im Sinne der aufklärerischen Poetik zunächst von dem aus, was auch beim ihm „das Mechanische der Poesie“ (L 8, 5) heißt. In diesem Zusammenhang hatten ihm die Dramen Shakespeares eine Anschauung von dem vermittelt, was die Genieästhetik mit dem Begriff der Originalität eines Werkes zu bezeichnen versuchte. Hier war ihm aufgegangen, daß die Qualität eines dramatischen Werkes nicht von der schematischen Anwendung der Regeln der Einheit von Ort und Zeit, sondern wesentlich durch die Einheit der Handlung und einer mit ihr vermittelten differenzierten Charaktergestaltung der Figuren abhängig ist. Soll die Güte neuerer Dramen nach dem Muster der Alten entschieden werden, so Lessing, „kommt Corneille ihnen in der mechanischen Einrichtung, und Shake2 3
Wilhelm Scherer, Poetik, 44. Mit diesem Interesse für das „poietische Können“, das im Unterschied zum theoretischen und praktischen Können versucht, das anzugeben, „was sich überhaupt machen lässt“ (349), entspricht Lessings Denken auf das genaueste dem Wissenschaftsverständnis des neuzeitlichen Fortschrittsbegriffs. Vgl. Jürgen Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 346–358.
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peare in dem Wesentlichen näher“ (L 8, 43). Eben dieses hoffte Lessing, davon überzeugt, durch Kritik und Studium „etwas zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kommt“ (B 6, 686), durch systematische Beobachtung der Kunstgriffe Shakespeares soweit objektivieren zu können, daß sie ihm für die eigene Theaterproduktion als Mittel zur Verfügung ständen. Ausgangspunkt seines literarischen Schaffens ist eine produktive Rezeption der ihm vorliegenden Stücke, die die Frage, wie diese gemacht sind, aufs engste mit der verbindet, wie die neuen Stücke zu machen seien. Bei der Arbeit daran blieb ihm jedoch nicht verborgen, daß das, was er im Rahmen seiner Shakespeare-Studien unter eine Regel gebracht zu haben glaubte, im Prozeß der Anwendung eine eigene Dynamik entfaltete. Vor dem Hintergrund der Erfahrung, daß dies, wie seine bislang wenig untersuchten Briefe4 dokumentieren, offensichtlich häufig nicht dem entsprach, was er hatte machen wollen, mußte Lessing im Interesse seiner Bemühungen um eine neue dramatische Form dem Prozeß der Ausführung selbst größte Aufmerksamkeit schenken. Angesichts der Schwierigkeiten, über schriftstellerische Erfahrungen dieser Art zu reden, und vor dem Hintergrund der traditionellen Orientierung der Dichtung an der Malerei, lag es für Lessing nahe, sich des Diskurses zu bedienen, den die bildenden Künste in Fragen der Produktion ausgebildet hatten. Von besonderer Wichtigkeit ist es für Lessing zunächst, deutlich zu machen, daß die Urteilsfähigkeit des Künstlers der des Kritikers grundsätzlich überlegen ist, weil er sich auf praktische Erfahrungen und die Autorität des Ausübenden stützen kann. Mögliche Einwürfe des Kritikers gegenüber dem Werk hat er in der Regel schon in der Praxis antizipiert und aus empirischen Gründen verworfen: „Ich bin überzeugt, daß das Auge des Künstlers größtenteils um vieles scharfsinninger ist als das scharfsinnigste seiner Beobachter. Unter zwanzig Einwürfen, die sie ihm machen, wird er sich neunzehn erinnern, sie während seiner Arbeit selbst gemacht und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben.“ (B 6, 550) Der Prozeß des Auswählens bestimmt den Vorgang der Ausführung, den Lessing, sofern er diesen Begriff selbst verwendet, ganz im traditionellen Sinne der mechanischen Umsetzung versteht, bei der lediglich die unterschiedlichen Eigenschaften der Materialien, die in einer Disziplin Verwendung finden, auch bei der Form der Bearbeitung berücksichtigt werden müssen. Dennoch beschäftigt ihn der Eindruck, daß dieser zu Dicht-
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Siehe die aufschlußreichen Überlegungen von Werner Kraft, Lessing in seinen Briefen, in: Lessing heute. Beiträge zur Wirkungsgeschichte. Hg. v. Edward Dvoretzky, Stuttgart 1984. Unübertroffen zu Lessings ,Briefwechsel mit seiner Frau’ ist Hegels Rezension seiner ersten Veröffentlichung im Jahre 1789, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 1. Frühe Schriften. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1971, 611–614.
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kunst und bildenden Künsten gleichermaßen gehörende Vorgang unterschiedlich bewertet wird: „Die Ursach’ scheint dieses zu sein. Bei dem Artisten dünket uns die Ausführung schwerer als die Erfindung. Bei dem Dichter hingegen ist es umgekehrt und seine Ausführung dünket uns gegen die Erfindung das leichtere. [...] denn Ausdruck in Marmor ist unendlich schwerer als Ausdruck in Worten; und wenn wir Erfindung und Darstellung gegeneinander abwägen, so sind wir jederzeit geneigt, dem Meister an der einen so viel wiederum zu erlassen, als wir anderen zu viel zu erhalten haben meinen.“ (B 5/2, 98)
Ausführung bleibt hier beschränkt auf die stoffgerechte Verwirklichung der Erfindung im Material, die im Bereich des Bildhauers nur deshalb schwerer erscheint, weil die Natur des Marmors mit der Verausgabung körperlicher Kraft verbunden ist. Daß auch die Verwendung der Sprache als Material der Poesie für den jungen Lessing noch ganz im Zeichen des rhetorischen Begriffs von Ausführung als elocutio steht, die dem Schriftsteller zwar die Mühe der Suche nach dem jeweils besten Ausdruck abverlangt, ohne daß dieser etwas anderes sein könnte als die bessere sprachliche Form für einen vorgängigen durch Eingebung erhaltenen und seiner Bedeutung nach unveränderlichen Gedanken, zeigt die Metaphorik seiner Überlegungen zur Abfassung von Fabeln: „So lange der Virtuose Anschläge fasset, Ideen sammlet, wählet, ordnet, in Plane vertheilet; so lange genießt er die sich selbst belohnenden Wollüste der Empfängnis. Aber sobald er einen Schritt weiter gehet und Hand anleget, seine Schöpfung auch außer sich darzustellen; sogleich fangen die Schmerzen der Geburt an, welchen er sich selten ohne alle Aufmunterung unterziehet.“ (L 7, 417) Ebenfalls der Konzeption des Mechanischen entspricht Lessings Vorstellung, daß im Verlauf des Arbeitsprozesses das entstehende Werk durch Korrekturen verbessert werden kann, selbst das Genie kann auf „Beispiele und Übung“ (B 6, 658) nicht verzichten, anderenfalls hieße das, „es lediglich auf seinen ersten Versuch einschränken“ (B 6, 658). Die immanente Korrekturfähigkeit eines Werkes unterwirft den Prozeß seiner Entstehung einer rationalen Kontrolle, einem kritischen Bewußtsein, das Gründe für die Verbesserung angeben kann, wie Lessing am Beispiel eines Vergleichs verschiedener Lesarten von Versen aus Klopstocks „Messias“ demonstriert: „Welch lobenswerten Fleiß hat der Dichter auf die Sprache und den Wohlklang verwendet. Auf allen Seiten findet man Beispiele des bestimmteren Silbenmaßes, der reinern Wortfügung und der Wahl des edleren Ausdrucks. In
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SELBSTBEOBACHTUNG ALS AUFKLÄRUNG Ansehung der Wortfügung hat er unter anderem eine Menge Partizipia, wo sie die Perioden zu schwerfällig oder zu dunkel machten, ausgelöset. E. E. wo er den Satan mit grimmigen Blicke den göttlichen Weltbau durchirren läßt, ‚Daß er noch durch so viel Jahrhunderte, seit der Erschaffung in der ersten von Gott ihm gegebenen Herlichkeit glänzte’ heißt nunmehr die letzte Zeile: ‚In der Herrlichkeit glänzte, die ihm der Donnerer anschuf’.“ (L 8, 50)
Zudem führt Lessing Beispiele dafür an, daß Klopstock ebenso die „Kunst auszustreichen“ (L 8, 52) verstehe. Sowohl diese Fähigkeit als auch Klopstocks Arbeit an einer besseren Wortfügung bleiben bei Lessing bezogen auf die „äußere Form“ des Werkes, gehören zu den mechanischen Kunstgriffen einer als rein äußerliches Material verstandenen Sprache. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß Lessing daran mehr interessiert als die Fähigkeit der verbesserten Anwendung bekannter Regeln. Worum es ihm vor allem geht, ist die Frage, ob in der Art der Verbesserung eine Logik erkennbar ist, die die empirische Grundlage für neue Regeln abgeben könnte: „Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter wie Klopstock in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt zu werden, sondern mit allem Fleiße studieret zu werden. Man studieret in ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden, das sind Regeln.“ (L 8, 50) So sicher sich Lessing der neuen auf empirischem Weg ermittelten Einsichten in die Bauweise der Stücke Shakespeares war, die er zudem durch ein zeitgemäßes Verständnis der aristotelischen Poetik legitimiert sah, so deutlich lassen seine Bemerkungen im Hinblick auf die eigene Produktion das Gefühl erkennen, nicht das gemacht zu haben, was er machen wollte. Auch wenn Lessing aus dieser Not des Schriftstellers in der Regel die Tugend des Kritikers macht, der weiß, wovon er spricht, wenn er behauptet, daß das, was in einem Werk nicht oder falsch gemacht worden ist, sehr wohl oder besser zu machen gewesen wäre, gilt es daran festzuhalten, daß in Lessings Werk der demonstrative Rekurs auf das eigene Ich stets mit dem Anspruch einhergeht, als Autor im Bereich der Poetik Argumente vorzubringen, die sich der Beobachtung der eigenen schrifstellerischen Praxis verdanken. Aber wo immer Lessing von sich selbst spricht, signalisiert er nicht selbstgewisse Regelbeherrschung, sondern das unsichere Bewußtsein einer Autorschaft, deren tradierte Gewißheiten sich auflösen. Auf diese Weise lenkt die Arbeit an jedem neuen Werk Lessings Blick zurück auf die grundsätzliche Problematik des Schaffensprozesses und nicht selten ist das Ergebnis ernüchternd. So heißt es in einem Brief vom 25.1.1772 an Christian Friedrich Voss über die Arbeit an der „Emilia Galotti“: „Die ersten Verse meiner neuen Tra-
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gödie werden sie nun wohl in den Händen halten. Ich habe Ihnen neulich eine neue Tragödie versprochen, aber wie gut oder schlecht – davon habe ich nichts gesagt. Je näher ich gegen das Ende komme, je unzufriedener bin ich selbst damit.“ (B11/2, 335) Worin liegen die Gründe für Lessings Unzufriedenheit, die nicht nur die „Emilia Galotti“5 betrifft, sondern als Zweifel an sich selbst und seinem schriftstellerischen Vemögen sein ganzes Werk durchzieht und sich vor allem auf einen Punkt konzentriert, den er 1773 in einem Brief an den Bruder angesichts seiner Pläne, eine Tragödie über den Anführer der neapolitanischen Revolution zu schreiben, beklagt. „Aber wie ich ihn mir denke, weißt du ja nicht, und Gott weiß, ob jemals ein Mensch erfahren wird, wie er jetzt in meiner Idee existiert. Denn leider! ich habe bei mir schon oft die Erfahrung gemacht, daß nach vielem Kreißen oft nur ein kleiner Wechselbalg zur Welt kommt.“ (B 11/2, 550)
R a f f a e l o hn e H ä n d e Lessing selbst bietet dafür ein Erklärung an, die bislang kaum wahrgenommen worden ist, wohl auch deshalb, weil sie nicht diskursiv erörtert, sondern im dramatischen Kontext eines Stückes entfaltet wird. Im vierten Auftritt der „Emilia Galotti“ entzündet sich ein Gespräch zwischen dem Prinzen und dem Maler Conti am Problem der Porträtmalerei, da Conti den Auftrag des Prinzen, die Gräfin Orsina zu malen, ausgeführt hatte. Das Bild läßt den Prinzen so kalt wie die Gräfin selbst, nötigt ihn aber, Conti in ein Gespräch über sein Metier zu verwickeln. Als jener unvermittelt unter den anderen Arbeiten Contis ein Porträt der jungen Emilia Galotti entdeckt, ist er hingerissen von dem Bild, wenngleich weniger von dessen ästhetischer Qualität als von der Erscheinung der darauf abgebildeten jungen Frau, die er zuvor bereits einmal flüchtig gesehen hatte. Während den Prinzen bereits der Gedanke umtreibt, wie er sich ihr
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Zu den kontroversen Interpretationen der dramatischen Konstruktion des Stückes siehe Albert M. Reh, Emilia Galotti – ,großes Exempel der dramatischen Algebra’ oder ,Algebra der Ambivalenz’?, in: Lessing Yearbook XVII, 1985. Diese wiederholt angesprochene Unzufriedenheit Lessings mit sich selbst mag biographisch auch mit der durch eine Reihe von zeitgenössischen Dokumenten belegten Unlust Lessings zusammenhängen, sich auf eine intensive Ausarbeitung seiner Entwürfe einzulassen. So berichtet der Bruder Karl Gotthelf Lessing: Er „mochte lieber alles thun als sitzen und seine eigene Arbeit durchlesen, die ihm gar nicht gefiel. – Bruder, sagte er wohl endlich, die Schriftstellerei ist die ekelhafteste, die abgeschmackteste Beschäftigung. Nimm dir ein Beyspiel an mir.“ Richardt Daunicht, Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen, München 1971, 191, vgl. auch 62.
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nähern könne, bemüht sich Conti um eine Kommentierung seiner künstlerischen Leistung: „Der Prinz: Bei Gott! wie aus dem Spiegel gestohlen! (Noch immer die Augen auf das Bild geheftet.) O, Sie wissen es ja wohl Conti, daß man den Künstler erst recht lobt, wenn man über sein Werk sein Lob vergißt. Conti: Gleichwohl hat mich dieses Bild noch sehr unzufrieden mit mir gelassen.– Und doch bin ich wiederum sehr zufrieden mit meiner Unzufriedenheit mit mir selbst.– Ha, daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren! Aber, wie ich sage, daß ich es weiß, was hier verloren gegangen, und wie es verloren gegangen und warum es verloren gehen müssen: darauf bin ich ebenso stolz, und stolzer, als ich auf alles bin, was ich nicht verloren gehen lassen. Denn aus jenem erkenne ich, mehr als aus diesem, daß ich wirklich ein großer Maler bin; daß es meine Hand aber nicht immer ist. Oder meinen sie Prinz, daß Raffael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicher Weise ohne Hände geboren wäre worden? Meinen Sie Prinz?“. (L 2, 383/384)
Den Prinzen interessieren Contis Ausführungen nicht mehr, und je weniger er zuhört, desto mehr läßt die Dramaturgie der Szene erkennen, daß der Leser oder Zuschauer der eigentliche Adressat des Monologs ist. Doch auch ihm erschließt sich dessen theoretische Komplexität, vor allem das Bild des Raffael ohne Hände, nicht unmittelbar und bereits ein Autor des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, wie vorteilhaft es für das Verständnis gewesen wäre, wenn der Prinz in diesem Augenblick etwas mehr bei der Sache gewesen und sich zu ihr geäußert hätte; „wir hätten dann noch ein kompetentes Urteil, das uns vielleicht eine Menge von unerspriesslichen Diskussionen, die sich später an dieses schwierige Problem geknüpft haben und voraussichtlich noch knüpfen werden, ersparen würde.“6 Der Autor mag dabei die rasante Karriere im Sinn gehabt haben, die Lessings Metapher in einem historischen neuen Metier gemacht hatte. Nichts schien der ersten Generation von professionellen Fotografen in Deutschland einleuchtender als die Semantik dieses Bildes.7 Der Automatismus des Apparates erlaubte es ihrer Meinung nach, die im Kopf des Fotografen vorhandene ideelle Konzeption unvermittelt in die Gestalt eines Werkes zu übersetzen, und zwar ganzlich ungetrübt von den materiell oder medial bedingten Einschränkungen, mit denen sich die Hand bis6 7
Hans Marbach, Das Mysterium der Kunst, Leipzig 1890, 30. Vgl. dazu Gerhard Plumpe, Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990. Vgl.die entsprechenden Belege; 50, 69, 76, 77, 123, 143.
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lang in der ästhetischen Praxis herumzuschlagen hatte. Man benötigt eine Idee, den Rest erledigt die Kamera. Selbst der sonst so unendlich nüchterne Emil du Bois-Reymond zögert nicht, in einer 1890 vor der Akademie der Wissenschaften in Berlin gehaltenen Rede, das technische Verfahren des neuen Mediums als Beleg für die Wahrheit des alten Platonismus geltend zu machen: „Bei künstlerischer Begabung und genügender Technik konnten feingebildete Augen schon immer echte Kunstwerke photographisch fein komponierend schaffen [...]. Das ist ein Beitrag zur Beantwortung von Contis Frage, ob Raffael minder der größte Maler gewesen wäre, wenn er ohne Hände wäre geboren worden.“8 Denn, so die logische Konstruktion, es wäre für ihn ein leichtes, sein Genie im Bereich der Fotografie unter Beweis zu stellen. Während Contis Gedankenspiel einem um seine künstlerische Anerkennung ringenden Berufsstand zu seiner Ikone verhilft, erscheint es den an einer avancierten ästhetischen Produktionstheorie Interessierten immer rätselhafter. In der Tat bleibt das Bild des Raffael ohne Hände zunächst fremd und ist denn auch als „merkwürdigste aller ästhetischen Ansichten“9 bezeichnet worden, die Conti vertritt. Dennoch gibt es eine, wenngleich erst in jüngster Zeit in den Blick geratene markante Geschichte der Rezeption dieses Monologs.10 Alle Kommentare behandeln ihn als Äußerung Lessings, die unter kunsttheoretischen Aspekten, besonders im Hinblick auf die Debatten des 18. Jahrhunderts von Bedeutung erscheint, aber auch unter systematischen Gesichtspunkten innerhalb der Kunstphilosophie als „Problem des Raffael ohne Hände“11 einen bestimmten Aspekt des Kunstschaffens bezeichnet. Lessing hatte das Thema der Hand bereits in den ersten Stücken der „Hamburgischen Dramaturgie“ intensiv beschäftigt, und zwar im Zusammenhang der Frage nach der Lehr- und Lernbarkeit schauspieleri-
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Emil du Bois–Reymond, zitiert nach Plumpe, 50. Ernest L. Stahl, Lessing. Emilia Galotti, in: Das Deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Hg. v. Benno von Wiese, Düsseldorf 1968,103. Zurecht betont Helmut Göbel in seiner Untersuchung, Bild und Sprache bei Lessing, München 1971: „Erst in der Ergänzung der begrifflichen Aussagen durch die Klärung der bildhaften Elemente sind die ästhetischen Probleme bei Lessing zu lösen.“ (24) Leider verzichtet er bei seinen subtilen Studien zu Lessings Bildlichkeit auf das Motiv des Raffael ohne Hände. 10 Siehe Eckhardt Köhn, Was die Hand macht. Notizen zu einer Metapher in Lessings Poetik, in: Critica Poetica. Lesarten zur deutschen Literatur. Hans Geulen zum 60. Geburtstag. Hg. v. Andreas Gößling u. Stefan Nienhaus, Würzburg 1992; Wolfgang von Löhneysen, Raffael unter den Philosophen. Philosophen über Raffael. Denkbild und Sprache der Interpretation. Berlin 1992, darin besonders die Einleitung ‚Raffael ohne Hände’, 9–17; Lea Ritter–Santini. Venus’ Kopf und Raffaels Hände, in: Lea Ritter–Santini, Lessing und die Wespen. Die italienische Reise einer Aufklärung, Frankfurt a.M. 1993. 11 Alwin Diemer, Grundriß der Philosophie II, Meisenheim am Glan 1964, 308.
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scher Darstellung.12 Sein besonderes Interesse gilt den Möglichkeiten der Gebärdensprache, vor allem der „Bewegung, welche die Hand bei moralischen Stellen macht“ (B 6, 202) Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die historische Hinwendung zur „Chiromantie der Alten, das ist [...] der Inbegriff der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Hände vorgeschrieben hatten“ (B 6, 202). Auch wenn Lessing zugesteht, wie gering das Wissen darüber sei, geht er davon aus, daß die Alten den Gebärden der Hand eine große Bedeutung zumaßen, indem sie den sprachlichen Ausdruck verstärken und „durch ihre Bewegungen, als natürliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen“ (B 6, 202) sollte. Um seinen Darlegungen Überzeugungskraft zu verleihen, bemüht er das Urteil einer zeitgenössischen Autorität: „Ich weiß wohl, daß selbst Hogarth den Schauspielern befiehlt, ihre Hand in schönen Schlangenlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten, mit allen möglichen Abänderungen, deren diese Linien, in Ansehung ihres Schwunges, ihrer Größe und Dauer fähig sind. Und endlich befiehlt er es ihnen nur zur Übung, um sich zum Agieren dadurch geschickt zu machen, um den Armen die Biegungen des Reizes geläufig zu machen; nicht aber in der Meinung, daß das Agieren selbst in weiter nichts als in der Beschreibung solcher schöner Linien, immer nach der nämlichen Direktion geschehe.“ (B 6, 203)
Es ist zu spüren, daß sich Lessing in diesen Zeilen nicht nur dem von Hogarth inspirierten Bild der sich in schönen Schlangenlinien bewegenden Hände überläßt, sondern auch einen Sinn für die sich daraus bildenden Formen entwickelt, in denen die Hand nicht mehr als instrumentelles Organ agiert, sondern ihren eigenen Ausdruck findet. Lessings Beschreibung wirkt wie eine Vorwegnahme des Ratschlags, den der alte Ingres dem jungen Degas erteilen wird. Aber während dieser darauf zielt, sich in den zu zeichnenden Linien zu verlieren, die Hand so zu schulen, daß das ihr eigene Potential sich entbinden kann, ruft Lessing sich und den Leser zur Ordnung: Hogarth habe nichts anderes gemeint als Übungen der Hand zu höheren Zwecken und keineswegs, daß „das Agieren selbst“ von Bedeutung sei. Kehrt man zu Raffaels Händen zurück, so haben sich daran in der Tat jene Diskussionen entzündet, die der zitierte Autor 1890 vorausgesagt 12 Zu Lessings Bemühungen um eine systematische Fundierung der schauspielerischer Praxis, die ihn zum Rekurs auf den rhetorischen Kanon und die überlieferte Gebärdensprache führt vgl. Wolfgang Bender, Lessing, Dubos und die rhetorische Tradition, in: Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Hg. v. Wilfried Barner u. Albert M. Reh, München 1984.
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und befürchtet hatte. Zwei Typen der Rezeption lassen sich zunächst unterscheiden. Aus der Sicht von Kunsttheoretikern und Künstlern erscheint Contis These von der Möglichkeit eines Raffael ohne Hände als Zumutung, die entsprechend heftig zurückgewiesen wird, am heftigsten von Max Liebermann in seiner Studie „Die Phantasie und die Malerei“ von 1916: „Hand und Herz gehören nun mal in der Malerie zusammen und die Vorstellung eines Raffael ohne Hände ist nicht nur wider die Natur sondern wider die Kunst.“13 Die zweite Lesart bezieht sich auf die philosophischen Voraussetzungen, die in Contis Äußerungen wirksam werden. Es ist nicht ohne Interesse zu sehen, daß fast zur gleichen Zeit drei bedeutende Arbeiten zur Vorgeschichte der Ästhetik auf die Aussagen von Lessings Figur zurückgreifen. In seiner Abhandlung „Plotins Begriff der ästhetischen Form“ von 1915 versucht Oskar Walzel die Stelle durch ihren Bezug zur philosophischen Tradition zu erläutern: „Die Frage von Lessings Maler Conti, ob Raffael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände geboren worden wäre, ist in Plotins Sinne gestellt. Wer die Frage bejaht, entscheidet in Plotins Sinne.“14 Zwischen „Plotin und Conti ist eine Übereinstimmung festzusetzen“, indem sie „die eigentliche künstlerische Leistung in die Vorbereitung des technischen Formens, die sich im Geist des Künstlers vollziehen, und nicht in dem technischen Formen selbst (erblicken). Die Versinnlichung für andere, die Arbeit, durch die der Künstler seinen innerlichen Besitz veräußerlicht, schätzen (sie) nicht hoch ein, wenn sie den Wert inneren Besitztums erwägen.“15 Umgekehrt greift Panofsky in „Idea“ von 1924 auf Lessings Beispiel zurück, um Plotins Denkfigur einer jenseits der stofflichen Welt angesiedelten reinen Idealität zu verdeutlichen: „So sind also [...] die Gedanken eines Raffael ohne Hände im letzten Grunde wertvoller als die Gemälde des wirklichen Raffael“16. Alfred Baeumler schließlich kommt auf das Beispiel in seinem Buch „Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts“ von 1923 im Zusammenhang der Darstellung der Frühgeschichte des Geniebegriffs zurück: „Das philosophische Genie ist also eine allgemeine, von der besonderen Kunstfertigkeit unabhängige Fähigkeit. Lessing prägte gleichzeitig das Wort vom Raffael ohne Hände.“17 Und wie Walzel geht er kurze Zeit später davon aus, „daß in der Malerszene zu Beginn der Emilia Galotti die alte neuplatonische Kunstaufas-
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Max Liebermann, Die Phantasie in der Malerei, Berlin 1916, 45. Oskar Walzel, Plotins Begriff der ästhetischen Form, 3. A.a.o., 39. Erwin Panofsky, Idea, 15. Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, 16.
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sung“18 durchschimmert. Mit Blick auf die Geschichte der Fotografie erklärt Franz Roh im Vorwort seiner 1929 zusammen mit Jan Tschichold herausgegeben und mittlerweile berühmten Foto-Didaktik „foto-auge“: „,Raffaele ohne Hände’ können jetzt auch produktiv werden“19, ganz so, als sei Contis Problem mit der technischen Entwicklung immer leichter zu bedienender Kameras wirklich geklärt. Ernst Bloch schließlich betont 1930 die Problematik von Lessings Bild, indem er den Werkprozeß in Beziehung zur Entwicklung der menschlichen Lebensphasen setzt: „Der Trank (aus keiner Hexenküche) ist noch unbekannt, der Jugend ganz übers Alter, den Anfang ganz übers Werk rettete, sichtbar machte. Raffael ohne Hände wäre kein großer Maler geworden, vielleicht ein noch treueres Gedächtnis unserer selbst.“20 Angesichts des theoretischen Sachgehaltes von Contis Monolog kann diese Beschränkung auf eine problemgeschichtliche Erörterung ein gewisses Recht für sich geltend machen, die allerdings die Komplexität der Äußerung nicht vollständig erfaßt. Sie erschließt sich nur aus dem szenischen Kontext und der Form des Monologs selbst, der Anspruch darauf hat, zunächst als Aussage einer Figur im dramatischen Zusammenhang des Werkes betrachtet zu werden. Vorbereitet wird Contis Monolog durch die Bewunderung des Prinzen für die künstlerische Qualität des Porträts. Aber während sie sich für ihn daraus ergibt, daß die Darstellung ihn den Reiz der unbekannten Frau so stark empfinden läßt, daß er spontan von dem Wunsch besessen ist, sie kennenzulernen, wird sein Lob für Conti zum Einsatzpunkt einer Reflexion über das klassische Problem der Nachahmung. Er merkt, daß es keinen stärkeren Beweis für das Gelingen der Nachahmung geben kann, als den, den ihm der Prinz entgegenbringt, indem ihn das Bild so in den Bann schlägt, wie es auch die leibhaftige Gegenwart der darauf abgebildeten Frau kaum anders vermöchte. Aber was dem Prinzen als höchste Form des Lobs erscheint, das einem Künstler entgegengebracht werden kann, relativiert Conti, indem er darauf verweist, daß ihn das Bild noch unzufrieden mit sich selbst gelassen habe, da er wohl wisse, wieviel „auf dem langen Wege, aus den Augen durch den Arm in den Pinsel“ verloren gehe. Dieses Wissen über die Abweichung von der ideellen Gestalt im Vorgang ihrer Darstellung erst begründe sein künstlerisches Selbstbewußtsein. Conti hatte diesen Gedanken schon zu Beginn der Szene geäu18 Alfred Baeumler, Ästhetik, 87; siehe auch S. 51. 19 Franz Roh, Mechanismus und Ausdruck. Wesen und Wert der Fotografie. In: foto–auge. 76 Fotos der Zeit. Zusammengestellt von Franz Roh und Jan Tschichold, Stuttgart 1929 (Nachdruck 1973), 3. Zum Bildmotiv der Hand in der Fotografie der zwanziger Jahre vgl. Rosalind Krauss, Wenn Worte fehlen. In: Rosalind Krauss, Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, 199–209. 20 Ernst Bloch, Spuren. Neue, erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1960, 120.
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ßert, allerdings war es da um das Porträt der Gräfin Orsina gegangen, deren Schönheit auf dem Bild der Prinz gelobt hatte, wenngleich als künstlerisches Verdienst Contis, das dem wahren Ausssehen der Gräfin schmeichle. Contis Antwort berücksichtigt diese Kritik, versucht sie aber dadurch zu entkräften, daß er das grundsätzliche Problem der künstlerischen Ausführung zur Sprache bringt: „Conti. Das Original scheint nicht der Meinung zu sein. Auch ist es in der Tat nicht mehr geschmeichelt, als die Kunst schmeicheln muß. Die Kunst muß malen wie die plastische Natur,– wenn es eine gibt – das Bild dachte: ohne den Abfall, welchen der widerstrebende Stoff unvermeidlich macht; ohne den Verderb, mit welchem die Zeit dagegen ankämpft.“ (L 2, 381) Das Ideal wäre die vollständige Spiegelung des Bildes, die reine Erscheinung dessen, was die Natur selbst denkt. In der Praxis hingegen ist der Künstler angesichts des „widerstrebenden Stoffes“, in den es eingehen muß, immer mit einem Veränderungsprozeß der in seinem Inneren vorhandenen Gestalt konfrontiert. Die Bemerkung des Prinzen: „Der denkende Künstler ist noch eins so viel wert“ (L 2, 382) dokumentiert nicht nur sein Verständnis dieses Zusammenhangs, sondern liefert zugleich einen Hinweis darauf, daß sich Lessing hier auf die von Leonardo begründete Tradition künstlerischen Selbstverständnisses bezieht, ein guter Künstler zeichne sich dadurch aus, daß sein Urteilsvermögen sein Werk stets überschreite. Vorbereitet wird in dem Gespräch über das Porträt der Gräfin Orsina aber auch das zweite Motiv: Die Priorität der im Inneren des Künstlers vorhandenen Idee des Werkes, für die Lessing die berühmte Formulierung des Raffael ohne Hände findet. Niemand wird die neuplatonische Struktur der von Conti vorgetragenen Gedankenfigur in Abrede stellen: Aber ist Lessings Bild wirklich nur ihre Illustration und damit kaum mehr als die Veranschaulichung einer philosophischen Überzeugung, Raffael wäre der prominente Name für die dem Genie eigene Präexistenz der Werkideen, die Hände nicht mehr als eine Chiffre für die Äußerlichkeit der Ausführung, deren es unter ontologischen Gesichtspunkten gar nicht bedarf. Wenn Lessings Bild wirklich als Bild verstanden werden soll, muß es mehr bedeuten als das, und da der Monolog, den es abschließt, dem Formgesetz dramatischer Gestaltung unterliegt, wirft er zunächst und vor allem die Frage nach dem Kontext der Figurenrede auf: Entspricht das, was Conti sagt, wirklich dem, was er denkt? Möglich wäre, daß der Maler, der spürt, daß der Prinz, angesichts der durch das Bild entfachten Leidenschaft für Emilia Galotti, seinen Ausführungen längst nicht mehr folgt, durch eine absurde Zuspitzung der These vom denkenden Künstler, der selbst ohne das Vermögen nichts an Genialität einbüße, lediglich provozieren will, um ihn zur Wiederaufnahme des Kunstgesprächs zu bewegen, oder wenigstens den Grad der
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noch vorhandenen Aufmerksamkeit prüfen will. Aber dies setzt voraus, daß sowohl für Conti als auch für den Prinzen die Unhaltbarkeit dieser These unmittelbar evident wäre, was zudem vor dem Hintergrund der Wirkungsmächtigkeit des platonischen Erbes in der Genieästhetik ohnehin nicht vermutet werden kann. Wenn es Conti also durchaus ernst ist mit der These von der Möglichkeit eines Raffael ohne Hände, liegt die Frage nahe, wie Lessing sich als Autor zum Denken seiner Figur verhält. Die bisherigen Bemühungen, das Bild nicht nur als Illustration eines kunsttheoretischen Sachverhalts anzusehen, sondern es in einen Zusammenhang mit Lessings Denken zu rücken, haben darin seine Absicht gesehen, eine theoretische Position zu konturieren und einer Figur zuzuschreiben, um sich als Autor davon entschieden abgrenzen zu können. Wolfgang von Löhneysen konstatiert in seiner materialreichen Untersuchung „Raffael und die Philosophen“: „Lessing ironisiert diesen Standpunkt, weil er – ein Aristoteliker und ein Dichter- von der Erfahrung ausgeht.“21 Im gleichen Sinne hatte René Wellek bereits festgestellt: „Lessings ganze Theorie [sei] dieser Ansicht entgegengestellt“22. Der szenische Kontext, vor allem aber die Form des Monologs selbst, lassen allerdings erhebliche Zweifel an dieser Deutung aufkommen. Während in der metaphysischen Tradition die Gewißheit, im Besitz der Idee zu sein, einen gelassenen Blick auf die Schwierigkeiten in der Praxis ermöglichte und als jene Beruhigung verstanden werden konnte, die allein wahre Theorie zu gewähren vermag, zeigt Lessings Rekurs Züge einer starken Dramatisierung. Sie betrifft nicht nur den Aspekt, daß Lessing die Thesen innerhalb des Handlungszusammenhangs in der Exposition, also an zentraler Stelle, einführt, sondern noch mehr die Struktur der Rede selbst. Conti führt zunächst die Schwierigkeit an, nicht mit den Augen malen zu können, also der Vorstellung zu folgen, die sich im Sinne des Nachahmungsgebotes aus der Unmittelbarkeit der Naturanschauung ergibt, und stellt dem die Zufriedenheit des Künstlers entgegen, der diesen Mangel durch das Bewußtsein der im Prozeß der Realisierung sich ergebenden unvermeidlichen Verluste zu kompensieren weiß. Das Bild vom Raffael ohne Hände schließlich radikalisiert die metaphysischen Voraussetzungen der Aussage, die zwar im Rahmen der platonischen Denkfiguren möglich, in ihrer ästhetischen Figuration aber gänzlich neu ist. Warum geht Conti von dem Extremfall eines Genies ohne Hände aus, genauer gefragt, warum greift Lessing in diesem Kontext auf das Motiv der Hände zurück, was veranlaßt ihn zu der Vorstellung einer ausgerechnet durch „Handlosigkeit“ in keiner Weise beeinträchtigten 21 Wolfgang von Löhneysen, Raffael unter den Philosophen, 11. 22 René Wellek, Geschichte der Literaturkritik 1750–1830, Darmstadt/Berlin– Spandau/Neuwied am Rhein 1959, 170.
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ERFAHRUNG DES MACHENS
Genialität, während im Verständnis der bildenden Künstler seit der Renaissance deren Ausweis nur das Werk der Hände sein konnte. Wenn überhaupt von einer Dramatisierung im Zusammenhang mit Contis Rede gesprochen werden kann, so erschließt sie sich nirgends intensiver als in der Bemühung, sich auf diesen semantischen Aspekt des Bildes einzulassen. Sobald die zunächst alles überlagernde philosophische Zuordnung in den Hintergrund tritt, erscheint der Bedeutungshorizont des Bildes vor allem durch das Motiv der Hand bestimmt, und zwar gerade dadurch, daß ihr Fehlen die Präsenz eines Körpers im Zeichen einer starken Behinderung evoziert. Die Widerstände, sich auf diese hintergründige Dimension des Bildes einzulassen, mögen mit der von Freud beschriebenen Abwehr gegenüber der Darstellung eines körperlichen Leidens auf der Bühne zusammenhängen: Der Zuschauer, „der weiß, wie bald das dabei veränderte Körpergefühl allem seelischen Genießen ein Ende macht“23, will Darstellung von Leiden im Interesse des eigenen Rezeptionsgenusses, so Freud, auf das der Seele beschränkt sehen. Überläßt man sich der pathologischen Assoziation, evoziert sie einen Affekt, der sich weniger als Bewunderung für die in Raffaels Kopf vorhandenen Ideen, sondern vielmehr als Mitleid für eine Gestalt äußert, deren Tragik darin besteht, durch die Natur für immer daran gehindert zu sein, nicht das realisieren zu können, was sie möchte, ein Gefühl, das noch in dem Maße gesteigert würde, wie sich auf dem Wege des Denkens zumindest eine Vorstellung davon gewinnen ließe, was dies für Menschen bedeuten würde, die selbst von der Größe ihrer niemals zu verwirklichenden Projekte überzeugt sind. Bei genauerem Hinsehen vermittelt das Bild also eher den Ausdruck eines Leidens als die Idealisierung eines möglichen in der Sphäre reiner Geistigkeit sich verwirklichenden Typus von Genialität. Erinnert man sich der Intensität, mit der seit der Renaissance in den bildenden Künsten die eigenständige Rolle der Hand im künstlerischen Herstellungsprozeß beschworen worden war, so läßt der negative Bezug in Lessings Bild erkennen, daß es ihm in Wahrheit weniger um eine nochmalige Präsentation neuplatonischer Grundüberzeugungen geht. Das eigentliche Problem liegt, wie der dramatische Kontext der Äußerung deutlich macht, auch für Lessing in der Schwierigkeit, zu einem Urteil über die Bedeutung der Ausführung als Phase innerhalb des Herstellungsprozesses und ihr Spannungsverhältnis zu der vorausgesetzten Idee zu kommen. Das Wissen um das, was auf dem Weg von der Idee zum Werk verloren geht, hatte Conti als Ausweis seiner Größe als Maler vorgestellt, der seine Hand jedoch nicht immer entspreche. Damit formuliert 23 Sigmund Freud, Psychopathische Personen auf der Bühne, in: Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. X, Bildende Kunst und Literatur, Frankfurt a.M. 1969, 164.
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Conti die Erfahrung einer Abweichung, aber während sie im Neuplatonismus als ontologische Gegebenheit, als Grundlage jeder künstlerischen Arbeit gesehen und bereitwillig hingenommen wird, zeigt Lessings Bild, daß er die Dynamik und Eigenständigkeit der Ausführung wahrnimmt, ihn diese Tatsache aber zutiefst beunruhigt. Ihm dämmert die Einsicht, daß jeder Prozeß der Ausführung eine strukturelle Eigendynamik entwickelt, die schließlich zu einer Werkgestalt führt, von der der Künstler das wenigste vorausgesehen hat. Lessing kommen offensichtlich Zweifel, ob angesichts der erfahrbaren Diskrepanz von Idee und Werk die alte metaphysische Konstruktion, die ein Bild des zu schaffenden Objekts in der Seele des Künstlers voraussetzt, wirklich etwas zur Erklärung dessen beiträgt, was seine Selbstbeoachtung beim Prozeß des Machens ihm vermittelt hat. Aber warum wird diese Erfahrung nicht offen angesprochen, sondern der Gedanke daran im rigorosen Akt einer Selbstüberbietung des Platonimus geradezu ausgelöscht, indem die reine Evidenz der Idee genügen soll, um Raffael auch ohne Hände als größtes Genie der Malerei Anerkennung zu garantieren. Oder um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, kann der theoretische Gehalt von Contis Monolog überhaupt Lessings Denken zugeschrieben werden. Es sind, wie Werner Kraft betont hat, „mit Recht berühmte Worte, und in welch einer Sprache sind sie gesagt; Lessing ist es, der sie sagt und denkt.“24 In der Tat spricht einiges für Krafts These, in Contis Worten würden Lessings Probleme als Dichter verhandelt. Daß Conti über sein Schaffen als Maler spricht, steht nicht im Gegensatz zu dieser Vermutung, sondern entspricht den poetologischen Gepflogenheiten der Epoche. Daß von Raffael als Maler auch umgekehrt auf das Metier der Dichtkunst geschlossen werden kann, demonstriert Lessing selbst in seinen „Literaturbriefen“, und zwar dort, wo er die beschreibende Tendenz vieler Dichter kritisiert und die Frage aufwirft: „Wo sind unsere poetischen Raffaels, unsere Maler der Seele?“ (L 8, 281). Wenn Lessing ein Problem als Dichter ebenso beschäftigt wie bedrängt hat, so war es das Bewußtsein, die Formen des neuen Dramas nicht nur klar vor Augen zu haben, sondern angesichts seines intensiven Studiums der Werke Shakespeares auch die entsprechenden Herstellungsregeln formulieren zu können. Und wer, wenn nicht er selbst, sollte in der Lage sein, sie exemplarisch anzuwenden und damit die ersehnten Musterstücke für die deutsche Bühne zu schaffen. Es gibt jedoch eine Reihe von Hinweisen, in denen Lessing immer wieder die Unzufriedenheit mit seinen Werken betont, offensichtlich entsprachen sie, wie bereits 24 Werner Kraft, Emilia Galotti, in: Werner Kraft, Rebellen des Geistes, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968, 40.
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am Beispiel seines Briefes über die „Emilia Galotti“ deutlich wurde, nicht dem, was er machen wollte. Aber gerade als Empiriker und unbestechlicher Aufklärer gewohnt, „einer Materie durch kaltes Nachdenken derselben mächtig zu werden“ (L 13, 149), war Lessing nicht entgangen, in welchem Maße während der Arbeit des Schreibens die Ausführung ihr eigenes Recht behauptet und als Kraft wirksam wird, die sowohl die Anwendung der tradierten Regeln als auch die der neu gefundenen Verfahrensweisen transzendiert und auf diese Weise den Werkprozeß in eine unerwartete Richtung zu lenken vermag. Die Erfahrung, das Neue nicht machen zu können, obwohl er davon überzeugt war, eine genaue Vorstellung davon zu besitzen, scheint für Lessing der biogaphische Hintergrund für seine Dramatisierung des neuplatonischen Konzeptes gewesen zu sein. Es ist bei ihm zu einer emblematischen Figur der Rettung des eigenen Künstlertums geworden, indem er mit der Figur des Raffael ohne Hände dem Publikum ein Bild anbietet, durch das seine Situation als Dichter erkennbar wird, der für die Größe seiner Ideen, die in den als unzureichend gestaltet empfundenen Werken nicht deutlich werden, Anerkennung verdient.25 Aber der emphatisch betonte Verzicht auf die Hand läßt deren Bedeutung und damit die der Ausführung nur um so stärker hervortreten. Je offenkundiger Lessing die irritierende Erfahrung ihrer Eigenlogik durch den Rückgriff auf eine vertraute Figur der Metaphysik verschwinden lassen möchte, desto prägnanter treibt die Konfiguration der Bildelemente ihre Eigenart hervor. Noch an der extremen Weise der Abwertung läßt sich erkennen, welche Bedeutung die Ausführung für Lessing gewonnen hat. Das Pathos, mit dem Lessing die Idee des Werkes gegenüber der durch die Hand geformte Werkgestalt am Ende des Herstellungsprozesses retten will, ist, wie die Semantik des Bildes verdeutlicht hat, neben einem trotzigen Heroismus ebenso von Zügen der Verzweiflung geprägt. Die Erfahrung, mit dem Prozeß der Ausführung nicht zurechtzukommen, und die Einsicht, zudem keine geeignete Sprache für eine genaue Darstellung des Problems zu besitzen, finden an anderen Stellen seines Werkes ihren traurigen Ausdruck in den öffentlich bekannten Selbstzweifeln, wohl letztlich gar kein Dichter zu sein, da er die „lebendige Quelle [...], 25 Im Zusammenhang der Planungen seines „Faust“–Projekts hatte Lessing, wie sich ein Freund erinnert, einen ähnlichen Gedanken exponiert. So sollte in einer Szene, in der Satan sechs dienstbare Unterteufel nach ihrem Tagewerk befragt, der sechste zur Antwort geben, nachdem die fünf anderen zuvor die von ihnen ausgeführten Untaten berichtet hatten: „Was hast Du 6ter gethan? 6.: Nichts! Satan: gar nichts! 6.: nur gedacht! Was? 6.: ein Gedanke, der mehr ist, als aller anderen Werk.“ Satan zögert nicht dem Gedanken Größe zuzubilligen, als er erfährt, worin er besteht: Natürlich darin, Faust zu verführen und ihn „von Gott abwendig zu machen“. Richard Daunicht, Lessing im Gespräch, 387.
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die durch eigene Kraft hervorarbeitet“ (B 6, 680), nicht in sich fühle und all jenen eine andere Demonstration der Leistungsfähigkeit der Hand anzudrohen, die ihn als Genie zu rühmen gedachten. „Lessing pflegte damals zu sagen: ,Wer mich ein Genie nennt, dem geb ich ein Paar Ohrfeigen, daß er denken soll, es sind vier.“26 Ausführung vollzieht sich als substantielle Veränderung dessen, womit begonnen wurde, – diese Beobachtung macht Lessing, aber seine Verhaftung am platonischen Modell läßt ihn Veränderung nur als Abweichung einer als ursprünglichen begriffenen Idee verstehen und verwerfen. Die mit dieser Wahrnehmung gegebene Möglichkeit, das Werk im Prozeß der Arbeit zu finden, erschließt sich ihm umso weniger, je mehr er aus biographischen, sein Selbstbild als Schriftsteller betreffende Gründen dazu neigt, mittels einer Theatralisierung27 des alten metaphysischen Konzeptes seine eigene Rolle als Autor zu stilisieren, der glaubt, keine der Größe seiner Ideen entsprechenden Werke geschaffen haben zu können. Es spricht für die Bescheidenheit des Aufklärers Lessing, dies nicht offen ausgesprochen zu haben, sondern sich öffentlich mit der Rolle des Kritikers zu begnügen, der lediglich einige Experimente angestellt habe, um zu sehen, was sich machen läßt, aber doch auch weiß, daß der Künstler nur das ist, was er macht, „was aber nur im Inneren bleibt“, wie Hegel sagen wird „das ist er nicht.“28 Contis Monolog zeigt jedoch gleichermaßen Lessings dramaturgisches Geschick, dem Publikum und der Nachwelt an exponierter Stelle ein Bild anzubieten, in dem erkennbar werden soll, was er für sein entscheidendes Problem als Künstler und wahres Schicksal als Schriftsteller hielt.
26 Richard Daunicht, Lessing im Gespräch, 386. 27 Zu den Konseqenzen dieser Tendenz der Theatralisierung in seinem kritischen Werk siehe Gert Mattenklott, Lessing, Heine, Nietzsche. Die Ablösung des Streits vom Umstrittenen, in: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg.v. Wolfram Mauser u. Günter Saße, Tübingen 1993. 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, 376.
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V. ELEMENTE
„LEBENDIGEN THEORIE“ SCHAFFENS – GOETHE
EINER
DES
„Es kommt auf das Machen an.“ Goethe hat Lessings „Emilia Galotti“ kritisch gewürdigt (Br I, 133), dem Bild des Raffael ohne Hände jedoch, wie es scheint, keine besondere Beachtung geschenkt, obwohl ihn dessen Probleme seit seinen schriftstellerischen Anfängen nicht weniger beschäftigt haben als den bewunderten Aufklärer. Bereits eine der frühesten Äußerungen des jungen Goethe zu Fragen des literarischen Schaffens zeigt, daß er zumindest im Hinblick auf die Bedeutung des Mechanischen, das ihm im Bereich des Theaters in Gestalt der tradierten Gattungsregeln gegenübertrat, nichts mehr anzufangen wußte: „Es ist endlich die Zeit, daß man aufgehöret hat, über die Form dichterischer Stücke zu reden, über ihre Länge und Kürze, ihre Einheiten, ihren Anfang, ihr Mittel und Ende, wie das Zeug alle hieß.“ (HA 12, 22) Nun hat bekanntlich auch Goethe, zunächst mit dem Pathos des Sturm und Drang, dann mit der Abgeklärtheit des erfahrenen Künstlers, den Begiff des Genies für die besondere Leistungsfähigkeit der ästhetischen Hervorbringung in Anspruch genommen. Aber Goethe war zu sehr Empiriker, um sich, zumal vor dem Hintergrund des früh entschlossen betriebenen Projekts der Selbstbildung, nicht der Frage zu stellen, ob sich nicht doch jenseits der unergründlichen Sphäre der Genialität mehr und anderes über den ästhetischen Produktionsprozeß in Erfahrung bringen ließe, als das, was die Aufklärungspoetiken in Gestalt ihrer Regelwerke für Wissen gehalten hatten. In seinen bekannten kunsttheoretischen Texten bewegt sich Goethe im Hinblick auf Begriffe und systematische Konzeptionen im Kontext des herrschenden philosophischen Diskurses. Seine Beiträge zum Begriff der Nachahmung des Schönen, der Metamorphose, des Organismus, des Symbols, der Kunstwahrheit und der Naturformen der Poesie dokumentieren seine Teilnahme an den die literarische Öffentlichkeit der Epoche beschäftigenden Fragen und sind
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ERFAHRUNG DES MACHENS
in der Forschung unter dem Titel „Goethes Kunstanschauung“1 systematisch rekonstruiert und hinreichend dargelegt worden. Weniger Berücksichtigung hat demgegenüber der Sachverhalt gefunden, daß in einer Reihe von Texten Goethes ein anderer Reflexionstyp hervortritt, der sich auf die eigenen Erfahrungen beim Prozeß der künstlerischen Arbeit bezieht. Goethes theoretische Neugierde zielt auf eine Sphäre des Schreibens, die für ihn weder durch die Begrifflichkeit der Genieästhetik noch durch die Regeln der Gattungspoetik zureichend erfaßt wird, so daß seine Äußerungen zu diesem Komplex der Mitteilung von Selbstbeobachtungen, der Sicherung von Phänomenen durch ihre Beschreibung gelten. Ihre Orte sind weniger die an exponierter Stelle veröffentlichten Abhandlungen als vielmehr die Dokumente des persönlichen Verkehrs, zumeist also Briefe, deren offene, aber zunächst der Öffentlichkeit entzogene Form anderes zu sagen und es anders zu sagen erlaubte, als die strengen Kriterien der philosophischen Ästhetik gemeinhin zuließen. Goethe war an einer systematischen Darstellung dieser Einsichten nicht besonders interessiert. Es gab auch für ihn genügend Gründe, die ihm wie keinem anderen zugebilligte Genialität theoretisch nicht in Zweifel zu ziehen, aber er war immer geistesgegenwärtig genug, die rigorosen Ansprüche der idealistischen Ästhetik dort abzuweisen, wo die Anerkennung ihrer Spekulationen einer Entmündigung der Künstler gleichkam und ihre Konstruktionen das betrafen, worüber seiner Ansicht nach nur diese selbst oder ein Naturforscher authentische Auskunft geben konnten, nicht aber die Philosophen: „Diese Klasse versteht vielleicht mehr als jemals ihr Handwerk und treibt es mit Recht, abgeschnitten, streng und unerbittlich fort; warum sollten wir Empiriker und Realisten nicht auch unseren Kreis kennen und unseren Vorteil verstehen.“ (Br 2, 238) In welchem Maße Goethe seit Beginn seiner schriftstellerischen Arbeit an empirischen Zeugnissen dieser Art interessiert war, verrät bereits die frühe Rezension von Sulzers Systematik der schönen Künste aus dem Jahre 1772, in der Goethe jeder spekulativen Theorie der Künste nur insoweit einen Wert zubilligt, wie sie den ausübenden Künstler „vom Mechanischen zum Intellektuellen“ (HA 12, 20) fortschreiten läßt und zu einer „lebendigen Theorie“ (HA 12, 20) verhilft. Angesichts der in diesem Text erstmals behandelten Frage nach dem Nutzen der Theorie für die Praxis des Künstlers kann die Sulzer-Rezension als frühestes Dokument der Dilettantismusproblematik angesehen werden, die, wie Hans Rudolf
1
Grundlegend hierzu: Herbert von Einem, Goethe–Studien, München 1972; Paul Menzer,Goethes Ästhetik, Köln 1957; Matthijs Jolles, Goethes Kunstanschauung, Bern 1957; Ernst Osterkamp, Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethischer Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991.
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ELEMENTE EINER „LEBENDIGEN THEORIE“ DES SCHAFFENS
Vaget2 gezeigt hat, Goethe zeit seines Lebens beharrlich verfolgt hat und die im Zentrum seiner kunsttheoretischen Bemühungen anzusiedeln sind. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die ihm aus der eigenen künstlerischen Praxis vertrauten Schwierigkeiten der Darstellung, und aus dieser Perspektive ergibt sich der Wert einer Theorie für Goethe allein daraus, inwieweit sie aufgrund der gewonnenen Erfahrungen zur Überwindung der Produktionsprobleme beizutragen vermögen. Entsprechend kann eine „wahre Theorie“ für Goethe nicht von „Philosophen und Theoretikern stammen [...] sondern sie muß von ausübenden Meistern als eine Art von Erfahrungsbericht geschrieben werden“,3 den sich der Lernende im Sinne einer Erweiterung seines Wissens aneignen kann: „Gott erhalt uns unsere Sinnen, und bewahr uns vor jeder Theorie der Sinnlichkeit, und gebe einem jedem Anfänger einen rechten Meister! Weil denn die nun nicht überall und immer zu haben sind und es doch auch geschrieben sein soll, so gebe uns Künstler und Liebhaber ein (Bericht) seiner Bemühungen, der Schwierigkeiten, die ihn am meisten aufhalten, der Kräfte, mit denen er überwunden, des Zufalls, der ihm geholfen, des Geistes der in gewissen Augenblicken über ihn gekommen und ihn auf sein Leben erleuchtet, bis er zuletzt, immer zunehmend, sich zum mächtigen Besitz hinaufgeschwungen und als König und Überwinder die benachbarten Künste, ja die gesamte Natur, zum Tribute genötigt.“ (HA 12, 20)
Damit formuliert Goethe bereits 1772 nicht weniger als ein Programm für eine empirische Erforschung des künstlerischen Herstellungsprozesses, das zugleich zentrale theoretische Fragestellungen vorgibt, indem der Widerstand des Materials, die Rolle des Zufalls, die Bedeutung der Inspiration und schließlich der Stellenwert eines bestimmtes Könnens angesprochen werden. Zudem gibt Goethe auch die methodischen Schritte seiner Realisierung vor, indem er die Meister dazu auffordert, über ihre entsprechenden Erfahrungen Berichte anzufertigen, nach denen die Lernenden eines Metiers sich richten können, deren Auswertung darüber hinaus zur Ausbildung einer spezifischen Form eines Herstellungswissens führen soll. Die Bemühungen des jungen Goethe, sich selbst ein solches Wissen im Hinblick auf das Machen anzueignen, dokumentiert nichts besser als seine eigenwillige Interpretation von Herders „Plastik“ aus dem Jahre 1778. Er entwickelt darin den Gedanken, daß bildhauerische Werke nicht primär vom Gesichtssinn, sondern über den Tastsinn aufgenommen wer2 3
Vgl. Hans Rudolf Vaget, Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik, München 1971. Hans Rudolf Vaget, Dilettantismus und Meisterschaft, 25.
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den: „Was Undurchdringlichkeit, Härte, Weichheit, Glätte, Form, Gestalt, Rundheit sei? Davon kann mir so wenig mein Auge durch Licht als meine Seele durch selbständiges Denken einen leibhaften, lebendigen Begriff geben. Der Vogel, das Pferd, der Fisch hat ihn nicht; der Mensch hat ihn, weil er nebst seiner Vernunft auch die umfassende, tastende Hand hat. Und wo er sie nicht hat, wo kein Mittel war, daß er sich von einem Körper durch körperliches Gefühl überzeugte: da muß er schließen und raten und träumen und lügen und weiß eigentlich nichts recht.“4 Herders Vorstellung einer erkenntnistheoretisch verstandenen Taktilität der Hand als wörtlich zu verstehender „Begriff der Sache“5 findet bei Goethe, dem das Manuskript der „Plastik“ früh bekannt war, eine produktionstheoretische auf die eigene Situation als schaffender Künstler bezogene Lesart, von der er Herder in einem Brief von 1772 Mitteilung macht: „Wenn ich nun überall herumspaziert bin, überall nur drein geguckt habe. Nirgend zugegriffen. Dreingreifen, packen ist das Wesen jeder Meisterschaft. Ihr habt das der Bildhauerei vindiziert, und ich finde, dass jeder Künstler, so lange seine Hände nicht plastisch arbeiten, nichts ist.“ (Br 1, 132) Daß Goethe damit zuallererst die Beherrschung der Mittel und das Vermögen der Produktion meint, eben jenes Können, über das er in der Kunst noch nicht zu verfügen glaubt, geht aus einer Fußnote des Briefes hervor, die mit einer nüchternen Selbsteinschätzung nicht hinter dem Berge hält: „Ich kann schreiben, aber keine Federn schnitzen.“ (Br 1, 132) Wollte man Goethes Selbsteinschätzung im Hinblick auf sein Künstlertum Mitte der siebziger Jahre benennen, so ließe sich sagen, daß er sich zu diesem Zeitpunkt als Schriftsteller fühlt, dem das Schreiben leicht fällt, den aber trotz seines frühen Erfolges das Bewußtsein quält, wenig zu können und über sein Metier nichts zu wissen. Schmerzlich ist diese Einsicht vor allem deshalb, weil sie sich mit der Gewißheit verbindet, daß die Poetik seiner Zeit ihm bei seinen Bemühungen um ein praktisch verwendbares Wissen in Fragen der Dichtkunst nicht weiterzuhelfen vermochte. Vor dem Hintergrund dieser subjektiv wie objektiv unbefriedigenden Situation sah sich Goethe, getrieben von seinem Bedürfnis nach Wissen, wie er in der „Konfession des Verfassers“ im Rückblick auf die „Geschichte der Farbenlehre“ hervorhebt, mit Notwendigkeit auf die bildende Kunst verwiesen: 4
5
Johann Gottfried Herder. Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. Hg. u. eingeleitet von Lambert A. Schneider, Köln 1969, 36. Zu der von Herder in dieser Schrift vollzogenen Abkehr von den überlieferten metaphysischen Spekulationen und seiner Hinwendung zu den Fähigkeiten der menschlichen Sinneswahrnehmung vgl. Bernhard Schweitzer, J.G. Herders Plastik und die Entstehung der neueren Kunstwissenschaft, Leipzig 1948. A.a.o., 36.
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ELEMENTE EINER „LEBENDIGEN THEORIE“ DES SCHAFFENS „So hatte ich selbst gegen die Dichtkunst ein eigenes wundersames Verhältnis, das bloß praktisch war, indem ich den Gegenstand, der mich ergriff, ein Muster, das mich aufregte, einen Vorgänger, der mich anzog, solange in meinem inneren Sinn trug und hegte, bis daraus etwas entstanden war, das als mein angesehen werden mochte und das ich, nachdem ich es jahrelang im stillen ausgebildet, endlich auf einmal, gleichsam aus dem Stegreife und gewissermaßen instinktartig, auf das Papier fixierte. Daher die Lebhaftigkeit und Wirksamkeit meiner Produktionen sich ableiten mag. Da mir aber sowohl in Absicht auf die Konzeption eines würdigen Gegenstandes als auch auf die Komposition der einzelnen Teile, sowie was die Technik des rhythmischen und prosaischen Stils betraf, nichts brauchbares entgegenkam, indem ich manches falsche zwar zu verabscheuen, das Rechte aber nicht zu erkennen wußte und deshalb auch wieder auf falsche Wege geriet: so suchte ich mir außerhalb der Dichtkunst eine bestimmte Stelle, auf welcher ich zu irgendeiner Vergleichung gelangen und dasjenige, was mich in der Nähe verwirrte, aus einer gewissen Entfernung übersehen und beurteilen könnte. Diesen Zweck zu erreichen, konnte ich mich nirgend besser hinwenden als zur bildenden Kunst. [...] Je weniger also mir eine natürliche Anlage zur bildenden Kunst geworden war, desto mehr sah ich mich nach Gesetzen und Regeln um; ja ich achtete weit mehr auf das Technische in der Malerei als auf das Technische der Dichtkunst.“ (HA 14, 252, 253)
Der Rückblick verrät die Überzeugung, daß der Umweg über die bildende Kunst seiner dichterischen Praxis zugute gekommen ist, und in der Tat „müssen wir davon ausgehen, daß, [...] die bildenden Künste [...] das eigentlich exemplarische, das wahrhaft produktive Medium seines ästhetischen (wie auch seines historischen) Denkens darstellten“6 . Seinen Verlauf markieren die Briefe des jungen Goethe, die nirgends einen Zweifel an seiner Selbstgewißtheit aufkommen lassen, daß dem langsamen Prozeß der Ausbildung des eigenen künstlerischen Vermögens mehr Kräfte zu widmen seien als dem Geschäft des Kritikers: „Die bildenden Künste haben mich nun fast ganz. Was ich lese und treibe, tu ich nur um ihretwillen und lerne täglich mehr, wieviel mehr wert es in allem ist, am kleinsten die Hand an zu legen und sich bearbeiten, als von der vollkommendsten Meisterschaft eines anderen Rechenschaft zu geben.“ (B 1, 115) Mitte der siebziger Jahre bekundet sich eine das Pathos der prometheischen Schöpferkraft endgültig hinter sich lassende neue Perspektive in Goethes Kunstanschauung, „die sehr eng mit seinem Zeichnen und der 6
Victor Lange. Das Schöne und die Fantasie. Zu Goethes ästhetischer Theorie, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. v. Wilfried Barner, Eberhart Lämmert, Norbert Oellers, Stuttgart 1984, 207.
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Reflexion darüber verbunden ist. Es ist die Akzentverlagerung von der Schöpferkraft auf die Form, vom genialischen auf das meisterliche.“7 Zwar beurteilt Goethe die Ergebnisse seiner zeichnerischen Bemühungen kritisch, aber es sollte dennoch nicht unterschätzt werden, daß er sie als notwendige Phase innerhalb eines Prozesses der Selbstbildung ansieht, deren Gewinn nicht zuletzt darin besteht, daß das vorläufige Scheitern nur die Einsicht vertieft, der Erwerb des erstrebten Könnens verlange eben Geduld: „Es ist alles vergebens, ich bringe nichts vor mich im Zeichnen, ietzo seh ich täglich mehr wie eine anhaltende mechanische Übung endlich uns das Geistige auszudrücken fähig macht, und wo jene nicht ist, bleibt es eine hohle Begierde dieses im Flug schießen zu wollen.“ (B 1, 391) Erinnert man sich daran, welche Schwierigkeiten es für Lessing mit sich gebracht hatte, seine Erfahrungen der schriftstellerischen Praxis darzustellen, so gewinnt Goethe mit seiner Orientierung an den bildenden Künsten und der nüchternen Berufsauffassung ihrer Vertreter, für die Übung, Erlernung von Techniken und handwerkliches Können selbstverständliche Kategorien sind, von vornherein völlig andere Möglichkeiten, über die Fragen der Herstellung zu sprechen. Indem er die Theorie des Schaffens von den Erfahrungen der Praxis her begründen will, also an dem interessiert ist, was sich über die bloße Regelanwendung hinaus in ihr ereignet, eröffnet Goethe die Perspektive auf eine „Ästhetik von unten“, die im 19. Jahrhundert unter diesem Begriff Gestalt annimmt. An seiner Überzeugung, daß das Geistige der Kunst immer mit dem Vermögen es auszudrücken, dem Prozeß seiner materialen Gestaltwerdung vermittelt ist, und nicht jenseits dieser Sphäre als reine „Idee“ gedacht werden kann, läßt sich ablesen, inwieweit der junge Goethe sich bereits von Lessings metaphysischen Nöten in Fragen des Werkprozesses entfernt hatte. Die zweite wichtige Phase in Goethes Prozeß der künstlerischen Selbstbildung stellt die Zeit der Italien-Reise dar. Auch wenn im Text der „Italienischen Reise“ die Tendenz, die widersprüchlichen Erfahrungen des Aufenthaltes nachträglich zum „Lernprozeß eines Strebenden“8 über Gebühr stilisiert werden, ist doch unübersehbar, daß er darin der Sache nach die produktionsästhetischen Fragestellungen der frühen siebziger Jahre wiederaufgreift, die ebenso wie die literarischen Arbeiten insgesamt im ersten Weimarer Jahrzehnt mit seinen beginnenden politischen Aktivitäten weitgehend in den Hintergrund getreten waren. Zu der mit der Reise verbundenen Absicht, „in scheinbar Fremdem [...] das wahrhaft 7 8
Hans Rudolf Vaget, Dilettantismus und Meisterschaft, 40. Stefan Oswald, Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770–1840, Heidelberg 1985, 94.
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ELEMENTE EINER „LEBENDIGEN THEORIE“ DES SCHAFFENS
eigene“9 wiederzufinden, gehört weniger die Vorstellung der Wiedergeburt als Künstler als vielmehr die Überzeugung, daß diese nur in dem Maße gelingen kann, wie das eigene Künstlertum auf dem Fundament eines empirischen Wissens und zuverlässigen Könnens begründet werden kann: „Ich mache diese Reise nicht, um mich selbst zu betrügen, sondern mich an den Gegenständen kennen zu lernen; da sage ich mir dann ganz aufrichtig, daß ich von der Kunst, von dem Handwerk des Malens wenig verstehe. Meine Aufmerksamkeit, meine Betrachtung kann nur auf den praktischen Teil, auf den Gegenstand und die Behandlung desselben im allgemeinen gerichtet sein.“ (HA 11, 45). Im autobiographischen Rückblick wird Goethe noch deutlicher: „Ich fühlte das Bodenlose meiner Kenntnisse und sah immer mehr ein, daß nur von einer Reise nach Italien etwas Befriedigendes zu hoffen sein mochte [...] so empfand ich gar bald, bei dem Zudrang so vieler unendlichen Gegenstände, daß ich nicht gekommen sei, um Lücken auszufüllen und mich zu bereichern, sondern, daß ich von Grund auf anfangen müsse, alles bisher Gewähnte wegzuwerfen und das Wahre in seinen einfachsten Elementen aufzusuchen.“ (HA 14, 25)
Bekanntlich erweist sich für Goethe während der Jahre in Italien das Zeichnen als bevorzugtes Feld künstlerischer Erfahrung, nicht nur im Hinblick auf die Erweiterung der eigenen praktischen Fähigkeiten, sondern vor allem in Bezug auf das von ihm angestrebte Wissen, dessen empirische Basis sowohl Gespräche mit anderen Malern als auch die genaue Beobachtung des Werkprozesses bildet: „Mehrere Gemälde waren in meiner Gegenwart erfunden, komponiert sorgfältig durchstudieret worden. Und über alles dieses konnten mir die Künstler, konnte ich mir und ihnen Rechenschaft, ja sogar manchmal Rat erteilen.“ (HA 14, 254)10 Nur in einem Punkt, so Goethe, sei er im Unklaren geblieben. Niemand habe zureichende Auskunft über die Frage des Kolorits geben können. „Kam es aber an die Färbung, so schien alles dem Zufall überlassen, dem Zufall der durch einen gewissen Geschmack, einen Geschmack der durch Gewohnheit, eine Gewohnheit, die durch ein Vorurteil, ein Vorurteil, das durch Eigenheiten des Künstlers, des Kenners, des Liebhabers bestimmt wurde. Bei den Lebendigen war kein Trost, ebensowenig bei den Abgeschiedenen, keiner 9
Heinz Schlaffer, Goethes Versuch, die Neuzeit zu hintergehen, in: Bausteine zu einem neuen Goethe. Hg. v. Paolo Chiarini, Frankfurt a.M. 1987, 9. 10 Vgl. Petra Maisak, Der Zeichner Goethe oder ‚Die practische Liebhaberei in den Künsten’, in: Goethe und die Kunst. Hg. v. Sabine Schulze, Stuttgart 1994.
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ERFAHRUNG DES MACHENS in den Lehrbüchern, keiner in den Kunstwerken. [...] Was man ausübte, sprach man als technischen Kunstgriff, nicht als Grundsatz aus. Ich hörte zwar von kalten und warmen Farben, von Farben, die einander heben, und was dergleichen mehr war; allein bei der Ausführung konnte ich bemerken, daß man in einem sehr engen Kreise wandelte, ohne doch denselben überschauen oder beherrschen zu können.“ (HA 14, 254/55)
Goethe ist an einer theoretisch zureichenden Begründung der Kolorierung als Phase des Werkprozesses interessiert und die Unklarheit an diesem Punkt bildet den Ausgangspunkt seiner naturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Problem, denn er hatte „zuletzt eingesehen, daß man den Farben, als physischen Erscheinungen, erst von der Seite der Natur beikommen müsse, wenn man in Absicht der Kunst etwas über sie gewinnen wolle.“ (HA 14, 256) Die Dramaturgie der „Geschichte der Farbenlehre“ lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers ganz auf diesen Einsatzpunkt eines wissenschaftlichen „Neubeginns, der fast cartesianische Formeln auf sich zieht“11. Aber dahinter deutet sich eine andere, genuin künstlerische Erfahrung Goethes an, die sich als nicht weniger folgenreich erweisen sollte. Das Beispiel der Farbgebung, die nicht im Vorwege nach „Grundsätzen“ festgelegt werden kann, sondern sich im Akt der Ausübung als „technischer Kunstgriff“ vollzieht, vermittelt Goethe eine exemplarische Vorstellung von der Besonderheit des künstlerischen Ausführungsprozesses. Die Wahl der Farben kann nicht vollständig antizipiert werden, ohne daß die Offenheit der Bildkonzeption in diesem Punkt den Künstler beunruhigen müßte; er kann darauf vertrauen, daß sich ihm zu jenem Zeitpunkt des Arbeitsprozesses, wo die Kolorierung erfolgen soll, durch genaue Betrachtung der vorliegenden Werkgestalt eine angemessene Entscheidung aufdrängt, und zwar nicht durch Zufall, sondern durch eine geschulte Wahrnehmungsfähigkeit, die zum Repertoire seiner technischen Kunstgriffe gehört. So führen seine praktischen Übungen als Zeichner und die von ihnen ausgehenden Überlegungen Goethe zu jener elementaren Erkenntnis, die nicht nur die Summe seiner Kunsterfahrungen in Italien darstellt, sondern gleichsam auch das Motto für Goethes Theorie des künstlerischen Schaffens abgibt und angesichts ihrer antiplatonischen Tendenz ins Zentrum jener Sphäre der Produktion vordringt, die die überlieferte Vorstellung des Gegensatzes von geistigem Bild und äußerer Techne gar nicht erst in den Blick hatte treten lassen: „Wie Du dir leicht denken kannst, hab ich hundert neue Dinge im Kopfe, und es kommt nicht auf das Denken, es kommt auf das Machen an, das ist ein verwünschtes Ding, die Gegenstände hinzusetzen, daß sie nun einmal so und nicht anders dastehen.“ (HA 11, 366) 11 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989, 587.
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Welche Schwierigkeiten damit allerdings auch gemeint sind, wird an anderer Stelle erläutert: „Es ist ganz eigen, daß man deutlich sehen und wissen kann, was gut und besser ist; will man sich’s aber zueignen, so schwindets gleichsam unter den Händen, und wir greifen nicht nach dem, was wir zu fassen gewohnt sind – Nur durch geregelte Übung könnte man vorwärts kommen. Wo aber sollte ich Zeit und Sammlung finden: Indessen fühle ich mich denn doch durch das leidenschaftliche, vierzehntägige Streben um vieles gebessert. Die Künstler belehren mich gerne, denn ich fasse geschwind. Nun aber ist das Gefaßte nicht gleich geleistet; etwas schnell zu begreifen, ist ja ohnehin die Eigenschaft des Geistes, aber etwas recht zu tun, dazu gehört die Übung des ganzes Lebens.“ (HA 11, 173)12
Bekanntlich enden Goethes zeichnerische Bemühungen am Ende der italienischen Reise mit der Einsicht, nicht zum bildenden Künstler geboren zu sein. Dennoch kann die Bedeutung dieser Erfahrungen für Goethes kunsttheoretische Überlegungen kaum überschätzt werden. Der Gewinn der Übungen im Zeichnen liegt für Goethe „in der Bestätigung für das beruhigte Hinsehen [...] Sie zielt nicht auf das ästhetische Produkt: die Disziplin der Anschauung selbst läßt ihr das Allgemeine aufgehen“13. Der geschärfte Blick, den der Zeichner für die Gegenstände seines Interesses ausbildet, wird im Verfahren der Darstellung als kontrollierende Instanz wirksam, die die Verfahrensschritte beurteilt. Selbstbeobachtung entwickelt sich bei Goethe zum integrativen Bestandteil des Schaffensprozesses, der auf diese Weise seinen instrumentellen Charakter abstreift und als Sphäre von Ereignissen gesehen werden kann, die die ursprüngliche Werkidee nicht antizipieren kann und vom Künstler als Herausforderung, auf die er zu reagieren hat, angenommen werden müssen. „Machen“ ist für Goethe der auf das Ganze des Werkprozesses bezogene Begriff, der Wissen, Können, Wahrnehmungs- und Entscheidungskompetenz gleichermaßen umfaßt. Das schließt nicht aus, daß auch Goethe gelegentlich in anderen Zusammenhängen den Neuplatonismus bemüht, wenngleich es eher den Anschein hat, als ob die Formelhaftigkeit seiner Inanspruchnahme ledig12 Zum persönlichen Hintergrund vgl.Goethes Notiz in der „Italienischen Reise“ vom 20.7.1787, in der er zwei seiner „Kapitalfehler“ beklagt: „Einer ist, daß ich nie das Handwerk einer Sache, die ich lernen wollte oder sollte, lernen mochte. (Der andere, nah verwandte Fehler ist, daß ich nie soviel Zeit auf eine Arbeit oder Geschäft wenden mochte, als dazu erfordert wird. Da ich die Glückseligkeit genieße, sehr viel in kurzer Zeit denken und kombinieren zu können, so ist mir die schrittweise Ausführung nojos und unerträglich.“ HA 11, 369. 13 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981, 216.
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lich dem gewohnten Verständnis des Publikums und seines Bildes vom Künstler genüge leisten will, so wenn Goethe gegen Ende seines zweiten römischen Aufenthaltes der Herzogin Louise die Summe seiner Betrachtungen mitteilt: „Ein Kunstwerk hingegen hat die Vollkommenheit außer sich, das ‚Beste in der Idee’ des Künstlers, die er selten oder nie erreicht, die folgenden in gewissen angenommenen Gesetzen, welche zwar aus der Natur der Kunst und des Handwerks hergeleitet, aber doch nicht leicht zu verstehen und zu entziffern sind als die Gesetze der lebendigen Natur.“ (Br 2, 31)14
Was die Materie erlaubt Goethes kunsttheoretischen Reflexionen liegt eine fundamentale Überzeugung zugrunde. Sein gesamtes Werk folgt der Einsicht, daß „im Akt der Bewußtwerdung die Produktionskraft [wächst]. Damit ist für Goethe die Lebensnotwendigkeit von Theorie gegeben“.15 Die Frage, an welcher Art von Theorie Goethe interessiert war, ist damit freilich noch nicht beantwortet, wenngleich bereits seine Bemühungen um ein spezifisches Können im Bereich der Kunst die Ausrichtung auf eine Form des Wissens nahelegen, die sich unmittelbar auf die Erfahrung der Praxis bezieht. In Goethes Aufzeichnungen über seinen Lernprozeß in der Kunst des Zeichnens tritt neben den Einsichten, die ihm die Ausbildung eines praktischen Vermögens über den Werkprozeß gewährt hatte, ein zweiter Schwerpunkt seines Interesses hervor, dessen Stellenwert sich für ihn ebenfalls aus der Beobachtung der eigenen Praxis erschlossen hatte. Er betrifft die Besonderheit des Materials, mit dem das schaffende Subjekt im Werkprozeß konfrontiert ist, und dessen Bedeutung für die Form des Werkes. Angesichts seiner Überlegungen zur Verwendung von istrischem Ebenholz beim venezianischen Schiffsbau notiert Goethe: „Ich kann nicht genug sagen, was meine sauer erworbene Kenntnis natürlicher 14 Für Goethes Verhältnis zum platonischen Denken gilt, was seine gesamte Beschäftigung mit den philosophischen Werken der Tradition bestimmt: Zufällige Lektüre und höchst eigenwillige Auslegung zu eigenen Zwecken prägen seine Interpretation und Aneignung. „Zu einer im engeren Sinne geschichtlichen, zu einer philologisch–kritischen Kenntnis der Platonischen Schriften und der platonischen Lehre war Goethe nicht gerüstet.“ Ernst Cassirer, Goethe und Platon, in: Ernst Cassirer, Goethe und die geschichtliche Welt, Berlin 1932; 106; zur Aufnahme neoplatonischer Motive vgl. Franz Koch, Plotins Schönheitsbegriff und Goethes Kunstschaffen, in: Euphorion, Bd. 26, Jg. 1925. Zu den spezifisch philosophischen Elementen im Denken Goethes, vor allem im Hinblick auf seinen Naturbegriff siehe Alfred Schmidt, Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung, München/Wien 1984. 15 Herbert von Einem, Kunstphilosophie, in: Herbert von Einem, Goethe–Studien, München 1972, 77.
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Dinge, die doch der Mensch zuletzt als Materialien braucht und in seinem Nutzen verwendet, mir überall hilft, um mir das Verfahren der Künstler und Handwerker zu erklären; so ist mir auch die Kenntnis der Gebirge und des daraus genommenen Gesteins ein großer Vorsprung in der Kunst.“ (HA 11, 79)16 In welchem Maße Goethes konkrete Erfahrungen der künstlerischen Praxis dazu beigetragen hatten, sich mit der Bedeutung der Materialien, ihrer jeweiligen Besonderheit und der Auswirkungen ihrer Eigenschaften auf die Arbeit des Künstlers theoretisch auseinanderzusetzen, zeigt seine Absicht, dieses Thema im Rahmen der Beiträge aufzugreifen, in denen er das Publikum über den theoretischen Ertrag seiner Italienreise Bericht zu erstatten gedachte. Er schreibt am 24.7.1788 an Christian Gottlob Heyne: „Wenn ich geneigt wäre etwas auf das Papier zu bringen; so wären es vorerst sehr einfache Sachen. Z.B. inwiefern die Materie, woraus gebildet worden, den klugen Künstler bestimmt, das Werk so und nicht anders zu bilden. So geben die verschiedenen Steinarten gar artige Aufschlüsse über Baukunst, jede Veränderung des Materials und des Mechanismus, gibt dem Kunstwerke eine andere Bestimmung und Beschränkung. Die Alten waren, nach allem, was ich bemerken konnte, auch besonders hierin unaussprechlich klug und ich habe mich oft mit großem Interesse in diese Betrachtungen vertieft. Sie sehen, daß ich sehr irdisch anfange und daß es manchem scheinen dürfte, ich behandelte die geistigste Sache zu irdisch, aber man erlaube mir zu bemerken: daß die Götter der Griechen nicht im siebenten oder zehnten Himmel, sondern auf dem Olymp thronten und nicht von Sonne zu Sonne, sondern allenfalls von Berg zu Berg einen riesenmäßigen Schritt taten.“ (B 2, 98)
Wenn auch den Anstrengungen der Götter, die Distanzen des Raumes zu überwinden, irdische Maßstäbe zugrundegelegt werden können, so Goethes mit ironischem Unterton vorgetragene Behauptung, um wiewiel mehr kann dann gegenüber einem Kunstwerk als einem „Menschenwerke“ (B 2, 97) der Anspruch auf eine zureichende Erklärung seiner Entstehung geltend gemacht werden. Die von Goethe angekündigten Überlegungen liegen in Gestalt seines kurzen Aufsatzes „Zur Theorie der bildenden Künste. Baukunst“ vor, der erstmals 1788 im „Teutschen Merkur“ erschien. Ausgangspunkt seiner Argumentation, die Goethe ausdrücklich, wie der Titel des Artikels anzeigt, als Beitrag zu einer Theorie der bildenden Künste verstanden wissen will, ist die Bedingtheit eines Kunstwerks durch das zu seiner Herstellung verwendete Material: 16 In einer anderen Aufzeichung aus der „Italienischen Reise“ vom 18.11.1786 heißt es: „Wie viel eine genaue Kenntnis des Materials, worin die Künste gearbeitet, zu ihrer Beurteilung hilft, fällt genugsam in die Augen, HA 11, 138.
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ERFAHRUNG DES MACHENS „Kein Kunstwerk ist unbedingt, wenn es auch der größte und geübteste Künstler verfertigt: er mag sich noch so sehr zum Herrn der Materie machen, in welcher er arbeitet, so kann er doch ihre Natur nicht verändern. Er kann also nur in einem gewissen Sinne und unter einer gewissen Bedingung das hervorbringen, was er im Sinne hat, und es wird derjenige Künstler in seiner Art immer der trefflichste sein, desse Erfindungs- und Einbildungskraft sich gleichmittelbar mit der Materie verbindet, in welcher er zu arbeiten hat. Dieses ist einer der großen Vorzüge der alten Kunst; und wie Menschen nur dann klug und glücklich genannt werden können, wenn sie in der Beschränkung ihrer Natur und Umstände mit der möglichsten Freiheit leben; so verdienen auch jene Künstler unsere große Verehrung, welche nicht mehr machen wollten, als die Materie ihnen erlaubte, und eben dadurch so viel machten, daß wir mit einer vermögenden angestrengten und ausgebildeten Geisteskraft ihr Verdienst kaum zu erkennen vermögen.“
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Man kann die Bedeutung dieser Einsichten Goethes für die Begründung einer empirischen Poetik kaum hoch genug veranschlagen. Im Unterschied zur der platonisch geprägten Theorietradition, die die Kenntnis von Materialeigenschaften und deren Berücksichtigung im Sinne einer stoffgerechten Bearbeitung zwar angemahnt, aber als äußerlichen Vorgang verstanden hatte, besteht der „irdische“ Ausgangspunkt von Goethes Konzeption darin, daß der kluge Künstler die Beschaffenheit der Materie nicht nur als bedingendes Element seiner Arbeit zur Kenntnis nimmt, sondern sich als Kraft im Produktionsprozeß zunutze macht, indem er sich von ihr leiten läßt. Die weitreichende Konsequenz dieser Einsicht besteht darin, daß das Werk nicht mehr als Spiegelung der Idee in der Materie angesehen werden kann, sondern dessen Gestalt sich in gleichem Maße der durch den Künstler realisierten Entfaltung eines in der Materie angelegten Formpotentials betrachtet werden kann. Indem Goethes Theorie des Werkprozesses ihren Ausgangspunkt bei der Materie findet und die Arbeit des Künstlers als Vorgang begreift, in dem dieser gleichsam durch die Realisierung dessen, was die Materie von sich aus will, ein Geistiges in die Form des Werkes einbringt, das in der Sphäre der Idee nicht vorhanden war, dokumentieren Goethes Überlegungen, die in diesem Zusammenhang auch nicht mehr im Sinne der aristotelischen Naturteleologie verstanden werden können, eine markante Differenz zum Platonismus der überlieferten Kunsttheorie. Wie bereits erwähnt, hat sich auch Goethe innerhalb dieses Diskurses bewegt, solange er darum bemüht war, seine Position im Rahmen der überlieferten philosophischen Begrifflichkeit zu formulieren, dort aber, wo er seine eigenen 17 Goethes Werke, Sophienausgabe, 47. Bd.,Teilb. 54, Weimar 1887–1919 (Nachdruck 1987), 66.
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Erfahrungen der künstlerischen Praxis zugrundelegt und von ihnen ausgehend die Werke der alten Kunst unter der Perspektive betrachtet, formuliert er Ansätze zu einer neuen empirisch gewonnenen Logik des ästhetischen Schaffensprozesses. Um den Gehalt seiner Einsicht exemplarisch zu verdeutlichen, hat Goethe versucht, ihn an den weithin bekannten Monumenten der ägyptischen Kultur zu veranschaulichen: „Wir wollen gelegentlich Beispiele anführen, wie der Mensch durch das Material zur Kunst geführt und in ihr selbst weitergeleitet worden ist. Es scheint mir wahrscheinlich, daß die Ägypter zu der Aufrichtung so vieler Obelisken durch die Form des Granits selbst gebracht worden sind. Ich habe bei einem sehr genauen Studium der mannichfaltigen Formen, in welchen der Granit sich findet, eine meist allgemeine Übereinstimmung bemerkt: daß die Parallelepideden, in welchen man ihn antrifft, öfters wieder diagonal geteilt sind, wodurch zwei rohe Obelisken entstehen. Wahrscheinlich kommt diese Naturerscheinung in Ober-Ägypten, im Syenitischen Gebirge, colossalisch vor, und wie man, eine merkwürdige Sitte zu bezeichnen, irgend einen ansehnlichen Stein aufrichtete, so hat man dort zu öffentlichen Monumenten die größten vielleicht selbst im dortigen Gebirge seltenen, Granitkeile ausgesucht und hervorgezogen. Es gehörte noch immer genug Arbeit dazu, um ihnen die regelmäßige Form zu geben, die Hieroglyphen mit solcher Sorgfalt hinein zu arbeiten; aber doch nicht soviel, als wenn die ganze Gestalt, ohne einigen Anlaß der Natur, aus der ungeheuren Felsmasse hätte heraus gehauen werden 18
müssen.“
Leider verzichtet Goethe auf die angekündigte Vorstellung weiterer Beispiele – wie sich zeigen wird, sehr zum Nachteil seines Anliegens, in der von ihm verhandelten Sache verstanden zu werden.
D i e V o r te i l e d e r A u sf ü h r u n g Goethes nach der Rückkehr nach Weimar entstandene theoretische Schriften zeigen, daß sich der italienische Umweg über die bildenden Künste gelohnt hatte. Die praktischen Bemühungen im Bereich des Zeichnens hatten ihm nicht nur die Notwendigkeit der Ausbildung eines spezifischen Könnens vor Augen geführt, sondern vor allem die Einsicht eröffnet, daß die Beobachtung der praktischen Vollzüge Erkenntnisse über den Herstellungsprozeß gestattet und damit zu einem Wissen verhilft, das über bloße Regelkenntnis hinaus die Logik des Produktionsprozesses überhaupt betrifft. Derart inspiriert greift er in seinen theoreti18 A.a.o., 66.
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schen Beiträgen der neunziger Jahre erneut grundsätzliche Probleme der zeitgenösischen Ästhetik-Debatte auf, die vor allem Fragen des Begriffs der Schönheit, der Nachahmung, der Wahrheit, des Symbols und der inneren Form betrafen. In den einleitenden Bemerkungen zu seinem 1795 veröffentlichten Aufsatz „Baukunst“ wird der Anspruch auf die Entfaltung von Begriffen formuliert, die einem sicheren Urteilsvermögen über die Erscheinungsformen der Kunst zugrunde gelegt werden können: „In jeder Kunst ist schwerer, als man glaubt, zu bestimmen, was lobens- oder tadelnswert sei; um einigermaßen eine Norm für unsere Urteile über Baukunst zu finden, mache ich folgende Deduktion und bemerke nur vorläufig, daß einiges, was ich sagen werde, allen Künsten gemein ist; um aber nicht in Zweifel zu geraten, spreche ich davon bloß vorzüglich auf die Baukunst.“ (HA 12, 35) Goethes veränderte Perspektive ist deutlich an der Art zu erkennen, wie er das Problem des Materials aufgreift. Während er in seinem frühen Text die Gedanken exponiert hatte, daß der größte Künstler der sei, dessen Erfindungsreichtum „sich gleichsam unmittelbar mit der Materie verbindet“, beschränkt er sich hier auf den Hinweis, daß die Baukunst Kenntnisse des Materials voraussetze, handwerkliche, „daß der Stein bloß vertikal trägt und getragen wird, das Holz hingegen auf eine große Weite horizontal trägt“ (HA 12, 35), oder mechanische, die nötig seien, wenn ein Material wie „Stein durch Gewölbe, durch Klammern, den Balken und die Hangwerke“ (HA 12, 35) bezwungen werden soll. Die eigentliche Intention seiner Erörterungen gilt dem Gedanken, daß in der Baukunst drei Zwecke zu unterscheiden sind: Das auf die Bequemlichkeit des Gebrauchs zielende Nützliche, das auf die Erzeugung von angenehmen Raumempfindungen angelegte SinnlichHarmonische und schließlich der als höchster Zweck ausgewiesene „poetische Teil der Baukunst, in welchem die Fiktion eigentlich wirkt“ (HA 12, 36), der zur Geltung gelangt, indem er die „Eigenschaften eines Materials zum Schein auf das andere [überträgt], wie z. B. bei allen Säulenanordnungen die Holzbaukunst nachgeahmt ist.“ (HA 12, 36) Hinter der Bemühung um eine systematische Erörterung der Baukunst tritt Goethes Ehrgeiz auf dem Feld der Theorie hervor, der sich auch in einer Hinwendung zu vergleichbaren Problemen der Dichtkunst ankündigt. Ein äußerer Anlaß ist daran maßgeblich beteiligt. Welche Motive auch immer für die 1794 beginnende Freundschaft zwischen Schiller und Goethe den Ausschlag gegeben haben mögen, es erscheint von außerordentlicher Bedeutung, daß das Medium ihrer Entwicklung der gleichberechtigte Austausch weniger zwischen Künstlern als vielmehr zwischen Schriftstellern darstellt, die sich nach dem Ende der normativen Poetik über die Besonderheiten der Dichtung als schöner Kunst zu verständigen versuchen. Auch an diesem Punkt sind die Bemühungen, die
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auf diese Weise von beiden Autoren gewonnenen neuen Perspektiven nachzuzeichnen, mit der Schwierigkeit konfrontiert, ihre Aussagen aus den Schichten mehrerer sich überlagernder Diskurse zu rekonstruieren. Daß Goethe um eine Reputation in der Sphäre des repräsentativen theoretischen Diskurses der Klassik bemüht war, den er in der „ästhetischen Koalition“19 mit Schiller als Erziehungsprogramm zu begründen versuchte, erscheint ebenso unzweifelhaft wie sein praktisch orientiertes Interesse an den Besonderheiten des literarischen Werkprozesses. Aussagen darüber aber sind vor allem dort zu finden, wo Erfahrungen, gerade wenn sie die herrschenden Diskurse in Frage stellen, ungeschützt formuliert werden können und das Bewußtsein sich vorsichtig des theoretischen Gehaltes von neuen Erfahrungen versichern kann, für den es noch keinen Begriff besitzt. Für Goethe sind dies vor allem die Briefe. Daß sie im Licht einer veränderten Perspektive für ihn selbst zu maßgeblichen theoretischen Zeugnissen einer neuen Poetik werden können, zeigt seine Entscheidung, den Briefwechsel mit Schiller im Jahre 1828/29 zu veröffentlichen. Bei dem darin verhandelten Problem der Abgrenzung der unterschiedlichen Formen der Dichtung ist bei Goethe von Beginn an die Tendenz erkennbar, die Aufmerksamkeit auf die durch den Prozeß des Machens sich ergebenden Möglichkeiten zu lenken und diese für die Werkgestalt zu nutzen. Als Schiller ihm die Zusendung seiner Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ ankündigt, antwortet Goethe in einer Weise, die aus seinen pragmatisch orientierten Erwartungen keinen Hehl macht: „Auf Ihren Aufsatz verlange ich sehr. Das was ich von Ihren Ideen kenne, hat mir in der letzen Zeit im Praktischen manchen Vorteil gebracht; so wenig man mit Bewußtsein erfindet, so sehr bedarf man des Bewußtseins besonders bei längeren Arbeiten.“ (Br 2, 206) In einem Brief an den Hofrat Meyer, dessen Freundschaft er zu „den glücklichsten Ereignissen“ (Br 2, 217) seines Lebens rechnete, gibt Goethe 1796 eine Anschauung davon, was ihn mit dem in gleichem Sinne vorgehenden Theoretiker verband: „Daß Sie durch genaue Beobachtungen des Sinnes, in welchem die Kunstwerke gemacht sind, die Art wie? und der Mittel wodurch sie gemacht sind? neue und sichere Wege des Beschauens und der Erkenntnis eröffnen würden, war ich durch Ihre Versuche in Dresden und durch ihr ganzes Leben und Wesen überzeugt. Wer in dem immerfort dauernden Streben begriffen ist, die Sa19 Siehe dazu den zusammenfassenden Überblick von Dieter Borchmeyer, Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994, 247–396 sowie Karl Toggenburger, Die Werkstatt der deutschen Klassik. Goethes und Schillers Diskussion des künstlerischen Schaffens, Zürich 1949.
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ERFAHRUNG DES MACHENS chen in sich und nicht wie unsere lieben Landsleute, sich in den Sachen zu sehen, der muß immer vorwärts kommen, indem er seine Kenntnisfähigkeit vermehrt und mehrere und bessere Dinge in sich aufnehmen kann.“ (Br 2, 216)
So nachhaltig Goethe den Gedanken von der Bedeutung des Bewußtseins im Produktionsprozeß exponiert und so deutlich er dieses ein über bloße Regelkenntnis hinausgehendes Wissen um den Modus und die Mittel ästhetischer Produktion verstanden wissen will, so schwierig wird es doch für ihn, einen Ausgangspunkt für die Literatur zu finden, der der Bedeutung entspricht, die das Material für ihn in der bildenden Kunst gespielt hatte. Während hier das Bewußtsein des Künstlers in der Aufmerksamkeit bestanden hatte, bestimmten Vorgaben des Materials zu folgen und in den Formprozeß als produktive Kraft einzubeziehen, ist dies in der Literatur so ohne weiteres nicht möglich. Denn was ist Material in der Dichtung? Für Goethe jedenfalls nichts, was Stein oder Holz in der Baukunst entsprechen könnte. Gleichwohl findet er bei seinen Beobachtungen einen neuen Ausgangspunkt, der ebenfalls nicht bei der Idee ansetzt, sondern dort, wo sie mit dem Beginn des Arbeitsprozesses in die Wirklichkeit eintritt. Er schreibt im Mai 1798 an Schiller: „Ich fahre im Schematisieren und Untersuchen fort und glaube mich wieder einiger Hauptpässe zu meinen künftigen Unternehmen bemächtigt zu haben. Die Ausführung wäre ganz unmöglich, wenn sie sich nicht von selbst machte, so wie man keinen Acker Weizen pflanzen könnte, da man ihn doch wohl säen kann. Ich sehe mich jetzt nach besten Samen um und an der Bearbeitung des Erdreichs soll es auch nicht fehlen, das übrige mag auf das Glück der Witterung ankommen.“ (G/S, 337)
Was Goethe mit der Formulierung meint, die Ausführung mache sich von selbst, erläutert seine agrarische Metaphorik. Könnte der prozeßhafte Charakter der Herstellung von Kunstwerken, den Goethe mit seiner organischen Bildlichkeit akzentuiert, noch zu platonischen Mißverständnissen einladen, da das Samenkorn gleichsam als Idee das Kunstwerk antizipiert, das dann nur noch im Sinne einer genetischen Entwicklung heranreifen müßte und dem alle weiteren Bedingungen äußerlich bleiben, so zeigt eine genauere Betrachtung, daß Goethe in einem antiplatonischen Sinne argumentiert. Denn so wichtig die Idee erscheint und so wesentlich die Arbeit ist, der Gedanke, daß die Ausführung sich von selbst machen muß, so wie eine Saat das Glück der guten Witterung benötigt, besagt vor allem, daß sich im Werkprozeß etwas ereignen muß, das in der Idee nicht vorgesehen war, das gleichsam zur Ausgangskonzeption hinzutritt,
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sie bereichert. Keineswegs meint Goethe damit die Vorstellung der Genieästhetik, daß sich der Schaffensprozeß ohnehin weitgehend unbewußt vollziehe, sondern es ist die Beobachtung, daß dem Künstler im Produktionsprozeß etwas zugespielt wird, er etwas findet, das er nicht gesucht hat, das er sich aber bewußt machen muß, um es für den Werkprozeß zu nutzen. Damit formuliert Goethe für die Dichtkunst jene Einsicht, die sich für ihn im Bereich des Zeichnens mit dem Problem der Kolorierung angedeutet hatte, deren Gelingen die erfahrenen Maler in Rom ihm gegenüber als Vollzug eines Kunstgriffs beschrieben hatten, der nicht vorher geplant und begründet werden könne. Geschenke dieser Art werden als Glück erlebt, ein Glück allerdings, das dem Platoniker für immer fremd bleiben muß, da sich für ihn im Werkprozeß nichts ereignen kann als die mehr oder minder gelingende Realisierung der Idee des Werkes, ein Vorgang, den in der Regel das Gefühl begleitet, hinter dem zurückzubleiben, was jene fordert, und das sich, wie das Leiden Lessings gezeigt hatte, bis zu der Verzweiflung steigern kann, sich als Künstler zu verstehen, der seine großen Werke nur im Kopf besitzt. Psychologisch bringt es für den Autor, der sich dieser Besonderheit des ästhetischen Prozesses bewußt ist, den unschätzbaren Vorteil mit sich, daß er sich dem Prozeß der Ausarbeitung auch im Gefühl überlassen kann, das Werk nur in Ansätzen vor sich zu sehen, kann er doch darauf vertrauen, daß ihn der Arbeitsprozeß selbst auf dem Wege zur Form des Werkes weiterhilft. Daß diese Einsicht auch der Arbeit an Projekten zugutekommt, deren Entstehung lange Zeit erfordert oder die durch Unterbrechungen beinflußt werden, hat Goethe an einem Beispiel illustriert: „Es war nicht uninteressant mich einige Tage mit der Zauberflöte abzugeben und die Arbeit, die ich vor drei Jahren angefangen hatte, wieder aufzunehmen und durchzukneten. Da ich nur handelnd denken kann, so habe ich damit recht artige Erfahrungen gemacht, die sich sowohl auf mein Subjekt als aufs Drama überhaupt, auf die Oper besonders und am besondersten auf das Stück beziehen.“ (B 2, 345) Der Rekurs auf die eigene Erfahrung verhilft Goethe zu einer Vorstellung von Ausführung, die Handeln und Denken als zwei Seiten des ästhetischen Herstellungsprozesses begreift, die in dessen Vollzug als permanente Vermittlung gedacht werden müssen. Wie wichtig es Goethe erschien, für diese Einsicht so etwas wie eine Formel gefunden zu haben, zeigt ein kurze Zeit später entstandener Brief an Knebl, der auf diese Formulierung zurückgreift, um seine Vorstellung im Zusammenhang seiner Beschäftigung mit der antiken Literatur und den eigenen Projekten zu präzisieren: „Schon lange habe ich viel über das epische Gedicht nachgedacht, seit der Streitigkeit über das Alter der Homerischen Gesänge und der Ausführung von
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ERFAHRUNG DES MACHENS Hermann und Dorothea sind mir diese Gedanken nie aus dem Sinne gekommen, und ich habe bei mir einen Plan versucht, wie man die Ilias fortsetzen oder vielmehr ein Gedicht, das den Tod Achills enthielte, daran anschließen könnte. Da ich nur denken kann insofern ich produziere, so wird mir ein solches kühnes Unterfangen zur angenehmsten Beschäftigung und es mag daraus entstehen was will, so ist mein Genuß und meine Belehrung im Sichern; denn wer bei seinen Arbeiten nicht schon ganz seinen Lohn dahin hat, ehe das Werk öffentlich erscheint, der ist übel dran.“ (B 2, 237)
Schließlich findet Goethe, nun von der Gültigkeit der eigenen Erfahrungen hinreichend überzeugt, zu einer Formlierung, die er Schiller als theoretische Gewißheit übermittelt: „Ich gratuliere zum Anfang der Ausarbeitung des neuen Stückes. So wohl es getan ist, seinen Plan im ganzen gehörig zu überlegen, so hat doch die Ausführung, wenn sie mit der Erfindung gleichzeitig ist, so große Vorteile, die nicht zu versäumen sind.“ (G/S, 405)20 Ausführung ist Erfindung, genauer hätte Goethe seinen neuen Begriff des Werkprozesses nicht formulieren können. Künstlerische Ausführung vollzieht sich für Goethe nicht mehr als Realisierung einer metaphysisch verstandenen Idee, sondern diese leitet, zur Konzeption21 herabgemindert, die im Prozeß der Produktion sich vollziehende Suche nach dem Werk, wie Goethe mit der Klarheit eines Leonardo formuliert: „Was ist denn das Erfinden? Es ist der Abschluß des Gesuchten.“ (HA 12, 414) Welche Bedeutung Goethe diesem neuen Verständnis von Ausführung zubilligte, zeigt die Tatsache, daß er diesen Gedanken in den ,kunstdidaktischen’ Überlegungen gewidmeten Teil des „Wilhelm Meister“ noch einmal aufnimmt und dabei auf jene Metapher zurückgreift, die in der Geschichte der Kunsttheorie längst ihren Ort hatte und von Lessing in die Literatur eingeführt worden war: „Wer sich einer strengen Kunst ergibt, muß sich ihr fürs Leben widmen. Bisher nannte man sie Handwerk, ganz angemessen und richtig; die Bekenner sollten mit der Hand wirken, und die Hand, soll sie das, so muß ein eigenes Leben sie beseelen, sie muß eine Natur für sich sein, ihre eigenen Gedanken, ihren eigenen Willen haben, und das kann sie auf vielerlei Weise.“ (HA 8, 413) Entsprechend schlüssig ist das Bemühen, Goethes Einsichten in den Prozeß der künstlerischen Produktion durch die genaue Bestimmung seines 20 Zu den Bedeutungsvarianten des Begriffs siehe den Artikel ,Ausführung’ in: Goethe Wörterbuch. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978. 21 Daß Goethe deren Bedeutung keineswegs vernächlässigt hat, wird allerdings auch deutlich: „Bei jedem Kunstwerk, groß oder klein, bis ins kleinste kommt alles auf die Konzeption an.“ HA 12, 482.
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Gebrauchs der Metapher der Hand zu resümmieren: „Die Kunst wird von dem Tun der Hand als dem gedankenreichen Organ der Vernunft her gedacht und begründet. Nicht mehr in den Fingerspitzen, das Sinnbild der schaffenden Phantasie, wie beim jungen Goethe, sondern in der Hand, das Gleichnis der Vernunft, ist das eigentlich substantielle Vermögen des Künstlers verlegt.“22 Lessing hatte noch die Möglichkeit eines Raffael ohne Hände beschworen, für Goethe hingegen könnte er es nur sein, wenn er nicht nur Hände hat, sondern diese über eine eigene Intelligenz, eben die der Ausführung, verfügen. So deutlich Goethes Bemerkungen ein auf der Grundlage eigener Beobachtungen gewonnenes Verständnis von künstlerischer Ausführung dokumentieren, so wenig unternimmt er es, diese Einsicht an Beispielen des eigenen Produktionsprozesses zu dokumentieren und auf diese Weise gleichsam den empirischen Beweis für seine Thesen anzutreten. Im Gegenteil, er legt sogar größten Wert darauf, sich beim Prozeß der Arbeit nicht hinter die Kulissen schauen zu lassen, wie er Schiller anläßlich seiner Studien zur Ilias und der Möglichkeit einer von ihm erwogenen Fortsetzung mitteilt: „Glauben Sie, daß, nach diesen Eigenschaften, ein Gedicht von großem Umfang und mancher Arbeit zu unternehmen sei, so kann ich jede Stunde anfangen, denn über das Wie der Ausführung bin ich meist mit mir einig, werde aber, nach meiner alten Weise, daraus ein Geheimnis machen, bis ich die ausgeführten Stellen selbst lesen kann.“ (G/S, 339) Es scheint, als habe Goethe bei aller Betonung der Chancen, die die Ausführung im Hinblick auf die Möglichkeiten der Erfindung mit sich bringt, doch gezögert, darüber Auskunft zu geben, vielleicht weil ihm das Eingeständnis der geschickten Nutzung eines gänzlich Zufälligen doch unangenehm gewesen wäre. Jedenfalls hätte die Auskunft, ein vom Publikum als besonders gelungen empfundenes Werk sei bloß ein glücklich genutzer Fund, ihn als Autor zu sehr in Widerspruch zu seiner offiziell vertretenen Genieästhetik gebracht, in deren Licht doch auch seine Bedeutung als Dichter gesehen werden sollte: Goethe erkennt zwar die Dynamik des Werkprozesses im Sinne einer Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten an, aber das endgültige Werk ist als Werk des Genies jeder Kritik entzogen und darf im nachhinein nicht danach befragt werden, ob nicht unter Umständen ein Element sich als falsche Wahl erwiesen hat: „Kein Werk des Genies kann durch Reflexion und ihre nächsten Folgen verbessert, von seinen Fehlern befreit werden.“ (G/S 485)23 Angesichts der Möglichkeit für Außenstehende, deren Ursache im Arbeitsprozeß zu erkennen und damit das Genie mit den sehr menschlichen Fehlerquellen von Irrtum, Nachlässig22 Hans Joachim Schrimpf, Kunst und Handwerk. Die Entwicklung von Goethes Kunstanschauung. Erster Teil, in: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe–Gesellschaft, Bd. 17, 1955, 167. 23 Vgl. dazu Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik, GS I.1, 119.
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keit und Ungenauigkeit zu belegen, liegt die Vermutung nahe, Goethe habe mit Rücksicht auf die Geltung der ästhetischen Normen darauf verzichtet, innerhalb des schriftstellerischen Diskurses die Gültigkeit seiner empirischen Thesen zur Ausführung durch Material oder Beispiele aus der eigenen Praxis zu belegen.24
Kunst und Technik Der Versuch, Goethes empirische Ansätze einer Logik der ästhetischen Produktion zu rekonstruieren, hat sich bislang auf die Passagen seines Werkes beschränkt, die das Problem beschreiben oder der spezifischen Leistungsart von Metaphern vertrauend die Sache zur Darstellung bringen. Mit einem gewissen Recht ließe sich einwenden, warum dabei Überlegungen Goethes bislang keine Berücksichtigung gefunden haben, die seit 1797 explizit auf jenen Begriff zugreifen, der sich sich auf den Vorgang der Herstellung bezieht und von nun an ins Zentrum produktionsästhetischer Fragestellungen rückt. Wie wortgeschichtliche Untersuchungen25 zeigen, ist es nicht zuletzt Goethes Gebrauch des Wortes „Technik“, durch den der Begriff zum festen Bestandteil poetologischer Reflexion avanciert. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß Goethe nirgends den Begriff definiert, sondern seine jeweilige Bedeutung nur aus dem Kontext der Verwendung erschlossen werden kann. Auch wenn er dergestalt bei Goethe also insgesamt einen sehr weiten Umfang annimmt, läßt sich das semantische Zentrum seiner Äußerungen doch in einem etwas engeren Sinne bestimmen. Der Gebrauch des Begriffs zielt vor allem auf den Bereich des Handwerks und auf den der schönen Kunst. Technik bezeichnet für Goethe in der Sphäre des Handwerks den Vorgang einer bewußten, regelgeleiteten Hervorbringung, die Form eines spezifischen Wissens und Vermögens, das dem Handwerker die Zuverlässigkeit seines Wirkens garantiert: „Wie denn ja der Maurer selbst, wenn er Steine, Ziegel und Kalk zusammenbringt, bei seiner menschlichen Technik halb mechanisch, halb chemisch verfährt.“26 Technik, als Kenntnis und Beherrschung der Mittel und Verfahren, und Handwerk können in diesem Verständnis gleichgesetzt werden. Von größerer Bedeutung erweisen sich für Goethe Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Handwerk: „Hieran schloß sich die Betrachtung, daß es eben schön sei zu bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die 24 Vgl. dazu die Rekonstruktion zu Goethes „Novelle“ in: Karl–Heinz Hahn, Aus der Werkstatt deutscher Dichter. Goethe–Schiller–Heine, Halle (Saale) 1963. 25 Siehe Wilfried Seibecke, Versuch einer Geschichte der Wortfamilie um ,Techne’ in Deutschland vom 16. Jahrhundert bis etwa 1830, Düsseldorf 1968. 26 Goethe zitiert nach Seibecke, 229.
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ELEMENTE EINER „LEBENDIGEN THEORIE“ DES SCHAFFENS
Waage halten, und so nah verwandt immer eine zu der anderen sich hinneigt, so daß die Kunst nicht sinken kann ohne in löbliches Handwerk überzugehen, das Handwerk sich nicht steigern ohne kunstreich zu werden.“ (HA 8, 329). Das Problem, das Goethe in diesem Zusammenhang am meisten beschäftigt, gilt der damit verbundenen Frage nach der Bedeutung der Technik innerhalb der schönen Kunst selbst, besonders innerhalb der Dichtkunst. So heißt es geradezu programmatisch in den „Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Divan“ von 1819 : „Bedenken wir nun, daß poetische Technik den größten Einfluß auf jede Dichtungsweise notwendig ausübe.“27 Im gleichen Sinne bemerkt er in einem Brief an Riemer im Hinblick auf die angemessene Beurteilung eines Werkes: „Wer die Technik nicht versteht, kann über poetische Produkte nicht schreiben.“28Im Rückblick auf eigene lyrische Versuche heißt es schließlich in der „Campagne in Frankreich“: „So ergriff ich die Gelegenheit, ein paar tausend Hexameter hinzuschreiben, die bei dem köstlichen Gehalt selbst einer mangelhaften Technik gute Aufnahme und nicht vergänglichen Werth verleihen durften“.29 Man erkennt an diesen Worten, daß Goethe sich damit im Umfeld der überlieferten Gattungstheorie bewegt. Er vertritt hier eine „mit der ‚klassischen Kunstauffassung’ in Einklang stehende ‚technische Theorie’“30. Wo die Beherrschung vorgebener Gattungsregeln fehlt, gilt Goethes Kritik der mangelnden Technik eines Werkes, wo sie in der Befolgung des bloß Schulgerechten zu erstarren droht, beklagt er indes das Schwinden schöpferischer Kraft. „Es ist immer ein Zeichen einer unproduktiven Zeit, wenn sie so ins Kleinliche des Technischen geht, und ebenso ist es ein Zeichen eines unproduktiven Individuums, wenn es sich mit der gleichen befaßt.“31 Eine Gefahr, der Goethe sich selbst angesichts seines Selbstbewußtseins eher eine neue Regel zu schaffen als eine wirkungslos gewordene zu tradieren, nie ausgesetzt sah: „Überhaupt geht jetzt alles aufs Technische aus, und die Herren Kritiker fangen an zu quängeln, ob in einem Reim ein s auch wieder auf ein s komme und nicht etwa ein ß auf eins. Wäre ich noch jung, so würde ich absichtlich gegen solche 27 Goethe, Sophienausgabe, Bd. 7, 106. Im Zusammenhang seines empirischen Interesses an der Objektivierung von literarischen Formelementen steht auch seine wiederholte Beschäftigung mit der aristotelischen Poetik, vgl. Karl Schlechta. Goethe in seinem Verhältnis zu Aristoteles. Ein Versuch, Frankfurt a.M. 1936. 28 Goethe zit. nach Seibecke, 258. 29 Goethe zit. nach Seibecke, 257. Vgl. Peter Szondi, Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, in: Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie II. Hg.v. Wolfgang Fietkau, Frankfurt a.M. 1974. 30 Wilfried Seibecke, Versuch einer Geschichte der Wortfamilie um ,Techne’ in Deutschland vom 16. Jahrhundert bis etwa 1830, 258. 31 Goethe zit. nach Seibecke, 257.
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technische Grillen verstoßen, ich würde Alliterationen, Assonanzen und falsche Reime, alles gebrauchen wie es mir käme und bequem wäre.“32 Wenn Goethe von der Technik der Dichtkunst spricht, so ist es gleichsam ein modernisierter Wortgebrauch für das, was zuvor der Begriff des Mechanischen bezeichnet hatte. Es ist deutlich, daß er mit dieser Vorstellung der die Epoche beherrschenden Kunsttheorie verhaftet bleibt und damit in der Sphäre des Begriffs hinter jene Einsichten zurückfällt, die er bei der Beschreibung seiner Beobachtung des Produktionsprozesses im Hinblick auf die ihm eigene Logik gewonnen hatte.
32 Goethe nach Seibecke, 256.
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VI. S C H I L L E R S W E N D E Neben Goethe hat auch Schiller Anteil an der wortgeschichtlich festzustellenden Ausweitung der Verwendung des Begriffs „Technik“ seit 1770. Der Schwerpunkt seines Gebrauchs liegt in den zwischen 1792 und 1794 entstandenen philosophischen Schriften, in denen er sich unter dem Einfluß Kants um die Begründung eines objektiven Begriffs der Schönheit bemüht. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, daß Schiller die Möglichkeit dieser theoretischen Leistung ausdrücklich mit seiner besonderen Qualifikation als Dichter in Verbindung bringt: „Zur Gründung einer Kunsttheorie ist es, deucht mir, nicht hinreichend, Philosoph zu sein; man muß die Kunst selbst ausgeübt haben, und dies glaube ich gibt mir einige Vorteile über diejenigen, die mir an philosophischer Einsicht ohne Zweifel überlegen sein werden. Eine ziemlich lange Ausübung der Kunst hat mir Gelegenheit verschafft, die Natur in mir selbst bei denjenigen Operationen, die nicht aus Büchern zu lernen sind, zu sehen.“ (Br, 278) In der Art, wie er den Begriff der Technik im Kontext der Kunsttheorie aufgreift, ist davon zunächst wenig zu spüren. Trotz einer insgesamt höchst eigenwilligen terminologischen Auslegung des Technik-Begriffs lassen sich doch zwei charakteristische Verwendungsweisen bei Schiller ausmachen. Die erste tritt in der 1793 veröffentlichten und an Gottfried Körner adressierten Brieffolge „Kallias oder über die Schönheit“ hervor und steht im Kontext seiner philosophischen Bemühungen, im Anschluß an Kant Kriterien der Unterscheidung zwischen Natur und Kunst zu gewinnen, die eine nähere Spezifizierung der jeweiligen Form des Schönen erlauben sollen. Natur bezeichnet für Schiller etwas, das vollständig durch sich selbst bestimmt ist, der Kunst gehören hingegen alle Gegenstände an, die durch eine Regel hervorgebracht worden sind und deren Anwendung in der Form des Werkes als dessen Kunstmäßigkeit zu Tage tritt: „Eine Form, welche auf eine Regel deutet (sich nach einer Regel behandeln läßt), heißt kunstmäßig oder technisch. Nur die technische Form eines Objektes veranlaßt den Verstand, den Grund zu der Folge zu suchen und das Bestimmende zu dem Bestimmten.“ (F 5, 410) Kunstmäßigkeit als Seinsweise eines Werkes ist für Schiller gleichzusetzen mit Technik im Sinne seines Gemachtseins. Der Begriff bezieht sich also weniger auf den Prozeß des Hervorbringens als vielmehr auf je-
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ne Formelemente des Werkes, die es als durch eine Regel hervorgebrachtes ausweisen. „Technik heißt bei ihm ‚Kunstmäßig-Sein’“1, sie gehört nicht zur Kunst selbst, sondern bezeichnet deren formale Voraussetzung. Neben diesen Gebrauch des Technik-Begriffs im Sinne eines genuin philosophischen Terminus tritt bei Schiller die Verwendung in einem allgemeineren Sinne, die sich, darin der Goethes vergleichbar, auf die empirisch-praktischen Regeln des Herstellens von Kunstwerken bezieht und dem handwerklichen Anteil des Produktionsprozesses gilt, wie Schiller in einem Brief an Körner vom 3.2.1794 erläutert: „Als Kunst steht die schöne Kunst unter technischen Regeln, welche man ja nicht mit den ästhetischen Regeln verwechseln darf. Jedes Produkt der schönen Künste nehmlich ist immer zugleich die Ausführung eines objektives Zwecks, und die Schönheit an demselben ist bloß eine Erscheinung dieser Ausführung. Jener objektive Zweck nun unterwirft es bestimmten Regeln, welche sich ebenso leicht zu den mechanischen Künsten bestimmen lassen. Die Beobachtung dieser Regeln kann einem Werke der Schönen Kunst bloß das Verdienst der Wahrheit verschaffen (wenn es eine Nachahmung der Natur sein soll), oder (wenn es nur einer Idee und keinem Naturprodukt gemäß sein soll), wie z.B. architektonische Werke das Verdienst der objektiven Zweckmäßigkeit, Brauchbarkeit. Aber sehr oft geschieht es, daß man ein Urteil des Geschmacks zu fällen glaubt, wenn man bloß über die technische Vollkommenheit urteilt, und daher rührt es, daß man in den Begriff der Schönheit Eigenschaften aufgenommen hat, welche bloß der Wahrheit und der Brauchbarkeit gelten. Scheidet man nun das Technische von dem Ästhetischen und trennt von dem Begriffe der Species (der schönen Kunst), was bloß den Begriff der Gattung (Kunst schlechtweg) angeht, so ist man erst auf dem rech2 ten Wege zur Entdeckung der Schönheitsregeln.“ (NA XXI, 222)
Auch Schiller versteht Technik also als Wissen um Fertigungsregeln, die es erlauben, Exemplare einer bestimmten literarischen Gattung ebenso zuverlässig hervorzubringen wie andere Produkte des Handwerks auch, ein Gedanke, der ihm nicht zuletzt aufgrund seiner Kenntnis der Rhetorik und ihrer Begründung der Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel
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Wilfried Seibecke, Versuch einer Geschichte der Wortfamilie um ,Techne’ in Deutschland vom 16. Jahrhundert bis etwa 1830, 196. „Aufgrund dieser eigenwilligen Auslegung des Wortes Technik nehmen die Belege aus Schillers Schriften eine Sonderstellung in der Geschichte des Wortes ein. Wir haben es hier mit einem ganz individuellen Sprachgebrauch zu tun.“ (196). Zu Schillers Briefwechsel mit Körner siehe Klaus L. Berghahn, „Eines Freundes Freund zu sein.“ Anmerkungen zum Schiller–Körner Briefwechsel, in: Klaus L.Berghahn, Schiller. Ansichten eines Idealisten, Frankfurt a.M. 1996.
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im Hinblick auf ein angebbares Ziel vertraut gewesen sein dürfte.3 So deutlich Schiller die Sphäre des Technischen innerhalb des Kunstprozesses anerkennt, so fraglos scheint es für ihn, daß sie nicht in jene Sphäre hineinführt, in der sich das Schöne der Kunst konstituiert. Es erweist sich jedoch für Schillers ästhetische Konzeption als folgenreich, daß er seine Suche nach den „Schönheitsregeln“ als Analyse der Logik ästhetischer Produktion zu organisieren versucht. Das hat ihm zwar im Hinblick auf sein ehrgeiziges philosophisches Bemühen um einen objektiven Begriff des Schönen in der Sache nicht weitergeholfen, vermag aber Auskunft darüber zu geben, wie er den künstlerischen Schaffensprozeß im Kontext seiner äshetischen Theorie verstanden wissen wollte.
Krieg gegen die Materie Im letzten seiner „Kallias-Briefe“ unternimmt es Schiller unter der Überschrift „Das Schöne der Kunst“, die im Zentrum seines Denkens stehende Definition, Schönheit sei Freiheit in der Erscheinung, im Hinblick auf den Vorgang des Zur-Erscheinung-Kommens zu bestimmen: „Freiheit der Darstellung ist also der Begriff, mit dem wir es hier zu tun haben.“ (F 5, 426)4 Freiheit in der Erscheinung als Schönheit des Werkes ist das Produkt einer Freiheit, die der Künstler im Prozeß der Darstellung in Anspruch nimmt. Welcher Art ist sie? Ausgangspunkt bildet für Schiller die Frage, auf welche Weise der Künstler einen Gegenstand so darstellen kann, wie er ihn in seiner Einbildungskraft vor sich sieht, wenn er grundsätzlich mit der Schwierigkeit konfrontiert ist, daß der dort vollständig durch sich selbst bestimmte Gegenstand niemals als solcher in Erscheinung treten kann, sondern immer „durch einen Repräsentanten sich vorstellt. Das Kunstschöne nämlich ist nicht die Natur selbst, sondern nur die Nachahmung derselben in einem Medium, das von dem Nachgeahmten materialiter ganz verschieden ist. Nachahmung ist die formale Ähnlichkeit des Materialverschiedenen.“ (F 5, 427) Die Bedingung, daß das Kunstschöne niemals unmittelbar in Erscheinung treten kann, sondern auf ein Medium der Darstellung angewiesen ist, dessen materiale Besonderheit Berücksichtigung verlangt, wirft für den Werkprozeß folgenschwere Probleme auf: „Die Natur des Gegenstandes wird also in der Kunst nicht selbst in ihrer Persönlichkeit und Individualität, sondern durch ein Medium vorgestellt, welches wieder a) seine eigene Individua3
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Vgl. Hermann Meyer, Schillers philosophische Rhetorik, in: Euphorion, H. 3, 1959 und Gert Ueding, Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition, Tübingen 1971, darin besonders 128–142. Zu Schillers Ästhetik siehe Dieter Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 11, 1957.
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lität und Natur hat, b) von dem Künstler abhängt, der gleichfalls als eigene Natur zu betrachten ist. Der Gegenstand wird also durch die dritte Hand vor die Einbildungskraft gestellt.“ (F 5, 427) Die Aufmerksamkeit, die Schiller der Rolle des Mediums oder des Materials und der Individualität des Künstlers als im Schaffensprozeß wirksame Elemente schenkt, wird jedoch dadurch von vornherein eingeschränkt, daß er das Ergebnis a priori festlegt und nun in seiner Argumentation noch deduktiv die Bedingungen seiner Möglichkeiten aufzuweisen sich genötigt sieht. „Wie ist es möglich, daß die Natur des Gegenstandes dennoch rein und durch sich selbst bestimmt kann vorgestellt werden.“ (F 5, 427) Grundlage des Schaffensprozesses ist das Vorhandensein einer die Totalität des Werkes antizipierenden Idee im Inneren des Künstlers: „Es wird also vorausgesetzt, der Dichter habe die ganze Objektivität seines Gegenstandes, wahr, rein und vollständig in seiner Einbildungskraft aufgefaßt – das Objekt stehe schon idealisiert (d.i. in reine Form verwandelt vor seiner Seele), und es komme bloß darauf an, es außer sich darzustellen. Dazu wird nun erfordert, daß dieses Objekt seines Gemüts von der Natur des Mediums, in welchem es dargestellt wird, keine Heteronomie erleide.“ (F 5, 431) Mit der Betonung der vollständigen Antizipation des Kunstwerks im Geist des Künstlers kündigen sich die platonischen Implikationen5 der Reflexionen Schillers deutlich an, und entsprechend gibt der Anspruch auf die reine Verwirklichung der Idee die Perspektive auf das Schicksal des Materials vor, in der sie zur Erscheinung kommen soll. Heißt es bei Schiller zunächst noch, ein Gegenstand könne „nur dann frei dargestellt heißen, wenn die Natur des Dargestellten von der Natur des Darstellenden nichts gelitten hat“ (F 5, 428), so verzichtet er im weiteren darauf, diese Argumentation zu vertiefen. Er begnügt sich damit, bestimmte negative Folgen, die sich aus der Materialität des Schaffensprozesses ergeben könnten, im Namen der Idee abzuweisen. Was er mit der These meint, bei einem Kunstwerk müsse sich „der Körper in der Idee, die Wirklichkeit in der Erscheinung verlieren“ (F 5, 428) tritt erst dort hervor, wo er den Umwandlungsprozeß der Wirklichkeit in die Erscheinung näher bestimmt: „Wirklichkeit heißt hier das Reale, welches an einem Kunstwerk immer nur die Materie ist, und dem Formalen oder der Idee, die der Künstler in dieser Materie ausführt, muß entgegengesetzt werden. Die Form ist an einem Kunstwerk bloße Erscheinung, d.i. der Marmor 5
Es versteht sich, daß der Begriff des Ideals bei Schiller nicht mehr dem Begriff der Idee bei Platon entspricht, aber strukturell weist er die gleichen metaphyischen Implikationen auf, insofern kann er der platonischen Tradition zugeordnet werden. „Die Funktion des Begriffs im Theoriedesign ist jetzt eine ganz andere. Aber es geht um ein Wiedergewinnen der alten Natureidetik im Medium der Subjektivität.“ Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, 450.
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scheint ein Mensch, aber er bleibt in Wirklichkeit Marmor.“ (F 5, 429) Es sieht so aus, als akzeptiere Schiller die materiellen Voraussetzungen des Kunstprozesses, die noch die vollkommenste Statue eines Menschen auf den Marmor verweist, aus dem sie gefertigt wurde, zumal er ja auch die technischen Regeln jedes Kunstprozesses im Sinne einer materialgerechten Behandlung als Bedingung jeder ästhetischen Realisierung ausdrücklich anerkannt hatte. Daß dies lediglich Zugeständnisse sind, tritt dort hervor, wo er die Art, wie er die Materie behandelt wissen will, näher charakterisiert. Heißt es zunächst, die Natur des Mediums müsse von der Natur des Nachgeahmten „völlig besiegt erscheinen (F 5, 428), so wird Schiller im folgenden nicht müde, das Schicksal des Materials immer drastischer zu beschreiben. Es müsse „völlig vertilgt (F 5, 429) und „durch völlige Ablehnung oder vielmehr Verleugnung seiner Natur mit dem Repräsentierten vollkommen ausgetauscht“ (F 5, 429) erscheinen. In seiner Schrift „Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Folge von Briefen“, in der Schiller das Problem der Freiheit der Darstellung wieder aufnimmt, gelingt es ihm, seine aggressive Rhetorik noch zu steigern: „Wenn der mechanische Künstler seine Hand an die gestaltlose Masse legt, um ihr die Form seiner Zwecke zu geben, so trägt er kein Bedenken ihr Gewalt anzutun; denn die Natur, die er bearbeitet, verdient für sich selbst keine Achtung, und es liegt ihm nicht an dem Ganzen um der Teile willen, sondern an den Teilen um des Ganzen willen. Wenn der schöne Künstler seine Hand an die nämliche Masse legt, trägt er ebenso wenig Bedenken ihr Gewalt anzutun, nur vermeidet er es zu zeigen. Den Stoff, den er bearbeitet, respektiert er nicht im geringsten mehr als der mechanische Künstler; aber das Auge, welches die Freiheit dieses Stoffes in Schutz nimmt, wird er durch die scheinbare Nachgiebigkeit gegen denselben zu täuschen suchen.“ (F 5, 5 78)
Die Formel, auf die sich Schillers Umgang mit dem Material bringen ließe, hat er im Zusammenhang seiner philosophischen Überlegungen zum Konzept der ästhetischen Erziehung entwickelt. Den Gedanken, daß es für den Menschen schon in der Sphäre des physischen Lebens darauf ankomme, ein moralisches zu beginnen, erläutert Schiller durch einen Vergleich, der auf die von ihm beschriebene Situation des Künstlers zurückverweist: „er muß, wenn sie mir den Ausdruck verstatten wollen, den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen, damit er es überhoben sei, auf dem heiligen Boden der Freiheit gegen diesen furchtbaren Feind zu fechten.“ (F 5, 645) Schillers rigoroser Platonismus tritt nirgends deutlicher hervor als in der Wahl seiner Metaphern für den Werkprozeß wie überhaupt „alles dafür spricht, daß Schiller sich in diesen Jah-
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ren bemühte, Möglichkeiten und Grenzen einer mit Bildern arbeitenden Darstellungstechnik zu prüfen, die auch die seines eigenen Schreibens war.“6 Während er angesichts der Notwendigkeit, daß die ästhetische Idee im Medium eines heterogenen Materials zu erscheinen gezwungen ist, analytisch zumindest die Faktizität des Materials und den Zwang zu seiner Bearbeitung akzeptieren muß, zeigt die Wahl seiner Metaphern, wie er den Prozeß in einem höheren „metaphysischen“ Sinne verstanden wissen will: Die Idee des Werkes fordert einen Krieg gegen die Materie, geführt in der Absicht, ihre Besonderheit auszulöschen, um so die Idee rein zur Erscheinung zu bringen. In dieser Perspektive erscheint das Material als Objekt einer Vernichtung, auf die der als strategische Kampfhandlung angelegte künstlerische Schaffensprozeß zielt. Erinnert man sich an Lessings Behauptung, die Kunst müsse malen, wie sich die Natur „das Bild dachte – ohne den Abfall, welchen der widerstrebende Stoff macht“7, so tritt die Bedeutung diese Aussage in Schillers extremer Radikalisierung der Metaphorik hervor. Was Lessing noch als Abfall qualifiziert, den es zu vermeiden gelte, unterwirft Schiller einem totalitären Imperativ der Exekution. Als reines Vollzugsorgan der Idee steht der Künstler immer dann in der Kritik, wenn es ihm nicht gelungen ist, die Natur des Materials auszulöschen oder sie auf eine Weise zu behandeln, die seine eigene Subjektivität hervortreten läßt, die ja im Zeichen der Idee, wie alles Sinnliche, ebenfalls vollständig verschwinden muß: „Ist an einer Zeichnung ein einziger Zug, der die Feder oder den Griffel, das Papier oder die Kupferplatte, den Pinsel oder die Hand, die ihn führte, kenntlich macht, so ist sie hart und schwer; ist an ihr der eigentümliche Geschmack des Künstlers, die Künstlernatur sichtbar, so ist sie maniriert. Leidet nämlich die Beweglichkeit eines Muskels (in einem Kupferstich) oder durch die schwere Hand des Künstlers, so ist die Darstellung häßlich, weil sie nicht durch die Idee, sondern durch das Medium bestimmt worden ist.“ (F 5, 429)8
Schillers philosophischer Diskurs findet keinen Ansatzpunkt für eine differenzierte Analyse des Werkprozesses, sein platonischer Hintergrund 6 7 8
Helmut Koopmann, Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 30. Jg. 1986, 222. Vgl. Alfred Baeumler, Ästhetik, 87–88. Zur Rigorosität von Schillers ästhetischen Imperativen vgl. die kritischen Bemerkungen von Wolfgang Welsch, Ästhet/hik. Ethische Implikationen und Konsequenzen des Ästhetischen, in: Ethik der Ästhetik. „Die Ausmerzung des Primärsinnlichen“, so Welsch, bilde für Schiller die Grundaufgabe ästhetischer Erziehung und werde zur „Heerstraße des Ästhetischen“ (10). Schiller legt darauf zwar lange Wege zurück, aber interessanter ist wohl, an welchen Stellen er sie verläßt.
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schließt Erkenntnisse im Hinblick auf die Logik des Produktionsaktes aus, sein Idealismus provoziert eine absolute Blindheit gegenüber der Rolle des Materials und der Eigendynamik der Ausführung. Im Werk soll nichts anderes zu finden sein als das, was immer schon in der Idee war, um so weniger darf zwischen beide ein Störendes treten, was die Herstellung des Scheins jenes „Nichts“ gefährdet, das allein ein reines Spiegelungsverhältnis erlaubt.9 Es ist nicht ohne Ironie zu sehen, daß Schiller seine Vorstellung exemplarisch an einem Beispiel illustriert, auf das in etwas abgewandelter Form auch Goethe in seinem Aufsatz „Theorie der Bildenden Künste. Baukunst“ von 1788 zurückgegriffen hatte. „Ist an einer Bildsäule ein einziger Zug, der den Stein verrät, der also nicht in der Idee, sondern in der Natur des Stoffes gegründet ist, so leidet die Schönheit; denn Heteronomie ist da. Die Marmornatur, welche hart und spröde ist, muß in der Natur des Fleisches, welches biegsam und weich ist, völlig untergegangen sein, und weder das Gefühl noch das Auge darf daran erinnert werden.“ (F 5, 429). Während Goethe durch seinen Studien der antiken Baukunst zu der Beobachtung gelangt war, daß die Ägypter zur Gestaltung des Obelisken durch die Naturform des Granits gebracht worden waren, darf in Schillers philosophischer Deduktion an einer Bildsäule nichts mehr an die Natur des Steines erinnern. Goethe hatte aus seinen Erfahrungen die Erkenntnis gewonnen, daß der Künstler die Natur einer Materie nicht verändern könne, sondern er sich in seiner Erfindungs- und Einbildungskraft gleichsam mit ihr verbinden und von ihrer Besonderheit leiten lasse, Schiller sieht darin nichts als Heteronomie, die das Werk mit seiner Häßlichkeit bezahlt. Goethes Künstler strebt ein kooperatives Verhältnis mit dem Material an, Schillers Künstler bekämpft es. Bemerkenswert ist dennoch, daß Schiller, der im übrigen wie Goethe das Problem der Materialbehandlung an Beispielen aus den bildenden Künsten erörtert, obwohl ihm diese stets fremd geblieben sind10, in einem kurzen Exkurs die Sprache als spezifisches Material des Dichters behandelt. Aber auch diese Überlegung steht ganz im Zeichen seiner idealistischen Konstruktion. Die Worte erscheinen ihm als „abstrakte Zeichen für Arten und Gattungen, deren Verhältnisse durch Regeln bestimmt werden“ (F 5, 431) Dergestalt wecken die Worte stets Vorstellungen vom Allgemeinen, und deshalb liegt die Natur des Sprache „daher mit der Be9
„Die äußere Form des Kunstwerks muß dem Beschauer die künstlerische Idee offenbaren, aus der es organisch erwachsen ist. So könnte man die Definition Schillers umschreiben.“ Oskar Walzel, Einleitung in Schillers philosophische Schriften, in: Schillers Sämtliche Werke. Säkular Ausgabe, B. 11. Philosophische Schriften, Erster Teil, Stuttgart u. Berlin, XXXIX. 10 Vgl. Oskar Walzel, Schiller und die bildende Kunst, in: Oskar Walzel, Vom Geistesleben in alter und neuer Zeit, Leipzig 1922.
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zeichnung des Individuellen (welches die Aufgabe ist) im Streit. Die Sprache stellt alles vor den Verstand, und der Dichter soll alles vor die Einbildungskraft stellen, die Dichtkunst will Anschauung und die Sprache gibt nur Begriffe.“ (F 5, 432) Aber statt sich näher auf die spezifischen Qualitäten der Sprache als „Material“ der Dichtkunst einzulassen, zieht sich Schiller auf den bereits bekannten Imperativ zurück, der für die Sprache wie für die Materie insgesamt nur den Weg des Untergangs bereithält: „Soll also eine poetische Darstellung frei sein, so muß der Dichter ‚die Tendenz der Sprache zum Allgemeinen durch die Größe seiner Kunst überwinden und den Stoff (Worte und ihre Flexionsgesetze) durch die Form (nämlich die Anwendung der selben) besiegen’. Die Natur der Sprache (eben diese ist ihre Tendenz zum Allgemeinen) muß in der ihr gegebenen Form völlig untergehen, der Körper muß sich in der Idee, das Zeichen in dem Bezeichneten, die Wirklichkeit in der Erscheinung verlieren. [...] Mit einem Wort: Die Schönheit der poetischen Darstellung ist ,freie Selbsthandlung der Natur’ in den Fesseln der Sprache.“ (F 5, 433)
In der Abhandlung „Über Naive und Sentimentalische Dichtung“ kommt Schiller im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Sprache des Genies noch einmal auf diesen Gedanken zurück und findet hier jene Metaphern, die eine Vorstellung erlauben sollen, wie der Sieg über die Sprache, ihr Untergang als Medium verstanden werden könnte. In der Sprache des Genies springt die Sprache „wie mit innerer Notwendigkeit aus dem Gedanken hervor und ist so sehr eines mit demselben, daß selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößet erscheint“ (F 5, 706) Schiller denkt an ein Art Selbstentblößung des Geistes, einen Akt, bei dem „die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend läßt.“ (F 5, 706) Damit wird zwar anders als bei Goethe der Blick im Kontext produktionsästhetischer Überlegungen auf die Sprache gelenkt, aber Schillers idealistische Konstruktion, mehr noch der sie zunehmend überlagernde rhetorische Eifer führt in der Sache nicht weiter.
„ I c h se h e m i c h j e tz t se l b s t e r s c ha f f e n . “ Die theoretischen Aporien, in die Schiller mit seinen philosophischen Versuchen gerät, sind oft genug dargestellt und hinreichend kritisiert worden.11 Weniger Aufmerksamkeit hat die Tatsache gefunden, daß 11 Vgl. Helmut Kuhn, Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel, in: Helmut Kuhn, Schriften zur Ästhetik, München 1966, 66–79.
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Schiller, ausgehend von seinen schriftstellerischen Erfahrungen, sich dem ästhetischen Problem des literarischen Schaffens noch auf andere Weise zu nähern bemüht ist. Diese theoretischen Anstrengungen, eher unsystematisch, aber gleichwohl kontinuierlich unternommen, treten vor allem in seinen Briefen, also nicht unmittelbar zur Publikation bestimmten persönlichen Zeugnissen hervor. Sie dokumentieren nicht nur, welche Mühe es Schiller gekostet hat, seine idealistischen Konstruktionen mit den konkreten Erfahrungen seiner literarischen Praxis zu vermitteln, sondern auch, daß Schiller, durchaus zu genauer Beobachtung und Beschreibung fähig und auf dem Eigensinn seiner schriftstellerischen Erfahrungen beharrend, eine Form der theoretischen Selbstverständigung über die Eigenart des künstlerischen Schaffensprozesses sucht, die sich, zunächst neben dem philosophischen Diskurs und von ihm beeinflußt, schließlich in aller Konsequenz gegen diesen richtet. Als frühes Zeugnis dieses anderen produktionstheoretischen Diskurses kann ein Brief angesehen werden, der erkennen läßt, daß Schiller die mitgeteilten Gedanken als Ergebnis der Einnahme einer Beobachterposition gegenüber dem eigenen Schaffensprozeß verstanden wissen will. Im Hinblick auf das Verhältnis von Verstand und Einbildungskraft als wirkende Kräfte des Werkprozesses schreibt er am 1.12.1788 an Körner: „Ich muß hier einen Gedanken hinwerfen und ihn durch ein Gleichnis versinnlichen. Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerk der Seele nachtheilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen gleichsam an den Toren schon zu scharf mustert. Eine Idee kann, isoliert betrachtet, sehr unbeträchtlich sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, wichtig; vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung mit anderen, die vielleicht ebenso abgeschmackt scheinen, ein sehr zweckmäßiges Glied abgeben: – alles dies kann der Verstand nicht beurteilen, wenn er sie nicht so lange festhält, bis er sie in Verbindung mit diesen angeschaut hat. Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pele-mele herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen. Ihr Herren Kritiker, und wie Ihr Euch sonst nennt, schämt oder fürchtet Euch vor dem augenblicklichen, vorübergehenden Wahnwitze, der sich bei allen eigenen Schöpfern findet, und dessen längere oder kürzere Dauer den denkenden Künstler von dem Träumer scheidet.“ (NA 25, 149)
Hier wird der Schaffensprozeß gleichsam von unten her gedacht, als Sammlung von Einfällen, die als Material für den Werkprozeß genutzt werden kann, deren genaue Auswahl und Anordnung sich aber erst im Vollzug des Schreibens ergeben. Diese auf dem Wege der Selbstbeob-
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achtung gewonnene Einsicht, deren Bedeutung für Schiller sich nicht zuletzt an seiner Bemühung ablesen läßt, sie in Form eines Bildes zu veranschaulichen und damit gewissermaßen didaktisch zu formulieren, bildet einen entscheidenden Ausgangspunkt für Schillers immanente Poetik. Doch diese Unbefangenheit des Blicks für die Form der eigenen Praxis, zu der Schiller hier fähig ist, verschwindet schnell. Bereits kurze Zeit später zeigt sich in einem weiteren Brief daß die Produktionserfahrungen zunehmend im Licht seiner philosophischen Eindrücke interpretiert werden: „Die Ideen strömen mir nicht reich zu, so üppig meine Arbeiten auch ausfallen, und meine Ideen sind nicht klar, ehe ich schreibe. Fülle des Geistes und des Herzens von seinem Gegenstande, eine lichte Dämmerung der Ideen, ehe man sich hinsetzt, sie aufs Papier zu werfen, und leichter Humor sind notwendige Requisten zu dieser Eigenschaft; und wenn ich es einmal mit mir selbst dahin bringe, daß ich jene drei Erfordernisse zusammenbringe, so soll es mit Leichtigkeit werden.“ (NA 25, 211)
Schiller beurteilt seine Erfahrungen mit der eigenen Schreibpraxis nun im Zeichen der idealistischen Ästhetik und seine bisherigen Versuche erscheinen ihm mangelhaft insofern, als er über keine klaren Ideen vor Beginn der Arbeit zu verfügen meint. Allerdings interpretiert er diesen Mangel als individuelles, durch fortgesetzte Arbeit zu überwindendes Problem. Hatte Schiller seine spezifischen Erkenntnismöglichkeiten auf dem Feld der Kunstphilosophie mit seinen Erfahrungen als Dichter begründet, so zeigt eine andere Aussage ein gewisses Maß an Selbstbescheidung, die darin besteht, daß er seine philosophischen Bemühungen umgekehrt auch als Mittel verstanden wissen will, die der dichterischen Praxis zugute kommen sollen. Zwar ist auch in diesem Bekenntnis, wie so oft bei Schiller, das Moment des rhetorischen Überschwangs nicht zu übersehen, gleichwohl bleibt festzuhalten, daß er in einem Brief an Körner vom 25. Mai 1792, also noch vor der Veröffentlichung der „KalliasBriefe“, davon auszugehen scheint, daß seine theoretischen Versuche seine Praxis eher zu beeinträchtigen drohen, indem die ursprüngliche Spontaneität des Schreibens durch die Kontrolle des an Regeln und Grundsätzen orientierten philosophischen Bewußtseins ausgesetzt war. So heißt es über die Arbeit am „Wallenstein“: „Ich bin jetzt voll Ungeduld, etwas Poetisches in die Hand zu nehmen, besonders juckt mir die Feder nach dem ,Wallenstein’. Eigentlich ist es doch nur die Kunst selbst, wie ich meine Kräfte finde, in der Theorie muß ich mich immer mit Prinzipien plagen. Da bin ich bloß ein Dilettant. Aber um der Aus-
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SCHILLERS WENDE übung selbst philosophiere ich gern über die Theorie; die Kritik muß mir jetzt selbst den Schaden ersetzen, den sie mir zugefügt hat. Und geschadet hat sie mir in der Tat, denn die Kühnheit die lebendige Glut, die ich hatte, eh mir noch eine Regel bekannt war, vermisse ich schon seit mehreren Jahren.“ (NA 26, 141)
Aber was zunächst wie ein Verlust kreativer Potenz aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als Gewinn einer Position der Selbstbeobachtung beim Prozeß des Schreibens. Zwar macht Schiller nach wie vor die Präsenz eines kontrollierenden Bewußtseins für eine gewisse Befangenheit verantwortlich, die die Entfaltung der eigenen Produktivität hemmen könne, aber er verspricht sich für die Zukunft einen Gewinn, indem die Praxis, zukünftig von einem erweiterten Kunstbewußtsein geleitet, sich dann von vornherein auf einem höheren Niveau zu bewegen in der Lage sei als beim Vorgang eines unmittelbaren Schreibens: „Ich sehe mich jetzt erschaffen und bilden, ich beobachte das Spiel der Begeisterung, und meine Einbildungskraft beträgt sich mit minder Freiheit, seitdem sie sich nicht mehr ohne Zeugen weiß. Bin ich aber soweit, daß mir die Kunstmäßigkeit zur Natur wird wie einem wohlgesitteten Menschen die Erziehung, so erhält die Phantasie ihre vorige Freiheit zurück und setzt sich keine andern als freiwillige Schranken.“ (NA 26, 141/142)
Der Abschnitt, der nun in Schillers Brief folgt, gehört zu den wichtigsten Zeugnissen für das dichterische Selbstverständnis Schillers. Es gelingt ihm, den Gehalt jener Erfahrung zu vermitteln, den er von der Position der Selbstbeobachtung aus gewonnen hat, und sich dabei wirklich auf das zu beschränken, was er im Verlauf des eigenen Schreibprozesses wahrgenommen hat, unabhängig von einer vorgängigen philosophischen Interpretation, wenngleich er keinen Hehl daraus macht, wie schwer es ihm fällt, den für ihn ernüchternden Befund mitzuteilen: „Oft widerfährt es mir, daß ich mich der Entstehungsart meiner Produkte, auch der gelungensten schäme. Man sagt gewöhnlich, daß der Dichter seines Gegenstandes voll sein müsse, wenn er schreibe. Mich kann oft eine einzige und nicht nur immer wichtige Seite des Gegenstandes einladen, ihn zu bearbeiten, und unter der Arbeit selbst entwickelt sich Idee aus Idee. Was mich antrieb, die ,Künstler’ zu machen, ist gerade weggestrichen worden, als sie fertig waren. So wars beim ,Karlos’ selbst. Mit ,Wallenstein’ scheint es etwas besser zu gehen; hier war die Hauptidee auch die Aufforderung zum Stücke. Wie ist es aber nun möglich, daß bei einem so unpoetischen Verfahren doch etwas vortreffliches entsteht? Ich glaube, es ist nicht immer die lebhafte Vor-
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ERFAHRUNG DES MACHENS stellung eines Stoffes, sondern oft nur ein bestimmtes Bedürfnis nach Stoff, ein unbestimmter Drang nach Ergießung strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt. Das Musikalische eines Gedichts schwebt weit öfter vor meiner Seele, wenn ich mich hinsetze es zu machen, als der klare Begriff von Inhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin. Ich bin durch meine Hymne an das Licht, die mich jetzt manchen Augenblick beschäftigt, auf diese Bemerkung geführt worden. Ich habe von diesem Gedicht noch keine Idee, aber eine Ahnung, und doch will ich im voraus versprechen, daß es gelingen wird.“ (NA 26, 141/142)12
Schillers Brief beeindruckt durch seine Offenheit und die Bereitschaft, eine Darstellung der „Entstehungsart“ seiner Produkte zu geben, die ihm peinlich ist. Grund der Scham ist die Wahrnehmung, daß seine Werke auf eine Weise entstehen, die keiner der ihm zur Verfügung stehenden theoretischen Vorstellungen entspricht. Der genaue Blick auf seine Arbeit hat ihm gezeigt, wie er am Beispiel seines Gedichts erläutert, daß das Werk eben nicht als bloße Realisierung einer Idee entstanden ist, sondern im Prozeß der Arbeit, also in der Beschäftigung mit dem sprachlichen Material sich Idee aus Idee entwickelt hat und schließlich die endgültige Form die letzte Gestalt eines Werkprozesses darstellt. Gemessen an den Kriterien der philosophischen Ästhetik, ist Schiller das Ergebnis seiner am Entstehungsprozeß der eigenen Werke gewonnenen Beobachtungen zwar peinlich, aber daß ihn der Gedanke beschäftigt, hier weiterführende Erfahrungen gemacht zu haben, läßt sich vor allem daran ablesen, daß er sich unverzüglich darum bemüht, den empirischen Befund theoretisch zu erklären. Die Vorstellung, einem Werk müsse keine Idee, nicht einmal ein bestimmtes Element, sondern lediglich ein „unbestimmter Drang nach Ergießung strebender Gefühle“, einem Gedicht nur das „Musikalische“ und nicht „der klare Begriff von Inhalt“ zugrundeliegen, 12 Zur Werkgenese des Gedichts „Die Künstler“ siehe Norbert Oellers, Arrangement von Einfällen. Etwas über Schillers Weise zu dichten, in: Norbert Oellers, Friedrich Schiller. Zur Modernität eines Klassikers. Hg. v. Michael Hofmann, Frankfurt a.M. 1996, 53–59. Im Kommentar zu dieser Stelle heißt es in der Nationalausgabe: „Diese sehr wichtige Darstellung von Schillers Schaffensweise bezeichnet eine Stufe im Prozeß der Selbsterkenntnis, der Schiller später zu dem Begriff des sentimentalischen Dichters führt. Die Bedeutung der reflektierenden, indirekt und vermittelt zustandegekommenen Ausdrucksweise, wie sie im Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung’ charakterisiert wird (vgl. z.B. NA 20, 441), scheint hier vorgebildet.“ (NA 26, 598) Im Hinblick auf die Logik des Werkprozesses ist die deskriptive Leistung dieser Passage von ganz anderem Gewicht als die problematische zwischen Geschichtsphilosophie und Typologie dichterischer Empfindungsweisen schwankende Darstellung des späteren Aufsatzes. Vgl. dazu: Peter Szondi, Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung, in: Peter Szondi, Lektüre und Lektionen. Versuche über Literatur, Literaturtheorie und Literatursoziologie, Frankfurt a.M. 1973.
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und das Werk schließlich als Ergebnis von im Prozeß der Entstehung zu vollziehenden Handlungen begriffen werden kann, zeigt, daß Schiller als Schriftsteller Anfang der neunziger Jahre auf empirischem Wege zu einem ähnlichen Ausgangspunkt gelangt war wie der junge Goethe. Durch den philosophischen Ehrgeiz einer objektiven Begründung des Schönen an einer Vertiefung seiner Einsichten ohnehin gehindert, hatte die philosophische Terminologie und ihr Zwang zur theoretischen Systematik noch die letzten Spuren ihrer Präsenz in den veröffentlichten Aufsätzen ausgelöscht. Als Schriftsteller bewegt sich Schiller Anfang der neunziger Jahre damit in zwei Diskursen; in einem philosophischen, der das Erbe des Platonismus radikalisiert und ein theoretisches Modell zur Erklärung des Schaffensprozesses bereitstellen will, das den Systemzwängen der idealistischen Philosophie und ihres Geistbegriffs genügen soll, und in einem empirischen, der die Beobachtungen seiner eigenen literarischen Praxis zur Geltung bringt, einer vorsichtigen theoretischen Sicherung im Sinne einer antiplatonischen Deutung unterstellt, und der nicht zuletzt in der Form der Arbeit an den in dieser Zeit entstehenden Werken markante Spuren hinterläßt. Vergegenwärtigt man sich diesen Widerspruch, unter dem Schiller um so mehr gelitten haben dürfte, als für ihn keine Perspektive erkennbar war, ihn auf dem Wege einer begrifflichen Vermittlung zu lösen, so läßt sich besser verstehen, was für ihn die Mitte der neunziger Jahre beginnende Freundschaft mit Goethe bedeutet haben mag. Beginn, Entwicklung und künstlerische Programmatik ihres Bundes sind oft beschrieben worden, weniger indes das über das Menschliche hinausreichende Interesse, das beide als Autoren, als Schriftsteller in der genuinen Bedeutung des Wortes, aneinander fanden.13 Neben dem im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe dokumentierten Programm einer Kunstschule, die junge Schriftsteller im Zeichen eines neuen Klassizismus zu bilden hoffte, bleibt die Basis ihrer Verständigung die Suche nach einem neuen Wissen im Bereich der Dichtung, nachdem die normative Poetik ihre Verbindlichkeit verloren hatte. Die selbstbewußte Haltung, diese Suche als Schriftsteller zu unternehmen, dessen Fragen immer im Horizont der Praxis angesiedelt sind, und die Überzeugung, auf diesem Wege durch Reflexion der eigenen Produktionserfahrungen weiterzukommen, konnte Schiller an Goethe wahrnehmen und die Schwierigkeiten seiner eigenen Position hatten ihn an den Punkt gebracht, wo ihm die Urteile Goethes als Bestätigung jener Einsichten erscheinen mußten, die ihn philosophisch eher beunruhigten. Goethes lebenslange Selbstgewißheit, daß der 13 Zu den Umständen des Beginns der Beziehung und ihrer späteren Mythisierung siehe Melitta Gerhardt, Wahrheit und Dichtung in der Überlieferung des Zusammentreffens von Goethe und Schiller im Juli 1794, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstiftes 1974, Tübingen 1975.
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Dichter von der fragwürdigen Anstrengung um ein geschlossenes philosophisches System für seine Praxis nichts zu erwarten habe, hat Schiller ebenfalls bewogen, jenen Weg als Schriftsteller zu wählen, den er wohl vor sich sah, aber zu beschreiten zögerte, weil er glaubte, nicht über das dazu notwendige Wissen zu verfügen. Zweifel dieser Art hatte er in einem Briefe an Körner bereits 1789 im Zusammenhang seiner Überlegungen geäußert, ein episches Gedicht zu verfassen, das der historischen Gegenwart des 18. Jahrhunderts gemäß sein sollte: „Man ist einmal so eigensinnig (und vielleicht hat man nicht unrecht), einem Kunstwerk Klassizität abzusprechen, wenn seine Gattung nicht auf das bestimmteste entschieden ist. Diese Maschinerie aber, die bei einem so modernen Stoffe, in einem so prosaischen Zeitalter die größte Schwierigkeiten zu haben scheint, kann das Interesse in einem Grade erhöhen, wenn sie einem modernen Geist angepaßt wird. Es rollen allerlei Ideen darüber in meinem Kopf trüb durcheinander, aber es wird sich etwas Helles daraus bilden.“ (NA 25, 225)
Dieser Satz scheint, wie Victor Lange mit Recht hervorgehoben hat, „hinter die kritischen Einsichten von Shaftesbury und Herder auf die normativen Gattungs- und Gestaltungsprobleme des frühen 18. Jahrhunderts zurückzuverweisen, er deutet aber in Wirklichkeit voraus auf die Diskussion über die Funktion des Gattungsbegriffs, die ein Kernstück des Briefwechsels mit Goethe ausmacht.“14 Die Beschreibung der modernen Gattungen und ihrer in Abhängigkeit von den jeweiligen Zwecken zu bestimmenden Formelemente, die beide Autoren für Epos und Tragödie sowie die Eigenarten des Epischen und Dramatischen im Zeichen einer neuen Klassizität unternehmen, will nicht nur das Wesen der spezifischen Gattungen erfassen und den kunstphilosophischen Ansprüchen Genüge tun, sondern zielt auch, und darin wird das genuin schriftstellerische Interesse dieser Bemühungen erkennbar, auf den Erwerb eines neuen praktischen Wissens. Auch wenn das unhistorische Verständnis der Gattunsgpoetik der beiden Repräsentanten der Klassik, ihr Beharren auf der Unantastbarkeit von Gattungsgesetzen die Poetik als Lehre von der Dichtkunst nicht aus jener Krise führt, in die sie Ende des 18. Jahrhunderts geraten ist, lohnt es doch festzuhalten, daß beide als Schriftsteller, wie die technische Dimension ihrer Verständigung im „Briefwechsel“ dokumentiert, letztlich auf einen im Feld der Praxis verlaufenden Lösungsweg setzen und eben nicht auf die Abstraktionen der idealistischen Ästhetik, die theoretisch in Frage zu stellen die 14 Victor Lange, Zu Schillers Poetik, in: Dichtung und Deutung. Gedächtnisschrift für Hans. M. Wolff. Hg. v. Karl S. Guthke, Bern/München 1961, 64.
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begrifflichen Mittel fehlten. Mag, wie Peter Szondi angemerkt hat, „streng genommen die Darstellung der Goethe-Schillerschen Erkenntnisse noch in die Prähistorie der idealistischen Poetik gehören“,15 weil jene ihr Zentrum in latent normativen Vorstellungen finden, so darf diese Einschätzung nicht den Blick auf die Bedeutung jener theoretischen Aspekte verstellen, die die von Goethe und Schiller entwickelten produktionstheoretischen Einsichten unter den Bedingungen der idealistischen Ästhetik und gleichsam auch neben ihr und gegen sie als bewußte Konzeptionen ausweisen, in denen sich Elemente einer neuen, modernen Lehre von der Dichtkunst ankündigen. Sie zielen auf jenen zentralen Punkt, den Schiller bereits in seinem Brief an Körner angesprochen hatte: Läßt sich der literarische Werkprozeß genauer beschreiben als mit den bisherigen begrifflichen Mitteln der philosophischen Tradition und daraus folgend: Was ereignet sich wirklich innerhalb seines Vollzugs? Für Schiller wird Humboldts Arbeit „Über Goethes Hermann und Dorothea“ zum Anlaß einer prinzipiellen Grenzziehung zwischen dem Philosophen und dem ausübenden Künstler. In einem Brief vom 27.6.1798 an den Verfasser wehrt er Humboldts Bitte um eine kategoriale Deduktion der Dichtungsarten und eine Formel der Kunst höflich, aber entschieden im Namen der Kunst selbst ab: „Der Gesichtspunkt den Sie genommen haben, um dem geheimnisvollen Gegenstand, denn das ist doch jedes dichterische Wirken, mit Begriffen beizukommen, ist der freieste und höchste, und für den Philosophen, der dieses Feld beherrschen will, ist er ohne Frage der geschickteste. Aber wegen dieser philosophischen Höhe ist er vielleicht auch dem ausübenden Künstler nicht bequem und nicht so fruchtbar, denn von da herab führt eigentlich kein Weg zu dem Gegenstande. Ich betrachte Ihre Arbeit mehr als eine Eroberung für die Philosophie als für die Kunst und will damit keinen Tadel verbunden haben. Es ist ja überhaupt noch die Frage, ob die Kunstphilosophie dem Künstler etwas zu sagen hat. Der Künstler braucht mehr empirische und spezifische Formeln, die eben für den Philosophen zu eng und zu unrein sind, dagegen dasjenige, was für diesen den gehörigen Gehalt hat und sich zum allgemeinen Gesetze qualifiziert, für den Künstler bei der Ausübung immer hohl und leer erscheinen wird. Ihre Schrift ist mir auch schon darum als ein beweisender Versuch merkwürdig, was der spekulative Geist dem Künstler und Poeten gegenüber eigentlich leisten kann. Denn was hier von Ihnen nicht geleistet worden ist, das kann auf diesem Weg überhaupt nicht geleistet noch gefordert werden. Sie haben den philosophisch-kritischen Verstand, insofern es Ihnen mehr um allgemeine Gesetze als um regulative Vorschriften, mehr um die Metaphysik als um die Physik der Kunst zu tun ist, auf das vollständigste, 15 Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie II, 43.
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ERFAHRUNG DES MACHENS würdigste und liberalste repräsentiert und nach meinem Gefühl das Geschäft geendigt.“ (NA 29, 244)
Metaphysik der Kunst versus Physik der Kunst – mit dieser Opposition hat Schiller der Philosphie der Kunst nicht ihr Recht bestreiten, wohl aber deutlich machen wollen, daß ihre Aussagen dem Künstler in seiner Praxis und im Hinblick auf Einsichten über ihren realen Verlauf kaum zu helfen vermögen. Die Metapher der Physik siedelt das in diesem Bereich der Kunst zu erwerbende Wissen strikt auf dem Feld der Erfahrung an und versteht Ausübung sowohl als praktische Anwendung von Erkenntnissen als auch als Vollzug ihrer Gewinnung. Und während Schiller gegenüber Körner eine Scham eingestanden hatte, weil er es nicht vermocht hatte, die Art seiner künstlerischen Erfahrung mit der philosophischen Theorie in Übereinstimmung zu bringen, kommt er im Brief an Humboldt auf seine Praxis zurück, um nun selbstbewußt die Ansprüche der Philosophie im Namen einer neuen Poetik zurückzuweisen, ohne daß er zu sagen vermöchte, wie man sich diese im Einzelnen vorzustellen habe: „Sie müssen sich nicht wundern lieber Freund, wenn ich mir die Wissenschaft und die Kunst jetzt in einer größern Entfernung und Entgegensetzung denke, als ich vor einigen Jahren vielleicht geneigt gewesen bin. Meine ganze Tätigkeit hat sich gerade jetzt der Ausübung zugewendet; ich erfahre täglich, wie wenig der Poet durch allgemeine, reine Begriffe bei der Ausübung gefördert wird, und alles wäre in dieser Stimmung zuweilen unphilosophisch genug, alles, was ich selbst und andere, von der Elementarästhetik wissen, für einen einzigen Kunstgriff des Handwerks hinzugeben.“ (NA 29, 245)
Worin er einen dieser Kunstgriffe zu sehen begonnen hatte, zeigt ein zwölf Tage zuvor geschriebener Brief an Körner. Hatte Goethe ihm am 12. Mai 1798 von dem „sich selbst machen der Ausführung“ geschrieben, so teilt Schiller Körner einen Monat später über seine Arbeit am „Wallenstein“ mit: „Gerade jetzt scheint sich die Arbeit noch zu erweitern; denn je weiter man in der Ausführung kommt, desto klarer werden die Forderungen, die der Gegenstand macht, und die Lücken werden sichtbar, die man vorher nicht ahnen konnte.“ (NA 29, 242) Erinnert man sich der im letzten der „Kallias-Briefe“ entwickelten These, daß der Dichter die ganze Objektivität des darzustellenden Gegenstandes wahr, rein und vollständig in seiner Einbildungskraft vor seiner Seele haben müsse, dann wird deutlich, welchen Weg Schiller zurückgelegt hatte, wenngleich er ihn, selbst an der Seite Goethes, überhaupt nur bewältigen konnte, weil er von Anfang an eine Perspektive der Selbstbeobachtung gewonnen hatte. Das Bewußtsein vom Prozeßcharakter der Herstellung
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und der Phasen seines Verlaufs, die den Schaffensvorgang zu einer Folge von unerwarteten Ereignissen machen, die neue Probleme und unverhoffte Lösungen mit sich bringen, anders gesagt, die Erkenntnis von der Logik der Ausführung, der sich der Künstler anheimzugeben hat, wie immer er den Status des ihrem Beginn vorausliegenden Entwurfs oder Konzepts beurteilen mag, hat Schiller die Perspektive auf eine neue Poetik eröffnet.16 Wie schwierig es für die Zeitgenossen war, diese Vorstellungen nachzuvollziehen, zeigt Humboldts Antwort auf Schillers mit der Kritik an seiner Schrift „Über Hermann und Dorothea“ verbundenen grundsätzlichen Bemerkungen zur Philosophie der Kunst. Nicht daß er Schillers Ausführungen nicht respektiert, dafür ist seine Wertschätzung des Dichters viel zu groß, aber er verhehlt nicht, daß er nicht recht weiß, wovon eigentlich die Rede ist: „Ihr Brief hat mir erstaunlich deutlich gemacht, daß es außer der philosophischen Theorie der Kunst noch eine eigentlich technische gibt, und ich bin auf das, was sie hierüber mit Goethe abgemacht haben, unendlich begierig. Da ich nie selbst ausgeübt, so habe ich, wie ich frei gestehe, von diesem Teil keinen Begriff, und ich wüßte nicht eine einzige Regel, viel weniger eine Art System derselben anzugeben, die, wie Sie es nennen, ein Kunstgriff des Handwerks heißen dürfte. Schon ein paar Beispiele wären vielleicht genug, mich in ein ganz neues Feld zu versetzen.“17
Humboldt bleibt der Sinn von Schillers Äußerungen verschlossen; die Beispiele, um die er bittet, wird er nicht bekommen. Dennoch hat er mit seiner Vermutung recht, es müsse sich um eine Art von neuer technischer Theorie handeln, jedenfalls um eine, die über bloße Regelkenntnis im Verständnis der traditionellen Poetik hinausweist. Nur vermag er sich keine ausreichende Vorstellung davon zu machen. Wie sehr ihn Schillers Anliegen jedoch beschäftigt, mehr noch, welche Bedeutung der Produktionsfrage zuzumessen beginnt zeigt die Einleitung seiner „Aesthetischen Versuche“ von 1799. Darin macht er die Forderung des Freundes
16 Zu Schillers Entfernung von den Voraussetzungen der Geniesästhetik vgl. Benno von Wiese, Friedrich Schiller. 3.Aufl. Suttgart 1963, 433–434. Von Wiese hebt im Hinblick auf das Problem des künstlerischen Schaffens hervor: „Schiller ist noch moderner als Goethe, bereits Vorbereiter von Theorien, die später bei Thomas Mann und Paul Valéry zum Durchbruch gelangen.“ (433) Das ist bei von Wiese freilich eher eine richtige Ahnung als ein ausgewiesenes Urteil, da es für die Begründung dieses Zusammenhangs nicht ausreichend ist, lediglich auf das betont reflexive Verhalten Schillers zu seinen Erlebnissen, das ihnen des Charakter des „Stoffartigen“ verleiht, zu verweisen. 17 Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. Bd. II. Hg. v. Siegfried Seidel, Berlin 1962, 177.
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öffentlich und erklärt ihre Einlösung zu einer Sache, deren sich sowohl die Kunst selbst als auch die Ästhetik in Zukunft annehmen müsse. Für den Künstler, so Humboldt, sei die Ästhetik nur von begrenztem Wert: „Der Künstler kann sie nur gebrauchen, sich überhaupt zu stimmen, sich, wenn er sich gewisse Zeit hindurch seinem Genie überlassen hat, wieder zu orientieren, den Punkt zu bestimmen, auf dem er steht und wohin er gelangen sollte. Über den Weg aber, der ihn zum Ziele führt, kann ihm nicht mehr sie, sondern allein seine eigene und fremde Erfahrung Rath erteilen. Zwar wird ihm auch diese immer wieder nur einzelne Bruchstücke zu liefern im Stande seyn, abgerissene Regeln, denen es nicht nur an Vollständigkeit, sondern auch an Allgemeingültigkeit fehlt. Dessenungeachtet wäre es nicht minder wichtig, dieselben zu sammeln und zu ordnen, und jeder, welchem sein Talent die Bahn zur Kunst mit entschiedenem Erfolge zu wandeln erlaubt, sollte sorgfältig aufzeichnen, was er auf derselben an sich selbst bewährt gefunden hat. Es würde dadurch nicht bloss der Kunst, sondern auch der Philosophie ein wesentlicher Dienst geleistet. Denn der Ästhetiker benutzt diese poetischen Geständnisse eben so als der Psycholog die moralischen, und freut sich, die Künstlernatur, die er sonst nur mit Mühe aus ihren Werken ahndet, nun durch unmittelbare Anschauung zu erkennen.“18
Was der junge Goethe bereits 1772 in seiner Sulzer-Rezension zum Nutzen seiner künstlerischen Selbstbildung angemahnt hatte, erhebt Humboldt nun zu einem kunsttheoretischen Desiderat von allgemeinem Interesse. Seine programmatische Forderung nach einer neuen, empirischen Poetik korrespondiert mit der methodischen Einsicht, daß zu ihrer Ausbildung eine entsprechende Bereitschaft auf Seiten der Schriftsteller nötig ist und Dokumente dieser Art systematisch gesammelt werden müssen. So sehr es für die Künstler darauf ankommt, durch Aufzeichnungen zur Werkentstehung deutlich zu machen, was daran über das Wesen literarischer Produktion erkannt und als empirisches Wissen gesichert werden kann, so wichtig ist es für die literarische Öffentlichkeit, daß die „Gleichnisse“ und „poetischen Geständnisse“ ein Höchstmaß an Anschaulichkeit auszeichnet, die das Publikum in die Lage versetzt zu verstehen, worin die neue Fragestellung der Dichtkunst überhaupt besteht. Goethe hatte sich mit Beispielen der geforderten Art sehr zurückhaltend gezeigt, Schiller ebenso. Woher sie also nehmen?
18 Wilhelm von Humboldts Werke. Hg. v. Albert Leitzmann, 2. Bd. 1796–1799, Berlin 1904, (Photomechanischer Nachdruck Berlin 1968), 120.
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Krieg gegen Schelling Das veränderte Verständnis von Ausführung hatte Schiller erlaubt, im Zeichen dieses Begriffs stillschweigend seinen Frieden mit der Materie zu machen. Die Willkür des idealistischen Subjekts will er nun durch eine von Offenheit bestimmte Haltung des Künstlers ersetzt wissen, die sich auf die Herausforderungen einläßt, die im Prozeß der Arbeit an ihn herangetragen werden. Nicht daß Schiller damit auch seinen inneren Frieden gefunden hätte, als Abtrünniger die Entwicklung der idealistischen Kunstphilosophie mit kritischer Aufmerksamkeit begleitend, fühlt er sich schon bald zum Kampf gegen einen neuen Gegner herausgefordert, wie er Goethe in einem Brief vom 27.3.1801 mit dem ihm eigenen rhetorischen Elan mitteilt: „Erst vor ein paar Tagen habe ich Schelling den Krieg gemacht.“ (G/S, 48) In seinem im Jahr 18oo erschienenen „System des transzendentalen Idealismus“ hatte Schelling zu deduzieren versucht, „daß die Kunst das einzig wahre und ewige Organon zugleich Document der Philosophie sei, welches immer und fortwährend aufs neue beurkundet, was die Philosophie nicht äußerlich darstellen kann, nämlich das Bewußtlose im Handeln und Producieren und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten.“19 Während menschliche Werke allgemein als Produkt bewußter Tätigkeit, die der Natur hingegen als Ergebnis eines bewußtlos verlaufenden Prozesses anzusehen sein, verkörpere das Kunstwerk die höchste in der Wirklichkeit anzutreffende Stufe der Hervorbringung, insofern in Gestalt einer „prästabiliserten Harmonie zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen“20 das Absolute zur Anschauung gelange, das die Philosophie im Rahmen ihrer Möglichkeiten immer nur als Identität des zuvor mit den Mitteln des Begriffs getrennten erörtern könne. Die Logik seiner kunstphilosophischen Argumentation soll erweisen, daß die mit begrifflichen Mitteln nur zu konstruierende Identität von Freiheit und Notwendigkeit, Bewußtem und Bewußtlosem in Gestalt des Kunstwerks angeschaut werden kann, dessen Unbegreiflichkeit der Entstehung nur mit dem „dunklen Begriff des Genies bezeichnet“21 werden kann. Diese nur dem Kunstwerk eigene Qualität sucht Schelling dennoch genauer aus den Bedingungen der Werkgenese abzuleiten und sieht sich damit auf das Problem der Schaffens verwiesen.22 Schelling setzt voraus, daß im Bereich der Kunst „das Ich in der Tätigkeit, von welcher hier die
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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften von 1799–1801, 627. A.a.o., 615. A.a.o., 616. Vgl. dazu Peter Szondi, Schellings Gattungspoetik, in: Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie II, 204–221.
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Rede ist, mit Bewußtsein anfangen muß“23, dieses jedoch im Prozeß der ästhetischen Produktion mit Kräften konfrontiert wird, die es nicht kontrollieren kann: „Denn so wie der Künstler unwillkürlich und selbst mit inneren Widerstreben zur Produktion getrieben wird (daher bei den Alten die Aussprüche; pati Deum usw., daher überhaupt die Vorstellung von Begeisterung durch fremden Anhauch), ebenso kommt auch das Objektive zu seiner Produktion gleichsam ohne sein Zutun, d.h. selbst bloß objektiv hinzu. Ebenso wie der verhängnisvolle Mensch nicht vollführt, was er will oder beabsichtigt, sondern was er durch ein unbegreifliches Schicksal, unter dessen Einwirkung er steht, vollführen muß, so scheint der Künstler, so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung dessen, was eigentlich das Objektive in seiner Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer Macht zu stehen, die ihn von anderen Menschen absondert und ihn Dinge auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht vollständig durchsieht und deren Sinn unendlich ist.“24
Tritt er der Gestalt seines abgeschlossenen Werkes gegenüber, sind, gleichsam hinter seinem Rücken, alle Probleme, die ihn beim Herstellungsprozeß bedrängt haben, überwunden: „Das Gefühl, was jene Anschauung begleitet, wird das Gefühl einer unendlichen Befriedigung sein. Aller Trieb zu produzieren steht mit der Vollendung des Produkts stille, alle Widersprüche sind aufgelöst, alle Rätsel gelöst.“25 Der Sache nach ist diese Konzeption des künstlerischen Schaffensprozesses nicht weit von dem entfernt, was auch Schiller als Besonderheit der Ausführung zu beschreiben versucht hatte. Wenn Schelling davon spricht, daß der Künstler während der Arbeit unter der Einwirkung einer Macht zu stehen scheint, die ihn Dinge tun läßt, die er nicht geplant hatte, und bei Schelling produktionstheoretische Aspekte stets auf den metaphysischen Rang des Werkes als Offenbarung des Absoluten bezogen und dessen Genese seiner philosophisch begründeten Wahrheitsfunktion untergeordnet bleiben, berührt sich diese Einsicht in die Eigenlogik des Schaffensprozesses doch auf engste mit dem, was Schiller über die Vorteile der Ausführung in Erfahrung gebracht hatte. 23 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften von 1799–1801, 613. 24 A.a.o., 617. Szondi hat auf die Analogie aufmerksam gemacht, die in Schellings Konzeption zwischen dem Helden in der Tragödie und dem Künstler besteht; beide sind in ihren Handlungen der Kraft einer fremdem Macht unterworfen, die das Schicksal des Helden ebenso wie das des zu realisierenden Werkes bestimmt. Vgl. Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie II, 220. 25 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften von 1799–1801, 615. Vgl. dazu Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1989, 66–174.
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Warum sieht sich Schiller dennoch zu einer Kriegserklärung genötigt? Seine Kritik enzündet sich nicht an den philosophischen Voraussetzungen. Er gesteht Schelling durchaus zu, daß es ihm „um den Gegensatz zwischen dem Natur- und dem Kunstprodukt zu tun ist, und insofern hat er ganz recht“ (G/S, 484) Dann bemüht er jedoch ein Pathos, das jenes neue spezifisch schriftstellerische Selbstbewußtsein erkennen läßt, das sich im Briefwechsel mit Humboldt angedeutet hatte. Den aus der Beobachtung der eigenen künstlerischen Praxis gewonnenen Erkenntnissen vertrauend, fühlt sich Schiller nun stark genug und berufen, die Deduktionen der idealistischen Ästhetik im Namen des ausübenden Künstlers in die Schranken zu weisen: „Ich fürchte aber, daß diese Herren Idealisten ihrer Ideen wegen allzu wenig Notiz von der Erfahrung nehmen, und in der Erfahrung fängt auch der Dichter mit dem Bewußtlosen an, ja er hat sich glücklich zu schätzen, wenn er durch das klarste Bewußtsein seiner Operationen nur so weit kommt, um die erste dunkle Totalidee seines Werkes in der vollendeten Arbeit wiederzufinden. Ohne eine solche dunkle, aber mächtige Totalidee, die allem Technischen vorausgeht, kann kein poetisches Werk entstehen, und die Poesie besteht eben darin, deucht mir, jenes Bewußtlose auszusprechen und mittteilen zu können, das heißt es in ein Objekt zu übertragen. Der Nichtpoet kann so gut wie der Dichter von einer poetischen Idee gerührt sein, aber er kann sie nicht in ein Objekt übertragen. Er kann sie nicht mit einem Anspruch auf Notwendigkeit darstellen. Ebenso kann der Nichtpoet so gut als der Dichter ein Produkt mit Bewußtsein und mit Notwendigkeit hervorbringen, aber ein solches Werk fängt nicht aus dem Bewußtlosen an und endigt nicht in demselben. Es bleibt nur ein Werk der Besonnenheit. Das Bewußtlose mit dem Besonnenen vereint, macht den poetischen Künstler aus.“ (G/S, 484)
Der letzte Satz, der so auch hätte bei Schelling stehen können, macht deutlich, daß nicht das Problem der Vermittlung von Bewußtem und Unbewußtem kontrovers war, sondern Schelling offensichtlich mit seiner Aussage, die Kunst beginne mit dem Bewußtsein, eine ungenaue Formulierung unterlaufen war, an der sich Schillers Kritik entzündete. Sie findet, wie Dieter Jähnig in seiner bedeutenden Schelling-Studie und den darin enthaltenen Anmerkungen zu dieser Kontroverse gezeigt hat, in Schellings Darlegungen keinen begründeten Anhaltspunkt.26 Die rhetori26 Siehe Dieter Jähnig, Schelling, Die Kunst in der Philosophie, 2 Bde, Pfullingen 1969, 167–172. „Der den Unterschied zur Natur bezeichnende Ausdruck ,Ausgang vom Bewußtsein’ ist für sich genommen allerdings mißverständlich, weil er den anderen Unterschied, den Unterschied des ,ästhetischen Werkes’ zum gemeinen Kunstprodukt’, dessen Entstehung ebenfalls vom Bewußtsein (von
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sche Energie, die Schiller darauf verwendet, erneut eine Kriegserklärung auszusprechen, hat vermutlich mehr damit zu tun, daß er sich hier einer Position gegenüberzusehen meinte, die er nur allzu genau kannte, da er sie zuvor selbst im Kontext seiner systematischen philosphischen Bemühungen zu Beginn der neunziger Jahre vertreten hatte. Es scheint so, als bekämpfe Schiller hier seine eigene das Verhältnis von Anfang und Ende der künstlerischen Produktion betreffende frühere Produktionsvorstellung. Schiller unterstellt Schelling, daß der Satz, Kunst beginne mit Bewußtsein, nur bedeuten könne, was er zuvor darunter verstanden hatte, nämlich, daß der Kunstprozeß damit beginne, daß die Idee des vollständigen Werkes rein vor dem inneren Auge des Künstlers stehe. Gegen diese Vorstellung macht Schiller nun die Summe seiner Erfahrungen mit dem Prozeßcharakter der Ausführung geltend und resümiert sie in der These, der Künstler könne von Glück reden, wenn das fertige Werk noch eine erkennbare Gemeinsamkeit mit der ersten Konzeption aufweise. Der Begriff „dunkle Totalidee“, den Schiller einführt, um zu beschreiben, was Anfang und Ende des Werkprozesses verbindet, ist allerdings wenig glücklich gewählt und verdankt sich wohl erneut einem von fragwürdigem philosophischen Ehrgeiz motivierten Impuls, einen Begriff für die eigene Produktionsvorstellung zu entwickeln, der theoretischen Ansprüchen standhält. Deutlich ist, was er leisten soll. Da dem Werk eine dem Künstler selbst noch unklare Vorstellung vorausgeht, die im Sinne einer in vielerlei Richtungen offenen formalen Potentialität zu verstehen ist, verwendet Schiller das Adjektiv „dunkel“. Insofern Schiller aber das Unbewußte der ersten Vorstellung gegenüber dem Schellingschen Begriff des Bewußten aufwerten muß, sieht er sich genötigt, dafür einen bedeutungsstarken Begriff in Anspruch zu nehmen. Da ihm der Begriff der Idee nicht ausreichend erscheint, bildet er in Gestalt der „Totalidee“ ein neues Kompositum, ein in sich widersprüchlicher Begriff allerdings, da Idee sich im platonischen Sinne ja gerade durch ihre Klarheit auszeicht. Daß Schiller für seine Kritik vor allem die Legitimation des ausübenden Künstlers in Anspruch nimmt, zeigt der letzte Einwand gegen Schellings Deduktionen, indem Schiller darauf insistiert, daß jeder künstlerische Ideen haben kann, aber nur der Künstler ist, der sie auszudrücken versteht. Schiller war aufgrund seiner Schreiberfahrungen als Schriftsteller offensichtlich so sehr von der Irrigkeit seiner idealistischen Vorstellungen in Fragen des Schaffens überzeugt, daß er es sich nun nicht nehmen lassen wollte, einen Krieg gegen die Philosophie zu gewinnen, wobei der Gedanke an einen spektakulären Sieg, zumal über Schelling, in ihm den Gedanken nicht hat aufkommen lassen, in dieser Sache möglicherweise einem Widerspruch) ausgeht, noch nicht bezeichnet.“ Dieter Jähnig, 2. Bd., Die Wahrheitsfunktion der Kunst, 169.
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einem Mißverständnis aufzusitzen und dem idealistischen Philosophen eine Position zu unterstellen, die dieser gar nicht vertreten hatte. Man darf nicht ganz außer acht lassen, daß Goethe der Adressat von Schillers Kriegsgeschrei gegen Schelling war, aber der verehrte Freund, den philosophische Kontroversen in der Regel langweilten, antwortet mit einem kurzen „Glaubensbekenntnis“ (G/S, 486) und rekurriert dabei auf eine Kategorie, die ihm wohl ebenso dem Status des theoretischen Disputs angemessen wie als Parteinahme für den Freund zureichend erschien, aber zur Erklärung der von Schiller verhandelten Sache wenig beiträgt: „Was die Fragen betrifft, die ihr letzter Brief enthält, bin ich nicht allein Ihrer Meinung, sondern ich gehe noch weiter. Ich glaube, daß alles, was das Genie als Genie tut, unbewußt geschehe. Der Mensch von Genie kann auch verständig handeln, nach gepflogner Überlegung aus Überzeugung; das geschieht aber alles nur so nebenher. Kein Werk des Genies kann durch Reflexion und ihre nächsten Folgen verbessert, von seinen Fehlern befreit werden; aber das Genie kann sich durch Reflexion und Tat nach und nach dergestalt hinaufheben, daß es endlich musterhafte Werke hervorbringt. Je mehr das Jahrhundert Genie hat, desto mehr ist der Einzelne gefordert.“ (G/S, 485)
Schiller hatte bereits am 3.2.1794 in einem Brief an Körner bemerkt: „Es wird mir gar schwer, über den Begriff des Genies mit mir einig zu werden“ und als Grund dafür angegeben, daß die von Erfahrung ausgehende Beschreibung und Sammlung der Regeln, die sich am Werk des Genies feststellen ließen, „lediglich die eingeschränkte Autorität empirischer Wissenschaft“ geltend machen könne, damit aber nicht der transzendentalen Begründung der „Erzeugung des Originalschönen durch das Genie“ (NA 26, 343) genüge. Während der Begriff des Genies mit der Abwendung von seinen philosophischen Plänen für Schiller vollends an Bedeutung verliert, vermag Goethe, an transzendentalen Deduktionen ohnehin nur mäßig interessiert, den Begriff weitgehend unbefangen zu verwenden, zumal die von ihm dem Genie zugestandene Lernfähigkeit nicht im Widerspruch zu seiner von Anfang an den Fragen der Praxis und der Ausbildung des künstlerischen Vermögens zugewandten Haltung steht, sondern mit ihr durchaus in Einklang zu bringen ist, insofern der Begriff des Genies für alles am Kunstprozeß Unerklärliche einsteht. Woran Goethe im Gegensatz zu Schiller aber vor allem festhält, ist die Unantastbarkeit des abgeschlossenen Werkes. So nüchtern er den Charakter des Arbeitsprozesses beschrieben hatte, das beendete Werk soll seiner Logik entzogen bleiben, keine Kritik mehr zulassen, metaphysisch ganz im Licht der Genialität des Künstlers glänzen. Er legt wert darauf, wie er es
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ERFAHRUNG DES MACHENS
Schiller bereits früher mitgeteilt hatte, „ein Geheimnis daraus zu machen“ und folgerichtig nicht nur die Spuren den Blicken anderer zu entziehen, sondern nach Möglichkeit ganz zu löschen. Das Werk selbst markiert für Goethe die Grenze innerhalb des schriftstellerischen Austausches über Probleme der Hervorbringung; der technische Diskurs insgesamt hat für ihn einen internen Charakter, soll auf die Sphäre der Künstler beschränkt und der Öffentlichkeit weitgehend entzogen bleiben. Schiller war an diesem Punkt nicht so sicher. Der Zustand vieler Manuskripte und der Vergleich der Druckfassungen läßt die Folgen des Einflusses der öffentlichen und privaten Kritik auf seine Arbeit deutlich erkennen. Zudem aufgrund seiner rhetorischen Disposition auf öffentliche Wirkung bedacht und Debatten als Schauplatz eines geeigneten Auftritts eher herausfordernd, hätte er vermutlich jene Einsichten „in die Operation des Geistes, (gleichsam eine Philosophie des Geschäftes)“ (G/S, 311), die er als Goethes große Leistung ansah und für sich selbst gewinnbringend hatte nutzen können, zum strategischen Ausgangspunkt seiner Kontroverse mit Schelling machen können. Daß es nur zur Erklärung des Kriegs, nicht aber zu diesem selbst gekommen ist, mag mit Goethes verhaltener Reaktion, einer internen Verständigung mit Schelling oder aber mit grundsätzlich anderen bislang unbekannten Gründen zusammenhängen.27 Es bleibt also offen, ob hier, so wie im Krieg gegen die Materie, ebenfalls ein Friedensschluß in Sicht war, jedenfalls hatte Schiller es nicht unterlassen, zur gleichen Zeit eine andere Nebenfront zu eröffnen. Gegner diesmal: die Romantiker: „Guerre ouverte/Lange neckt ihr uns schon, doch immer heimisch und tückisch/Krieg verlangt ihr ja, führt ihn nun offen, den Krieg.“ (F I, 262)
27 Über mögliche Reaktionen auf beiden Seiten stellt Jähnig folgende Vermutung an: „Man erfährt aus Schillers Brief nicht, was Schelling auf die ,Kriegserklärung’ erwidert hat; entweder hat er dem Bekenntnis des verehrten Dichters mit Freude zugestimmt, das Mißverständnis seiner eigenen Formulierung damit stillschweigend korrigierend; oder aber der Mann der Praxis war – bei aller Sympathie – von der Gewaltsamkeit in künstlerischen Fragen viel zu tief überzeugt, als daß er sich durch eine mündliche Entgegnung den buchstäblichen Beweis für diese Überzeugung wieder hätte rauben lassen wollen – zumal ja Schelling auch an Schillers Bewunderung des Transzendentalsystems nicht zu zweifeln brauchte.“ Dieter Jähnig, Schelling, Bd. 2, 169.
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VII. P O E T I S C H E P O ET I K
DER
FRÜHROMANTIK
Schiller gelangt dort zu produktionstheoretischen Erkenntnissen, wo es ihm gelingt, die Neigung zur philosophischen Spekulation zurückzustellen und als Schriftsteller seine theoretische Neugierde auf den Prozeß der eigenen literarischen Arbeit zu richten. Indem er seine eigenen Schreiberfahrungen ernstnimmt und zum Gegenstand der Reflexion macht, erschließen sich ihm Einsichten, die einen Fortschritt auf dem Weg zu einer neuer Poetik markieren. Ihn beschreiten, ebenfalls im Zeichen der Transzendentalphilosophie und zunächst maßgeblich von Schillers Abhandlungen beeinflußt, auch die Autoren der Frühromantik, allen voran Friedrich Schlegel.1 Seine erstmals 1935 von Josef Körner aus dem Nachlaß veröffentlichten philosophischen Schriften zeigen, daß er zunächst wie Schiller eine Ästhetik anstrebt, die ein objektiver Begriff des Schönen fundieren soll. Im Gegensatz zu Schiller wird sie bei ihm von vornherein als Literaturästhetik konzipiert. Ihre in dem Entwurf „Von der Schönheit der Dichtkunst“ skizzierte Tektonik verdeutlicht, daß Schlegel, neben der Kritik und einer als Gattungstheorie vestandenen Poetik, der Technik einen zentralen Ort zuweist: „Die Technik enthielte die Lehre von der Kunst überhaupt; die Gesetze, so aus dem Begriff folgen; die Lehre von den Arten der Kunst: der schönen, angenehmen und philosophischen Kunst. Ihre Verhältnisse zum Schönen.“2 Der Sache nach ist damit nichts anderes gemeint, als das Bemühen, unter den Bedingungen der philosophischen Ästhetik das Herstellungsproblem zumindest auf der Höhe des Problembewußtseins der traditionellen ars-Konzeption zu berücksichtigen. Das ist auch daran erkennbar, daß die Kritik, „die entweder vor der Technik oder nach derselben kommen [...] und eine sichere objektive Methode oder Regel und Norm der Anwendung der objektiven Gesetze der Ästhetik auf einzelne Fälle“3 suchen müßte, ganz der Tradition entsprechend an der Vorstellung festhält, es sei Aufgabe der Kunstkritik zu
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Vgl. Josef Körner, Romantiker und Klassiker, Die Brüder Schlegel in ihren Beziehungen zu Schiller und Goethe, Berlin 1924, 11–56. Friedrich Schlegel, Neue philosophische Schriften. Hg. v. Josef Körner, Frankfurt a.M. 1935, 378. A.a.o., 378.
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überprüfen, ob die im Begriff der Kunst vorgegebenen Ausführungsregeln im einzelnen Werk korrekt angewendet worden sind. Dennoch lassen die Notizen zu einzelnen Begriffen, die er in der Ästhetik behandelt wissen will, seine Schwierigkeiten erkennen, zu einer umfassenden Konzeption zu gelangen, die den Kriterien philosophischer Systematik genügt. Dies tritt vor allem an einem zentralen Begriff hervor, mit dem bereits Schiller die größten Schwierigkeiten gehabt hatte. Auch Schlegel tut sich schwer, den Begriff des Genies zu bestimmen: „Das Genie ist zusammengesetzt aus dem Vermögen des Schönen und dem Vermögen der Kunst. Die Lehre von demselben könnte also auch in der Technik vorgetragen werden. Die Lehre vom Genie, Geschmack und vom Kriterium des Schönen könnte gleichsam den Übergang, das Mittel zwischen der Lehre vom Schönen und der Lehre von der Kunst, ausmachen“.4 Während der Anfang dieser Notiz noch scheinbar beiläufig die beiden wesentlichen Bestimmungen des Genies resümiert, signalisiert der folgende Satz eine weitreichende Akzentverschiebung. Wenn der Begriff des Genies angesichts des von ihm bezeichneten künstlerischen Vermögens auch in der „Technik“ behandelt werden kann, die Lehre vom Genie also logisch den Übergang von der Theorie des Schönen zu der der Kunst ermöglichen soll, dann muß der Begriff, auf diese Weise stärker auf die Sphäre der künstlerischen Praxis als auf die der Ideen bezogen, jedenfalls anders verstanden werden als in der bisherigen Genieästhetik. Hatte diese die Bewußtlosigkeit der genialen Ausführung hervorgehoben, die ihre Grenze lediglich in den auch vom Genie zu berücksichtigenden durch Materialbeschaffenheit bedingte mechanischen Notwendigkeiten gefunden hatte, so kann Friedrich Schlegels Begriff keinesfalls diese Qualität bezeichnen, denn dann könnte er aus logischen Gründen nicht dem Bereich der Technik zugewiesen werden. Wenn er aber diesem, wie von Schlegel erwogen, entsprechen soll, dann muß seine Semantik in jedem Fall über bloße Regelanwendung hinausgehen, sonst wäre geniales Produzieren nur perfekte Mechanik. Schlegel faßt also eine Vorstellung künstlerischer Praxis ins Auge, die, verstanden als ‚geniales Produzieren’, jedoch weder die Unwissenheit, die der traditionelle Begriff mit der Tätigkeit des Genies verbunden hatte, fortschreiben noch die Bedeutung des Wissens für den Kunstprozeß auf bloße Regelkenntnis verengen soll. Die Frage nach der Rolle des Bewußtseins im künstlerischen Arbeitsprozeß wird damit neu gestellt, offen bleibt nur, ob der Begriff des Genies letztlich dafür geeignet ist und daran festgehalten werden kann, zumal sich zeigt, daß der Begriff Technik bei Schlegel wie bei Schiller eine sehr individuelle Bedeutung hat, die den Kern der Produktionsproblematik letztlich nicht berührt. 4
A.a.o., 379.
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In seinem Aufsatz „Über das Studium der griechischen Poesie“ greift Friedrich Schlegel auf diesen Zusammenhang zurück, indem er am Beispiel der darstellenden Kunst demonstriert, daß es „zwei absolute technische Gesetze“5 gebe: „Die Bestandteile der darstellenden Kunst sind Versinnlichung des Allgemeinen und Nachahmung des Einzelnen.“6. Neben diese als unwandelbar verstandene Bestimmung tritt ein zweites Gesetz, das sich auf das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen in der Darstellung bezieht. „Das Ziel der darstellenden Künste ist das Unbedingte; das Einzelne darf nicht selbst Zweck sein.“7 Wenn Schlegel in der Anwendung dieser Gesetze „die technische Richtigkeit“8 eines Werkes gesichert sehen will, die selbst „im Kollisionsfall die Schönheit zwar nicht beschränken, aber doch einschränken darf“9, so ist damit die Geltung bestimmter Gestaltungsregeln gemeint, deren Einhaltung die „Objektivität“ der Kunst gegenüber Subjektivität und Manierismus gewährleisten soll. Technische Richtigkeit besagt in Friedrich Schlegels Konzeption, „daß das Kunstwerk nicht ‚an die Gesetze der Wirklichkeit’ gefesselt sei, vielmehr vordringlich ‚durch Gesetze innerer Möglichkeit’ gebunden werde. Eben deshalb will Schlegel dieses Gesetz nicht als Gesetz der Wahrheit bezeichnen – dieses Wort, sagt er, erinnere ihn zu sehr an die ,Gesetze der Wirklichkeit’ und die ,Kopistentreue sklavischer Künstler’, welche nur das einzelne nachahmen.’“10 Sein Begriff der Technik ist in diesem Zusammenhang also vor allem darauf angelegt, die Autonomie ästhetischer Gestaltung, die Priorität des ihr immanenten Formzwangs gegenüber der bloßen Reproduktion empirischer Wirklichkeit zu verteidigen. Konkreter als diese Bestimmungen sind seine Ausführungen zum Gegenstandsbereich der Poetik, die seine intendierte Theorie des Schönen abschließen soll: „Die Poetik endlich beschäftigte sich mit der Lehre von dem Unterschiede der Künste überhaupt, von dem eigentümlichen Charakter der Poesie, von ihren Arten der dramatischen, lyrischen, epischen Poesie. Vom tragischen und vom komischen. Von ihrem Stoff; Sitten und Leidenschaften. Von ihren Organen, der Fantasie und der Sprache. Von ihrer Verbindung mit andern Künsten,
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Friedrich Schlegel, Schriften zur Literatur. Hg. v. Wolfdietrich Rasch, München 1972, 144. 6 A.a.o., 144. 7 A.a.o., 144. 8 A.a.o., 144 . 9 A.a.o., 145. 10 Franz Norbert Mennemeier, Friedrich Schlegels Poesiebegriff. Dargestellt anhand der literaturkritischen Schriften, München 1971, 86; zum Begriff der absoluten technischen Gesetze bei Schlegel siehe vor allem 83–88.
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ERFAHRUNG DES MACHENS mit Musik, Orchestrik oder Mimik. Von den Bedingungen ihrer Bildung oder Philosophie der Kunstgeschichte der Poesie.“11
Angesichts der Ende der neunziger Jahre von Friedrich Schlegel in den Athenäums-Fragmenten entworfenen Vorstellung einer Philosophie und Dichtung in sich vereinigenden progessiven Universalpoesie, die auf der Basis des transzendentalen Erkenntnisbegriffs „alles Gedichtete und Gebildete zu einer Gesamtanschauung des Universums zusammenfassen und ein Bewußtsein von der Unendlichkeit der menschlichen Welt erwecken“12 soll, wird dem Projekt einer neuen sich ihrer Besonderheit als Lehre von den sprachlichen Kunstwerken vergewissernden Poetik zwar weiterhin ein Ort innerhalb der Philosophie zugewiesen, sie soll aber, bei aller Anerkennung der Notwendigkeit einer weiteren Ausbildung der transzendentalen Systematik, darin als Gegenstandsbereich mit größerer Eigenständigkeit begriffen werden: „Folgendes scheinen nächst der vollendeten Darstellung des kritischen Idealismus, die immer das erste bleibt, die wichtigsten Desiderata der Philosophie zu sein: eine materiale Logik, eine poetische Poetik, eine positive Politik, eine systematische Ethik und eine praktische Historie.“13 Während für Goethe und Schiller die Reflexionen über den künstlerischen Schaffensprozeß den Werkprozeß begleiten und auf der Ebene einer Verständigung in praktischen Fragen angesiedelt sind, in jedem Fall hinter dem Werk zurücktreten, markiert Schlegels Desiderat einer „poetischen Poetik“ nicht nur den Anspruch einer theoretischer Systematik, die sich gleichermaßen auf die Erkenntnis des Werks in seiner Formbestimmtheit als auf die Beschaffenheit seines Herstellungsprozesses bezieht. Als Voraussetzung für das Projekt einer poetischen Poetik als Form eines neuen Wissens wird eine kritische Auseinandersetzung mit den überlieferten Vorstellungen zum Problem des literarischen Schaffens und, um den Begriff der Kunst zu begründen, eine radikale Hinwendung zu den Kunstwerken selbst gesehen: „Alles von Musen pp ist abgenutzt für Kunstsymbolik – sie muß ganz von den Künsten selbst hergenommen werden.“14 Ins Zentrum der frühromantischen Kunsttheorie rückt, wie Walter Benjamin gezeigt hat, die „objektive Struktur der Kunst – als Idee und ihrer Gebilde – als Werke“ (GS I.1., 13)15 Als systematisch faßbare, 11 Friedrich Schlegel, Neue philosophische Schriften, 378. 12 Ernst Behler, Friedrich Schlegels Theorie der Universalpoesie, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 1957, 216. 13 Friedrich Schlegel, Schriften zur Literatur, 28. 14 Friedrich Schlegel, Literary Notebooks. Hg. u. eingeleitet v. Hans Eichner, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980, 191. 15 Zur romantischen Theorie poetologischer Reflexion vgl. Winfried Mennighaus, Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a.M. 1987. Zur romantischen
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wenngleich im Kontext seiner Fragestellung nicht zu berücksichtigende Elemente frühromantischer Kunstreflexion hat Benjamin aber auch „die Theorien vom künstlerischen Bewußtsein und vom künstlerischen Schaffen“ (GS I.1, 13) ausgewiesen und dabei auf die methodischen Schwierigkeiten verwiesen, die jede Erörterung frühromantischer Ästhetik16 mit sich bringt. Sie bestehen darin, daß die enge Gemeinschaft der Brüder Schlegel mit Novalis eine „Untersuchung der wechselseitigen Einflüsse größtenteils unmöglich“ (GS I.1., 15) macht, und die frühromantische Reflexion häufig das Bewußtsein einer Sache erkennen läßt, ohne bereits über einen Begriff von ihr zu verfügen, so daß die historische Darstellung gehalten ist, sich an die Interpretation jener Fragmente, Skizzen, Entwürfe und Einwürfe zu halten, in denen, exemplarisch im Werk Friedrich Schlegels, „Formulierungen von glücklicher Schärfe gelungen [sind], in deren Paradoxie sich sein und seiner Zeitgenossen kühnes Wollen spiegelt“.17 Die besonderen Schwierigkeiten einer Poetik der ästhetischen Produktion bestehen darin, daß sie gleichermaßen innerhalb der philosophischen Ästhetik wie gegen sie gewonnen werden soll. Bei aller erklärten Nähe zu Schelling und Fichte18 – der junge Friedrich Schlegel beendet seinen epochalen Aufsatz über „Das Studium der griechischen Poesie“ mit einem Lob auf Lessings Formbewußtsein und einer scharfen Kritik an dem, was die Philosophie über die Kunst zu sagen hat: „Was ihr in den philosophischen Büchern von der Kunst und von der Form ge-
Theorie poetologischer Reflexion vgl. Winfried Mennighaus, Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a.M. 1987. 16 Zur Suspendierung transzendentaler Grundsätze bei Friedrich Schlegel, die sein absoluter Selbstdurchsichtigkeit entzogener Begriff der Poesie als in die Zukunft vollständig offenes Projekt zur Folge hat, siehe: Werner Hamacher, Der ausgesetzte Satz. Friedrich Schlegels poetologische Umsetzung von Fichtes absolutem Grundsatz. In: Werner Hamacher, Entferntes Verstehen. Studien zur Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a.M. 1998, 215–217. 17 Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, 1.Teil. Fichte, Schelling, und die Romantik, Berlin/Leipzig 1923, 199. Auch Blumenberg hebt diesen Aspekt hervor: „Schlegel, der gewiß kein bedeutender spekulativer Systematiker war, ist voller Gespür für den untergründigen Lebensstrom seiner Zeit, und hinsichtlich dieser Fähigkeit, stehen uns an ihm noch Entdeckungen bevor.“ Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1998, 84. 18 Die zeitgenössischen Meisterdenker des absoluten Idealismus hatten größere Schwierigkeiten, sich über die Bedeutung der Gebrüder Schlegel und ihre theoretischen Anstrengungen klar zu werden. Vgl. den Briefwechsel zwischen Fichte und Schelling in den Jahren um 1800. Trotz aller Vorbehalte konstatiert Fichte: „Diese Schlegels, wovon der älteste wegen seiner mannigfaltigen Kenntnisse, und seiner bespiellosen Gewandheit in der Sprache Achtung verdient; übringens aber [...] der jüngere Tiefe, Innigkeit, Fülle genug, aber eine hartnäckige Unverständlichkeit.“ Fichte–Schelling, Briefwechsel. Mit einer Einleitung von Walter Schulz, Frankfurt a.M. 1968, 87/88
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sagt findet, reicht ungefähr hin, um die Uhrmacherkunst zu erklären.“19 Statt um Mechanik soll es nunmehr, wie Novalis am 2.12.1798 an Friedrich Schlegel schreibt, darum gehen, gemeinsam „die Prinzipien der Schrifstellerei“20 zu erarbeiten, ein Projekt, bei dem auf die eigenen Fragmente und Schlegels Charakteristiken als Vorarbeiten zurückgegriffen werden könne: „Es sind klassische Materialien und klassische Studien oder Experimente eines Schriftstellers, der die Schriftstellerei als Kunst und als Wissenschaft treibt oder zu treiben strebt: denn erreicht und getan hat dies bis jetzt so wenig ein Autor, daß ich vielleicht der erste bin, der es so ernstlich will.“21 Novalis plant eine „Theorie der Schriftstellerei oder der Wortbildnerei überhaupt – die zugleich die symbolische indirekte Konstruktionslehre des schaffenden Geistes abgibt.“22 Aus dem mit dieser Konzeption verbundenen Rationalitätsgewinn folgt für die frühromantischen Theoretiker eine Wendung gegen die überlieferte Genievorstellung. Natürlich halten auch sie am Begriff des Genies fest, insofern mit ihm der Modus der Einzigartigkeit jedes Kunstwerkes, ein letztlich unerklärbares Moment seiner Entstehung bezeichnet werden kann. In diesem Verständnis bleibt der Begriff durchgänges Element der frühromantischen Ästhetik. Interessanter indes sind die Bemühungen um ein neues Verständnis der Produktion, das als Theorie der Schriftstellerei auf eine theoretische Depotenzierung des Genies hinausläuft und entsprechend den Begriff eher zu vermeiden sucht, also bereits ganz im Sinne der von Benjamin mit Zustimmung zitierten Bemerkung verstanden werden kann, es spreche viel dafür, daß, „will man einige Chancen haben, in das Wesen des Genies einzudringen, dafür die erste Bedingung ist, das Wort zu meiden. Denn das bloße Wort verdirbt hier alles.“ (GS III, 581)
Depotenzierung des Genies Sofern im 18. Jahrhundert Kritik am Geniebegriff geübt worden war, hatte sie den mit ihm verbundenen Anmaßungen gegolten, die im Namen religiös begründeter Überzeugungen abgewiesen wurden. Vor allem Herder hatte über die Stilisierung des Genies in den Jahren des „Sturm und Drang“ gespottet und gegen die Vorstellung des herausragenden Origi19 Friedrich Schlegel, Schriften zur Literatur, 247. 20 Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in ihren Briefen. Hg. v. Max Preitz, Darmstadt 1957, 137. 21 A.a.o., 137. 22 A.a.o., 132. Zum theologischen Hintergrund dieser Konzeption und der Rivalität zwischen Friedrich Schlegel und Novalis um das sogenannte „Bibelprojekt“ siehe Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981, 233–266.
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nalgenies das ethische Gebot geltend gemacht, die Menschen seien vor Gott gleich und „jeder Mensch von edlen Kräften ist Genie auf seiner Stelle, in seinem Werk, zu seiner Bestimmung“23. Mit der frühromantischen Kunstreflexion verändert sich die Perspektive der Kritik. Dies zeigt in besonderer Weise der 1795 in den „Horen“ publizierte Aufatz „Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache“ des jungen August Wilhelm Schlegel. In der fiktiven Brieffolge, die bereits Rudolf Haym als „ein Seitenstück zu Schillers ästhetischen Abhandlungen“24 ansah, verdeutlicht auch Schlegel gegenüber der fiktiven Adressatin die Notwendigkeit einer Theorie der Schriftstellerei, in deren Namen die Ansprüche einer übermächtig gewordenen Philosophie, die die Poesie zu bevormunden drohe, abgewiesen werden können: „Du weißt, daß ich selbst die Theorie, an sich betrachtet nicht liebe, sondern sie nur als notwendiges Übel ansehe. Sie ist für die Poesie der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen; sobald diese davon gekostet hat, war ihr Paradies der Unschuld verloren. Das Glück des goldenen Zeitalters bestand darin, keiner Gesetze zu bedürfen; aber in dem unsrigen können wir leider so wenig in der Kunst als in der bürgerlichen Gesellschaft ihrer entraten. Der Eifer mancher warmen Freunde des Schönen gegen sie darf sich daher, um nicht unbillig zu sein, nur wider die Machtgebote des Systems oder des Vorurteils, welche man für echte Gesetze des Kunst ausgibt, oder wider die gesetzgeberischen Anmaßungen des Philosophen in einem ihm fremden Gebiet auflehnen.“ (KS 1, 146)
Daß August Wilhelm Schlegel mit dieser Kritik vor allem auf das in der philosophischen Tradition überlieferte und in der zeitgenössischen idealistischen Ästhetik erneuerte mythische Bild des Dichters zielt, zeigt die Dramaturgie seines Textes. Der erste Brief beginnt mit einer ironisch getönten Beschreibung der Besonderheit, die dem Dichter seit jeher zugebilligt wurde: „Der Dichter, so rühmen von jeher die glühenden Bewunderer seiner Kunst, ist von allen anderen Sterblichen ein begünstigter Liebling der Natur, ein Vertrauter und Bote der Götter, deren Offenbarungen er jenen überbringt. Die irdische Sphäre, die nur zu unverkennbar die Spuren des Bedürfnisses und der Eingeschränkheit, welche sie erzeugen, an sich trägt, kann ihm hierzu nicht genügen; die seinige atmet in reinem Äther, sie ist eine Tochter der unsterb23 Johann Gottfried Herder, 392. Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in: Johann Gottfried Herder, in: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Karl–Gustav Gerold, München 1953, 392. 24 Rudolf Haym, Die romantische Schule. Ein Betrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1870, (Neudruck Darmstadt), 153.
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ERFAHRUNG DES MACHENS lichen Harmonie. Fast ohne daß er es selbst weiß, verwandelt er sich auf seinen Lippen das Wort in Gesang. Das Entzücken, womit er das von oben Empfangene wieder ausströmt, wird die Belohnung seiner Wohltat. Leicht und frei wie auf Flügeln wird er über das Los der Sterblichkeit hinweggehoben, und der heilige Schimmer, der seine begeisterte Stirn verklärt, fordert Anbetung von seinen erstaunten, hingerissenen Zuhörern.“ (KS 1, 141)
Der Dichter als Liebling der Götter oder der Natur weiß nichts über das, was er macht, und gerade diese Qualität ist es, die ihm die Bewunderung des Publikums sichert. Aber, wie der ironische Ton der Darstellung bereits signalisiert hatte, geht es Schlegel nicht um eine erneute Beschwörung dieses Bildes, sondern um dessen Entmythologisierung: „Aber ach! (verzeih mir die getäuschte Erwartung, liebste Freundin, wenn anders mein feierlicher Ton dich irreführen konnte) dieser Dichter ist selbst nur ein Geschöpf der dichtenden Phantasie. Wieviel anders erscheint er in der Wirklichkeit, wenn man ihn in seiner Werkstätte belauscht! Denn er hat eine Werkstätte wie jeder andere Künstler. [...] Das schönste Gedicht besteht nur aus Versen; die Verse aus Worten; die Wörter aus Silben; die Silben aus einzelnen Lauten. Diese müssen nach ihrem Wohlklang oder Übelklang geprüft, die Silben gezählt, gemessen und gewogen, die Wörter gewählt, die Verse endlich zierlich geordnet und aneinander gefügt werden. Doch dies ist noch nicht alles. Man hat bemerkt, daß es das Ohr angenehm kitzelt, wenn nach bestimmten Zwischenräumen gleichlautende Endungen der Wörter wiederkehren. Diese muß der Dichter also aussuchen und oft einer einzigen wegen das ganze Gebiet der Sprache von Westen nach Osten durchstreifen. Bei großer Anstrengung körperlicher Kraft findet noch ein gewisses erhebendes Gefühl statt; aber was kann für den langweiligen Fleiß, für die kleinliche Sorgfalt entschädigen, womit ein vollendetes Gedicht allmählich zusammenbuchstabiert wird?“ (KS 1, 141).
Der literarisch-satirische Charakter der Darstellung gibt zu erkennen, daß Schlegel seinen Aufsatz nicht als Beitrag zur philosophischen Diskussion verstanden wissen will, sondern diese eher zu unterlaufen sucht, gleichwohl aber beabsichtigt, auf seine Weise zur Versachlichung der Debatte über die Produktion beizutragen. Der Hinweis, der Dichter müsse in seiner Werkstätte belauscht werden, und nur dort bei der Arbeit zeige sich, was dichterische Praxis wirklich sei, ist freilich enrst gemeint. Im Licht dieser Wahrnehmung erscheint der Entstehungsprozeß von Werken nicht mehr als Ausdruck eines göttlichen Enthusiasmus oder genialer Inspiration, sondern als Form extremer geistiger Anstrengung, in derer Verlauf ein nüchtern Schaffender der Sprache gegenübertritt, die für ihn zum Ma-
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terial geworden ist, das er von den Lauten bis zur fertigen Gestalt des Gedichts in einer Folge von Arbeitsschritten „allmählich zusammenbuchstabiert“. Es gehört zu den beeindruckenden Zügen dieser theoretischen Depotenzierung des Genies durch Schlegel, daß er die Produktionssituation des Dichters, die in der Tradition immer nur als Ausführung bereits vorgängig vollzogener geistiger Prozesse angesehen worden war, zurückführt auf die Konstellation zwischen dem dichtenden Subjekt und den Wörtern und damit auf einen offenen Prozeß, der sich als sukzessive Formung eines spezifischen und auf besondere Weise widerständigen Materials realisiert. Schlegels Bild verzichtet auf die Berücksichtigung aller Formen der geistigen Antizipation von Elementen des Werkprozesses, um deutlich zu machen, daß sich der Anteil des Geistigen nur in dem Maße bestimmen läßt, wie er sich im Akt der Produktion, in der Suche nach Lauten, Silben, Wörtern und ihrer Gestaltung im Zusammenhang des Gedichts objektiviert. Die Kritik am mythischen Bild des Dichters und seinen metaphysischen Implikationen schafft die Voraussetzungen für eine Erforschung des Werkprozesses. Erst wenn dieser nicht mehr als seinem Wesen nach als unbegreiflich verstanden, sondern als Form genuin menschlicher Hervorbringung der Möglichkeit empirischer Beobachtung unterstellt wird, eröffnen sich Handlungsperspektiven, die denen anderer Wissenschaften entsprechen. Angesichts dieser Entzauberung des Bildes vom genialen Dichter ist Schlegel nur noch an der Funktion seiner Aufrechterhaltung interessiert. Er sieht sie darin, daß die Dichter nicht an einem Mythos rühren wollen, dem sie, wenn auch um den Preis der Selbstverleugnung ihrer Mühen, gesellschaftliche Anerkennung und Bewunderung verdanken. „Ich bitte dich indessen, liebe Amalie, was ich dir hier anvertraue nicht weiter zu erzählen. Du würdest mich unfehlbar in üble Händel mit der Zunft verwickeln, für deren Mitglied du mich aus unverdienter Güte zählen willst. Sieh, das ist eben das Schlimmste. Andere Leute dürfen sich wenigstens ihrer Arbeit nicht schämen; ja sie finden eine Erleichterung darin, es unverhohlen zu äußern. Sieh , das ist eben das Schlimmste, daß ihre Geduld oder ihre Kräfte der Erschöpfung nahe sind. Um den Dichter wäre es geschehn, wenn er sich nur von ferne etwas dergleichen merken ließe. Er muß sich dem knechtischen Zwange mit der stolzen Miene der Freiheit unterwerfen.“ (KS 1, 142)
Schlegels Entmythologisierung des Genies hat bei den Zeitgenossen keine große Resonanz gefunden. Schiller allerdings betont in einer Mitteilung, daß ihm die Briefe „sehr viel Vergnügen“25 bereitet hätten. Es 25 August Wilhelm und Friedrich Schlegel im Briefwechsel mit Schiller und Goethe. Hg. v. Josef Körner und Ernst Wieneke, Leipzig 1926, 14. Lediglich Schle-
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scheint so, als hätte Schlegels Kritik zwar keine unmittelbare Gegenrede provoziert, aber eben auch keine allgemeine Zustimmung erlangt, vielleicht deshalb, weil Kritik an der Genievorstellung angesichts der eigenen Schreiberfahrung für andere Autoren zwar ein hohes Maß an Evidenz aufwies, es aber nicht zweckmäßig erschien, sie zu äußern, solange keine andere Theorie durch die Möglichkeit einer verbesserten Schreibpraxis für den Prestigeverlust in der Öffentlichkeit zu entschädigen vermochte. Dennoch ist es von außerordentlicher Bedeutung, daß A.W. Schlegel in seinem Text den philosophischen Diskurs der Genieästhetik weniger theoretisch als vielmehr literarisch in Frage stellt. Schlegel sichert seine Kritik durch einen ironischen Gestus ab, der in der Schwebe läßt, ob der von ihm akzentuierte Arbeitscharakter des Schreibens nicht als Übertreibung zu verstehen sei, allein darauf ausgerichtet, das bislang behauptete Wunder der „Leichtigkeit“ eines göttlich inspirierten Schaffens in Zweifel zu ziehen. Folgenreich vermag Schlegels Kritik deshalb zu werden, weil sie zumindest ein anderes Bild schriftstellerischer Praxis andeutet und damit die Verbindlichkeit des philosophischen Geniebegriffs in Zweifel zieht26 . Soll literarische Produktion von nun an im Zeichen der Arbeit interpretiert werden, so hängt freilich alles davon ab, die spezifische Formbestimmheit künstlerischer Praxis genau ins Auge zu fassen und differenziert zu beschreiben. Nur in dem Maße, wie es gelingt, die Besonderheit der operativen Modalitäten des ästhetischen Prozesses zu klären und sie von den üblichen Formen menschlichen Hervorbringens abzugrenzen, entspricht die geplante Theorie der Schriftstellerei den Kriterien der Frühromantiker, und eben dies unterscheidet ihre Entwürfe grundsätzlich von denen anderer Romantiker, wie etwa Wackenroder oder Tieck, die die alte Handwerker-Vorstellung und den mittelalterlichen Meisterkult wiederbeleben wollen. Seit dieser Kritik, deren Schärfe ja vor allem darin besteht, offen auszusprechen und öffentlich zu verspotten, daß die Dichter in Wahrheit um den Arbeitscharakter ihres Schaffens gels Gedanken zur Sprache findet er, wie es in einem Brief v. 10.10.1795 heißt, „ein wenig zu physiologisch“ (18). 26 Auch die frühromantische Theorie absoluter Reflexion hat weitreichende Differenzierungen innerhalb des Geniebegriffs zur Konsequenz: „Deren wichtigste ist die Verschiebung der Autopoiesis–Theoreme von der Aktor– auf die Systemperspektive. Die romantischen Theoreme des sich selbst bildenden Kunstwerks dezentrieren die geniale Produktionskraft: die stoßen den individuellen Autor vom Thron der zentralistisch–emanativen Allgewalt und lenken den Blick auf die Dynamik reflexiver Autopoiesis, die ein Kunstwerk bereits qua autonomer Darstellungslogik, kraft der Gegebenheiten des sprachlichen Mediums entfaltet. Die Entdeckung produzierender Selbstbezüglichkeit als einer Art Systemeigenschaft der Kunst läßt die Apotheose der individuell– auktorialen Schöpferkraft verblassen.“ Wilfried Mennighaus, Unendliche Verdoppelung, 226.
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wissen, aber mit der Inanspruchnahme des Geniebegriffs bewußt auf den damit verbundenen gesellschaftlichen Prestigegewinn setzen und ihn zum eigenen Vorteil funktionalisieren, ist das mit dem Genie verbundene Element der Täuschung unwiderruflich gekennzeichnet, sofern mit dem Begriff nicht das bestimmte Element des Unerklärlichen im Kunstprozeß beschrieben, sondern eine gesellschaftliche Rolle beansprucht werden soll. Daß sowohl das Interesse der Dichter als auch der literarischen Öffentlichkeit am Fortleben dieses Mythos stark genug war, ihm trotz der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens für ein weiteres Jahrhundert Geltung zu verschaffen, wird erkennbar, wenn man sieht, daß Nietzsche es im ersten Stück seiner Reflexionen „Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller“ für nötig hält, den von Schlegel aufgedeckten Sachverhalt noch einmal ins Bewußtsein zu rufen: „Der Künstler weiß, daß sein Werk nur voll wirkt, wenn es dem Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, daß sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. – Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellects aufzuzeigen, vermöge welche er dem Künstler in das Netz läuft“ (KSA 2, 141)27
P hy si k d e r K u n s t Die Illusionen der Künstler im Namen der Wissenschaft der Kunst zu bekämpfen, dies ist auch zunächst der Vorsatz, der die Frühromantiker mit Schiller verbindet. Bei aller Betonung der Unterschiedlichkeit und späteren Feindschaft zwischen beiden Parteien, darf nicht außer acht bleiben, wie nahe sie sich Mitte der neunziger Jahre im Hinblick auf die Entwicklung einer spezifisch schriftstellerischen Theorie der Produktion waren. Ihre Gemeinsamkeit verdeutlicht die Wahl der Metapher, die bei27 Zur ästhetischen Moderne, insbesondere zum Surrealismus, gehört freilich auch die „Neukonzeptualisierung ,göttlichen Wahnsinns’ als Schubkraft, Motiv und Stilprinzip poetischer Rede.“ Wolfgang Lange, Der kalkulierte Wahnsinn, Innenansichten der Moderne, Frankfurt a.M. 1992, 41. Ein vergleichbares Potential an Möglichkeiten der Selbstinszenierung findet der moderne Künstler, wie Jean Starobinski rekonstruiert hat, in der Rolle des Gauklers, siehe Jean Starobinski, Porträt des Künstlers als Gauklers. Drei Essays, Frankfurt a.M. 1985.
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de Seiten zur Bezeichnung des neuen Projekts bevorzugen. Schiller hatte in einem Brief vom 17.6.1798 gegen die von Humboldt unterstellte Vorstellung einer Metaphysik der Kunst die Notwendigkeit einer „Physik der Kunst“ geltend gemacht und damit auf eine Formulierung zurückgegriffen, die Friedrich Schlegel in seinem 1797 publizierten Aufsatz über Lessing gebraucht hatte, um seine Forderung nach einer Wissenschaft zum Ausdruck zu bringen, die er als „Physik der Phantasie und der Kunst“ 28 verstanden wissen wollte. Daß die Frühromantiker wie Schiller die geforderte Physik der Kunst vor allem durch ihren Gegensatz zur Metaphysik der Kunst bestimmt sehen, ist ebenso aufschlußreich wie die Wahl der Metapher selbst. Wie die Physik zu einem gesicherten Wissen über die Natur geführt hat, schwebt den Romantikern eine Wissenschaft von der Kunst vor, die zu einem vergleichbaren Wissen über die Erscheinungen der Kunst verhilft, indem sie sowohl das Gebot der Methode als auch das Verfahren der Beobachtung ernstnimmt. „Methode“, notiert Friedrich Schlegel 1797 in den Aufzeichnungen seiner „Philosophischen Lehrjahre“, „ist gar nicht bloß ein philosophischer Begriff, sondern ein systematischer“29 . Welche Bedeutung ihm auch für den Bereich der Kunst zugewiesen wird, dokumentiert ein Fragment von Novalis: „Man lernt Handwerke – Maschinen- Wissenschaft- Künste- Menschen etc. durch geschickte Eintheilung und zweckmäßige sucessive Betrachtung am leichtesten und besten kennen.“ (S III, 243). August Wilhelm Schlegel schließlich bittet Schiller um Nachsicht für seine individuelle Disposition, die der Sache der Physik eher entspreche als jener der Philosophie: „Ich fühle, daß ich weit weniger zur allgemeinen Speculation als zur Beobachtung geschickt bin.“30 Im Hinblick auf dieses neue Wissen im Bereich der Kunst ist, wie Friedrich Schlegel wiederholt in seinen Fragmenten vermerkt, von der Philosophie nichts zu erwarten: „Aus reiner Philosophie lernt der Poet sicher gar nichts.“31 Eher noch könnte der Philosoph von der Poesie lernen: „Der Dichter kann wenig vom Philosophen, dieser aber viel von ihm lernen. Es ist sogar zu befürchten, daß die Nachtlampe des Weisen den irreführen möchte, der gewohnt ist, im Lichte der Offenbarung zu wandeln“.32 Den Grund für dieses unproduktive Verhältnis 28 Friedrich Schlegel, Schriften zur Literatur, 244. Im Zusammenhang seiner Besprechung von Goethes „Wilhelm Meister“ spricht Schlegel von der im Roman entwickelten „poetischen Physik der Poesie.“ (265). 29 Friedrich Schlegel, Philosophische Lehrjahre 1796–1806, Erster Teil. Hg. v. Ernst Behler, Kritische–Friedrich–Schlegel–Ausgabe, Bd. 18, München/Paderborn/Wien 1963, 89. 30 August Wilhelm und Friedrich Schlegel im Briefwechsel mit Schiller und Goethe, 20. 31 Friedrich Schlegel, Literary Notebooks, 49. 32 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel I, Ausgewählt und bearbeitet von Carl Grützmacher, Reinbek bei Hamburg 1969, 123.
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sieht Friedrich Schlegel in der Beschränkung der Philosophie auf die logische Systematisierung kunsttheoretischer Begriffe: „Es ist eine unbesonnene und unbescheidene Anmaßung, aus der Philosophie etwas über die Kunst lernen zu wollen. Manche fangens so an, als ob sie hofften, hier etwas neues zu erfahren; da die Philosophie doch weiter nichts kann und können soll, als die gegebenen Kunsterfahrungen und vorhandenen Kunstbegriffe zur Wissenschaft zu machen, die Kunstansicht zu erheben, mit Hilfe einer gründliche gelehrten Kunstgeschichte zu erweitern, und diejenige logische Stimmung auch über diese Gegenstände zu erzeugen, welche absolute Liberalität mit absolutem Rigorismus vereinigt.“33
Der Logik einer dergestalt konzipierten Philosophie der Kunst aber entzieht sich gerade die produktive Seite der künstlerischen Produktion, die nicht deduktiv konstruiert, sondern gleichsam nur von innen her, aus der Erfahrung ihres Vollzugs beschrieben und erfaßt werden kann. Insofern vermag nur der ausübende Künstler auf empirischem Wege zur Ausbildung einer Physik der Kunst beizutragen, deren Wissen dem Ästhetischen der Kunst zugute kommen soll: „Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler von seinen Mitteln und Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophieren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter, sondern auch Kenner in seinem Fache sein und seine Mitbürger im Reich der Kunst verstehen können, so muß er auch Philolog werden.“34 Auch wenn die frühromantischen Denker die Besonderheit sprachkünstlerischer Produktion entdecken, verzichten sie doch keineswegs auf den Anschauungsgewinn, den es mit sich bringt, Fragen der künstlerischen Produktion an Beispielen aus der bildenden Kunst zu verdeutlichen. In dem 1799 im „Athenäum“ erschienenen Gespräch „Die Gemälde“ wird die historische Gestalt Leonardos zum Inbegriff der Einheit von Wissenschaft und Kunst, von empirischer Erforschung und ästhetischem Vermögen, wie es das Konzept der poetischen Poetik für die Sphäre der Literatur vorsieht. Bei Leonardo, so heißt es in dem Dialog über den bewunderten Künstler, „hielt das Streben nach der Wahrheit mit dem Kunsttriebe nicht nur gleichen Schritt, beides hatte sich gegenseitig durchdrungen und war eins geworden. Sein Forschungsgeist war durchaus romantisch, bizarr und mit Poesie tingiert; und er verfolgte hinwieder die Forderungen der Kunst mit der Strenge der Wissenschaft oder der 33 Friedrich Schlegel, Schriften zur Literatur, 24. 34 Friedrich Schlegel, Schriften zur Literatur, 54.
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Pflicht.“35 Maurice Blanchot hat darauf hingewiesen, daß diese Bewunderung der Frühromantiker für Leonardo und dessen Begriff von Kunst als Wissen und Können vereinigende Form der Wissenschaft sie mit dem Denken Paul Valérys verbindet, vor allem dort, wo sie wie er gegen alle Undeutlichkeiten der bisherigen Vorstellungen von Poesie im Zeichen irrationaler Kräfte, etwas prinzipiell anderes setzen: die „von der Poesie erhobene Forderung, sich zu reflektieren, und sich durch Selbstrefexion zu erfüllen. Natürlich handelt es sich dabei nicht mehr um Poetologie, um nebensächliches Wissen: es geht um das Herzstück der Poesie, die Wissen ist, es geht um ihr Wesen, Suche und Selbstsuche zu sein.“36 Die Reichweite dieser Gemeinsamkeit wird besonders an der Stelle sichtbar, wo das frühromantische Konzept den Begriff des Wissens nicht anders als später Valéry im strengen Sinne nur im Hinblick auf das Machen gelten lassen will. So heißt es bei Novalis in einem Fragment: „Wir wissen etwas nur – insofern wir es ausdrücken – i.e. machen können. Je fertiger und mannichfacher wir etwas produciren, ausführen können, desto besser wissen wir es.“ (S II, 589). An anderer Stelle bemerkt er: „Philosophie. Ursprünglich ist Wissen und Thun vermischt – dann trennen sie sich und am Ziel sollen sie wieder vereinigt, und cooperierend, harmonisch aber nicht vermischt sein. Man will zugleich wissen und thun in wechselseitiger Beziehung – wissen, wie und was man thut, thun, wie und was man weiß.“ (S III, 246) Daß die Philosophen in der Regel kein Interesse für die Faktoren und den Prozeß des Machens in der Kunst aufbringen, das Wissen darum aber zuallererst das Bewußtsein des Künstlers bestimmt, wird in Valérys Essay „Leonardo und die Philosophen“ zum entscheidenden Kriterium für die Unterscheidung zwischen philosophischer Ästhetik und einer Wissenschaft der Kunst im Zeichen Leonardos, die dem Philosophen in der Regel fremd bleibe: „Von der Bedeutung der Stoffarten, der Mittel und Darstellungswerte hat er keine rechte Vorstellung, denn er hat die unüberwindliche Neigung, sie von der Idee zu unterscheiden. es widerstrebt ihm, an einen Austausch zu denken, der sich im Inneren fortwährend und mit gleichem Recht zwischen dem, was man will und dem, was man kann, abspielt, zwischen dem, was er für Zufall und dem, was er für Substanz hält, zwischen der Form und dem Inhalt, zwischen dem Bewußtsein und der Selbsttätigkeit, zwischen Umstand und Absicht, zwischen dem Stoff und dem Geist.“ (Valéry, W 6, 113)
35 Athenäum II, 45. 36 Maurice Blanchot, Das Athenäum, in: Romantik, Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a.M. 1987, 110.
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Indem die frühromantischen Autoren das Projekt einer poetischen Poetik der an konkreten Materialfragen und empirischen Herstellungsprozessen eher unintessierten Philosophie entziehen und es stattdessen auf eine Physik der Kunst verpflichten wollen, unterstellen sie das durch sie zu erlangende Produktionswissen den Kriterien neuzeitlicher Wissenschaft: „So würde die Dichtkunst ein Fundament haben, dem es weder an Festigkeit noch an Umfang fehlte.“37 Auf welchem Wege kann dieses Wissen gewonnen werden? Analog zu dem Erkenntnisverfahren, das in der Physik die methodische Beobachtung darstellt, gilt für die frühromantischen Autoren im Bereich der Kunst eine Vorgehensweise, die durch den Begriff des „Studiums“ bezeichnet wird. „Studium ein unendliches unendlich potenziertes Lesen. Bei einem plastischen Werk ein solches Betrachten.“38 Wie die empirische Forschung Aufschlüsse über die Gesetzmäßigkeit der Naturphänomene ermitteln kann, soll im Bereich der Kunst eine systematische und unablässige Lektüre die Organisation der Werke und die ihnen zugrundeliegende Verfahrensweise erforschen. Daß dieses Studium ganz im Zeichen der praktischen Interessen des Schriftstellers steht und der Erweiterung seines Produktionswissens gilt, macht eine Bemerkung Friedrich Schlegels deutlich, die den Fortschritt der Dichtung an die Ausbildung des neuen theoretischen Interesses bindet: „Es hat noch kein Dichter hinlänglich Studium gehabt und die Kenntnisse und den Verstand, alles was schon dar war, zu nutzen. Jeder schafft die Kunst von neuem; darum bleibt sie ewig in der Kindheit.“39 Die Vielzahl der überlieferten Werke bildet das Material dieser Forschungen und macht das historische Studium zum Bestandteil des praktischen Interesses: „Die Historie der Kunst ist ein Theil der angewandten Poesie.“40 Angesichts der Tatsache, daß es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem die Wiederentdekkung Shakespeares gewesen war, die die traditionelle Gattungspoetik ins Wanken gebracht hatte, ist es naheliegend, daß die Romantiker, in der Hoffnung, hier eine Art Grundlagenforschung der modernen Literatur betreiben zu können, vor allem sein Werk ins Zentrum ihres Studiums stellen: „Unendlich merkwürdig ists (besonders für die moderne Poesie) wie Shakespeare gerabeitet hat. Er ließ sich die Intrige (Novelas, Fabel; Historie) geben und arbeitete nun Charaktere ins Tiefe und Große aus, setzte neue hinein pp. Er hat also seine Dramen nicht sowohl construiert sondern nur extruiert.“41 An anderer Stelle umreißt Friedrich Schlegel 37 38 39 40 41
Athenäum II, 201. Friedrich Schlegel, Literary Notebooks, 81. A.a.o., 61. A.a.o., 167. A.a.o., 55. Vgl. Hans Eichner, Friedrich Schlegels Theorie der Literaturkritik, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 1969, Sonderheft ‚Friedrich Schlegel’.
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sehr genau die Aspekte, denen eine in praktischer Absicht betriebene systematische Erforschung der in Shakespeares Stücken anzutreffenden Arbeitsweise nachzugehen hätte: „Punkte fürs Studium Shakespeares – Ironie – Streben nach Einheit – romantischer Geist – Absichtlichkeit, Kunst, Vollendung (Construktion) – Universalität im Romantischen aller Sorten desselben – seine Kunstlehre – Indifferenz der dramatischen Form – seine Manieren – seine Classizität – seine individuelle Sittlichkeit“42. Das Interesse der frühromantischen Autoren an der Entwicklungsgeschichte der poetischen Formen ist nicht nur historisch motiviert. Das Studium der Entwicklung und der historisch-spezifischen Ausprägung einzelner Formen der Dichtung verbindet sich mit einem praktisch motivierten Interesse, angesichts des Formenreichtums der überlieferten Werke einen Fundus von Verfahrensweisen objektivieren zu können, der auch zukünftig in Gebrauch genommen werden kann. Novalis bemerkt dazu: „Erfinde Anecdoten. Man muß, als Schriftsteller alle Arten von Darstellung machen können. Erst lerne man sie genau kennen – untersuche sie sorgfältig – studiere die besten, schon vorhandenen Muster – dann lege man Hand ans Werk. Allmählich wird man in jeder Art Meister.“ (S III, 588) Gleichermaßen unverzichtbar wie die theoretische Bemühung ist für Novalis die Dimension der praktischen Erfahrungen des Schreibprozesses: „Durch Übung und Nachdenken lernt der Dichter seine Sprache kennen. Er weiß, was er mit ihr leisten kann, genau, und wird keinen thörichten Versuch machen, sie über ihre Kräfte anzuspannnen.“ (S I, 286)43 Wissenserwerb durch Studium, Kenntnis und Berherrschung der historisch erworbenen literarischen Mittel durch Übung, Fähigkeit zur methodischen Beobachtung und historisches Bewußtsein – das sind die Desiderate, mit denen die frühromantische Poetik die Professionalität des modernen Schriftstellers belegt. So heißt es bei Novalis unter der Überschrift „Bildung des Schriftstellers“: „Hülfsmittel. Gründliches Studium dieser Profession.“ (N III, 683) Und Novalis hat für das im Zeichen dieser Anstrengungen sich verändernde Metier des Schreibenden auch einen neuen Begriff vorgeschlagen: „Litterarristik. Schriftsteller Kunst – wie man sich zum Schriftsteller bildet. Bibliothek – in Beziehung auf die Schriftstellerkunst – wie Gemäldegallerie in Beziehung auf die Mahlerkunst. Klassificationen der Bücher. Bestandteil der Bücher – vollständiges Buch. Kunst zu lesen.“ (S III, 273) Das experimentierende und zu Grenzüberschreitungen neigende Denken der frühromantischen Autoren verschärft den produktionstheore42 Friedrich Schlegel, Literary Notebooks, 69. 43 Auch in den philosophischen Fragmenten erscheint das Stichwort „Übung“; es bleibt aber unausgeführt. (S II, 539).
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tischen Diskurs vor allem dort, wo es mit extremen Positionen kokettiert. In der Zone der Übertreibung tritt die Beschaffenheit ihres Interesses an einer neuen Lehre der Dichtkunst um so deutlicher hervor. In einer Notiz fragt Novalis: „Kunstlehre. Sind technische Definitionen und Construktionsformeln – Recepte eins?“ (S III, 255) Ihn beschäftigt das Problem, ob ein Niveau des Produktionswissens erreicht werden kann, das es ermöglicht, allein mit den Mitteln der Reflexion alle Verfahrensschritte der Herstellung eines Werkes a priori festzulegen. Nun besteht kein Zweifel daran, daß Novalis damit nicht die Wiederherstellung der alten Anweisungspoetik im Sinn hat, sondern darüber spekuliert, ob die Wissenschaft der Kunst jemals soweit getrieben werden könne, daß in der Sphäre ästhetischer Produktion eine Poetik die Herstellung von Werken ebenso garantieren könne wie die Physik, genauer gesagt die Anwendung ihrer Erkenntnisse in Gestalt der Technik für andere Produkte der menschlichen Lebenswelt. „Die Factur ist der Natur entgegengesetzt. Der Geist ist der Künstler. Factur und Natur vermischt. – getrennt – vereinigt. Jenes behandelt die Transzendental Physik und Poetik – die getrennten die practische Physik und die Poetik – die Verbündeten die höhere Physik und Poetik.“ (S III, 247) Läßt man beiseite, was unter einer höheren Physik und Poetik, die Factur und Natur als Verbündete behandeln soll, im Einzelnen zu verstehen sei, so wird doch deutlich, daß in der zweiten Stufe Natur und Factur als getrennte Elemente einer transzendentalen Physik und Poetik zugewiesen werden. Indem diese nicht die Gegenstände selbst, sondern die Formen des sie bestimmenden Geistes zum Gegenstand der Reflexion macht, verspricht die im Akt der Selbstreflexion sich selbst durchsichtig werdende Vernunft, die Erkenntnis eines Stoffliches und Geistiges immer schon umfassenden Ganzen. „Die Vernunft fängt bei sich selber an, sie bleibt philosophierend und ewig bei sich selbst; nichtsdestoweniger ist in die Fäden, die sie als die ihrigen verfolgt, gerade ihr ewiges Objekt, die Welt mit eingesponnen.“44 Die Konsequenz der Spekulation, die Poetik könne alles über die Herstellung eines Werkes und die transzendentale Reflexion alles über die Bestimmungen des Geistes Wißbare zusammentragen, hat Friedrich Schlegel zu einer Frage inspiriert, die er der Figur des Ludoviko in seinem „Gespräch über die Poesie“ im Zusammenhang mit der Erörterung der Möglichkeiten künftiger Poesie in den Mund legt: „Halten sie es etwa für unmöglich, zukünftige Gedichte a priori zu konstruieren?“45 So suggestiv die Frage formuliert wird, die Antwort bleibt offen; die Romantiker haben sich an einem Projekt dieser Art nicht 44 Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus,1. Teil, 202. Vgl. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, GS I.1, 26–40. 45 Athenäum II, 201.
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versucht, aber es ist abzusehen, daß sich jemand finden wird, der die darin liegende Herausforderung annehmen wird.
S p r ac h e al s M at e r i al 1798 notiert Friedrich Schlegel im Hinblick auf einen zu schreibenden Essay: „Nota Essay – Schrift – von der Schriftstellerei als Manufaktur (daher so physikalisch wie möglich und nach der Art der materiellen Künste als möglich).“46 Es ist eine naheliegende Konsequenz des frühromantischen Gedankens einer „Physik der Kunst“, die Kunst des Schriftstellers „nach der Art der materiellen Künste“ zu behandeln, also den Aspekten ihres spezifischen „Materials“ besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dieser Impuls ist um so höher zu bewerten, als noch die vergleichbaren kunsttheoretischen Anstrengungen Goethes und Schillers sich letzlich darauf beschränkt hatten, am Beispiel der bildenden Kunst zu allgemeinen Aussagen über das Wesen des ästhetischen Prozesses zu gelangen. Auf diese Weise aber gerät nicht in den Blick, was zuallererst Gegenstand einer Untersuchung über das Metier des Schriftstellers sein müßte: die Besonderheit der Dichtung als Sprachkunst, die Beschaffenheit der Sprache als Material. Aufklärung über Dichtkunst ist daher für die Frühromantiker gebunden an die Ausbildung eines Wissens über die Besonderheit der Sprache als Material schriftstellerischer Arbeit. In dem im „Athenäum“ veröffentlichten Gespräch über Poesie, das den Stil in Goethes früheren und späteren Werken zum Anlaß nimmt, um ein weiteres Mal die Möglichkeiten eines Wissens in Dingen der Kunst zu sondieren, wird das Problem der Sprache ins Zentrum der Kontroverse über die Möglichlichkeit einer Vereinigung des Antiken und des Modernen gerückt, die zu zu dieser Zeit als „höchste aller Fragen über die Kunst der Poesie“47 galt. Ausgangspunkt des Streites bildet die These, daß der Geist der Poesie zwar stets überall derselbe sei, es aber zur Beschreibung der historischen Unterschiede seiner Erscheinungsformen sinnvoll sei, zwischen Geist als Wesensbestimmung der Poesie und Buchstaben im Sinne von Sprache zu unterscheiden, deren sich die Darstellung als Mittel jeweils bedienen müsse. Während im Geist der Poesie eine Verbindung zwischen Antike und Moderne stattzufinden vermöge, so die erste These, wird diese Möglichkeit für den Bereich des Buchstabens von einem Gesprächsteilnehmer verworfen, da für ihn Rhythmus, Reim und Silbenmaß der Antike moderner Sprachgestaltung ewig entgegengesetzt bleiben. In dieser Trennung zwischen dem Geist der Poesie und der Sprache als et46 Friedrich Schlegel, Philosophische Lehrjahre 1796–1806, 222. 47 Athenäum II, 199.
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was ihm äußerliches, das ihm in Gestalt verselbständigter historischer Formen gegenübertritt, erkennt ein anderer Diskutant das Problem: „So müßt ihr die Diktion, die doch eigentlich wohl das Zentrum alles Buchstabens sein sollte, wunderlich genug zum Geist der Poesie rechnen“48 Wenn also die Sprachgestalt selbst zum Geist der Poesie gerechnet wird, eröffnet dieses Argument theoretisch nicht nur die von den Frühromantikern angestrebte Vermittlung zwischen antiker und moderner Poesie im Material der Sprache, sondern es verweist zugleich auf ein verändertes Verständnis von Poesie, in dem der überlieferte Gegensatz von Geist und Buchstabe, Inhalt und sprachlicher Form hinfällig geworden ist: „Und ich sehe nicht ein, warum wir uns nur an das Wort, nur an den Buchstaben des Buchstabens halten und ihm zu gefallen nicht anerkennen sollten, daß die Sprache dem Geist der Poesie näher steht als andere Mittel der selben. Die Sprache, die, ursprünglich gedacht, identisch mit der Allegorie ist, das erste unmittelbare Werkzeug der Magie.“49 Die Sprache ist damit nicht mehr ein Mittel unter anderen, deren sich die Poesie bedient, nicht mehr nur das Werkzeug, das benötigt wird, um ein Geistiges auszudrücken, sondern vor allen anderen das eigentliche Mittel der Poesie, das Material, in dem Poesie als solche ihre Existenz überhaupt erst gewinnt. Laute, Wörter und Ausdrücke werden als Medien einer unbekannten nur an ihren Wirkungen erkennbaren Kraft begriffen, die nicht von der Materialität der Sprache als Laut und Schriftgestalt getrennt werden kann. „Man wird beim Dante, beim Shakespeare und anderen Großen Stellen, Ausdrücke finden, die an sich betrachtet schon das ganze Gepräge der höchsten Einzigkeit an sich tragen; sie sind dem Geist des Urhebers näher, als andere Organe der Poesie es je sein können.“50 Die Nüchternheit dieser Reflexion schließt sprachphilosophische Spekulationen nicht aus, im Gegenteil, gerade diesen verschreiben sich die Romantiker mit größter Energie, aber August Wilhelms Schlegels poetologische Aufsätze aus den neunziger Jahren stehen für die Kontinuität der „physikalischen“ Betrachtungsweise in Fragen der Poesie, die nun eher im Sinne einer naturgeschichtlichen Orientierung vor allem die historische Prägung ihres Materials in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Bedingt durch die Auseinandersetzung mit Klopstocks dichtungstheoretischen Schriften, kreisen seine Überlegungen vor allem darum, die sprachlichen Besonderheiten des Deutschen im Vergleich zu anderen Sprachen zu sondieren und für Fragen der Metrik geltend zu machen. Im Kern zielen sie indes auf eine historische Theorie der Sprache, denn, so
48 A.a.o., 200. 49 A.a.o., 200. 50 A.a.o., 200.
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Schlegel, „indem man erklärt wie die Kunst wurde, zeigt man zugleich auf das einleuchtendste, wie sie sein soll.“ (KS 1, 147) Ausgangspunkt seiner Theorie ist die Überzeugung „Poesie sei ursprünglich von der Art gewesen, die man in der Kunstsprache lyrisch nennt.“ (KS 1, 178) Ursprünglich habe sie mit Musik und Tanz ein „unteilbares Ganzes“ (KS 1, 145) ausgemacht, sich im Verlauf der folgenden Entwicklung aber von beiden getrennt. Während der Zusammenhang von Tanz und Musik erhalten geblieben sei, sei im Bereich der Sprache „die lebendige Fülle der Töne immer mehr zum toten Buchstaben“ (KS 1, 146) hinabgesunken. Ursache dafür sei, daß der sich „absondernde Verstand sich selbst an dem Eigentume des Dichtungsvermögens geübt, dessen Wirksamkeit im Verknüpfen besteht. Je mehr er Oberhand gewinnt, desto mehr gelingt es ihm, jeden Zusammenhang zu lösen, der sich nicht auf Begriffe zurückführen läßt. Alsdann spielt er gerne den Ungläubigen und behauptet, was seine Geschäftigkeit zerstört hat, sei nie wirklich vorhanden gewesen.“ (KS 1, 145) Schlegels Kritik an der Entwicklung der rationalen Poetik gilt nicht der Bedeutung, die sie dem Verstand bei der Fertigung von poetischen Werken zugewiesen hat, als vielmehr deren Anmaßung, auch die Sprache selbst mit den Mitteln des Begriffs als vollständig erklärbares Zeichensystem zu bestimmen, das dergestalt zu Zwecken der Mitteilung geistiger Inhalte nach Belieben in Dienst genommen werden kann. Dem stellt Schlegel eine Qualität der Sprache entgegen, die auf diese Weise nicht erfaßt werden kann, wohl aber der Empfindsamkeit des Menschen als wirkende Kraft sich erschließen vermag: „Aber der geheimste Zusammenhang ist auch oft der innigste; eben weil er nicht auf dem, was der Begriff erschöpft, sondern auf der Beschaffenheit der Dinge beruht, welche nur durch die unmittelbare Anschauung aufgefaßt werden können, das heißt, auf ihrem eigentlichen Leben – Wir dürfen ihn nicht wegklügeln suchen, weil wir ihn bloß fühlen; denn was nicht ist, kann nicht auf uns wirken.“ (KS 1, 145) Diese rational nicht erfaßbare Wirkung der poetischen Sprache, die für Schlegel vom Ursprung der Poesie nicht zu trennen ist, soll nun im Vollzug einer theoretischen Aufklärung wieder ins Bewußtsein der Schriftsteller zurückgeholt werden, um auf diese Weise „die Sprache durch eine höhere Vollendung zu ihrer ursprünglichen Kraft zurückzuführen und Zeichen der Verabredung durch die Art des Gebrauchs beinahe in natürliche und an sich bedeutende Zeichen umzuschaffen.“ (KS 1, 148). Als „an sich bedeutende Zeichen“ entfalten sie ihre magische Kraft, wobei dem Silbenmaß eine besondere Bedeutung zugebilligt wird, da dieses, ehemals das sinnliche Band früherer Vereinigung mit den verschwisterten Künsten, nun als Gestus der Rede auf den ursprünglichen Zustand zurückverweist.
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Mit dieser Kraft ausgestattet bilden die Silben auf zweifache Weise die Materie der poetischen Sprache: „In der Malerei sind die Farben, insofern sie das Auge gern und nicht gern hat, ohne irgendeine andere Beziehung die Materie; in der Musik der Klang der Stimme oder Instrumente. [...] In der Sprache also, sofern sie als etwas Hörbares betrachtet wird, machen die Bestandteile der Silben die Materie aus.“ (KS 1, 183) Allein in einer anderen Hinsicht sind diese Bestandteile „auch Form – nämlich insofern sie etwas bedeuten. Denn hier ist ein Verhältnis zwischen Bedeutung und Laut; der innere Sinn vergnügt sich daran, Analogien zu suchen und zu finden.“ (KS 1, 187) Diese besondere Qualität der Silben als elementare Materie der poetischen Sprache weist ihrer Bearbeitung in Form der Metrik eine herausragende Bedeutung zu. Durch den Prozeß der metrischen Gestaltung wird diese Materie in eine Form überführt, in der sich die Kraft der Sprache auf besondere Weise entfalten kann. „Meine Absicht ist, [...] darzutun, daß das Silbenmaß keineswegs ein äußerlicher Zierrat, sondern innig in das Wesen der Poesie verwebt ist, und sein verborgener Zauber an ihren Eindrücken auf uns weit größeren Anteil hat, als wir gewöhnlich glauben.“ (KS 1, 147) Bereits Klopstock hatte in seinem Vorschlag zu einer Poetik, deren Regeln sich auf Erfahrung gründen, danach gefragt, was ein Theoretiker tun müsse, um zu wahren Regeln zu kommen: „Ich denke , er muß zwei Sachen beinahe zur gleichen Zeit tun, die erste: Er bemerkt die Eindrükke, welche Gedichte von allen Arten auf ihn, und auf andere machen, das heißt, er erfährt und sammelt die Erfahrung anderer, die zweite: er sondert die Beschaffenheit der verschiedenen Gedichte mit genauen Bestimmungen voneinander ab, oder er zergliedert das in Dichtarten, was Wirkung hervorgebracht hat.“51 Auch Schlegel will nicht von allgemeinen Grundsätzen ausgehen, sondern Tatsachen „erst aus einzelnen Beobachtungen“ (KS 1, 147) kennenlernen, aber er bestimmt die Voraussetzungen poetologischer Forschung anders: „In alten und neueren Sprachen ist wenig Gutes über die Sache geschrieben, und es ist nicht schwer anzugeben, woher dies rührt. Der Gegenstand scheint geringfügig und ist nicht sehr wichtig – lockt also den Forschungsgeist nicht an. Man muß ihn praktisch kennen, also Gedichte geschrieben haben und dabei nach metrischer Vollkommenheit gestrebt haben. Nun haben aber die guten Dichter meistens einen Ekel vor der Theorie und auch nicht die gehörigen Talente dazu.“ (KS 1, 182) Schlegels programmatischer Anspruch für eine neue Poetik basiert auf der Überzeugung, daß für zuverlässige Aussagen über die Dichtkunst Erfahrungen eigener dichterischer Praxis ebenso unerläßlich seien wie die Fähigkeit zu theoretischer Reflexion. Zudem gewinnt das auf dem Wege der Selbstbeobachtung gewonnene 51 Friedrich Gottlieb Klopstock, Gedanken über die Natur der Poesie, 164.
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Wissen über die Materialität der Sprache eine entscheidende Bedeutung, und mit ihm die Einsicht, daß die Wirkungen, die der Sprache als Poesie von Natur aus eigen sind, erforscht, als Mittel eingesetzt und durch die Arbeit der Formung im dichterischen Werk organisiert zur Geltung gebracht werden können. Im Zeichen dieser Theorie findet Schlegel zu einer Formulierung, die zwar wie die bloße Wiederholung eines bekannten Topos der traditionellen Rhetorik klingt, in Wahrheit aber nur vor dem Hintergrund seines neuen Sprachverständnisses angemessen gewürdigt werden kann. Kunst ist bestimmt „durch die Vorstellung von besonnenen Absichten und von kühlem Überrechnen der Wirkung eines Verfahrens.“ (KS 1, 148) Indem Schlegel Poesie als der Sprache immanente Qualität begreift, kann die Arbeit der literarischen Gestaltung für ihn nicht länger als nachträgliche Poetisierung vorgängiger Ideen und Gedanken verstanden werden, sondern einzig als Handlung, die gleichsam im Material der Sprache selbst vollzogen wird und die darauf angelegt sein muß, ihre poetischen Potenzen für die Form des Werkes nutzbar zu machen: „Begreift man denn nicht, daß, da die Poesie ursprünglich in der Sprache daheim ist, diese nie so gänzlich depoetisiert werden kann, daß sich nicht überall in ihr eine Menge zerstreute poetische Elemente finden sollten, auch bei dem willkürlichsten und kältesten Verstandesgebrauch der Sprachzeichen, wieviel mehr im gemeinen Leben in der raschen und unmittelbaren oft leidenschaftlichen Sprache des Umgangs. Viele Wendungen, Redensarten, Bilder und Gleichnisse die, sogar im plebejischen Ton, vorkommen, sind unverändert auch für die würdige und ernste Poesie brauchbar.“ (KS 1, 228)
D i a l e k t i k d e r A u s f ü hr u n g Den frühromantischen Autoren bleibt nicht verborgen, daß der Anspruch, eine neue Lehre der Dichtkunst zu begründen, die den Kriterien eines gesicherten Wissens standhalt, nur in dem Maße eingelöst werden kann, wie sie eine Antwort auf die Frage zu formulieren vermag, was im Vorgang des literarischen Schaffens wirklich geschieht und wie dieses Geschehen beschrieben werden kann. Kenntnis und Beherrschung von literarischen Verfahrensweisen und Wissen um die Besonderheit des sprachlichen Materials werden als notwendige Voraussetzungen einer Theorie der literarischen Produktion begriffen. Den Kriterien der Wissenschaftlichkeit vermag diese aber nur in dem Maße zu genügen, wie sie Aussagen über das Ganze des Schaffensprozesses machen kann, also auf die Erfassung dessen zielt, was bereits Goethe und Schiller, wenn auch nur
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in Ansätzen, als Problem der Ausführung thematisiert hatten und nun, wie eine programmatische Notiz des jungen Friedrich Schlegel dokumentiert, als zentraler Gegenstand der Poetik begriffen wird: „Alle Ausführung gehört, in so fern sie das ist, zur Kunstpoesie.“52 Es ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, daß Novalis aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Qualifikation mit der im Jahrzehnt zwischen 1795 und 1805 in der Chemie sich entwickelnden Ausbildung einer neuen Prozeßidee vertraut war. Während der traditionelle Begriff des Prozesses lediglich von einer technischen Handlungsform ausging, deren Resultate nichts anderes darstellten als die sukzessive Vergegenständlichung eines durch vorgängige Planung bestimmten Handlungsziels, trat nun die Erforschung der in Kunst und Natur, ja im Leben insgesamt wirksamen und qualitativ anders beschaffenen Prozeßgestalten in den Vordergrund.53 Geleitet von dem methodischen Gedanken, den Charakter von Prozessen durch sukzessive Betrachtung, also durch ein genaues Studium der einzelnen Phasen ihres Ablaufs, zu bestimmen, gelangt Novalis im Hinblick auf den Kunstprozeß zu einer differenzierten Beschreibung jenes Sachverhaltes, der Goethe und Schiller gleichfalls als Eigenlogik der Ausführung zu Bewußtsein gekommen war. Es bedarf kaum einer Erwähnung, daß auch diese Einsicht bei Novalis keine systematische Erörterung findet, wohl aber präzise Formulierungen: „Zur Idee, Entwurf und Plan sucht man die Ausführung, zur Ausführung den Plan“ (S II, 540). Fragmente wie dieses formulieren die Erkenntnis, daß eine poetische Poetik in dem mit dem Begriff der „Technik“ identifizierten Wissen, für das hier Idee und Entwurf stehen, nur eine notwendige Voraussetzung findet, im Rahmen einer auf die Besonderheit des ästhetischen Produktionsprozesses zielenden Theorie aber die Einsicht vonnöten ist, daß in den einzelnen Phasen der weiteren Arbeit stets neu geplant werden muß, da sich zwischen Künstler und Material, Konzept und Mittel ein Feld von unerwarteten Ereignissen auftut, das der Ausführung eine eigene Qualität verleiht. Während diese Dynamik für Schiller letztlich eine Quelle der Beunruhigung bleibt, Goethe darauf setzt, sich ihr einfach anzuvertrauen, führt Novalis theoretisch über beide Positionen hinaus. Da die Entfaltung der Eigenlogik des ästhetischen Schaffensvorgangs die Ausführung des ursprünglich Geplanten in Richtung auf ein offenes Prozeßgeschehen verändert, muß für ihn der Ausübende von vornherein ein Bewußtsein davon haben, daß es darauf ankommt, die sich aus der Arbeit ergebenden nicht antizipierbaren Elemen52 Friedrich Schlegel, Literary Notebooks, 47. 53 Siehe dazu Kurt Röttgers, Der Ursprung der Prozessidee aus dem Geiste der Chemie, in: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. XXVII, 1983. Vgl. auch die Beiträge des Bandes: Novalis und die Wissenschaften. Hg. v. Herbert Uerlings, Tübingen 1997.
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te einem neuen „Plan“ zu unterwerfen, der die Ausführung stets aufs neue organisiert und in jene Richtung lenkt, die sich aus der Dynamik des bisherigen Prozessgeschehens ergibt. Die „Innenseite“ dieses Vorgangs, der das agierende Subjekt betrifft, hat Novalis psychologisch als dialektische Vermittlung von bewußten und unbewußten Formen des Willens und des Wissens zu beschreiben versucht. „Indem ich meinen Willen, meine Tat – besonders noch vernehmen will – merke ich, daß ich auch einen Willen haben- etwas tun kann – ohne daß ich darum weiß. Ferner, das ich etwas wissen kann und weiß, ohne daß ich es gewollt habe.“ (S II, 552) Die Beobachtung des Zusammenhangs der Kräfte von Wollen und Wissen im schaffenden Subjekt korrespondiert bei Novalis mit jener, die sich auf die äußere Seite des Produktionsprozesses bezieht und diesen als Vorgang der Vermittlung begreift, der sich zwischen Subjekt, Mittel und Material vollzieht: „Alles Werkzeug ist Vehikel einer fremdem Äußerung – Wirksamkeit. Es modifiziert und wird modifiziert. Die Ausführung ist ein Produkt der individuellen Beschaffenheit des Werkzeugs und der Gestion. Beyde können veränderlich sein – so wird auch das Produkt veränderlich. [...] Die Gestalt (Natur des Werkzeugs) ist gleichsam das eine Element des Produkts.“ (S II, 553) Novalis betont zunächst die vermittelnde Natur des Werkzeugs, da seine Beschaffenheit in jedem Fall Einfluß auf die Gestalt des Produkts nimmt. In der Regel auf eine bestimmte Weise, die sich aus dem Material, für dessen Bearbeitung es geeignet ist, ergibt. Trifft das Werkzeug auf ein anderes Material, verändert es seine Wirkungsweise, wie Novalis am Beispiel der unterschiedlichen Verwendungsweise eines Meißels demonstriert: „So kann ich mit einem Werkzeug auf keine andere Weise wirksam seyn – als auf die, die ihm seine natürlichen Verhältnisse bestimmen. So kann ich mit einem Meißel nur stoßen, schaben, scheiden oder sprengen, insofern er ein scharfes Eisen ihn electrisch, als Metall zum galvanischen Excitator gebrauchen. In beiden letzten Fällen wirkt er nicht mehr als Meißel. Ich fühle mich also durch jedes bestimmte Werkzeug auf eine bestimmte Art von Wirksamkeit eingeschränkt – diese besondere Sorge kann ich freilich unendlich variieren – ich kann also so manches Stoßen, sprengen etc, so oft die Wirkung modifizieren – durch Änderung des Stoffes – durch Variation der Elemente der Wirkung – die Resultate können unendlich verschieden sein – das Resultat kann die Spaltung eines Steines – ein Pulverloch – eine Statue sein.“ (S II, 553)
Muß also jeder Produktionsakt die Vermittlung von Werkzeug und Material berücksichtigen, so gewinnt der Ausführungsprozeß seine eigentliche
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Komplexität durch die Vermittlung mit den intentionalen Handlungen des schaffendes Subjekts. Novalis’ Zusammenfassung dieses Vermittlungsprozesses formuliert nicht weniger als die Grundformel der Logik jeder künstlerischen Ausführung: „Jedes Werkzeug modifiziert also einerseits die Kräfte und Gedanken des Künstlers, die es zum Stoffe leitet, und umgekehrt – die Widerstandswirkungen des Stoffes, die es zum Künstler leitet.“ (S II, 553)54 Insofern der Künstler immer wieder mit dem Widerstand des Materials konfrontiert ist, wird er im Verlauf der Arbeit stets aufs neue gezwungen, Entscheidungen zu treffen; gefordert ist die ständige Präsenz des Bewußtseins während des Produktionsprozesses und zwar nicht als Inanspruchnahme dessen, was immer schon gewußt und gewollt wird, sondern im Sinne einer Wahrnehmungs-, Reflexions- und Entscheidungspotenz. Indem diese, dergestalt über alle inhaltlichen Bestimmungen hinausgehend, als Bedingung der Möglichkeit reflektierter Akte im Produktionsprozess wirksam wird, muß das Bewußtsein als Kraft des Schaffensvorgangs zuallererst formal bestimmt werden und eben diese Bestimmung der konstitutiven Rolle des Formalismus des Bewußtseins im Produktionsprozeß ist die weitreichendste produktionsästhetische Erkenntnis der poetischen Poetik der Frühromantik. Daß Novalis sich mit dieser Erkenntnis nicht nur allgemein auf die Kunst, sondern auch auf das Schreiben und im Besondern auf die bei der Entstehung seiner Werke gewonnenen Erfahrungen bezieht, zeigt ein autobiographisches Fragment: „Meine Erzählungen und romantischen Arbeiten sind noch zu grell und zu hart gezeichnet – nichts als derbe Striche und Umrisse – nackt und unausgeführt. Es fehlt ihnen jener sanfte, rundende Hauch, jene Fülle der Ausarbeitung – Mitteltinten – feine verbindende Züge – Eine gewisse Haltung – Ruhe und Bewegung ineinander – Individuelle Beschlossenheit und Fremdheit – Geschmeidigkeit und Reichtum des Stils – ein Ohr und eine Hand für reizende Periodenketten.“ (S III, 647) Die Einsicht in die Notwendigkeit einer weiteren Ausarbeitung der Werke, deren bisherige Form dem Anspruch des kontrollierenden Bewußtseins nicht genügt, verbindet Novalis mit dem Bewußtsein, daß Fortschritte der Werkgestaltung nur als Konkretisierung und praktische Umsetzung jener Möglichkeiten realisiert werden können, die sich aus der Wiederaufnahme des Produktionsprozesses, und nicht aus der geistigen Antizipation einer definitiven Form ergeben. Die Reflexion auf das Bewußtsein der mit der „Fülle der Ausarbeitung“ gebotenen Möglichkeiten und Verpflichtungen künstlerischer Praxis steht im Mittelpunkt von Novalis Lehre der Dichtkunst, die er auch seiner Figur des 54 Am Beispiel seines eigenen Werkes erläutet Francis Bacon sehr anschaulich die Bedeutung der spezifischen Beschaffenheit der Mittel, etwa der Größe der Pinsel, für die Formbildung in der Malerei. Vgl. David Sylvester, Gespräche mit Francis Bacon, 4. Aufl., München 1994, 9–30.
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Heinrich von Ofterdingen zuteil werden läßt: „Der Stoff ist nicht der Zweck der Kunst, aber die Ausführung ist es.“ (S I, 286). Angesichts der Schwierigkeiten, den Gehalt dieser Bestimmung begrifflich zu fixieren, greift auch Novalis auf jene Metapher zürück, die sich in der Geschichte der bildenden Künste zur Verdeutlichung des komplexen Ausführungsgeschehens bewährt hatte: „Artistik (Psychologie). Die Hand wird beim Mahler Sitz eines Instinkts – so auch beim Musiker – der Fuß beim Tänzer. Das Gesicht beim Schauspieler – und so fort“ (S III, 276)
M ö g l i c h k e i t e n e i n er tec hn i s c h e n T he o r i e Angesichts der Schwierigkeiten, das Denken der frühromantischen Autoren systematisch im Hinblick auf jene Fragestellungen und Begriffe zu rekonstruieren, in denen sich die Umrisse einer modernen Poetik abzeichnen, kommt den von August Wilhelm Schlegel 1798/1799 in Jena gehaltenen „Vorlesungen über philosophische Kunstlehre“ und den 1801/1802 in Berlin vorgetragenen „Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst“ besondere Bedeutung zu, da mit ihnen zwei maßgebliche und weitgehend durchgebildete Entwürfe romantischer Theoriebildung vorliegen, die zudem als Bilanz der in den neunziger Jahren unternommenen Anstrengungen um eine moderne Theorie der Kunst gelesen werden können. Der erste Teil der Vorlesungen über philosophische Kunstlehre gilt der Grundlegung einer neuen Poetik, der als Ausgangspunkt die Erkenntnis der medialen Bestimmheit der Literatur dient: „Das Werkzeug der Poesie ist Sprache.“554 Diesem Ausgangspunkt entsprechend folgt eine Zusammenfassung der schon früher vorgetragenen Überlegungen zur Bedeutung des Silbenmaßes und des Reims, schließlich eine Erörterung der unterschiedlichen Dichtarten und ihrer historischen Ausprägung: Epos, lyrische Dichtkunst, Dramatische Dichtart, reine Tragödie, reine Komödie, moderne Dichtarten wie Märchen oder Roman und Novelle. Die im zweiten Teil unternommene geschichtliche Darstellung der Kunstlehre ist vom Bemühen geprägt, sowohl den theoretischen Status als auch den historischen Ort der eigenen Theoriebildung zu bestimmen: „Bei allen Dingen, die ihren Grund in dem Menschen selbst haben, geht die Praxis der Theorie voraus; so auch bei den schönen Künsten und der Poesie. Die Sprache ist dem Menschen natürlich; Poesie wurde beim Menschen erst eigentlich ganz instinktmäßig, er bedurfte keiner; mit ihr entstand der Ge-
55 August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803). Mit Kommentar u. Nachwort hg. v. Ernst Behler, Paderborn/München/Wien/Zürich 1989, 5.
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POETISCHE POETIK DER FRÜHROMANTIK sang und der lyrische Tanz. Die philosophische Kunstlehre kann betrachtet werden, insofern sie aus der Natur des Menschen begreiflich macht, wie er die schönen Künste erdenken konnte (theoretischer Gesichtspunkt); und insofern sie Gesetze für die Kunst gibt (praktischer Gesichtspunkt).“56
Mit diesen Gesetzen sind natürlich keine Herstellungsregeln im Sinne der alten Poetik gemeint, angemahnt wird lediglich die Beachtung von allgemeinen Formelementen, wie Schlegel sie in seiner Darstellung der unterschiedlichen Dichtarten dargelegt hat, etwa daß es in einer Komödie auf die Gestaltung einer scherzhaften Handlung ankommt, die um der Charaktere willen da zu sein hat. Wie wichtig es Schlegel ist, im Rahmen seiner als Bestandteil einer philosophischen Kunstlehre konzipierten Poetik jeden Bezug zum Produktionsparadigma der traditionellen Lehre von der Dichtkunst abzuweisen, zeigt die Tatsache, daß er auf den Begriff des Genies zurückgreift, um Erwartungen dieser Art von vornherein auszuschließen: „Die Einsicht in die philosophische Kunstlehre kann uns verbieten, was wir durch Einsicht in sie vermeiden müßten; aber sie kann nicht zur Hervorbringung eines Kunstwerkes beitragen. Sie ist daher bloß negativ denn sonst müßten sich die schönen Künste erlernen lassen. Genie (genial, ein höherer Geist, ein guttätiger Dämon, ein hoher Begriff bei den alten. Das wesentliche bei den schönen Künsten ist eben das, was sich nicht erlernen läßt, was nur die Natur gibt. Von einem schönen Kunstwerk fordern wir lebendige Energie. Dies kann nicht aus einem Begriffe als etwas Totem herkommen. Das Genie bringt daher etwas hervor, das sich nicht erlernen läßt.“57
Wie diese Aussage im Hinblick auf die Herstellung eines Kunstwerkes nicht bedeutet, daß sich nichts lernen läßt, sondern, daß sich Wesentliches nicht lernen läßt, bedarf auch der Begriff des Genies für Schlegel einer wichtigen historischen Differenzierung: „Das Genie wird im gemeinen Leben als ein Geschenk des Himmels, dessen Ursprung außer dem Menschen zu suchen ist, betrachtet, aber die gesunde Philosophie wird es für eine Sache der Freiheit erklären. Wir nehmen bei vorzüglichen Künstlern äußerst strenge Fortschritte, um zur Vollkommenheit zu gelangen, strenge Selbsttätigkeit wahr.“58 Gerade diese Bestimmungen des genialen Produktionsprozesses als „Sache der Freiheit“ gegenüber der bloßen Gunst übermenschlicher Mächte, und strenge Selbsttätigkeit gegenüber einem passiven Vorgang unbewußten Schaffens, verdeutli56 A.a.o., 130. 57 A.a.o., 130. 58 A.a.o., 130.
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chen, daß Schlegel den Geniebegriff gebraucht, um auf das rational nicht auflösbare Moment des künstlerischen Prozesses zu betonen, und gleichermaßen um begriffliche Mittel bemüht ist, mit denen er als Akt einer spezifisch menschlichen Hervorbringung soweit wie möglich analysiert werden kann. Wie wichtig ihm der produktionstheoretische Aspekt ist, zeigt die Tatsache, daß in den Berliner „Vorlesungen über Schöne Literatur und Kunst“ dem Problem ihrer Hervorbringung der Status einer legitimen Theoriebildung eingeräumt wird: „Unterschied zwischen einer philosophischen und einer bloß technischen Theorie der Kunst. Die letzte bringt das Verfahren, wodurch man irgend etwas bewerkstelligen kann in ein System von Regeln. Den zu realisierenden Zweck setzt sie schon voraus. Die philosophische Theorie macht sich diesen selbst zum Gegenstand der Betrachtung, sie leitet ihn als notwendig ab. Jene zeigt wie ewas geleistet werden kann, diese, was überhaupt geleistet werden soll.“ (KS 2, 11) Schlegel bemißt den Wert der jeweiligen Theorie der Kunst an dem Nutzen, den der Künstler von ihr hat, und betont die Notwendigkeit, eine auf den Zweck der Kunst zielende Philosophie strengen Kriterien zu unterwerfen, die eine technische Theorie immer schon dadurch erfüllt, daß sie anzugeben weiß, wie ein Kunstwerk aus der Sphäre des Ideellen in die der Wirklichkeit einzutreten vermag: „Eine tüchtige technische Theorie ist ohne Zweifel einer nichtsnutzigen philosophischen weit vorzuziehen, aus jener lernt man wirklich etwas, in dieser wird man mit leeren Hülsen gespeist. Es fragt sich nun also, ob es eine philosophische Theorie der sogenannten schönen Künste geben kann? Daß eine technische Theorie von ihnen möglich ist, leuchtet sogleich ein. Denn die Erzeugnisse derselben sollen ja nicht als bloßer Entwurf im Inneren des Geistes bleiben, sondern als Werke in die Welt der Erscheinungen zu allgemeiner Mitteilung hervortreten. Sie müssen sich daher auch den in ihr geltenden Gesetzen unterwerfen.“ (KS 2, 12)59
Erst die Anerkennung ihrer Wirksamkeit schafft die Voraussetzung der Möglichkeit, sie für eigene Zwecke im Feld ästhetischer Praxis in Anspruch zu nehmen. Gilt diese Einsicht für alle Künste gleichermaßen, so verweist Schlegel jedoch zugleich auf die Notwendigkeit einer Differenzierung im Hinblick auf die Natur des jeweiligen Materials: „Hier zeigt sich nun aber schon ein merkwürdiger Unterschied zwischen den Künsten. Die bildenden Künste nämlich und die Musik bearbeiten allerlei Na-
59 Vgl. dazu: Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Hg. v. Walter Jaeschke u. Hartmut Holzhey, Hamburg 1990.
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POETISCHE POETIK DER FRÜHROMANTIK turprodukte, um ihnen als einem Material die geistige Idee aufzuprägen, oder um sie als Werkzeuge zum Vortrage derselben zu gebrauchen. Ferner beziehen sie sich auf zwei äußere Sinne, das Gesicht und das Gehör. Ihre technische Theorie gründet sich also auf die Naturgesetze, nach welchen diese erfolgen (Optik und Akustik), teils auf die Beschaffenheit des Materials, und ist folglich musikalisch. Die redenden Künste hingegen, Poesie und Beredsamkeit haben zum Organ die Sprache, welches kein Naturprodukt, sondern ein Werk des menschlichen Geistes, und zwar wie sich zeigen läßt, ein ursprüngliches und notwendiges ist. Selbst ihre technische Theorie kann daher nicht physikalisch sein, sondern ist schon wenigstens mittelbar philosophisch.“ (KS 2, 12)
Während die technische Theorie im Bereich der Musik oder der bildenden Künste für Schlegel aufgrund der Naturhaftigkeit ihres Materials einen eigenen Status besitzt, der die Kenntnis der physikalischen Beschaffenheit zur Voraussetzung der Kunstausübung macht, ist die Sprache als Mittel der Poesie so beschaffen, daß die technische Theorie immer schon mittellbar philosophisch ist: „Die Grammatik nämlich in dem echten Sinne des Wortes, nicht die Kenntnis von den Regeln dieser oder jener Sprache als einem historisch gegebenen, sondern die systematische Darstellung von der Art, wie sich der Mechanismus der menschlichen Geistestätigkeiten in der Form der Sprache ausdrückt, ist eine philosophische Wissenschaft.“ (KS 2, 12) Indem für Schlegel ein im Inneren des Künstlers vorhandener Entwurf immer schon als Ausdruck einer Vermittlung zwischen Sprache und Geist angesehen wird, und somit der folgende Akt des ins Wort-Setzen der Konzeption oder des Stellens der Schrift als Vorgang einer zweiten Vermittlung zwischen Geist und Sprache betrachtet werden kann, erscheint die konkrete literarische Arbeit als in Phasen gegliederte Sukzession von Handlungen der Formgebung: „Jeder materiellen Darstellung geht eine innere in dem Geist des Künstlers voran, bei welcher die Sprache immer als Vermittlerin des Bewußtseins eintritt, und folglich kann man sagen, daß jene jederzeit aus dem Schoße der Poesie hervorgeht. Die Sprache ist kein Produkt der Natur, sondern ein Abdruck des menschlichen Geistes, der darin die Entstehung und Verwandtschaft seiner Vorstellungen und den ganzen Mechanimus seiner Operationen niederlegt. Es wird also in der Poesie ein schon Gebildetes wieder gebildet; und die Bildsamkeit ihres Organs ist ebenso als die Fähigkeit des Geistes zur Rückkehr auf sich selbst durch immer höhere potenzierte Reflexionen.“ (KS 2, 226)
Die Sprache ist auf doppelte Weise durch den Geist bestimmt, sowohl als „Urstoff der Poesie“ (KS 2, 232) im Inneren des Künstlers wie durch
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„die Form ihrer Realität, das äußerliche Gesetz, unter welchem sie in die Welt der Erscheinungen eintritt“. (KS 2, 232) Indem dergestalt „schon Gebildetes wieder gebildet wird“ erweist sich für August Wilhelm Schlegel nicht nur die bedeutungsstiftende Leistung der Sprache, sondern vor allem, wie Wolfgang Preisendanz hervorgehoben hat, daß Dichtung „primär Reflexion und stets höher potenzierte Reflexion darauf ist, daß und wie der Mensch über Sprache verfügt. Was durch Dichtung gegenständlich wird, ist die dialektische Auseinandersetzung des Geistes mit der Sprache als Substrat, Funktion und Horizont aller Weltaneignung.“60 Da also der Prozeß der literarischen Arbeit sich als bewußte Formung von etwas bereits durch den Geist vermitteltes vollzieht, muß technische Theorie in der Poesie, insofern sie sich auf die Handlung zwischen dem Subjekt und einer auf allen Ebenen vermittelten Sprach-Materie bezieht, immer schon eine mittelbar philosophische sein. In Gestalt einer „allgemeinen Poetik [...], welche dasjenige in sich faßt, was ohne Beziehung auf die Gattungen ausgemacht werden kann“ (KS 5, 232), konzipiert Schlegel eine technische Theorie neuer Art, die die in ihr reflektierten Vermittlungen, ihren mittelbar philosophischen Charakter gegenüber den mechanistischen Implikationen der traditionellen Poetik geltend macht. Nicht minder entschieden behauptet sie ihr Eigenrecht gegenüber der Geistkonzeption der idealistischen Ästhetik, indem sie davon ausgeht, daß eine Ästhetik der Literatur nicht von der durch die Besonderheit ihres Materials bestimmten Technik, eine Theorie der Dichtkunst nicht davon abstrahieren kann, daß „der Gebrauch der Mittel aus dem Wesen der Poesie von innen hervorgeht, und dadurch mit Notwendigkeit bestimmt wird. [...] Die in den gewöhnlichen Poetiken hergebrachte Methode ist eine ganz andere. Da wird von der Diktion und dem Versbau, als dem letzten der Ausführung, erst am Schlusse gehandelt. Man nimmt an, sowohl die geforderte Bildlichkeit des Ausdrucks, als der Wohlklang der Verse sei bloßer Zierrat, ein Raffinement der müßigen und auf Genuß lüsternen Phantasie und Sinnlichkeit; beides wird der schon fertigen Poesie wie eine fremde Äußerlichkeit umgehängt, wodurch sie denn unausbleiblich zu einem bloßen grammatischen und rhetorischen Exerzitium herabgewürdigt wird, wie man sie auch in der Wirklichkeit leider so oft ausübt.“ (KS 2, 232)
60 Wolfgang Preisendanz, Zur Poetik der deutschen Romantik I. Die Abkehr vom Grundsatz der Naturnachahmung, in: Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive, Hg.v. Hans Steffen Göttingen 1978, 74. „Wenn irgendwo, so ist hier etwas angedeutet, dessen ungebrochene Geltung für Dichtung und Poetik der Moderne nicht bestritten werden kann.“ (74).
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Vor dem Hintergrund dieser Konzeption ästhetischer Praxis wird Schlegels Kritik an Aristoteles verständlich: „Man sieht an manchen Stellen, daß er unbefriedigt mit einem laxen empirischen Begriff von Poesie nach allen Seiten herumforschte, ohne aus Mangel an poetischem Sinn das Rechte treffen zu können. Für die Theorie leistet daher die Poetik wenig, hauptsächlich nur negativ, daß man sieht, wie unzulänglich diese Mittel sind, eine zustande zu bringen.“ (KS 2, 42) Eine moderne Poetik, die diesen Namen verdient, kann für Schlegel die Ausführung also nicht mehr als nachgeordnete Phase innerhalb des Kunstprozesses verstehen, sondern dieser selbst ist für ihn wie für Novalis nichts anderes als Ausführung. Das Wesen der Dichtkunst als Praxis realisiert sich, wie Novalis verdeutlicht, als Folge von Akten sprachlicher Formung: „Im allgemeinen kann man alle Stufen der Worttechnik unter dem Ausdruck Poesie begreifen.“ (S III, 241) Entsprechend wird die Einsicht in den Prozeßcharakter der literarischen Herstellung als in allen Phasen wirksamen Dialektik von Hervorbringung und kontrollierender Beurteilung für August Wilhelm Schlegel auch zum schärfsten Punkt der Kritik an Kants Geniebegriff, der das naturhaft Hervorgebrachte in einer zweiten Phase der nachträglichen Verbesserung auf der Grundlage von Geschmacksregeln unterstellt: „Ich glaube zu bemerken daß der Unfug, welcher mit dem Begriff des Genies in einer gewissen Periode in Deutschland getrieben worden, auf Kants Vorstellungsart davon bedeutenden Einfluß gehabt hat. In jener an sich lächerlichen poetischen Anarchie, die aber doch eine günstige Krise und neue Lebensregung verkündigte, schien der Geist, der so lange von den konventionellen Regeln und dem Joche der Autorität eingezwängt gewesen war, mit dem äußeren Zwang zugleich auch alle innere Gesetzmäßigkeit abwerfen zu wollen, und ungebührliche Zügellosigkeit und exzentrische Originalität wurden zu den wesentlichen und einzigen Kennzeichen des Genies gemacht. Kant scheint nicht viel besser davon zu denken, indem er ausdrücklich von einem Widerstreit zwischen Genie und Geschmack redet. Freilich kann er aus dieser unseligen Trennung nicht mehr heraus, nachdem er einmal jenes zu einem völlig blinden und passiven Naturtriebe zur Kunst gemacht hat. Er sticht, daß ich es nur geradeheraus sage, dem Genie zuvörderst die Augen aus, und um dem Übel abzuhelfen, setzt er ihm alsbald die Brille des Geschmacks auf. Dieses erklärt er für die Beurteilung des Schönen, jenes der Hervorbringung. Als ob nicht die Äußerung der schöpferischen Kraft mit beständiger Selbstanschauung in ihr verbunden wäre.“ (KS 2, 75)
In der Tat ging es Schlegel mit dieser Kritik nicht mehr darum, einer bestimmten Konzeption des Genies eine andere entgegenzusetzen, sondern
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er beabsichtigt mit seiner „Kunstlehre“, „das Genie durch den Künstler abzulösen“61. Wenn im Zusammenhang mit Novalis’ Konzeption der Dialektik der Ausführung von dem für den ästhetischen Produktionsprozeß konstitutiven Formalismus des Bewußtseins die Rede war, so findet er seine Bestätigung in Schlegels Begriff der „beständigen Selbstanschauung“ als dem mit der schöpferischen Kraft einhergehenden kritischen Bewußtsein des Künstlers. Indem der literarische Prozeß nicht mehr bloß empirisch im Sinne der alten Techne oder metaphysisch im Zeichen des Platonismus erklärt wird, sondern in seiner Besonderheit als Folge von Handlungen des Bewußtseins, die nicht inhaltlich, sondern nur formal bestimmt werden können, entwickelt das frühromantische Denken eine Poetik, deren Modernität darin besteht, daß sie den literarischen Produktionsprozeß im Sinne einer Logik des Machens begreift. Im Sinne dieser Logik der Dichtkunst gewinnt auch der Begriff der literarischen Technik eine neue und spezifisch moderne Bedeutung. War er zunächst im Sinne des Mechanischen auf Anwendungsregeln beschränkt und seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Zeichen eines modernisierten Wortgebrauchs auf das begrenzt, was in Fragen der künstlerischen Produktion Wissen und Vermögen betraf, so eröffnet sich mit der frühromantischen Poetik eine veränderte Semantik, die über das bloß Wißbare hinausgeht und auf die Totalität der im Schaffensprozeß vom Künstler zu leistenden Vermittlungsakte zielt. Literarische Technik im modernen Sinne erweitert den Begriff des einem Werk vorausliegenden Produktionswissens im Hinblick auf das, was erst im Werkprozeß selbst vom Bewußtsein zu leisten ist. Das unterscheidet technische Theorie im Bereich der Kunst prinzipiell von jener, die sich auf die Herstellung anderer Objekte bezieht. Während diese sich gerade dadurch auszeichnet, daß sie ein exaktes Wissen vom Prozeß der Herstellung umfaßt, ist ästhetische Technik durch den Anteil des erst in actu Gewußten und der Unbestimmbarkeit der am Ende des Werkprozesses stehenden Gestalt des ästhetischen Produktes bestimmt. Diese Differenz ist es, die streng genommen literarische Technik als Metapher qualifiziert, ihren, wie Schlegel sich ausdrückt, mittelbar philosophischen Charakter ausmacht, oder wenn man so will, den „Poet als Ergänzer der technischen Metapher“62 in Erscheinung treten läßt. Ein Seitenblick auf die Geschichte der Hermeneutik verdeutlicht, daß Schleiermacher etwa zur gleichen Zeit, in seinen zwischen 1805 und 1809 entstandenen Entwürfen, analog zur veränderten Auffassung literarischer Produktion den Akt der Rezeption theoretisch neu zu begründen 61 Herbert Mainusch, Romantische Ästhetik, Untersuchungen zur englischen Kunstlehre des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Bad Homburg v.d.H./ Berlin/Zürich 1969, 288. 62 Botho Strauß, Sigé, in: Akzente, H. 2, 1989, 119.
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versucht, indem er den Begriff der „technischen Interpretation“ entwikkelt. Er bezeichnet jene Dimension des literarischen Verstehensprozesses, der den Interpreten eines Werkes zu einem erhöhten Verständnis „von dem inneren Verfahren der Dichter und anderer Künstler, der Rede von dem ganzen Hergang der Komposition vom ersten Entwurf bis zur letzten Ausführung“63 führen soll. Daß der innere Zusammenhang der produktionstheoretischen Entwürfe, auch ihre enge Berührung mit hermeneutischen Ansätzen dieser Art, insgesamt die schlechthin neue Dimension der von den Frühromantikern skizzierten Poetik von den Zeitgenossen kaum wahrgenommen wurde, vermag angesichts des fragmentarischen Charakters ihrer Reflexionen und deren Einbettung in eine Fülle hochspekulativer Gedanken kaum zu überraschen. Es gibt allerdings nach wie vor einen Ort, an dem zu dieser Sache mehr gesagt als öffentlich ausgeprochen werden konnte. Am Ende seines Lebens, unter völlig veränderten geistespolitischen Voraussetzungen, kommt auch Goethe in seinen Briefen wiederholt auf diese Problematik zurück. 1831 berichtet er Reinhardt über das Interesse, das seine Enkel an der Lebensweise und Arbeit der Kohlenbrenner in Ilmenau gefunden hatten: „Indessen muß man nicht ganz versäumen, Ruder und Segel und sonstige Griffe des Handwerks zu benutzen, um über die Welle des Augenblicks wegzukommen. Als Poet denk ich immer, daß aufs stranden sich landen reime und somit Gott befohlen.“ (B 4, 444) Auch wenn Goethes Bildlichkeit noch einmal das Problem veranschaulichen will, daß sich Schwierigkeiten bei der Herstellung eines Werkes im Arbeitsprozeß in dem Sinne auflösen, den die Bedeutung der nautischen Metaphern anzeigt, so kann das Beispiel aus Goethes eigener poetischer Praxis dessen Prinzip verdeutlichen. Es kommt in diesem Fall weniger darauf an, daß die inhaltliche Konzeption eine Gestaltung der Verbindung von Stranden und Landen verlangt, sondern vielmehr, daß der Reimzwang angesichts der Entscheidung für das Wort „stranden“ dem Dichter das Wort „landen“ zuspielt und damit eine Bedeutungsvariante, die sich ihm im Verlauf der Arbeit an seinem Gedicht erschließt, ohne daß sie ihm vorher bewußt gewesen wäre. Ganz im Sinne einer Lehre des Schreibens heißt
63 F.D.E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, Hg. u. eingeleitet v. Manfred Frank, Frankfurt a.M. 177, 325. Peter Szondi hat „Schleiermachers Lehre von der technischen Auslegung in die Nähe der modernen Poetik, wie sie etwa Valéry vertritt“ gerückt. Peter Szondi, Schleiermachers Hermeneutik heute, in: Peter Szondi, Schriften II, Frankfurt a.M. 1978, 128. Szondi hat damit bereits 1970 auf eine Konstellation verwiesen, die im Bereich der Produktionstheorie vielfältige Entsprechungen findet. Zu Schleiermachers früher Hermeneutik siehe auch den instruktiven Aufsatz von Hendrik Birus, Schleiermachers Begriff der „Technischen Interpretation“, in: Internationaler Schleiermacher–Kongreß, Berlin 1984. Hg. v. Kurt–Victor Selge, Teilband 1, Berlin/ New York 1985.
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es in dem von Eckermann aus dem Nachlaß herausgegebenen und mit dem Titel „Noch ein Wort für junge Dichter“ versehenen kurzen Aufsatz.: „Ich kann es meinen jungen Freunden nicht ernst genug empfehlen, daß sie sich selbst beobachten müssen, auf das bei einer gewissen Fazillität des rhythmischen Ausdrucks sie doch auch immer an Gehalt mehr und mehr gewinnen.“ (HA 12, 36) Am Ende seines Lebens wird noch einmal sichtbar, welche Fortschritte Goethe auf dem Weg der Selbstbeobachtung gelungen waren, wie hartnäckig ihn das Problem des Machens seit der Sulzer-Rezension von 1772 beschäftigt hatte. Die letzen Briefe, die er kurz vor dem Tod mit Wilhelm von Humboldt wechselt, stehen ganz im Zeichen des Produktionsproblems, das für ihn im „Ausfüllen gewisser Lücken“ (B 4, 463) im Corpus der lange vorliegenden Textpartien von „Faust II“ bestanden hatte. So zurückhaltend Goethe mit Auskünften über den Schluß der Tragodie ist, so wichtig erscheint es ihm, Humboldt die besonderen Erfahrungen dieser Arbeit mitzuteilen: „Von meinem Faust ist viel und wenig zu sagen; gerade zu einer günstigen Zeit fiel mir das Diktum ein: Gebt ihr euch einmal für Poeten, so kommandiert die Poesie; und durch eine geheime psychologische Wendung, welche vielleicht näher studiert zu werden verdiente, glaube ich mich zu einer Art Produktion erhoben zu haben, welche, bei völligem Bewußtsein, dasjenige hervorbrachte, was ich jetzt noch selbst billige, ohne vielleicht in diesem Fluß wieder schwimmen zu können; ja was Aristoteles und andere Prosaisten einer Art von Wahnsinn zuschreiben würden.“ (B 4, 463)
Es ist spürbar, wie sehr Goethe in diesen Zeilen darum ringt, seine Schreiberfahrungen darzustellen und den Gewinn seiner Beobachtung, das Neue seiner Einsichten, so genau wie möglich zu vermitteln. Er betont zunächst die Bedeutung des inneren Zustandes während der Arbeit, dessen Herkunft ihm selbst undeutlich geblieben sei („geheime psychologische Wendung“), der aber nach Aufklärung verlange („näher studiert zu werden verdiente“). Klarheit herrscht für ihn hingegen darüber, daß dieser Zustand sich durch „völliges Bewußtsein“ ausgezeichnet habe und das von ihm hervorgebachte Ergebnis auch im nachhinein seine Anerkennung finde. Das Problem, das Besondere seiner Erfahrung zu objektivieren, ohne dafür über zureichende theoretische Mittel zu verfügen, löst Goethe auf verblüffende Weise. Zur Verdeutlichung des spezifisch neuen Elements seiner Produktionserfahrung greift er auf die die älteste Vorstellung, den antiken Enthusiasmus, zurück. Geboren aus der Not der Darstellung unterwirft er seine Argumentation einem kuriosen Paradox, indem der durch völliges Bewußtsein gekennzeichnete Schaffenszustand
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mit einem von Wahnsinn bestimmten gleichgesetzt wird. Eine im literarischen Prozeß hervortretende Kraft hatte sich ihm als besondere Leistungsart des Bewußtseins erschlossen. Insofern diese Produktivität des Bewußtseins ungeklärt bleibt, fühlt sich Goethe offensichtlich an die überlieferte Vorstellung der Verfassung eines Künstlers und der ihm entzogenen Dimension seiner Arbeit erinnert. Aber der Begriff des Wahnsinns funktioniert im Kontext seiner Darstellung nur noch als durch und durch problematische Metapher, die das neue seiner Einsicht eher verhüllt als verdeutlicht. Mit Goethes Bekenntnis und seinem Pathos des Bewußtseins als maßgeblicher Kraft literarischer Gestaltung ist ein äußerster Punkt der Entfernung von den Grundsätzen der alten Poetik erreicht und damit zugleich der Übergang zu einer neuen Lehre der Dichtkunst endgültig vorbereitet. Humboldts Antwort vom 6.1.1832 kann man entnehmen, daß ihm ist diese Bedeutung dieses Briefs nicht entgangen ist. „Die Stelle Ihres Briefes über den ,Faust’ hat mich aufs höchste interessiert. Ich schicke Ihnen dieselbe in Abschrift zurück, weil sie gewiß keine behalten und die Sache zu wichtig ist, um nicht künftig darauf zurückzukommen. Versuchen Sie doch einmal, ob Sie (Da dies in der Stelle mir dunkel bleibt) aus Ihrer Erinnerung entnehmen können, ob Ihnen jene Art der Produktion mit völligem Bewußtsein wohl immer beigewohnt hat oder ob Sie diesselbe als erst in einer gewissen Epoche eingetraten betrachten?“64. Hier hatte Humboldt eines jener „poetischen Geständnisse“, die er bereits 1799 gefordert hatte, und angesichts der historischen Bedeutung, die er ihm zumaß, erschien ihm zwingend, daß Goethe das Dokument selbst bewahren müsse. Überdeutlich aber auch sein Eifer, die Gunst des Augenblicks für sein altes Anliegen zu nutzen und Goethe in letzter Sekunde ein „Gleichnis“ zu entreißen, das ihm und der Öffentlichkeit ein für allemal verdeutlichen könnte, was es mit dem Akt des literarischen Schaffens und der Rolle des Bewußtseins in ihm auf sich habe. Aber wie zuvor Schiller bleibt auch Goethe ihm das gewünschte Beispiel schuldig. In seiner Antwort, die wie ein an die Öffentlichkeit adressiertes letztes Wort und testamentarisches Vermächtnis in dieser Sache wirkt, lenkt er eher von sich selbst und seinen persönlichen Erfahrungen ab. In dem Maße wie ihm daran gelegen scheint, seine Erfahrungen mit den gängigen Theorien der Epoche in Einklang zu bringen, verschwindet die Konkretion der Be64 Wilhelm von Humboldt, Briefe. Hg. v. Wilhelm Rößle, München 1952, 453. Bereits 1803 hatte Humboldt Goethe aus Rom geschrieben, im Gegensatz zu einem mit ihm befreundeten Künstler, der seine Grundsätz aus der Erfahrung gewönne, habe er selbst sie „wie Sie wissen, meist aus Ideen. Beide Technik und Metaphysik müssen freilich zuletzt in eins zusammentreffen.“ (a.a.O., 231). Vgl. dazu: Geheimnisse des Lebens. Vom Wesen des Schaffens und vom Geschichtlichen. Altersbetrachtungen in den letzen Briefen die J.W. v. Goethe und W. v. Humboldt sich geschrieben haben, Weimar 1941.
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funde seiner Selbstbeobachtungen, die, wie schwierig auch immer, eben nur gegen und nicht mit den Mitteln der überlieferten Begriffssprache formuliert werden konnten: „Je früher der Mensch gewahr wird, daß es ein Handwerk, daß es eine Kunst gibt, die ihm zur Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen, desto glücklicher ist er; was er auch von außen empfange schadet seiner eingeborenen Individualität nichts. Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, sich alles zuzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbestimmung, demjenigen, was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag tue, vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit befähige. Hier treten nun die mannigfaltigen Bezüge ein zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten, denke man sich ein musikalisches Talent, das eine bedeutende Partitur aufstellen soll. Bewußtsein und Bewußtlosigkeit werden sich verhalten wie Zettel und Einschlag, ein Gleichnis, das ich so gerne gebrauche. Die Organe des Menschen durch Übung, Lehre, Nachdenken, Gelingen, Mißlingen, Fördernis und Widerstand und immer wieder Nachdenken, verknüpfen ohne Bewußtsein in einer freien Tätigkeit das Erworbene mit dem Angeborenen, so daß es eine Einheit hervorbringt, die die Welt in Erstaunen setzt. Dieses Allgemeine diene zur schnellen Beantwortung und zur Erläuterung des wieder zurückkehrenden Blättchens.“ (B 4, 480)
Gefordert hatte Humboldt aber das Besondere, an dem das Allgemeine klar werden könnte, ein Gleichnis. Um zu begreifen, daß eine neue Epoche der Poetik angebrochen war, die sich im Denken Goethes, Schillers und der Frühromantiker angekündigt hatte, erschien in der Tat eine Darstellung mit paradigmatischem Charakter vonnöten, die die deutschen Schriftsteller aus unterschiedlichen Gründen nicht vorzulegen vermochten oder dem Publikum vorenthielten. Der Gehalt der poetischen Poetik, die veränderte Vorstellung von literarischer Technik bedurften der Erläuterung an einem konkreten Beispiel, besser noch einer didaktischen Demonstration, um in der literarischen Öffentlichkeit wirksam werden zu können. Jemand mußte ihr einen Blick hinter die Kulissen literarischer Produktion gewähren.
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VIII. F O R M A L I S M U S DE S B E W U S S T S E I N S – EDGAR ALLAN POES ILLUSTRATIONEN Als Heinrich Heine 1835 die Romantik zur abgeschlossenen Epoche in der deutschen Geistesentwicklung erklärt und dabei August Wilhelm Schlegel ins Zentrum seiner polemischen Literaturgeschichtsschreibung rückt, ist er doch bereit, ihm und seinem Werk zwei Verdienste zuzugestehen. Obgleich nun, so Heine, „die Schule zu Grunde ging, so haben doch die Anstrengungen des Herren Schlegel gute Früchte getragen für unsere Literatur.“1 Zum einen habe er seine Berühmtheit erlangt „durch die unerhörte Keckheit, womit er die vorhandenen literarischen Autoritäten angriff. Er riß die Lorbeerkränze von den alten Perücken ab und erregte bei dieser Gelegenheit viel Puderstaub. Sein Ruhm ist die natürliche Tochter des Scandals.“2 Zum anderen habe er „gezeigt, wie man wissenschaftliche Gegenstände in eleganter Sprache behandeln kann.“3 Vermutlich hätte es Heine überrascht zu sehen, daß er diese Einschätzung des romantischen Denkers zur gleichen Zeit mit einem amerikanischen Kollegen teilte, dem ebenfalls daran gelegen war, den Gestus der eigenen schriftstellerischen Praxis mit der eines „so eleganten Kritikers wie August Wilhelm Schlegel“ (PW III, 321) in Verbindung zu bringen. Nicht nur die Bewunderung der literaturkritischen Leistungen August Wilhelm Schlegels verbindet Edgar Allen Poe mit Heine, mehr noch ist es die Gemeinsamkeit eines bei beiden hervortretenden Selbstbewußtseins als Schriftsteller. Es bezieht sich vor allem auf die gemeinsame Überzeugung, die Urheber der weitreichenden theoretischen Einsichten, die in Philosophie und Dichtkunst der zurückliegenden Epoche hervorgebracht worden waren, hätten es entweder nicht vermocht oder aber nicht gewollt, ihre Erkenntnisse dem interessierten Publikum auf eine verständliche Weise mitzuteilen. „In Ansehung unserer metaphysischen Poeten, als Poeten genommen“ (PW IV, 250) empfindet Poe Verachtung, „eine Verachtung übrigens, die sich nur schwer verbergen ließe, da ja die 1 2 3
Heinrich Heine, Historisch–kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 8.1, Hamburg 1979, 173. A.a.o., 169. A.a.o., 173.
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Schriften jener Leute ausdrücklich nur für das Verständnis einiger weniger bestimmt sind, wogegen die Zahl derer, die da der Heils-Botschaft harren, Legion ist“ (PW IV, 242). Programmatisch heißt es in Heines „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“: „Große deutsche Philosophen, die etwa zufällig einen Blick in diese Blätter werfen, werden vornehm die Achseln zucken über den dürftigen Zuschnitt alles dessen, was ich hier vorbringe. Aber sie mögen gefälligst bedenken, daß das wenige, was ich sage, ganz klar und deutlich ausgedrückt ist, während ihre eigene Werke zwar sehr gründlich, unermeßbar gründlich, sehr tiefsinning, aber eben unverständlich sind.“4 „Wäre es denkbar“ fragt Poe im Hinblick auf die mit dem Vers verbundenen Probleme, „daß es ein Tausend tiefer Gelehrter bei der jahrhundertelangen Untersuchung einer so einfachen Materie nicht vermocht haben sollte, sie wenigstens ins hellste Licht zu rücken, das sich ihr abgewinnen läßt?“ (PW IV, 608). Beide Autoren sehen die professionelle Rolle des Schriftstellers bestimmt durch das Bedürfnis des Publikums nach Aufklärung, nicht zuletzt über die Gegenstände des eigenen Metiers, ein Mandat, das der Schriftsteller sowohl aufgrund einer dezidiert publizistischen Strategie5 als auch durch seine Nähe zu den Quellen philosophischen Wissens wahrzunehmen berufen ist. Was ihn aber vor allem dazu qualifiziert, ist seine Fähigkeit zur Beobachtung, sowie das Vermögen theoretische Sachverhalte, die durch eigene Erfahrungen bestätigt worden sind, wie Heine sagt, „klar und deutlich“ auszudrücken. Poe macht Front gegen den von Demokrit ausgesprochenen und in der späteren Tradition geheiligten Satz der abendländischen Philosophie, die Wahrheit liege in der Tiefe: „Mit diesen Vermutungen ist es mir ernst, denn abermals erstens hat die Gelehrsamkeit etwas an sich, daß uns zur blinden Gelehrsamkeit des Baconschen Theateridols verführt, zur irrationalen Ergebenheit gegenüber der Antike, zweitens ist die eigentliche Tiefe selten tief – es liegt im Wesen der Wahrheit im allgemeinen wie mancher Erze im besonderen, dann am reichsten zu sein, wenn sie sich an der Oberfläche finden, drittens kann das klarste Thema durch ein bloßes Übermaß des Beredens vernebelt werden.“ (PW IV, 609).
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A.a.o., 13. Zu Poes publizistischer Strategie und der damit verbundenen Orientierung seiner Arbeit an den Bedürfnissen der Leserschaft siehe William Charvat, Poe: Journalism and the Theory of Poetry, in: Aspects of American Poetry. Edited bei Richard M. Ludwig, Ohio State University Press 1962. Zu Heine vgl. Wolfgang Preisendanz, Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik bei Heine, in: Die Nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. v. H.R. Jauß. Poetik und Hermeneutik III, München 1968.
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Als exemplarische Demonstration einer schriftstellerischen Praxis, die Beobachtung gegen Gelehrsamkeit und gegen „eine Regel, die die Tatsachen feststellt (oder was sie, die Regel, als Tatsache annimmt,) die Annäherung an die logische Grundlage“ (PW IV, 633) setzt6 , kann Poes Essay „Maelzels Schachspieler“ von 1836 gelten, ein Text dessen Bedeutung für Poes literaturtheoretische Position bislang kaum wahrgenommen worden ist.7
M o d u s o p e r an d i u n d m e n sc hl i c he s A g e n s Im Mittelpunkt von Poes Text „Maelzels Schachspieler“ steht ein von Baron Wolfgang von Kempelen erfundener und 1769 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellter Schachautomat, der mit Zügen eines mit Wasserpfeife und Turban versehenen Türken ausgestattet, die Zeitgenossen in Erstaunen versetzte, da er die meisten seiner Gegner mit scheinbarer Leichtigkeit besiegte. Der Instrumentenbauer Johann Nepomuk Maelzel erwarb den Automaten aus dem Nachlaß von Kempelens. Mit einer leicht verbesserten Mechanik des Schachautomaten ging Maelzel mit ihm in Amerika auf eine Tournee, wo er ihn als rein mechanischen Automaten zur Jahrmarktsattraktion machte und Gegner aus dem Publikum gegen ihn antreten ließ. Poe hatte eine Vorführung dieser Art vermutlich um 1835 in Richmond gesehen und sein Erlebnis zum Anlaß von Überlegungen gemacht, die erstmals unter dem Titel „Maelzels Chess Player“ in „The Southern Literary Messenger“ im April 1836 erschienen und der Faszination, die der „Schachtürke“ auf das Publikum ausübte, ebenso auf die Spur kommen wollte wie dem Geheimnis seines Mechanismus, der offensichtlich in fast allen Fällen eine siegreiche Partie garantierte. Dies hatte auch Napoleon feststellen müssen, der 1806 im besetzten Potsdam und 1809 in Schönbrunn gegen Maelzels Automat gespielt und beide Male verloren hatte. 8 6 7
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Zur „Strategie des Blicks“ bei Poe vgl. Peter Krumme, Augenblicke – Erzählungen Edgar Allan Poes, Stuttgart 1978, 12–15. Als frühe Ausnahme muß Max Bense gelten, der „Maelzels Schachspieler“ als Ergänzung seiner Poetik angesehen hat. Vgl. den Poe gewidmeten Abschnitt seiner Untersuchung ,Literaturmetaphysik’, Stuttgart 1950, 26–29. Zu Poes Dichtungstheorie siehe die zusammenfassenden Darstellungen: Elio Chinol, Poe’s Essays on Poetry, in: The Sewanee Review,Vol. LXVIII, No. 3, 1960; Franz H. Link, Edgar Allan Poe, Ein Dichter zwischen Romantik und Moderne, Frankfurt a.M./Bonn 1968; Armin Paul Frank, Poe (1809–1849), in: Klassiker der Literaturtheorie.Von Boileau bis Barthes. Hg. v. Horst Turk, München 1979; Liliane Weissberg, Edgar Allan Poe, Stuttgart 1991. Zur Geschichte von Maelzels Automat vgl. Wolfgang Coy, Schach und Matt: Das Spielerische in der Maschinellen Intelligenz, in: Literatur im Technischen Zeitalter, 1988.
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Der Eingang von Poes Text exponiert das von Maelzel präsentierte Phänomen und das mit ihm verbundene logische Problem: „Mag sein, daß vor dem Schach-Spieler von Maelzel noch keinerlei derartige Schaustellung das allgemeine Augenmerk so sehr auf sich gezogen hat. Wo immer er zu sehen gewesen ist, ist er für jeden denkenden Menschen zum Gegenstande lebhafter Neugierde und Wißbegier geworden. Dennoch ist das Problem seines Modus operandi immer noch nicht geklärt, ist noch nichts darüber geschrieben worden, was man als schlüssig bezeichnen könnte und demgemäß stoßen wir nach wie vor und allerorten auf überaus scharfsinnige, in den Dingen der Mechanik wohlbewanderte und hochbegabte Männer, welche nicht zögern, die in Rede stehenden Automate als eine von sich aus functinierende Maschine zu bezeichnen, die in ihren Bewegungen auf keine Weise von irgendeinem menschlichen Agens gesteuert wurde und demzufolge als eine mit Nichts vergleichbare, ja als die erstaunlichste Erfindung der Menschheit anzusehen sei.“ (PW IV, 251)
Poes Erkenntnisinteresse gilt dem Modus operandi, der Art und Weise wie der Schachautomat funktioniert. Der Ausgangspunkt seines Versuchs, dieses Rätsel zu lösen, ist der Zweifel an dem, was die Gelehrten der Physik für möglich hielten, nämlich daß es sich um ein rein mechanisches Gerät handeln könne, das ohne jede menschliche Mitwirkung völlig automatisch das Schachspiel betriebe. Poe beabsichtigt zunächst, diese Auffassung logisch zu widerlegen, indem er sich auf die Funktionsweise der bisher bekannten Automaten stützt. Zwar könnten sie, wie er am Beispiel einer äußerst kunstvoll konstruierten Rechenmaschine erläutert, gestellte Aufgaben auf der Grundlage bestimmter eingegebener Daten sehr wohl lösen, allerdings nur auf der Grundlage „der Aufeinanderfolge von unbeirrbaren, keinem Wandel und keiner Modification unterworfenen Schritten“ (PW IV, 256). Beim Schachspiel hingegen gäbe es keinerlei vorherbestimmten, festumrissenen Ablauf, kein möglicher Zug sei die notwendige Folge eines ihm vorausgegangenen. „Aus keinerlei Figurenstellung können wir auf spätere Constellationen schließen.“ (PW IV, 256) Während bei einer algebraischen Aufgabe „die Bestimmtheit des Rechnungsablaufs bis zur schließlichen Lösung jederzeit gewahrt“ (PW IV, 256) bleibe, stehe dem „im Ablauf des Schachspiels die Ungewißheit jedes weiteren Zuges gegenüber.“ (PW IV, 257)9 Poe schließt
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Zur sachlichen Kritik an dieser Vorstellung Poes und dem Argument, daß Rechenmaschinen zu mehr in der Lage sind, wie am Beispiel des modernen Schachcomputers zu sehen ist vgl. Wolfgang Coy, Schach und Matt: Das Spielerische in der Maschinellen Intelligenz, 245 und Rudolf Drux, Retorten– und Maschinenmenschen in der Literatur der Vormärzzeit. Von der Erforschung
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daraus, „daß es keine derartige rein automatisch funktionierende Schachmaschine geben könne, und folgerichtig sämtliche Operationen unserer Automate vom Menschengeiste gelenkt werden und von nichts anderem. In der Tat läßt sich dieser Sache a apriori mit mathematischer Beweisführung beikommen, und die einzige Frage bleibt dann nur, auf welche Weise das menschliche Agens zum Tragen gebracht wird.“ (PW IV, 258) Die logische Unmöglichkeit der behaupteten Funktionsweise führt Poe zu dem Schluß, daß menschliche Kräfte im Spiel sein müssen. Wenn es so ist, müssen sie in irgendeiner Weise wirksam werden und damit, so Poes Hypothese, in den Handlungen des Automaten beobachtbar sein. Um dem Leser eine Anschauung von Maelzels Darbietung zu vermitteln, fügt Poe seinem Text einen Exkurs über die Geschichte des Schachautomaten und eine genaue Beschreibung des Ablaufs der Schachvorstellung ein. Da dergestalt nun auch der Leser eine Vorstellung von dem Vorgang gewonnen hat und sich ihm wie allen anderen die Frage aufdrängt, wie der Automat wohl funktioniert, kann Poe auf die möglichen Lösungen zurückkommen, und er tut dies, indem er zunächst die bisher unternommenen wissenschaftlichen Versuche vorstellt, „hinter das Geheimnis des Schach-Türken zu kommen“. (PW IV, 265) Während mehrere Autoren sich vergeblich um eine Lösung bemüht hätten, sei ein Gelehrter namens Brewster zu einer richtigen Erklärung gelangt, indem er durch die Möglicheit einer Verschiebung der inneren Unterteilung des Kastens nachweisen wollte, daß im Inneren des Automaten sich ein Mensch verbergen könne. Poe hält die Lösung eines im Gehäuse des Apparates versteckten Schachspielers für schlüssig. Nachgewiesen ist für ihn auf diese Weise das geheime menschliche Agens des Automaten, nur die Art der von Brewster vorgebrachten Begründung erscheint ihm nicht ausreichend: „Nun stehts ja außer Zweifel, daß wie wir schon weiter oben vermerkt haben und wofür wir den exakten Nachweis führen wollen, solche Lösung im Prinzip oder vielmehr in ihrem Ergebnis die richtige ist. Während der Schaustellung der inneren Mechanik ist jemand in dem Kasten verborgen. Indeß, wir wenden uns gegen die weitschweifige Deskription der Art und Weise, in welcher die Trennwände verschoben werden müßten, um die verborgene Person vor Entdeckung zu bewahren. Nämlich wir betrachten der gleichen als rein theoretische Annahme, der erst hinterher die einzelnen Umstände angepaßt worden sind. Der Verfasser ist nicht auf dem Wege des inductiven Denkens dazu gelangt und konnte dies auch nicht.“ (PW IV, 269)
eines literarischen Motivs im Zeichen seiner technischen Realisierbarkeit, in: Der Deutschunterricht, H. 5, 1989.
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Poe hält die Verschiebung der inneren Kastenelemente für möglich und läßt sie als theoretische Annahme gelten, nicht aber als Beweis, der für ihn nur empirisch und auf induktivem Wege erbracht werden kann, das heißt nur auf der Grundlage von Beobachtungen des Vorgangs, wie er sie selbst angestellt hat. „Bei dem Versuch die Mechanik des Schachtürken auf unsere Weise zu erklären, wollen wir erst einmal zeigen, wie seine Operationen ins Werk gesetzt werden, und erst hinterher in knappestmöglicher Form die Natur jener Beobachtungen beschreiben, aus denen wir unsere Schlüsse gezogen haben“. (PW IV, 270) Poe erläutert im Fortgang des Textes die Reihenfolge der Handlungen, mit denen Maelzel den Schachtürken dem Publikum vorstellt. Das Öffnen und Schließen von Elementen des Kastens, Handlungen, mit denen er dem Publikum demonstrieren will, daß er nichts außer mechanischen Elementen enthält. Poe versucht zu zeigen, daß Maelzel stets beim Öffnen und Schließen der Seiten eine feste Reihenfolge einhält, die dem im Inneren verborgenen Menschen ermögliche, jeweils seine Lage so zu verändern, daß er nicht gesehen wird. Wichtigstes Hilfsmittel ist dabei der Einsatz einer Kerze, mit der ausgeleuchtet wird, was das Publikum sehen soll, während der andere Teil dadurch zur gleichen Zeit verdunkelt und der Insasse den Blicken entzogen wird. Bestätigen seine Beobachtungen die Möglichkeit, daß sich im Inneren des Automaten ein Mensch verbirgt, dessen Unsichtbarkeit vor allem durch den dem Publikum demonstrativ gewährten Einblick ins Innere des Automaten geschützt wird, so versucht Poe im abschließenden Teil seine These in Form von sechzehn Schlußfolgerungen zu erhärten, die an der Art der einzelnen Bewegungen, die der Schachtürke ausführt, nachzuweisen versuchen, wie deren Besonderheit nur durch den hinter ihnen wirkenden Akt menschlicher Steuerung zu erklären sei. Damit, so Poe, sei wie von ihm beansprucht durch Beobachtung, induktives Verfahren und logische Schlußfolgerung der Beweis erbracht, daß es sich nicht um einen rein mechanischen Automaten handelt, sondern Maelzel letztlich ein perfekt organisiertes Schaupiel inszeniert, in dem ein Trick-Automat die Hauptrolle spielt. In der Poe-Forschung ist früh registriert worden, daß entgegen Poes eigenen Behauptungen sein Text weitgehend die Argumente aus den Erörterungen von Brewster übernimmt. Zeitgeschichtliche Quellen verdeutlichen zudem, daß in der interessierten amerikanischen Öffentlichkeit die Funktionsweise von Maelzels Schachautomat bereits zum Zeitpunkt von Poes Erörterungen alles andere als ein Geheimnis war. Spätestens seit dem Bericht des Medizinprofessors John Kearlsy Mitchell, der das Gerät nach dem Tode Maelzels auf einer Auktion ersteigert und in einer Schachfachzeitschrift 1857 Konstruktion und Funktionsweise des Automaten erläutert hatte, war das Rätsel des schachspielenden Türken end-
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gültig gelöst.10 Wenn also Poes Artikel im Hinblick auf seine sachlichen Einsichten keineswegs originell ist, worin ist dann seine Bedeutung zu sehen und warum hat er in der zeitgenössischen Öffentlichkeit ebensoviel Aufmerksamkeit gefunden wie in der späteren Literaturgeschichte? Die Gründe dafür müssen in der Form des Textes selbst liegen. Bereits im ersten Satz ist Poe darum bemüht, in besonderer Weise hervorzuheben, daß vor Maelzels Schachspieler keinerlei derartige Schau-Stellung das allgemeine Interesse so auf sich gelenkt hat. In der Betonung der Besonderheit dieser Vorführung liegt bereits ein Verweis auf Poes eigene Strategie der Darstellung. Sie besteht in der Konstruktion eines untergründigen Parallelismus zwischen Maelzels Schaustellung des rätselhaften Schachautomaten und der öffentlichen Demonstration seines besonderen Vermögens der Beobachtung, der Fähigkeit zur logischen Analyse und der kritischen Urteilsfähigkeit. Maelzels Ort ist der Jahrmarkt, Poes Bühne sind die Journale, für die er schreibt. Poe bewundert die mechanische Leistung des Automaten, aber mehr noch die der gleichen Rationalität verpflichtete Kunst Maelzels, ihn so zu präsentieren, daß es für den oberflächlichen Beobachter keinen Anhaltspunkt gibt, es könne sich um etwas anderes als eine Maschine handeln. Es ist eine inszenierte Rationalität, die aber nur deswegen zur Täuschung werden kann, weil ihr ein rationales Konstruktionsprinzip zugrundeliegt. Nur wer dieses begreift, kann die Täuschung durchschauen, also die Möglichkeit einer Mechanik, die im Inneren des Gerätes Platz für einen Menschen läßt, aber auch die Rationalität der Demonstration, die eben in der Perfektion der Ablenkung vom eigentlichen Sachverhalt liegt. Maelzel muß die menschliche Steuerung hinter den mechanischen Bewegungen der Figur verbergen, Poe demonstriert, daß an der Art der Bewegung, an ihrer Oberfläche des Geschehens gleichsam, erkennbar ist, daß sie den Besonderheiten der sie lenkenden Reaktionsweisen des versteckten Schachexperten gehorchen und als solche beobachtet werden können. Damit ist die entscheidende Frage, „auf welche Weise das menschliche Agens zum Tragen gebracht wird“ (PW IV, 258) für Poe beantwortet. Poes Schreiben erscheint insgesamt als „ein Versuch, das Übersehene namhaft zu machen“11 . Während es im fiktionalen Kontext einer Detektivgeschichte auf das Ergebnis, Aufdeckung eines Verbrechens und Überführung des Täters bezogen bleibt, ist dieser Text angesichts der Tatsache, daß der Sachgehalt bereits bekannt war, ganz als Selbstdarstellung und Illustration seines Wahrnehmungsvermögens und seiner metho10 Vgl. W.K. Wimsatt, Poe and the Chess Automation, in: American Literature, XI, 1939. 11 Peter Krumme, Augenblicke – Erzählungen Edgar Allan Poes, 15.
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dischen Kompetenz angelegt. Poes Darstellung ist durch und durch vom Gestus der Demonstration geprägt, aber gerade durch seine didaktisch akzentuierte Vorgehensweise gewinnt seine Darstellung ein Maß an Evidenz, die es den Lesern leicht macht, sowohl eine Vorstellung von Maelzels Geheimnis als auch von der Besonderheit des Verfahrens seiner Aufdeckung zu entwickeln. Dieser einem größeren Publikum gewährte Anschauungsgewinn von der „Komplementarität zwischen den Handlungen einer Maschine und der Deutung dieser Handlungen“12 ist es vor allem, der das Nachleben des Textes gesichert hat. Die Geschichte der Wirkung von „Maelzels Schachspieler“ zeigt, daß im Fall Poes eingetreten war, was sich Heine für die Rezeption seiner Texte gewünscht hatte. Auch viele andere Autoren haben über Maelzels Schachspieler geschrieben, aber „the other men who wrote were mechanicians, journalists, or editors, while Poe was wrote a prose master. His arguments, if not ,irrefutabel’ were ,clear’, ,concise’, graceful and strong.“13
Praktiken der Ausführung – e i n e ö f f e n tl i c he D a r b i e tu n g Die von Baudelaire an Poes Werk, im besonderen an den Aufsätzen „Die Methode der Komposition“ (1846), „Logik des Verses“ (1848) und „Das poetische Prinzip“ (1850), verdeutlichten Elemente einer neuen Poetik konnten in der französischen Literatur der Moderne um so wirksamer gewerden, als „Mallarmé und wiederum Valery nicht nur über Baudelaire herzuleiten sind: ein jeder von ihnen unterwarf sich diesem Einfluß unmittelbar und hat überzeugende Beweise für den Wert hinterlassen, den er der Theorie und Praxis von Poe selber beimaß.“14 Die Frage, was alle gleichermaßen der Beschäftigung mit Poes Werk zu verdanken haben, hat Paul Valéry in seinem klassischen Aufsatz „Die Situation Baudelaires“ von 1924 zu beantworten versucht: „Poe hat begriffen, daß die moderne Literatur sich der Tendenz einer Zeit anpassen muß, in der die Arten und die Gebiete der Betätigungen sich klar voneinander scheiden, und erkannt, daß sie den Anspruch erheben darf, ihren eigenen Stoff darzustellen und sich gewissermaßen im reinen Zustand zu geben. Darum auch die Analyse der Bedingungen des poetischen Genusses und 12 Max Bense, Literaturmetaphysik, 28. 13 W.K. Wimsatt, Poe and the Chess Automation, 151; „Poe’s Essay was a good one, in some parts – where he was right – the best exposure of the automation ever made“. (151). 14 T.S. Eliot, Von Poe zu Valéry, 86. Vgl. James Lawler, Edgar Poe and the poètes francais, Paris 1989, Paris 1989
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FORMALISMUS DES BEWUSSTSEINS die erschöpfende Definition der absoluten Poesie- und Poe zeigte einen Weg und gab eine sehr verführerische und sehr strenge Lehre, in der eine Art Mathematik und eine Art Mystik vereinigt sind.“ (Valéry W 3, 228)
Poes Wirkungsgeschichte in der europäischen Literatur vollzieht sich im Zeichen der produktiven Rezeption dieser Lehre, aber ist ihr sachlicher Gehalt wirklich seine originäre theoretische Leistung? Ist Poe wirklich der Stifter einer neuen Poetik und sein Aufsatz „The Philosophy of Composition“, wie von Valéry behauptet und nach ihm von der Literaturwissenschaft festgeschrieben, die historische Gründungsurkunde einer modernen Theorie der Dichtkunst, die „mit klarer Bestimmtheit den Mechanismus der dichterischen Hervorbringung“ (W 3, 229) darlegt? Zunächst sollte zu denken geben, daß die französischen Autoren der Moderne, die Poe diesen exponierten Ort in der Literaturgeschichte zugewiesen haben, die theoretischen Schriften der deutschen Romatik kaum zur Kenntnis genommen haben, ihr Interesse weitgehend auf einzelne Elemente wie den Begriff des Symbols bei Novalis beschränkt bleiben.15 Auch Poe mag sich die philosophische Komplexität der romantischen Kunsttheorie nicht vollständig erschlossen haben, aber im Gegensatz zu seinen Bewunderern war sie einer der wichtigsten Gegenstände seiner intellektuellen Auseinandersetzung und seine literarische Intelligenz hat ihn schnell dahin geführt, ihr produktionstheoretisches Zentrum mit sicherem Blick zu erfassen. August Wilhelm Schlegels „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“ erschienen bereits 1815 in englischer Übersetzung; drei Jahre später folgte Friedrich Schlegels „Geschichte der alten und der neuen Literatur“. Beide Arbeiten wurden von der englischsprachigen Literaturkritik mit großem Interesse aufgenommen, die darin, wie die Vielzahl der Besprechungen in amerikanischen Zeitschriften zwischen 1815 und 1833 belegt, eine Summe der theoretischen Bemühungen des gesamten frühromantischen Kreises sah.16 Poe hat sich mit beiden Schriften beschäftigt und ein Bewußtsein von der Bedeutung der um 1800 in Deutschland formulierten Entwürfe einer modernen Ästhetik besessen, auch wenn das Ausmaß seiner Deutschkenntnisse und damit die Möglichkeit der Lektüre weiterer Texte im Original kontrovers beurteilt worden sind: 15 Vgl. Werner Vordtriede, Novalis und die französischen Symbolisten. Zur Entstehungsgeschichte des dichterischen Symbols, Stuttgart 1963. 16 Vgl. Schilling, Die Bedeutung der Brüder Schlegel. Zu Poes Kenntnis anderer Sprachen siehe Killis Campbell, The Mind of Poe, in: Killis Campbell, The mind of Poe and other Studies, New York 1962; „That he could make shift to read brief passages of easy German has, I think, be established, but just how far his aquaintance with the language extented is not clear.“ (9).
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ERFAHRUNG DES MACHENS „Und was müssen wir vollends über die Deutschen sagen? Was über Winckelmann, über Novalis, über Schelling, über Goethe, über August Wilhelm Schlegel? Nichts anderes als daß ihre herrlichen critique raisonées sich im Prinzip zwar keineswegs von denjenigen der Kames, Johnson und Blair unterscheiden [...], sehr wohl aber in der Sorgfalt der Ausarbeitung, der größeren Gediegenheit, der profunderen Analyse sowie in der Principien-Anwendung als solcher.“ (PW IV, 335)
Daß es vor allem die Arbeiten von August Wilhem Schlegel waren, die Poes literaturtheoretische Vorstellungen nachhaltig beeinflußten, zeigt mehr noch als die Vielzahl der namentlichen Verweise und Zitate in seinem Werk die Orientierung an einzelnen Begriffsbildungen.17 Bereits Poes erste in den „Marginalien“ von 1845 vorgestellte Gedanken zum Komplex der literarischen Produktion wirken wie ein Rekurs auf Schlegels „Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache“ von 1795, in denen der Autor einer Vertrauten einen Blick in die Werkstatt des Künstlers gewährt hatte. Aber wenn der Schreiber sie darum bittet, was er ihr „hier anvertraue, ja nicht weiter zu erzählen“ (KS 1, 142), um nicht „unfehlbar in üble Händel mit der Zunft“ (KS 1, 142) verwickelt zu werden, gibt er mit dem Gestus spielerischer Ironie zu erkennen, es liege nicht im Interesse der Betroffenen, das, was seiner Meinung nach über die reale Arbeit des Schriftstellers gesagt werden kann, in der Öffentlichkeit zu äußern. Poe hingegen ist davon überzeugt, daß die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, über den wahren Sachverhalt unterrichtet zu werden und dieser Akt der Aufklärung für die Schriftsteller historisch auf der Tagesordnung stehe: „Ein trefflicher Zeitschrift-Artikel ließe sich verfassen über den sukzessiven Arbeitsprozeß, durch welchen ein beliebiges Kunstwerk – namentlich aber eines der literarischen Gattung zur Vollendung gedeiht. Wie gewaltig ist doch der Unterschied zwischen jeglichem Keim und der aus ihm reifenden Frucht – zwischen dem fertigen Werk und dessen ursprünglicher Konzeption.“ (PW IV, 761) Ein Satz reicht Poe, um den Kern des überlieferten Mißverständnisses zu kennzeichnen: Nicht Nähe und Übereinstimmung bestimmen das Verhältnis von Ursprung und fertiger Werkgestalt, sondern Differenz und Abweichung. Der Schwerpunkt der Aufklärung muß also ganz auf dem Aspekt der innerhalb des Arbeitsprozesses sich vollziehenden Veränderungen liegen. Um ein neues Mißverständnis von vornherein auszuschließen, macht Poe aber zugleich darauf aufmerksam, daß damit die Konzeption keineswegs entwertet wird, sondern im Gegenteil ihr eher in der traditionellen Theo-
17 Siehe Albert J. Lubbel, Poe and A.W. Schlegel, in: The Journal of English and Germanic Philology, Vol.LII, 1953, No. 1.
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rie und ihrem Vertrauen auf Inspiration zu wenig Beachtung geschenkt worden sei: „Bisweilen wird die letztere verworfen, ja gerät vollkommen aus des Autors Blickfeld. Die meisten Schriftsteller setzen sich einfach hin und beginnen zu schreiben, ohne daß sie zuvor einen Plan erstellt hätten. Vielmehr vertrauen sie zur Gänze der Eingebung des Augenblicks. So ist nicht weiter verwunderlich, daß auch die meisten Bücher ohne jeden Wert sind: Niemals sollte eine Feder das Papier berühren, bevor nicht ein wohlerwogener, allgemeiner Plan sie leitet.“ (PW IV, 761.)
Das in den „Materialien“ erwogene Projekt einer Darstellung des schriftstellerischen Arbeitsprozesses realisiert Poe in seinem 1846 erschienenen Aufsatz „Philosophy of composition“18. Zum journalistischen Hintergrund seiner Darstellung ist treffend bemerkt worden, daß Poes Essay „caters to the American appetite for the inside story of how something is done, and makes the reader feel that he can do it too.“19 In den einleitenden Bemerkungen stellt er zunächst Überlegungen darüber an, warum es bisher vergleichbare Bemühungen von Seiten der Schriftsteller nicht gegeben habe: „Oft habe ich mir gedacht, wie interessant ein Zeitschriftenbeitrag sein müßte, dessen Verfasser Schritt für Schritt das Verfahren aufzeichnen wollte, – wenn er es nämlich könnte –, nachdem einige seiner Arbeiten ihren letzten Grad der Vollendung erlangten. Weshalb die Welt einen solchen Aufsatz bisher nie vorgelegt bekam, weiß ich nicht zu sagen – aber vielleicht hat die Autoreneitelkeit mehr als alle anderen Ursachen mit diesem Versäumnis zu schaffen.“ (PW IV, 532)
Das ist noch ganz in Schlegels Sinne gedacht, der gleichfalls hervorgehoben hatte, es widerstrebe der Eitelkeit der Dichter, ihren einzigartigen Ruf als Günstlinge der Götter durch das Eingeständnis ihrer mühseligen und zutiefst menschlichen Arbeit zu gefährden. Doch im folgenden führt Poes Ausgangspunkt in doppelter Hinsicht über August Wilhelm Schlegel hinaus:
18 Jetzt enthalten in: J.A. Harrison (Hg.), The Complete Works of Edgar Allan Poe, ,Virginia Edition’, Bd.IV. Essays and Miscellanies, New York 1902. 19 William Charvat, Poe: Journalism and The Theory of Poetry, 76. Charvat sieht in Poes Text „his major effort to narrow the gap between poet and reader [...] his analysis of „The Raven“ [...], we must remember, was published in Graham’s, the most popular of middle–class magazines.“ (76).
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ERFAHRUNG DES MACHENS „Die meisten Vertreter – insbesondere die Poeten – möchten gern so verstanden sein, als arbeiteten sie in einer Art holden Wahnsinn – einer ekstatischen Intuition – und sie würden entschieden davor zurückschaudern, die Öffentlichkeit einen Blick hinter die Kulissen tun zu lassen: auf die verschlungene und unschlüssige Unfertigkeit des Denkens – auf die erst im letzten Augenblick begriffene wahre Absicht – auf die unzähligen flüchtigen Gedanken, die nicht zu voller Erkenntnis reiften – auf die ausgereiften Ideen, die verzweifelt als nicht darstellbar verworfen werden – auf die vorsichtige Auswahl und Ablehnung- auf das mühsame Streichen und Einfügen – kurz, auf die Räder und Getriebe – die Maschinerie für den Kulissenwechsel – die Trittleitern und Versenkungen – den Kopfputz, die rote Farbe und die schwarzen Flicken, die in neunundneunzig von hundert Fällen die Requisiten des literarischen Histrio20
nen ausmachen.“ (PW IV, 533)
Es lohnt einen Augenblick bei dem von Poe eröffneten Bildfeld zu bleiben. Zunächst fällt auf, daß er die sachlichen Hinweise auf den Prozeßcharakter der literarischen Produktion mit Metaphern zu verdeutlichen versucht, die dem Sprachgebrauch des Theater und der Bühnentechnik entnommen sind. Sieht man genauer hin, welche dramaturgischen Mittel Poe erwähnt – Räder, Getriebe, Maschinerie für Kulissenwechsel, Trittleitern und Versenkungen, Kopfputz, rote Farbe und schwarze Flicken – so drängt sich angesichts der spezifischen Kombination von mechanischen Mitteln und solchen der Kostümierung der Eindruck auf, Poe habe seiner Darstellung das Bild des Schachautomaten von Maelzel zugrundegelegt, dessen Funktionsweise ja vor allem durch die der komplizierten Mechanik innewohnende Möglichkeit der Versenkung und dessen theatralische Wirkung durch die Bewegungen der mit einem Turban als Kopfputz drapierten Figur des Türken erzielt worden waren. Die Orientierung am Bild des Schachautomaten eröffnet Poe den Rückgriff auf eine bewährte Strategie der Argumentation: Läßt sich der Akt der literarischen Produktion mit Maelzels Vorführung vergleichen, so ergibt sich für Poe daraus ebenso die Möglichkeit der Entlarvung einer Täuschung als auch die der Aufklärung über den wahren Sachgehalt. Aus dieser Perspektive erscheint für Poe das Interesse der sich auf Wahnsinn und ekstatischen Intuition berufenden Dichter, die Öffentlichkeit keinen „Blick hinter die Kulissen“ tun zu lassen, mit dem Maelzels vergleichbar, das Geheimnis seines Schachautomaten zu wahren. Wichtiger indes ist für Poe der sachliche Zusammenhang zwischen dem Prozeß der literarischen 20 Poes Reflexionen zum Geniebegriff an anderer Stelle gelten vor allem dem Verhältnis von Genialität und Wahnsinn. Das „gesunde“ Genie zeichnet sich für ihn durch „im Status absoluter Proportion“ befindliche Geisteskräfte aus, die es zur Universalität in der Ausübung von Fertigkeiten befähigen. Vgl. PW IV, 771–774.
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Produktion und der besonderen Funktionsweise des Apparates von Maelzel. Denn hier wie dort geht es darum, einen Prozeß zu beschreiben, der zwar auch durch mechanische Elemente organisiert wird, bei dessen Analyse aber letztlich alles darauf ankommt, zu bestimmen, auf welche Weise „das menschliche Agens“ zum Tragen gebracht wird, und zwar unter Bedingungen, die keinerlei vorherbestimmten Ablauf kennen. Dem Fehlen eines vorherbestimmten Ablaufs einer Schachpartie entspricht die von Poe hervorgehobene Unfertigkeit des Denkens beim Schreiben, für den Spieler wie für den Schriftsteller ist im Prozeß der Ausübung ihrer Disziplin die bewußte Reaktion auf eine nur in begrenztem Maße vorhersehbare Lage gefordert. Die Vermutung, Poes Text versuche den literarischen Produktionsvorgang am Modell des „menschlichen Automaten“ zu veranschaulichen, findet eine weitere Bestätigung in dem begrifflichen Hinweis, es gehe ihm auch hier um die Darlegung eines „modus operandi“. Damit ist eine Paralletität in der Sache und erneut jenes Problem bezeichnet, das ihn bereits in „Maelzels Schachspieler“ beschäftigt hatte und nun ein zweites Mal in den Mittelpunkt seiner theoretischen Bemühungen rückt, indem er erläutern will, wie eines seiner „eigenen Werke zustande kam“ (PW IV, 533). Er kündigt damit nicht weniger an als eine öffentliche Schaustellung der Funktionsweise des „literarischen Produktionsapparates“, so wie er ihn an sich selbst und in der eigenen Arbeit erfahren hatte. Poe räumt zwar gewisse Schwierigkeiten eines solchen auf Selbstbeobachtung beruhenden Unternehmens ein, die sich daraus ergeben, „daß Einfälle in wirrem Durcheinander auftauchen und auf ähnliche Weise weiterverfolgt und vergessen werden“ (PW IV, 533). Letztlich jedoch könne er weder „Verständnis für den erwähnten Widerwillen“ (PW IV, 533), überhaupt etwas darüber zu sagen, aufbringen, noch habe er „jemals die geringste Schwierigkeit“, sich die „Entwicklungsphasen“ einer seiner Arbeiten „zu vergegenwärtigen“ (PW IV, 533) Wichtiger als eigene Eitelkeiten, die Poe hier wie an vielen anderen Stellen seines Werkes pflegt, ist die von Poe unterstellte logische Möglichkeit eines solchen Projekts künstlerischer Selbsterforschung. Ihre im Prozeß der Produktion selbst anzutreffenden theoretischen Grundlagen hatte August Wilhelm Schlegel in seinen Ausführungen zu Shakespeare und der Bedeutung des sich mit seinen Leistungen verbindenden Geniebegriffs erörtert. Während in den Würdigungen des 18. Jahrhunderts, vor allem in den Elogen des Sturm und Drang, Shakespeares Stücke als endgültiger Beweis für die Gültigkeit der Genieästhetik herangezogen wurde, stellt Schlegel ihn als Dichter dar, in dessen Werk, ohne das Einzigartige daran schmälern zu wollen, bestimmte Ele-
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mente durchaus als Anwendung bewußter, wenngleich neuer künstlerischer Verfahrensweisen erkennbar seien: „Mir ist er ein tiefsinniger Künstler, nicht ein blindes wild laufendes Genie. Was man hiervon schwatzt, halte ich überhaupt nur für eine fabelhafte Sage, für einen blinden wilden Wahn. Bei den übrigen Künsten widerlegt es sich schon von selbst, denn hier ist die erworbene Wissenschaft eine unerläßliche Bedingung, um irgendetwas zu leisten. Aber auch bei solchen Dichtern, die man für sorglose Zöglinge der Natur ohne alle Kunst und Schule auszugeben pflegt, fand ich bei näherer Betrachtung, wenn sie wirklich vortreffliche Werke geliefert, ausgezeichnete Kultur der Geisteskräfte, geübte Kunst, reiflich überlegte und würdige Absichten. Dies gilt ebensosehr für Homer als von Dante. Die Tätigkeit des Genies ist ihm zwar eine natürliche und in gewissem Sinne bewußtlose, wovon also der, welcher sie ausübt, nicht immer augenscheinlich Rechenschaft wird ablegen können; es ist aber keineswegs eine solche, woran die denkende Kraft nicht einen großen Anteil hätte. Eben die Schnelligkeit und Sicherheit der Geisteswirkung, die höchste Klarheit des Verstandes macht, daß das Denken beim Dichten nicht als etwas abgesondertes wahrgenommen wird, nicht als Nachdenken erscheint. Jener Begriff von der poetischen Begeisterung, den manche lyrische Dichter in Umlauf gebracht haben, als wären sie außer sich und erteilten wie die Pythia, von einer fremden Gottheit ergriffen, ihnen selbst unverständliche Orakelsprüche: jener Begriff (selbst nur eine lyrische Erdichtung) paßt am allerwenigsten auf die dramatische Konzeption, eine der besonnensten Hervorbringungen des menschlichen Geistes.“ (KS 6, 126)
Nicht die Anerkennung des rational nicht erklärbaren Elements jeder ästhetischen Produktion ist für Schlegel das Entscheidende, sondern die Erkenntnis der in ihrem Vollzug wirksamen „denkenden Kraft“. Ihre Erscheinungsweise beschreibt Schlegel mit Begriffen wie „Schnelligkeit und Sicherheit“ sowie „höchste Klarheit des Verstandes“, eine Gegebenheitsweise, die bewirke, „daß das Denken beim Dichten nicht als etwas Abgesondertes wahrgenommen wird.“ Damit zielt Schlegel erneut auf die in allen Akten des Herstellungsprozesses sich vollziehende Vermittlung zwischen Geschaffenem und Beurteilung durch den Künstler, die er bereits in seiner Kritik an Kants Geniebegriff als „Äußerung schöpferischer Kraft mit beständiger Selbstanschauung in ihr“ beschrieben hatte. Da die denkende Kraft konstitutiver Teil des Produktionsprozesses ist und das Bewußtsein sich prüfend den einzelnen jeweils erreichten Gestalten des Werkprozesses als Form seiner Vergegenständlichung im Material vergewissert, eröffnet sich die logische Möglichkeit der Selbstbeobachtung, indem das Bewußtsein seine Aufmerksamkeit auf die Folge
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der eigenen Handlungen richtet. In dem Maße, wie diese Haltung Züge einer methodischen Beobachtung annimmt, erscheint es im Interesse der künstlerischen Selbstaufklärung geboten, sich über diesen Vorgang Rechenschaft abzulegen und auch die Öffentlichkeit an diesem Wissen teilhaben zu lassen. Poe teilt diese theoretischen Bestimmungen August Wilhelm Schlegels und vor dem Hintergrund dieser sachlichen Gemeinsamkeit erscheint sein Text „Philosophy of Composition“ wie der Versuch, dem Publikum an einem Beispiel aus der eigenen Produktion zu zeigen, was Schlegel meint und worin von nun an die Voraussetzungen einer neuen Form der Poetik zu sehen seien. Man sollte den im Titel des Textes verwendeten Begriff der „Philosophie“ nicht außer acht lassen, denn er verweist von vornherein darauf, daß es Poe um die Beschreibung dessen geht, was für jeden literarischen Produktionsvorgang gilt, das allgemeine an ihm, das der theoretischen Erkenntnis zugänglich ist. Poe beabsichtigt also keineswegs eine exakte Rekonstruktion des Werkprozesses seines Gedichtes „The Raven“21. Wäre dies seine Absicht gewesen, so hätte deren Darstellung den Verlauf der Arbeit an den einzelnen Versen stärker berücksichtigen, in jedem Fall aber umfassender sein müssen, um dem Leser eine überzeugende Darstellung der Werkgenese zu vermitteln. Die Beschreibung der konkreten Arbeitsschritte bleibt der Absicht des Textes untergeordnet, eine Theorie der Produktion vorzustellen und deren Aussagen am Beispiel eines als exemplarisch angesehenen Produktionsverlaufes empirisch zu begründen und auf diese Weise das überlieferte und dem Publikum vertraute Klischee der unbewußten Schöpfung zu unterminieren. Folgt man den einzelnen Schritten der Argumentation Poes, so wird zunächst deutlich, daß der Entstehungsprozess seines Gedichts als Folge von gleichwertigen Arbeitsphasen dargestellt wird. Einmal vorausgesetzt, es soll ein Gedicht geschrieben werden, so Poe, stehen am Beginn Überlegungen über den mit ihm angestrebten Effekt, der entweder die Darstellung einer besonderen Handlung, eine spezifische Tonart oder eine Verbindung von beidem verlange. Es folgen Überlegungen zum Umfang, zum Gebiet und zur Tonart des Gedichts und schließlich die „Suche nach einem künstlerischen Reiz, der mir als Grundgedanke bei der Anfertigung des Gedichts dienen konnte“.(PW IV, 537) In diesem Zusammenhang gelangt er zum Motiv der Wiederholung und zur Frage der Gestaltung des Refrains:
21 Zu den Quellen, Einflüssen und literaturgeschichtlichen Bezügen von ,The Raven’ siehe: Collected Works of Edagar Allan Poe. Vol. 1. Poesms. Edtited by Thomas Ollive Mabbot, Cambridge.Mass/London 1969, 353–374.
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ERFAHRUNG DES MACHENS „Dies brachte mich sofort auf ein einzelnes Wort als den besten Refrain. Nun stellte sich die Frage nach dem Charakter des Wortes. Aus dem Entschluß zu einem Refrain erwuchs die notwendige Aufteilung des Gedichts in Strophen: der Refrain bildet den Abschluß jeder Strophe. Da ein solcher Abschluß, um Kraft zu haben, klangvoll sein und eine gedehnte Betonung erlauben mußte, ließ sich nicht bezweifeln; und diese Überlegung brachten mich unvermeidlich auf das lange o als den klangvollsten Vokal, inVerbindung mit dem r als dem best artikulierbaren Konsonanten. Als der Klang des Refrains so festgelegt war, galt es ein Wort zu wählen, das diesen Klang enthielt und zugleich möglichst nahe an jene Melancholie herankam, die ich als Stimmung des Gedichts festgelegt hatte. Bei einer Suche ist es völlig ausgeschlossen, das Wort ,Nevermore’ zu übersehen. Tatsächlich war es das erste, das sich mir anbot.“ (PW IV, 538)
Die Festlegung des ersten Wortes erscheint als Beschwörung einer wirkenden Kraft, die alle weiteren sprachlichen Elemente nach sich zieht und Poe zu den inhaltlichen Elementen des Gedichts führt: ein Rabe als Figur, dem die monotone Wiederholung desselben Wortes angemessen erscheint, der Gestaltung eines Todes, der, nach menschlichem Verständnis das melancholischste unter allen Sujets, eine entsprechende Wirkung auf den Leser auszuüben am besten geeignet erscheint, zumal dann, wenn es sich um den Tod einer geliebten Frau handelt; schließlich der Rabe mit seinem Schlüsselwort „Nevermore“ als Sinnbild trauervoller und nicht endender Erinnerung. Ausgehend von der Wahl der Lyrik als Gattung, der das zu schaffende Werk angehören soll und deren Formelemente entsprechend berücksichtigt werden müssen, beschreibt Poe weniger die Kontinuität des Schreibprozesses als vielmehr dessen logische Struktur. Poe sieht den Produktionsprozeß durch eine spezifische Logik von Akten bestimmt, deren jeweilige Voraussetzung das Bewußtsein nicht antizipieren kann. Es ist gezwungen, allein vermöge der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit aus der Logik der bisherigen Formung den nächsten möglichen Schritt zu entwickeln. Dergestalt erhält das Bewußtsein für Poe innerhalb der ästhetischen Prozeßlogik die Bedeutung einer formalen Instanz. Insofern es die Logik des Prozesses beherrscht, sind die Schaffensakte selbst einer formalen Rationalität unterworfen, die Poe durch eine spezifische Metaphorik zu verdeutlichen versucht, indem er hervorhebt, „daß das Werk Schritt um Schritt mit der Präzision und strengen Folgerichtigkeit eines mathematischen Problems“ (PW IV, 534) hervorgebracht werde. So sei bei der Arbeit an „The Raven“ der ersten Entscheidung für eine bestimmte Wirkung jene gefolgt, die das Erreichen des angestrebten Effektes an einen bestimmten Umfang gebunden habe;
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die Überzeugung, daß das Gedicht eine bestimmte Form der Schönheit zur Erscheinung bringen solle, habe bewirkt, im Gedicht Trauer als „Tonart ihrer vollkommensten Repräsentation“ (PW IV, 537) zu gestalten. Schließlich sei es um die Festlegung eines künstlerischen Ausgangspunktes gegangen, der im Refrain zu sehen sei und der kurz habe ausfallen müssen, um jede Strophe angemessen abschließen zu können, und klangvoll, um eine entsprechende Wirkung zu zielen, was wiederum die Entscheidung für ein Wort mit tragendem Vokal zwingend gemacht habe. Poes entscheidende Leistung für die Entwicklung einer modernen Produktionsästhetik liegt darin, daß er sowohl den Charakter des Produktionsprozesses als einer Abfolge von Entscheidungssituationen akzentuiert als auch auf den bis dahin nicht ausreichend verdeutlichten Sachverhalt aufmerksam macht, in welcher Weise jede dieser Entscheidungen einer aus dem bisherigen Produktionsverlauf sich ergebenden Sachlogik zu folgen hat. Der Formalismus des Bewußtseins auf Seiten des Subjekts tritt jeweils in den konkreten materialbezogenen Akten des Schaffensprozesses in Erscheinung. Was bisher als Eigenlogik der Ausführung bezeichnet worden ist, um sie gegenüber einem idealistischen Verständnis von Ausführung abzugrenzen, welches darin nicht mehr als einen äußerlichen Vorgang der Abspiegelung einer Idee im Material sehen wollte, kann nun als produktive Kraft des Künstlers näher spezifziert werden. Der frühe deutsche Übersetzer Baudelaires, Max Bruns, hat dafür den Begriff „Praktiken der Ausführung“22 gewählt. Als solcher bezeichnet er bei Poe nicht mehr im Sinne des 18. Jahrhunderts materialgerechtes Verfahren oder Anwendung von Gattungsregeln, sondern den Sachverhalt, daß der Ausführung als dem Formalismus des Bewußtseins entsprechende Pragmatik im Hinblick auf den Fortschritt der Werkgestaltung die gleiche Bedeutung zugemessen werden muß wie dem, was als Realisierung konzeptioneller Vorentscheidungen bezeichnet werden könnte. Praktik der Ausführung läßt sich in diesem Sinne begrifflich von konzeptioneller Ausführung unterscheiden, indem sie nicht mehr nur als Mittel verstanden, sondern gleichermaßen als Medium anzusehen ist, in dem sich die Werkgestalt prozeßhaft entwickelt. Was immer der Autor an Vorwissen in den Schaffensprozeß einbringt, es wird überlagert von dem, was das Bewußtsein innerhalb seines Vollzugs zu leisten hat. Dieser veränderte Begriff von Ausführung ist einer Kritik entgangen, die in Poes Text ein fatales Fortleben des Gedankenguts aufklärerischer 22 Charles Baudelaire, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Minden 1901, 172. Vgl. W.L. Werner, Poe’s Theories and Practise in Poetic Technique. In: Amercan Literature, Vo. 2, No. 2, 1930. Im Hinblick auf den Gebrauch lyrischer Mittel hebt Werner besonders hervor, Poe sei „careful in his arrangements of sounds“, (164).
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Poetiken hat ausmachen wollen. Der Vorwurf, Poe biete lediglich eine spektakuläre Darstellung der These, alle Elemente des Werkes ließen sich durch logische Analyse antizipieren und brauchten dann nur noch mechanisch ins Werk gesetzt zu werden, verfehlt den Gehalt seiner Poetik ebenso wie das Urteil, seine „effektorientierten Sätze propagieren ein technizistisches Verständnis von Kunst und Kunstproduktion“.23 Nicht Poes empirische Theorie der literarischen Produktion ist technizistisch, sondern diese Art der Kritik unterliegt einem mechanistischen Mißverständnis. Es wäre nicht recht zu erklären, warum Poes Theorie, wäre ihr dieser vormoderne Zug wirklich eigen, für Baudelaire, Mallarmé oder gar Valéry von Interesse gewesen sein sollte, und auch die Vermutung, sie hätten Poe zwar falsch, aber auf ihre Weise produktiv rezipiert, wäre alles andere als überzeugend. Von der Hand zu weisen ist freilich nicht, daß die Möglichkeit dieses Mißverständnisses durch eine Schwäche seines Textes begünstigt wird, die darin liegt, daß Poe darauf verzichtet, den Produktionsvorgang ausführlich und im Detail zu schildern, also etwa die Arbeit an einzelnen Versen, die Folge der jeweiligen Prozeßgestalten oder einzelne Fassungen vorzustellen. Er skizziert, daß es sich bei der Arbeit jeweils um Entscheidungssituationen gehandelt hat, und er präsentiert die Lösung, es ist für das Verständnis jedoch ein Nachteil, daß er die Voraussetzungen seiner Entscheidungen, die zur Verfügung stehenden Elemente, den Prozeß der Auswahl, die materialen Elemente, die er verworfen hat, jedoch nicht beschreibt. Statt durch eine Dokumentation von Korrekturen die Logik dieses Prozesses so deutlich wie möglich zur Anschauung zu bringen, suggeriert Poe durch einen Gestus, der seinen Lösungen jeweils den Charakter des Unvermeidlichen und einzig Gebotenen verleiht, daß die jeweils beste Lösung ihm sofort zugefallen sei, eine Haltung, die bereits 23 Ulrich Horstmann, Ansätze zu einer technomorphen Theorie der Dichtung bei Edgar Allan Poe, Frankfurt a.M. 1975, 124. Die jüngste Kritik an Poe argumentiert genau entgegengesetzt. Poe verfalle im Gang seiner Argumentation selbst jenem Mythos der Inspirationsästhetik, den zu entzaubern er vorgebe: „Statt poetischer Physik wieder poetische Metaphysik, statt schöpferischer Autonomie die Stimme der Vernunft als prophetische Verbalinspiration.“ Siehe: Heinrich Detering, Wahnsinn und Methode. Poe, Benn und die Dialektik der aufgeklärten Poetik. In: Merkur, H. 4, 2000, 309. Die von Poe in anderen Zusammenhängen bereits näher bestimmte Spezifik der Produktionsakte, die er in seiner „Philosophie der Komposition“ illustriert, findet in dieser Kritik ebenso wenig Berücksichtigung wie die Tatsache, dass es der Sache nach um eine Gewichtung sowohl von rationalen als auch, wie Valéry sagt, mystischen Elementen geht. Diese werden nicht ausgeschlosssen, aber auch nicht, wie Detering suggeriert, unvermittelt wieder verklärt. Gleichwohl ist die Geschichte der Poe–Polemik in Deutschland um eine weitere Variante bereichert worden, und man wundert sich nur, mit welcher traumwandlerischen Sicherheit die französischen Autoren der Moderne Poes Texte falsch gelesen zu haben scheinen, damit sie jenen Sackgassen entgehen konnten, in die sie Poe eigentlich hätte führen müssen.
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durch den einleitenden Hinweis, es gehe ihm bei der Darstellung darum, deutlich zu machen, daß sich kein einziger Punkt in seiner Komposition auf „Zufall oder Intuition zurückführen läßt“ (PW IV, 534) seine Glaubwürdigkeit zu beeinträchtigen droht. Der Zusammenhang von Poes Argumentation macht allerdings deutlich, daß er nicht damit sagen will, es gebe in den entsprechenden Entscheidungssituationen jeweils nur eine Lösung, sondern er kokettiert mit seinem Vermögen, die jeweils beste falle ihm, aufgrund seines besonderen Vermögens, in der Regel als erste zu. Daß dies vor allem seiner Autoreneitelkeit, der Absicht, „to convince the world of his self-mastery,“24zuzuschreiben ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Poe den realen Arbeitsvorgang zu Beginn seines Textes ja bereits in aller Deutlichkeit als Prozeß charakterisiert hatte, der durch Auswahl und Ablehnung, mühsames Streichen und Einfügen bestimmt ist. Durch die Präsentation dieser Elemente, durch eine genaue Dokumentation der Textvarianten und Korrekturen hätte er den Text den Mißverständnissen entziehen können, die seine Rezeption begleitet haben. Im Hinblick auf die Gründe dieses Verzichts läßt sich eine Vermutung anstellen. Erinnert man sich der von Novalis gestellten Frage, ob es nicht in Zukunft möglich sein werde, ein Gedicht a priori zu konstruieren, also durch bloße Reflexion im Vorwege alle Elemente zu ermitteln, die das geplante Werk ausmachen, so kann zumindest darüber spekuliert werden, ob Poe in diesem Text nicht auch diesen Gedanken verfolgt. Zumindest würde es den etwas zwiespältigen Eindruck erklären, den er beim Leser in der Tat hinterläßt und der damit zusammenhängen mag, daß sich Poe letztlich über seine Intention selber nicht vollständig im klaren war.25 Vielleicht ist in seiner Darstellung auch der Impuls wirksam gewesen, eine weiteres Motiv frühromantischer Produktionstheorie aufzugreifen und die Möglichkeit einer Konstruktion a priori als erster in der poetischen Praxis unter Beweis zu stellen. Der Ehrgeiz, auf diese Weise die Poesie im Sinne des Novalis, durch das Wissen, das sie mit den Mitteln der Wissenschaft von sich selbst gewinnt, auf eine neue Stufe ihrer Entwicklung zu heben, dürfte Poe jedesfalls nicht fremd gewesen sein.
24 Harry Lewin zitiert nach I.A. Richards, Poetic Process and Literary Analysis, in: Style in Language. Edited by Thomas A. Seboek, Cambridge, Massachusetts 1964, 10. 25 Kennteh Burke hat einen wesentlichen Grund für das falsche Verständnis von Poes Essay geltend gemacht: „there has been a constant invitation to interpret all such purely logical priority in terms of temporal priority.“ Kenneth Burke, „The Principle of Composition“, in: Poetry, Vol. 99, No. 1, 1961, 51. Wenn man, so Burke, Poes Darstellung nicht die Behauptung einer zeitlichen Priorität aller Darstellungselemente, die das spätere Werk ausmachen sollen, unterstellt, sondern sein Interesse an einer Demonstration logischer Sachverhalte erkennt, erschließe sich „the essential rightness“ der Prinzipien „he found (or thougt he found) implicit in his act as a poet.“ (51).
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T.S. Eliot hat in Poes „Philosophie der Komposition“ eine „Präzisierung“ der von Coleridge formulierten Frage „Was tue ich, wenn ich ein Gedicht schreibe?“ gesehen, die „ihr im Hinblick auf den Entwicklungsablauf, der mit Valéry endet, eine überragende Bedeutung verleiht.“26 Worin liegen die entscheidenden Fortschritte, die Poes Text für das Projekt der Selbstaufklärung der Schriftsteller über das eigene Metier bedeutet? Hugo Friedrich hat Poes Aufsätze als „Denkmäler einer künstlerischen Intelligenz“ bezeichnet, „die ihre Ergebnisse aus der Beobachtung eigenen Dichtens gewinnt“27 Poes Texte bekommen damit den Status von Urkunden einer ruhmreichen Entdeckung, die darin bestehe, daß von nun an Dichtung und Reflexion über Dichtung ranggleich nebeneinander ständen. Zudem habe er im Hinblick auf den Vorgang des Produktionsprozesses eine neue Sichtweise geltend gemacht: „Der Einfall Poes besteht darin, daß er die von der älteren Poetik angenommene Reihenfolge der dichterischen Akte umkehrt; was Resultat scheint, die ,Form’, ist Ursprung des Gedichts; was Ursprung scheint, der ‚Sinn‘ ist Resultat.“28 Bereits Friedrichs metaphysisch bestimmte Begrifflichkeit erscheint wenig geeignet, das Besondere der poetologischen Bemühungen Poes zu erfassen. Auch bei ihm ist die Form des Gedichts das Resultat des Werkprozesses und steht keineswegs als Ursprung an dessen Anfang, aber was ihn von der Formkonzeption der traditionellen Poetik unterscheidet, ist die Erkenntnis, daß Form nicht als etwas Äußeres durch die Beschaffenheit des Materials bedingtes zu einer ideellen Konzeption hinzutritt, ihr gleichsam die Hülle bereitstellt, in der sie in Erscheinung treten kann. Poe zeigt gerade, daß im Verlauf der mit jeder Werkphase aufs neue geforderten Entscheidungen die Form des Gedichts sich sukzessive aus der Logik der Akte entwickelt. Anfang und Ende als definitive Bestimmungen des Formprozesses werden in Poe Analyse nicht umgekehrt, sondern zugunsten eines Prozessdenkens aufgelöst. An dessen Beginn steht ein Unbestimmtes, das nach weiterer Bestimmung im Akt der Gestaltung verlangt, und am Ende steht eine Form als Ausdruck der Entscheidung des Dichters, den letzlich prinzipiell offenen Prozeß abzuschließen. Entsprechend problematisch ist auch die Bestimmung des Sinns, die Friedrich bei Poe an die Abschlußgestalt des Werkprozesses binden will. So richtig die Feststellung ist, daß der Sinn für den Leser immer als Funktion des abgeschlossenen Werkes in Erscheinung tritt, so wenig sind die Aktionen des handelnden Autors nur Vorbereitung eines Werkes, das erst als abgeschlossenes seinen Sinn zu erkennen gibt. Was die Arbeit des schaffenden Dichters auszeichnet, ist, wie Poes Analyse deutlich macht, 26 T.S. Eliot, Von Poe zu Valéry, 112. 27 Hugo Friedrich, Zur Struktur der modernen Lyrik, 51. 28 A.a.o., 51.
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die dialektische Einheit von materialbedingten Entscheidungen, die für ihn selbst einen spezifischen Sinn evozieren, ihn diesen erst entdecken lassen und solchen, bei denen eine bestimmte vorgestellte Sinnrichtung die Suche nach einem materialen Element forciert, das in der Logik der bisherigen Formentwicklung liegt. Im künstlerischen Schaffensprozeß potenziert sich auf diese Weise ein Effekt, den Poe allgemein dem Verhältnis von Denken und Schreiben zuordnet und der seiner intellektuellen Arbeit zugutekommt, indem er das Schreiben als Mittel in Anspruch nimmt, um die Genauigkeit seines Denkens zu steigern: „Für ausgemacht kann ja gelten, daß schon dem bloßen Akt des Niederschreibens die Tendenz innewohnt, unsere Gedanken in logische Ordnung zu bringen. Wann immer ich mit einer Conception meines Hirns ob ihrer Verschwommenheit unzufrieden bin, nehm ich sogleich Zuflucht zur Feder in der Absicht, mit ihrer Hilfe den schweifenden Gedanken die notwendige Form, Abfolge und Präcision zu geben.“ (PW IV, 733) Poe demonstriert in seiner Analyse die Besonderheit des künstlerischen Prozesses, dessen Logik, wie Paul Valéry immer wieder gegen einen spezifischen Typus von Philosophie geltend gemacht hat, sich deren ausschließlich an der sukzessiven Konstruktion von Sinn orientierten Verständnis oft nicht erschließt: „Dem Philosophen geht nur schwer ein, daß der Künstler fast unterschiedlos von der Form zum Inhalt und vom Inhalt zur Form überwechseln kann; daß ihm eine bestimmte Satzform beikommt und daß er erst dann nach einem Sinn sucht, der sie rechtfertigt und ergänzt; daß die Idee einer Form ihm soviel gilt wie die Idee, die nach einer Form verlangt.“ (PW, 174) Der Ruhm, den Poes Text erlangt hat, steht in einem merkwürdigen Widerspruch zur Bewertung seines Sachgehaltes. Die „Offenlegung von Teilwahrheiten“, so der Tenor der Kritik, werde dazu benutzt, „den wirklichen Ablauf des Schöpfungsvorgangs durch rigorose Übervereinfachung zu verschleiern“29, man habe es bei diesem Text mit Poes „most fantastic piece of sciene fiction“30 zu tun oder Poe habe, wie I.A. Richards kritisch bemerkt, das angekündigte Vorhaben nicht realisiert: „We find nothing of all this in what follows. Instead we are given an ostentatious parade of allegedly perfect adjustment of selected means to fully foreseen ends.“31
29 Ulrich Horstmann, Ansätze zu einer technomorphen Theorie der Dichtung bei Edgar Allan Poe, 134. Vgl. Horstmanns Präsentation der Stimmen des Kritiker– Chores. 30 Ellman Crasnow, The Poetics of Contengency: Modes of Knowledge in Poe, in: Poetic Knowledge. Circumface and Centre. Papers from the Wuppertal Symposium 1978. Introduced and edited by Roland Hagenbüchle and Joseph T. Swann, Bonn 1980, 60. 31 I.A. Richards, Poetic Process and Literary Analysis, 10.
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Die Einschätzung, Poes Beschreibung des literarischen Schaffensprozesses leide an einer technizistischen Übervereinfachung, führt dazu, ihn selbst als „einen restaurativen Denker zu begreifen, der einer Inversion der historischen Entwicklung das Wort redete, also genuin romantische Kategorien seinerseits psychologistisch und emotionstechnologisch unterminiert.“32 In der Tat rekurriert er auf romantische Kategorien, aber es sind eben jene historisch neuen einer Produktionstheorie, in deren Mittelpunkt die präzise Bestimmung des Prozeßcharakters schriftstellerischer Arbeit und ihrer immanenten Logik der Akte des formalen Bewußtseins stehen. Zudem scheint die von Schlegels Bemerkung ausgehende Suggestion, es sei an der Zeit, diesen Prozeß einmal exemplarisch zu verdeutlichen, ihre Wirkung auf Poe nicht verfehlt zu haben. Vor diesem Hintergrund gewinnt Poes „Philosophie der Komposition“ die Konturen eines Projekts, das Schlegels Postulat ernstnimmt und die eigene Chance als Schriftsteller darin sieht, es einzulösen. Ihm gelingt die erste anschauliche Darstellung der von Goethe, Schiller und den frühromantischen Denkern in Ansätzen beschriebenen und von August Wilhelm Schlegel theoretisch präzisierten Produktionslogik. Weniger deren Entdeckung ist sein Verdienst als vielmehr deren exemplarische Illustration. Er ist es, der der literarischen Öffentlichkeit, wenn auch zunächst nur der englischsprachigen „ganz klar und deutlich formuliert“ jenes Gleichnis schenkt, das Humboldt gefordert hatte, um selbst auch das „ganz neue Feld“ einer Theorie der literarischen Technik betreten zu können. Poe liefert das anschauliche Beispiel einer Werkentstehung, das das veränderte Verständnis literarischen Schaffens paradigmatisch demonstriert und das es erlaubt, besser zu verstehen, was der späte Goethe 1831 mit seiner „Art von Produktion“ gemeint hatte, die ihre Gegenstände „bei völligem Bewußtsein“ hervorbringt. Zwar verzichtet Poe bei der Gestaltung seines Essays nicht auf bestimmte dramatische Effekte, was, wie gesehen, der Sache nicht immer förderlich ist. Keineswegs aber ist es so, daß die Orientierung des Essays an Mitteln dieser Art seine aufklärerische Intention zunichte gemacht habe. Es ist kein Zufall, daß auch John Dewey in seinen grundlegenden Ausführungen zum Ausdrucksakt auf Poes „Philosophie“ zurückkommt und jenen auch hier erörterten Passus zitiert, in dem Poe die Funktionsweise literarischer Produktion mit einer Bühnenapparatur vergleicht und damit den Leser auf den modus operandi als Gegenstand und die Art seiner Durchführung eingestimmt hatte. Mit äußerster Knappheit konstatiert
32 Ulrich Horstmann, Ansätze zu einer technomorphen Theorie der Dichtung bei Edgar Allan Poe, 25.
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Dewey: „Was er sagt, ist die anschauliche Darstellung einer nüchternen Tatsache.“33 Nämlich die Wahrheit über die Praktik der Ausführung: „Es gibt in der Tat nicht zwei verschiedene Arbeitsfunktionen – eine auf das äußere Material, die andere auf den inneren und geistigen Stoff ausgerichtet. Das Werk ist in dem Grade künstlerisch, in dem beide Funktionen durch einen einzigen Akt bewirkt werden. In dem Moment, in dem der Maler Farbe auf die Leinwand aufträgt oder sich die Leinwand vorstellt, ordnen sich auch seine Gedanken und Gefühle. Indem der Schriftsteller das, was er sagen will, in dem ihm eigenen Medium des Wortes abfaßt, gewinnt seine Idee eine für ihn 34
erkennbare Form.“
Aber was für den modernen Kunsttheoretiker des Pragmatismus nur noch eine Tatsachenfeststellung ist, die sich durch Poes Beschreibung gut erläutern läßt, gewinnt für das historische Denken eine andere Dimension. Die Vorbereitung dieser theoretischen Erkenntnis von der Logik des literarischen Produktionsprozesses und seiner Aktstruktur ist eine der bedeutendsten Leistungen des poetologischen Denkens in Deutschland zwischen 1770 und 18OO, indem es die metaphysische Trennung in jeweils auf Material oder Geist bezogene Aktivitätsformen überwindet, besser gesagt jene platonische Tradition, die gelehrt hatte, von vornherein in diesen Kategorien der Unterscheidung zu denken.35 Poes kongeniale Leistung besteht eben darin, diese Erkenntnis durch das Modell einer exemplarischen Veranschaulichung verständlich gemacht zu haben. Den Erfolg dieser Bemühungen dokumentiert nichts besser als die Wirkungsgegeschichte seiner Poetik, deren deutsche Ursprünge ihn tragischerweise der amerikanischen Öffentlichkeit lange Zeit ebenso entfremdet haben wie die durch Baudelaire initiierte Rezeption seiner Werke in Frankreich.36 Mit Poe hat die Poetik der Moderne ihr Fundament erhalten, und 33 John Dewey, Kunst als Erfahrung, 90. 34 A.a.o., 91. 35 Poes Verhältnis zum Platonimus ist insgesamt schwankend; in einer 1845 veröffentlichten Rezension heißt es jedoch: „But if the question be put today, what is the value of the Platonian philosophy, the proper answer is ,exactly nothing at all.’“. Zitiert nach Albert J. Lubbel, Poe and A.W. Schlegel, 12. 36 Julien Gracque hat diesen Zusammenhang, vor allem die ihm innewohnende Problematik scharfsinnig skizziert: „Amerika hat sich von dem abgewandt, den es gnadenlos verurteilte. Amerika konnte Poe kein Publikum bieten, ohne seine ganz neue Seele zu verlieren. Aber Europa – das ,Europa der alten Brustwehren’ – hat schließlich dieses kränkliche, verfeinerte, erschöpfte, schrecklich sich selbst ausdrückende Bild wiedererkannt, das der ,wunderbare Trunkenbold von Baltimore’ bot. Europa hat dieses Bild angenommen. Der Symbolismus war groß vor allem durch seine Bewunderungen. Er hat fast überall sein Genie darauf verwandt, seine Idole zu wählen. Wagner, Baudelaire, Poe: Keine Schule kannte beispielhafter, unerbittlicher von Beginn an ihre intimsten Notwendigkeiten – nur, was sie wollte, war schon getan: davon
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modern ist von nun an jede Lehre von der Dichtkunst nur insoweit, als sie Werkprozeß und literarische Autorschaft im Sinne einer Logik der Realisierung eines Nicht-Vorhersehbaren, literarische Produktion als Pragmatik der Gestaltung des Unerwarteten begreift. Den Gehalt dieser neuen Theorie literarischer Technik hat Paul Valéry mit einer nur schwer zu überbietenden Präzision beschrieben und damit für sich selbst resümiert, was zugleich als Credo des modernen Schriftstellers gelten kann: „Ich weiß noch nicht, was ich tun werde; und dennoch glaubt mein Geist sich zu kennen; und ich baue auf diese Kenntnis, ich zähle auf sie, sie, die ich als Ich bezeichne. Aber ich werde mir eine Überraschung bereiten; wenn ich daran zweifelte, wäre ich nichts. Ich weiß, ich werde erstaunt sein über diesen oder jenen Gedanken, der mir gleich kommen wird – und dennoch verlange ich von mir diese Überraschung, ich baue und zähle auf sie, wie ich auf mein sicheres Wissen zähle. Ich hoffe auf etwas Unvorhergesehenes, das ich klar bezeichne; ich benötige mein mir Bekanntes und mein mir Unbekanntes.“ (W 3, 59)
In Deutschland indes sind die Schwierigkeiten den historischen Ort der Poeschen Theorie genauer zu bestimmen, eine Folge der Vorbehalte, die der Rezeption seiner Poetik lange Zeit im Wege standen. Wenig verdeutlicht die Tatsache einer bis 1945 weitgehend ausgebliebenen Beschäftigung mit Poes Theorie besser als Kommentar, mit dem Albrecht Fabri 1947 den von ihm herausgegebenen Band „Vom Ursprung des Dichterischen“ einleitet, der Poes zentrale poetologischen Texte enthält. Seine Publikation begleitet die Hoffnung, durch eine Präsentation der Quellen endlich für die deutsche Diskussion nachzuholen, was Baudelaire für die französische geleistet hatte. Es ist der entschiedene Versuch eines Außenseiters, die Offenheit des historischen Augenblicks der Nachkriegssituation für den Anschluß der deutschen Poetik an die der Moderne zu nutzen. Unter Hinweis auf die Gegenwart Poes in Valérys Denken stellt Fabri die Frage, hat sie sich nie erholt noch sich darüber getröstet; sie war Opfer der zu frühen Fixierung eines Zuspätgekommenen.“ Julien Gracque, Edgar Allan Poe und Amerika, in: Julien Gracque, Entdeckungen. Essays zur Literatur und Kritik, Stuttgart 1965, 158. Zum literaturgeschichtlichen Zusammenhang vgl. Marshall Mc Luhan, Die innere Landschaft. Literarische Essays, Düsseldorf 1974, darin: ,Edgar Allan Poes Tradition’. Zur neueren amerikanischen Rezeption Poes, die sein Werk im Licht der französischen Würdigungen zu sehen beginnt vgl. die wichtigen Dokumentationen: The Recognition of Edgar Allan Poe. Selected Criticism since 1829. Edited by Eric W. Carlson, The University of Michigan Press 1970 und: The Unknown Poe. An anthology of fugitive writings by Edgar Allan Poe, with appreciations by Charles Baudelaire, Stephane Mallarmé, Paul Valéry, J.K. Huysmans & Andre Breton. Edited by Raymond Foye, San Francisco 1980.
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FORMALISMUS DES BEWUSSTSEINS „welche Folge eine ähnliche Omnipräsenz im Werk eines deutschen Dichters hätte haben können; man fragt es sich mit einem gewissen Anflug von Melancholie. [...] ich überlasse es den Dichtern, welche diese Zeilen lesen, eine Antwort zu finden auf die vorstehenden Fragen. Die nun folgende Übersetzung aber schieße ich auf sie ab, so wie man einen Pfeil abschießt. Vielleicht, daß er einfach zu Boden fällt vor ihnen; daß er sie wenigstens ärgert. [...] Vielleicht aber auch, daß er einen ebenso trifft, wie er vor nunmehr hundert Jahren Baudelaire getroffen hat.“37
Mag fraglich bleiben, ob Fabris Hoffnungen sich so erfüllt haben, wie er es sich vorgestellt hat. Sein Pfeil jedenfalls zeigt eine bescheidene Wirkung, wenn auch erst dreißig Jahre später. Hans Magnus Enzensberger kommt 1962 in seinem Essay „Die Entstehung eines Gedichts“38 auf die von Poe ausgehende Linie der technischen Poetik und in seinem Beitrag „Weltsprache der modernen Poesie“39 auf Fabris entsprechende Übersetzung zurück. 1965 nimmt Walter Höllerer eine neue Übertragung von Poes „The Philosophy of Composition“ in den von ihm herausgegebenen Band „Theorie der modernen Lyrik“ auf, der die wichtigsten Dokumente zur neuesten Poetik versammelt, und mit der 1966 von Kuno Schuhmann und Hans Dieter Müller betreuten Werkausgabe liegen Poes Texte in neuer Übersetzung in der bislang umfangreichsten Edition deutscher Sprache vor.40 Nun erst kann sich auch in Deutschland ein „französischer Blick“ auf Poes Poetik und die Besonderheit seines Projekts entwickeln und damit der produktionstheoretische Horizont erschließen, vor dem die hier verfolgte historische Fragestellung angesiedelt ist.
37 Edgar Allan Poe, Vom Ursprung des Dichterischen und zwei andere Essays. Übersetzt und eingeleitet von Albrecht Fabri, Köln 1947, 13/14. Wie wichtig Fabri das Verständnis seiner Publikation und die entsprechende Aufnahme beim zeitgenössischen Publikum war, belegt die Tatsache, daß er seine dem Buch beigefügten Kommentare zur selben Zeit noch an zwei anderen Stellen publizierte. Zunächst in Deutsche Beiträge, H. 6, 1947, dann noch einmal in seinem Essayband: Der schmutzige Daumen, München 1948. 38 Enzensberger stellt zur Bedeutung von Poes „The Philosophy of Composition“ fest: „Die kleine Schrift ist rundheraus gesagt, nichts anderes als Poes Poetik.“ Hans Magnus Enzensberger, Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts, 39. 39 In: Hans Magnus Enzensberger, Einzelheiten II. Poesie und Politik, Frankfurt 1963, 22. Kurze, frühe Hinweise auf Fabris Übertragung finden sich in Hans Egon Holthusens Überblick: Das lyrische Kunstwerk, in: Deutsche Philologie im Aufriß, Bd.III, Berlin 1951 und im Poe–Essay des Bandes von Günter Blökker, Die neuen Wirklichkeiten. Linien und Profile der modernen Literatur, Berlin 1957. 40 Auch die ältere Übertragung der „Philosophie der Komposition“ von Theodor Etzel wird 1966 erneut herausgegeben und kommentiert. Vgl. Edgar Allan Poe, Gedichte. Essays. Mit einem Nachwort von Harro H. Kühnelt, München 1966.
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Nachdem die berühmte literaturgeschichtliche Formel, nach der Poe Baudelaire, Valéry, Mallarmé und Borges hervorgebracht hat, längst nicht mehr zur Disposition steht, lag es nahe vor diesem Hintergrund die genealogische Frage anders zu stellen: Existiert ein Denken, das Poe erst möglich macht, anders gefragt: Gibt es jemanden, der Poe hervorgebracht hat? Die hier vorgestellte Antwortet lautet: Poe hat ein Projekt realisiert, das der Sache nach im poetologischen Denken von Lessing, Goethe, Schiller und den Frühromantikern vorbereitet und dessen Realisierung spätestens seit 1799 von Humboldt öffentlich eingefordert wurde. Die Schwierigkeit diesen Zusammenhang zu sehen, ist vor allem darauf zurückzuführen, daß als Folge der Widerstände deutschen Autoren, selbst dieser Forderung zu entsprechen, das Terrain in keiner Weise bereitet war, um die Leistung Poes und ihren sachlichen Zusammenhang mit ihrer deutschen Vorgeschichte zu sehen. Dies gelingt, wie zu zeigen versucht wurde, selbst den positivistischen Denkern gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht, deren Interesse zwar der literarischen Technik galt, aber auf Fragen des inhaltlichen Wissens beschränkt blieb. Umgekehrt hatten die Autoren der französischen Poe-Rezeption kein hinreichendes Bewußtsein vom poetologischen Denken der deutschen Klassik und Romantik, um in ihm die Voraussetzungen von Poes Leistung erkennen zu können Wenn sich Poes Poetik als exemplarische Veranschaulichung eines in der deutschen Diskussion des ausgehenden 1800 Jahrhunderts erstmals beschriebenen neuen Verständnisses von literarischer Technik verstehen läßt, so muß allerdings festgehalten werden, daß sein Beispiel jenen Typus verkörpert, der, wie Adorno beschrieben hat, durch das Maß seiner Konkretion gleichsam einen Fortschritt in der Erkenntnis der Sache selbst markiert: „Das Medium der Theorie ist abstrakt und darf nicht durch illustrative Beispiele darüber täuschen. Wohl aber mag zuweilen, wie einst in der Hegelschen Phänomenologie, zwischen Konkretion geistiger Erfahrung und dem Medium des allgemeinen Begriffs jäh der Funke zünden, derart daß das Konkrete nicht als Beispiel illustriert, sondern die Sache selbst ist.“ (GS 7, 293)
Worin die der Logik und Technik des literarischen Schreibens besteht, ist seit Poe sicher noch deutlicher geworden, aber alle modernen Poetiken sind letztlich Variationen jener elementaren produktionstheoretischen Einsicht, deren Ausbildung nachgezeichnet werden sollte. Spätestens mit Getrude Stein klingt das wie eine an jeden Schriftsteller adressierte Binsenweisheit, die nur um den Preis seines Scheiterns vernachlässigt werden darf: „Sie werden erst dann wirklich schreiben, wenn Sie schreiben,
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ohne an das Resultat zu denken, sondern indem Sie vom Schreiben im Sinne einer Entdeckung erfüllt sind, das heißt, das Schöpferische muß sich zwischen Feder und Papier ereignen und nicht vorweg in einem Gedanken oder nachher in der Umarbeitung.“41 Im Kontext der deutschen Literatur hat zuletzt Heiner Müller eine vergleichbare Formel gefunden, die auch seiner Poetik zugrundeliegt: „Wenn man schreibt, übernimmt der Text die Führung.“42 Innerhalb der Geschichte der modernen Poetik verliert die mit Poe beginnende Entwicklungsphase damit nichts an Bedeutung, aber es ist möglich, ihren historischen Ort genauer zu bestimmen. Im Sinne der hier vorgestellten Überlegungen bezeichnet der klassische Titel von Eliots Aufsatz „Von Poe zu Valéry“ das zweite Kapitel einer Geschichte, deren erstes „Von Lessing zu Poe“ heißen könnte. Anders als bisher angenommen, steht Poes Poetik nicht am Anfang der modernen Theorie der Dichtkunst, sondern eher am Ende ihrer Frühgeschichte. Das ändert nichts daran, daß sein Werk ein literaturhistorisches Ereignis darstellt, dessen Wesen im strengen geschichtstheoretischen Sinn ja gerade darin besteht, sowohl eine bestimmte historische Phase abzuschließen als auch eine neue zu begründen.
41 Gertrude Stein, zitiert nach Hans Platschek, Bilder als Fragezeichen, 49. 42 Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe, Köln 1994, 200.
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NACHBEMERKUNG Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main im Winter 2001 als Habilitationsschrift angenommen. Mein Dank gilt den Gutachtern Prof. Dr. Burkhardt Lindner (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Werner Hamacher (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Eckhard Lobsien (Frankfurt am Main) sowie Prof. Dr. Heinz Schlaffer (Stuttgart) und Prof. Dr. Ernst Osterkamp (Berlin). In vielfältiger Form haben mich auch Eckhard Tielke, Paul Ruloff, Hartmut Dedert und vor allem Alexander Köhn unterstützt. Auch Ihnen sei dafür ganz herzlich gedankt. E.K. Frankfurt am Main, im Frühling 2005
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Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, 20 Bde. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1970-1986 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde. (in 14 Teilbänden) Frankfurt a.M. 1972-1989 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a.M. 1967 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften. Hg. von Bernhard Groethuesen, Georg Misch u.a., ab Bd. 18 von Karlfried Gründer und Fritjof Rodi, Leipzig/Berlin 1914 ff, später Stuttgart/Göttingen Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz, 6. neubearbeitete Auflage, München 1981 Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. Hg. von Karl Robert Mandelkow, 4. Aufl., München 1988 Goethe-Schiller, Briefwechsel. Mit einem Nachwort von Emil Staiger, Frankfurt a.M. 1961 Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann, 3. auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker, Bd.1-22 und ein Registerband (als Bd. 23), Stuttgart/(ab Bd. 12) Leipzig 1886-1924 Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunter E.Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel und Conrad Wiedemann, Frankfurt a.M. 1987 ff Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Georgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/ New York 1980 Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, 4 Bde., 2. nach den
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ERFAHRUNG DES MACHENS
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LITERATURVERZEICHNIS
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ERFAHRUNG DES MACHENS
Gombrich, Ernst H.: Leonardos’s Method for Working aut Compositions. In: Ernst H. Gombrich: Norm and Form. Studies in the art of the Renaissance, London 1966, 58-75 Gomperz, Heinrich: Sophistik und Rhetorik, Darmstadt 1965 (Nachdruck) Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien. Hg. mit Übersetzung u. Kommentar v. Thomans Buchheim, Hamburg 1989 Gottschall, Rudolf von: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik, Bd.1, Breslau 1882 Gottsched, Johann Christoph: Schriften zu Theorie und Praxis aufklärender Literatur. Hg. v. Uwe-K. Ketelsen, Reinbek b. Hamburg 1970 Gracque, Julien: Edgar Allan Poe in Amerika. In: Julien Gracque: Entdeckungen. Essays zur Literatur und Kritik, Stuttgart 1965, 155-176 Grassi, Ernesto: Kunst und Mythos, Hamburg 1957 Grolmann, Adolf von: Deutsche Dichtkunst und französischer ,Art Poétique’, Berlin 1943 Gross, Karl: Lob der Hand im klassischen und christlichen Altertum. In: Gymnasium, H. 5, 1976, 423-440 Gross, Karl: Menschenhand und Gotteshand in Antike und Christentum. Aus dem Nachlaß hg. v. Wolfgang Speyer, Stuttgart 1985 Gsteiger, Manfred: Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869-1914), Bern/München 1971 Guardini, Romano: Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der platonischen Schriften Euthyhron, Apologie, Kriton und Phaidon, Reinbek bei Hamburg 1966 Gumbrecht, Hans Ulrich: Das Nicht-Hermeneutische. In: Ethik der Ästhetik. Hg. v. Christoph Wulf, Dietmar Kamper u. Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 1994, 105-108 Gundert, Hermann: Enthusiasmos und Logos bei Platon, in: Lexis, Bd.II.1, 1949, 25-46 Hahn, Karl-Heinz: Aus der Werkstatt deutscher Dichter. Goethe-SchillerHeine, Halle (Saale) 1963 Halder, Alois: Kunst und Kult. Zur Ästhetik und Philosophie der Kunst in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Freiburg/München 1964 Hamacher, Werner, Der ausgesetze Satz. Friedrich Schlegels poetologische Umsetzung von Fichtes absoluten Grundsatz. In: Werner Hamacher, Entferntes Verstehen. Studien zur Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a.M. 1998, 195-234 Hamann, Johann Georg: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar. Hg. v. Sven-Age Jorgensen, Stuttgart 1968
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LITERATURVERZEICHNIS
Hände. Eine Sammlung von Handabbildungen großer Toter und Lebender. Mit einer Einführung in die Handkunde von Rolf Voigt und einem kunsthistorischen Geleitwort v. Kurt Pfister, Hamburg 1929 Harrison, J.A. (Ed.): The Complete Works of Edgar Allan Poe, ,Virginia Edition’, Bd. IV. Essays and Miscellanies, New York 1902 Harth, Helene/Pollmann, Walter: Paul Valéry, Frankfurt a.M. 1972 Hartman, Geoffrey H.: Monsieur Texte, in: Geoffrey H. Hartmann, Saving the Text. Literature/Derrida/Philosophy, Baltimore/London 1982, 1-32 Hartmann, Nicolai: Die Philosophie des deutschen Idealismus, 1.Teil. Fichte, Schelling, und die Romantik, Berlin/Leipzig 1923 Haug, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985 Havelock, Eric A.: Preface to Plato, Cambridge/London 1963 Havelock, Eric A.: Literate Revolution in Greece and its cultural consequences. Princeton University Press 1982 Havelock, Eric A.: Als die Muse schreiben lernte, Frankfurt a.M. 1992 Hay, Louis: Über die Entstehung von Texten und Theorien. Deutschfranzösische Randglossen zu einem Forschungsgebiet. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 68, 1987, 9-19 Hay, Louis: Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer ,critique genetique’. In: Poetica, H. 3/4, 1984, 307-323 Hay, Louis: ,Le texte n’existe pas’. Reflexions sur la critique génétique. In: Poetique 62, 1985, 147-158 Haym, Rudolf: Die romantische Schule. Ein Betrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1870, (Neudruck Darmstadt) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 1. Frühe Schriften, Frankfurt a.M. 1971 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt a.M. 1970 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd. 13, Frankfurt a.M. 1970 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Vorlesungen über die Ästhethik II, Werke, Bd.14, Frankfurt a.M. 1970 Heidegger, Martin: Technik und Kunst-Gestell. In: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100.Geburtstag von Martin Heidegger. Hg. v.
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ERFAHRUNG DES MACHENS
Walter Biemel u. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a.M. 1989, XIII-XIV Heidegger, Martin: Wegmarken, Frankfurt a.M. 1978 Heidegger, Martin: Parmenides. Gesamtausgabe, Bd. 54. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Frankfurt a.M. 1982 Heidegger, Martin: Was heißt Denken? Tübingen 1984 Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 8.1, Hamburg 1979 Heinimann, Felix: Eine vorplatonische Theorie der Techne. In: Museum Helveticum, vol. 18, 1961, 105-130 Hellweg, Antje: Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Platon und Aristoteles, Göttingen 1973 Helmut Kuhn, ,Klassisch’ als historischer Begriff. In: Das Problem des Klassischen in der Antike. Hg. v. Werner Jaeger, Darmstadt 1968 (Nachdruck) Henrich, Dieter: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd.11, 1957, 527-547 Herder, Johann Gottfried: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. Hg. u. eingeleitet v. Lambert A. Schneider, Köln 1969 Herder, Johann Gottfried: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. In: Johann Gottfried Herder: Werke in zwei Bänden, Bd. 2. Hg. v. Karl-Gustav Gerold, München 1953, 347-402 Herder, Johann Gottfried: Von Kunstrichterei, Geschmack und Genie. In: Werke in zwei Bänden, Bd. 2. Hg. v. Karl-Gustav Gerold, München 1953, 575-603 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont. In: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100.Geburtstag von Martin Heidegger. Hg. v. Walter Biemel u. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt a.M. 1989, 25-46 Herrmann, Hans Peter: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970 Hettner, Hermann: Gegen die spekulative Ästhetik, in: Hermann Hettner, Schriften zur Literatur, Berlin 1959 Hofmannsthal, Hugo von: Briefe an Marie Herzfeld. Hg. v. Horst Weber, Heidelberg 1967 Hofmannsthal, Hugo von: Reden und Aufsätze III (1925-1929) Aufzeichnungen. H. v. Bernd Schoeler u. Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt a.M. 1989 Hölderlin, Werke und Briefe. Hg. v. Friedrich Beißner u. Jochen Schmidt, Bd.1. Gedichte. Hyperion, Frankfurt a.M. 1969
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LITERATURVERZEICHNIS
Höllerer, Walter Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I, Reinbek bei Hamburg 1965 Holthusen, Hans Egon: Das lyrische Kunstwerk. In: Deutsche Philologie im Aufriß, Bd. III, Berlin 1951, 127-157 Horstmann, Ulrich: Ansätze zu einer technomorphen Theorie der Dichtung bei Edgar Allan Poe, Frankfurt a.M. 1975 Humboldt, Wilhelm von Humboldt: Briefe. Hg. v. Wilhelm Rößle, München 1952 Hurrelmann, Klaus: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft ,Editionsprobleme der Literaturwissenschaft’, 1986, 105. Bd., 4-42 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, Husserliana, Bd. XVIII, Den Haag 1975 Huth, Hans: Künstler und Werkstatt der Spätgotik, Darmstatt 1977 (Nachdruck) Hytier, Jean: La poétique de Valéry, Paris 1953 Ince, Walter: The poetic theory of Paul Valéry. Inspiration and Technique, Leicester University Press 1961 Ingold, Felix Philipp: Schöpfertum und Führungskraft. Zum Wandel der Funktion Autor in der Moderne. In: Werner Wunderlich (Hg.), Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur, Bern/Stuttgart 1989, 171-195 Ingold, Felix Peter: Der Autor am Werk. Versuche über literarische Kreativität, München/Wien 1992 Ingold, Felix Philipp/Werner Wunderlich (Hg.): Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven, Konstanz 1992 Ingold, Felix Philipp: Der Autor am Werk. Versuch über literarische Kreativität, München 1992 Ingold, Felix Philipp/Werner Wunderlich (Hg.): Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft, St.Gallen 1995 Ingold, Felix Philipp: Freie Hand. Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder, München 1996 Jaeger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2, Berlin 1944 Jähnig, Dieter: Schelling, Die Kunst in der Philosophie, 2 Bde, Pfullingen 1969 Jahrbuch der Sektion für Dichtkunst, Berlin 1929 Japp, Uwe: Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. v. Jürgen Fohrmann u Harro Müller, Frankfurt a.M. 1988, 223-243
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ERFAHRUNG DES MACHENS
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LITERATURVERZEICHNIS
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ERFAHRUNG DES MACHENS
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LITERATURVERZEICHNIS
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LITERATURVERZEICHNIS
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ERFAHRUNG DES MACHENS
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LITERATURVERZEICHNIS
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ERFAHRUNG DES MACHENS
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LITERATURVERZEICHNIS
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ERFAHRUNG DES MACHENS
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LITERATURVERZEICHNIS
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ERFAHRUNG DES MACHENS
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LITERATURVERZEICHNIS
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Die Neuerscheinungen dieser Reihe:
Stephan Trinkaus Blank Spaces Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur Juni 2005, ca. 280 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-343-7
Elke Bippus, Andrea Sick (Hg.) IndustrialisierungTechnologisierung von Kunst und Wissenschaft Juni 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 50 Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-317-8
Christa Brüstle, Nadjy Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten (Hg.) Rhythmus im Prozess Zeitstrukturen in Kunst, Kultur und Natur Mai 2005, ca. 330 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-292-9
Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards Mai 2005, ca. 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-342-9
Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock Mai 2005, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-327-5
Kay Sulk »Not grace, then, but at least the body« J.M. Coetzees Schriften 1990-1999 Mai 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-344-5
Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.) Was ist der Mensch? Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Anthropologie April 2005, ca. 320 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-266-X
Kai Lehmann, Michael Schetsche (Hg.) Die Google-Gesellschaft Wissen im 21. Jahrhundert April 2005, ca. 400 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-305-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.) HyperKult II Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien April 2005, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,00 €, ISBN: 3-89942-274-0
Georg Mein, Franziska Schößler (Hg.) Tauschprozesse Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen April 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-283-X
Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln Brasilianisches Theater der Gegenwart April 2005, ca. 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-338-0
Holger Schulze Heuristik Theorie der intentionalen Werkgenese. Sechs Theorie Erzählungen zwischen Popkultur, Privatwirtschaft und dem, was einmal Kunst genannt wurde April 2005, ca. 200 Seiten, kart., ca. 10 Abb., ca. 26,00 €, ISBN: 3-89942-326-7
Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse Einfühlen, Unbewußtes, Symptom, Hysterie, Sexualität, Übertragung, Perversion März 2005, ca. 150 Seiten, kart., ca. 15,80 €, ISBN: 3-89942-348-8
Andrea Allerkamp Anruf, Adresse, Appell Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur März 2005, 384 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-331-3
Eckhardt Köhn Erfahrung des Machens Zur Frühgeschichte der modernen Poetik von Lessing bis Poe März 2005, 294 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-299-6
Michael Manfé Otakismus Mediale Subkultur und neue Lebensform – eine Spurensuche März 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 10 z.T. farbige Abb., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-313-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Wahn – Wissen – Institution Undisziplinierbare Näherungen (unter Mitarbeit von Jeannie Moser)
Birgit Bräuchler Cyberidentities at War Der Molukkenkonflikt im Internet Januar 2005, 402 Seiten, kart., 28,90 €, ISBN: 3-89942-287-2
Februar 2005, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-284-8
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de