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German Pages 356 Year 2014
Wolfgang Wildgen Visuelle Semiotik
Image | Band 57
Gewidmet meiner Mutter, Luzie Wildgen, gest. am 21. Juni 2013
Wolfgang Wildgen (Prof. Dr.) ist Germanist und Allgemeiner Sprachwissenschaftler an der Universität Bremen (Emeritus). Seine Forschungsgebiete sind u.a. Semiotik und dynamische Sprach- und Medientheorie (siehe http:// www.fb10.uni-bremen.de/lehrpersonal/wildgen.aspx).
Wolfgang Wildgen
Visuelle Semiotik Die Entfaltung des Sichtbaren. Vom Höhlenbild bis zur modernen Stadt
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Inhalt Einleitung | 7 1.
Grundprinzipien einer visuellen Semiotik | 13
1.1 Bisherige Ansätze zu einer visuellen Semiotik | 16 1.2 Visuelle Zeichenkommunikation und das Gehirn | 38 2.
2.1 2.2 2.3 2.4
Die Evolution der visuellen Zeichen | 45 Tier und Mensch in der Höhlenmalerei | 47 Die Darstellung des Menschen | 56 Vergleich mit der Kunst der australischen Ureinwohner | 59 Abstraktion in der steinzeitlichen Kunst und mögliche Vorläufer einer Schriftkultur | 60
Komposition und Dynamik in der visuellen Kunst | 65 3.1 Metamorphosen des Sujets „Letztes Abendmahl“ in der christlichen Kunst | 66 3.2 Bildorganisation zwischen statischer und dynamischer Ordnung und die Repräsentation des Ungeordneten, Chaotischen | 89 3.3 Dürers Allegorie der Melancholie und die Rolle des kulturellen Gedächtnisses | 102 3.4 Grotesken und phantastische Kompositbilder (Arcimboldo) | 105
3.
4.
Semiotische Innovationen in der Visuellen Kunst der Moderne | 115
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Licht und Landschaft auf dem Weg zur Moderne | 116 Reflexion und Metarepräsentation in der Malerei | 132 Zwischen Impression und Abstraktion | 140 Abstrakter Expressionismus bei Jackson Pollock (1912-1956) | 144 Ordnung und Chaos in der Kunst oder Gibt es eine Formel der Schönheit? | 148
5.
Bildordnungen im Raum (Skulptur) und in der Aktionskunst | 157
Tier, Maske, Mensch in der frühen Plastik | 157 Semiotischer Status der Skulptur | 160 Körper und Raum in der anthropomorphen Plastik (Henry Moore) | 162 Arme, warme Materialien der Plastik und Aktionskunst (Joseph Beuys) | 168 5.5 Soziale Plastik und Konzeptkunst bei Beuys | 174
5.1 5.2 5.3 5.4
6.
Der menschliche Körper als Zeichenfläche und die vestimentäre Semiotik | 179
6.1 Biologische Prägnanz des menschlichen Körpers und die Semiotik des Körpers | 179 6.2 Die Semiotik des menschlichen Haares im Übergang zur Kleidungssemiotik | 182 6.3 Bekleidungszeichen oder Grundzüge einer vestimentären Semiotik | 186 6.4 Die öffentliche Person und ihre visuelle Inszenierung | 198 Die Semiotik von Portrait, Foto, Comic und Film | 205 7.1 Porträt und Fotografie: das indexikalische visuelle Zeichen | 205 7.2 Von der Bildergeschichte zum Comic-Strip | 210 7.3 Der Stummfilm: am Beispiel von Fritz Langs Film „Siegfried“ (1924) | 213 7.4 Filmisches Erzählen und die Konstruktion von Raum und Bewegung im Action-Film | 217 7.5 Argumentative und ethische Aspekte des Films | 233 7.
8.
Architektursemiotik: von der Höhle bis zur Sportarena | 237
8.1 8.2 8.3 8.4
Evolution der menschlichen Behausung und der Städte | 237 Was ist ein Zeichen in der Architektursemiotik? | 242 Architekturtheorie und Architektursemiotik | 244 Biomorphe Strukturprinzipien in der Architektur | 249
9.
Stadtsemiotik oder die Morphogenese urbaner Strukturen | 253
9.1 Die Morphogenese einer Hafenstadt | 255 9.2 Eine Fallstudie: die semiotische Feinstruktur der Stadt Bremen | 267 Visuell-piktoriale Aspekte von Sprache und Literatur | 283 10.1 Die Parallelität symbolischer Formen und deren Transformationen | 283 10.2 Symmetrie in sprachlichen Formen im Vergleich zu Bildern | 285 10.3 Bild und Bildlichkeit in der Literatur | 289 10.4 Illustration (Illumination) mythischer Heldenfiguren | 309 10.
11. Die Globalität einer visuellen Semiotik und der visuelle Zeichenraum | 317
11.1 Geographische und historische Globalität einer visuellen Semiotik | 318 11.2 Struktur und Stabilität des visuellen ästhetischen Raums | 321 Bibliographie | 327
Einleitung
Die visuelle Semiotik ist ein neues Wissenschaftsgebiet, das vielfältige Wurzeln hat.1 Entsprechend gibt es eine Vielfalt von Ansatz- und Schwerpunkten, von denen die Darstellung ausgehen kann. In diesem Buch versuche ich, dieser Vielfalt gerecht zu werden, d.h. es wird eine Gesamtdarstellung, wenn möglich eine Synthese angestrebt. Damit unterscheidet sich das Buch von Ansätzen, die einseitig in der Sprachwissenschaft/ Rhetorik, der traditionellen Kunstgeschichte oder der philosophischen Ästhetik, der Medientheorie oder gar der Kunstpsychologie und -soziologie ihren Schwerpunkt setzen. Die bisherige visuelle Semiotik wird außerdem um zwei Gesichtspunkte erweitert, die sich aus der Konzeption einer dynamischen Semiotik ergeben. Die neuen Gesichtspunkte betreffen erstens Aspekte der Morphogenese und Selbstorganisation, d.h. jede Zeichenstruktur erhält Form und Inhalt in einem Prozess, den man metaphorisch eine Morphogenese (in Bezug zur Biologie) oder eine Semiogenese nennen kann. Wenn eine Vielzahl zusammenwirkender Gestaltungsprozesse vorliegt, spricht man auch von Selbstorganisation. Die Gegenbegriffe sind Chaos oder endlose Fraktalisierung, d.h. die Auflösung einfacher Ordnungen. Entsprechend kann jedes Produkt einer Zeichenerzeugung (einer Semiogenese) auf seinen Erzeugungsprozess und die dort wirkenden Gesetzmäßigkeiten befragt werden. Dies unterscheidet unseren Zugang dramatisch vom klassischen Strukturalismus (etwa bei de Saussure oder Chomsky). Dort werden solche Erklärungen für aussichtslos gehalten und es wird versucht, jede Struktur aus sich selbst
1
Wörtlich bedeutet Visuelle Semiotik erstens, dass als Grundlage das Sehvermögen des Menschen (visio) und die damit zusammenhängenden kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten dienen. Zweitens ist Semiotik als Lehre der Zeichen (semeion) zu verstehen, die vom Menschen hergestellt werden können und die zur Verständigung zwischen Menschen in der menschlichen Gesellschaft benützt werden.
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oder aus zeitlosen (z.B. logischen) Gesetzen zu erklären.2 Natürlich sind die Möglichkeiten einer Rekonstruktion der Genese häufig begrenzt, aber überall dort, wo ein plausibler Ansatz möglich ist, muss diese Fährte verfolgt werden. Dies führt zum zweiten Charakteristikum unseres Ansatzes, der Thematisierung der Ursprungsfrage und der Berücksichtigung evolutionärer Vorgänge und Gesetzmäßigkeiten. Für die Sprache ist dieser Ansatz in Wildgen (2004a) und in weiteren Detailarbeiten ausgeführt worden, wobei die Sprache immer im Konzert anderer symbolischer Formen, wie Mythos, Technik, Kunst gesehen wird. Die parallele und koordinierte Evolution der symbolischen Formen (im Sinne Cassirers) verbindet die visuelle Semiotik mit der sprachlichen und diese Interaktion wird in Kap. 10 auch zum Thema.3 In manchen Werken zur visuellen Semiotik stehen entweder das Bild (in der Kunst), das Design, die Buchillustration (siehe etwa Kress und van Leuuwen, 1996), Computergrafiken oder Computerspiele oder andere Teilfelder der visuellen Umwelt im Vordergrund. Mir war es ein Anliegen, die ganze Breite des visuellen Zeichenrepertoires zu erfassen, von der Handskizze eines Höhlenmalers bis zur klassischen Kunst und der Kunst des 20. und 21. Jh., von der Skulptur der Steinzeit bis zur klassischen und modernen Architektur und zum Städtebau. Dabei steht die Alltagskultur neben raffinierten, in einer langen Tradition verankerten Kunstwerken (siehe das Sujet des Abendmahls in Kap. 3.1). Generell wird eine Analyse der Formenvielfalt (der Morphologie im Sinne Goethes) bezweckt und es wird eine anschauliche und alltagsweltlich plausible Beschreibung und Erklärung angestrebt. Auf diesem Hintergrund werden, auch unter Heranziehung von mit dem Kunstwerk zeitgenössischen Theoretisierungen (siehe zu Leonardo Kap. 3.1 und 3.2), weiterreichende Hypothesen gebildet, die bevorzugt auf Prinzipien der Gestaltwahrnehmung, der Semiogenese und der Selbstorganisation zurückgreifen (vgl. dazu Kap. 1). Es mag den Leser überraschen, dass auch die Bekleidungssemiotik, die Architektur- und Stadtsemiotik mit repräsentativen Detailanalysen vertreten sind. Die visuelle Kultur geht nämlich über Bild, Skulptur, Film hinaus und umfasst große Teile der menschlichen Lebenswelt und der Sachkultur. Man hätte das Feld noch um
2
Vgl. zu den verschiedenen Spielarten des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus Wildgen (2010a: Kap. 3 bis 9).
3
In Wildgen (1994) habe ich einen Paradigmenwechsel von einer logikorientierten Semiotik (siehe Peirce, Carnap, Wittgenstein) zu einer gestalt- und formorientierten Semiotik (mit Schwerpunkt auf der Dynamik) vollzogen. Vgl. zum Bildbegriff das Kap. Meaning and Imagination, ibidem: 5-10.
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die wissenschaftliche Bildkultur (von der Medizin bis zur Astrophysik) erweitern können; außerdem gibt es semiotische Arbeitsfelder, die nur teilweise visuell sind, wie etwa die Semiotik des Geschmacks und der Küchenkunst. Für ihre Behandlung wäre es notwendig gewesen auf die entsprechenden Sinne (Geruchs- und Geschmackssinn), deren Evolution und die kulinarischen Kulturen einzugehen (vgl. zur Semiotik des Geruchs: Plümacher und Holz, 2007). Die fiktionalen Welten des Comics, der Fantasy-Literatur und -Filme, der Science-Fiction-Filme und -Literatur hätten eigens behandelt werden können. Insgesamt sind fiktionale Bildwelten in diesem Buch aber eher schwach vertreten, da sie weniger deutlich in unserer Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt verankert sind und somit eine gesonderte Behandlung verdienen. Man kann auch sagen, dass die dynamische bild- und körperbezogene Semiotik sich primär an realistisch fundierten Bildwelten orientiert und die rein fiktionalen Welten als davon unter Hinzufügung weiterer Aspekte abgeleitet betrachtet. Aus diesem Grund sind literarische Werke mit starkem Bildbezug (oder Bezug zur bildenden Kunst) nur dann mit einbezogen worden, wenn eine realistische Grundtendenz vorliegt. Dies trifft auf die in Kap. 10.3 untersuchten Werke der Autoren Emile Zola (Naturalismus), Theodor Fontane (bürgerlicher Realismus) und Hermann Hesse zu. Die Bildlichkeit der stärker fiktionalen Literatur kann besser im Rahmen einer literarischen Semiotik untersucht werden. Eine weitere Einschränkung betrifft die ästhetische Wertung. Lediglich in Kap. 1.1.1 werden die visuelle Ästhetik und die Frage der Bewertung von Kunst angesprochen und in den Kapiteln 4.5 (zu Pollock) sowie 5.4 (zu Beuys) wird die ästhetische und ökonomische Bewertung von Kunst diskutiert. Die Struktur und Dynamik von Bewertungen sowohl im so genannten Kunstkanon als auch am Kunstmarkt erschien mir aus der objektivierenden Perspektive, der dieses Buch verpflichtet ist, schwer zugänglich zu sein. Es bedürfte eines breiteren soziologischen und ökonomischen Theorierahmens, um dazu relevante, d.h. auch in der Praxis gültige Aussagen machen zu können.4 Generell wird die in vielen Quellen implizit bewer-
4
In Wildgen (2004a: Kap. 9) wird ein Zusammenhang zwischen den kunstphilosophischen Ansätzen Cassirers und der soziologischen Theoriebildung bei Luhmann (der Theorie generalisierter Medien) hergestellt. Bei Luhmann wird die Kunst in die Nähe von Besitz, insbesondere dem Besitz seltener Gegenstände mit symbolischem Wert, gebracht (in der Vorgeschichte seltene Federn aus dem Hochland oder schöne Muscheln vom Meeresgestade). Da solche Bewertungen ebenso variabel wie Währungen sind, ergeben sich ähnliche theoretische Schwierigkeiten wie bei der Beschreibung aktueller Währungsprozesse und deren Wandel, d.h. es wäre naiv zu glauben, dass sich einfache und erklärungsstarke Modelle dafür finden lassen.
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tende (oder gar euphorisch lobende) Tendenz kunstwissenschaftlicher Analysen als wissenschaftsfremd abgelehnt (sie ist im Feuilleton gerade noch erträglich). An dieser Stelle sollte etwas zu meinem Wissenschaftsverständnis gesagt werden, das weitgehend implizit bleibt, da ich die Darstellung nicht durch wissenschaftstheoretische Diskurse belasten wollte. Obwohl das Buch die Möglichkeiten einer streng wissenschaftlichen Fundierung, sowohl naturwissenschaftlich als auch historisch, sowohl empirisch als auch im mathematischen Modell sondiert, bleiben fast alle konkreten Analysen phänomenologisch, d.h. sie gehen von CommonsenseUrteilen zu visuellen Gestalten und von ikonografischen Sachverhalten aus (siehe Kap. 1.1.2 für diesen Begriff). Nur gelegentlich werden einzelne Aspekte mit Hilfe der in Kap. 1.1 und 1.2 erläuterten theoretischen Begriffe eingehender untersucht. Dies entspricht dem derzeitigen Forschungsstand. Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte mag sich die Situation insofern ändern, als neue Ergebnisse der Evolutionsforschung, der Neuropsychologie, der Kunstsoziologie usf. eine exaktere oder besser fundierte Analyse erlauben. Der Anspruch dieser Arbeit besteht darin, den Forschungsstand der naturwissenschaftlich fundierten visuellen Semiotik ebenso zu berücksichtigen wie die Vielfalt phänomenologischer und verstehender (hermeneutischer) Analysen. Im Bereich von Kunst, Architektur und Stadtkultur werden auch relevante Ergebnisse vorsemiotischer Theoriebildungen (etwa bei Vitruv, Alberti, Leonardo, Palladio, Bruno u.a.) mit einbezogen. Die Semiotik stellt eine relativ neue integrative Bündelung von klassischen Fragestellungen dar (seit den bahnbrechenden Arbeiten von de Saussure und Peirce um 1900), deren Vorläufer bis in die Antike zurückreichen (vgl. dazu Wildgen, 1985b). Einige teilweise sehr detailliert ausgearbeitete Vorläufertheorien (siehe zu Leonardos Theorie der Malerei Kap. 3 und 4) müssen in den neuen semiotischen Rahmen integriert werden, damit ihr Ertrag nicht verloren geht. Die Semiotik wird deshalb in diesem Buch nicht als ein rigider Theorierahmen gesehen, sondern vielmehr als ein Aufnahmerahmen für eine Vielfalt zeichentheoretischer Fragestellungen. Eine ähnliche Funktion wie die Semiotik in unserem Rahmen spielt die Logik in der Analytischen Philosophie und deren Theorierekonstruktionen (etwa bei Stegmüller 1986). Peirce hatte aber bereits vor Whitehead und Russell (1910-1913/1986), auf die Carnap aufbaute, seine Relationenlogik philosophisch zu einer allgemeinen Zeichentheorie erweitert, die er Semiotik nannte. Andere Entwürfe für verallgemeinerte Theorierahmen des 20. Jh. sind die Allgemeine Systemtheorie von Ludwig von Bertalanffy, der sich an der Biologie orientiert, oder die Synergetik kooperativer Systeme von Hermann Haken sowie die fraktale Geometrie von Benoit Mandelbrot. Ich halte alle diese Versuche für relevant, aber jeweils mit Einschränkungen (was beim Versuch einer allgemeinen Theorie nicht erstaunt). Zwei Positionen bzw. Personen waren für die Wissenschaftskonzeption, wie sie in diesem Buch zum Ausdruck kommt, besonders prägend, die Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer (zwischen 1921
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und 1945 entwickelt) und die morphodynamische Modelltheorie von René Thom (von 1968 bis 1988 entwickelt). Ernst Cassirer hat in seiner Hamburger Zeit und später im Exil eine Kulturtheorie entwickelt, die auf dem Begriff der symbolischen Form aufbaut. Er schreibt: Die symbolischen Zeichen aber, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten, „sind“ nicht erst, um dann über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. (Cassirer, 1923: 42)
Die Bedeutung ist also nicht bloß assoziativ einer (wahrnehmbaren) Zeichengestalt zugeordnet (wie es eine Konventionstheorie versteht), beide entstehen in einem Zeichenprozess, in einer Semiogenese, die das Symbolische zur Erscheinung bringt, ihm zum Sein verhilft. Daraus entsteht Kultur und sie definiert den Menschen als Homo symbolicus. Obwohl sich Cassirer in mehreren Werken mit der Mathematisierung beschäftigt hat, blieb er einer engen Verbindung von Mathematik und Geisteswissenschaften gegenüber eher skeptisch (vgl. dazu Wildgen, 2003: 172 f.). René Thom ist in Anbetracht der wissenschaftlichen (mathematischen, physikalischen, biologischen) Fortschritte nach 1945 optimistischer. Insbesondere scheint ihm die Geometrisierung der Bedeutung ein viel verheißender Weg zu sein. In einem Interview vergleicht er die Geometrisierung der Bedeutung („signification“) mit einer Autopsie des menschlichen Körpers, bei der die grundlegenden Organisationsmuster erfasst werden. Ebenso kann die Geometrisierung (Mathematisierung mit Hilfe von Geometrie, Topologie und Differentialtopologie in Begriffen des 20. Jh.) den strukturellen Hintergrund, die Entstehungsbedingungen des Bedeutungsphänomens erfassen, insbesondere im Bereich des Visuellen. Im Kontext der Entstehung des Kubismus schreibt Guillaume Apollinaire (1880-1918): „Man kann sagen, daß die Geometrie für die bildenden Künste dieselbe Bedeutung hat wie die Grammatik für die Schriftsteller“ (zitiert in Pierre, 1967: 17). Die phänomenologische Fülle, der Reichtum der lebensweltlichen Ausprägungen der visuellen Kunst muss aber zusätzlich erfasst werden; er erschöpft sich nicht in der Geometrie, so wie sich die Literatur nicht in der Grammatik erschöpft. Man kann die Geometrisierung zusätzlich evolutionär rechtfertigen, insofern die Orientierung im Raum und die Beherrschung von Bewegungen im Raum eine grundlegende und sehr alte kognitive Kompetenz darstellt, auf die alle visuellen Zeichen und auch die evolutionär jüngeren sprachlichen Zeichen aufbauen. Die immer wieder eingefügten Ansätze zur Geometrisierung (besonders in den Kapiteln 3.1.3, 3.2.2, 4.4 und 9.1.3) bleiben aber anschaulich und bemühen keine komplexen mathematischen Verfahren. Sie implizieren auch keine Reduktion, sind aber notwendig, um Linien einer möglichen Objektivierung aufzuzeigen. Insbesondere wird dadurch die Relevanz einer am Commonsense orientierten phänomenologischen Analyse keineswegs eingeschränkt.
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Zusammenfassend kann gesagt werden, dass ich von einem erneuerten, auf Cassirer und Thom verweisenden Semiotik-Konzept ausgehe. Die sehr breite Fächerung der visuellen Semiotik in diesem Buch und die systematische Berücksichtigung dynamischer Aspekte der Semiogenese folgen zwingend aus der theoretischen Grundkonzeption. Dynamik (Genese) heißt in unserem Kontext dreierlei: •
•
•
Bezug auf die Ursprünge des Zeichenverhaltens, denn dort sind die erklärenden Gesetzmäßigkeiten anzusiedeln. Dies hat zur Folge, dass immer wieder die Frage nach der Evolution gestellt wird (und zwar dort, wo Ansätze zu einer plausiblen Antwort vorliegen). Berücksichtigung der historischen Tradierungsprozesse, im Sinne von Panofsky, der Ikonografie. Dies gilt in besonderem Maße für die Kap. 3 bis 6. Die menschliche Kultur wird durch solche Tradierungen, deren Variation und Selektion wesentlich bestimmt. Im Prinzip ein Blick auf Erwerbsprozesse und die Aktualgenese von visuellen Zeichen (siehe ansatzweise in Kap. 1.2). Diese schnelle Dynamik kommt etwas zu kurz in diesem Buch, ist aber im Brennpunkt aktueller psycho- und neurologischer Experimente. Sie verdient eine gesonderte Behandlung und Darstellung.
Diese einleitenden Bemerkungen mögen den Leser auf die Lektüre des Werkes vorbereiten, ihm die Besonderheiten der Disposition und des Argumentationsganges verständlich machen. Die einzelnen Kapitel sind aber unabhängig von jeder theoretischen Voreinstellung verständlich und somit auch autonom. Ich erwarte, dass der Leser/die Leserin diese Freiheit nützt und sich anhand der vielseitigen Deutungszugänge ein eigenes Bild der reichen Welt visueller Zeichenstrukturen verschafft.
1. Grundprinzipien einer visuellen Semiotik
Obwohl der Gesichtssinn und weitere Sinne,1 welche die Gestalt von Gegenständen, deren Eigenschaften und Bewegungsmomente erfassen, evolutionär sehr alt sind und für den Menschen und seine Vorfahren direkt überlebensrelevant waren, spielen sie für das menschliche Bewusstsein und die zwischenmenschliche Kommunikation nicht die gleiche Rolle wie die Sprache . Man kann sagen, sie sind in ihrer vorbewussten Verankerung so tief angelegt, dass sie dem später entwickelten Bewusstsein, dem bewussten Denken und der sprachlichen Kommunikation ferner liegen und damit für eine wissenschaftliche Analyse und Reflexion schwerer zugänglich sind. Gleichzeitig kann dieser „Mangel“ aber auch als eine Art Überlegenheit verstanden werden, denn sie sind weniger dem freien Willen, der menschlichen Willkür, den sich wandelnden Gewohnheiten menschlicher Gruppen und deren Vorurteilen ausgeliefert.2 Man kann sagen, sie sind zuverlässiger und vertrauenswürdiger. Dies wiederum macht die visuelle Kommunikation trotz ihrer Einschränkungen gesellschaftlich wirkungsmächtig. Da man aber entgegen einer naiven Ansicht auch mit Bildern lügen und betrügen kann, sind diese auch in einer besonderen Weise vieldeutig, doppelbödig, ja gefährlich. Die Teilnehmer an der visuellen Kommunikation müssen deshalb Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um den
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Neben dem Tastsinn, der bereits bei Condillac als der Leitsinn bei der Gegenstandskonstitution betrachtet wurde, kommen weitere Sinne für die Bewegung und die Kraft oder das Gewicht hinzu, die ebenso wie der Tastsinn über den Körper verteilt und nicht im Gesichtsbereich konzentriert sind.
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In der klassischen Physiognomik (etwa bei della Porta im 16. Jh.) wird das körperliche Erscheinungsbild des Menschen als trügerisch angenommen. Man geht davon aus, dass das Erscheinungsbild der Tiere deren Charakter nicht in derselben Weise verbirgt (sozusagen nicht lügt). Im Mensch-Tier-Vergleich glaubte man deshalb einen zuverlässigeren Weg zur Charakter-Diagnose zu finden; vgl. Wildgen 2011: Sechste Studie.
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Vorteil der geringeren Willkür nicht durch den Nachteil einer effektiveren Täuschung zu verlieren. Das ästhetische Urteil in Bezug auf die bildende Kunst basiert nach Kant (in seiner „Kritik der Urteilskraft“) auf dem subjektiven Gefühl.3 Die Verständigung über solche Urteile setzt aber eine Art „Gemeinsinn“ voraus, d.h. „tief verborgene allen Menschen gemeinsame Gründe der Einhelligkeit“ (ibidem). Diese werden anhand von Prototypen schöner Gestalten konkret fassbar. Das betrifft aber in erster Linie die Schönheit des Menschen selbst, für die es sogar ein Ideal (d.h. einen allgemeinen Prototyp) geben mag. Alle Artefakte des Menschen unterliegen jedoch zusätzlich Zweckbestimmungen und sind deshalb nie rein ästhetisch zu beurteilen. Wie diese grundsätzlichen Überlegungen zeigen, gibt es gerade im Visuellen eine starke, weil evolutionär alte und nur begrenzt bewusstseinszugängliche Verständigungsbasis. Entsprechend sind die Möglichkeiten menschlicher Willkür, bzw. der Umsetzung seines freien Gestaltungswillens begrenzter (als etwa in der Dichtung). In Begriffen der kognitiven Forschungen zum Gesichtssinn ist davon auszugehen, dass die kognitiven (neuralen und sinnesphysiologischen) Mechanismen einen großen Anteil an der visuellen Kommunikation haben. Dennoch bleibt eine Schicht der Freiheit, der Konventionalität und des Wandels innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft erhalten. Ähnlich wie bei der Sprache ist eine rein kognitive Analyse (vgl. dazu Wildgen, 2008) nicht ausreichend. Diese muss durch eine soziokulturelle (und im Ergebnis historische) Analyse vervollständigt werden. Im Überblick ergeben sich unterschiedliche Zugangsebenen, die ich von der engsten zu weitesten kurz anführen möchte (andere Untergliederungen dieses Kontinuums sind möglich). (a) Die Mikroebene der physiologischen und neuralen Prozesse, die zur visuellen Wahrnehmung, zur visuellen Phantasie und dem entsprechenden Gedächtnis beitragen. Auf dieser Ebene werden auch Qualitäten und Differenzen bereitgestellt, die man ästhetisch oder künstlerisch nennen kann. Die letzten Jahrzehnte haben viele neue empirische Detailkenntnisse und auch umfassende theoretische Modellbildungen ans Licht gebracht; wir können lediglich die markantesten darstellen. (b) Die Ebene erfahrbarer oder gar bewusster visueller Prozesse. Hierher gehören alle Ansätze seit der Gestaltpsychologie (Schwerpunkt in den 30er Jahren in der
3
„Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmte, was schön ist, geben. Denn alles Urteil aus dieser Quelle ist ästhetisch, d.i. das Gefühl des Subjekts und kein Begriff eines Objektes ist sein Bestimmungsgrund.“ (Kant, 1793/1957: 313).
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Berliner, Grazer und Würzburger Schule; Fortführung in den USA z.B. in der ökologischen Psychologie von Gibson). In der Ästhetik steht das Werk von Rudolf Arnheim für diese Ausrichtung (vgl. Kap. 1.1.4 und Verstegen, 2010). (c) Die Ebene der phänomenologischen Strukturen. Die visuelle Kommunikation baut einerseits auf Differenzen (Werte) in der visuellen Wahrnehmung auf, andererseits greift sie auf historisch entstandene und sich verändernde Konventionen (Regeln des Sehverständnisses) zurück. Die visuellen Kommunikationsereignisse kann man mit Saussure als Zeichen (mit zwei Seiten: signifiant und signifié) verstehen. Die Analyse der visuellen Zeichen kann deshalb eine visuelle Semiotik genannt werden. Wir gehen in diesem Buch davon aus, dass dies die zentrale Betrachtungsebene ist. Man kann im 20. Jh. zwei größere Richtungen unterscheiden: • Die klassische strukturalistische Richtung, die von Ferdinand de Saussure ausgehend dessen Konzepte auch für die Analyse visueller Zeichen und kultureller Artefakte fruchtbar zu machen versucht. Zu nennen sind die Pariser Schule der Semiotik (Barthes, Lévi-Strauss, Greimas, Fontanille), die kultursemiotische Analyse Umberto Ecos und die britische Tradition, die besonders im Werk von Kress und van Leeuwen für den visuellen Bereich spezifiziert wurde. Obwohl diese Schulen noch aktiv sind, lag ihr Höhepunkt doch eher in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh. • Die post-strukturalistische oder morphodynamische Richtung, die ausgehend von der Semiotik René Thoms (vgl. Wildgen und Brandt, 2010) die logische Metasprache des Strukturalismus durch eine topologisch-dynamische ersetzt und einen engeren Anschluss an die dynamische Systemtheorie mit mathematischem Hintergrund sucht. (d) Da für die bildende Kunst historische Vorbilder und die Behandlung ähnlicher Motive in Rahmen der Geschichte der Kunst wesentliche Einflussfaktoren darstellen, sind die Ikonografie und die Ikonologie, wie sie exemplarisch am Warburg Institut (zuerst in Hamburg, dann in London) entwickelt wurden, bedeutsam. Für sie mag das Werk von Erwin Panofsky stehen. In den folgenden Abschnitten wird versucht, zentrale Begrifflichkeiten dieser Richtungen vorzustellen und den Ertrag der jeweiligen Zugänge für ein Verständnis alltäglicher aber auch künstlerischer visueller Kommunikation zu bewerten. Als zentrale Bereiche der visuellen Kunst bzw. Gestaltung mögen gelten: 1. Die Malerei und Fotografie. Ich werde mich hauptsächlich mit Ersterer und mit den Übergängen zur Letzteren beschäftigen. 2. Der Film und als historische Vorläufer das Theater und die Oper. Exemplarisch für das bewegte Bild wird der Film an zwei Bespielen untersucht werden.
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3. Die Bildhauerei und die Raumgestaltung. Hier wird die Skulptur an exemplarischen Beispielen in verschiedenen Epochen untersucht. Der Aspekt des architektonischen Dekors wird im Rahmen der Architektursemiotik behandelt. 4. Die Gestaltung des Körpers, des Haupthaares und insbesondere der Kleidung 5. Die Architektur (Gebäude, Gärten, Städte, Landschaften). Die Semiotik der Städte und klassische Architekturmodelle werden im Zentrum unserer Betrachtung stehen. Bei der Übersicht zur Forschungsliteratur, die einen Beitrag zur methodischen und theoretischen Weiterentwicklung der visuellen Semiotik leisten kann, werde ich mich auf solche Begriffe und Methoden konzentrieren, die für eine konkrete Analyse ertrag- und folgenreich sind.
1.1 B ISHERIGE ANSÄTZE
ZU EINER VISUELLEN
S EMIOTIK
Ich werde in erster Linie in einer historischen, in zweiter Linie in einer systematischen Weise die unterschiedlichen Positionen erläutern, aus denen sich die Bausteine für eine zukunftsweisende visuelle Semiotik gewinnen lassen. 1.1.1
Husserl, Merleau-Ponty und Ingarden über visuelle Ästhetik
Die Ästhetik Kants, die ich kurz angedeutet habe, wird bei Husserl (später bei Cassirer) aus einer neuen Perspektive betrachtet. Für Husserl stehen die Probleme der Konstitution von Ding und Raum in der Wahrnehmung im Zentrum (vgl. Husserl, 1991). Die künstlerischen Objekte sind demgegenüber irreale, im Wesentlichen phantasierte Objekte, die allerdings über ihr Sujet einen Bezug zur Realität haben. Die Zeichen- oder Symbolfunktion des Bildes hat ein physisches Objekt (das Bild, die Skulptur, die Architektur) als Auslöser, d.h. als äußeren Anlass. Wesentlich sind die Repräsentationsformen, von denen Husserl (wie später Ferdinand de Saussure; vgl. Wildgen, 2010a: Kap. 3) zwei unterscheidet: Das geistige Bild des visuell rezipierten (externen) Bildes und das Sujet, das als im Bild dargestellt wahrgenommen wird. In der Sprache entsprächen dem bei Saussure: „image acoustique“ (signifiant) und „image mentale“ (signifié). Husserl spricht von: immanent–intuitiv vs. transeunt–symbolisch. Wesentlich ist wie bei Saussure die prinzipielle Arbitrarität der Beziehung. Derrida wird später diese Husserlsche Position radikalisieren, indem er fordert, dass sich die Kunst von dem Referenz-Objekt befreit, emanzipiert, d.h. sie verweist immer nur auf weitere Zeichen. Dabei spielen wohl die unterschiedlichen historischen Erfahrungen bei Husserl und Derrida eine Rolle. Husserl orientiert sich an Beispielen der Kunst des 16. und 17. Jahrhundert. Von seinen Zeitgenossen betrachtet er lediglich Böcklin und dessen Fabelwesen. Derrida hat jedoch die Ent-
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wicklung der modernen Kunst seit Cézanne mit vollzogen bzw. diese Erfahrung in seine Konzeption des künstlerischen Zeichens eingebracht (vgl. Thiel, 1990). Eine für die Semiotik der Kunst wegweisende Idee, die eventuell mit der Mathematik von Felix Klein,4 die Husserl in Göttingen zur Kenntnis nehmen konnte, zusammenhängt, ist die Idee einer mit der Arbitrarität der Kunst verbundenen Variation. In der Variation eines Sujets, wir werden später z.B. die Variation des Sujets: Letztes Abendmahl über die Jahrhunderte verfolgen, kann einerseits der Raum der konstitutiven Arbitrarität, der nicht grenzenlos ist, ausgemessen werden; es ergibt sich andererseits die Möglichkeit, aus den Transformationen eine oder mehrere Invarianten zu gewinnen, die dann die Idee (Eidos), den Inbegriff des Sujets ausmachen. Die Phänomenologie Husserls wird signifikativ weiterentwickelt durch Maurice Merleau-Ponty (siehe sein Buch von 1945: Phénoménologie de la perception). Wie Husserl widmet er der ästhetischen Erfahrung relativ wenig Aufmerksamkeit. Dennoch lassen sich einige relevante und neue Aspekte aus seinen Bemerkungen zur Kunst gewinnen. Zuerst weist er (wie Husserl) auf die körperliche Fundierung jeder individuellen Erfahrung hin (bei Kant die irreduzible Subjektivität). Insbesondere das Allgemeine in der Kunst, d.h. deren Wirkung auch jenseits geographischer und kultureller Distanzen, hängt mit der Verwurzelung in der körperlichen (visuellen) Wahrnehmung, Haptik und Motorik zusammen. Dies ist quasi das gattungsspezifische Universale an der Kunst. Diese Verkörperlichung (in der kognitiven Linguistik auch, „embodiment“ genannt: vgl. Wildgen, 2008: 68) wird aber erst durch das Medium, in dem der Künstler arbeitet und durch die visuelle Tradition, in der er sein Sujet auffasst, öffentlich und damit objektiviert und evaluiert. Dies ist der entscheidende Schritt zum Entstehen der „Kunst“ als kollektiv wahrgenommenem Phänomen (selbst vor einer bewussten Kategorisierung und Benennung als „Kunst“). Crowther (1982: 143) stellt dazu fest: Now in its character as a public embodiment of individual experience, the art work has social consequences. It is a source of possible influences on other works; it creates new possibilities of meanings, and is integrated into the perceptual style of those who encounter it. Even a work which is first found unintelligible, will, if it has any worth, eventually create its own public.
4
Als Husserl in Göttingen eine außerordentliche Professur für Philosophie bekleidete, war Klein zwar noch aktiv, die Mathematik in Göttingen wurde aber von Hilbert und seinen Schülern beherrscht. Husserl trat mit dem Mathematiker Weyl, der damals auch in Göttingen arbeitete, in einen philosophischen Gedankentausch (vgl. van Dalen, 1984).
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Für Merleau-Ponty besteht der besondere Wert der visuellen Kunst darin, dass sie über die normale visuelle Erfahrung hinausgeht, d.h. dass das Unsichtbare, aber im Hintergrund Reale zum Ausdruck kommt und einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Sie bleibt somit nicht rein subjektive Erkenntnis, sondern wird geteilt, sozialisiert. Roman Ingarden, der ebenfalls auf Husserls Phänomenologie aufbaut, stellt die Verkörperlichung eher in den Hintergrund, quasi als eine allgemeine Vorbedingung, die aber keinen konstitutiven Anteil am Kunstwerk hat. Er sagt: Das ästhetische Erlebnis führt zur Konstitution eines eigenen – des ästhetischen – Gegenstandes, der nicht zu identifizieren ist mit dem Realen, dessen Wahrnehmung gegebenenfalls den ersten Impuls zur Entfaltung des ästhetischen Erlebnisses gibt … (Ingarden, 1969: 3)
Der Schwerpunkt seiner Analyse des Ästhetischen liegt eindeutig bei der Rezeption (dem „ästhetischen Erlebnis“) und dem nachfolgenden Werturteil. Dabei nimmt er sogenannte „ästhetische Qualitäten“ an. In späteren Schriften (ab 1964) entwirft Ingarden ein „System der ästhetisch valenten Qualitäten“ (ibidem: Kap. X). Er unterscheidet in der Folge „ästhetisch relevante Momente“ (ibidem: 184) und „Wertqualitäten“ wie „schön“, „hässlich“, „anmutig“, „mächtig“, „reif“ „vortrefflich“. Die ästhetisch relevanten Momente sind „material“ (wie traurig, witzig) oder „formal“ (wie symmetrisch/asymmetrisch, klar/dunkel). Insgesamt wird quasi ein Lexikon der Qualitäten und Werte zur Verfügung gestellt, in dessen Raster das Kunstwerk verortet werden kann. Damit wäre das Kunstwerk in eine konzeptuelle Ordnung einzugliedern, die insbesondere in der Sprache und dort im Lexikon der Adjektive ihren Ausdruck findet. Die natürliche Sprache wäre damit gleichzeitig die Metasprache einer Analyse von Kunstwerken. Diese Konzeption mag bei Werken der Literatur (auf dem Hintergrund einer bestimmten Sprache) plausibel sein, für die bildende Kunst und wohl auch für die Musik erscheint sie als unzureichend und fällt auch gegenüber den Ansatzpunkten bei Merleau-Ponty zurück. Die bisher kurz behandelten Autoren sind Philosophen, bzw. philosophisch geschulte Ästhetiker. Ich will den bereits bei Merleau-Ponty sichtbaren kulturhistorischen Gesichtspunkt vertiefen, indem ich auf Ansätze innerhalb der WarburgSchule eingehe. 1.1.2
Kunst als symbolische Form und die Ikonografie und Ikonologie bei Panofsky
Auch hier steht am Anfang ein Philosoph. Ernst Cassirer hatte sich seit seiner Berufung an die Universität Hamburg in einen intensiven interdisziplinären Austausch begeben, aus dem die Reihe seiner Schriften zur „Philosophie symbolischer Formen“ entstanden ist (drei Bände 1923-1929 und ein unvollendeter vierter Band). Die Kunst wird zwar in den ersten drei Bänden nicht direkt behandelt,
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im Fokus stehen vielmehr die Sprache (Band 1), der Mythos (Band 2) und die wissenschaftliche Erkenntnis (Band 3), sie ist aber schon früh (d.h. in seiner Berliner Zeit) präsent. Generell stellt Cassirer der Wahrnehmung, die besonders im Wiener Kreis als Ausgangspunkt jeder Erkenntnis angesetzt wurde, den Ausdruck und damit den Bezug zum Fremdpsychischen (dem Du im Gegensatz zum Ich) zur Seite. Die theoretische Erkenntnis, die sich auf die Wahrnehmung stützt, ist durch die ästhetische und ethische Erkenntnis zu ergänzen, die sich auf die Ausdrucksfunktion bezieht (vgl. Cassirer, 2011: 206). In Hamburg hatte Cassirer gute Kontakte zum Warburg-Kreis und in einer seiner späteren Studien zur Kunst verweist er explizit auf Aby Warburg (vgl. Ferreti, 1989: 4 und van Heusden, 2003: 208). In verschiedenen Schriften besonders am Ende seines Lebens betrachtet er die Kunst als besondere symbolische Form.5 Sie teilt zwar mit dem Mythos dessen unmittelbaren Zugriff auf das Erfahrbare, ist aber eine besondere Art von „Sprache“ und zwar eine Sprache der intuitiven Symbole ohne die für natürliche Sprachen typische abstrakte Kategorisierungsleistung und die segmentalsequentielle Organisation (vgl. Cassirer, 1942: 152f.). Bezogen auf Bühlers Unterscheidung von Ausdruck und Darstellung verschwimmt dieser Gegensatz bei der Kunst. Der Ausdruck kann zum Symbol werden, indem die Strukturen des Fühlens in eine symbolische Form gebracht werden (vgl. Plümacher, 2004: 476). Dies wird besonders in der modernen nicht darstellenden Kunst deutlich. Cassirer hat sich relativ wenig mit konkreten künstlerischen Objekten beschäftigt und wenn dann eher aus einer klassischen Perspektive. Die kunstwissenschaftliche und historische Dimension wurde besonders durch Erwin Panofsky (und Fritz Saxl) ausgebaut, der ab 1926 in Hamburg Professor für Kunstgeschichte war und wie Cassirer 1933 emigrierte. Panofsky entwickelte eine Auffassung der Kunstgeschichte und Kunsttheorie, welche die Bedeutung des Kunstwerkes ins Zentrum stellt. Er unterschied drei Bedeutungsebenen in der bildenden Kunst (vgl. Panofsky, 1980: 32ff). Die beiden ersten betreffen das Sujet (etwa eines Bildes). Dabei wird zwischen dem primären oder natürlichen Sujet und dem sekundären oder konventionellen Sujet unterschieden. Ersteres betrifft Linien und Formen aber auch wieder erkennbare natürliche Gegenstände, etwa Häuser, Tiere, deren Beziehungen, Bewegungsformen und Eigenschaften. Der zweite Typ von Sujets identifiziert Personen oder Gegenstände anhand konventionell zugeordneter Merkmale. So ist etwa in einem Bild eine männliche Figur mit einem Messer
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Sie wird bereits 1922 als eine Sphäre des Denkens oder Bewusstseins angeführt. In einem MS. nennt er vier Hauptgebiete: Kunst, Mythos, wissenschaftliche Erkenntnis, Sprache (Cassirer, 2011: 239).
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zu erkennen (primäres Sujet); diese Konfiguration verweist auf den Hl. Bartholomäus (sekundäres Sujet). Um das sekundäre Sujet identifizieren zu können, muss der Betrachter nicht nur die Bildtradition sondern auch literarische Traditionen kennen. Erst dann kann er die sekundäre Bedeutung „lesen“. Als dritter Bedeutungstyp gilt die „eigentliche Bedeutung oder der Gehalt“ (ibidem: 40); er entspricht dem, was Ernst Cassirer den „symbolischen Gehalt“ genannt hat. Darin verdichtet ein Autor Prinzipien oder Sichtweisen seiner Epoche, seiner Gesellschaft, seiner sozialen Umgebung. „Die Entdeckung und Interpretation dieser „symbolischen“ Werte (…) ist der Gegenstand dessen, was wir, im Gegensatz zur „Ikonographie“, „Ikonologie“ nennen können.“ (ibidem: 41).6 Als Ikonografie bezeichnet Panofsky die kategorisierende Beschreibung der primären und sekundären Bedeutungen im Bild. In beiden Unternehmungen ist es wesentlich, die historischen Kontexte, die Traditionen und deren Veränderungen genau zu erfassen und dabei die unterschiedlichen Quellen (bildhafte und textuelle) sorgfältig auszuwerten. Im Gegensatz zur Ikonologie, die eher einen hermeneutischen Akt erfordert, d.h. eine Art Synthese, ist die Ikonografie beschreibend und objektivierend in dem Sinn, dass konfligierende Beschreibungen anhand der historischen Faktenlage gegeneinander abgewogen werden müssen und eine objektive Entscheidung möglich erscheint. Methodisch könnte man auch sagen, die ikonografische Analyse ist der empirisch zu rechtfertigende Teil der Analyse eines Kunstwerkes, die ikonologische ist der theoretische Teil, der mögliche Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten größerer Reichweite zur Diskussion stellt und eher in der synthetischen Gesamtleistung als im Einzelnen zu rechtfertigen ist. Insofern fügt sich die Kunstanalyse durchaus in das Rechtfertigungsschema ein, das für die Wissenschaften insgesamt Gültigkeit hat. 1.1.3
Die Semiotik von Raum und Zeit bei Bachtin und Foucault
Raum, Zeit, Ereignis, Handlung bilden den Hintergrund jedes Erzählprozesses und, insofern das Erzählen eine zentrale Anwendung von Zeichen darstellt, sind auch Raum- und Zeittopographien zentrale semiotische Bestimmungsgrößen. Das Erzählen betrifft in erster Linie den Sprachmodus und ist für die visuelle Semiotik erst in zweiter Linie relevant (vgl. dazu Kapitel 10); es betrifft aber auch den Film (siehe zur visuellen Narrativik des Films Kap. 7.4) und im begrenztem Umfang die darstellende Kunst (Bild und Skulptur), insofern diese sich als eine Verbildlichung, eine Art Illustration von narrativen Inhalten versteht (z.B. in der religiösen Kunst;
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Der Begriff „Iconologia“ wurde bereits 1593 durch Cesare Ripa eingeführt, der allerdings ausschließlich Bilder, welche etwas anderes als das Dargestellte bedeuten, damit erfasste.
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vgl. Kapitel 3 und 4). Im den beiden folgenden Abschnitten werden zwei Ansätze vorgestellt, bei denen der Raum- und Zeitbezug im Vordergrund steht. Michail Bachtin (1895-1975) führte den Begriff des Chronotopos ein. Er verbindet einerseits den Raum als Bühne der Handlung mit der Zeit des Handlungsverlaufs, andererseits aber auch die handelnden Personen und deren Beziehungen. Der (literarische) Künstler muss deshalb mit Bedacht die Räume auswählen oder ausstatten, Bewegung und Stillstand planen und die Charaktere der Figuren mit Eigenschaften des Raumes und der Bewegungen in ihnen in eine nachvollziehbare, einleuchtende Beziehung bringen (vgl. Bachtin, 1989: 200f). Michel Foucault (1926-1984) hat sich besonders mit gesellschaftlichen Räumen, mit denen gewisse Normen verbunden sind, und mit Ausnahmeräumen, die besondere Regeln haben oder es erlauben, dass allgemeine Regeln durchbrochen werden, beschäftigt. Bereits Bachthin hatte den Karneval als einen solchen Ausnahmeraum und dessen gesellschaftliche Funktion (Vermittlung zwischen sonst streng getrennten Gesellschafsschichten) thematisiert. Für Foucault sind z.B. Museen, Gärten, Friedhöfe aber auch psychiatrische Anstalten und Kasernen Ausnahmeräume, die er Heterotopien nennt. Diese Ortstheorie ist weniger linear (durch die Zeit) geordnet als bei Bachtin; sie ist eher netzartig und Foucault sieht darin einen Wandel vom 19. zum 20. Jh. Der Raum kann durch die Beschleunigung der Fortbewegungsmittel gerafft werden und durch die vielseitigen Kommunikationskanäle zu parallelen Ereignisräumen verknüpft werden. Häufig sind die Räume nur noch symbolisch markiert, überlagern sich oder sind geschichtet. Die Beschleunigung wird im Kap. 7.4.4 anhand der Analyse eines James-Bond-Films genauer untersucht. Die Heterotopoi sind durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Räume, die entsprechende Vielfalt der Handlungspotentiale und die Mehrdeutigkeit ihrer Inhalte gekennzeichnet (dies trifft sowohl auf rituelle als auch auf künstlerische Inszenierungen zu). In der Literatur stehen sich erzählter Raum (Historie), der Raum des Erzählers (als personaler Ich-Erzähler oder als anonymer Erzähler), sowie der Rezeptionsraum des Lesers oder des Publikums gegenüber. In den Kapiteln zur Filmnarrativik (vgl. Kap. 7.4) und zur Bildlichkeit in der Literatur (10.3) werde ich auf diese Begrifflichkeiten zurückgreifen. 1.1.4
Gestaltprinzipien der visuellen Kunst bei Arnheim
Die Grundprinzipien der Gestaltpsychologie, wie sie sich besonders in der experimentell ausgerichteten Berliner Schule (Wertheimer, Köhler, Koffka) ausgeprägt hatten, waren die Grundlage für das kunstpsychologische Schaffen von Rudolf Arnheim. Er hatte in Berlin Psychologie (mit Bezug zur Kunst) studiert und promovierte 1928 mit einer Arbeit zum Ausdrucksverhalten menschlicher Gesichter und Handbewegungen. Bereits früh interessierte er sich für den Film (in Rom bis 1939). Nach seiner Emigration in die USA wurde er zuerst von der Guggenheim-Stiftung
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beauftragt, den Beitrag der Gestaltpsychologie zur Kunstwissenschaft zu erforschen, und er lehrte dann bis ins hohe Alter Kunstpsychologie an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Sein Werk: Art and Visual Perception: A Psychology of the Creative Eye (1954) machte ihn berühmt (deutsche Übersetzung, Arnheim 1978). Wie der Titel es bereits andeutet, wird das Sehen als aktiver Prozess verstanden, bei dem ausgehend von Lichtreizen das Auge/Gehirn Muster erzeugt. Diese kreativ erzeugten Formen werden „Gestalten“ genannt. Besonders deutlich wird diese aktive Beteiligung der Sehkräfte bei Sinnestäuschungen, der Ergänzung unvollständiger Formen (Kanizsa-Konturen) und bei der Diagnose von Bewegungsmustern und der Wahrnehmung kausaler Zusammenhänge (vgl. die Experimente von Michotte, sowie Arnheim, 1978: 394ff.). Da die Mehrzahl der Entdeckungen der Gestaltpsychologie im Rahmen der Neuropsychologie präzisiert wurde, werde ich auf grundlegende neurale Prozesse beim Sehen in Kap. 1.2 eingehen. Ich will aber zwei von Arnheim hervorgehobene Prinzipien kurz erwähnen, die bei der Analyse des „Letzten Abendmahls“ von Leonardo zur Anwendung kommen werden: Das Zentralitätsprinzip. Jede Szene, jedes Bild wird in ein Zentrum der visuellen Aufmerksamkeit und eine dazu gehörige Peripherie zerlegt. Im Fall gerahmter Bilder ist dieses Zentrum von der Form des Rahmens (rechteckig oder rund) abhängig. Es können sich außerdem Unterzentren, die z.B. durch Augen-Sakkaden länger oder häufiger aufgesucht werden, und Übergangszonen zwischen verschiedenen Unterzentren herausbilden. Auf diese Weise wird das Sehfeld ab einer gewissen Betrachtungszeit (und in Abhängigkeit davon) strukturiert. Verschiedene Richtungen weg vom Zentrum (so: oben - unten, links - rechts) können ebenfalls hervorgehoben werden und eigene Bedeutungen erhalten. Die Kräftefelder. Arnheim hebt wie Kurt Lewin und später James Gibson den dynamischen Charakter der visuellen Wahrnehmung hervor. So kann man ein statisches Rechteck, das weiß (leer) ist, als ein Kräftefeld verstehen, das durch die Diagonalen einerseits und die Mitte-Vektoren andererseits bestimmt wird. Letztere hängen mit dem oben genannten Prinzip zusammen, erstere ergeben eine Bewegung zu den Ecken und eine Links-rechts-Asymmetrie, falls eine der Diagonalen im Bild dominiert. Insgesamt kann man das Bildfeld als ein vorgefundenes visuelles Vektorfeld verstehen, in das dann die spezifischeren Bewegungen der visuellen Aufmerksamkeit eines „gefüllten“ Bildes in Abhängigkeit von dort vorgefundenen Strukturen oder Farben eingefügt, ihnen angepasst werden. Insgesamt ergibt sich eine gestaffelte Ebenenstruktur der visuellen Wahrnehmung. Erstens existieren die physikalischen Reize wie Konturen, Helligkeitsgradienten, Farben, Flächen, zweitens laufen Gestaltprozesse in der Wahrnehmung ab, die konstruktiv diese Reize verändern, ergänzen, ausfüllen. Drittens gibt es die Bedeutungsgebung, die auf diese Wahrnehmungsergebnisse und vorhandene Gedächtnismuster bzw. biographische (indirekt auf historische) Erfahrungen aufbaut, diese modifizieren kann und sie in einen größeren Sinnzusammenhang (Kontext)
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einfügt. Die ersten beiden Ebenen sind, wie die Berliner Schule der Gestaltpsychologie, die Forschungen Gibsons und die moderne Neurovisions-Forschung gezeigt haben, mit experimentellen und naturwissenschaftlichen Methoden erforschbar. Dabei bleibt der Gedächtnisanteil, der ja auch auf der zweiten Ebene eine Rolle spielt, noch eher unterbestimmt. An dieser Stelle findet der Übergang zur kulturwissenschaftlichen Forschung statt, die den Untersuchungsgegenstand nicht mehr im individuellen Körper/Gehirn/Geist und im Augenblick der Verarbeitung eingrenzen darf. 1.1.5
Strukturalistische Ansätze zu einer visuellen Semiotik
Der linguistische Strukturalismus hat in Europa und den USA im 20. Jh. viele verschiedene Ausprägungen erhalten (vgl. Wildgen, 2010a für einen Überblick). Da bereits von Saussure eine über die Sprachwissenschaft hinausreichende „sémiologie“ konzipiert worden war, ist es naheliegend gewesen, die Grundbegriffe des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus auch auf andere Zeichensysteme, insbesondere auf die visuellen Zeichen zu übertragen. Dies war nicht immer ein voller Erfolg7 und es gibt unterschiedliche Ausprägungen. In den 50er und 60er Jahren des letzten Jh. hat zuerst Lévi-Strauss in Anlehnung an Roman Jakobson, mit dem er in den USA (1942-1945) zusammenarbeitete, die strukturalistische Methode der Oppositionen und (pertinenten) Differenzen auf die Anthropologie und dort auf die Sachkultur angewandt. Die ersten Veröffentlichungen und damit das Programm einer strukturalistischen Ethnologie erschienen 1955 (Tristes Tropiques) und 1962 (La Pensée sauvage). Etwa zur gleichen Zeit (1954-1956) veröffentlichte Roland Barthes in monatlichen Zeitungsbeiträgen seine „Mythologies“, in denen er Objekte der Alltagskultur einer semiotischen Analyse unterzog, z.B. im Beitrag „La nouvelle Citroën“, wo er den neuen Autotyp DS der Marke Citroën besprach. Diese Art der semiotischen Analyse der alltäglichen Sachkultur hat später Umberto Eco weitergeführt. Barthes untersuchte auch die Mode („Système de la Mode“, 1967, allerdings anhand von Modezeitschriften), die Fotografie („La chambre claire“, 1980, dt. Die helle Kammer) und den Film („Les unités
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Einerseits ist die Orientierung an der Sprache als semiologischem Leitsystem problematisch, da der bildenden Kunst und der Musik Begrifflichkeiten der Grammatik und Rhetorik aufgezwungen werden. Andererseits wird im Strukturalismus die Sprache rein logozentrisch theoretisiert, d.h. bildhafte oder emotional-musikalische Aspekte werden in den Hintergrund gedrängt. Diese auch der Sprache immanenten Aspekte fehlen dann bei einer Übertragung der Systemeigenschaften von Sprache auf andere Zeichensysteme erneut. Vgl. das Kap. 5 „Mechanism of Meaning. Iconography and Semiology” in Preziosi (1998).
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traumatiques au cinéma,“ 1960). Ich möchte zuerst diese frühe Phase einer visuellen Semiotik, die sich am Werk von Roland Barthes und an den Beiträgen aus der Gruppe ȝ in Belgien, aber auch an der Filmsemiotik von Lotman festmachen lässt, kurz betrachten, um dann zwei stärker synthetische (zusammenfassende) Ansätze, der eine in der Tradition des kontinentalen Strukturalismus und der andere in der Tradition des britischen Strukturalismus und Kontextualismus, vorstellen.
(a) Sprache und Mythos in der Konzeption von Roland Barthes Für Barthes sind alle kulturell bedingten, globalen Bedeutungsprozesse, sofern sie ein funktionierendes Zeichensystem voraussetzen, auf dieses aufbauen, Mythen. Beim Mythos denkt Barthes weniger an die großen literarischen Mythen wie die Odyssee oder die mythologischen Systeme der Griechen, Römer, Germanen usw. sondern an die alltägliche Mythisierung von Gegenständen und Ereignissen, die wir wahrnehmen und als Zeichen verstehen. Sie sind für Barthes sekundäre Zeichenprozesse, die die Feinstruktur vorfindlicher Zeichen reorganisieren und ihnen eine weitere, pauschalere und häufig wirkungsvollere „Bedeutung“ verleihen. Sie haben für unser Denken und Handeln eine größere Tragweite als automatisch ablaufende, ritualisierte Zeichenprozesse, wie sie z.B. beim Sprechen und Zuhören im Sekundentakt ablaufen. Es handelt sich insofern um eine Gestaltbildung, die mehr Stabilität und Wirkungsdauer hat und eine größere Gemeinschaft erfasst (insofern sozialer ist) als die schnelllebigen Zeichenprozesse. Ausgangspunkt können sowohl sprachliche Zeichen (Wörter, Sätze, Texte) sein als auch visuelle, körperliche oder andere Zeichen. Im Nachwort zur Textsammlung: Mythologies (Barthes, 1957) benennt er exemplarisch: die Sprache im engeren Sinn, die Fotografie, die Malerei, die Anzeige, das Ritual, den Gegenstand usw.8 Wenn man an dieser Stelle die Betrachtung des Mythos, die von Cassirer ausging, die Barthes aber wohl nicht kannte, einfügt, so ist der Mythos eigentlich eine symbolische Form, die der Segmentation und Klassifikation in sprachlichen Systeme vorausgeht; die also zumindest im Ursprung primitiver ist. Mit der Existenz der Sprache und in Ko-Evolution mit ihren stärker organisierten und auch automatisierten Zeichenprozessen, kommt dem (neuen) Mythos die Funktion einer Globalisierung unter Verflüssigung der Segmentierungen und Klassifikationen zu. Es handelt sich dann um einen Mythos höherer Stufe, der allerdings globalere Wirkungen zeigt als ein (hypothetischer) vorsprachlicher Mythos. Die Idee von Barthes erscheint jedenfalls relevant zu sein, wenn man die Gesamtwirkung von Zeichen in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen unter-
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„les matières de la parole mythique (langue proprement dite, photographie, peinture, affiche, rite, objet, etc.)“ (Barthes, 1957 : 187).
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suchen will. Barthes verweist im Übrigen auf Baudelaire, Freud und Sartre, wenn er Beispiele für solche globalisierende Resemiotisierungen gibt, d.h. der Mythos hat eine psychologische und ästhetische Funktion, die jenseits der einfachen ritualisierten Kommunikationsprozesse anzusiedeln ist. In Kap. 7.3 gehe ich auf die Umsetzung der Siegfried-Saga im Film, in Kap. 9.2.2 auf die architektonisch-skulpturale Fassung des Roland-Mythos und in Kap. 10.4 auf die Verbildlichung des mündlich tradierten Manas-Mythos ein. Unter Bezug auf den bilateralen Zeichenbegriff von Ferdinand de Saussure schlägt Barthes die folgende Konstruktion vor (ibidem: 187f.). Die Dichotomie: signifiant - signifié (Standardbeispiel bei de Saussure: das Lexem: Baum und sein Konzept, die evozierte Vorstellung eines Baumes) bildet eine Einheit, die Barthes Zeichen (signe) nennt. In dieser neuen Einheit geht die Technik der Realisierung (etwa die Struktur des signifiant) im weiterführenden Zeichenprozess verloren oder besser sie wird zurückgestuft. Den Zeichen, denen durch die vorangegangene Reduktion der Status eines Signifikanten (signifiant) zukommt, wird ein neues, globaleres und kulturell wirkungsmächtigeres Signifikat (signifié) zugeordnet, die mythische Bedeutung. Wenn man die Traditionsbelastung des Begriffs Mythos vermeiden will, kann man konkreter sagen, der globalen Semiotisierung bereits generierter Zeichen und Zeichenkomplexe wird eine breiter wirksame, auch bewusstere Bedeutung zugeordnet, welche in die gesellschaftliche und kulturellen Prozesse eingreift und zwar relativ unabhängig von der Mechanik der zugrunde liegenden, automatisierten Zeichenprozesse. Der mythische Prozess (in Barthes’ Terminologie) lässt das Zeichensystem zur nächsten, globaleren Ebene springen, wie eine Rechenmaschine, die von der Reihe des Zehnerraumes in den des Hunderterraumes überspringt. Barthes sagt: Alles verläuft als ob der Mythos das formale System der ersten Bedeutungen um eine Ebene, einen Zapfen anhebt; (Übersetzung durch den Autor)
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Für sprachliche Mythen ist diese Konzeption leicht nachvollziehbar, da wir mit der Grammatik der Sprache über eine Systemdarstellung der ersten Ebene verfügen. Bei allen anderen Zeichensystemen, insbesondere den visuellen, verfügen wir aber nicht über eine Grammatik oder ein plausibles Äquivalent. Es ist eher so, und dies werden viele Beispiele in den konkreten Analysen zeigen, dass die visuellen Zeichen beim sprachbegabten Menschen in einen Elaborationszyklus geraten, der dazu führt, dass zunehmend Organisationsprinzipien der Sprache, z.B. ein in Feldern or-
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„ Tout se passe comme si le mythe décalait d’un cran le système formel des premières significations; “
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ganisiertes Lexikon und eine Syntax der gestaffelten, kategorialen Organisation und Komplexifizierung übernommen bzw. medienspezifisch angepasst werden. Dies trifft besonders auf die professionellen und künstlerischen Elaborationen des visuellen Kodes zu. Die erste Stufe dieser Elaboration können wir schon bei den Höhlenmalern der Steinzeit beobachten; vgl. Kap. 2.1.
(b) Filmsemiotik im Kontext des Strukturalismus Die Semiologie de Saussures wurde von Metz (ab 1964), Pasolini (1966) und schließlich durch Lotman (1973) unterschiedlich auf den Film angewandt. Metz hob in der Tradition von Martinet die doppelte Artikulation der Sprache (langue) hervor. Diese fehle dem Film, da seine Signifikate stark motiviert und nicht erst wie in der Sprache auf dem Umweg über die Phoneme organisiert werden. Der Film kann auf die natürliche Expressivität der Dinge zurückgreifen (Metz, 1972: 111). Im Gegensatz dazu benützt Pasolini (1966/2012) in einem Vortrag die Unterscheidung mündlich-schriftlich und interpretiert den Film als „Die Schriftsprache der Wirklichkeit“ (Titel des Vortrages). Der mündlichen Sprache entspricht das „Leben als natürliches Kino“ (ibidem: 79). Dieses wird in ein mechanisches Medium, den Film, transferiert, worin die Analogie zur Schrift begründet ist. Auch Pasolini geht von einer einfachen Artikulation aus: die Grammatik der Kinosprache fischt die Objekte, Formen und Gesten der Realität, die Kineme aus dem Fluss des Lebens und kapselt sie in Einheiten, die Moneme (bedeutungstragende Einheiten des Films), ein. Auch die Klassifikation der Moneme in Wortarten hat eine Entsprechung in der Grammatik des Films; die Substantive (des Films) erstellen eine geschlossene Liste von verfügbaren Inhaltssegmenten (Monemen des Films), die Verben ermöglichen ein rhythmische (konnotative) Montage. Den Adjektiven entspricht die denotative Montage, bei der Eigenschaften als organisatorische Aspekte benützt werden. Der russische Poetologe und Literatursemiotiker Jurij Lotman (*1922-1993) veröffentlichte 1973 ein Buch zu Semiotik des Films und zur Filmästhetik (vgl. Lotman, 1977). Die Bedeutung visueller Zeichen, d.h. der Zeichen, die auf dem Sehvermögen basieren, beruht nach Lotman auf drei Faktoren (vgl. ibidem: 67f): 1. Die Gleichsetzung des Bildes mit der entsprechenden Erscheinung in der Realität. 2. Eine Menge strukturell aufgebauter distinktiver Merkmale, etwa durch Linien oder Farbflecke realisiert, die das Bild mit anderen Bildern verbinden oder von diesen abheben. Dies ergibt einen Raum von ähnlichen oder verschiedenen Bildern. 3. Die visuelle Variation eines Bildes in der Zeit. Dieser Typ der Bedeutungsunterscheidung des Sichtbaren bildet die Grundlage der kinematographischen Semantik. Die Variation betrifft etwa die Einstellung oder den Standpunkt des Zuschauers.
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Neben der Einstellung (nah, mittel, fern; von vorne - hinten; oben - unten) ist die Montage ein wichtiges Gestaltungsmittel, da sie die einzelnen Segmente zu einer narrativen Reihe ordnet, aus den Bildern eine Geschichte macht. In dieser Hinsicht ist der Film mit dem Roman vergleichbar. Es wundert deshalb nicht, dass Romane häufig als Vorlagen für Filme dienen oder (seltener) dass Filmskripts zu Romanen ausformuliert werden. Lotman widmet der Zeit und dem Raum im Film besondere Aufmerksamkeit. Die Zeitkategorie ist im Bild und auch im Film relativ arm. Vergangenheit und Zukunft, das Mögliche, Irreale, das Erträumte, Erhoffte, Gefürchtete sind nicht so leicht wie im Text unterscheidbar. In der Filmgeschichte wurden spezielle Techniken entwickelt um diesen Mangel zu kompensieren: Rückblenden, Traumepisoden, subjektive Sehleistungen; siehe etwa das vom Blitzlicht geblendete Sehfeld des Angreifers im Film Rear Window (1956) von Hitchcock. Es mussten dazu bildhaftsymbolische Markierungen erfunden werden, die der Zuschauer spontan verstehen oder (ohne explizite Instruktion) lernen kann. Die aus der Malerei bekannte Raumproblematik (der Bildausschnitt, die Flachheit des Bildes) betrifft auch den Film, der nur in den Grenzen der Filmleinwand existiert. Lotman spricht von einem „Kampf mit dem Raum“ (ibidem: 124). Beispiele sind das Heraustreten aus der Fläche, das in der Frühzeit des Kinos durch die auf den Zuschauer zurasende Lokomotive oder aktuell durch 3D-Effekte im Kino realisiert wird. Aber auch das Spiel mit der Tiefenschärfe oder die Toneffekte erlauben es eine Raumillusion zu schaffen. Das bewegte Bild scheint geradezu den Raum und dessen Begrenzungen aufzubrechen, wenn die Kamera schwenkt oder die Einstellung wechselt. Es nähert sich damit unserer alltäglichen Seherfahrung, die aus einer Vielzahl verschieden fokussierter Bilder einen Gesamteindruck zusammenfügt. Dieser Aspekt wird in Fontanille (1995: 131-151) näher bestimmt, der am Beispiel des Films Passion von Jean-Luc Godard vier Techniken der Raumgestaltung durch Einstellung und Kameraführung untersucht: (a) der Raum als (enger) Korridor, der die Bewegungen der Akteure einengt und die Sichtachse des Zuschauers in die Tiefe lenkt; (b) der Raum mit transversalenen Ebenen, die sich sowohl den Bewegungen der Akteure aufprägen, als auch den Blick des Zuschauers horizontal ablenken; (c) der Raum als Labyrinth, die Wege gehen in alle Richtungen, fast zufällig, was eine PanoramaPerspektive voraussetzt; (d) der voll gestellte Raum, der am ehesten der Bildbetrachtung entspricht, oder als Antithese der leere Raum, der Stimmungen, Landschaftseindrücke erfasst. Lotman nennt den Film eine synthetische (oder polyphone) Kunst, da verschiedene semiotische Systeme komplex zusammengefügt werden. Die Kunst besteht darin, diese Komplexität so zu organisieren, dass der Zuschauer ohne Instruktion, aufgrund seiner Sehfähigkeit und einem spontanen Lernen diese Komplexität auflösen kann. Nur so kann der Film seine Funktion als Massenkultur erfüllen.
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(c) Die Rhetorik des Visuellen (groupe ȝ) Die belgische Gruppe, die sich später groupe ȝ nannte, trat das erste Mal 1975 auf und machte den Versuch, die visuellen Zeichensysteme als eigenständig und autonom zu betrachten. Dabei griff man weniger auf die Grammatik als auf die Rhetorik zurück.10 Programmatisch war die Schrift: Traité du signe visuel von 1992 (vgl. Dondero und Sonesson, 2008). Ausgehend von physiologischen Strukturen des Sehens werden unterschiedliche semiotische Funktionen definiert: ikonische, die auf die Welt verweisen und plastische die vermittelt durch Farbe, Textur und Form Bedeutungen kodieren. Aufbauend auf eine Segmentation und Klassifikation dieser Einheiten, besteht die rhetorische Operation darin, der wahrgenommenen Struktur eine konzeptuelle Struktur aufzuprägen und zwar ausgehend von Brüchen, Lücken in der wahrgenommenen Struktur.11 Hinzu kommt die Möglichkeit paralleler Kodes, d.h. es gibt unterschiedliche Lösungen der Bedeutungsfrage. Klinkenberg (2012: 31) spricht von „pluricodie“. Dadurch wird der dialogische Charakter der Kommunikation hervorgehoben und immanente Widersprüche können verhandelt werden. Dies scheint im Bild besonders zentral angelegt zu sein, kann aber auch in Texten realisiert werden.12 Die Autoren unterscheiden zwei grundsätzlich verschiedene Typen von Zeichensystemen, die ich in Tabelle 1 darstelle: Tabelle 1: Zwei Arten von Zeichensystemen Art der Zeichensysteme
Segmentation der Einheiten
Beziehung von Inhalt und Ausdruck
Stark kodiert Schwach kodiert
klar vage
stabil instabil
Im zweiten Fall, dem schwach kodierten Zeichensystem, fällt dem Interpreten eine besonders wichtige Rolle zu, da er die offen gelassenen Spielräume ausfüllen muss (Umberto Eco spricht in ähnlichen Kontexten von einem offenen Kunstwerk). Das Bild ist prinzipiell von diesem Typus.
10 Beide gehören zum sprachlich-semiotischen Fächer-Kanon (Trivium) der mittelalterlichen Universität: Grammatik, Rhetorik, Dialektik. 11 In der aristotelischen Logik spricht man von Enthymemen, d.h. Lücken in einer deduktiven Kette, die aus dem Kontext zu füllen sind. 12 Vgl. die Mehr-Ebenen-Textinterpretation von Giordano Brunos Dialog: „Vom Ausverkauf der triumphierenden Bestie“ (1584) in: Wildgen (2011: Siebte Studie).
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(d) Sondierungen zu einer „Grammatik“ der visuellen Sprache Das Werk der Kanadierin, Fernande de Saint-Martin, das 1987 in französischer Sprache mit dem Titel „Sémiologie du langage visuel“ in Québec erschien und in englischer Übersetzung in Bloomington (Saint-Martin, 1990), versucht die visuelle Semiotik prinzipiell und in aller Ausführlichkeit mit Hilfe strukturalistischer Begriffe und Methoden zu entwickeln. Die grundlegenden Elemente einer visuellen „Sprache“ werden analog zur gesprochenen Sprache auf zwei Artikulationsebenen verteilt. Die erste Artikulation, der in der gesprochenen Sprache die Lautartikulation entspricht, wird als die Struktur der „Coloreme“ realisiert: „zone in the visual linguistic field correlated with the centration of the eyes“ (Saint-Martin, 1990: 5). Das Colorem besteht aus einem Cluster visueller Variablen (ähnlich wie ein Phonem aus einer Menge von phonetischen Merkmalen besteht). Außerdem ist eine topologische Position, eine Region mit definiert. Saint-Martin unterscheidet unterschiedliche chromatische Polaritäten: • Die Intensität eines Farbauftrages, der eine maximale Unterscheidung zwischen Farben ermöglicht (Dichte der Pigmente, Effekt der Größe der Farbfläche). Sie wird auch Chromatizität (Farbigkeit) genannt. • Die Saturiertheit einer Farbe; diese wird neben der Intensität auch durch den Kontrast mit Nachbarflächen bestimmt. • Die Tonalität: Menge an Licht oder Dunkel in einer Farbfläche. • Die Luminosität: Sie hängt mit der Stärke der Reflexion einer Farbe ab. Als weitere visuelle Variablen werden angeführt: •
•
• • • •
Kontrast und der Ausgleich von Kontrasten zu einem mittleren Eindruck. Man unterscheidet simultane Kontraste (an Grenzflächen), konsekutive Kontraste und Mischungen durch Nachbarschaft. Textur: eigentlich eine tastbare Eigenschaft: hart oder weich, rau oder glatt, penetrierbar oder nicht, kontinuierlich oder diskontinuierlich. Sie kann aber auch visuell wahrgenommen werden. Quantität einer Farbe, besonders im Verhältnis zur Gesamtfläche. Wärme/Kälte einer Farbe und Gewicht/Schwere. Position in der Fläche, insbesondere optische Tiefenwirkung. Konturen und Formen
Die Autorin geht von einem visuellen Basisraum aus, der durch unterschiedliche Prozesse konstituiert wird: •
Energieflüsse auf einer Fläche; besonders entlang der Horizontalen und der Vertikalen,
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•
Zentripetale Kräfte, die von den Ecken ausgehen und stärker oder schwächer die Mitte betonen können.
Aus dem so konstituierten Basisraum lassen sich die wesentlichen Kraftlinien ableiten. Man unterscheidet kreuzförmige Kraftlinien und diagonale Kraftlinien. Weitere Konfigurationen sind ins Auge zu fassen: Focus in einer kreuzförmigen Konfiguration, Zergliederungen in eine Raute oder in Dreiecksflächen und schließlich eine Art Schachbrettmuster, das aus der Grundkonfiguration bei verteilten Zentren erzeugt werden kann. Wenn die Bildrahmen die Form von Rechtecken (vertikal oder horizontal) haben, verändert sich das Kräftefeld asymmetrisch, indem die horizontale oder die vertikale Kraftlinie überwiegt. Sind die Bildrahmen kreis- oder ellipsenförmig, bleibt implizit die Form der umschreibbaren oder einschreibbaren Quadrate und Rechtecke relevant. Die Wirkung der Ecken wird aber abgeschwächt oder eliminiert. Jede Fläche hat außerdem Zentrum und Peripherie, wobei die Peripherie nach verschiedenen Seiten gleich oder ungleich gewichtet sein kann.13 In der Phonologie kann man außer dem Phoneminventar auch dessen Kombinatorik (die Phonotaktik) betrachten. Entsprechend gibt es auch eine Kombinatorik der Coloreme. Die syntaktischen Regeln betreffen zuerst die Einfügung von Coloremen in den visuellen Basisraum und dann die Interaktion der Farben. Beispiele für syntaktische Regeln des ersten Typs sind bestimmte Abfolgen, wie sie besonders bei gegenstandlosen und geometrisch aufgebauten Bildern (etwa im Kubismus, bei Mondrian oder Vasarely auch makrophänomenologisch hervortreten. SaintMartin unterscheidet: Wiederholung von Coloremen, Re-Iteration, Rekurrenz, Symmetrie, Asymmetrie, Inversion. Zusätzlich kommen Organisationsprinzipien der bildhaften Gestaltung hinzu, die auf der Perspektive beruhen. Saint-Martin spricht von Supersyntagmen der Perspektive und unterscheidet: • •
Die subjektiven Perspektiven. Sie hängen ab vom Gesichtspunkt, den Zielen und Absichten des Subjekts. Die objektiven Perspektiven. Sie reorganisieren die Coloreme nach exklusiven Programmen, die kulturell tradiert sind und dem Bild ein Schema der Gesamtsicht aufprägen.
13 Frank Stella (*1936) hat in den 60er Jahren mit der Konvention rechtwinkliger oder geometrisch einfacher Rahmen gebrochen und seinen Werken polygonale, oft gezackte Ränder verliehen.
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Weitere Perspektivensysteme sind zuerst die proxemischen Systeme der Perspektive, die man wiederum untergliedern kann: •
•
•
•
Die optische Perspektive. Sie beruht auf der Trennung von Figur und Hintergrund. Die Figur ist dabei durch eine höhere Intensität visueller Variablen gekennzeichnet. Die parallele Perspektive. Der Zeichner und Beschauer bewegt sch parallel zur Bildebene und stellt die Bildthemen nebeneinander (Beispiele in der ägyptischen und gotischen Kunst). Die arabeske Perspektive, Die Blickpunkte wechseln mit den Wegen des Malers und Beschauers. Dies führt zu einer dekorativen Kunst, kann aber auch mit der Aktionskunst von Pollock assoziiert werden. Die Schachbrett-Perspektive. Sie erzeugt starke Symmetrien, reguläre Abfolgen; Beispiel die abstrakte Kunst von Mondrian.
Die klassische lineare oder Zentral-Perspektive beruht auf dem Prinzip der Camera obscura, d.h. einer Projektion durch ein Okular in einen Raum (vgl. dazu Kap. 7.1). Sie erzeugt große Tiefe, verlangt aber in der Nähe Korrekturen, da total realistische Kameraperspektiven im Nahbereich unbefriedigend erscheinen. Seit der Renaissance wurde diese Perspektive lange als die einzige, wissenschaftlich korrekte Perspektive dargestellt. Es gibt aber im Prinzip eine große Anzahl möglicher Perspektiven im Nah-, Mittel- und Fernbereich. Deren Auswahl stellt eine kulturelle Entscheidung dar und ist damit mit der Arbitrarität der Sprache vergleichbar.14 Eine Syntax der Bildbetrachtung muss folgende Fakten berücksichtigen. Da die Augenbewegungen eher zufällig im Kleinen sind, kommen nur Attraktoren der Bewegung als bedeutungsgebend in Betracht. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen dem Fovea-Sehfeld und den peripheren Sehzonen. Man muss außerdem eine zweidimensionale Gliederung in der Höhe und Breite in Betracht ziehen. Die dreidimensionale Illusion (Tiefe) wird durch den Basisraum, die Perspektive u.Ä. gesteuert. Die Gruppierungen in relevante Raumbereiche, die mögliche Bedeutungsträger sind, legt die Basis für eine semantische Syntax des Sehvorganges. Sehfelder sind nach Ähnlichkeit (Kontrast) gruppierbar; dies ist auch über größere Entfernungen möglich (bei gleichem Thema, ähnlicher Form, Farbe, Textur usw.). Da-
14 Zangwill (2001) nimmt formale, d.h. nicht konzept- und kulturabhängige Eigenschaften des Kunstwerks an, die einerseits in der sogenannten „early vision“, andererseits in automatischen Desambiguierungsmechanismen des Gehirns (besonders bei der dreidimensionalen Interpretation zweidimensionaler retinaler „Bilder“) begründet sind.
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bei werden Gestaltprinzipien der guten Form oder der Verbindung unterbrochener Zusammenhänge genützt. In Prinzip scheint die doppelte Artikulation (auf der Laut- und auf der Formenebene) in die Bildanalyse übertragbar zu sein. Allerdings ist sowohl beim Grundinventar (den Coloremen) als auch bei der Komposition (wegen der zweidimensionalen Kombinatorik) mit einer größeren Vielfalt zu rechnen (im Falle von Skulptur/Architektur und im Film kommen weitere Anreicherungen hinzu). Die Sprache scheint im Vergleich dazu (bei der elementaren Phonemklassifikation und der linearen Syntax) im Lokalen relativ einfach gestrickt zu sein. Sie wartet dafür aber mit vielen Ebenen der Kombinatorik auf (in Morphologie und Syntax), die ihren fast unendlichen Reichtum ausmachen.
(e) Soziale Semiotik und das Lesen von Bildern Innerhalb der Englischen/Australischen Schule des systemischen Funktionalismus (Halliday u.a.) hat besonders das Buch von Kress und van Leeuwen: Reading Images. The Grammar of Visual Design einen großen Widerhall in der visuellen Semiotik gefunden. Dies liegt auch daran, dass hier neben den klassischen Beispielen aus der visuellen Kunst vornehmlich die Presse (d.h. die zunehmende Bebilderung der Zeitungen und Zeitschriften), die Gestaltung von Fachbüchern mittels Grafiken, die Werbung und das Design von Objekten und Wohnungen ins Zentrum der Analyse gerückt sind. Die funktional systemische Semiotik ist also konsequent anwendungsorientiert und bietet den Praktikern in diesen Bereichen konzeptuelle und analytische Hilfen. Die Autoren haben insbesondere Barthes, Metz (Film) und Eco (offene Interpretation) sowie Arnheims Anwendungen der Gestalttheorie systematisch berücksichtigt. Ich gehe lediglich auf einige innovative Vorschläge ein, welche über diese Ansätze hinausgehen. Im Kapitel The meaning of composition führen die Autoren drei untereinander verbundene Systeme ein: 1. Informationsgehalt („information value“). Die Position von Elementen verleiht diesen bestimmte Informationswerte, d.h. verschiedene Zonen des Bildes sind vorab mit bestimmten Valenzen verbunden, z.B. links (weniger) − rechts (mehr; dies hängt u.a. mit der Leserichtung in westlichen Kulturen zusammen) oder oben (Wunsch, Ideal) − unten (real; der Unterschied ist teilweise religiös bedingt), zentral − peripher (verschiedene Informationswerte in der asiatischen Kultur) (vgl. ibidem Kapitel 6). 2. Salienz. Sie wird durch Größen wie: Vordergrund versus Hintergrund, relative Größe, Kontrast in Helligkeit oder Farbe, Unterschiede der Schärfe realisiert (ibidem: 183). 3. Rahmung. Sichtbare Rahmen oder Trennlinien können verbinden oder absondern und damit anzeigen, dass gewisse Inhalte zusammenhängen oder nicht zusammenhängen.
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Das erste Prinzip hängt mit der Topic / Comment-Struktur von Texten zusammen, d.h. unsere visuellen Gewohnheiten bei der Lektüre von Texten werden auf das Verarbeiten von Bildern übertragen (in Abhängigkeit von der Schriftkultur). Die anderen beiden Prinzipien sind aus der gestaltpsychologischen Bildanalyse (siehe unseren Abschnitt zu Arnheim) bekannt, werden aber von Kress und van Leeuwen auf eine Vielfalt von visuellen (textuellen) Produkten angewandt. 1.1.6
Die Prägnanz als Basis einer visuellen Semiotik und Ästhetik
Der Begriff Prägnanz ist durch ein Netz von Konzepten unterschiedlicher Herkunft motiviert15, die René Thom zu einem Überbegriff zusammenfasst, der alles enthält, was für den Menschen und in Bezug auf die von ihm wahrgenommene Umwelt von Bedeutung, relevant und somit auch mitteilenswert ist. Insgesamt kann man drei Aspekte unterscheiden: Die o b j e k t i ve Prägnanz. Das Standardbeispiel ist das Licht; man kann aber auch jedes wellenartige, ein Feld konstituierendes physikalisches oder chemisches Phänomen als Beispiel nehmen. Typisch ist, dass es eine Qu e l l e der objektiven Prägnanz gibt. Jeder Gegenstand, der sich dem Feld entgegenstellt, hinterlässt eine Spur; zum Beispiel absorbiert und reflektiert er Licht. Die objektive Prägnanz verliert ihre Kraft, sie verteilt sich auf die Vielzahl der Brechungen, Absorptionen, Reflexionen. Insgesamt wird aber eine auf die Quelle der Prägnanz ausgerichtete Struktur der Objektwelt erzeugt. Die visuelle Welt ist z.B. auf das Licht, d.h. auf die Sonne (nachts den Mond), auf das Feuer, in neuerer Zeit auf die künstlichen Lichtquellen ausgerichtet; vgl. dazu Kap. 4.1. Die s u b j e k t i v e Prägnanz. Die lebenden Formen reagieren in sehr spezifischer Weise auf Felder, wie etwa das Licht (seit der Evolution der Photosynthese bei Pflanzen und seit der kambrischen Revolution bei Tieren). Im Falle der höher organisierten Lebewesen, zum Beispiel der Menschen, sind es die Sinnesorgane, die objektive Prägnanzen verarbeiten. Grundlegend für die Sinnesorgane sind die jeweiligen Fenster für äußere Reize; Thom spricht von saillances („Salienzen“). Sie sind die für ein Sinnesorgan zentralen Bestimmungsgrößen, insofern sie auf spezifische Felder (des Lichtes, des Schalls, der Düfte) reagieren. Die subjektiven Prägnanzen sind der Startpunkt für die Wahrnehmung, das Gedächtnis und die Kognition.
15 Vergleiche zum Begriff de Prägnanz die Beiträge in Wildgen und Plümacher (2009) sowie Wildgen und Brandt (2010).
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Die biologischen Q u e l l e n / A t t r a kt o re n der subjektiven Prägnanz. Es gibt beim Lebewesen neben den artspezifischen Fenstern (Salienz) auch Prägnanzen, die mit der Selbsterhaltung und Fortpflanzung zusammenhängen. Jedes Lebewesen hat quasi seine eigenen Prägnanzquellen, die evolutionär als überlebensrelevant ausgewählt wurden. Für den Menschen (und alle sich sexuell fortpflanzenden Lebewesen) sind die beiden Grundquellen/Attraktoren: Appetenz beziehungsweise Abstoßung bezüglich Umweltgrößen, die dem Selbsterhalt dienen (Essbares oder Heilendes / Ungenießbares / Giftiges, Beute oder Jäger) und die Suche nach dem Geschlechtspartner und der Konflikt mit dem Geschlechtskonkurrenten. Die Selbstorganisation der differenzierten Prägnanzen erzeugt ein System von Bedeutungen und damit die Voraussetzung für ein Lexikon. Der entscheidende Sprung betrifft die Stabilität und die Komplexität wiederholter Prägnanzübertragungen. Dabei wird die Zeichenform von den salienten Objekten, die es bezeichnet, losgelöst, d.h. die Referenz ist beim Zeichen zeit- und ortsversetzt. Sie friert quasi das Ergebnis einer wiederholten „Zellteilung“ der Quell-Prägnanz ein. Dies hat zweierlei Konsequenzen: Dasjenige, was zum Beispiel Appetenz oder Vermeidung auslöst, kann in viele Aspekte aufgespaltet werden, worin auch die Arten der Nützlichkeit oder der Überlebensrelevanz differieren. So kann die gesamte Flora und Fauna der Umwelt nach Kriterien der Essbarkeit, der medizinischen Wirkung, der instrumentellen Nützlichkeit, der Gefährlichkeit kategorisiert werden. Die reichen Lexika für Flora und Fauna in vielen Sammler- und Jäger-Gesellschaften zeigen den Effekt dieser vielfachen Aufspaltung des für eine Ethnie Bedeutsamen auf. Angewandt auf die visuelle Kunst stellt insbesondre die Bildkultur einer Tradition die für die Künstler / Auftragsgeber besonders prägnante, ihre Aufmerksamkeit beanspruchende Welt dar (vgl. dazu Kap. 3.1). Das Handeln und die soziale Interaktion können selbst Quellen der subjektiven Prägnanz werden, wenn die Gruppe als gesellschaftliche Organisation bedroht ist oder nur durch kooperatives Handeln überleben kann. Die subjektive Prägnanz wird dann zur sozialen Prägnanz. Wie schon bei der subjektiven Prägnanzdiffusion, gibt es spezielle Rezeptor-Bedingungen für die soziale Prägnanz. Diese sind zum Beispiel bei der Sprache durch die gemeinsamen Sprachkenntnisse von Sprecher und Hörer gegeben; in der visuellen Kunst sind es die kulturell dominanten Sehgewohnheiten. Auch religiöse und politische Wertmuster können einen Filter der sozialen Prägnanz bilden und diese kanalisieren. Es entsteht dadurch in kulturelles Prägnanz-Profil, ein Weltbild im Sinne von Heidegger (1938).16
16 Das Problem der Individuation gattungsspezifischer Prägnanzen wird in Simondon (2012) behandelt und wird Gegenstand des Sammelbandes Morphogenesis and Indivi-
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Eine Ästhetik im Rahmen der Prägnanztheorie wurde in verschiedenen Beiträgen entwickelt. In der Untersuchung des Tanzes als ästhetischer Form (Thom, 1981) macht der Autor klar, dass das Zeichen der Tanzfigur nicht auf eine Korrelation der beiden Aspekte (nach Saussure): s i gn i f i a n t und s i g n i f i é reduziert werden kann. Das eigentlich Signifikat (signifié) ist das generative Feld des ästhetischen Zeichens, der Ausdruck über den Körper und dessen Bewegung. Die in der Wahrnehmung saliente Gestalt einer Tanzfigur, aber auch einer Melodie, eines Bildes wird vom schöpferischen Individuum mit Bedeutung gefüllt. Dazu scheinen zwei Bedingungen notwendig zu sein. Zum einen muss die künstlerische Form einen klaren Rahmen haben: die Bühne für den Tanz, der Bild-Rahmen (oder gar der Raum, in dem es hängt) für das Gemälde (noch besser das Atelier des Künstlers in dessen Anwesenheit; dieser Aspekt tritt in der Aktionskunst deutlich zu Tage; vgl. Kap. 5.4 zu Beuys). Zum anderen müssen die verschiedenen Teilformen des Kunstwerkes in eine dynamische Interaktion treten, die eine sehr komplexe Singularität darstellt und damit nicht einfach (zum Beispiel mit Worten) zu umschreiben ist. Thom sagt dazu: Es reizt mich zu glauben, dass es gerade die geistige Ahnung des unaussprechlichen, unfassbaren Charakters dieser dynamischen Struktur ist, die dem Gefühl der Schönheit zu Grunde 17
liegt“ (Übersetzung durch den Autor).
In der Kunst versucht der Mensch gegen das System der kategorialen, das Individuum einschränkenden Fixierung zu den Quellen der Bedeutungen (den ursprünglichen Attraktoren) zurückzufinden. Die Kunst schließt quasi die durch Konventionen versiegelte Erfahrungswelt wieder auf. Die jeweiligen Materialien der Kunst (Farben, plastische, musikalische Formen, Tanzfiguren) erlauben es dem Menschen außerdem, sich von der primitiven Faszination der vorgefundenen Dinge zu befreien und selbstständig eine artifizielle Welt durch Zeichen zu erstellen und sich darin geistig zu bewegen.
duation in der Springer-Reihe: Lecture Notes in Morphogenesis werden; siehe Sarti, Montanari und Galafaro (2013/14). 17 „Je serais tenté de croire que c’est précisément le caractère indicible, ineffable de cette structure dynamique mentalement entrevue qui est à l’origine du sentiment de la beauté.“ (Thom, 1981: 11). Der Maler Gerhard Richter sagte in einem Interview mit den Bayrischen Rundfunk anlässlich seines achtzigsten Geburtstages, 9.2. 2012,: „Die Monalisa ist deshalb gut, weil ich sie nicht kapieren kann. Begreifliche, literarische, symbolhafte Darstellungen haben mit Malerei nichts zu tun.“ siehe im Netz: http://www.youtube.com/ watch?v=KfDUEYX3OCE.
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Jean Petitot führt als Korrelat der ästhetischen Qualität den Begriff der NichtGenerizität (oder Instabilität unter Variation) ein. Er spricht (Petitot 2004: 57) von signifikativen und pertinenten (räumlichen, zeitlichen) Strukturen, die durch die Nicht-Generizität markiert sind. Diese morphologische Information dient als Basis für interpretative Prozesse und konstituiert damit eine Morphologie des Sinns („morphologie du sens“; vgl. dazu Petitot 1985/2004 sowie Bundgaard, 2009). Auf die Bedeutungsdimension von Linien und Kurven geht auch Leyton (2006) ein. 1.1.7
Die kulturelle Dynamik visueller Zeichenprozesse
Die beschriebenen Prägnanzen sind in erster Linie auf den anderen Körper (Mensch, Tier, Pflanze) gerichtet, der gesucht oder gemieden wird (Beute oder Jäger, Sexualpartner oder Rivale). Das sich ab den höheren Primaten entwickelnde Selbstbild, die sich etablierende Relation von Ego und Alter, die Rolle der Medialität als Zwischenebene der Kommunikation haben jedoch den Wahrnehmungs- und Handlungsraum beim Menschen grundlegend verändert. Erinnerung und Imagination schaffen außerdem eine zeitliche Multiplizität nicht nur des Anderen (gestern, heute, morgen), sondern auch des Selbst (der eigenen Entwicklung, der Vorfahren, der Nachkommen). Diese zeitliche und räumliche Anreicherung führt zu einer natürlichen Neubestimmung der Quellprägnanzen; sie betreffen nicht nur die Ernährung j e t z t , sondern auch in einer planbaren Zukunft; nicht nur die sexuelle Partnerschaft i m A u ge n b l i c k, sondern in einer vorstellbaren Zukunft. Diese Vertiefung in Zeit und Raum ist aber nur das erste Stadium. Die zuerst auf einen äußeren Stimulus, der als prägnant wahrgenommen wird, gerichtete Reaktion kann sich von diesem ablösen (zum Beispiel durch das Bewusstsein der Beständigkeit der Ressource in der Zeit) und auf das Selbst (Ego), eventuell ein ideelles (vorgestelltes) Alter Bezug nehmen. Es tritt ein selbstbezüglicher Zyklus auf,18 der dazu tendiert, den äußeren Stimulus zu bleichen oder gar auszulöschen und dafür die im Selbst latent vorhandene Prägnanzen (Eigen-Attraktoren) in den Mittelpunkt zu stellen.19 Die in sehr alten Kulturschichten Indiens (vor der Migration der indoeuropäischen Bevölkerungen) begründeten Yoga-Techniken und die späteren buddhistischen
18 Die Entwicklung der so genannten „Spiegel-Neuronen“ ab den Primaten könnte der Auslöser oder aber die Vermittlungsinstanz des selbstbezüglichen Prozesses gewesen sein (vergleiche Rizzolatti und Arbib 1998 und Wildgen, 2004a). Zur Anwendung des Begriffs „Hyperzyklus“, den Manfred Eigen eingeführt hat, in der Semiotik siehe Wildgen (2007a). 19 Vergleiche zu den Anwendungen der Chaos-Theorie in der Linguistik Wildgen und Mottron (1987) und Wildgen und Plath (2005).
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Lehren der Aufhebung von Lust und Begierde, der Indifferenz, der Überschreitung aller Grenzen könnten als Indiz für das Vorhandensein dieser selbst-referentiellen Dynamik genommen werden. Dieser Aspekt ist in unserem Zusammenhang insofern wichtig, als er zeigt, dass eine über die biologischen Prägnanzen hinausgehende kulturelle Prägung konstitutiv für die symbolischen Formen ist. Offensichtlich muss der Mensch sich zusätzlich noch von der kategorialen Differenzierung bei Tieren lösen können, um eine soziale (zwischen Ego und Alter in vielfachen Differenzierungen vermittelnde) Intelligenz und Kompetenz zu erwerben.20 Zwei Richtungen lassen sich unterscheiden: 1. Der Bezug auf sich selbst, das eigene Leben (als erinnerter Instanz), auf das eigene Denken und Fühlen; damit wird das eigene Innenleben zur Prägnanzquelle. 2. Der Bezug auf eine Vielfalt von Anderen, die man als zu sich selbst analog begreift. Insbesondere ist der Mensch in der Lage auch wahrzunehmen, was andere als prägnant erkennen. Damit übernimmt z.B. das Kleinkind die gespeicherten und kulturell beeinflussten Prägnanzprofile seiner Pflegeperson und wird dann sukzessiv, nicht zuletzt über die Sprache in eine spezifische Sicht seiner Welt eingeführt (vgl. Moll und Tomasello, 2004).21 In der Interaktion mit dem Anderen kann das visuelle Zeichen auch Handlungscharakter erhalten. Man kann mit Bildern behaupten (siehe die narrativen Effekte von Bildern), Reklamebilder können etwas versprechen und Verkehrsschilder verbieten oder fordern etwas. Der performative Charakter der visuellen Kunst wird noch deutlicher in der Aktionskunst, da die Körperlichkeit des Künstlers und der Kontext der Aktion von zentraler Relevanz sind. Aber auch die Signatur, die Originalherkunft des Kunstwerks impliziert einen Verweis auf die Person des Künstlers und den Kontext seines Werks als einmaligem, nicht wiederholbarem Akt (vgl. Derrida, 1994).
20 Unsere Trennung von biologischer und kultureller Prägnanz mag analog sein zur Trennung von horizontaler und vertikaler Ästhetik in Ohno (2003: 30-46), die sich auf Kant und Hegel beruft. 21 Mit der Technik des „eye-tracking“ kann man beobachten, dass beim Sehen eines Films der Zuschauer den Blicken der Personen folgt, die er gerade betrachtet, bzw. deren Bewegungen, denen er mit seinen Augen folgt. Ein Verfolgen der Blicke des Experimentators konnte sogar bei Makaken nachgewiesen werden (siehe Ferrari u.a., 2000).
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In den folgenden Abschnitten komme ich auf die neurophysiologische Basis der visuellen Wahrnehmung und der visuellen Ästhetik zurück, die bereits in Kap. 1.1.4 angesprochen wurde, da dieses Feld in den letzten Jahrzehnten ein besonders starkes Wachstum erlebt hat.
1.2 V ISUELLE Z EICHENKOMMUNIKATION
UND DAS
G EHIRN
Die Mikroprozesse, die sich in den Sinnesorganen und den Arealen des für die Wahrnehmung zuständigen Gehirns abspielen, sind zwar immer wieder angedeutet worden (etwa in der Gestalttheorie), sie wurden aber nicht genauer ausgeführt. Da die Kognitionswissenschaften, insbesondere die Neurovisions-Forschung und die Simulation bzw. technische Nachahmung visueller Prozesse in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht haben (sie halten inzwischen Eingang in die Fotografie, die Mobiltelefone und die Tablet-Computer für den Alltagsgebrauch), wollen wir zumindest zentrale Ergebnisse Revue passieren lassen. 1.2.1
Gibt es bildhafte Vorstellungen im Gehirn?
Ein Nachweis der Existenz und der Kraft imaginaler Repräsentationen ergibt sich aus experimentellen Untersuchungen zur Rotation räumlicher Vorstellungen. Cooper und Shepard (1986) konnten einen sehr stabilen Zusammenhang zwischen dem Rotationswinkel beim Vergleich zweier geometrischer Figuren und der Reaktionszeit nachweisen; d.h. die imaginale Rotation ist ein ziemlich realistisches Analogon einer realen (motorischen) Bewegung von Objekten im Raum. Im Experiment galt es (zweidimensionale) Bilder von Würfelgebilden zu identifizieren, z.B. zu entscheiden, ob eine spiegelbildliche oder eine rotierte Variante vorliegt. Die Tatsache, dass die Reaktionszeit linear mit dem Winkel der notwendigen Drehung bis zur Identität (bzw. Nichtidentität) korreliert war, bewies für die Autoren, dass die Versuchspersonen mental eine Operation, die analog zu einer realen Rotation /Spiegelung war, ausführten. In der Konsequenz bedeutet dies, dass (wie wir auch intuitiv wissen) der Mensch prinzipiell kognitiv befähigt ist, für Objekte und Vorgänge in der Außenwelt realistische, interne Repräsentationen und Vorgänge zu erzeugen und mit diesen Bildern mental zu arbeiten. Dies bedeutet, dass auf einer (verallgemeinerten) Ebene solche Bilder und Erzeugnisse als Bedeutungsträger verfügbar und bearbeitbar sind. Weitere Untersuchungen, die z.B. in Finke (1986) berichtet werden, zeigen, dass mentale Vorstellungen die Wahrnehmung nicht nur vorbereiten, sondern auch das motorische Verhalten beeinflussen. Anhand von Experimenten, in denen die Versuchspersonen eine Prismen-Brille trugen, welche alle Objekte im Sehfeld nach rechts verschob, konnte ein vorgestelltes Zeigen auf die Objekte ebenso gut wie ein beobachtetes Zeigen die optische Verschiebung korrigieren. In diesen Fällen wird
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die reale Wahrnehmung und Motorik durch die mentale Vorstellung vorbereitet und korrigiert. Einige Hinweise zum Charakter verallgemeinerter imaginaler Repräsentationen geben uns Forschungsergebnisse aus der Psychophysik. Hevnstein und Villiers (1980) machten Experimente zur Formerkennung bei Tauben und Menschen, wobei insbesondere die Klassifikation von Fischen (anhand von vorgelegten Fotografien) untersucht wurde. Sowohl die Tauben (für die Fische nicht zum natürlichen Erfahrungsbereich gehören) als auch die Menschen zeigten im Experiment die Fähigkeit, Fische von Nicht-Fischen zu unterscheiden. Die Tauben erreichten eine nicht zufällige Unterscheidung erst nach mehreren Durchgängen, während die Unterscheidung für die Menschen leicht war. Die Reaktionszeit bei den Menschen hing mit der Deutlichkeit des Figur-Hintergrund-Kontrastes (1), der Prototypikalität (2) und der kanonischen Perspektive (3) zusammen. In einem anderen Experiment mit Tauben wurde die Fähigkeit nachgewiesen, ausgehend von einer Blattform (Eiche) abweichende Formen zu generalisieren. Die Autoren folgerten, dass eine verallgemeinerte Kategorienbildung von Tauben, d.h. auf einer relativ einfachen Stufe der kognitiven Evolution, in ähnlicher Weise wie beim Menschen erfolgt. Für imaginale Repräsentationen heißt das, dass sie kategorial sind und verallgemeinert werden können und zwar weitgehend unabhängig davon, ob Sprache verfügbar ist oder nicht (eine bestimmende sprachliche Kategorisierung scheidet bei den Tauben als Erklärung ja aus). 1.2.2
Piktorialer versus sprachlicher Kode
Die Debatte zu unterschiedlichen Repräsentations-Kodes: einem piktorialimaginalen und einem sprachlich-textuellen ist eng verbunden mit den Forschungen von Paivio seit 1971. Im Laufe der Jahrzehnte wurden etwa sechzig Indikatoren der Verschiedenheit experimentell bestätigt. Sie reichen vom Unterschied zwischen konkreten (anschaulichen) Wörtern und abstrakten Wörtern in Gedächtnistests bis zur Korrelation des Unterschieds mit neuropsychologischen Fakten (Aktivitäten im rechten bzw. linken Temporal-Lappen) (vgl. Paivio, 1991: 348 f.). Die Unterscheidung piktorial − textuell hängt eng mit der Opposition: analog (piktorial) – diskret (verbal) zusammen. Insbesondere im Aufbau komplexer, hierarchischer Strukturen scheint die Verarbeitung unterschiedlich zu sein. Die piktoriale Repräsentation ist bei gewohnten Objekten (Bauten, Innen-Einrichtungen, Körpern) durch eine räumliche Verschachtelung von Teilen und Ganzem gekennzeichnet, während verbale Repräsentationen in hierarchisch strukturierten „Bäumen“ organisiert sind (vgl. die Strukturbäume der Grammatik). Es gibt sicher auch Gemeinsamkeiten, aber unterschiedlich schnelle Zugriffsleistungen weisen doch darauf hin, dass der Verarbeitungsmodus bei piktorialen und verbalen Repräsentationen recht verschieden ist. Die Memorierung, Assoziation, der symbolische Vergleich, die mentale Rotation
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bzw. Transformation, Inferenzen und natürlich die Modifikation durch Schemata, Erwartungshorizonte, Hintergrundwissen, in der Situation aufgebaute Kontexte, sind der Ausgangspunkt für das Verstehen sowohl von Bildern als auch von Texten, da die höheren Verarbeitungsstufen vergleichbar operieren, allerdings mit unterschiedlichem Input; vgl. dazu auch Kap. 10.3, wo die Bild/Text-Interaktionen thematisiert werden. 1.2.3
Visuelle Analyse im Gehirn und deren Simulation am Computer
Die moderne Gehirnforschung hat mit invasiven Techniken der Gehirnforschung an Tieren und mit bildgebenden Verfahren, welche die Aktivitäten des menschlichen Gehirns bei der Lösung von Test-Aufgaben zeigen, die Frage nach der Gestaltbildung (vgl. Kap. 1.1.4) präzisiert. Man nennt das Problem jetzt das Bindungs (binding)-Problem. Dabei spielt das Phänomen der kortikalen Synchronisation/ Desynchronisation eine entscheidende Rolle. Die Bindung erfolgt dadurch, dass Populationen von Neuronen (etwa 500-1000 Zellen) synchron feuern. Die Synchronisierung kann sogar über größere Distanzen im Gehirn erfolgen. Besonders relevant für die Synchronisierung ist das Ȗ-Band (30-50 Hz). Dieser Synchronizität muss man außerdem ansehen, ob sie sich auf Eigenschaften (was?) oder auf Befindlichkeiten (wo?) bezieht. Außerdem müssen bei Bewegungen temporale Sequenzen erkannt werden, die ebenfalls temporal kodiert und von der temporalen Kodierung von statischen Eigenschaften unterschieden werden müssen. Singer (1999: 50) schlägt eine parallele Kodierung räumlicher und zeitlicher Muster vor. Im Konfliktfall wird das prägnantere/relevantere Muster gewählt (das andere wird unterdrückt; ibidem). Ein Prozess kann wiederum mit ihm anhaftenden Eigenschaften, z.B. den am Prozess beteiligten Größen, verbunden werden, ebenso wie die Lokalisierung des Prozesses mit dem Prozess selbst verbunden werden kann. Die Dreiteilung: Ort, Zeit, Qualität hat insofern Relevanz, als sich zwei unterschiedliche Bedeutungsräume ergeben: • •
Lokalisierung (Raum, Teil – Ganzes) – Qualität. Die Qualitäten werden im Objekt gebunden und damit räumlich (individuierend) fixiert. Prozess – Qualität. Dem Prozess wird eine Valenz (Art und Anzahl der Beteiligten) zugeordnet.
Die gebundenen Reaktionen des Gehirns können durch externe Stimuli angeregt, kontrolliert sein. In diesem Falle ergibt sich eine Strukturabbildung: Außen Æ Innen. Die Gehirnprozesse können aber auch durch interne Prozesse ohne äußere Kontrolle synchronisiert werden, so dass Struktur entsteht.
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Finally, it is to be expected that there are processes in the brain that are based on self-paced coordination of both the timing and the amplitude of distributed neuronal activity and are only loosely, if at all, time locked to externally measurable events. (Singer, 1999: 54)
Hinzu kommt die Aufmerksamkeitsbewegung, welche selbst-induzierte Strukturen durch die Abfolge der fokussierten Bereiche oder Eigenschaften erzeugt. Diese interne Dynamik bedingt eine Formung, deren Ursprung weniger die externe Welt als vielmehr die Bewegung des „Geistes“ ist. Dadurch entsteht eine Art „symbolischer Prägnanz“, was schon Cassirer bemerkt hat, der die grundlegend symbolische Natur von Wahrnehmungen annahm. Untersuchungen mittels EEG (Elektroenzephalografie) und MRT (Magnetresonanztomografie) an menschlichen Subjekten während der Lösung von Test-Aufgaben zeigen die Relevanz der Synchronisierung im Ȗ-Bereich für Figur-Grund-Unterscheidungen, für Merkmalskonjunktionen, für die Auflösung bistabiler Muster und für die Sprachverarbeitung (siehe Singer, 1999: 62, und Pulvermüller u.a., 1997). Da experimentelle Ergebnisse mit genauer Ausmessung der Aktivität von Neuronen oder kleineren Netzwerken nur für Tiere vorliegen, muss man für weitergehende Hypothesen auf mathematische Modelle oder auf Simulationen im Computer zurückgreifen. Ich will einige Eckpunkte dieser Studien erwähnen. Biedermann (1987) schlägt vor, die dreidimensionale Vorstellung von Objekten anhand eines Satzes einfacher geometrischer Körper, so genannter Geone, zu rekonstruieren (er entwickelt dabei die Konzeption in Marr, 1982 weiter). Wir werden im Kapitel zur Skulptur (speziell bei Henry Moore) auf diese Idee zurückkommen. Strichmännchen sind eine andere Erscheinungsform (der Zylinder z.B. wird zum Strich). Dazu gibt es Algorithmen, welche ausgehend von den Konturen, das StrichSkelett berechnen. Seit den 80er Jahren werden Modelle, die auf statistischen Anpassungen in mehrschichtigen künstlichen Neuronen am Computer beruhen, entwickelt. Man spricht von „neural networks“ oder konnexionistischen Modellen; vgl. Wildgen (2008: Kap. 1.3). Dabei wurde die Größe dieser Modellnetzwerke ständig gesteigert (bis zu einer Milliarde künstlicher Neuronen). Das grundlegende Problem ist aber die Überbrückung der Lücke zwischen neuronaler Organisation, die sich zumindest in groben Zügen technisch simulieren lässt, und dem kognitiven Verhalten, das menschenähnlich sein sollte. Ein an der Universität Waterloo (Neuseeland) entwickeltes Modell enthält 2,5 Millionen künstliche Neuronen, ein künstliches Auge und eine künstliche Hand, die z.B. zeichnen kann. Dieses System kann eine Reihe von menschlichen Leistungen simulieren, z.B. Buchstaben, insbesondere bei handschriftlichen Varianten, erkennen, einfache arithmetische Aufgaben lösen und einen grundlegenden (nichtsprachlichen) IQ-Test bestehen. Die gemessene Leistung beim Erkennen und Reproduzieren handschriftlicher Buchstaben liegt bei 94% (gegenüber 98% bei Menschen). Im Prinzip ist damit ein vollständiger Funktionskreis von
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der visuellen Erkennung, den mentalen Operationen am Input unter Berücksichtigung von Gedächtnisinhalten bis zum motorischen Output simulierbar. Was fehlt, ist einerseits ein Modell des Lernens bei neuem Input und natürlich die angemessene Geschwindigkeit. Die Maschine braucht 2,5 Stunden Rechenzeit um das Verhalten, das der Mensch in einer Sekunde zeigt, zu simulieren (vgl. Eliasmith u.a., 2012 und Machens, 2012). Wenn wir bei dieser Beschreibung stehen bleiben, können wir uns der grundlegenden Frage zuwenden, wie Ereignisse imaginal repräsentiert werden. Eine naheliegende Lösung wäre, dass sie aus statischen Schnappschüssen in zeitlicher Abfolge zusammengefügt und animiert werden. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein. Im Gegenteil, die statischen Bilder sind das Ergebnis einer Invariantenbildung auf der Grundlage bewegter Bilder, da die Augen, der Kopf und der Körper des Sehenden ständig in Bewegung sind, selbst wenn der Gegenstand still hält. Die dynamischen Modelle der Wahrnehmung gehen auf Mach (im Jahre 1886) und Exner (im Jahre 1875) zurück und wurden von Gibson (1966) programmatisch in den Vordergrund gerückt. In lucid and illustrative analyses Gibson has made clear that the optic stimulus activating the visual system has the character of a flux rather than an image. ... He claimed that geometric invariances in the perspective transformations in the optic flow, generated by locomotion, are a primary source for 3-D perception. (Johansson, von Hofsten und Jansson, 1980: 29)
Ein Modell der mentalen Vorstellungen und der imaginalen Repräsentation muss somit grundlegend dynamisch sein und sollte lediglich als Randfall statische Bilder (als Invarianten der Bewegung) erzeugen. 1.2.4
Gehirnschädigung und visuelle Ästhetik
Die Frage, ob die künstlerische Tätigkeit durch den Zustand und die besondere Befindlichkeit des Gehirns eines Künstlers beeinflusst wird, hat dazu geführt, dass man begann Fälle von Gehirnschädigungen zu untersuchen, bei denen entweder nach der Schädigung andere Formen der künstlerischen Betätigung erfolgten (oder diese erst dadurch angeregt wurde), oder welche aktive Künstler betrafen, so dass der direkte Einfluss der Schädigung auf den Verlauf ihrer künstlerischen Entwicklung untersucht werden konnte. In Chatterjee u.a. (2011) werden drei Künstler untersucht, zwei mit Schädigungen der linken Hemisphäre und einer mit Schädigungen der rechten. Es zeigte sich erstens, dass die Annahme, die rechte Hemisphäre sei in besonderer Weise mit visuellen und künstlerischen Fähigkeiten verbunden, nicht zutrifft (im Gegensatz zur Sprache, wo eine klare Hemisphärendominanz, meist auf der linken Seite, vorliegt). Die Autoren der Studie diagnostizieren für die gehirn-geschädigten Künstler:
F ORSCHUNGSANSÄTZE
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„When Sherwood's, Boiyadjiev's and Corinth's paintings are considered together, we find the following changes were found in all three artists. Their paintings became more abstract and distorted and less realistic and accurate. They were also rendered with looser strokes, less depth and slightly more vibrant colors. Thus, none of these changes can be ascribed to laterality of brain function. Also, their paintings did not change in complexity or emotionality.” 22
(ibidem: 409).
Im Vergleich zu den sehr spezifischen sprachlichen Ausfallerscheinungen bei unterschiedlichen Hirnschädigungen mit Aphasie als Folge, scheinen die visuellen und gestalterischen Fähigkeiten weder hemisphärisch spezialisiert zu sein, noch überhaupt spezifisch lokalisiert zu sein. Dies bedeutet, dass auf der Ebene der neuralen Implementierung grundlegende Unterschiede zwischen Sprache und visueller Gestaltung vorliegen. In den folgenden Kapiteln wird der Schwerpunkt auf dem Bild und der Skulptur liegen, bevor wir uns mit der Bekleidung, der Architektur, dem Städtebau und schließlich mit dem Bild in der Literatur beschäftigen. Wir gehen, wie in der Einleitung angekündigt, von der Evolution menschlicher Bildkulturen aus. Kernpunkte einer visuellen Semiotik (Kap. 1) Wir gehen generell von dem triadischen Zeichenmodell bei Peirce aus: Zeichenform (Representamen) – Objekt (in der Welt) – Interpretant (Ort der Zeichenkonstitution). 1. Die visuellen Zeichenformen werden entweder am Körper sichtbar gemacht (Mimik, Gestik, Körperbewegung) oder an Artefakten (Kleidung, Bilder, Skulpturen, Häuser, Städte). 2. Die Objekte der Zeichenbeziehung entstammen unserer visuellen Umwelt, der natürlichen oder der vom Mensch erzeugten. Da letztere meist auch Zeichenfunktionen erfüllen, entsteht ein Regress: Zeichen beziehen sich häufig auf andere (grundlegendere) Zeichen. 3. Die zeichenkonstituierenden Gesetzmäßigkeiten sind erstens kausal (bei einem primär indexikalischen Bezug; vom Handabdruck bis zum Film), zweitens konventionell (symbolisch) als Gebrauchsregeln in einer menschlichen Gruppe und drittens ikonisch (ähnlich) in Bezug auf einen individuellen und kollektiven
22 Die Einschätzung wurde durch künstlerisch nicht geschulte Probanden vorgenommen, die die Gemälde der Künstler auf zwölf Skalen (depth, stroke, saturation, …, symbolism) bewerteten.
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Wahrnehmungs- und Gedächtnisraum. Der Ort der Semiogenese ist der Interpretant. 4. Charakteristisch für die visuelle Zeichenmodalität sind der indexikalische Prozess und der ikonische Raum. Ersterer ist für die Realitätsillusion zuständig, der zweite erlaubt weitreichende Abstraktionen. Die Topologie dieser Räume hat systematische Bezüge zum Anschauungs- und Bewegungsraum. 5. Die visuelle Kunst / Qualität besteht einerseits in der Ausschöpfung des Potentials visueller Gestaltung und Kommunikation, andererseits ist sie immer in Traditionen und kulturelle Kontexte eingebunden und damit zur Kontinuität genötigt.
2. Die Evolution der visuellen Zeichen
Kunst ist seit ihrem Beginn, etwa in den Ritzzeichnungen, Farbbildern und Skulpturen der späten Steinzeit (40-15.000 J.v.h.) gleichzeitig Abbildung, Nachahmung (Mimesis) der Natur und abstrakte Chiffre, Quasi-Schrift; d.h. sie hat ein doppeltes Gesicht. Gerade im mystisch-religiösen Kontext vieler Kunstformen hat der Realismus eher eine beschwörende Funktion, so etwa die realistischen Darstellungen von Pferden, Bisons, Löwen in der Höhlenmalerei der Steinzeit; er ist also nicht Selbstzweck und deshalb auch selten so ausgeprägt wie seit der Renaissance.1 Selbst in realistischen Zeichnungen scheint zudem die Dynamik des künstlerischen Aktes durch, wie die folgende Felszeichnung aus dem frühen Magdalénien zeigt.
Abbildung 1: Realistische Darstellung eines Wildpferdes mit erkennbaren Strichtechniken, Peña de Candamo (in: Rhotert, 1956: 20)
1
In mancherlei Hinsicht waren auch die späthellenistische und die römische Kunst realistisch, z.B. im Porträt oder in der historischen Darstellung. Sie illustriert häufig die klassische Geschichtsschreibung (von Herodot bis Xenophon und von Sallust bis Tacitus).
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Die Zeichnung lässt deutlich große konkave und konvexe Bögen, gerade Linien, gehackte Striche und Punkte und indirekt die Bewegungen von Arm (große Bögen) und Hand (kleine Striche, Punkte) erkennen. In seiner indexikalischen Funktion verweist das Bild also auf Bewegungsmuster des Zeichners, die der Betrachter imaginativ nachvollziehen kann.2 Die drei Bewegungskomponenten (Oberarm/Rumpf; Unterarm, Hand), aus denen sich die Kurven der Zeichnung rekonstruieren lassen, entsprechen in ihrer Kinematik drei hintereinander geschalteten Pendeln. Im Fall des Armes sind die Freiheitsgrade der Schwingungen stark eingeschränkt und somit leicht kontrollierbar. Die Kontrolle erfolgt einerseits durch Isolation, d.h. eine Bewegung wird hauptsächlich von einem der Teilglieder verursacht oder durch Koppelungsbeschränkungen; andererseits treten durch die Koordination der Bewegungsmuster auch feste Modi auf.3 Diese bilden ein Grundalphabet zeichnerischer Gestalten und können in diskreter Weise kombiniert werden, so dass wie bei der Sprache diskrete Konstruktionen entstehen. Die Schrift erscheint als das Endprodukt einer Diskretisierung und Verkettung der Handbewegungen. Neben dem Abbild gibt es die Chiffre, die Quasi-Schrift. Von Schrift spricht man erst in den Hochkulturen Mesopotamiens (um 3300 v.Chr.) und Ägyptens (um 3100 v.Chr.). Hier dominiert der Schreib- oder Malduktus. Die heute nicht mehr lesbaren Zeichen der Steinzeit manifestieren Bewegungen der Zeichen- und Ritzhand und verweisen auf Bedeutungen, die sich früher aus Ritualen und Mythen erschlossen haben. Da diese nicht tradiert wurden, ist eine Entzifferung dieser Symbole nicht mehr möglich. Sie setzen aber die parallele Existenz von Sprache, Glaubensvorstellungen und rituellen Kodierungen voraus.4 Beide Tendenzen, der „be-
2
Diese Fähigkeit der internen Emulation wahrgenommener Handlungssequenzen ist seit der Evolution der sogenannten mirror cells bei den höheren Primaten ausgeprägt.
3
Bei einem Dreifach-Pendel sind rein physikalisch Chaos-Phasen zu erwarten. Chaotische Phasen sind aber auch kontrollierbar. In der Biologie treten häufig Koppelungen auf; so es gibt z.B. stabile Modi bei der Bewegungskoordination von Vierfüßlern; vgl. die Analyse von Gangarten bei Tieren als selbstorganisierte Muster in Haken (1996; Kapitel 9). Bei der Dripping-Technik von Jackson Pollock, wenn nämlich die Hand einen Pinsel flach über die liegende Fläche führt oder wenn die Farbe aus einem Behälter rinnt, sind Chaosphasen nicht gänzlich auszuschließen und wahrscheinlich sogar erwünscht; vgl. dazu Kap. 4.4.
4
Die Entzifferung einer Schrift kann nicht als Definitionskriterium benützt werden, da sie von historischen Zufällen abhängig ist, z.B. von dem Weiterbestehen einer Sprache derselben Familie oder dem Fund eines mehrsprachigen Dokuments (wie der Stein von Rosette, den Champollion zur Dechiffrierung der Hieroglyphen benützen konnte). Bei der
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schwörende“ Realismus und die abstrakte Chiffre (die Quasi-Schrift) sind seit dem Beginn einer visuellen „Kunst“ Achsen der Gestaltung. Sie sind auch noch heute grundlegend, was ich in weiteren Kapiteln ausführlicher zeigen werde.
2.1 T IER
UND
M ENSCH
IN DER
H ÖHLENMALEREI 5
Der Beginn der grafischen Künste kann anhand des ersten Auftretens von konzentrierten Farbpigmenten in der Umgebung der Fundstellen von Hominiden datiert werden. Barham (2001) berichtet, dass im Süden von Zentral-Afrika Hämatit (Eisenverbindungen, oft als Ocker bezeichnet) und Eisenglanz aus einer Lagerstätte in der Nähe der Twin Rivers in Sambia gewonnen wurden. Sie waren an den Fundort gebracht und dort verarbeitet worden und man rieb sie an Oberflächen ab. Man kann daraus schließen, dass diese Materialien zur Färbung von Körpern oder Oberflächen verwendet wurden. Die Verwendung solcher Pigmente verweist auf eine Kontinuität, die von den erwähnten archäologischen Stätten (um 270.000 J.v.h.) bis zu zeitgenössischen Jäger- und Sammlerkulturen in der Kalahari reicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat der frühe Homo sapiens ebenfalls diese (und weitere) Farben zum Bemalen des eigenen Körpers, von Objekten oder Wandflächen verwendet. Ein größerer Bestand an Malereien, Strichzeichnungen und Skulpturen erschien erst in der späteren Steinzeit (Paläolithikum) und die folgende Diskussion wird sich hauptsächlich mit diesen Produkten beschäftigen. Dennoch muss bedacht werden, dass der moderne Menschen und seine Kunst ihren Ursprung in Afrika haben. Die Periode des späten Paläolithikums (oder des oberen Pleistozäns, also 130.000 bis 10.000 J.v.h.) ist in Europa durch starke klimatische Veränderungen, genannt Eiszeiten und Zwischeneiszeit-Stufen, gekennzeichnet. Die durchschnittliche Temperatur im Juli in Südeuropa variierte zwischen 20 ° C in den heißesten Zeiten und 0 ° C in den kältesten. Mit dem Klima veränderten sich die Pflanzen und Tiere und mit ihnen die Bedingungen für das Überleben des frühen Menschen. Dieser Zeitraum ist in Europa mit dem Neandertaler- und dem Cro-Magnon-Menschen verbunden. Der moderne Mensch (Homo sapiens) hat Afrika verlassen, und erreichte vor etwa 100.000 Jahren den Nahen Osten. In Skhul und Quafzeh (Israel) wurden
von Haarmann (2010) beschriebenen Donauschrift ist keine Dechiffrierung erfolgt, dennoch argumentiert Haarmann für den Schriftcharakter dieser Zeichen. Da der Verwendungszeitraum vor den bekannten Hochkulturen des Orients liegt (6. und 5. Jahrtausend v.Chr.), sind Übersetzungsdokumente unwahrscheinlich. Für eine weltweite Übersicht zu den Höhlengrafitti siehe Raviliousa (2010). 5
Vgl. auch Wildgen (2004b) für eine frühere Bearbeitung des Themas in Englisch.
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Fossilien von frühen modernen Menschen gefunden, die 90.000 Jahre alt sind; sie waren vermutlich mit dem Neandertaler, der in Europa und im Mittel-Asien lebte, in Kontakt.6 Der Hauptstrom dieser Populationen konnte aber frühestens ab 50.000 J.v.h. nach Westeuropa eindringen.7 Fossilien von frühen modernen Menschen sind in ganz Westeuropa ab 40.000 J.v.h. gefunden worden. Das allgemeine Szenario zwischen 40.000 und 12.000 J.v.h. (der Zeit der Höhlenmalerei) in Westeuropa kann als eine kontinuierliche Ausbreitung des Cro-Magnon-Menschen beschrieben werden. In Tabelle 2 werden die klassischen Perioden der Steinindustrien (benannt nach ihren frühesten Fundorten), sowie die geophysikalische Periodisierung anhand von Tiefsee-Bohrkernen und Pollenanalysen dargestellt (vgl. Gamble, 1986: 79-97). Tabelle 2: Die Perioden der neolithischen Stein-Industrien und korrelierte Zeiträume 40.000 J.v.h.
30.000 J.v.h.
20.000 J.v.h.
10.000 J.v.h.
Périgordien Aurignacien Solutréen Magdalénien Azilien Frühe Eiszeit 62.- 32.000 J.v.h. (Gamble, 1986: 85)
6
Haupteiszeit Späte Eiszeit 32.000 – 13.000 J.v.h.; (ibi- 13.000 .-10.000 J.v.h. dem: 91) (ibidem: 94)
Rekonstruktionen der Genfrequenzen in Neandertaler-Knochen weisen darauf hin, dass in der ersten Phase des Kontakts (also etwa vor 100.000 Jahren) eine genetische Vermischung mit aus Afrika kommenden Homo sapiens Populationen stattfand. Neuere Funde und Datierung lassen es als möglich erscheinen, dass der moderne Mensch schon vor 45 oder gar 50.000 Jahren nach Europa vorgestoßen ist.
7
José Luis Sanchidrián von der Universität Cordoba, hat in Höhlen bei Nerja Felszeichnungen gefunden, die Fische zeigen. Sie wurden mit der Radiocarbon-Technik auf 43.500 und 42.300 datiert. Eine endgültige Bestätigung der Datierung steht noch aus.
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Ich werde drei Arten der figuralen Symbolisierung („Kunst“) untersuchen, die der Entwicklung einer Schrift vorausgehen: (1) Die Gravuren auf Werkzeugen, (2) Die ersten Skulpturen, (3) Die teilweise farbigen Malereien in Höhlen. ad 1: Werkzeuge aus Stein und Knochen sind seit der Zeit des Homo erectus gemacht worden. Die ersten Ritzzeichnungen auf Stein wurden auch in Afrika gefunden und sie können auf 70.0000 J.v.h. datiert werden. Solche Gravuren auf Werkzeugen und auf anderen kleinen Gegenständen gehören zur Kategorie der transportablen Kunstwerke („art mobilier“) und damit eher zum profanen Leben als in rituelle oder sakrale Kontexte. Man kann deutlich zwischen in sich geschlossenen Formen, die hauptsächlich dekorativ sind, und einer ikonischen Kunst unterscheiden, die durch realistische Konturen und Farben auf externe, wahrgenommene Objekte, Tiere, etc verweist. Ein Trend zur Trennung von Abstraktion auf der einen Seite und Mimesis auf der anderen Seite ist von Anfang an vorhanden und verweist auf zwei grundlegende Dimensionen der bildnerischen / bildhauerischen Tätigkeit: abstrakte Zeichen (Symbole) und abbildende (ikonische) Zeichen. Das künstlerisch gestaltete Objekt konnte geschenkt, gestohlen, vererbt oder mit dem Inhaber begraben werden. Die Stabilität und soziale Verbreitung solcher Zeichen konnte ein ganzes Wissens-Feld organisieren und bildete das Rückgrat eines kulturellen Lexikons. ad 2: Altsteinzeitliche Skulpturen. Diese Skulpturen sind meist klein wie die berühmten „Venus-Statuetten“ an vielen Orten Europas. Sie betonen in der Regel sexuelle Attribute der Frau. Andere Skulpturen (etwa von Tieren) sind sehr realistisch, so die Bisondarstellungen aus Ton in der Höhle von Tuc d'Audoubet (vgl. Leaky 1981: 174). Die Skulptur kann sogar eine Dekoration auf einer Waffe oder einem rituellen Instrument sein. Abbildung 2 zeigt zwei Beispiele für Frauenfiguren, eine mit ganzem Körper (ohne Füße) und eine mit Kopf.
Abbildung 2: Venus von Willendorf, Wachau (11 cm hoch; Naturhistorischen Museum, Wien) und Venus von Brassempouy, Frankreich (3,6 cm hoch; Musée d'Archéologie Nationale). Beide sind ca. 25.000 J. alt.
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Weibliche Attribute werden überbetont (vgl. die Brust, den Bauch und die RückenSeite). Das Haar wird in einer ganz bestimmten Art und Weise gestaltet. Bei der Venus von Brassempouy gehen manche Autoren von einer gewebten Kopfbedeckung aus. Es kann sich aber ebenso in beiden Fällen um eine Frisur handeln (vgl. Kap. 6.3.1 zur Evolution eines vestimentären Kodes und Frehn und Krings, 1986 für afrikanische Frisuren heute). Obwohl diese Kleinplastiken nicht universell sind, definieren sie eine bestimmte Art der Kunst, die anscheinend eine überregionale Verbreitung hatte, wie eine Übersicht zu den Funden in Sanchidrián (2001: 126) zeigt, die Venusfiguren in West- und Osteuropa: Willendorf, Lespuge, Grimaldi, Dolné-Vêstonice, Kostienki, Khotylevo, Avdevo und Gargarino aufzählt. Das Verbreitungsgebiet hat einen Durchmesser von mehr als 3000 km. Kuhlemann (1979: 66f.) sieht in diesen Frauenfiguren die Darstellung der Laktation, d.h. Frauen haben nicht nur jahrelang ihre eigenen und andere Kinder gestillt, die Milch konnte auch als Nahrungsreserve in Phasen des Mangels genützt werden. Mit der Domestikation von Tieren wurde diese Funktion überflüssig. Wenn das Modell für eine schwangere Frau oder Mutter in der Steinzeit (in bestimmten Kulturen) stand, dann könnte man es mit heutigen „Idealfrauen“ vergleichen, die freilich das Gegenteil von Schwangerer, Mutter vieler Kinder verkörpern. Neben den Venus-Statuetten wurden auch viele Tierdarstellungen oder Mischformen von Tieren und Menschen bei Ausgrabungen gefunden. Die ältesten stammen aus dem frühen Aurignacien, d.h. vor etwa 30.000 Jahren. Sehr ergiebige Fundstätten sind die Höhlen der schwäbischen Alp und des fränkischen Jura. Vergleicht man die unterschiedlichen, in Höhlen gefundenen Skulpturen mit der Höhlenmalerei derselben Epoche, so kommt man zu dem Schluss, dass Skulptur und Malerei Ausdruck derselben Kultur sind in einer Zeit, als sich in Europa die Eisflächen ausbreiteten und das Überleben besonders schwierig wurde. Diese Kunst wäre dann eine Reaktion auf die existentielle Krise der Eiszeit gewesen (die u.a. das Aussterben der Neandertaler verursachte). ad 3: Höhlenmalereien treten vor allem in einem Gebiet nördlich und westlich der Pyrenäen, z.B. im Périgord, Toulouse (Frankreich) und in den kantabrischen Provinzen Spaniens auf.8 Zusammen mit den Funden von Skulpturen in Süddeutschland und in den Donauländern, bietet es sich an, einen Kulturbund südlich
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Allerdings gibt es auch im südlichen Ural Fundstellen. Da ähnliche Malereien in nördlichen Zonen durch Frost abgeplatzt sein können und dann im Schutt verschwanden und manche Regionen keine Kalk-Höhlen aufweisen, kann man durchaus mutmaßen, dass sie in allen, vom modernen Menschen bewohnten, durchstreiften Gebieten der Eiszeit existiert haben.
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der Eismassen mit einem Korridor zwischen den nordeuropäischen, vereisten Gebieten und den Alpengletschern anzunehmen, quasi von Nordspanien bis ins südliche Russland. Die Herden von Weidetieren, die sich saisonal zwischen den höheren (kälteren) und den tieferen (wärmeren) Regionen bewegten, bestimmten auch das Leben der Menschen (und anderer Fleischfresser, die mit ihnen konkurrierten). Man kann sich diese Kulturen in Analogie zu Rentier-Kulturen im Norden Finnlands und in Nordsibirien vorstellen. Die Kultur-Kontakte und die ökologische Basis des Überlebens führten wahrscheinlich zu einem gemeinsamen (oder zumindest ähnlichen) System von Überzeugungen, Mythen und Ritualen, deren Ausdruck die Höhlenmalereien sind. Der Höhepunkt der Höhlenmalerei reicht vom Ende des Aurignacien bis zum mittleren Magdalénien; sie ging ziemlich schnell gegen Ende dieser Periode verloren. In der Periode des Niedergangs wurden die Bilder kleiner, wurden zu Konturen, Skizzen und schließlich zu schematischen Zeichen reduziert. Die Gravuren (1) konnten auf Symbole ohne ikonische Unterstützung reduziert werden. Für die Benutzer der Höhle war die Bedeutung bekannt, aber für diejenigen, die nicht an dem Ritual teilgenommen haben, sahen sie aus wie Chiffren einer unbekannten Schrift. Da wir wissen, dass Schriftsysteme ein sehr viel jüngeres Phänomen sind, müssen wir diese Zeichen als das Gedächtnis stützende Strukturen interpretieren. Es gab wohl ein Korpus gemeinsamen Wissens in diesen Gesellschaften und der Zeichner/Maler war sich dieses Wissens bewusst. Das Wissen wurde vermutlich durch einen traditionell festgelegten Unterricht in InitiationsPerioden und durch Rituale etabliert oder war den Schamanen vorbehalten. Das „Lesen“ der Gemälde setzte dieses Wissen voraus und es war mit einem sozialen Mehr-Wert verbunden. Noch bevor ein System des Schreibens eingeführt wurde und damit ein Korpus von Wissen, über das Personen in herausgehobenen sozialen Positionen verfügten, wurde das kulturelle Wissen zu einem sozial kodifizierten System von Zeichen, die den späteren grafischen Modus der Kodifizierung vorwegnahmen. Nach diesem Schritt hatte die kulturelle Evolution einen Grad an Organisation erreicht, der eine Schrift möglich und rentabel machte. Sie brauchte nur erfunden und durch ihre Verwendung weiter entwickelt werden. In Abbildung 3 wird die Pause einer Felszeichnung gezeigt, die die figurale Darstellung eines Tieres mit einer schematischen Zeichnung verbindet. Im Prinzip könnte ein Teil von ihr das Thema (z. B. das Tier), das andere der Kommentar sein (womit eine satzartige Struktur vorläge).9
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Die sogenannten „tectiformes“ könnten aber auch Darstellungen von Fallen für Großwild sein, d.h. das zusammengesetzte Bild wäre ein Art Jagdbericht der Form: Wir haben einen großen Bison in die Falle getrieben und dann ein Schlachtfest im Lager veranstal-
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Abbildung 3: Pause einer Felszeichnung mit Bison und angefügten abstrakten Zeichen, ausgeführt von H. Breuil (Höhle Font de Gaume, Frankreich) Leroi-Gourhan (1981) konnte zeigen, dass die Verteilung der Tiere an der Decke der Haupt-Höhle von Altamira eine Struktur mit 16 Bisons im zentralen Bereich und anderen Tieren in der Peripherie hat.10 Er interpretiert die Tiere als Symbole für das Zusammenleben der Geschlechter, während F.G. Freeman (1987: 72) eine realistische Interpretation vorzieht. Die zentrale Herde von Bisons „corresponds precisely to what one would expect had the artist intended to depict a herd in breeding condition” (ibidem: 77). Leroi-Gourhan (1992: Kapitel III) bietet eine statistische Analyse der spezifischen Orte für verschiedene Tiere und ihrer Kollokation an (1386 Säugetiere werden in 62 Höhlen des französisch-kantabrischen Raum registriert). Der Autor zeigt, dass die Tiere, die für eine Darstellung ausgewählt wurden, verschieden sind am Höhleneingang, den zentralen bemalten Flächen und am tiefen Ende der Höhle. In der Mitte der Höhle besetzen unterschiedliche Tiere das Zentrum und die Peripherie
tet; vgl. aber die Kritik an den ethnologischen und kunsthistorischen Deutungen der Höhlenmalerei in Kuhlemann (1979). 10 Kulturhistorisch ist auffallend, dass einerseits das große Weidetier (Wisent, Bison) das erste domestizierte Großtier (größer als der Mensch) war und zweitens, dass der Stier, bzw. dessen Gehörn sehr früh zu einem göttlichen Symbol wurde; frühe Darstellungen finden sich in Çatal Höyük und Göbelki Tepe (vgl. Herles, 2006: 268). Spätestens mit der minoischen Kultur wurde der Stier (mit Europa) ein zentrales Thema des Kultus und der Kunst. Diese Linie wurde bis in die Moderne fortgesetzt; vgl. Salzmann (1988). Die Hieroglyphe des Rindes und dessen Vereinfachung zum Rinderkopf liegt dem Buchstaben Aleph, Alpha zu Grunde, vgl. Morenz (2012).
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(oft sind letztere auch kleiner). Die zentralen Felder zeigen: 310 Bisons, 464 Pferde, 102 Mammute und 101 Auerochsen. Diese vier Klassen sind die Bestandteile des zentralen Bereichs und sie beherrschen diesen (mit 83% bis 93% der gesamten Verteilung). Der hintere Teil der Höhle zeigt: Bären, Löwen und Nashörner. Während Hirsche am Eingang dominieren, tritt der Steinbock öfter in der Peripherie der zentralen Platten, im hinteren Höhlenteil und am Eingang auf. Andere Tiere sind ziemlich gleichmäßig auf die vier Bereiche verteilt, z.B. wilde Ziegen und Rentiere.11 Die bemalte Höhle ist nicht nur eine mentale Konstruktion, die Bilder haben eine rhetorische Organisation, die den Anfang, die Mitte und das Ende (das Ergebnis) unterscheidet und sie geben einen (quasi-lexikalischen) Überblick über die Welt der Tiere, mit denen es der Steinzeitjäger zu tun hat.12 Im Folgenden soll die Wirkung der scheinbaren Bewegung, der künstlerischen Animation, d.h. der dynamische Aspekt gesondert analysiert werden. Ich gehe davon aus, dass die Kategorien der Bewegung und Kausalität grundlegend sind für das Verständnis aller semiotischen Prozesse (vgl. Wildgen 1994, 1999a) und werde deshalb ihre Rolle in der Kunst der Cro-Magnon-Menschen untersuchen. Die älteste Höhle mit hochrangiger Malerei ist die Höhle von Chauvet im Tal der Ardèche (diese fließt nördlich von Orange in die Rhone). Verschiedene Perioden des Besuchs werden zwischen 31.000 und 27.000 (23.000) datiert und gehören damit zum Aurignacien (vgl. Tabelle 2). Die Bewegung und deren Wirkung (Dynamik) kommen in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck: In der Wahl des Blickwinkels: Ganz-Profil oder Halbprofil. Außerdem kann ein Teil des Körpers (z. B. der Kopf) sich in eine anderen Richtung drehen. Abbildung 4 zeigt eine ziemlich extremes Beispiel aus der Höhle Chauvet: ein Bison dreht seinen Kopf um fast 90°, also direkt dem Betrachter zugewandt. Gewöhnlich wird das ganze Tier im Halbprofil gezeigt, so dass vier Beine sichtbar sind und das Moment der Bewegung klar erkennbar ist.
11 Die Höhle Chauvet, die im Jahr 1994 entdeckt wurde, zeigt eine ziemlich abweichende Verteilung der Tiere, da die Löwen einen wichtigen Platz im hinteren Teil der Höhle einnehmen, Rentiere sind häufiger als üblich dargestellt und der Panther und die Hyäne sind sonst nicht dargestellt, vgl. Roudil (1995: 59). 12 Vgl. dazu die quasi-lexikographische Darstellung der Mittelmeer-Unterwasserwelt in Arcimboldos Allegorie des Wassers und Kap. 3.4.2.
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Abbildung 4: Ein Bison dreht seinen Kopf (Angriff), vgl. Chauvet, Deschamps und Hillaire (1995: 107). Die Bewegung kann mittels der Darstellung der Beine als primären Instrumenten der Fortbewegung dargestellt werden: Die besondere Stellung des Kopfes kann auch andeuten, dass sich das Tier rasch nach vorne bewegt. Die Gruppe der Löwen in Abbildung 5 stellt die Positionen von Kopf und Beinen in einer Gruppe von angreifenden Löwen dar. In einem anderen Wandbild sind bei einem Bison mehr als vier Beine sichtbar (7 oder 8), damit wird die sehr schnelle Bewegung (er steht vor einem Löwen, vgl. ebd.: 76f) dargestellt.
Abbildung 5: Eine Gruppe von Löwen, Grotte Chauvet (vgl. ibidem: 101)
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Sehr stark bewegt sind auch Kampf-Szenen. In einer Szene, die in der Grotte Chauvet dargestellt wird, treffen zwei Nashörner aufeinander, eine Szene, die vom Maler sehr genau beobachtet und realistisch wiedergegeben wurde. Stellt man sich noch eine flackernde Beleuchtung durch verteilte kleine Lichtquellen vor, so entsteht im dunklen Raum der Höhle eine Atmosphäre, wie diejenige, welche der heutige Kinogänger zu schätzen weiß. Dies hat der Semiotiker Barthes deutlich in seinem Aufsatz „En sortant du cinéma“ (deutsch: Beim Verlassen des Kinos) beschrieben, als er von einer Art Hypnose des Kinogängers im dunklen Saal sprach. Dieser geht freiwillig in die Falle des Imaginären, der Illusion und fühlt sich befreit, sobald er wieder ins Freie tritt (vgl. Barthes 1984: 410f.). Beltran et al (1998: 72) haben gezeigt, dass sich die Maler in der Höhle von Altamira stehend mit ihren linken Arm an die Höhlenwand lehnten und den Arm dann als Schablone nützten, um mit dem rechten Arm eine lange gebogene Linie zu zeichnen. In ähnlicher Weise war die natürliche Bewegung des Unterarms die Grundlage für eine größere gekrümmte Linie, z.B. zum Zeichnen der Schulter und des Rückens eines Bisons. Die Zeichnung eines Bisons kann somit in eine Reihe von natürlichen Bewegungsmustern zerlegt werden; dies geschieht ganz ähnlich beim Schreiben; die natürlichen Bewegungsmuster der Hand, der Arme sind die dynamischen Bestandteile der Linien in der Malerei und in der Schreibkunst. Die Oberfläche kann weiter strukturiert werden durch Schraffuren, um die hellen und dunklen Teile zu trennen, oder durch Bereiche mit unterschiedlicher Farbe oder Textur und weitere Details können hinzugefügt werden. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass bestimmten Körperteilen von Tieren eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird: das Haar eines Bisons oder dessen Auge und Nase (in Altamira), die Köpfe der Pferde (z.B. eine Sequenz von vier Köpfen mit Hälsen in der Höhle Chauvet) und von Löwen (z. B. zehn skizzierte oder ausgearbeitet Köpfe und Hälse in der Höhle von Chauvet, vgl. Chauvet et al 1995: 60f, 101f). Die Bedeutung von tierischen Körperteilen kann auf die Prominenz der entsprechenden menschlichen Körperteile wie Kopf, Auge, Ohr und Mund oder auf eine physiognomische Analogie zwischen Tieren und Menschen verweisen (vgl. Wildgen 2001). Smith (1992: Kap. 4) vergleicht die möglichen rituellen Hintergründe der Cro-Magnon-Kunst mit der Ideenwelt der Schamanen, in der es lebendige Kräfte gibt (z. B. den Atem), die Tiere und Menschen gemeinsam haben. Er (ibidem: 102f) gibt auch einen Grund für die häufige Überlagerung von eingekratzten Figuren an. Dies würde darauf hinweisen, dass die Erstellung der Zeichnung wich-
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tiger als das Lesen war.13 Die Vermeidung von Überlagerungen in den aufwendigen Malereien der Höhlen von Chauvet, Lascaux und Altamira hebt dagegen die passive Rolle von am Zeichenakt nicht Beteiligten hervor. Insofern ist die bemalte Höhle eine frühe Art der musealen Konservierung von Kunst für den späteren Betrachter oder gar für die Ewigkeit.
2.2 D IE D ARSTELLUNG DES M ENSCHEN In der Höhlenmalerei der französisch-kantabrischen Tradition sind Menschen selten vertreten. In der Zeit zwischen 12.000 und 7000 J.v.h., d.h. vor oder nach dem Aufkommen der Landwirtschaft, findet man eine Fülle von Strichzeichnungen, in denen Menschen den zentralen Platz einnehmen.14 Der Pfeil war erfunden und die Jagd (wahrscheinlich auch die Kriegsführung) war anspruchsvoll. Der einzelne Jäger oder die Gruppe der Jäger sowie das Tier (manchmal ist es auch der Feind) sind die Hauptthemen. Die Szenen sind sehr dynamisch; sie zeigen laufende Menschen und Tiere, Angriff, Flucht, und das Schießen mit dem Bogen. In vielen Fällen gibt es eine grundlegende Beziehung, z. B. ein Jäger schießt auf einen angreifenden Steinbock, vier Jäger ziehen mit einem Anführer oder es wird ein Kampf zwischen zwei Gruppen dargestellt, wie man ihn aus ethnologischen Berichten über PapuaNeuguinea kennt. Man könnte sagen, in der Malerei wird ein Beziehungs- oder ein Valenz-Schema dargestellt.15 Abbildung 6 zeigt eine Zeichnung aus der Cueva Remigia im Osten Spaniens (eine Fülle von weiteren Beispielen und deren Analyse enthält Sanchidrián, 2001: 380-430).
13 Vgl. Roland Barthes' Bemerkungen zur Fotografie und Kap. 7.1. Manchen Benützern von Digitalkameras scheint das Fotografieren wichtiger zu sein als die Fotos, die gespeichert werden. Das Heraustreten der Kunst aus dem Alltagshandeln wird auch als „Artifikation“, d.h. die Hervorhebung des Kunstcharakters von Objekten und Darstellungen bezeichnet; vgl. den Tagungsbericht in: Zeitschrift für Semiotik, 2011, 33(3-4): 428. 14 Steinplatten aus Gönnersdorf (Rheinland-Pfalz) werden derzeit mit 3D-Scans analysiert. Die etwa vor 15.000 J. mit Ritzzeichnungen versehenen Schieferplatten zeigen Frauenund Tierdarstellungen von künstlerischer Qualität. Die Archäologen glauben sogar, dass die Künstler Proportionen wie den Goldenen Schnitt verwendet haben (Mitteilungen der Leibniz-Gesellschaft vom 24.10.2012). 15 Kuhlemann (1979) verweist auf kollektive Jagd- und Treibtechniken, wie sie seit der Steinzeit betrieben werden (mit Attrappen, Treibern oder Lockmitteln). Es ist davon auszugehen, dass es raffinierte Techniken gab um einerseits die geringe Reichweite der Waffen andererseits die Gefahr, die von flüchtenden Tieren ausging, auszugleichen.
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Abbildung 6: Levante-Kunst des mesolithischen Ost-Spaniens; Jagdszene, Mesolithikum (ca. 9 - 8 000 J.v.h.; Rhotert, 1956: 31) Die Felszeichnungen zeigen eine Vielzahl von Situationen im Alltag. Neben Jagdszenen sind eine Reihe von anderen sozialen Situationen vertreten: Gruppen mit Frauen, Frauen mit Kindern, Tänze, an denen sich die Männer und Frauen beteiligen. Wahrscheinlich wurden die sozialen Rollen zwischen Männern (Ausnutzung der größeren Ökologie) und Frauen (Kontrolle der Familie, der Wohnung und der nahe gelegenen Ökologie) getrennt. Die Veränderung der sozialen Struktur (wenn wir dies aus dem Katalog der Bilder folgern) könnte zwei Quellen haben: 1. Die wärmere postglaziale Periode veränderte die Ökologie. Statt der Jagd auf Großwild und dem Wandern mit den großen Herden von Rentieren haben die Jäger die Vielfalt der kleineren Tiere in ihrer Nachbarschaft genutzt. Die Siedlungen wurden stabiler und die Techniken der Jagd und ihrer Ausbeutung wurden weiter entwickelt (Insgesamt geriet die Kultur in eine schwere Ernährungskrise). 2. Die Bevölkerung der Levante war wahrscheinlich in Kontakt mit der Bevölkerung in Nord-Afrika und hatte möglicherweise ein anderes ethnisches Substrat als die frankokantabrische Kultur. So sind die Körper der in den Bildern gezeigten Personen von schlankem Bau (auch die Frauen). Die Mittelsteinzeit-Kunst der Levante-Kultur ist somit anders als die frankokantabrische. Möglicherweise hatten beide Kulturen Parallelen in Nordafrika: der franko-kantabrische Stil der Felskunst ähnelt den Felsgravuren in der Sahara und in der Oase Fezzan (südlich von Tripolis). Zwischen 7.000 und 6.000 J.v.h. erreichten
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Kulturen mit Viehzucht diesen Raum aus der Großlandschaft des Sudan.16 Sie setzten den gleichen realistischen Stil (vor allem mit Konturen in den Fels graviert), aber mit unterschiedlichen Inhalten fort. In ähnlicher Weise wird der Levante-Stil der Mittelsteinzeit durch Felszeichnungen in den Bergen weiter im Süden imitiert: Hoggar, Gilf Kebir u.Ä. Hier zeigen die Fels-Bilder das gesellschaftliche Leben in einem sehr lebendigen, obwohl formal strengen Stil. Abbildung 7 zeigt eine Familien-Szene in Kargur Talh.
Abbildung 7: Familien-Szene aus der nördlichen Sahara (Kargur Talh) (in: Rhotert 1956:41) Insgesamt ergeben sich folgende Bestandteile einer steinzeitlichen Bildersprache: • • • •
naturalistische Abbildungen, schematisierte Symbole, Abfolgen solcher Symbole, geometrische Ornamente.
Letztere sind manchmal erkennbar auf natürliche Formen bezogen, bilden dennoch ein abtrennbares Formeninventar, das als Vorrat für abstrakte Zeichenformen dienen konnte. Inhaltlich sind die statischen Bilder oft Erzählungen oder imaginierte Handlungen (Zukunftserzählungen), wie ein Vergleich mit noch beobachtbaren australischen Kulturen nahe legt. Der Darstellung liegt meist eine narrative Struktur zugrunde.
16 Die Analyse bestimmter Fette in Tonscherben hat gezeigt, dass bereits vor 7000 Jahren in der (damals grünen) Sahara tierische Milch verarbeitet wurde; vgl. Dunne u.a. (2012).
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2.3 V ERGLEICH
MIT DER K UNST DER AUSTRALISCHEN U REINWOHNER
Die Ureinwohner Australiens sind, wie paläontologische Funde zeigen, sicher seit 45.000 Jahren auf dem australischen Kontinent präsent. Ihre Ankunft, von den indonesischen Inseln zur Zeit eines wesentlich tieferen Meeresniveaus, mag ab 60.000 J.v.h. in verschiedenen Schüben erfolgt sein. Die genetische und kulturelle Trennung von der Migrationsbewegung, welche zu den Höhlenmalern Europas führt, kann somit 70.000 Jahre zurückliegen. Da Australien nach der Erhöhung des Meeresniveaus Jahrzehntausende isoliert war, könnten Gemeinsamkeiten mit den Höhlenmalern auf eine Out-of-Afrika-Population, d.h. auf den Startpunkt der Kultur des rezenten Menschen vor 100 - 150.000 Jahren verweisen. Im Gegensatz zur Höhlenmalerei war es insbesondere bis zum Zweiten Weltkrieg möglich, die Kulturen und Sprachen Australiens noch relativ unberührt von westlichen Traditionen zu beobachten; dies änderte sich nach dem Weltkrieg, in dem auch australische Ureinwohner mobilisiert wurden. Insbesondere konnten die Künstler zur Bedeutung ihrer Kunstwerke befragt und das Verhältnis von Kunst, Religion und Sachkultur konnte näher bestimmt werden. Aus diesem Grunde gehe ich kurz auf einige Aspekte der australischen Felsritzungen und Malerei ein. Ritzzeichnungen auf Felsen in Südaustralien sind stilistisch durchaus mit paläolithischen Felszeichnungen vergleichbar. So ist z.B. die Darstellung eines Fisches (Panamarittee North, vgl. Rose, 1969, Abb. 38) ähnlich den Zeichnungen, die in Nerja (Spanien) in einer steinzeitlichen Höhle entdeckt wurden. Die Umrisslinie wird durch Querstreifen gefüllt, die entweder die Gräten oder das Volumen des Tieres andeuten. Auch der aus der paläolithischen Kunst bekannte Röntgen-Stil, bei dem innere Organe des Tier sichtbar werden, oder die Darstellung von Lebewesen oder Geistern als Strichmännchen sind in beiden Kulturen nachweisbar. Man könnte daraus folgern, dass es ein gemeinsames Erbe der künstlerischen Gestaltung gibt, das mindestens in die Zeit vor der Trennung der Migrationslinien, d.h. vor 70.000 bis 100.000 J.v.h. zurück reicht. Die Funktion der Kunst im Kontext der australischen Kultur (die natürlich bei der großen Ausdehnung und etwa 200 verschiedenen Sprachen reich gegliedert und differenziert ist) ist klar nicht-museal. Kunst wird für den aktuellen Bedarf geschaffen. Nach der Beendigung der Rituale kann sie verschwinden oder sie wird bis zu einem neuen Anlass vergraben. Die Felszeichnungen werden ebenfalls regelmäßig erneuert und sind so gesehen (innerhalb der Kontinuität der Kultur) zeitlos (vgl. Brüll u.a., 1991: 33-38). Die inzwischen wirtschaftlich bedeutsam gewordene australische Kunst hat diesen archaischen Charakter natürlich nicht mehr, sie bedient sich nur der Techniken und Motive überlieferter Kunstobjekte.
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Was die Bedeutung der Kunst angeht, dominiert die sogenannte Traumzeit, d.h. der Schöpfer der Kunst berichtet über Traum- oder Trance-Erlebnisse, wobei die Ahnen und Mythen der Vorzeit, des Ursprungs eine zentrale Rolle spielen. Diese Bedeutungen sind im Übrigen geheim, d.h. sie erschließen sich nur dem Eingeweihten, Initiierten. Die Kunst soll gar nicht zu allen, insbesondere nicht zu Fremden sprechen. Die Zeitvorstellung ist zyklisch, was auch die Vorstellung einer Seelenwanderung, insbesondere der Wanderung von Geistkindern in den Bauch der Schwangeren und ihrer Rückkehr zu den Geistern im Falle des Todes andeutet. Wahrscheinlich haben auch die paläolithischen Jäger geglaubt, dass die Zeit zyklisch und dadurch statisch sei. Dies galt wohl bis zum Ende der Eiszeit, als sich vor 12.-10.000 J.v.h. das Klima dramatisch erwärmte und die regelmäßig wiederkehrenden großen Herden ausblieben. Dies muss ebenso wie die neolithische Revolution einen Kulturschock ausgelöst und die Vorstellungswelt grundlegend umstrukturiert haben. Die Welt der Bilder, Körperbemalungen, Artefakte stellt somit das Rückgrat einer Kultur dar, auf das sich der Mensch bezieht, um seine Identität zu sichern. Bricht diese Kultur durch äußere oder innere Veränderungen zusammen, muss eine neue Bilderwelt geschaffen werden und dies werden wir ab Kap. 4 an der Malerei der Moderne zeigen können.
2.4 A BSTRAKTION IN DER STEINZEITLICHEN K UNST UND MÖGLICHE V ORLÄUFER EINER S CHRIFTKULTUR Gebrauchskunst und rein darstellende, wahrscheinlich rituell eingebundene Kunst, bilden ein Kontinuum von Formen, wobei die frühesten erhaltenen, vom Menschen hergestellten Objektformen (Artefakte), die sogenannten Faustkeile, die erste Entwicklungsstufe darstellen. Ihr ging wahrscheinlich eine Phase voraus, in der vorgefundene Gegenstände (Äste, Knochen, Steine) ausgewählt und nur grob zurechtgemacht wurden. Mit den ersten planvoll hergestellten Steinen (etwa im Villefranchien, ca. 2. Millionen J.v.h.) beginnt die Umsetzung einer tradierten Formvorstellung in die serielle Herstellung von Objekten. Da die Faustkeile sowohl als Waffen als auch zum Zerschneiden und Abschaben genützt wurden, ersetzten sie teilweise die Funktion, welche bei anderen Tieren die Zähne haben. In gewisser Weise sind also Faustkeile Repräsentationen von Eckzähnen (an der Spitze) oder Zahnreihen (an den scharfen Seiten). Wichtig ist, dass diese Gegenstände nicht unbedingt lebensnotwendig waren, d.h. es gab auch Kulturen ohne Faustkeile, außerdem wurden sie nicht von Spezialisten hergestellt (vielleicht von besonders Geschickten im Austausch gegen andere soziale Leistungen und mit Prestigegewinn). An heutigen Naturvölkern lässt sich allerdings beobachten, dass schöne Gegenstände Wert erhalten und aufbewahrt werden, d.h. ein Ansatz zur Würdigung des ästhetischen Gehalts von Gebrauchsobjekten mag bereits von Anfang an bestanden haben (vergleichbar
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mit heutigen Design-Objekten, die gesammelt werden, aber weiterhin in die Gebrauchswelt eingebettet sind). Zeichen sind solche Gegenstände insofern sie stellvertretend für Hand (als Waffe) und Mund (Zahn) sind, also eine ikonische Beziehung zu Körperteilen haben und insofern sie eine ähnliche Wirkung ermöglichen (eine indexikalische Zeichenfunktion haben). Wenn in einer Kultur eine konventionelle Form oder Technik entsteht, sind dadurch symbolische Zeichen gegeben, d.h. wesentlich durch Vereinbarung und Tradition motivierte Zeichen. Außerdem findet man vielfältige andere Formen wie: Speere und Stöcke, Behausung, Bekleidung, die auch semiotische Funktionen tragen konnten oder im Zusammenhang von Ritualen und Mythen eine repräsentative Funktion erhielten. Für die Vorgeschichte der Schrift sind nur kleine, gut handhabbare und somit frei kombinierbare Formen von Interesse und solche, welche eine besondere Abstraktionsleistung aufweisen. Ähnlich wie im Falle des Grundwortschatzes einer Sprache (den häufigsten und prägnantesten Wörtern) finden wir ein festes Grundinventar von immer wiederkehrenden Zeicheninhalten vor. Beim Stil dieser Bilder kann ein naturalistischer und ein abstrakt-geometrischer unterschieden werden. Letzterer ist ein interessanter Vorläufer von Schriftzeichen. Eine Grundtechnik der abstrahierenden, sich auf minimale Züge beschränkende Abbildung liegt bei den sogenannten Handbildern vor. Wie man heute noch in australischen Kulturen beobachten kann, wird die Farbe im Mund zerkaut und auf die Hand gespritzt; Abbild ist hier quasi Abdruck. Dagegen werden größere Tierbilder aus der Vorstellung (ohne Gesamtskizze) von einer Extremität ausgehend gezeichnet. In diesem Fall ist also nicht der Gegenstand, sondern seine Vorstellung der Bezug des Bildes. Die Stilisierung solcher Bilder betrifft die besonders zentralen körper- und menschennahen Designate: •
•
Die Hand (das hervorragende Instrument des Menschen). Das Verhältnis der Hände zum Körper ist synekdochisch (das Teil steht für das Ganze), d.h. man kann das Ganze erraten, auch wenn das Bild der Hand möglicherweise nicht ausreicht, um den Maler zu identifizieren; vgl. Abbildung 8.17 Vulva-Symbole (La Ferassie, Abri Cellier, Frankreich)
Stilisierte Frauen- oder generell Menschenfiguren. In Abbildung 8 sind rechts vereinfachte Menschendarstellungen (vgl. Jelinek, 1975: Abb. 623) wiedergegeben.
17 Viele der Hände zeigen Auffälligkeiten, die entweder als Verletzungen oder als Signatur gelesen werden können.
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Abbildung 8: Negative Handdarstellung (Sprühtechnik) und minimalistische Darstellungen von Menschen Gelegentliche Reihungen verschiedener Symbole erwecken bereits den Eindruck einer Schrift, sind aber nicht deutbar (vgl. Jelinek, ibidem, 439: Bild 704). Paläolithische Malereien enthalten viele Zeichen, die nicht als Bilder oder Figuren interpretiert werden können. Leroi-Gourhan (1992: Ch. IX) hat eine Bestandsaufnahme der franko-kantabrischen abstrakten Zeichen vorgenommen und drei Hauptklassen unterschieden: • • •
kleine Zeichen, z. B. Sticks und verästelte Formen, volle Zeichen, z. B. Dreiecke, Quadrate, Rechtecke (tectiformes), Schlüsselformen (claviformes),18 punktierte Zeichen.
Er kommt zu dem Schluss, dass alle diese Zeichen ihren Zusammenhang mit den Tieren, die in den Höhlenbildern vertreten sind, verloren haben. Sie stellen einen zusätzlichen Kode dar. Dies ist sehr deutlich der Fall in Lascaux, wo Zeichen und Bilder systematisch in einer Zeichnung kombiniert werden (vgl. ibidem: 337). Die kleinen Zeichen könnten durch „Disjunktion“ abgeleitet worden sein, d.h. bestimmte Eigenschaften sind aus figürlichen Bilder isoliert worden. Die allgemeine Tendenz ist eine der geometrischen Abstraktion. Kleine Bilder wie in der
18 In Pike u.a. (2012) wurden „clavi-form symbols“ in frankokantabrischen Höhlen auf mindestens 35.600 J.v.h. datiert.
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tragbaren Kunst könnten die Abstraktionstendenz ausgelöst haben. Die MiniaturZeichen wurden stilisiert und später als Bestandteile der großangelegten Bilder in die Höhlenmalereien aufgenommen. Dies ist im Grunde der gleiche Prozess, wie er in der Entwicklung der frühen Schriftsysteme (z. B. in Ägypten) beobachtet werden kann. Einige der kleinen Zeichen assimilieren dabei die Form von Speerspitzen, d.h. sie kopieren Merkmale ihrer Unterlage; vgl. Leroi-Gourhan (1992: 336). Er assoziiert diese Zeichen mit dem männlichen Geschlecht (als phallische Symbole). Volle Zeichen werden dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Entweder werden sie aus der Form der Vulva, oder aus einem weiblichen Profil (ohne Kopf und Fuß) abgeleitet. Die so genannten „tectiformes“ (Dach-Formen) oder rechteckige Zeichen (vgl. Wenke 1999: 208f) sehen aus wie Hütten oder Unterstände und könnten sich sekundär auf die Domäne der Frauen beziehen. Die punktierten Zeichen können auf eine grundlegende Technik der Malerei und Zeichnung bezogen werden, d.h. aneinander gereihte Punkte, die eine Kurve oder mehrere Reihen von ihnen, die eine Fläche füllen. Dies stellt eine diskrete Variante der Darstellung von Linien und Flächen dar. Es gibt einige Hinweise, dass das Zählen oder das Darstellen mathematischer Strukturen diesen Zeichen zu Grunde liegt (vgl. Marshack 1972). Ein allgemeines Merkmal der Zeichen-Nutzung ist auf der einen Seite die Verwendung von spezifischen regionalen Zeichen, d.h. wir beobachten eine Vielfalt von „Sprachen“ oder Zeichen-Kodes. Auf der anderen Seite sind bestimmte Techniken wie die Abstraktion von weiblichen Eigenschaften charakteristisch für große Gebiete (wie etwa Zentral-Europa). Da die Zeichen ein typisches Muster in Europa zeigen, könnte man in Analogie zu den Sprachbünden von „Zeichen-Bünden“ sprechen. Daneben gibt es fragmentierte Kodes oder Kunst-Dialekte. Manche Zeichen erscheinen in Gebieten mit einem Durchmesser von nur 40 km. Das entspricht in etwa der Fläche von Dialekten, bevor diese ab dem 19. Jh. in Europa durch Dialektschwund reduziert wurden. Als mimetische Kunst ist die Höhlenmalerei mit einer im Keim vorhandenen vorgeschichtlichen Wissenschaft, insbesondere einer Wissenschaft der Natur (Goethe würde von Morphologie sprechen) vergleichbar. Dieser Keim sollte sich in der griechischen Antike (wahrscheinlich vorher schon in Ägypten, in Mesopotamien und in der minoischen Kultur) entfalten und die Blütezeit von Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Griechenland des 5. vorchristlichen Jahrhunderts prägen. In der Renaissance wird dieser Höhepunkt der abendländischen Kultur fortgeführt. Die Mathematik der Projektion/Perspektive wird bei Leonardo und Dürer Teil des künstlerischen Handwerks und der Künstler durfte sich als humanistisch gebildeter
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Handwerker (Dürer) oder gar als künstlerisch arbeitender Philosoph (Leonardo) verstehen. Insofern ist die Kunst seit der Renaissance eine Schwester der Wissenschaften und keine alternative oder gar eine Gegenkultur, wie sie heute von manchen Kunst- und Kulturtheoretikern gesehen wird.19 Sie teilt ein weiteres Merkmal mit der modernen Wissenschaft: die Suche nach dem Allgemeingültigen, die Abstraktion auf das Wesentliche, die Konstruktion von Idealformen und Prototypen. Exemplarisch wird die große Lücke zwischen den Steinzeit und der Moderne dadurch überbrückt, dass ich von der Renaissance, d.h. der Wiederaufnahme der antiken Kulturen und deren Integration in die europäische Moderne, ausgehe. Im Übergang zur Renaissance betrachte ich ein Sujet, das in der christlichen Tradition eine zunehmende Bedeutung erhielt: das Letzte Abendmahl. Es dient uns einerseits zur Verdeutlichung grundlegender Kompositionsprinzipien, andererseits zur Skizze zentraler kultureller Entwicklungen der Darstellungsgewohnheiten im visuellen Bereich. Semiotische Kernpunkte (Kap. 2) 1. Die visuelle Wahrnehmung und die visuell kontrollierte Herstellung von Zeichen des Menschen haben von Anfang an zwei Grundtendenzen: Abbildung (Suggestion von Realität) und Abstraktion (Chiffre). 2. Bei der suggestiven Abbildung von Tieren und Menschen spielen Bewegungsund Interaktionsmomente eine zentrale Rolle. Dieser dynamische Fokus der visuellen Zeichen zeigt sich auch im engen Zusammenhang von Bild/Artefakt und der Motorik von Hand und Körper der „Künstler“. 3. Abstraktionsprozesse erfolgen nach dem Prinzip, Teile stehen fürs Ganze (Synekdoche, Metonymie) oder dem Prinzip, das Abgebildete steht für etwas Ähnliches (Metapher) und haben deshalb eine indexikalische bzw. ikonische Basis. 4. Die abstrahierten Zeichen machen das visuelle Zeichen abhängig von Verstehenskontexten (mythischen, rituellen und sozialen Rahmenbedingungen) und nützen eine gesellschaftlich kontrollierte Regularität/Gesetzlichkeit. Damit werden die visuellen Zeichen der Sprache angenähert und bereiten die spätere Schrift (als visuelle Sprache) vor.
19 Hippolyte Taine hat Tintoretto zu Beginn der Moderne (1866) wieder entdeckt. Er erkennt in seiner Kunst jene Dynamik und Handlungsbezogenheit, die zu einem Charakteristikum der modernen Kunst werden sollte. Auch die Verbindung von Wissenschaft und Kunst ist für ihn charakteristisch modern (vgl. Hülk, 2012: 108ff.).
3. Komposition und Dynamik in der visuellen Kunst
Die bildende Kunst ist ein wichtiger Bereich historischer Erfahrung, der es uns erlaubt, die Entwicklung des visuellen Denkens, der Produktion visueller Objekte (Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen, Gebäude) und indirekt deren Rezeption (Wahrnehmung, Bewertung) zu erfassen. Ich werde von der Renaissance ausgehend die großen thematischen Linien der Entwicklung der visuellen Kunst verfolgen. Dies ermöglicht einerseits Rückblicke auf die Antike und das Mittelalter, andererseits bauen auch die späteren Entwicklungen auf dieser Basis, diesem Höhepunkt abendländischer Kunst auf. Die Kunst der Moderne wird im nächsten Kapitel Thema sein. Aus der Vielfalt möglicher Themen will ich exemplarisch drei herausgreifen: 1. Die Ikonografie und Ikonologie (vgl. Kap. 1.1.2) eines Jahrtausend-Motivs bei besonderer Betrachtung der Raumorganisation im Bild. Im Zentrum steht die Abendmahl-Darstellung Leonardo da Vincis. 2. Die Allegorie und Symbolik im Bild (am Beispiel von Dürer). 3. Die Grotesken und phantastischen Kompositbilder (mit Schwerpunkt auf Arcimboldo). Ein konkreter Inhalt, eine referentielle Bedeutung wie bei Sätzen und Texten kann im Bereich des Visuellen am ehesten dann erwartet werden, wenn das Bild einen Textbezug hat oder durch eine lange ikonografische Traditionslinie in seiner Aussage fixiert, kontrolliert ist. Dies ist, wie das Kapitel 1 gezeigt hat, eigentlich ein Sonderfall der visuellen Semiotik, wenn wir von der Alltagserfahrung ausgehen. In der klassischen, besonders der religiösen Kunst (d.h. der von religiösen Institutionen bezahlten und kontrollierten Kunst) ist diese Art der Botschaft und der Kunst allerdings überrepräsentiert. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Kunst der Höfe, wo das Fürstenlob und die Darstellung von Macht zentral waren. Auch die totalitären Staaten des 20. Jh. haben versucht, Kunst in dieser Weise zu instrumentalisieren
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(siehe Hitlers Kampf gegen die „entartete Kunst“ und Stalins Forcierung eines Sozialistischen Realismus). Die Befreiung von dieser Bevormundung ist ein Charakteristikum der Moderne (siehe Kap. 4). Trotz dieser thematischen Bindung bleibt ein Freiraum der künstlerischen Gestaltung und eine entsprechende Variation, die sich in der Ikonografie des Abendmahl-Themas (je nach Konfession auch Herrenmahl oder Eucharistie genannt) nachzeichnen lässt. Das rituelle Mahl selbst hat wohl eine viel ältere Geschichte; wir können davon ausgehen, dass bereits der CroMagnon-Mensch nach einem Jagderfolg und nach der Verteilung der Beute vergleichbare Riten veranstaltet hat.1
3.1 M ETAMORPHOSEN DES S UJETS „L ETZTES ABENDMAHL “ IN DER
CHRISTLICHEN
K UNST
Die symbolischen Formen (im Sinne Cassirers) konstituieren sich durch die Stabilisierung und Ritualisierung von Wahrnehmungsgestalten zuerst im individuellen Gedächtnis, dann in einer kollektiven Praxis des Zeichengebrauchs, die durchaus unbewusst bleiben kann. Ab dem Moment, wo permanente Zeichen, z.B. die paläolithischen Bilder, kollektiv wahrnehmbar werden, wird sich die Gemeinschaft ihres Symbolbesitzes bewusst. Die Zeichensysteme verfestigen sich in Mythen, oralen Traditionen oder (später) Schrifttraditionen. So entsteht auch Intertextualität, d.h. die verschiedenen Zeichensysteme treten nebeneinander auf, beeinflussen sich und verweisen aufeinander. Im Folgenden will ich an einer Serie thematisch vergleichbarer Bilder zeigen, wie sich visuelle Zeichengestalten in Abhängigkeit voneinander und von den historischen Kontexten verändern. Es stellt sich die Frage nach der Existenz von Invarianten dieser Veränderungen. Gleichzeitig werden zwei spezifische Theorieansätze exemplifiziert. Einerseits erlaubt es die Ikonografie, ein Thema (ein Motiv, ein Sujet) über einen langen Zeitraum, in unserem Fall über annähernd 2000 Jahre zu verfolgen. Ikonologische Deutungen (im Sinne von Panofsky) können zusätzlich den kulturellen Faktor bei der Realisierung des Motivs abschätzen und ihn damit von den rein perzeptuell-kognitiven Faktoren abheben. Andererseits werden in den Variationen der Darstellung Grundprinzipien der Gestaltung zweidimensionaler visueller Gestalten deutlich, insbesondere in den Lösungen der Raumproblematik, der Behandlung der Perspektive und der Verteilung der Personen im Raum (dargestellt in der Fläche).
1
Spätere Analoga sind: die Theophagie, das griechische Symposion (Trinkgelage), das Gemeinschaftsmahl im Mithras- und im Serapiskult; vgl. W. Müller (2012).
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Im Falle des Abendmahl-Themas ist der Tisch, seine Form, seine Ausrichtung, seine Position im dargestellten Zimmer eine wichtige und immer wieder veränderte Stellgröße (der Text der Bibel gibt dazu keine einschränkenden Hinweise). Die Rückwand des Raumes, die Seitenwände, die Decke, eventuelle Fenster oder weitere architektonische Merkmale ergänzen dieses Zentrum der Raumkonstruktion. Außerdem kann der Maler einen Blickwinkel (oder mehrere) wählen, tiefer oder höher stehen als die abgebildete Tischgesellschaft. In diese vorstrukturierte Räumlichkeit werden die Personen, Christus und seine Jünger, eventuell Bedienungspersonal, Engel usw. eingefügt. Deren räumliche Anordnung um den Tisch stellt eine weitere Stellgröße dar. Insgesamt ist die Darstellungsaufgabe also recht komplex und es erstaunt nicht, dass die Künstler trotz einer weitgehend gleichbleibenden Thematik, deren Umsetzung außerdem von kirchlichen Institutionen streng kontrolliert wurde, eine Vielzahl verschiedener „Lösungen“ gefunden haben. Das Gesamtkorpus der Realisierungen erlaubt es, die bevorzugten Lösungslinien herauszuarbeiten und deren Motivationen zu ergründen. Dennoch kann der Raum möglicher Gestaltungen nur grob abgeschätzt werden. Immerhin scheint er endlich zu sein und es tauchen immer wieder ähnliche Konfigurationen auf, bzw. gewisse Lösungen, wie etwa die Leonardos, werden bevorzugt und langfristig wiederholt oder nachgeahmt. 3.1.1
Die frühe Ikonografie (bis Leonardo da Vinci)
Nach der Sonntagsfeier der frühen Christen findet ein Mahl statt, das die Wohlhabenden für die Gemeinde spenden. Es ist eine Erinnerung an das letzte Abendmahl, an die wundersame Vermehrung von Brot und Fisch am See Genezareth (Tabga) und ein Symbol der Nächstenliebe (Agape). Die Gemeinde (meist werden sieben Personen dargestellt) ist die primäre Thematik.2
2
Im Alten Testament gibt es eine vergleichbare Bewirtungsszene, Jakob bewirtet die drei Engel. Dieses Motiv der Bewirtung wird im Christentum als alttestamentarisches Vorbild des Abendmahles interpretiert. Es tritt z.B. bereits in einem Mosaik in Ravenna, St. Vitale (um 525-547) auf und das Sujet wird häufig auf Ikonen der Ostkirchen dargestellt. Der Tisch ist meist trapezförmig oder dreieckig; die Disposition der Engel entspricht den Seiten des Dreiecks; vgl.: Die heilige Dreifaltigkeit, Malschule Nowgorod, Ende des 15. bis Anfang des 16. Jh., Historisches Architektur- und Kunstmuseum, Nowgorod, Russland. Es gibt natürlich auch einen Bezug zum jüdischen Sedermahl, der aber im Verlauf der Entwicklungen der christlichen Tradition in Griechenland und Rom verblasste.
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Abbildung 9: Frühchristliches Mahl (Agape) Calixtus-Katakombe, Rom, 3. Jh. n. Chr. Die Textgrundlage für das Verständnis der Abendmahl-Darstellungen (mit Verrat) ist die im Evangelium nach Mathäus (Mat. 26, 20-25) wiedergegebene: Als es aber Abend geworden war setzte er sich mit den zwölf Jüngern zu Tische. Und während sie aßen, sprach er: Wahrlich ich sage euch: Einer von euch wird mich verraten. Und sehr betrübt fingen sie einer nach dem anderen an, zu ihm zu sagen: Doch nicht ich, Herr? Er aber antwortete und sprach: Der welcher mit mir die Hand in die Schüssel getaucht hat, der wird mich verraten.
Die früheste Darstellung, die allerdings nicht die ganze Apostelschar wiedergibt, findet sich in einem Evangeliar, das im Corpus Christi College in Cambridge aufbewahrt wird und wahrscheinlich Ende des 6. Jh. in Oberitalien hergestellt wurde. Der Tisch ist in Aufsicht als Halbkreis dargestellt, zu linken Seite von Jesus steht/sitzt Judas, der mit einer Hand nach der Speise greift, in der anderen hält er bereits ein Brot; über ihn läutet die „Glocke des Verrats“. Das Evangeliar wurde 596 durch den Missionar Augustinus nach England gebracht. Die klassische Tradition des Sujets setzte erst nach 1000 ein; frühe Zeugnisse finden wir in der Buchmalerei des 12. Jh. Hier tritt der Verrat des Judas noch deutlicher ins Zentrum der Thematik. Der halbkreisförmige Tisch trennt klar zwischen Judas, der im Vordergrund die zentrale Figur ist. Er befindet sich in einem Zustand des Übergangs, d.h. es isst das Brot (das Zeichen des Verräters, das im Text der Bibel erwähnt wird) und verlässt den Raum. Das narrative Element ist sehr klar. Diese Disposition zeigt eine religiös-kulturelle Wertung an, welche die Gemeinde (die Christen) von den Verrätern (oder den Ketzern) trennt.
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Abbildung 10: Links: Evangeliar des Augustinus, Cambridge, Corpus Christi College, Codex 286, Ende des 6. Jh. und rechts, Schule von Nonantola, Miniatur auf Pergament 1140-1150. Diese Konstellation, die Jesus und Judas gegenüberstellt und die die anderen Aposteln als Hintergrund zeigt, bleibt im Wesentlichen bis Leonardo da Vinci und sogar darüber hinaus erhalten. Variiert werden die Geometrie des Tisches (rund, rechteckig, quadratisch oder andere Formen), die Verteilung der Personen im Hinblick auf den feststehenden Tisch (im Kreis oder Rechteck, die Sitzreihe zur Seite des Beobachters bleibt meistens offen), oder Anordnung der Personen in einer schmalen Fläche, gar hinter einer Linie, die sich frontal gegenüber vom Zuschauer befindet. Häufig greift Judas mit seiner rechten Hand in Richtung auf das Brot und seine linke Hand gibt bereits die Richtung seines Abgangs an. Jesus und die Apostel werden durch ihre Handlungen und die Richtung ihrer Blicke charakterisiert. Johannes schläft vor Jesus am Tisch oder er stützt sich auf den Tisch nahe an Jesus. Alle diese Elemente verweisen auf Sätze im Evangelium. In der Tradition der Ostkirche finden wir häufig einen länglichen Tisch, an dessen Ende Jesus allein sitzt. In der kapadokischen „Dunklen Kirche“ sitzen elf Jünger an der Rückseite des Tisches, darunter Judas, der die Hand ausstreckt. Jesus gegenüber sitzt ein hervorgehobener Apostel (Petrus?). Die Perspektive ist parallel, seriell und nicht optisch (vgl. Kap. 1.1.5 d). und die Jünger liegen bei Tisch (vgl. die römische Tischsitte des „accubare“). Der Fisch (kein Lamm) auf dem Tisch verweist einerseits auf die christliche Glaubenslehre, da das griechische Wort „۞ȤșȪȢ
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(ichthýs)“ ein Akronym des Ausdrucks: Jesus Christus Gottes Sohn ist, andererseits auf die wundersame Vermehrung von Brot und Fisch durch Jesus.
Abbildung 11: Byzantinisches Deckenfresko in der Dunklen Kirche, Göreme, Kapadokien (12. Jh.) Im Abendmahl des Meisters der Kapelle Dotto (ca. 1290) sitzen die Jünger um einen runden Tisch; Judas ist aber der Einzige, dessen Gesicht nicht sichtbar ist, vgl. Marani (2001a: 72). Durch die Sicht von oben können die 13 Personen einigermaßen gleichmäßig um den Tisch verteilt werden. Judas, der nach dem Brot greift, sitzt Jesus gegenüber und wird als einziger ganz von hinten, d.h. ohne Gesicht gezeigt. Eine ähnliche Konfiguration um den runden Tisch in extremer Aufsicht finden wir bei Pietro da Rimini (bis ca. 1345). Diese Perspektive erlaubt eine relativ gleichmäßige, und damit natürliche Verteilung der Personen um den Tisch; die Gesichter der im Vordergrund Sitzenden werden aber verdeckt oder verkürzt. Bei einer perspektivischen Darstellung würden starke Deformationen auftreten.3
3
Die Gesichter werden ohne (oder mit geringen) Deformationen in das Bild einfügt; Hockney (2009: 96) spricht von einer „multi-window perspective“. Mit der Vervollständigung der linearen Perspektive im Verlauf des 15. Jh. müssen Personen im Vordergrund größer dargestellt werden, was zu einem Konflikt mit der Zentralität des meist im tieferen Feld sitzenden Jesus führt.
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Abbildung 12: Pietro da Rimini, Anfang des 14. Jh., Bibliothek des Vatikans, Rom Eine andere Disposition, wahrscheinlich byzantinischen Ursprungs, wurde von Ugolino di Nerio ausgewählt: Jesus sitzt links am Ende der Tafel. Fünf Apostel sitzen mit dem Rücken zum Betrachter, zeigen aber ihr Gesicht im Profil. Die vordere Sitzbank ist etwas nach rechts verrückt, so dass zwischen Jesus und Judas, der nach der Speise greift, eine Lücke entsteht. Dürer wird in einer seiner Zeichnungen zum gleichen Thema auf diese Anordnung zurückgreifen.
Abbildung 13: Ugolino di Nerio (nachgewiesen zwischen 1317 und 1327); Metropolitan Museum, New York (Marani, 2001a: 81). Mit dem Bild von Pseudo-Jacobino di Francesco (nachgewiesen in Bologna von 1360 bis 1385), datiert um 1330, Brooklyn Museum of Art, New York (Marani, 2011a: 83) kommen wir bereits zur später dominierenden Anordnung, die frontal dem Zuschauer zugewandt ist. Lediglich Judas, der jetzt eindeutig aus der Apostel-
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schar herausfällt, ist nicht in dieser Linie platziert. Es bleibt noch eine leichte Aufsicht auf den rechteckigen Tisch erhalten. Die Apostel sind in zwei Fünfergruppen „verpackt“; Johannes (vor Jesus am Tisch sitzend) und Judas bilden dabei eine inszenierte Opposition (von Gut und Böse).
Abbildung 14: Pseudo-Jacobino di Francesco (nachgewiesen in Bologna von 1360 bis 1385), datiert um 1330, Brooklyn Museum of Art, New York (Marani, 2011a: 83) Mit der Frührenaissance wird die architektonische Einbettung der Abendmahlszene deutlicher, die Jünger sitzen mit Jesus an der einen Seite des Tisches, der bei Andrea del Castagno (1418-1475) nicht mehr von oben gezeigt wird. Das Auge des Betrachters befindet sich in gleicher Höhe wie die Tischkante, was eine Art von Podest voraussetzt, auf dem die Jünger sitzen. Judas rückt in die Mitte des rechteckigen Tisches, die Apostel sitzen in Linie. Diese Konstellation hat zur Folge, dass Judas teilweise die Gestalt von Jesus und Petrus verdeckt. Es kommt hinzu, dass dadurch dass Judas im Vordergrund sitzt, seine Bildfläche größer ist als die der Jünger und auch die von Jesus. Dieses Problem bleibt auch beim Abendmahl Ghirlandaios im Refektorium des Klosters Ognissanti, Florenz, 1480 erhalten, obwohl jetzt Judas nach rechts gerückt ist und er Jesus mit Johannes den Platz im Zentrum überlässt. Es entsteht aber ein anderes Problem, das in der Version, die Ghirlandaio für das Kloster San Marco in Florenz (1489-90) gemalt hat, noch deutlicher zu Tage tritt. Da Judas jetzt perspektivisch korrekt eine wesentlich größere Fläche einnimmt und nicht durch den Tisch verdeckt wird, wird er zur visuell dominanten Figur, was wahrscheinlich nicht erwünscht war. In einer früheren Version des Abendmahls (1476) von Ghirlandaio (Abtei Badia a Passignano, Toskana) sind alle Personen in eine Linie gerückt. Diese Lösung kommt am ehesten an Leonardos spätere Lösung heran, allerdings sind alle Personen sehr gleichmäßig in die Reihe gestellt. Es feh-
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len die Blicke und Gesten, welche die Abendmahlversion von Andrea di Castagno auszeichnen. Das Abendmahl von Leonardo da Vinci knüpft zuerst an diese Tradition an, die von einigen Renaissance-Malern variiert worden war. Dies zeigt sich an Skizzen, die er bei der Planung seiner eigenen Abendmahldarstellung angelegt hat. Wir sehen links eine Anordnung wie bei Andrea di Castagno und Ghirlandaio; Judas sitzt rechts von der Mitte und beugt sich über den Tisch in Richtung von Jesus. Im Detail rechts steht er gebeugt vor dem Tisch. Beide Konstellationen wurden verworfen, was nachvollziehbar ist, wenn man sie mit der schließlich gewählten Lösung Leonardos vergleicht. Immerhin ist schon erkennbar, dass Leonardo mehr Bewegung ins Bild bringen will und dass die Gestik der Personen an Bedeutung gewinnt.
Abbildung 15: Entwurfsskizze Leonardos zum Abendmahl um 1495 (Ausschnitt: Windsor Castle, Royal Library) Im folgenden Abschnitt werde ich das zentrale Gemälde Leonardos, sein Mailänder Fresko mit dem Thema des Letzten Abendmahles semiotisch analysieren und dabei auch auf Leonardos Kunsttheorie zurückgreifen. Anschließend werde ich die Weiterentwicklung der Thematik bis ins 20. Jh. verfolgen. 3.1.2
Die Dynamik von Körper und Seele in Leonardos Kunsttheorie
Der menschliche Körper und alle Tätigkeiten und Handlungen des Menschen stehen nicht nur im Zentrum unserer alltäglichen Aufmerksamkeit, unseres Sprechens über den Menschen und die Welt; der Körper ist auch selbst „sprechend“. Wir verstehen einen Säugling, ein Tier, d.h. Wesen, die sich nicht der menschlichen Sprache bedienen, anhand des körperlichen Ausdrucks, der Körperbewegungen. Auch erwachsene Personen, die sich außerhalb der Hörweite befinden oder die sich wegen großen Lärms nicht sprachlich ausdrücken können, werden anhand ihrer Bewe-
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gungsmodi identifiziert, teilweise werden auch ihre Intentionen erkannt. Ähnliches gilt für Gruppen, Ansammlungen von Personen, die ihren Zustand, ihre Tendenz (unbewusst) durch kollektive Bewegung, Erregung, Starrheit usw. den Beteiligten und den Zuschauern mitteilen. Die Körperbewegung ist somit ein fundamentaler Ausdrucks- und Mitteilungsmodus von Mensch und Tier.4 Der menschliche Körper ist als Ausdrucks- und Zeichenträger ein gegliedertes Ganzes. Die Gesamtbewegung mit den Gliedern und dem Kopf ist im Tanz das „Blatt“, auf dem die Botschaft geschrieben wird; besonders ausdrucksstark sind aber Hände und Gesicht, und im Gesicht sind die Mund- und Augenpartien am beweglichsten. Die Augen als Tor zur Seele spielen dabei eine besondere Rolle. Ihnen werden, ebenso wie den Händen, magische, heilende oder unheilbringende Wirkungen zugeschrieben. In der Evolution des Zeichenverhaltens sind die Hände zum Organisationszentrum des instrumentellen Handels geworden, von der zarten Berührung des Säuglings über die Werkzeugherstellung bis zur Gewalt der Waffe. Das Gesicht wurde zum Kommunikationszentrum mit der menschlichen Sprache als Zentrum. Das Auge ist für beide Systeme, das Handeln (Hand) und die Verständigung (Mund), eine Art Monitor. Es erfasst mit dem Blick, bevor die Hände zufassen, es verbindet mit den um Aufmerksamkeit heischenden Augen, bevor das gesprochene Wort die Verständigung eröffnet.5 Die visuelle Semiotik, die sich in erster Linie mit sichtbaren, räumlichen Strukturen beschäftigt, ist durch die Absenz des Wortes geprägt, obwohl es natürlich immer Zwischenformen gab, so das Theater, das illustrierte Buch, die Comics, dann den Tonfilm usw. Entfernt man aus dem komplexen Zeichenverhalten das gesprochene oder geschriebene Wort, so bleiben Körpersprache, Gestik, Mimik übrig und müssen das zu Kommunizierende alleine tragen. Der Verlust eröffnet gleichzeitig verdeckte, verschüttete semiotische Potentiale für Hand und Auge. Dies kann man bei Taubstummen oder im Alltag in Umgebungen des Lärms beobachten; auch
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In einem weiteren Sinn teilen sich uns auch unbelebte Dinge durch ihren Bewegungsmodus mit, wenn sie real oder scheinbar den Bewegungsimpuls eines Belebten vermitteln, z.B. Fahrzeuge oder Objekte in einer Instabilitätslage. Prinzipiell kann jede Bewegung als Ausdruck einer Person und dessen Intentionen, Motivationen, Gemütszuständen interpretiert werden, was in magischen und religiösen Kontexten auch geschieht (vgl. auch die Rolle des primus movens in der Astronomie des Aristoteles).
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Vgl. zum Thema „Hand und Auge“ auch Wildgen (1999b), wo das Wortfeld von „Hand“ und „Auge“ in verschiedenen Sprachen verglichen und mit kognitionswissenschaftlichen Ansätzen interpretiert wird.
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manche Schweigekulturen oder Konventionen des (partiellen) Sprachtabus bzw. des Lakonismus nützen die Chance einer Reduzierung der „Geschwätzigkeit“ zur Erschließung verdeckter Kommunikationspotentiale. Für den bildenden Künstler kommt ein weiteres Problem hinzu. Er kommuniziert nicht mit dem eigenen Körper,6 sondern mit den dargestellten Körpern in seinen Bildern, oder mit dem Körper einer Skulptur. Diese Körper sind nicht nur unbewegt, im Falle des Bildes sind sie außerdem in eine zwei-dimensionale Fläche „eingesperrt“, die sich nicht in Abhängigkeit von der Bewegung des Betrachters verändern kann. Eventuell sind vorgesehene Betrachterbeziehungen (Distanz, Höhe) und natürliche Lichtverhältnisse am Betrachter-Ort auch gegenüber dem vom Künstler geplanten Aufstellungs-Ort verändert. Für Leonardo ist die Malerei Kunst und Wissenschaft zugleich, sie ist im Wettstreit der Künste den „kleinen Schwestern“ Poesie und Musik überlegen, da sie eine größere Nähe zur sinnlichen (visuellen) Erfassung der Welt hat, insbesondere, da sie nicht erst über das Medium der Sprache vermittelt werden muss wie die Poesie. Implizit geht Leonardo, wie später Cassirer (ab 1920) in seiner „Philosophie symbolischer Formen“ von einem erkenntnistheoretischen Ganzen aus, das Malerei, Wissenschaft, Poesie und Musik (Technik) umgreift. Die vornehmlichste Aufgabe der Malerei ist die Darstellung des Menschen und seines Geistes: Der Maler muss vornehmlich zwei Dinge darstellen, den Menschen und den Inhalt seines Geistes; das Erste ist leicht, das Zweite schwierig, weil dieses durch die Gesten und Bewe7
gungen seiner Gliedmaßen darstellt werden muss. (Übersetzung W.W.)
Die Seele des Menschen kann am besten durch die Bewegungen seines Körpers, durch dessen Handlungen, dargestellt werden. Die Grundregeln fasst Leonardo im Codex Trivulziano, 65 a (vgl. MacCurdy, 1977, 1: 65) zusammen: Jede Handlung findet notwendigerweise ihren Ausdruck in der Bewegung. Wissen und Wollen sind zwei Operationen des menschlichen Geistes. Unterscheiden, Urteilen, Nachdenken sind Handlungen des menschlichen Geistes. (Übersetzung aus dem Englischen: W. W.)
Die Bewegung ist also der primäre Ausdruck des menschlichen Geistes. Jeder Bewegung liegt eine Kraft zu Grunde; diese bestimmt Leonardo im MS A, 34v; (vgl. MacCurdy, 1977, 1: 493):
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Der eigene Körper spielt allerdings in der Aktionskunst eine wichtige Rolle; siehe dazu die Abschnitte zu Pollock und Beuys in Kap. 4.4 und 5.4.
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„Il bono pittore ha a dipingere due cose principali, cioè l'omo e il concetto della mente sua. Il primo è facile, il secondo difficile, perché s'ha a figurare con gesti e movimenti della membra; ...” (Pedretti, 1995: §180 [S. 219])
76 | VISUELLE KUNST Die Kraft definiere ich als eine unkörperliche Tatkraft, eine unsichtbare Macht, welche bedingt durch unvorhergesehenen äußeren Druck durch die gespeicherte und verteilte Bewegung des Körpers verursacht wird, das von seinem natürlichen Verhalten abgehalten bzw. davon abgelenkt wird. (Übersetzung aus dem Englischen: W. W.)
Der Körper befindet sich also in einer natürlichen Balance. Wird er aus dem Gleichgewicht, in Bewegung gebracht, manifestieren sich die verborgenen seelischen Kräfte. Für den Maler folgt daraus, dass er die dargestellten Körper in Bewegung bzw. in eine diese und die Gegenbewegung andeutende Instabilität versetzen muss, um die verborgenen seelischen Kräfte sichtbar zu machen. Da der Maler seine Figuren nicht mit Lautsprache ausstatten kann, befindet er sich in einer dem Taubstummen vergleichbaren Situation; er muss das Gemeinte in Gesten, Körperhaltungen zum Ausdruck bringen. §180 [nach dem Zitat oben] „... und dies kann man von den Stummen lernen, die es besser vermögen als alle anderen Menschen.
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Da der Betrachter, etwa des „Letzten Abendmahls“, natürlich weiß, dass Jesus und die zwölf Apostel nicht taubstumm waren, stehen die Gesten und Blicke für die abwesenden Worte. Diese können zumindest von den Bibelkundigen (z.B. den Klerikern im Refektorium von St. Maria delle Grazie in Mailand) aus dem Gedächtnis ergänzt, den Figuren in den Mund gelegt werden, so dass dem Betrachter schließlich vermittelt durch das Bild der narrative Gehalt diese Episode der Passion Christi wie in einem Passionsspiel vor Augen geführt wird (vgl. Wildgen, 2005). 3.1.3
Konfiguration und Dynamik in Leonardos Mailänder „Abendmahl“
Das Wandgemälde schließt eine der Schmalseiten des Refektoriums in St. Maria delle Grazie in Mailand ab. An der dem Gemälde Leonardos gegenüberliegenden Seite befindet sich eine Darstellung der Kreuzigung Christi von Montorfano (1495), die vor dem „Abendmahl“ (1494–1497) fertig gestellt wurde. Leonardo hat alle 13 Personen in eine fast lineare Anordnung an den die ganze Breite des Gemäldes (und des Saales) füllenden Tisch gesetzt/gestellt. Dabei sind neben dem isolierten, die zentrale Pyramide bildenden Christus vier Dreiergruppen mit jeweils einer stabilen Kernfigur und zwei stärker bewegten Figuren angeord-
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„§180 [Zitat oben]; e questo è da essere imparato dalli muti, che meglio li fanno che alcun' altra sorte de omini.” (Pedretti, 1995: 219)
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net.9 Insgesamt sind die Figuren im Verhältnis zu einer natürlichen Sitzordnung sehr groß und damit zusammengedrängt, wodurch der Flächenanteil, der auf die Körper, insbesondere auf die ausdrucksstarken Gesichter und Hände, entfällt, im zentralen Band des Bildes sehr hoch ist.
Abbildung 16: Die renovierte Bildfläche des „Abendmahls“ (Mailand, Santa Maria delle Grazie, Refektorium). Die Raumdisposition in Leonardos Abendmahl ist eigenartig. Der große Raum, in dem Jesus und seine Jünger sitzen, ist fast leer (insbesondere in der Tiefe), die Jünger drängen sich alle an der hinteren Seite des Tisches mit Blick zum Betrachter (zum Refektorium, wo die Mönche essen). Sie stehen oder sitzen so eng, dass es kaum vorstellbar ist, wie sie essen können, wenn sie sich hinsetzen. Das Ganze sieht inszeniert aus und, wenn wir die Perspektive nachrechnen, müssten sich die Augen der Betrachter auf 2,20 m Höhe befinden. Die Darstellung ist aber genau durchkalkuliert; insbesondere wird die Fläche, in die das Bild gemalt wurde, semiotisch optimal genützt. Wenn wir die Prinzipien der Flächenkräfte (vgl. Kap. 1.1.5 d), die Fernande Saint-Martin erläutert hat, anwenden, sehen wir, dass es nicht der dreidimensionale Raum ist, der die Struktur bestimmt, sondern in erster Linie die verfügbare Bildfläche. Die Kraftlinien dieser Fläche legen das orientierende Raster fest, in welches dann die vom Sujet ausgehenden Gestaltungskräfte eingefügt werden. Abbildung 17 zeigt die genannten Kräfte in das Bild Leonardos projiziert:
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Zur Geometrie und Arithmetik der Figurenkomposition bei Leonardo vgl. Wildgen, 2010b (Englisch).
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Abbildung 17: Die Diagonalen des Rechtecks, das Kreuz der horizontalen und vertikalen Kräfte und eine gedachte Spirale, welches vom Zentrum zur Peripherie führt. Das Bild ist in jedem der betrachteten Kräftefelder zentriert, denn das Ohr Jesus, der auf die Reaktionen seiner Jünger wartet, ist Ausgangs- und Endpunkt der Kraftlinien, die Mittellinie teilt Himmel und Erde in den Fenstern im Hintergrund und die Diagonalen sind mit den Fluchtlinien des Raumes, die an den Raumkanten klar sichtbar werden, identisch. Die Schnittpunkte der Spirale markieren die Schwerpunkte der vier Gruppen von Aposteln. Dies bedeutet, dass die lineare Anordnung nicht einem einfachen arithmetischen Prinzip folgt. Spiralen und Schrauben begegnen uns häufiger in Leonardos Werken und sie kommen seit den Griechen (siehe die ionischen Kapitelle) immer wieder vor; in der Moderne etwa bei van Gogh, Klee und Hundertwasser. Klassisch ist die archimedische Spirale und die logarithmische oder kartesische.10 Weitere geometrische Auffälligkeiten sind: Christus bildet ein positives Dreieck mit der Spitze nach oben, während der sich zu Petrus zurücklehnende Johannes ein negatives Dreieck offen lässt, das den Blick durch das linke Fenster freigibt. Diese Konstellation im Zentrum wird in einer Detailaufnahme genauer sichtbar.
10 Vgl. Rucker (1987: 150). In Leonardos Bild scheint eine logarithmische Spirale vorzuliegen, da sich die Abstände nach außen vergrößern; die logarithmische Spirale wurde 1525 von Dürer in seiner Unterweysung der messung als ewige lini bezeichnet (vgl. Leonhard, 2007: 138).
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Abbildung 18: Die zentrale Figur von Jesus (vgl. Barcilon und Marani, 2001: 156). Diese vom Rahmen ausgehende, den Raum organisierende Konfiguration wird überlagert durch eine Dynamik der Gesten und der (im Bild nicht darstellbaren) Sprechakte. Die Gesten der dargestellten Figuren fallen in unterschiedliche Bewegungs- und Handlungskategorien: 1. Gesten, die objektbezogen und vom Typ des Greifens sind: Judas greift mit der linken Hand nach dem Brot, mit der rechten Hand hält er seine Börse umklammert. Petrus hält in einer eigenartigen Gegenbewegung zu der seines Oberkörpers ein Messer in der rechten Hand, dessen Schaft in den Rücken von Judas weist. Jesus öffnet die rechte Hand zum Greifen, wodurch eine Parallelität zu Judas entsteht, der ihm aber zuvorkommt. 2. Gesten, die berührend sind und einen persönlichen Bezug herstellen: Zur Rechten von Jesus berührt Petrus Johannes an der Schulter, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Jakob der Jüngere, weiter rechts von Jesus, versucht, mit einer Berührung die Aufmerksamkeit von Petrus zu erhalten und berührt gleichzeitig den dazwischen sitzenden Andreas. Philipp berührt sich selbst, seine Brust, als Hinweis auf seine Unschuld. 3. Gesten, die hinweisend (aber nicht berührend) sind: Thomas (im Bild rechts von Jesus) weist mit dem Zeigefinger nach oben (Mahnung, Einwand). Matthäus, Thaddäus und Simon weisen in Richtung auf Jesus (weisen auf dessen Aussage hin). 4. Gesten des Erschreckens, der Aufregung, Betroffenheit. Die Hände insgesamt bilden Phasen einer Schwingung, wobei die Hände von Jesus auf dem Tisch den Ruhepunkt darstellen, allerdings mit zwei inhaltlich verschiede-
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nen Momenten, der Andeutung des Greifens (rechts) und des Gebens (links). Die Kurve steigt an: (links) von Jesus zu dem erhobenen Zeigefinger von Thomas; (rechts) zu der Schulterberührung von Johannes durch Petrus. An den Tischenden stehen sich die aufstützenden Hände des sich vom Platz erhebenden Bartholomäus und die parallel und horizontal weisenden Hände Simons gegenüber. Die Figur des Judas fällt aus dieser Kurve (der Erregung) heraus. Er hat Hände und Ellbogen auf dem Tisch, ist also an der erregten Gestik unbeteiligt (er bleibt in seinen Handlungen isoliert).11 Die Hände haben hier nicht nur einen Bezug auf das im Bibeltext Geschilderte: die Aussage von Jesus, das Erschrecken der Jünger, ihr Fragen, die verräterische Geste von Judas; all dies verweist auch auf spätere Handlungen der Apostel: • • • •
Petrus greift zum Schwert bei der Festnahme von Jesus (Hinweis: das Messer). Thomas zweifelt am auferstandenen Jesus (Hinweis: der erhobene Zeigefinger). Judas erhält 30 Silberlinge für seinen Verrat (Hinweis: er umklammert die Börse). Die gebende Geste von Jesus kann bereits die nächste Szene, die Instauration der Eucharistie „Dies ist mein Leib ...“ andeuten.
Die Hände sind somit mehr als eine Art Taubstummensprache, die das fehlende Wort ersetzt; sie verweisen auf Zukünftiges und stellen somit das dargestellte Ereignis in einen größeren Kontext. 3.1.4
Ikonografie des Abendmahl-Sujets nach Leonardo
In einem Stich nach einem verschollenen Gemälde von Raffael (etwa 1515), erinnern zwar die Konstellation der Jünger und ihre Gruppierung an die Anordnung der Apostel bei Leonardo, aber Judas (er greift zum Brot) ist an den rechten Rand des Bildes gerückt und damit aus der Mitte der Apostel entfernt. Petrus sitzt zur Rechten von Christus und Johannes links von Jesus. Die Konstellation ist deutlich konformer mit der theologischen Interpretation, als dies bei Leonardo der Fall ist.
11 Ein weiterer ruhender Pol ist Johannes; er ist auch der einzige Jünger, der sich später unter dem Kreuz befindet (siehe die gegenüberliegende Kreuzigungsszene im Refektorium). Er steht zu Jesus und ist damit der Gegenpol von Judas. Für einige der Hände (Johannes, Bartholomäus, Thomas) gibt es übrigens Studien Leonardos, ebenso für den stark abgewinkelten Arm von Petrus, der im fertigen Bild das nach links zeigende Messer hält (vgl. Marani, 2001b: 17 ff.).
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Bewegungen, Gesten und Blicke sind im Abendmahl von Jacobo Bassano, der zu den klassischen Anordnungen zurückkehrt, stark übertrieben. Johannes befindet sich nahe bei Jesus, Judas sitzt (wie bei Raphael) auf der anderen Seite des Tisches. Dieser scheint mit einem Mitapostel auf der linken Seite des Tisches zu reden, was zu einer neuen Konstellation im Vordergrund führt, während Christus und Johannes das ruhige Zentrum in dieser handlungsreichen Gruppe bilden. In Bezug auf die narrativen Strukturen erreicht dieses Abendmahl einen gewissen Höhepunkt mit der Vielzahl von gleichzeitigen Handlungen, die entlang vieler Zeige- und Blickrichtungen organisiert werden.
Abbildung 19: Jacopo Bassano (ca. 1520–1592) ; Abendmahl (um 1542), Galeria Borghese, Rom. Die Konfiguration fällt etwas aus dem Rahmen der Tradition; dem ruhig in Richtung des Betrachters blickenden Jesus und dem träumenden /schlafenden Johannes stehen die übrigen wild gestikulierenden (diskutierenden) Apostel gegenüber. Die arithmetische Konfiguration ist kompliziert. Am auffälligsten sind die Zweiergruppen: Jesus und Johannes (hinten) und Judas und sein Gesprächspartner (vorne rechts und links) sowie die beiden Apostel links und rechts (Petrus) von Jesus. Sie bilden zusammen eine flache Pyramide (3 x 2= 6 Personen). Die übrigen Personen sind über die etwas chaotisch bewegten Restgruppen (links drei, rechts vier; einer fast verdeckt) verteilt. Die Dynamik ist am ehesten mit der in den Abendmahlbildern Tintorettos vergleichbar und tatsächlich arbeitete Bassano ab 1533 in Venedig, als Tintoretto bereits Schüler Tizians war. In gewisser Weise kehrt Bassano zur primären Bedeutung des Banketts zurück und reduziert das Sakrale auf die Figur des Christus. Die Jünger sind weniger als Heilige, denn als die Fischer, die sie ur-
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sprünglich waren, dargestellt. Judas wirkt gegenüber seinen Gesprächspartnern ebenbürtig. Von 1545 bis 1563 entwickelte das Konzil von Trient das Programm einer Gegen-Reformation. Papst Paul IV. (1555-1559) führte die allgemeine Inquisition nach dem Vorbild der spanischen Inquisition ein. Das Letzte Abendmahl aus dem Jahre 1573 von Paolo Veronese (1528-1588), das im Stil eines Banketts in einem venezianischen Palast gemalt ist, war Gegenstand einer Anhörung vor der venezianischen Inquisition. Veronese veränderte daraufhin einfach den Titel, indem er ein anderes biblisches Bankett als Bezug wählte, ein Mahl Jesu im Hause des Levi. Im Prinzip bleibt in seinem Gemälde die horizontal-lineare Anordnung der Figuren von Jesus und seinen Aposteln erhalten, allerdings wird die Bühne unter Hinzufügung weiterer Charaktere und ihrer Aktivitäten großzügig erweitert. Die Kerngruppe von Jesus, Petrus und Johannes ist in der zentralen Öffnung des Festsaales zu sehen, aber ihr Tun geht in der Vielfalt der Akteure, die das Gemälde füllen, verloren. In der manieristischen Darstellungsform, die bereits von Bassano exemplifiziert wurde, zeigt Veronese einen Ausschnitt der venezianischen Gesellschaft, wobei die rituelle und liturgische Bedeutung des Sujets zur Nebensache wird (die venezianische Behörde hatte auch das Auftreten von Nebenfiguren, wie Zwergen und Landsknechten, beanstandet). Jacopo Robusti, genannt Tintoretto (auch in Venedig tätig) malte das Motiv des Abendmahls für kirchliche und private Auftragsgeber in ca. 10 Versionen. Das Abendmahl von 1543 zeigt die Gruppe der Apostel in der Anordnung fünf plus zwei plus fünf um einen rechteckigen Tisch sitzend und parallel zum Rahmen des Gemäldes. Judas wendet sich mit dem Rücken zum Betrachter, man erkennt ihn am Beutel. Es gibt viel Bewegung, die aber nicht direkt im Zusammenhang mit der Erzählung (im Evangelium) steht. Das Abendmahl von 1566 steigert die Bewegung durch die Wahl einer nicht-frontalen Ansicht. Ein Stuhl ist umgekippt und einige Akteure scheinen umzufallen. Das Abendmahl für die Schule von San Rocco (1579-1581) hat den Tisch schräg platziert; Judas hat bereits den Raum verlassen; Jesus sitzt am hinteren Ende der Tafel und wird nur durch seine helle Aura herausgehoben. Im Vordergrund und im Hintergrund spielen sich Szenen ab, die mit dem rituellen Geschehen des Abendmahls keine direkte Beziehung haben. Die Zunahme der Dramatik ist noch ausgeprägter im Abendmahl von San Giorgio Maggiore (1592-94). Judas sitzt hier auf der anderen Tischseite, wie vor Leonardos Darstellung des Sujets. Nebentätigkeiten, wie Dienstmädchen, die die Gerichte auftischen, dominieren die rechte Hälfte des Bildes (vgl. Kap. 4.1.1). Aus der Sicht der Narrativität, stellt Tintoretto, wie bereits Veronese und Bassano ein Bankett mit einer großen Anzahl von parallelen Aktivitäten dar. Die einzelnen Versionen thematisieren außerdem verschiedene Phasen des Geschehens, sozusagen einzelne Sätze oder Satzsequenzen der biblischen Erzählung. Wenn Leonardo die Heiligenscheine eliminiert hat, so erhellt Tintoretto den gesamten Raum mit dem Heili-
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genschein Christi, seiner Apostel (ohne Judas) und mit dem Licht der Engel. Auf den Aspekt Licht und Beleuchtung komme ich in Kap. 4.1.1 zurück. 3.1.5
Die Abendmahldarstellungen Dürers (Einfluss der Reformation)
Dürer stellte Drucke und Zeichnungen zum Thema des Abendmahls im Jahre 1510 und 1523 her, also vor und nach der lutherischen Reformation im Jahre 1515. Das erste Bild zum Abendmahl von 1510 zeigt die Jünger, Jesus und einen Diener, der die Gläser füllt, um einen rechteckigen Tisch sitzend. Judas sitzt alleine am Tisch, greift nach seinem Beutel und schiebt seine Hand in Richtung Jesus (die Öffnung seiner Hand zeigt, dass er etwas greifen will). Die Anordnung ist konventionell, obwohl die lebhaften Gesten und Blicke an Leonardos Abendmahl denken lassen. Eine Zeichnung aus dem Jahre 1523 (Das Abendmahl Christi; 1523; Tuschfederzeichnung; Wien, Graphische Sammlung Albertina) kehrt zurück zur byzantinischen Version des Musters. Jesus sitzt am linken Ende des Tisches, Judas ist wieder isoliert. Die Atmosphäre und das Dekor haben sich geändert: Die Atmosphäre ist familiär und einfach, d.h. fast das Gegenteil dessen, was in der venezianischen Kunst während des sechzehnten Jahrhunderts entwickelt wurde. Der Tisch ist fast leer: der Kelch, das gebrochene Brot und ein Becher, das ist alles. Die Botschaft und die Bewertung haben sich geändert. Dies ist nicht mehr ein Bankett von Aristokraten und die Einrichtung des Raums ist betont schlicht. Der Holzschnitt von 1523 setzt diese nüchterne Atmosphäre fort. Der schwere Tisch trägt nur den Kelch. In dieser Version hat Judas bereits den Raum verlassen, Jesus kündigt den Aposteln seine Passion an und bittet sie, dieses Geschehen in ihrem Gedächtnis zu behalten. Die Interpretation der Abendmahl-Liturgie als einem Akt der Erinnerung entspricht der theologischen Position von Luther in seinen Formulae Missae, 1523. Der Weggang des Judas reduziert die Personengruppe, deren arithmetische Konfiguration eher ungewöhnlich ist.12 Die zentrale Vierergruppe unter dem runden Fenster wird begleitet von zwei getrennt agierenden Gruppen: zur Linken fünf Jünger, von denen drei an die Wand gedrängt stehen, und eine Dreiergruppe rechts. Der Kelch auf dem Tisch trennt die Fünfer- und die zentrale Vierer-
12 Das Fehlen von Judas wird von Panofsky (1977: 297) als Verweis auf das JohannesEvangelium, das Luther besonders schätzte, interpretiert. Dort wird explizit der Weggang von Judas erwähnt. Auffällig ist auch das Fehlen des Lammes auf dem Tisch, das Dürer in seinem Abendmahl-Druck von 1509, im Rahmen der Kleinen Passion, und 1510 im Rahmen der Großen Passion noch wiedergibt. Das Lamm steht für das Opfer; die Deutung der Messe als Opfer wurde von Luther abgelehnt.
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gruppe, der Brotkorb steht im Vordergrund rechts. Von der ausgeglichenen Harmonie in der Version des Leonardo ist nichts übrig geblieben. Während bei Leonardo der Raum hinter dem Tisch ungewöhnlich weit ist, scheinen bei Dürer die Personen in den engen, massiven und kahlen Raum hineingequetscht zu sein. Als Fluchtpunkt dient der Kopf von Johannes (oder die Brust Christi, vor der er schläft).
Abbildung 20 : Albrecht Dürer, Holzschnitt, 1523, Veste Coburg Im Vergleich zu dem früheren Holzschnitt von 1509 im Rahmen der Kleinen Passion, wo der Tisch rund ist, und auch innerhalb der Großen Passion (1510) ist die Anordnung stärker linear, die Zentralperspektive ist starrer und die Bewegungen der Personen wirken „ausdruckvoll mechanisiert“ wie Panofsky (1977: 271) schreibt. Die Gruppierung und die Bewegungen der Apostel lassen immerhin an Leonardo denken, obwohl Dürer bestenfalls Nachbildungen oder Stiche nach Leonardo gesehen hat. 3.1.6
Das Abendmahl-Thema in der Skulptur
Die Raumgestaltung in der Skulptur und die Erweiterung des bildnerischen Gestaltungsrahmens gegenüber dem (flachen) Bild werden in Kap. 5.2 genauer erläutert. Ich will im Folgenden lediglich untersuchen, wie die Abendmahl-Thematik in der Skulptur behandelt wurde. Seit den romanischen Kapitellen, z.B. in St. Austremoine in Issoire (zwischen 1133 und 1166, Frankreich) gibt es Darstellungen des Abendmahls als Relief und auch manche gotische Kathedrale zeigt die Abendmahlsszene als Skulpturenfries an der Außenfassade (so etwa in St. Denis, Paris und in Palma de Mallorca, das spätgotische Südportal „Porta del Mirador“). Während die Realisierung des Themas am Kapitell besondere Verzerrungen und Biegungen notwendig macht und der Raum stark begrenzt ist, weicht das spätgotische
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Abendmahl in Palma in der Raumgliederung kaum von gemalten Abendmahlszenen ab, das zweidimensionale Bild wird lediglich im Raum realisiert.13 Eine elegante Lösung des Problems der Verdeckung hat Tilman Riemenschneider (um 1460 - 1531) gefunden. Seine Darstellung des Abendmahls auf einem Altarretabel der Stadtkirche in Rothenburg ob der Tauber (1505 fertig gestellt) drängt die Figuren auf engem Raum zusammen, wobei die große Figur des Judas im Vordergrund die des schlafenden Johannes verdeckt. Die Figur des Judas lässt sich aber herausnehmen (er ist gegangen), so dass die Figur des Johannes voll sichtbar wird.
Abbildung 21: Tilman Riemenschneider, Altarretabel der Stadtkirche St. Jakob in Rothenburg ob der Tauber Das 1499 von Veit Stoss (1447-1533) geschaffene Steinrelief (Epitaph der Familie Volckamer in St. Sebald, Nürnberg) zeigt eine Abendmahldarstellung in quadra-
13 Besondere räumliche Bedingungen herrschen auch vor, wenn die Szene in die Fläche eines Kreuzgewölbes eingefügt wird. Das „Königspantheon“ in der Kathedrale San Isidoro von Leon stellt das Abendmahl in einem von neun gewölbten Deckenfeldern dar. Hinter der Tischfläche in leichter Aufsicht sehen wir im Zentrum Jesus mit Johannes auf beiden Seiten von vier Jüngern begleitet (4 + 2 + 4). Die restlichen drei Personen sitzen an der Frontseite des Tisches. Judas in der Mitte erhält das Brot von dem ihm gegenüber sitzenden Jesus (12. Jh., vgl. Tafel 10 in González, 1995). Die Kalkmalerei der dänischen Dorfkirche in Mørkøv (ca. 1450) biegt den Tisch zum Kreissegment und setzt Judas allein vor den Tisch gegenüber von Jesus (Saxtorph, 1986: 99).
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tischer Form, bei der Jesus mit Johannes am Schoß und dem ihm ins Ohr flüsternden Petrus ganz links postiert ist. Vom wahrscheinlich quadratischen Tisch ist nur die Schale mit dem Lamm und ein Brotfladen zu sehen. Diagonal rechts oben im Bild verlässt Judas (mit dem Beutel) gerade die versammelte Schar. Dies verweist auf die rechte Bildtafel des Dreierzyklus, wo Jesus verraten und festgenommen wird. Die geometrische Disposition der elf (sic) Jünger beruht auf einer Reihe von sechs Jüngern am oberen Rand, die mit dem Geschehen anscheinend wenig zu tun hat, und einem Halbrund von 6 (5 +Jesus) Personen am Tisch. Veit Stoss betont im Gegensatz zur Tradition die Individualität der dargestellten Personen und hebt die Kerngruppe Jesus (der aus dem Bild hinaus blickt) mit Johannes und Petrus hervor. Insgesamt unterliegen bildhauerische Darstellungen, selbst wenn sie wie die Reliefs von Veit Stoss und das Retabel von Tilman Riemenschneider ziemlich flach sind, anderen Ordnungsbedingungen. Eine volle Dreidimensionalität und Beweglichkeit erreichen die lebensgroßen Figurengruppen der Passion, die in der Semana Santa in Spanien und Lateinamerika von Trägermannschaften durch die Straßen geführt werden. Die festen Figurengruppen, die man außerhalb der Karwochen in der Kirche oder in Nebenräumen besichtigen kann, werden zur Karwoche mit frischen Blumen, Früchten und Lebensmitteln ausgestattet. Im Gegensatz zu einem Relief oder Figuren in einem Fries erlauben sie ein Herumgeben des Zuschauers, bzw. sie werden an den Zuschauern vorbeigetragen, so dass sich für diese quasi ein Film der verschiedenen Ansichten ergibt. 3.1.7
Deformation und Satire zum Sujet „Das Letzte Abendmahl“
Im 20. Jh. wurde das Sujet des Letzten Abendmahls von vielen Künstlern in Anpassung an moderne Kunstströmungen aber auch in ironisch/satirischer Absicht wieder aufgenommen. Ich möchte nur einige wenige Beispiele nennen, um zu zeigen, wie eine ikonografische Tradition variiert und angepasst werden kann und welche neuen Darstellungstechniken dabei zum Tragen kommen. Salvador Dali hat häufiger christliche Themen im Kontext seiner surrealistischen Stilvarianten aufgegriffen. Die Bilder sind durchaus noch als religiöse Bildgestaltungen zu lesen. In seiner Abendmahldarstellung bilden die Jünger annähernd einen Halbkreis um den rechteckigen Tisch (2 + 3 + 1 + 3 + 2), zwei knien mit dem Rücken zum Betrachter vor dem Tisch. Nur das Gesicht von Jesus ist zu sehen. Bei zwei Jüngern sind sogar die Köpfe teilverdeckt. Da alle zwölf Jünger anwesend sind, muss auch Judas darunter sein. Eventuell ist der Jünger mit gelbem Mantel, dessen Kopf verdeckt ist, als Judas zu interpretieren. Das Abendmahlbild von Warhol nützt eine Kollage- und Seriegrafietechnik und nimmt direkt auf das Bild Leonardos Bezug, indem es Bildteile grafisch modifiziert und in verschiedenen Formaten, teilweise verdreht ins Bild kopiert. Auch
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dieses Bild verstand der Maler (zumindest in seinen Aussagen gegenüber der Öffentlichkeit) noch als religiöses Bild und nicht als Satire oder Pastiche.14
Abbildung 22: Andy Warhol , 1987, Abendmahl (nach Leonardo), Mailand Warhol hat eine ganze Serie von Bildern mit diesen Motiven geschaffen und sie teilweise durch moderne Motive (Motorrad, Preisangaben in $, und Ähnlichem) verfremdet. Sie bildeten die letzte Phase seines Lebenswerks. Die Wiederholung mit Variation in seinen Bildern sieht Warhol als Abbild des moderenen Lebens. Er sagt von sich selbst: „I used to have the same lunch every day, for twenty years, I guess the same thing over and over again“ (1963; zitiert in Harrison und Wood, 1993: 732). Ebenfalls zitierend, ging Buñuel in seinem Film „Viridiana“ mit dem Sujet um. Er enthält eine Szene, die an das Letzte Abendmahl von Leonardo erinnert. Als die Gruppe von Bettlern, Blinden, Armen ein Schlemmermahl einnimmt, kommt der Vorschlag ein Foto zu machen (in Wirklichkeit gibt es gar keinen Apparat; eine der Frauen hebt den Rock hoch, allen starren hin). Die Gruppe nimmt hinter dem Tisch Platz. Ein blinder Bettler ist in der Mitte platziert und das „Foto“ reproduziert die Zusammensetzung von Leonardos Abendmahl. Diese kurze Episode des Films mischt die Erinnerung an das christliche Abendmahl (in der Darstellung durch Leonardo) mit dem gemeinsamen Essen der Bettler in Abwesenheit der frommen Viridiana. Er erinnert in diesem Zusammenhang an das historische Vorbild, das Mahl
14 Als Vorlage dienten Fotos eines Stiches nach Leonardo sowie Umrisszeichnungen. Mit einem Projektor wurden diese auf Papier projiziert und abgezeichnet, wobei das Papier rotiert und die Projektoreinstellung auf Nah oder Fern justiert wurde. Das Ergebnis ist quasi ein handwerkliches Produkt auf der Basis einer groben Wiedergabe des Originals. Der Werkzyklus zum Thema „Abendmahl“ wurde in Mailand in einer Bank, die dem Kloster, wo sich das Original befindet, gegenüber liegt, ausgestellt. Es handelte sich um eine Auftragsarbeit der Bankdirektion.
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der Liebe (die Speisung der Armen). Der Film wurde vom Vatikan im Jahr 1961 verboten, danach auch von Franco in Spanien. Buñuel hat eine blasphemische Absicht verneint und es ist nicht zu beweisen, dass sein Film (oder die Szene seines Films) den Ritus, die Liturgie oder den Text des Evangeliums abwertet. Der Bezug zu Leonardo ist allerdings offensichtlich und betont den Eindruck, dass die Jünger in Leonardos Darstellung wie für eine Momentaufnahme „posieren“ (siehe meine Analyse des Bildes von Leonardo weiter oben). Buñuel kommentiert damit Leonardos theatralische Inszenierung aber nicht das in der Bibel geschilderte Geschehen. Anscheinend hatten aber die katholischen Autoritäten inzwischen Leonardos Darstellung als autoritativ selbst im theologischen Sinn verstanden und empfanden deshalb den negativ konnotierten Verweis auf Leonardos Bild als eine Kritik an der Kirche. Ebenfalls kontrovers war die Reaktion auf Ben Willikens „Abendmahl“ (19761979 entstanden), das einen menschenleeren, kahlen Ort mit der Architektur von Leonardos Abendmahlraum zeigt. Walter Benjamins interpretiert menschenleere Bilder als „Tat-Orte“, d.h. hier geschah etwas Besonderes, meist Schreckliches (vgl. Still, 2012). Willikens selbst spricht im Zusammenhang der Entstehungssituation von Zorn und Hoffnungslosigkeit in den siebziger Jahren: „Alles ausgemachte Lügen“ (Frankfurter Allgemeine, 4.11.2009). Das Bild könnte also durchaus als religions- und kulturkritisch interpretiert werden. Eine Variante des Bildes in Schwarz hängt jedoch im Querschiff des Bamberger Doms mit dem Titel: „Raum 724 Black Last Supper“. Der ganze Disput ist als Beweis der Offenheit visueller Zeichen gegenüber Kontexten und Leserattitüden zu verstehen. Diese relativ ausführliche, einen großen Zeitraum (fast zwei Jahrtausende) umgreifende Analyse ist einerseits eine Exemplifizierung der ikonografischen Methode im Sinne Panofskys und sie zeigt, wie durch die Bild-Tradition nicht nur Probleme der bildhaften Konfiguration und Narration gelöst werden, sondern auch die Bedeutungen, die mit Bildern verbunden werden, einen hohen Grad der Konventionalisierung und Fixierung erhalten. Andererseits wird die Unterschiedlichkeit von Textund Bildmedium gezeigt. Die narrative und illustrative (referentielle) Funktion von Bildern ist nur unter gewissen Randbedingungen zuverlässig möglich. Zusätzlich wird eine zentrale Problematik der visuellen Semiotik, die Organisation des Bildraumes verdeutlicht. Konstitutive Faktoren sind neben der Gestaltung des architektonischen Raumes und des Mobiliars (besonders des Tisches) die Verteilung der 12 oder 13 Personen im Raum (um den Tisch) unter Vermeidung von Verdeckungen und die Wahl der Perspektive, besonders des Sehwinkels: auf Tischhöhe oder von oben, frontal oder seitlich. Die sichtbaren Bewegungen und Blickvektoren müssen sorgfältig orchestriert werden, damit die Bildaussage kohärent und überzeugend ist. In der historischen Entwicklung gab es sowohl kontinuierliche Traditionen als auch Umbrüche. Der erste Umbruch geschah mit der Hervorhebung des Verratstopos (mit Judas im Zentrum des Geschehens) im Mittelalter (die Miniatur um 1140
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in Abbildung 10 ist fast gleichzeitig mit dem Beginn der Katharrer-Bewegung, aus deren Namen das Wort Ketzer abgeleitet ist). Einen künstlerischen Höhepunkt stellt die Lösung durch Leonardo dar. Schlussendlich kam es zu einer Art von Entmystifizierung des Sujets in der Kunst des 20. Jh. Im Folgenden will ich mich einer grundsätzlichen Frage der visuellen Semiotik zuwenden, der Frage, wie Ordnung (Schönheit) und Unordnung/Chaos (Hässlichkeit) in der Natur und im menschlichen Leben mit den Mitteln der bildenden Kunst dargestellt werden. Ich kann dazu erneut bei Leonardo anknüpfen, der nicht nur eine Reihe malerischer Experimente zu dieser Thematik, sondern auch wertvolle Überlegungen in seinen Manuskripten angestellt hat. Gleichzeitig liefert diese Studie den Hintergrund für die spätere Thematisierung der Opposition Ordnung und Chaos im Werke von Pollock.
3.2 B ILDORGANISATION ZWISCHEN STATISCHER UND DYNAMISCHER O RDNUNG UND DIE R EPRÄSENTATION DES U NGEORDNETEN , C HAOTISCHEN In Kapitel 1.1.4 wurden gestalttheoretische Ordnungsmuster erläutert, wobei Gestalt implizit „schöne Gestalt“ bedeutet, d.h. im Gestaltbildungsprozess werden wahrgenommene oder imaginierte Muster vervollständigt, interpretiert, so dass eine Ordnung geschaffen wird, die nur schwach und vieldeutig im Stimulus angelegt war. Die visuelle Darstellung umfasst aber einen impliziten, nur schwer beseitigbaren Realitätsanspruch, d.h. es entsteht ein Konflikt zwischen der intern generierten „schönen Gestalt“ und der beobachteten und erfahrenen Natur. Der Beobachter (meist auch der Künstler) geht davon aus, dass es Schönheit und ästhetische Ordnung in der Natur, im Leben, beim Menschen gibt und dass diese das Maß für die Schönheit und Ordnung in der Bilderwelt darstellt. Die wahre Ordnung der Natur erschließt sich aber nur dem Naturbeobachter, in der neueren Zeit dem Naturwissenschaftler. Dadurch kommt der Künstler in eine Konkurrenz- oder eine Konfliktsituation mit dem Naturwissenschaftler (oder nur dem naiven Naturliebhaber), den er enttäuschen muss, wenn die Darstellung nur schön Geordnetes zeigt. Der Künstler kann aber auch versuchen beides zu sein: Naturbeobachter und ästhetischer Gestalter. Daraus ergibt sich ein Dilemma, dem erst die abstrakte Kunst entflieht, allerdings um den Preis, dass der naive Betrachter, der eine reale oder ideale Wirklichkeit sucht, enttäuscht werden muss. Wenn der Künstler die Schönheit der Welt mit derjenigen der Kunst zur Deckung bringen will, muss er überzeugende Beispiele für Schönheit finden und in seinen Bildern darstellen. Er kann schöne Modelle auswählen, so wie heute im Model-Screening schöne (junge) Frauen und Männer für die Modeindustrie und Werbung ausgewählt werden; er kann auf Reisen schöne Städte und Landschaften su-
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chen und als Sujet seiner Bilder nehmen. Wenn er Portraitmaler ist, kann er sich die Schönheit meist nicht in dieser Weise aussuchen und er wird genötigt bei der Abbildung seiner Auftragsgeber, deren Portrait den gängigen Stereotypen von Schönheit anzunähern, es zu „schönen“. Damit wird aber die Realitätsforderung an die Kunst verletzt; man kann sagen der Künstler lügt in seinem Porträt. So wurde etwa Hans Holbein d.J. vom englischen König Heinrich VIII beauftragt, mögliche Heiratskandidatinnen zu porträtieren, so dass der König sich eine Gemahlin anhand der Bilder aussuchen konnte. Gefiel dann die Kandidatin, die auf dem Bild gut aussah, dem König bei der Heirat nicht, so fiel der Künstler in Ungnade.15 Der Auftragsgeber hatte den Eindruck betrogen worden zu sein. Es nützt ihm nichts, das Bild einer schönen Frau zu besitzen, wenn er die Abgebildete als hässlich oder wenig attraktiv empfindet. Bei der Darstellung der Natur (Landschaft oder Tier) mag der Zwang zur Wahrhaftigkeit geringer sein, aber dem Betrachter und auch dem Künstler ist es natürlich klar, dass diese nicht zum Menschen gehörigen oder von ihm gestalteten Objekte auch hässlich, ja schreckenerregend sein können. Zur natürlichen Schönheit gibt es einen Gegenpart: das Hässliche, das Befremdende, das Abartige, die Situation der Zerstörung und des Chaos. Mag man in der Natur die Gestaltungskraft eines gütigen Gottes bewundern, so gibt es aber auch schreckliche Götter oder Teufel, die für diesen Gegenpart der Ordnung und des Schönen verantwortlich gemacht werden können. Wenn der Künstler nicht nur zur Befriedigung seiner Auftragsgeber arbeitet, sondern einen universalen künstlerischen Anspruch hat, so wird er versuchen, auch das Ungeordnete, das Chaotische, das Hässliche in seine Bilderwelt aufzunehmen. Ordnung ist, wie wir bereits im vorherigen Abschnitt gesehen haben, nicht nur statisch zu verstehen, auch Handlungen, Ereignisse können geordnet oder ungeordnet (chaotisch) sein. Da der narrative Anteil in den religiösen Bildern besonders groß ist, muss diese dynamische Ordnung vom Künstler im Bild dargestellt werden (ebenso deren Gegenteil). Ich werde in Kap. 3.2.2 eine einfache Vektorkonzeption zu Beschreibung der dynamischen Konfigurationen anwenden, um insbesondere Blickgesten und Handgesten in Leonardos Bildern erfassen zu können.
15 Hans Holbein d.J malte 1539 die Prinzessin Anna von Kleve für den englischen König, Heinrich VIII. Das Bild ist schön gestaltet und gibt auch den Charakter der Dame gut wieder, es täuschte aber eine weibliche Anziehungskraft vor, die vom König bei der realen Begegnung nicht feststellbar war. Immerhin überlebte Anna die schnelle Auflösung ihrer Ehe; Holbein behielt sein Amt, durfte aber fortan keine Mitglieder der königlichen Familie malen (vgl. auch die Bildanalyse in Leyton, 2006).
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Ordnung und Chaos im Werk Leonardos
Ordnung ist für die klassische figurative Kunst zuerst die Ordnung der geschaffenen Welt. Der Prototyp der visuellen Ordnung ist die Schönheit: schöne Menschen (z.B. die schöne, junge Frau), schöne Orte (Städte, Häuser, Interieurs), schöne Landschaften (in der Renaissance meist als Blick aus dem Fenster). Die Wahl des geordneten, schönen Motivs ist somit die Grundlinie der künstlerischen Gestaltung. Der Maler bringt zusätzlich seine Ordnung (seine Schönheit) ins Bild durch die Konfiguration der Personen, der Objekte; er überhöht, steigert die natürliche Ordnung und Schönheit. Hinzu kommt bei Personen Lebhaftigkeit, d.h. die Körperbewegung in Ausdruck und Geste als Manifestation der schönen Seele. Diese Inszenierung ist besonders bei narrativen Bildern wesentlich. Das Gegenteil von Ordnung (in der Natur, der Gesellschaft) stellt die Turbulenz von Wasser oder Wolken oder das Gewimmel einer Menschenmenge dar. Ein Prototyp des Chaos in der Natur ist die Sintflut (sie steht für zerstörerische Naturgewalten). Für diese nicht kontrollierbare Dynamik mit extremer (zerstörerischer) Wirkung hat Leonardo eine zeichnerische Darstellung in dem Blatt „Die Sintflut“ (1517-18), siehe Codex Leicester (2007: 37) versucht. Die vielen sich überschlagenden, elliptisch eingerollten Wellen sehen dabei noch recht ordentlich aus; man kann sich aber bereits das Chaos vorstellen, das entstehen wird, wenn all diese Bewegungen zusammenfließen. Chaos im Bereich des Menschen lässt sich z.B. in der Vielfalt der Bewegungen der Menge oder an den Handlungen und der Mimik eines Irren beobachten. In der Szene mit der Anbetung der Könige (siehe Abbildung unten) gibt es einen Ring aufgeregter Zuschauer um die Mitte herum, deren Blicke nur teilweise auf das zentrale Geschehen ausgerichtet sind, und auch die Reiterszene im Hintergrund, wo das Pferd sich aufbäumt, hat etwas schwer Kontrollierbares zum Thema. In Leonardos Studien zu hässlichen Gesichtern, den „grotesken Köpfen“, wird die natürliche Hässlichkeit dargestellt, ohne dass damit ein moralisches Urteil im Sinne von: hässlich = böse einhergeht (vgl. Gombrich, 1987 und Scholl, 2004: 308).16 Die Tendenz, auch Unordnung und Chaos in einer realistischen Kunst (die Leonardo als Wissenschaft ansah) zu berücksichtigen, ist immerhin deutlich erkennbar.
16 Vgl. zur Darstellung der Hässlichkeit in der Kunst Lessings Schrift: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Abschnitt XXIV. Lessing behauptet, dass im Gegensatz zur Poesie die Darstellung des Hässlichen in der bildenden Kunst schädlich sei: „ In der Malerei hingegen hat die Hässlichkeit alle ihre Kräfte beisammen und wirket nicht viel schwächer als in der Natur.“ (Lessing, 1966: 115)
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Perspektive
Menge
DreieckBasis
Kraftlinie
Abbildung 23: Leonardo da Vinci, Die Anbetung der Könige (1481), Ölbild auf Holzplatte (unvollendet), Florenz, Galleria degli Uffizi (siehe Clayton, 1996: 22) Im Vordergrund der „Anbetung der Könige“ realisiert Leonardo die gestalterische Ordnung, wiedergegeben durch die dreieckige Basiskonfiguration, die räumliche Perspektive und die klare Kraftlinie der Blicke. Die halbkreisförmige Gruppe der Zuschauer stellt eine begrenzte Unordnung dar. Es scheint, als sei es ihm nicht gelungen, diese beiden konträren Bildideen in Einklang zu bringen. Leonardo hat nicht wenige solcher Konstruktionsexperimente versucht und im weiteren Verlaufe aufgegeben. Er hinterließ dann unvollendete Werke sowie verärgerte Auftragsgeber.17 Indirekt kann man daraus Informationen über eine selbst für Leonardo nicht lösbare Aufgabe entnehmen. Die Thematik der großen Menschenmengen stellte aber auch andere Maler vor eine schwierige Aufgabe; diese konnten aber auf andere Traditionen zurückgreifen, so etwa Bruegel in seinen „Wimmelbildern“; er konnte u.a. auf Bosch und andere spätgotische Maler zurückgreifen.18 Leonardo war
17 Dass Leonardo das Bild nicht fertig stellte, hing aber auch mit der komplizierten Zahlungsvereinbarung zusammen, die von Leonardo umfangreiche Vorleistungen verlangte, die er nicht erfüllen konnte (vgl. Zöllner, 2011: 56). 18 Der junge Michelangelo (1475-1564) schuf 1492 eine (unvollendete) Reliefskulptur, die eine große Anzahl von Menschen und Zentauren im Kampf darstellt. Er musste aber nicht Getümmel und Ordnung in einer Bildstruktur integrieren. Ähnliche, die Fläche ausfüllende Massenszenen finden sich auch schon in römischen Reliefs, z.B. auf Sarkophagen. Zu Beginn des 16. Jh. schuf Albrecht Altdorfer (um 1484-1538) Wandbilder, die das
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dagegen dem geometrischen Kanon einer geordneten Schönheit verpflichtet, die es ihm nicht gestattete teppichartiger Massenszenen auszubreiten. In dem zerstörten Werk „Anghiari-Schlacht“ (1503 begonnen, nicht vollendet, Florenz) konzentriert er die Darstellung auf je zwei Reiter der beiden Parteien und den dramatischen Moment des Kampfes um die Standarte. In Wirklichkeit standen sich jeweils 4000 Kämpfer gegenüber. Leonardo reduziert also zuerst dramatisch die Komplexität des Sujets, konzentriert es dann in einer möglichst dramatischen Szene, so dass eine geordnete und zentrierte Darstellung möglich wird. Die Negation der Ordnung bezieht sich wesentlich auf das Sujet der Darstellung (Natur oder Mensch). Ordnung/Unordnung im Sujet und in der Darstellung lassen sich aber nicht ohne Weiteres trennen, da die Darstellung zumindest in einer auch nur teilweise mimetisch konzipierten Kunst an die Struktur des Sujets gebunden ist. Die Mathematik hat seit Beginn des 20. Jh. Grundlagen für die Formulierung des Chaos-Begriffes gelegt; d.h. die idealen, einfachen dynamischen Systeme nach dem Vorbild von Uhr (Pendel) und Sonnensystem wurden erweitert und es folgten Beschreibungen im Bereich der Meteorologie (Lorenz-Attraktor), der Physik (Turbulenz von Flüssigkeiten), der Chemie (Katalyse), und der Physiologie (Herzflimmern, Epilepsie usw.); d.h. chaotische Naturerscheinungen sind begrifflich (und damit in einer Zeichenform) beherrschbar geworden. Es lohnt sich deshalb nach einem Analogon in der modernen Kunst zu suchen (vgl. dazu Kapitel 4.4). Die Art der Ordnung /Unordnung hängt auch mit dem Kanon künstlerischer Sujets zusammen, also dem, was in einer Epoche, in einer wirtschaftlichen und politischen Situation darstellungsrelevant erscheint. Dabei ist ein entscheidender Wandel seit dem Mittelalter zu beobachten, der sich in zwei Etappen vollzog: 1. Der Kanon der in der Kunst darzustellenden Sachverhalte, Ereignisse hat sich dramatisch verändert (ebenso die soziale Charakteristik der Auftragsgeber/ Käufer). Zuerst wurde der mittelalterliche Kanon biblischer Inhalte um Inhalte der antiken Geschichte und Mythologie erweitert (besonders im Manierismus des 16. Jh.). Dann wurden mehr und mehr Inhalte des aktuellen Lebens thematisiert, der Kanon wuchs mit wechselnden Schwerpunkten ins schier Unbegrenzte. Schließlich wurde der Verzicht auf ein abzubildendes Sujet ausprobiert (von vielen Künstlern Anfang des 20. Jh. mit wechselndem Erfolg) und dann in der abstrakten Malerei als neuer Trend propagiert.
eigentliche Thema dezentral und relativ klein, dafür aber sehr detailreich den Wald (Laubwald mit dem Heiligen Georg, 1510), den Palast (Susanna und die beiden Alten, 1526), oder das Schlachtengetümmel (Alexanderschlacht, 1529) wiedergeben.
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2. Mit der Camera obscura (im 17. Jh.) und dann entscheidend mit Fotografie und Film im 19. Jh. wurde die visuelle Repräsentation der Welt zuerst technisiert und dann zur eigenständigen Kunstform (neben der massenhaften technischen Wiedergabe in der Fotografie und im Video).19 Die Spuren dieser Entwicklung lassen sich in der Geschichte der Kunst ablesen, wobei zuerst noch die Fotografie anregend wirkte (spontane Perspektiven, Schnappschüsse wurden für die Kunst entdeckt); dann begann eine Abkehr von der darstellenden, narrativen Funktion der Kunst und dieser Übergang wird uns in den Kapiteln 4 und 5 beschäftigen. Wenn die Ordnung im Bild als eine geometrische konzipiert wird, ist bereits jede Bewegung (auch die von Körperposen, Händen und Blicken) eine Herausforderung für den Künstler. Dieser Herausforderung wird Leonardo aber sowohl in seinen Bildern als auch in seinen kunsttheoretischen Schriften gerecht. Wenn wir die im Bild eingefrorene Kinematik und Dynamik in die Analyse mit einbeziehen, so ist ein endlicher (kleiner) Graph mit wenigen Vektoren, die einen Attraktor oder Schwerpunkt haben, das Charakteristikum von Ordnung (und im Rahmen der Renaissance-Ästhetik erstrebenswert). In den folgenden Abschnitten will ich mich mit dynamischen Ordnungen20 im Bild beschäftigen und dazu ebenfalls Werke Leonardos heranziehen. 3.2.2
Dynamische Ordnungen in Leonardos „Felsengrotten-Madonna“ und in anderen Werken
Von der „Felsengrotten-Madonna“ gibt es zwei Fassungen: die erste und wohl frühere befindet sich heute im Louvre (Paris), die zweite entstand eventuell unter Mitwirkung von Ambrogio de Predis und befindet sich heute in der National Gallery (London). Die Unterschiede sind bei gleicher Gesamtkomposition erheblich. Die Londoner Fassung lässt den Engel rechts farblich zurücktreten und eliminiert des-
19 Diese Problematik ist Thema der Abhandlung von Benjamin (1939/1955). In begrenztem Maße ließen auch klassische Künstler in ihrem Atelier Kopien herstellen. In der Moderne spielte zuerst die Druckgrafik, dann der Bronzeguss mit der Vervielfältigung von Kunst. Beuys verkaufte „Multiples“ seiner Werke; inzwischen wird im Internet Kunst (bzw. Abbildung von Kunst) unbegrenzt verbreitet und kopiert. 20 Dynamik ist die Lehre von den Kräften; sie erweitert die Kinematik, die Lehre von den Bewegungen.
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sen auf Johannes den Täufer weisende Geste. Gerade die Geste mit gestrecktem Zeigefinger21 fällt in vielen Werken Leonardos auf: • • • •
Im Abendmahl die nach oben weisende Geste des Apostels Thomas (siehe Abbildung 18), in einem Entwurfkarton zum Gemälde „Anna Selbdritt“ die Geste der Anna (vgl. Abbildung 25), die hinweisende Hand der Jungfrau in Leonardos Zeichnung zur Fabel „Maßlosigkeit“, im Gemälde Leonardos „Der Hl. Johannes“ die nach oben weisende Geste Johannes des Täufers, sowie im Gemälde „Bacchus“ beide Hände, die in entgegengesetzte Richtungen weisen.
Der gestreckte Zeigefinder weist über das Bildgeschehen hinaus, deutet es, kommentiert es und enthält damit eine Information über den Inhalt des Gemäldes, stellt etwas dar, was außerhalb des Bildrahmens geschieht oder zu verorten ist. In der Zeichnung zur Fabel „Maßlosigkeit“ weist die Jungfrau direkt auf das sich vertraulich nähernde Einhorn und indirekt auf den Text der Fabel Leonardos (vgl. Leonardo da Vinci, 1988: 91). Die Jäger reden über das Einhorn, das sie jagen möchten und werden von einem Mädchen belauscht, dessen Freund das Einhorn ist. Im Falle der „Felsengrotten-Madonna“ ist die Funktion der zeigenden Hand besonders kritisch, da sie in der zweiten Fassung eliminiert wurde; die rechte Hand des Erzengels sichert jetzt zusätzlich den Jesusknaben, bleibt aber verdeckt.
21 Der gestreckte Zeigefinger wird auch als Belehrungsfinger bezeichnet, die Geste fordert Aufmerksamkeit. Weist er auf eine Person, entspricht er dem deiktischen Personalpronomen: Sie/du. In Raffaels Fresko Die Schule von Athen wird der Philosoph Platon mit nach oben gerichtetem Zeigefinger dargestellt. Er sieht Leonardo da Vinci in einem angenommenen Selbstbildnis ähnlich. In manchen gotischen Darstellungen der Verkündigung ist die Aussage des Engels als Spruchband eingefügt. Der Engel weist mit dem Finger auf das Spruchband. Der Zeigefinger verweist also auf eine Äußerung (ähnlich einer Sprechblase im Comic).
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Abbildung 24: Die erste (originale) Fassung der Felsengrotten-Madonna (Louvre, Paris) und die veränderte Fassung (National Gallery, London). Die Veränderung führt zu einem dramatischen Ungleichgewicht. Die linke Hand von Maria, die beschützend über dem Kopf des Jesusknaben schwebt, wirkt jetzt unmotiviert, da allzu weit davon entfernt; es entsteht ein Leerraum, den vorher die Geste des Engels ausgefüllt hat. Allerdings verdichtet sich damit der Zeichenraum auf der linken Seite und hebt die Beziehung von Maria zu Johannes hervor (sie beschützt ihn). Da Johannes für den den Auftrag gebenden Franziskanerorden von besonderer Bedeutung war, kam diese Version deren Vorgaben und Interessen entgegen. Im Streit um die Bezahlung wurde die zweite Version schließlich auch an die Bruderschaft San Francesco Grande in Mailand ausgeliefert; die erste Version wurde an einen besser bezahlenden Kunstliebhaber (wahrscheinlich Ludovico Sforza) verkauft (vgl. dazu Zöllner, 2011: 76f). Andrea del Sarto (1486-1530), der zeitweilig gemeinsam mit Leonardo in Amboise am französischen Hof weilte, hat in der Madonna Wallace (1518) eine Maria dargestellt, die ebenfalls mit der rechten Hand den Johannes-Knaben hält und zu ihm blickt. Der im Vordergrund stehende Jesus-Knabe dominiert allerdings optisch (vgl. Delieuvin, 2009: 67f). Eine nach oben oder aus dem Bildrahmen weisende Geste der rechten Hand findet sich auch bei der Darstellung des „Bacchus“ (ursprünglich „Johannes der Täufer in der Wüste“; Paris, Louvre). In diesem Bild zeigt außerdem die linke Hand nach
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unten und es ergibt sich insgesamt eine eigenartige „Schraub-Bewegung“, die wir als technische Erfindung in Leonardos Entwürfen zur Archimedischen Spiralpumpe und im Entwurf einer Luftspirale wieder finden. Letztere wird heute als der erste Entwurf eines Helikopters angesehen. Man könnte einen schrägen Zylinder und eine um den Zylinder verlaufende Kurve als geometrischen Grundtypus annehmen, der sich hinter der Körper-Haltung des Bachus verbirgt. Eine ähnliche Bewegungslinie finden wir in Leonardos „Madonna mit der Spindel“, wo das Jesuskind eine dem Kreuz ähnliche Spindel hält. Die technische Basis dieser Bildkomposition kann man mit verschiedenen Spiralbewegungen in Leonardos Zeichnungen in Verbindung bringen: • • •
Wasserstrudel (im Ms. E, dem Plan des Arno-Staudamms, Windsor; vgl. Heydenreich, 1943: 273-276); technische Schrauben wie Brunnenpumpen (Mailand, Ambrosiana) und Luftschrauben (Paris, Institut de France; vgl. Lüdecke, 1952: 65 u. 69); Tierbewegungen (z.B. beim Vogelflug, vgl. Ms. E).
Diesen Bezügen ist die Dynamik von Wasser und Luft gemeinsam. Sie verweisen auf die Kräfte, die Flüssigkeiten oder Gase auf die festen Körper (z.B. den des Vogels, Tiers oder Menschen) ausüben (vgl. dazu auch Frosini, 2000: Kap. 7.3). 3.2.3
Der Blick als Kraftvektor in den Versionen des Themas „Anna Selbdritt“
Die im Bild dargestellten dynamischen Beziehungen zwischen den Akteuren (z.B. den Personen oder allegorischen Tieren) werden nicht nur in der Gestik, der Bewegungsrichtung von Fingern und Händen, sondern auch durch die Körperbewegung (Schultern, Rumpf, Hüfte, Beine) und besonders durch die Ausrichtung des Blicks inszeniert. Im Folgenden soll deshalb der Blick, der von der Kopf- und Pupillenbewegung kontrolliert wird, Gegenstand der Untersuchung sein. Eine besonders komplizierte Kompositionsaufgabe hat sich Leonardo bei der Behandlung des Themas der „Anna Selbdritt“ gestellt. Neben der Generationenabfolge: Anna (Großmutter) – Maria (Mutter) – Jesus (Sohn), die den traditionellen Kern des Themas darstellt, treten Johannes (Sohn der mit Maria befreundeten Elisabeth) und ein Lamm (symbolisch für den Opfertod Jesus’) auf. Leonardo experimentiert mit verschiedenen Netzen von Blickvektoren (vgl. auch Wildgen, 2010b, in Englisch).
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Abbildung 25: Der Londoner Karton (1498/1499) und Leonardos Skizze von 1503 In der Skizze von 1503, die zwei Varianten der Position von Anna enthält, laufen die Blickvektoren von Maria und Anna auf Jesus und von dort (als Mittler) zum Lamm; die korrigierte Version lässt Anna direkt zum Lamm blicken.
erste Version
Anna
Maria
Jesus
Lamm
Abbildung 26: Blickvektoren in der Skizze von 1503 Der schön ausgeführte Karton von London (1498/1499) lässt Maria zu Jesus blicken, der wiederum mit Johannes Blicke austauscht; Anna blickt dagegen zu Maria. Der nur angedeutete Zeigevektor (aus dem Bildrahmen hinaus, vgl. Kap. 3.2.4) vervollständigt den vektoriellen Parcours.
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Anna blickt zu Maria Annas Zeigegeste
:
Jesus
Maria
Blickachsen: Maria – Jesus – Johannes Anna
Johannes
Abbildung 27: Die Vektoren des Londoner Kartons (1498/1499) Die endgültige Version von 1509/10 im Louvre vereinfacht das vektorielle Netz, indem Anna – Maria – Jesus auf einer Blicklinie liegen; Maria und Jesus blicken sich dabei gegenseitig an. Das Lamm schaut parallel zu Jesus nach oben, wobei der eher vage Blickvektor von Anna die ganze Szene erfasst, also auch eine Achse zum Lamm schafft; es gibt somit zwei fast parallele Gegenseitigkeitsvektoren. Als Hintergrund der Blickvektoren muss die dargestellte körperliche Interaktion gesehen werden, dessen Zentrum die auf dem Schoß ihrer Mutter sitzende Maria bildet. Kräfte, durch die Armstellung angedeutet, herrschen zwischen Maria und Jesus, die ihn vom Lamm wegzuziehen versucht, und Jesus und dem Lamm, das er ergreift.22
22 Eine Wegbewegung des Jesuskindes und ein Halten durch Maria finden wir auch in dem Altarbild Maria mit dem Kinde, dem Hl. Hieronymus und der Hl. Magdalena von Giovanni Battista Cima de Conegliano (1459 -1517/18), das nach 1500 entstanden ist (Alte Pinakothek, München). Diese Bewegung wurde „in der Zeit nach 1500, in der Cima dieses Bild gemalt hat, verhältnismäßig oft dargestellt“ (Netzer, 1965: 230).
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Hauptblicklinie parallel zum Kräftefeld des statischen Gleichgewichtes Statisches Gleichgewicht der Körper
Greifbewegungen von Mara und Jesus
Abbildung 28: Die endgültige Version der Anna Selbdritt, 1509/10 (Paris, Louvre, restaurierte Fassung) und Vektorbild der Kräfte 3.2.4
Argumentative Funktionen des Bildes bei Leonardo
Ein Bild mit narrativem Inhalt hat insbesondere, wenn es sich auf religiöse Inhalte bezieht, eine Wahrheits- oder Richtigkeitsfunktion. Die Auftraggeber oder auch die Betrachter können sich fragen: Ist der aus dem Text bekannte Inhalt richtig dargestellt? Ist die (theologische) Interpretation des Geschehens korrekt und mit der herrschenden Lehre konform? Da es zu Leonardos Zeiten konkurrierende Interpretationen (Theologien; meist innerhalb der Orden oder in verschiedenen Kirchenprovinzen) gab, stellte sich auch die Frage: Welche dieser Interpretationen wurde im Bild gewählt, ist dort vertreten? Nach der Reformation mussten die Maler streng zwischen den Bibelinterpretationen der jeweiligen christlichen Bekenntnisse unterscheiden. Dies lässt sich z.B. an den Abendmahldarstellungen Dürers (er sympathisiert mit der Reformation) im Vergleich zu denen Tintorettos oder der barocken Maler nach ihm zeigen (vgl. Kap. 3.1.5 und Wildgen, 2004d; in Französisch). Bei Leonardo haben besonders die aus dem Bild hinaus strebenden Vektoren, die quasi den Betrachter am Geschehen beteiligen und über das im Bild Sichtbare hinausweisen (z.B. nach oben auf Himmlisches) einen argumentativen Charakter. Dies kann im Falle der beiden Versionen der „Felsengrotten-Madonna „ gezeigt werden.
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Die erste von den Mönchen des Franziskanerordens in Mailand in Auftrag gegebene Fassung (die wahrscheinlich auf einer Vorlage beruhte, die Leonardo aus Florenz mitgebracht hatte und die von den Mönchen akzeptiert wurde), wird später als häretisch eingestuft und in der zweiten Fassung korrigiert.23 Dies bedeutet, dass auch ein Bild eine Doxa (Lehre) enthalten kann, die als richtig oder falsch beurteilt werden kann. Das setzt wiederum eine argumentative Struktur voraus. Gleichzeitig ist aber auch klar, wie kontext- insbesondere wie wissensabhängig sowohl der argumentative als auch der narrative Inhalt von Bildern ist. Die Bildkomposition hat jenseits der narrativen und argumentativen Inhalte spezifische Probleme zu lösen, z.B. Probleme der Beziehung zwischen den dargestellten Personen (in der Fläche, im perspektivisch simulierten Raum), Probleme der Raumfüllung und Raumgestaltung, der Lichter und Schatten, der Farbgebung. Diese weisen zwar Bezüge zum narrativen Inhalt auf (z.B. zur Größe und Position wichtiger Personen oder bei einer symbolischen Farbwahl), generell sind sie aber eher davon unabhängig. Der Bildraum ist zum Teil ein Aussage-Raum im Sinne der Bildlogik von Peirce; zum Teil ein Bild-Raum, der nach den Prinzipien der Perspektive und der Verteilung von Hell und Dunkel, sowie der Farben gestaltet wird.24 Bei der Analyse von Bildern Leonardos in diesem Kapitel standen die Dynamik der Natur und des Körpers (indirekt der sich dort ausdrückenden Seele) und die Gestik der Figuren im Vordergrund. Die zum Bild parallele aber in ihm kodierte Erzählung bildete einen ausreichend bekannten Hintergrund. Symbolische oder allegorische Bedeutungen blieben ausgeblendet. Gerade in der Renaissance und im Manierismus werden allegorische Bedeutungen, also die Rhetorik des Bildes (vgl. Abschnitt 1.1.5) sehr wichtig. Die Personen und Gegenstände im Bild tragen neben der offensichtlichen Sachbedeutung eine weitere abstrakte Bedeutung, die auf ein System von Werten ethischer oder religiöser Natur verweist. Dies soll anhand eine Stiches von Dürer, den schon Panofs-
23 Als kurzer Hinweis mag genügen, dass sich im Rahmen der Symbolkonventionen des Franziskanerordens (vgl. dazu Pförtner, 2011: 67 und 74) weitere ikonologische Deutungen anbieten. Auch in Bezug auf die Zusammensetzung der Mönche im Mailänder Kloster und dort gepflegte Interpretationen, die z.B. eine Trinität Maria – Jesus – Johannes andeuten, sind weiterführende, wenn auch unsichere Deutungsansätze möglich (vgl. dazu Wildgen, 2005). 24 Zeigegesten und Blickrichtungen spielen auch in der weiteren Kunstgeschichte eine große Rolle. Ich will nur auf das Gemälde „Die Verleugnung des Heiligen Petrus“ von Caravaggio und „Ödipus und die Sphinx nach Ingres“ durch Francis Bacon hinweisen; vgl. dazu Albèrgamo (2012).
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ky und Yates besprochen haben, untersucht werden. Verallgemeinernd kann man sagen, dass sich hinter der Welt der Sachen, der Personen, der Naturzustände weitere symbolische Welten auftun, die indirekt durch die Abbildung der ersten Welt erschlossen werden.
3.3 D ÜRERS ALLEGORIE DER M ELANCHOLIE UND DIE R OLLE DES KULTURELLEN G EDÄCHTNISSES Die klassische Lehre der Melancholie fasst Agrippa (1533/1987: 150-154) zusammen.25 Die Melancholie wird mit der weißen Galle, also einer der vier Körperflüssigkeiten zusammengebracht. Unter melancholischer Feuchtigkeit verstehen wir dabei die sogenannte natürliche oder weiße Galle. Wenn diese entzündet wird und brennt, so erregt sie die Begeisterung, die uns zum Wissen und zur Weissagung führt, besonders wenn noch ein himmlischer Einfluss, namentlich der des Saturns, hinzukommt. (ibid.: 150)
Dem Melancholiker wurden die Erde (als Element) und der Saturn, der äußerste Planet, zugeordnet. Der in der Melancholie dominierende Körpersaft ist die gelbe Galle. Die Melancholie ist gleichzeitig tiefste und (unter der Wirkung des „furor“) höchste Gemütsverfassung; in ihr treffen sich die Extreme. Wenn wir uns nun der Bildbetrachtung zuwenden, so finden wir die folgenden Informationen dort verschlüsselt: 1. Der Engel im Vordergrund mit dem dunklen Gesicht (Schwarz war die Farbe der Melancholie) sitzt auf der Erde. Im Hintergrund erweitert eine Wasserfläche den ebenen Ort.
25 Albrecht Dürer (1471-1528) hat das Bild 1514 gestochen, also vier Jahre nachdem Agrippas Buch in gelehrten Kreisen als Manuskript zirkulierte. Wir berücksichtigen die Interpretationen in Panofsky und Saxl (1923) und bei Yates (1991: Kap. VI).
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Abbildung 29: Albrecht Dürer, Melencolia I (1514) In der Astrologie des Raymundus Lullus lesen wir, dass die im Zeichen des Saturn Geborenen melancholisch und schwer sind; die Schwere haben sie von der Erde und dem Wasser. Sie lieben die Figuren, welche ihnen die Vorstellungskraft eingibt und die mathematischen Ideen, welche die Erde ihnen eindrückt. Der schwerfällige Engel mit dem sehenden Blick zeichnet eine Figur mit seinem Zirkel, ohne hinzusehen, in reiner Intuition. Er stützt seinen Kopf schwer mit der Hand. Sein rechter Ellbogen liegt auf einem Buch. Der Melancholiker hat ein gutes Gedächtnis, wie Lullus sagt, da das Wasser zusammenzieht und rezeptiv sowie gierig ist (vgl. Lullus, 1988: 46). Das Bild enthält weitere Informationen zu den Themen: Rechnen, Mathematik, Zeichnen, Konstruieren, Bauen. Es gibt Hinweise auf die Wesensmerkmale der Begabung des Melancholikers: Geometrisch behauene Steine: Polyeder, Kugel; Instrumente des Handwerkers: Hammer, Nägel, Säge, Zange, Hobel, Feile; mathematische, messende Instrumente, Zirkel, Waage, Sanduhr. 2. Die Leiter in der Mitte des Bildes stellt nach Yates die Himmelsleiter dar, auf der die Engel zur Erde hinabsteigen, der Hund stellt die äußeren Sinne dar (siehe die Hunde des Aktaion und Wildgen, 2011: Zweite Studie); sie sind von der Melancholie eingeschläfert, ausgehungert; es dominiert der innere Sinn, die In-
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tuition. Der kleine Engel auf dem Mühlstein (Yates spricht von einem Putto) steht für Dürer selbst, der Stichel in der Hand weist auf die Gestaltung dieses Stiches hin. Der Künstler befindet sich somit in Gesellschaft des Engels der Melancholie und in Sicherheit von den schädlichen Folgen dieser Stimmung. Über dem Haupt des Engels hängt das magische Zahlenquadrat (alle Quersummen sind identisch), es verweist ebenso wie die Messingglocke auf den ausgleichenden Einfluss des Jupiters (vgl. Lullus, 1988: 47). 3. Panofsky (1977: 215f) sieht in dem Stich eine Darstellung des „Stylus Geometriae“, d.h. der Geometrie als Grundlage aller Wissenschaften. Dürer wird in seiner Unterweysung der messkunst von 1525 selbst einen Beitrag dazu leisten. Selbst diese weitreichende Interpretation schöpft den Bildinhalt nicht aus. Folgende Fragen bleiben offen: • • • •
Welche Bedeutung haben der Komet und der Bogen (Regenbogen) im Hintergrund? Welcher Polyeder wird in der Mitte dargestellt und weshalb gerade dieser? Was bedeutet der Mühlstein, auf dem der kleine Engel sitzt? Was wird in der Kanne im Hintergrund gekocht (Blei zum Zusammenfügen der Steinquader oder Leim)?
Ich will nur der zweiten Frage kurz nachgehen. Es handelt sich um die Abwandlung eines platonischen Polyeders auf der Basis des Kubus (mit sechs Quadraten als Flächen). Das Quadrat steht bei Platon (im Timaios) für die Erde, das Dreieck für die Luft. Der gezeigte Körper kommt dadurch zustande, dass an zwei Ecken des Kubus ein Tetraeder (also auch ein platonischer Körper) abgeschnitten wird; dadurch entstehen neben zwei gleichseitigen Dreiecksflächen sechs nicht regelmäßige, fünfeckige Flächen. Vervollständigt man die Wegnahme der Tetraeder, d.h. statt an zwei Ecken an allen acht, so entsteht ein semiregulärer Polyeder, das Kuboktaeder mit sechs Quadraten, acht gleichseitigen Dreiecken, zwölf Kanten und 24 Ecken. Der große Steinquader befindet sich somit im Übergang zwischen einem platonischen Körper, dem Kubus, und einem archimedischen Körper, dem Kuboktaeder (vgl. Cundy und Rollett, 1981: 85 und 102). Die abgeschlagene Stelle an der vorderen Kante des Quaders verweist auf die bereits begonnene Bearbeitung. Ein weiteres Rätsel gibt Dürers Bild auf: Wieso nennt er den Stich: „Melencolia I“? Wo bleiben II und III , wenn wir von den drei Stufen des Geistes bei Agrippa: Phantasie, Verstand, Geist (imaginatio, ratio, mens) ausgehen. Yates (1991: 67 f.) deutet das ebenfalls 1514 entstandene und von Dürer fast immer mit dem Stich „Melencolia I“ verschenkte Blatt „Hieronymus im Gehäus“ als „Melencolia III“. Hier hat der Geist (mens) in konzentrierter Ruhe Kontakt zur göttlichen Welt aufgenommen. Hier ist nichts im Übergang, abgebrochen, sondern wohlge-
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ordnet durch die einheitliche Perspektive. Der Raum wird durch das Sonnenlicht, vermittelt durch die großen Fenster, beleuchtet, das Licht konzentriert sich am Kopf des schreibenden Hieronymus. Die animalischen Kräfte sind gebändigt. Die Intuition hat außerdem ein deutlich christliches Gepräge, denn der Körper des Hieronymus ist auf das Kruzifix auf seinem Pult ausgerichtet.26 Yates interpretiert die beiden Bilder im Sinne einer christlichen Kabbala, einer weißen (christlichen) Magie. Wenige Jahre später (1528) malt Lukas Cranach d.Ä. ein Bild mit dem Titel „Melancolia“, bei dem der Zirkel am Boden liegt, die entrückte Frau im Geiste beim links oben dargestellten Hexensabbat weilt, die Sinne sind wach und lebendig (die mit dem Hund spielenden Putten). Yates sieht hier den abrupten Übergang von einer christlich-reformerischen Magie zum Hexenwahn und damit zur einsetzenden Hexenverfolgung. Sowohl Bruno als auch der Mathematiker und Magier John Dee, dem er in Oxford und Prag begegnet sein mag (vgl. Wildgen, 2011: Zweiter Dialog) sollten von dieser sich schon früh abzeichnenden Wende existentiell betroffen werden (Bruno wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt). Das Thema der grotesken Figuren und der phantastischen Komposition, das sich besonders an den Werken der Spätrenaissance und des Manierismus illustrieren lässt, werde ich am Beispiel von Arcimboldo behandeln. Er steht in der Tradition Leonardos. Sein Vater, der ebenfalls Künstler war und in Mailand Glasfenster entwarf, kannte sogar Leonardo persönlich, als dieser in Mailand an der Fertigstellung des Abendmahles arbeitete.
3.4 G ROTESKEN UND (ARCIMBOLDO )
PHANTASTISCHE
K OMPOSITBILDER
Die Allegorie, die Metapher sind rhetorische Figuren, die auch in einer Rhetorik des Bildes zur Anwendung kommen. Der Betrachter muss anhand der Hinweise in der Thematik oder dem Aufbau des Bildes und auf dem Hintergrund seines literarischen und künstlerischen Wissens das spezifisch Gemeinte erschließen. Im Rebus oder Bilderrätsel wird diese Technik (oder dieses Vergnügen beim Betrachter) auf die Spitze getrieben. Unabhängig von der Lösung eines solchen impliziten Rätsels soll das allegorische Bild aber auch schön, angenehm, in Teilaspekten realistisch abbildend sein. Es hat also gleichzeitig zwei semiotische Aufgaben zu erfüllen. Im Manierismus machte man es sich in Literatur, Philosophie und Kunst zur Aufgabe, möglichst viele Interpretationsebenen verschlüsselt anzubieten, quasi auf engstem
26 Es gibt eine deutliche Analogie zu Luthers Arbeitszimmer in Wittenberg. Dies eröffnet weitere Interpretationswege.
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Bild-Raum eine Vielzahl von Bildinhalten darzubieten. Arcimboldo, dessen Werk wir ins Zentrum unserer Überlegungen stellen wollen, blickt auf eine Tradition zurück, die mindestens bis zu den römischen Grotesken reicht, und die bis heute fortgeführt wird. Eine große Nähe zu Arcimboldo empfanden insbesondere die Surrealisten. 3.4.1
Vorbereitung in den Grotesken und bei Hieronymus Bosch
Bildkompositionen mit Pflanzen und Tieren, Metamorphosen von Pflanze, Tier und Mensch existieren seit der Antike. Sie wurden in der frühen Renaissance nach der Aufdeckung der Fresken des „domus aurea“ als sogenannte „Grottesken“ Bestandteil des Renaissance-Repertoires (man hielt diese Räume für Grotten). Von Luca Signorelli (1499-1504) in Orvieto, Pinturicchio (1502) in Siena und von Raffael (1515) im Vatikan wurde diese Technik zu einem dominierenden Dekorationselement ausgebaut. In der Groteske finden wir eine dekorative Bildkomposition, in der die Körper aus Tier und Mensch, Mensch und Pflanze zusammengesetzt sind. Eine andere, eher spätgotische, in die frühe Renaissance hineinreichende Tradition geht von Hieronymus Bosch aus (1450/1460-1516), der hauptsächlich für die spanische Habsburger-Linie gearbeitet hat. Er setzt sich intensiv mit alchimistischen Ideen auseinander,27 welche ja Vorstellungen einer universalen Metamorphose beinhalten. Für Boschs Stil ist charakteristisch, dass er im Bildaufbau ziemlich spontan nicht nur Mensch und Tier zu teuflischen Phantasiefiguren zusammenfügt, sondern quasi wie ein moderner Biotechnologe auf der Evolutionsklaviatur spielt.28 Er formt auch menschliche Körper zu Objekten, die wiederum von Menschen behaust werden; siehe das Tryptichon genannt „Garten der Lüste“ oder „Garten der Alchimie“, der „Baum-Mensch“ (Museo del Prado, Madrid). Die Bildersprache Boschs beinhaltet aber nicht nur Phantasieobjekte, mögliche Evolutionsprodukte oder Hybridformen; der eigentliche Sinn besteht darin, dass die mit diesen Objekten verknüpfbaren Bedeutungen und Konzepte eine semantische Verbindung eingehen, d.h. die eigentliche Konstruktion erfolgt im Symbolfeld29 und hier gelten ja die natürlichen (z.B. evolutionären) Beschränkungen zumindest nicht mehr in strikter Form. Im Endergebnis erzeugt Bosch allerdings eine Komplexität der Symbolbedeutungen, welche die heutigen Interpreten überfordert und
27 Die alchimistische Tradition selbst transportierte viel antikes, am Christentum vorbei über den Islam tradiertes Wissen und wurde deshalb zunehmend als kirchenfeindlich empfunden. 28 Vgl. Helmke (1968), der auf diese Analogie hinweist. 29 Vgl. Bühler (1934/1965: Kapitel 3).
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wahrscheinlich auch die Inquisitoren düpierte, weshalb Bosch zeitlebens ohne Anfechtungen seine Kunst ausüben konnte (und damit reich und berühmt wurde). Im Vergleich zu Bosch ist jedenfalls die Kunst Arcimboldos zwar phantastisch; aber gleichzeitig im Detail realistisch und in der Kompositionstechnik sehr systematisch.30 3.4.2
Arcimboldos Kompositbilder
Eines der frühesten Kompositbilder Arcimboldos hat einen Bibliothekar und Objekte, denen seine Aufmerksamkeit und Pflege gilt, als Thema: Folianten, merkwürdigerweise ohne Titel, ein aufgeschlagenes Buch, den Staubwedel aus Marderschwänzen, die Schere. Die wichtigsten Kompositionsprinzipien sind die folgenden: •
•
Die Gesamtgestalt der geordneten Objekte ergibt die Kontur und Gliederung eines männlichen Oberkörpers; dieser steht für eine Berufsgruppe, charakterisiert (oder karikiert) sie. Der Komposition wird damit eine globale Interpretation verliehen. Die Teile: Bücher, Seidenstreifen, Blätter, Schere, Staubwedel vertreten Körperteile, wie Arme, Oberkörper, Schultern, Kopf (Bücher), Haare (Blätter), Finger (Seidenstreifen), Augen (Schere).
Man kann das Kompositionsprinzip rhetorisch nennen, da metonymische (synekdochische u.a.) sowie metaphorische Beziehungen den Aufbau bestimmen. Den Bildeindruck bestimmt eine humorvolle Aussage: der Bibliothekar verschwimmt in seinem Wesen mit den Objekten seines Berufes (z.B. den Büchern), die ihrerseits ihre Bedeutung (als Vermittler von Inhalten) einbüßen und mit dem Bibliothekar eine symbiotische Beziehung eingehen. Falls das Bild Porträtcharakter hat, was wir nicht wissen, wäre diese Aussage der psychologische Kern des Bildes.
30 Innerhalb der Renaissance-Malerei haben Leonardo da Vinci und Dürer sich besonders intensiv mit der Schilderung von Tieren beschäftigt. Dürer erfand dabei auch Phantasiegebilde vom Typ der Grotesken, die im Gegensatz zu Boschs Gebilden aber eher dekorativ sind. Insofern steht er auch Arcimboldo näher, bzw. letzterer konnte in Wien und Prag die Bildersprache Dürers voraussetzen und darauf aufbauen. Der niederländische Grotesken-Stil bei Bosch und Bruegel wird mit der manieristischen Technik Arcimboldos in den Grotesk-Ornamenten des Nürnberger Zeichners und Goldschmieds Christof Jamnitzer (1563-1618) kombiniert; siehe dessen Werk von 1610: Neuw Grottesken Buch; vgl. Jamnitzer (1610/1966).
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In mehreren Bildserien, die eine ähnliche Kompositionstechnik aufweisen, sind die konkreten und mit viel Akribie und biologischem Realismus gemalten Teile des allegorischen Porträts Pflanzen oder Tiere. Die Allegorien der Elemente Wasser, Erde und Luft enthalten außerdem eine biologische Aussage (das Element Feuer hat keine biologischen Teilkorrelate und stellt eher ein Teillexikon brennender oder zum Feuermachen notwendiger Gegenstände dar). Das Element Erde wird als allegorische Profilfigur dargestellt. Alle Teile, bis auf das goldene Schaffell auf der Brust, das die Zugehörigkeit des Porträtierten zum Orden des „Goldenen Vlieses“ andeutet, sind das Land bewohnende Tiere in verschiedenen Posen. Die Körperteile der allegorischen Figur sind entweder direkt mit denen der Tiere assoziiert, z.B. Elefantenohr → Ohr des menschlichen Gesichts, oder nur durch eine Formanalogie: Maul des Wolfes → Auge, Hase → Nase, Geweih → Haare (Krone?) usw. Das Ganze erscheint als Gestalt erst, wenn die Teile als Hintergrund oder Textur betrachtet werden, d.h. Arcimboldo spielt hier lange vor den Gestaltpsychologen ganz geschickt mit Ambiguitäten in der Wahrnehmung und dem Wechsel von Figur und Hintergrund. Die Komposition erhält einen tieferen biologischen Sinn, wenn man annimmt, dass die (phänomenologischen) Gattungen: Landlebewesen, Wasserlebewesen, Vögel (Luftlebewesen) von der jeweiligen Figur dargestellt werden. Das Gemeinsame dieser Gattungen ist das (aristotelische) Element, mit dem die Gattungen verbunden sind, aus dem sie hervorgegangen sind. Im Rahmen einer aristotelischen Naturlehre repräsentiert das Bild: • •
Das materielle Substrat, die Erde; sie wird allegorisch durch ein Individuum (ein Porträt) wiedergegeben. Die einzelnen Lebewesen, welche den Weltbereich besiedeln, in dem die Erde vorherrscht. Arcimboldo, der auch die Raritätensammlungen des Kaisers verwaltete, also dessen „Museumsdirektor“ war, hat offensichtlich großen Wert auf die Vielfalt und Genauigkeit der wiedergegebenen Tiere und Pflanzen gelegt. So gesehen, stellt jedes Bild eine Enzyklopädie der Fauna oder Flora dar.
Die Homologien verbinden die Körperteile des Porträtierten mit Formen des ganzen Tieres oder dessen Körperteilen. Hier herrscht noch eine klassische HomologieKonzeption (vor Darwin), in der quasi alle Teile des Naturganzen irgendwie homologisierbar sind. In der Allegorie des Elements Wasser werden die Sorgfalt der Teilstudien und die Vielfalt der dargestellten Wasserbewohner besonders deutlich. Das Auge gehört zu einem größeren Fisch im Hintergrund. Die meeresbiologische
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Analyse dieses Bildes in „Arcimboldo Effect“ (1987: 96f) erlaubte die Identifikation von nicht weniger als 62 verschiedenen Arten.31
Abbildung 30: Allegorie der Erde (links) und des Wassers (rechts) (Arcimboldo, 1568) Die Elemente sind ineinander transmutierbar, wodurch die Vielfalt der unbelebten Formen entsteht. Im Anschluss an die moderne Evolutionsforschung kann man sich die Umwandlung von Wassertieren (z.B. Fischen) über die Zwischenstufe der Amphibien in Landtiere (z.B. in Säugetiere) vorstellen, sowie die Umkehrung dieser Umwandlung bei den Meeressäugern (z.B. Delphinen). Landlebende Tiere (z.B. die Saurier) können sich in fliegende Tiere (z.B. später die Vögel) verwandeln. Solche Verwandlungen sind im Rahmen des Aristotelismus im Bereich der „generatio“ und „corruptio“ in der sublunaren Welt möglich und vorstellbar, da Aristoteles eine Erklärung aus dem Entstehungsprozess zulässt. Das schöpferische Moment in der Natur erreicht seinen Höhepunkt in der Kreativität des Künstlers. Arcimboldo stellt deshalb die Phantasie des Künstlers neben die in der Natur wirksamen Schöpfungs-
31 Die Nase ist ein Teil von „Murena, murena, Moray eel“ (ibidem: 96) und das Auge Teil von „ Mola, mola, Ocean sunfish“ (ibidem); das Ohr ist eine „Arca sp., Blood clam; Filibrancus“ (ibidem: 97).
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kräfte oder sogar über diese. Die botanischen Sammlungen und Studien Arcimboldos wirken sich auch auf die Vielfalt der Blumen und Pflanzen in den Allegorien der Jahreszeiten und in der Allegorie der Göttin Flora aus. Wie schon Dürers Zeichenstudien (Grasstück, Kaninchen) und besonders Leonardos Studien zur Anatomie zeigten, hat der Renaissancekünstler auch einen wissenschaftlichen Auftrag, d.h. seine Kunst ist gleichzeitig ein Beitrag zur Wissenschaft. Arcimboldo steht in der Ausgestaltung der Details in der Tradition von Leonardo und Dürer; sein Manierismus kommt in der semiotischen Vielschichtigkeit der Komposition zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu zeigen andere Maler des Hofes in Prag schon frühbarocke Züge (z.B. Spranger, 1546-1611). Einen letzten Höhepunkt erlebt Arcimboldos Kunst im Bild des römischen Gottes Vertumnus, das gleichzeitig ein üppiges Porträt des Kaisers Rudolf II. ist. Durch den mythologischen Bezug auf Vertumnus (ver = Frühling; autumnus = Herbst; verteri = verwandeln) entsteht eine semiotische Aussage, welche Fruchtbarkeit, Erfolg, Fülle, Blüte mit der Herrschaft Rudolf II. verknüpft.
Abbildung 31: Links: Arcimboldos Gott Vertumnus (Ausschnitt), 1591, (Stockholm, Schloss Skokloster); rechts. Rudolf II., gemalt von Joseph Heintz d. Ä., 1594 (Kunsthistorisches Museum, Wien) Beziehen wir die physiognomischen Analysen Della Portas (der dem Hofe von Rudolf II. nahestand, aber Einladungen dorthin nicht folgte) in die Interpretation mit
32 Vgl. zum Entwicklungsgedanken bei Aristoteles und zu dessen Neugestaltung in der Renaissance Cassirer (1963: 19f.).
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ein,33 so sind den Pflanzen bzw. deren Reife und Blüte Eigenschaften zugeordnet, welche auch den Porträtierten charakterisieren. Gleichzeitig wird dieser antikisierend zu einer Gottheit und stellt sich damit in die Reihe römischer Kaisergestalten. Wenn Arcimboldo Fleischpartien des Gesichts mit Hilfe von ganzen Körpern oder Körperteilen darstellt, bewegt er sich innerhalb der aristotelischen Trennung von Homöomerien und Anhomöomerien: Erde und Fleisch sind homöomer,34 die funktional separaten Teile des Gesichtes: Auge, Ohr, Mund usw. sind anhomöomer. In der Wahrnehmung können aber die Teile zu einer farblich, figürlichen Textur werden und sind dann wiederum homöomer. Die zweite Skala, auf der Arcimboldos Kompositionen spielen, ist durch die Gattungen und die Körperteile definiert. Die verschiedenen Landtiere werden (teilweise) zu Körperteilen des allegorischen Individuums. Beide Typen haben unterschiedliche Kontexte, so teilen sich z.B. Wolf und Hase (in typischer Jagd-FluchtPose) eine Ökologie und sind durch einen populationsdynamischen Zyklus verbunden, während Auge (im Bild: Rachen des Wolfs) und Nase (im Bild: Hase) in einem Zyklus der Koevolution oder als Teile einer Embryologie in Verbindung stehen. Als dritte Stufe tritt die Individualisierung, z.B. beim Porträt des Kaisers Rudolf II. auf. 35 Jenseits dieser Struktur von Homöomeren/Anhomöomeren, Gattungen/Körperteilen, Klasse/Individuum gibt es aber Dimensionen des Vergleichs, welche die Eigenschaften der Elemente (warm/kalt, feucht/trocken, leicht/schwer) mit denen der Tiere verbinden36 und weiter über physiognomische Ableitungen mit den Eigenschaften eines Menschen.
33 Vgl. zu della Porta Wildgen (2011: Sechste Studie und sechster Dialog). 34 „Homöomerien (griech. „Gleichteiligkeiten“), gleichartige, ähnliche Teilchen der Urstoffe (nach Aristoteles bei dem Philosophen Anaxagoras). Vgl. auch die Diskussion zu diesem Begriff bei Thom (1988: 156f.). 35 Vgl. die Portraitbüsten von Philosophen durch Eveline van Duyl; dort wird z.B. Erasmus von Rotterdam im Gesicht durch viele farbige Fäden, die auf sein europäisches Netz von Kontakten und die vielen Reisen hinweisen, charakterisiert. Ausstellung im Gerhard Marks Haus Bremen (3. März - 2. Juni 2013) (http://www.denkinseln.de/). 36 Im 19. Jahrhundert wurde die Betrachtung von Gattungen, welche ähnliche ökologische Ressourcen (besonders bei Pflanzen) nutzen, als Synökologie bezeichnet (von Buffon und besonders von Alexander von Humboldt); vgl. Mayr (1997: 185).
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3.4.3
Homologie und Polysemie in Arcimboldos Bildsemiotik
Neben den metaphorisch/metonymischen Umformungen gibt es originäre Bild- Erfindungen. So werden Körperteile variiert und mit neuen Bedeutungen versehen (resemiotisiert). Die Variation betrifft beispielsweise die folgenden Formen: •
•
Das Ohr wird zum sich spitz nach oben öffnenden Maiskolben (der „Sommer“), zur halb (nach hinten!) geöffneten Blume (der „Frühling“), zum rot-weißen Schirm eines Pilzes (der „Herbst“), zum Astloch mit Rinde und Bast (der „Winter“), zum Hals und Kopf einer Gans (die „Luft“), zum weit aufgerissenen Maul (das „Wasser“), zum Feueranzünder (das „Feuer“). Was bleibt als Gemeinsames übrig? Rundung und Öffnung und natürlich die Position im Gestalten-Dreieck: Auge—Ohr—Mund (in der Seitenansicht). Die Pupille ist z.B. eine Öffnung, eine schwarz-braune Beere (im „Sommer“), der aufgerissene Rachen des Wolfs (in der „Erde“), der Docht einer Kerze (im „Feuer“); das Augenweiße ist eine Anemone (im „Frühling“); das Auge gehört zu einem Fisch (im „Wasser“).
Die Variation ist nur zum Teil homolog (etwa das Ohr des Elefanten, das Auge des Fisches), meist ist es abstrahierend: Auge ≅ Öffnung (Mund, Loch), oder partialisierend Auge → Pupille ≅ Beere, Kirsche. Beim Ohr gibt es die Reduktion auf Öffnung, Loch (beim „Winter“), wodurch Ohr und Auge (auch Nase) sich in der Form nähern, es überwiegt die halbrunde Form, z.B. der Muschel (in Seitenansicht), der runden Pilzkappe (der „Herbst“) oder der halboffenen Blüte (der „Frühling“).37 Diese semantische Variation ist nicht rein figürlich, sondern im eigentlichen Sinne semiotisch oder gar sprachlich zu interpretieren. In den polysemen Lesarten von Auge und Ohr (und der anderen Ausdrücke für Körperteile) finden wir ähnliche metonymische und metaphorische Bedeutungsvarianten: • •
Ohr: vgl. Ohrmuschel (äußerer Teil des Ohrs), Nadelöhr (Öffnung). Auge: vgl. Fettaugen (rund), Auge des Taus, Auge der Kuppel, Auge des Orkans (Öffnung, Loch, Zentrum); vgl. zur Polysemie von Auge Wildgen (1999b).
37 Auffällig ist die zweimalige Verwendung der reifen Maisfrucht (als Ohr des „Sommers“ und des „Vertumnus“), obwohl nur ein Faunohr spitz nach oben verläuft; hier mag die Attraktivität der erst im 16. Jahrhundert aus Amerika importierten Pflanze ein zusätzliches Motiv gewesen sein.
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Arcimboldo mischt also teils homologe Varianten, teils lexikalische BedeutungsVarianten und fügt artistische Erfindungen (Kopf und Hals einer Gans als Ohr) hinzu. Seine Phantastik hat aber eine stabile Basis in Homologien, Analogien der Biologie und in der Polysemie der Benennungen für Körperteile.38 Die besondere Herausforderung ist nicht die Variation im Einzelnen (Auge, Ohr, Mund usw.), sondern das Zusammenfügen zu einer Totalität, der sich die transformierten Teile naturgemäß verweigern. So könnte man beim Winter noch daran denken, dass der Künstler ein „objet trouvé“ verwendet (leicht drapiert), wie dies später Marcel Duchamp (1887-1968) tat, siehe seinen Flaschentrockner (1914). Die Konstellation in der Allegorie des Wassers ist zur Not noch als glückliche Augenblickskonstellation in einem überfüllten Aquarium denkbar. Allerdings ließen sich Landtiere und Vögel nicht für den kürzesten Augenblick in die Form eines „Kopfs“ bringen. Die Komposition manifestiert eine gestalterische Gewalt, welche in einen Blumenbild Bruegels oder in einem Stillleben mit Fischen (am Markt oder in der Küche) sorgfältig vermieden wird. Der Hase, der seine Pfote auf die Schulter des Wolfes legt und dessen aufgesperrten Rachen übersieht, ist eine Provokation für alle, die eine Natürlichkeit der künstlerischen Komposition erwarten. Diese kompositionelle Gewalt (ohne polemische Absicht) ist die tiefere Aussage der Bilder Arcimboldos. Der Mensch (Künstler) ist gestalterischer Herrscher über die Natur. Diese Manifestation der künstlerischen Allmacht kann als Bekenntnis zur Autonomie der Zeichengebung, zur semiotischen Selbstwerdung des Menschen verstanden werden.39 Sie manifestiert sich als Phantasie, d.h. in der Herstellung und sinnlich bildhaften Repräsentation des Möglichen aber nicht Aktuellen. Die Phantasie kann, wenn sie zu kollektiven Vorstellungen führt und handlungsleitend wird, eine von der externen Umwelt losgelöste Evolution steuern, die den Menschen und die von ihm gestaltete Umwelt systematisch verändert und damit ein neues Erdzeitalter, das so genannte „Anthropozän“ einleitet, in dem die Gesetze der Biologie von menschlichen Intentionen überformt werden. Semiotische Autonomie
38 Eine maschinelle Variante der Kompositionstechnik Arcimboldos bieten Mosaikprogramme für die Fotomontage am PC. Sie zerlegen ein Bild, z.B. ein Porträt systematisch in kleine Quadratflächen und ersetzen diese Felder durch kleine Bilder, welche ähnliche Farb- und Helligkeitswerte haben. Diese Technik wurde von der Künstlerin Verena Hempel benützt, die grobkörnige Mosaikbilder giftiger Pflanzen darstellt. Bei einer starken Vergrößerung erkennt man die Portraits von Massenmördern als Farbpunkte (vgl. Miksch, 2012: 88-93). 39 Die „dekonstruktive“ Tendenz verbindet Arcimboldo mit den Surrealisten und dem Dadaismus. Vgl. dazu Welchmann (1990).
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und Selbst-Domestikation des Menschen (nach Konrad Lorenz) hängen somit eng zusammen. Ein menschlicher Körper, der aus (in der Natur) inkohärenten Teilen zusammengepflastert ist, könnte durch Gentechnik und Transplantationschirurgie realisierbar werden. Bald könnte ein Schweineohr und ein Mäuserücken zur Gesichtsgestaltung herangezogen werden und arcimboldeske Gestalten würden die Großstädte bevölkern. Semiotische Kernpunkte (Kap. 3) 1. Langlebige visuelle Traditionen sind häufig in zentralen kulturellen Texten begründet, entfalten aber eine eigene Dynamik. Dies hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen: • Raumgliederungen in Abhängigkeit von dem Perspektive-System und der Gestaltung des Raums und seiner Ausstattung. • Gliederung der Gruppe von Akteuren im Bild (2, 3 viele) zu Teilfeldern und deren räumliche Disposition • Variation in der thematische Zentrierung bzgl. der Textvorlage und deren Interpretation (die sich mit der Zeit, besonders nach Revolutionen und Krisen verändert). 2. Das Bild kann durch allegorische oder symbolische Inhalte erweitert werden oder diese zum Hauptgegenstand machen. Das Bild realisiert in diesem Falle eine zweidimensionale Textualität eingebettet in Wissenskontexte. 3. In der Groteske wird das Bild zum Ornament und referiert häufig auf Imaginäres, in der Alltagswelt nicht Existentes. In den Kompositbildern werden indexikalische (Portrait), allegorische und deskriptive Funktionen verbunden. 4. Statische Bildordnungen entsprechen geometrisch regulären Formen, dynamische Bildordnungen einem Vektorfeld von Körperbewegungen, Gesten und Blicken. 5. Komplementär zum Schönen, Angenehmen, Geordnetem gibt es in der visuellen Kunst den Bereich des Hässlichen, Abnormalen, naturhaft Chaotischen oder des Multipersonen-Gewimmels (Wimmel-Bilder).
4. Semiotische Innovationen in der Visuellen Kunst der Moderne
Der Begriff der Moderne in der Kunst ist umstritten. Als Anfang der modernen Kunst werden u.a. genannt: •
•
• •
Die Französische Revolution und deren kulturellen Auswirkungen. Die betrifft den Zeitraum nach der Ermordung von Marie Antoinette und Marat (1793); vgl. Clark (2001: 15). Cézanne und die Anfänge des Impressionismus. Als Datum könnte das Jahr 1862 gelten, als Renoir, Monet, Bazille und Sibley gemeinsam das Atelier Gleyre bezogen. Theoretisch formuliert Baudelaire 1863 den Aufbruch in die Moderne in seiner Schrift: Le peintre de la vie moderne (Der Maler des modernen Lebens; vgl. Hülk, 2012: Kap. 1). Die Anfänge des Kubismus als radikale Abkehr von einer nur darstellenden Kunst. Léger und Picasso betraten diesen Weg um 1912. Schließlich könnte auch der Beginn der gegenstandslosen Kunst als Anfang der Moderne gelten, z.B. mit Kandinsky um 1913/14.
In Anbetracht der Vielfalt technischer und ikonografischer Kontinuitäten und Rückbezüge möchte ich eine präzise Periodisierung vermeiden, aber politisch ist sicher die französische Revolution, deren Ideen durch Napoléon bis 1815 in Europa verbreitet wurden, ein Wendepunkt. Ökonomisch und technisch war die industrielle Revolution, die in England Ende des 18. Jh. die Produktions- und Arbeitsbedingungen veränderte und ab 1815 zu ganz neuen Entwicklungen und Konflikten führte, der Auslöser zahlreicher und tief reichender kultureller Veränderungen. Auch der Sozialismus in Konfrontation mit dem Kapitalismus gehört zu diesem Kontext der modernen Kultur. Grob können wir 1830 bis 1850 als den Zeitabschnitt betrachten, in dem diese Entwicklungen in Europa einen ersten Höhepunkt erreichten. Entsprechend der Zeitverschiebungen in anderen Weltregionen, ist dort die Moderne später anzusetzen oder beginnt gerade erst ihre Wirkungen zu zeigen.
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Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob es ein Ende der Moderne und eine darauf folgende Postmoderne gibt, oder ob wir uns lediglich in einem Kontinuum bewegen, das die Wirkungen der Entwicklungen um 1850 fortschreibt. Ich neige persönlich zu dieser Ansicht, d.h. die Moderne dauert an und wir müssen keine neuere Epoche thematisieren. Manche Autoren sehen in der Wende, dem Mauerfall in Berlin, und der Umgestaltung des Sowjetreiches eine neue Epoche anbrechen. Dem steht entgegen, dass große Teile der Welt (China, Südamerika, Afrika) davon nur am Rande betroffen sind. Die Industrialisierung hat in vielen Weltteilen erst begonnen und es sind Entwicklungen zu erwarten, die mit denen im Europa nach 1850 vergleichbar sind (allerdings einen anderen Kontext haben). Eine charakteristische Tendenz der frühen Moderne in der französischen Malerei, etwa bei Gustave Courbet (1819-1877), ist die Freiluftmalerei. Der Maler verlässt das Atelier und geht mit seiner Staffelei oder seinem Skizzenbuch in die Landschaft, setzt sich Licht und Sonne aus und reagiert auf das dort Gesehene, Betrachtete. Dies taten zumindest zur Übung oder zum Skizzieren auch traditionelle Maler, jetzt wird es aber zum Programm, ja zur Provokation des auf das Atelier fixierten Establishments. Ich gehe von einem zentralen Problem der visuellen Semiotik, der Darstellung von Licht und Landschaft aus.
4.1 L ICHT
UND L ANDSCHAFT AUF DEM W EG ZUR M ODERNE
In Kapitel 1.1.6 wurde als eine der objektiven Prägnanzen das Licht genannt, das unsere Welt allgegenwärtig durchflutet. Auch die Brechung und Absorption des Lichtes gehört noch zur objektiven Prägnanz. Ab der Retina des Auges, den dortigen Verarbeitungsstufen, dem Sehnerv und schließlich den Schichten des Sehzentrums und den sekundären Sehschichten entsteht daraus die subjektive Prägnanz. Sie wird weiter durch Lernprozesse und die visuelle Sozialisation des Menschen geformt. Das Farbsehen ist neben der Wahrnehmung von Hell und Dunkel ein wichtiger Bereich der visuellen Prägnanz des Lichts (Formen und Bewegungen sind ein anderer). Die Welt der Farben in der menschlichen Umwelt ist einerseits durch die Evolution des Lebens (der Pflanzen und Tiere) entfaltet worden, anderseits trägt der Mensch immer mehr selbst zur farblichen Gestaltung seiner Umwelt bei. Bereits in vorgeschichtlicher Zeit hat der Mensch mit der Verwendung verreibbarer Ockerund Beigefarben (auf der Basis von Eisenoxiden) und des Schwarz der Holzhohle farbige Flächen (etwa am eigenen Körper) gestaltet und schließlich hat er eine immer größere Vielfalt von Farben hergestellt und diese in verschiedenen Emulsionen (auf Wasser-, Eiweiß- oder Ölbasis) handhabbar gemacht. Mit den Industriefarben im 19. Jh. wurden schließlich lichtechte und stark leuchtende Farben chemisch er-
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zeugt, welche die Grundlage der Farbwirkung von Werken der Impressionisten und Expressionisten waren. Die Farbenwelt ist also selbst Produkt eines kulturellen Prozesses (vgl. die neuere Entwicklung der Fotografie und des Films in Kap. 7.1, die ebenfalls wesentlich von der technologischen Entwicklung geprägt wurde). Innerhalb der technischen Möglichkeiten musste aber eine spezifische Umsetzung der Farbwelt in Ausdrucks- und Informationsgestalten erfolgen. Aus einer semiotischen Perspektive können wir ikonische, indexikalische und symbolische Aspekte der Farbe unterscheiden: a) Die Farben enthalten eine ikonische Referenz auf prägnante Substanzen und wichtige Objekttypen, welche als Träger dieser Farben hervorstechen. Beispiele: • rot: Blut, Fleisch, reife Früchte • grün: Blätter, Gras, generell Leben (basierend auf der Verwertung von Licht) • blau: Himmel, Wasser (Meer, See), dunkle Tiefe • gelb: Sonne, Sand, Blüten, manche Körpersäfte, Schwefel In der Lebenswelt der Menschen können bestimmte Farben (je nach Klima und Flora) dominieren, außerdem verändert sich die Farbumwelt mit den Jahresund Tageszeiten (vgl. Monets Studien zum Heuhaufen). b) Der menschliche Körper kann durch Färbung auf seinen Zustand verweisen. Rötung bei Sonnenbrand oder starkem Fieber, Blaufärbung bei Erkältung, Frieren. Auch Körperflüssigkeiten und -substanzen haben Farben, die als Index für die Befindlichkeit (Krankheit) gelesen werden können. Augen- und Hautfarbe werden als Hinweise auf die Verwandtschaft oder die Zugehörigkeit zu Bevölkerungsgruppen interpretiert. c) In der Synästhesie können Farben auch mit Lauten und mit Musik assoziiert werden. So sagt Olivier Messiaen: „Vor allem anderen soll meine Musik ein Hören-Sehen vermitteln, das auf der Farbempfindung beruht.“ (zitiert in: Braun, 2006: 15). Kandinsky hat in der platonischen Tradition Farben mit geometrischen Grundformen gleich gesetzt: Dreieck – Gelb, Quadrat – Rot, Kreis – Blau (vgl. zu den Primärfarben in der modernen Kunst, Bürgi, 1988). d) In Signalen, Flaggen, Verkehrsampeln werden Farben konventionell (symbolisch im Sinne von Peirce) kodiert. In der religiösen Kunst kann man Personen anhand der Farbe des Kleides identifizieren (z.B. die Jungfrau Maria). Die Farbsemiotik stellt einen besonderen Bereich der Semiotik dar, der hier nicht umfassend behandelt werden kann. Ich will mich im Folgenden mit der besonderen Rolle von Licht und Farbe beschäftigen und nehme dazu meinen Ausgangspunkt wieder im 16. Jh. (Tintoretto und Caravaggio). Anschließend widme ich mich spe-
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zifischer der Landschaftsmalerei im 18. und 19. Jh., weil dort die Behandlung von Licht und Farbe im Zentrum steht. 4.1.1
Semiotik des Lichtes von Tintoretto bis Rembrandt
Der 1518 in Venedig geborene Tintoretto beginnt die Ausgestaltung der „Scuola di San Rocco“ in Venedig 1564 und arbeitet daran mit Unterbrechungen bis 1587. Ein Blick in den oberen Saal zeigt ein klares geometrisches Grundmuster, in das die Bilder Tintorettos eingefügt sind. An der Decke sind 13 Felder, die Themen des Alten Testamentes behandeln; an den Wänden, zwischen Altar, Eingang und Fensternischen zwölf Bilder aus dem Neuen Testament (davon sind zwei den Heiligen Rochus und Sebastian gewidmet). Der Marmorboden ist geometrisch ausgelegt und hat als Zentrum einen achteckigen Stern im Kreise. Die Verbindung von geometrischem Gerüst (mit reich verzierten Hauptlinien) und bildhaft-thematischen Feldern kann als eine typische Organisationsform der Spätrenaissance bzw. des Manierismus angesehen werden. Aber auch die Bildgestaltung selbst, insbesondere die Beleuchtung, lässt an eine Semiotik des Lichtes denken. Ich will die Behandlung des Lichtes bei Tintoretto und Caravaggio mit Giordano Brunos Überlegungen zum Licht in Zusammenhang bringen. Für Bruno gibt es zwei Arten des Lichtes: das primäre Licht des ersten Schöpfungstages, das unsichtbar ist, aber im „inneren Licht“ der Seele seine Entsprechung hat, woraus sich die Relevanzkonturen der Welt für den Menschen erklären lassen (vgl. auch Kap. 1.1.6 zum Thema Prägnanz). Das äußere Licht bringt durch ein Zusammenspiel von Licht und Schatten die Komposition der vielfältigen Dinge hervor. Er sagt: Dabei ist in der Tat das Licht eine Art Substanz, die an sich unsichtbar, unendlich verteilt und allen Einzelteilen eingemischt ist; diese geht durch eine Beimischung von Dunkelheit und durch eine bestimmte Verbindung und Komposition in das sichtbare Licht über.
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Wenn wir zum Vergleich das „Letzte Abendmahl“ in Abbildung 32 betrachten, so sehen wir, wie der Kopf Christi von einem Leuchten umgeben ist und dadurch trotz der geringen Bildfläche, die er einnimmt, hervorsticht. Im Gegensatz zu diesem Bild tritt im Abendmahl von San Rocco durch zwei Öffnungen des Raumes natürliches Licht ein, welches die Nebenfiguren im Vordergrund und die am Ende der Tafel sitzenden Apostel beleuchtet. Tintorettos Abendmahl-Bilder sind eine from-
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Vgl. Bruno, 1962, Bd. II, 3: 117: „Isti quidem lux substantia quaedam per se invisibilis, per immensum diffusa, partibusque omnibus insita; quae commixtione tenebrarum atque associatione compositioneque certa in lucem sensibilem demigrat.“ Heute möchte man an die Rolle der „dunklen Materie und Energie“ denken.
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me Interpretation der Opposition von innerem und äußerem Licht, wobei die Aura von Christus und den Heiligen für das innere Licht steht (vgl. auch Kapitel 3.1.4).
Abbildung 32: Tintoretto Abendmahl, 1592/94, Basilica di San Giorgio Maggiore, Venedig Ähnlich spezielle Beleuchtungsverhältnisse, die von einer punktuellen Lichtquelle ausgehen, finden wir bei Caravaggio (1573-1610). Auch hier entsteht eine sehr intensive Atmosphäre durch den Kontrast: (viel) Schatten – (wenig) Licht. In dem Bild „Die Berufung des Apostels Matthäus“, Rom 1595 (San Luigi dei Francesi), ist die rechts außerhalb des Bildrandes situierte Quelle des Lichtes auch der Punkt, auf den die beleuchteten Hauptfiguren blicken, denn der zeigende Finger von Jesus kommt aus derselben Richtung. Licht und Aufmerksamkeit (kognitive Relevanz) sind gekoppelt. Obwohl die Atmosphäre durchaus als mystisch empfunden werden kann, ist das wirkende Licht einfacher Art. Vermittelt durch die niederländischen Caravaggisten hat auch Rembrandt diese Technik in seinem Œuvre benützt um dramatische Szenen zu gestalten, so etwa die Blendung des Simson (1635; Städel-Museum, Frankfurt/Main). Das Licht fällt durch einen offenen Vorhang in das Zimmer (die Verräterin Delia flieht mit dem abgeschnittenen Haupthaar Simsons). Der Oberkörper und das Gesicht Simsons, der soeben geblendet wird, sind grell erleuchtet. Das Licht wird in dieser Technik zum bedeutungsgebenden Fluidum, zur wichtigsten Materie des visuellen Erlebnisses. Neben der räumliche Konfiguration und der Einbettung in ein System der Perspektive (vgl. dazu Kap. 3.1) sind die Lichtführung, die Nutzung von Hell-DunkelKontrasten diejenigen Maltechniken, die sich nicht auf ein Sujet beziehen, das
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durch einen Text vorgegeben ist. Als im 20. Jh. das Sujet des Bildes zuerst beliebig und schließlich verzichtbar wurde (in der abstrakten Malerei), traten diese textunabhängigen gestalterischen Funktionen in den Vordergrund (vgl. dazu Kap. 4.3). 4.1.2
Die Struktur und Bedeutungsdimension der Landschaft
Neben der menschlichen Figur und Figurenkompositionen spielen in der graphischen Kunst auch Landschaften und Bauten eine große Rolle.2 Sie sind zuerst Hintergrund einer dargestellten Figur oder Figurengruppe (siehe die bereits analysierten Bilder Leonardos), kommen als Blick durch ein Fenster zur Funktion eines Nebenschauplatzes, der in manchen Fällen durch den Fensterrahmen wie ein Bild im Bild gestaltet ist, und werden schließlich zum Hauptgegenstand der Aufmerksamkeit der Künstler bzw. ihrer Kunden. Die Geschichte dieser Entwicklung soll uns im Folgenden nicht beschäftigen (vgl. dazu etwa Büttner, 2006), es geht vielmehr darum, wie aus der Landschaftsdarstellung eine eigenständige Thematik, eine Bedeutungskonstruktion sui generis wurde. Ich werde dazu lediglich zwei Stadien der Entwicklung exemplarisch herausgreifen: William Turner, dessen Werk später für viele impressionistischen Maler Pate stand (so etwa für Claude Monet in einer Vielzahl seiner Landschaftsstudien) und Vincent van Gogh, bei dem ich das Thema „Gärten“ näher untersuchen möchte. Ein Garten ist nämlich bereits als Landschaftstyp ein vom Menschen gestaltetes „Bild“, das dann im Bild des Künstlers erneut zum Thema gemacht wird.3 Weitere Aspekte der Landschaft werden auch in anderen Kapiteln dieses Buches thematisiert (vgl. z.B. Kap. 8.3). 4.1.3
Landschaftsstimmungen bei William Turner (1775-1851)
Seit etwa 1729 wurde es zur Gewohnheit bei aristokratischen Familien Englands, junge Männer (begleitet von einem Lehrer oder anderen Erwachsenen) in Europa auf die „Grand Tour” zu schicken; dabei stand besonders Italien auf dem Programm. Als Souvenir wurden häufig Gemälde (meist im italienischen Stil) von bekannten Orten mit nach Hause gebracht. Im Verlauf des 18. Jh. entwickelte sich dann ein eigener Stil mit der Thematik des Reisebildes, insbesondere der Land-
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In der Form des Paradiesgartens (ursprünglich ein Palastgarten in Persien: paradeiza) wird der Garten sogar zur zentralen Metapher für religiöse und politische Ideale, für Kultur als kontrollierte und befriedete Form des Zusammenlebens. Diese Metapher kann durchaus auch für van Gogh, der stark religiös motiviert war, wirkungsvoll gewesen sein.
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Das Gestalten von Gärten war im 18. Jh. ein beliebter künstlerischer Zeitvertreib der Adeligen; siehe dazu Goethes „Wahlverwandtschaften“.
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schaftsmalerei.4 Zu nennen sind: Wilson, Gainsborough, Wright of Derby, Cotman, Gertin, u.a. William Turner (1775-1851) begann in dieser Tradition, radikalisierte dann aber seine Darstellung in Richtung auf einen später als frühimpressionistisch bezeichneten Stil, der eher Stimmungen als landschaftliche Details (vgl. Meyer, 1993) und mit besonderer Sorgfalt die wechselnden Lichtverhältnisse wiedergibt. Die Motivation für diese Entwicklung bei Turner beruhte auf einer Entscheidung des Künstlers, die allerdings von seinen Käufern anerkannt und bestätigt wurde. Anstatt einer Postkarten-Identifikation oder der Darstellung folkloristischer Szenen werden Tagesstimmungen, die Landschaft verhüllende Nebel- oder Regensituationen ausgewählt. Später hat Monet nach Turners Vorbild diese Thematik im Rahmen der impressionistischen Bewegung zum Programm erhoben (vgl. Lochnan, 2004). Turners Bevorzugung vager Farbflächen unter Wiedergabe der natürlichen, nicht dem Ideal des blauen Himmels mit Sonnenschein genügenden Szenen wird beim Vergleich zweier, aus unterschiedlichen Schaffensperioden stammender Bilder deutlich.5 Die 1809 gefertigte Darstellung des Genfer Sees (Burg Chillon) ist realistisch und detailreich wie eine Postkarte; das Aquarell von 1841 zeigt ebenfalls den Genfer See und ist ebenfalls realistisch, wenn man an die Situation am frühen Morgen, wenn der Nebel aufsteigt, denkt. Die Details der Landschaft verschwim-
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Die Landschaft im Bild ist zuerst eine Folge der realistischen Perspektive, die als Fluchtpunkt eine Basis, z.B. den Horizont und in dessen Nähe Landchaft oder Meer fordert. Als Nächstes kann die Landschaft in die Erzählung des Bildes eingebettet werden (so bei Leonardo da Vinci in seiner Felsengrottenmadonna; vgl. Kap. 3.1.2). Dann kann die Erzählung so weit zurücktreten, dass die Personen im Bild zum Dekor werden, ihre Geschichte ohne Belang wird. Dies gilt z.B. für das Bild „La tempesta“ von Giorgione (um 1508), für das zahllose, mehr oder weniger unbefriedigende narrative „Lösungen“ vorgeschlagen wurden. Für Cauquelin (2000: 77) löst sich in diesem Bild das erste Mal die dargestellte Szenerie von der zu erzählenden Geschichte. Die Landschaften eines Poussin werden zum Vorbild für die Seherfahrung der englischen „gentry“ (ibidem: 83) und damit zum bevorzugten Gegenstand der englischen Landschaftsmaler. Im Hin und Her der Bilder, Seherfahrungen und Schriften (etwa von Rousseau, Hegel oder Goethe) erhält das visuell-intellektuelle Bild der Landschaft (vgl. ibidem: 84f ) seinen reichen, kulturell verankerten Zeicheninhalt.
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Man mutmaßt, dass Turner zuerst die häufig unangenehme Situation eines langen Arbeitens unter Wind und Sonne verkürzt hat, indem er sich auf das Wesentliche konzentrierte, und diese Arbeitsrichtung dann systematisch perfektioniert hat, ohne dazu ein Programm zu entwickeln. Es genügte, dass sein Publikum, das wahrscheinlich von den Postkartenbildern der „Grand Tour“ ermüdet war, seiner Bewegung folgen konnte.
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men aber (naturgemäß), so dass die Morgenstimmung am See zum eigentlichen Thema des Bildes wird.
Abbildung 33: Genfer See: links: Ufer bei Chillon (um 1809), rechts: Die Mole, der See und die Berge Savoyens, 1841 (vgl. Wilton, 1982: Nr. 13, Nr. 89; British Museum, London) In manchen Bildern wurden äußerst präzise gekennzeichnete Situationen dargestellt, die allerdings Situationen des Chaos, der Gefahr, d.h. keine für Touristen herzerwärmende Urlaubsszenen zeigen. Turner beschreibt die Situation, welche im Bild: Schneesturm (1842, Tate Gallery, London) wiedergegeben wird, wie folgt: Snow storm – Steam boat off a harbor’s mouth making signals in shallow water, and going by the lead.
Es gibt allerdings auch Bilder, in denen theoretische Positionen illustriert werden, so die bild- und farbtheoretischen Ansichten Goethes, der ja gegen die physikalische Farbtheorie Newtons die künstlerische Wahrnehmung und Nützung der Farbe ins Zentrum stellt. So gibt es die Gemälde Licht und Farbe (Goethes Theorie) und Morgen nach der Sintflut (vgl. Selz, 1975 und Seyfahrt, 1996). Wie Leonardo sieht Turner das Chaotische, das Ungeordnete, sich Bewegende in der Natur und reagiert darauf in seinem künstlerischen Schaffen. Diese natürlichen Aspekte kommen seiner eigenen Präferenz für flächige Farbstrukturen entgegen, d.h. es gibt unterschiedliche Aspekte, unter denen der Künstler die Natur betrachten kann, ausgehend von den Konturen, von Licht und Schatten, wie der Zeichner oder ausgehend von den Farbwerten, Farbstimmungen, wie sie ein Aquarellist, der eine gegebene Situation schnell einfangen will, bevorzugt.6
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Zeitgenossen warfen dem späten Turner vor ein „Tüncher“ zu sein, da die Formen in den Farbflächen verschwanden. Die Impressionisten, die ihn eifrig studierten (etwa Monet),
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Gärten und Felder in den Werken van Goghs (1853-1890)
Landschaften, Felder, Bäume sind zuerst die typische Umwelt des bäuerlichen Lebens (gerade für den „Bauernmaler“ van Gogh). Zwischen Himmel und Erde liegen Bauernhäuser, Kirchen, stehen arbeitende Frauen und Männer im Feld. In einzelnen Bildern werden bereits Gärten und Felder thematisiert, so etwa im April 1883, Tulpenfelder und im September 1883, Heide mit Schubkarren (siehe die Abb. in: Walther und Metzger, 1989: 25 und 28). Die thematische Topografie der Bilder besteht aus einem Oben, dem Himmel, einem Unten, der Erde, und einer Zwischenzone, die den Menschen, seine Haustiere, seine Gerätschaften zeigt. Am Meeresgestade tritt zwischen Land und Himmel das Wasser, Menschen auf Schiffen befahren das Wasser und Menschen und Tiere bevölkern den Strand. Das Meer, in dem sich Himmel und Wolken spiegeln, und das vom Wind (Element Luft) bewegt ist, ist ein Medium zwischen Himmel und Erde und darin dem Menschen vergleichbar, aber es hat keine eigene, unabhängige Form, schwankt als endlose Ebene oder sich aufbäumende Welle zwischen Himmel und (zerklüfteter) Erde (vgl. 1882, Strand von Scheweningen bei stürmischem Wetter, ibidem: 21). Berge sind eine andere Zwischenschicht, wenn die Erde eher als flache Ausdehnung in die Tiefe des Raumes gesehen wird; Berge sind begrenzend, verbergen den fernen Horizont, erzeugen Schatten oder scharfe Konturen durch das Licht des Himmels. Ein Bild ist typisch eine rechteckige Fläche, die (meist) senkrecht zum Betrachter (und zum Maler) steht. Es hat also eine Begrenzung oben (Himmel) und unten (Erde).7 Während die Begrenzungen links und rechts eher willkürlich im Sinne eines Ausschnittes sind, ist die Oben-Unten-Struktur semiotisch grundlegend. Sie ist Ferne (Himmel) und Nähe (Erde); Unendlichkeit, Freiheit, Ewigkeit stehen gegen Enge, Eingrenzung, Hier und Jetzt. Diese Basis der Bildaussage ist nicht spezifisch für van Goghs Bilder. Für seine Kunst ist die Radikalisierung dieser Grundkräfte und Oppositionen charakteristisch und dies lässt sich am Beispiel der (gemalten) Obstgärten und Felder zeigen. Bäume sind Teile der Kulturlandschaft, ob als Pappelallee (in Nuenen 1884 gemalt; vgl. die Abbildungen ibidem: 50 f.) oder als Teile des Pfarrgartens (1885 gemalt; vgl. ibidem: 77). Häufig bleiben sie ein Nebendekor zu Haus oder Feld. Eine Serie von in Nuenen 1885 entstandenen Bildern bringt bereits die Bäume ins thema-
beanstandeten, dass zwar die Farbe lebendig wiedergegeben sei, es fehlten aber die Schatten. 7
Die Zwischenzone, die Himmel und Erde verbindet, kann außer durch Menschen, durch Gebäude, Wagen, Brücken usw. thematisch belebt werden. Statt des Meeres, können Teiche, Gewässer, Eisflächen eine Vermittlung leisten.
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tische Zentrum, Personen und Gebäude werden zu Randerscheinungen. Im Bild „Herbstlandschaft“ (1885; ibidem: 131) sind die Bäume, die flachen Sträucher, die zentrierten Stämme, die reich nuancierten Farbflächen der Baumkronen die Hauptsache; Boden und Himmel bilden Vorder- und Hintergrund. Der Baum verbindet besonders in der Gestalt des senkrechten Stammes die flache Erde mit der Himmelsfläche, der Rhythmus der Senkrechten bringt Bewegung und Musik in beide Ebenen, Himmel und Erde, und gestaltet deren einfachen Grundakkord. Im Detailausschnitt sind Baumkrone, Ast, Blatt, Blüte (Frucht) darstellbar und deren Veränderung erzählt den Gang der Jahreszeiten. Als Fläche ist die Baumkrone eine ebenso schwierige Herausforderung des Malers wie die Wellen oder der wolkenbewegte Himmel; die Lichter spielen auf den Blattflächen und die Vielzahl der (bewegten) Teilflächen sträubt sich gegen eine Wiedergabe auf der zur Einheit zwingenden Malfläche. Die Impressionisten hatten das Phänomen des bewegten Lichtes, des Flirrens und Flimmerns der Farbnuancen, der Licht- und Schattenflächen in praxi analysiert und dafür eine eigene Bildersprache geschaffen, die im Pointillismus ihre radikale Endposition, den Verzicht auf die Fläche, erreicht. Einige Bilder van Goghs in seiner Pariser Zeit (1886-1888) kommen dem Pointillismus sehr nahe,8 so die Stadtbilder „Blick auf Paris aus Vincents Zimmer in der Rue Lepic“ (1887; ibidem: 222 und als Variante: 223). Aber schon das Bild „Gemüsegärten am Montmartre. La Butte Montmartre“ zeigte deutlich, welche Vorzüge der Strich als Grundeinheit gegenüber dem Punkt bringt. Er erzeugt gerichtete Flächen sowohl am Himmel als auch auf der Erde, Wege, Abhänge, Zäune und Parzellen. Eine große Anzahl von Bewegungen, gerichteten Kräften, Barrieren kann in der Landschaft sichtbar gemacht werden und dies wird für die Thematik der Felder von grundlegender Bedeutung. Gleichzeitig vermittelt der Strich die Bewegungsrichtung und -energie des Malers. Sein Krafteinsatz bei der Übertragung seiner Emp-
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Der Pointilismus (auch Divisionismus oder Neo-Impressionismus genannt) von Georges Seurat (1859-1891) und Paul Signac (1863-1935) benützt die nachimpressionistischen Farbtheorien von Eugène Chevreul (1786-1889) und setzt sie mit wissenschaftlicher Akribie um; siehe das Gemälde von Seurat: Ein Sonntagnachmittag auf der Insel Grande Jatte, 1886, Art Institute of Chicago, und die lockere Studie von Signac, An der Seine bei Samois, 1899, Neue Pinakothek, München. Chevreuls Farbkreis geht von den Farben: Rot, Gelb, Blau und 23 Mischfarben aus. Experimentell ermittelte er die maximalen Farbkontraste.
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findung auf die Leinwand wird sichtbar gemacht und damit auch sein semiotischer Zugriff auf die Landschaft, auf Teilflächen, Wege, Hindernisse in ihr.9 Das Thema der blühenden Bäume erhielt bei van Gogh einen entscheidenden Impuls aus der japanischen Kunst. Im September – Oktober 1887 malt er (nach Hiroshige) einen Obstgarten, der zeichnerisch von den scharfen Konturen der noch blattfreien Stämme und der Wolke der Blüten (im Vordergrund auch durch den Kontrast zwischen nacktem, dunklem Ast mit Linienstruktur und runder, heller Blüte) geprägt ist. Roter Himmel und grüne Wiese bilden den Hintergrund (quasi das Farbenspektrum: Rot, Blau und Gelb), das Blütenmeer wirkt wie eine eigene Zwischenwelt in Gold und Gelb, die Himmel und Erde bindet und gleichzeitig trennt. Die thematische Selbstständigkeit der Blüte als ephemeren Übergang zwischen Erde und Himmel zeigt van Goghs Bild „Blühender Mandelzweig in einem Glas“ (Anfang März, 1888, Arles; ibidem: 313). Als Erde dient die Tischfläche, der Horizont ist ein roter Strich, der Himmel eine Wand. Die in Arles bald nach van Goghs Ankunft einsetzende Baumblüte ist Anlass für zahlreiche Bilder, die durch die Linienkonturen von Stamm und Ast und durch die zur Fläche verschwimmenden zahllosen Blüten charakterisiert ist. Die Blütenfläche, welche das filigrane Gerüst der Zweige überdeckt, wird zum eigenen Topos, zur rhythmisch pulsierenden Farbfläche. Dieser Rhythmus wird auf die Wiesenfläche, die Zaunflächen und vorerst noch zaghaft auf die Himmelsfläche übertragen. Die Raumtiefe bleibt erhalten oder ist angedeutet in den Begrenzungen des Obstgartens (vgl. „Blühender Pfirsichbaum“, Arles, 1888; ibidem: 318) und „Obstgarten mit blühenden Pflaumenbäumen“ (Arles, April 1888; ibidem: 334 f.). Das Blütenmeer, wie es in van Goghs Wiedergabe von Hiroshiges Druck am deutlichsten zum Ausdruck kommt, ist wie das richtige Meer sowohl farblich als auch auf seine Konsistenz bezogen ein Band zwischen Erde und Himmel. Die Blüten scheinen schwerelos wie die Wolken oder die Schaumkämme der Wellen. Sie nähern sich dem Weiß des Lichtes oder sind strahlend gelb wie die Sonne. In ihrer Schwerelosigkeit kontrastieren sie mit den vom statischen Stamm ausgehenden Adern der Zweige. Während die dunklen Zypressen (vgl. „Blühender Obstgarten von Zypressen umgeben“, Arles, April 1888; ibidem: 329) in den Himmel stechen und die horizontalen Bänder von Wegen und Wiesen auf der Erde quasi ins Senk-
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Auf den spezifischen Strichstil van Goghs verweist auch Gombrich (2004: 308f), indem er eine Kopie nach Millets „Kornfeld“ durch van Gogh (1890) mit dem Original von 1867 vergleicht. Die Mikrostrukturen der Handbewegung charakterisieren von Goghs Arbeitsstil, obwohl er eine exakte Kopie der Vorlage Millets angestrebt hat. Die Motorik der Hand ist eine wesentliche Komponente der malerischen (und bildnerischen) Arbeit.
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rechte heben, sind die blühenden Bäume Zwitterwesen. Die Verzweigung der Stämme bis zur Auflösung der Linie in den Blüten zerstreut, zerfasert den senkrechten Duktus, lässt ihn verpuffen. Man könnte sagen, dass van Gogh in dieser Phase die zeichnerische Strenge, die Dominanz von Kontur und perspektivischer Raumkonstruktion zwar nicht ganz aufgibt aber stark zurückdrängt. Die fast brutale Gegenüberstellung von Linie und Fläche (im Raum) bei Hiroshige mit der Nahsicht durch die Bäume im Vordergrund variiert van Gogh später in: „Blühender Obstgarten mit Blick auf Arles“ (Arles, April 1889; ibidem: 487), die Verzweigungsrhythmen der Stämme und Äste nimmt er in Bildern von Olivenhainen in St. Rémy (1889; ibidem: 311, 526, 532) wieder auf. In diesem Stadium seiner Kunst (vielleicht auch seiner Stimmung, seiner Krankheit) übertragen sich die irregulären Windungen des Ölbaums nicht nur in die Blätterkrone der Bäume, auch Erde und Himmel greifen die aufgewühlte Bewegung auf. Die Bildfläche wird quasi vom Bewegungsmoment in den Ästen erfasst, dieser wird zur Formdominante des ganzen Bildes. Eine ähnliche Totalisierung des Linien- und Farbmusters in der thematisch dominanten Bildzone ist auch in anderen Bildern, insbesondere in van Goghs Feldern, zu beobachten. Die Erde im Vordergrund, die in der frühen Phase (in Millets Tradition) von Bauern bearbeitet wird, die Wiese, auf der die Obstbäume stehen, oder das Unterholz eines lichten Waldes, sie alle können zum Hauptthema werden. In einem frühen Bild „Tulpenfelder“ (1883; ibidem: 25) sind die streng geordneten, den Fluchtpunkt am Horizont anstrebenden Tulpenfelder das Hauptthema. Hier waltet noch menschliche Zweckordnung. Die „Gemüsegärten am Montmartre“ aus der Pariser Zeit (1887) dienen zwar menschlichen Zwecken, erscheinen dem Maler aber zusammen mit Hütten und Zäunen nur noch als schwach geordnete Farbflächen, deren Komposition mehr dem Auge des Malers als den Zwecken der Schrebergärtner zu entspringen scheint. Ein besonderer Typus von Landschaftsmalerei betrifft die Winterlandschaften, bei denen die Palette wegen des trüben Wetters und des Schnees auf den Feldern meist stark eingegrenzt ist. Van Gogh hat 1888 eine Winterlandschaft gemalt. Da die Farbenvielfalt auf natürliche Weise reduziert ist und das Licht fahl ist, kommt der Strich-Textur eine besondere Bedeutung zu.
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Abbildung 34: Van Gogh, 1888, Landschaft im Schnee, Guggenheim, New York Unter der Sonne des Südens, Arles im Juli 1888, werden die blühenden Bänder eines „Blumengartens“ (ibidem: 380) oder ein „Blühender Garten mit Pfad“ (ibidem: 383) thematisch dominant. Der grüne Himmel, ein von flachen Häusern und Zypressen markierter Horizont, machen kaum 15% der Bildfläche aus. Wie van Goghs gleichzeitige Tuschzeichnung deutlich macht, geht es in der Hauptsache um eine Textur von Linien, Punkten, Kreisen mit schwacher Tiefenwirkung. In der farbigen Gestaltung sind horizontale Bänder (Beete) und sich durchdringende Musterteppiche auszumachen. Der Garten wird zum Teppich, die rhythmische Wiederholung von Farben und Formen wird zum zentralen Thema. Diese auswuchernde Generierung von Mustern wird nur durch Wege, Mauern und Beetabgrenzungen gebändigt. Die Landschaft bleibt vom Menschen domestiziert, obwohl die Farbigkeit und die Formenvielfalt der Blumen und Pflanzen diese Domestikation zu durchbrechen drohen.10 Die Gärten, als hausnah eingepferchte Natur, haben als freie „Geschwister“ die Felder. Als Ebene (z.B. „Die Ebene“ „ La Crau “ bei Arles mit Montmajour im Hintergrund, Arles 1888; ibidem: 347) mit Erntewagen und arbeitenden Bauern, von
10 Der Konflikt von Artefakt und Natur, Mauer und Feld mag für van Gogh ein Merkzeichen für die eigene psychische Befindlichkeit gewesen sein; gleichzeitig handelt es sich aber um einen existentiellen Konflikt des Menschen überhaupt, den van Gogh erlebt und im Bild darzustellen versteht.
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Bergen gegen den Himmel abgeschirmt, machen die Felder, besonders zur Erntezeit, einen sehr disziplinierten Eindruck. Erst in der Nahsicht als „Grasbüschel“ (Arles, April 1889; ibidem: 492) oder „Wiese mit gelben Blumen“ (April, 1889; ibidem: 493) wird die Freiheit der Natur, ihre Selbstordnung wieder sichtbar. In der Anstalt St. Rémy malt van Gogh zuerst Garten- und Hofmotive, dann mehrfach ein Feld innerhalb der Mauern der Anstalt und schließlich offene Felder. Sein Bild „Felder mit Mohnblumen“ (St. Rémy, 1889; ibidem: 513) hat begrenzende Linien (links den Weg, rechts das Haus), einen Fluchtpunkt, aber keinen klaren Horizont (der Himmel scheint ebenso flach zu sein wie die Felder). Die Landschaft liegt wie ein ausgerollter Teppich zu Füßen des Betrachters. Der nur grob ausgeführte obere (hintere) Randbereich bringt die Aufmerksamkeit zurück auf die von Mohnblumen gesprenkelten Felder im Vordergrund. Das Bild ist erdgebunden. Spätere Bilder in St. Rémy zeigen Himmel und Berge in wallender Bewegung begriffen („Weizenfeld mit Zypressen, Anfang September 1889; ibidem: 544) oder sie bringen Sonne, Mond und Sternenhimmel ins Bild (die Sonne liegt normalerweise nicht im Blickfeld des Betrachters, da sie ihn blenden würde). Diese Belebung des Himmels durch die natürlichen Lichtquellen dominiert bald auch die Struktur und Farbgebung der Landschaft.
Abbildung 35: Felder mit Mohnblumen, Saint-Rémy, Juni 1889, Kunsthalle Bremen Im September 1889 malt van Gogh ein „Weizenfeld hinter dem Hospital Saint Paul“ (ibidem: 554), das ganz in Gold getaucht ist und selbst den Schnitter farblich schluckt. Die Sonne, die tief am Himmel steht, ist ihrerseits von einem Strahlenfeld
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umgeben, d.h. das Muster des von der Sonne beschienenen Feldes mit seiner natürlichen Wellenbewegung greift auf den Himmel über, an dem die Sonne steht. Im November 1889 malt van Gogh in St. Rémy „Olivenbäume mit gelbem Himmel und Sonne“ (ibidem: 575). Das ganze Bildfeld: Himmel, Erde, Olivenhain und ferne Berge, wird vom Rhythmus farbiger Striche, die wellenförmig die Fläche strukturieren, ausgefüllt. Welche Kraft diese Art von Mustern generiert, bleibt offen: Ist es die Sonne mit ihren Kreisbögen, sind es die Olivenbäume und ihre gebogenen Äste oder der (gepflügte) Boden unter den Olivenbäumen? Dass dieses Bild keinen spontanen Eindruck und keine ortsgebundene Stimmung wiedergibt, zeigt das Bild „Zypressenweg unter dem Sternenhimmel“ (im Mai 1890 in Auvers-sur-Oise gemalt; ibidem: 632). Sieht man von Haus, Weg und Personen ab, besteht das Bild aus vier durch die Einheitlichkeit der Strichbewegungen zusammengehaltenen Teilfeldern (von oben nach unten): • • • •
dem Himmel, der durch rotierende Strichführungen mit den beiden Zentren Mond und Gestirn zusammengehalten wird; der Straße, die sich wie ein Fluss von der Mitte rechts nach links unten (dies ist gleichzeitig auch die Fahr- bzw. Gehrichtung der Figuren) bewegt; dazwischen als Keil ein Feld, eingesäumt oben von angedeuteten Bergen und unten von einem grünen Straßenrand; in der Mitte des Bildes in steil senkrechter Bewegung ein paar Zypressen.
Insgesamt gelingt es van Gogh, in diesem Werk das ganze Bild einheitlich unter die Rhythmik der Strich-Vektoren zu zwingen. Er macht sich dabei die magische Mondstimmung zu Nutze, d.h. diese Einheitlichkeit hat durchaus noch einen realistischen Hintergrund. Es handelt sich somit nicht um eine Form der Abstraktion unter einem vorgefassten Gestaltungsprinzip.11 Das Thema Felder wird in Auvers-sur-Oise in weiteren Bildern ausgeführt. Im Juni 1890 malt van Gogh „Die Ebene von Auvers“ (ibidem: 670 f.). Wie bereits in dem „Feld mit Mohnblumen“, gemalt in St. Rémy, gibt es eine dominante Bewegung der Felder. Der Himmel und damit der Horizont sind nur noch eine Farbmauer für den Felderteppich. Nur der Vordergrund ist farblich variabel ausgefüllt, so dass das Bild eine deutliche Staffelung hat:
11 Vgl. auch das Nachtbild „Die Sternennacht (Zypressen und Dorf)“, gemalt in St. Rémy, Juni 1889, mit vielen Himmelskörpern und Spiralfeldern am Himmel (ibidem: 520 f.).
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das untere Drittel mit angedeuteten Blumen, mit roten Flecken (Mohn), das mittlere Drittel mit der Bewegung der gelben Flächen und der Furchen nach hinten, ein eher monotones Abschluss-Band hinter dem Horizont.
Im Juli 1890, an dessen letzten Tag van Gogh zu Grabe getragen wurde, malte er das Bild „Weizenfeld mit Raben“ (ibidem: 690 f.). Das Weizenfeld in groben Strichen und ein grün gesäumter Weg, der sich hindurchschlängelt, bilden etwa 60% der Fläche, ein blauer bis schwarzer Himmel füllt die oberen 40% aus. Quer zu diesen waagerechten Farbbändern fliegen die Raben in den dunklen Himmel. Leben (Kornfeld) und Tod (dunkler Himmel), Weg im Kornfeld und Abflug in den Nachthimmel sind die der Dichotomie von Leben und Tod eingewobenen Bewegungen.12 Zwei weitere Weizenfelder, die van Gogh im Juli 1890 in Auvers-sur-Oise gemalt hat, haben weniger Todessymbolik (die aber eher eine post-mortem Interpretation darstellt), zeigen aber klar den Kontrast von heller Erde und dunklem Himmel (ibidem: 693). Neben vielen Motiven, die den Bauernmaler van Gogh (so verstand er sich zuerst) beschäftigten, bilden die beiden Komplexe: Baum – Baumgruppe (ob als Obstbaum, Olivenhain oder als Zypressen-Gruppe) und Garten – Feld – FelderEbene eine zentrale Themengruppe. In diesen Themenfeldern konnte van Gogh grundsätzliche künstlerische und existentielle Inhalte gestalten. Bäume vermitteln (wie die Meeresbrandung oder die Berge) zwischen Himmel und Erde. Sie bieten die Gelegenheit, diesen Grundgegensatz vielfältig zu gestalten. Der Baum als Obst- oder Olivenbaum hat in den Verzweigungen seiner Äste, in der Aufwärtsbewegung der Äste und Zweige eine Dynamik, die zum bildnerischen Ausdruck drängt und als Quelle eines Gestaltgenerierungsprozesses werden kann, der im Werke von Goghs schließlich die ganze Bildfläche beherrscht. Felder sind im Gegensatz zu Bäumen (aus der mittleren Perspektive des Menschen) eher flächenbildende Strukturen. Ihre Dynamik gleicht der von Flüssigkeiten und die Bewegung des reifen Korns oder der hohen Wiese im Wind vermittelt den Eindruck des Fließens in der Landschaft. Der Himmel kann in seinen Wolken als vom Winde bewegt angesehen werden, elementarer aber ist die Bewegung des Lichtes relativ zu seinen Quellen: Sonne, Mond und Gestirnen (bei Nacht). Dadurch kommt der Himmel einerseits in die Nähe baumartiger Gebilde (die Wolken als Baumkrone), andererseits zu feldartigen
12 Meyer-Schapiro (1952/1981: 97 ff) bringt diese Bilder in Beziehung zu brieflichen Äußerungen van Goghs und zu seiner Krankheit.
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Fließbewegungen. Diese Wahrnehmung bzw. Tiefenanalyse einer bildnerischen Wahrnehmung dokumentieren besonders die späteren Bilder van Goghs in St. Rémy und Auvers-sur-Oise. 13 In der Moderne, im Kontext von Industrialisierung und Verstädterung hat die Landschaft mit Feldern und Gärten aber auch eine soziale Bedeutung. Die Maler und deren bürgerlichen Kunden gehören mehrheitlich jener sozialen Gruppe an, die das Land verlassen hat, in der Stadt aufgewachsen ist und das Elend der Landarbeit hinter sich gelassen hat. Gegen Ende des 19. Jh. gibt es dann eine NostalgieBewegung „Zurück aufs Land“, die u.a. die Worpsweder Maler-Gruppe um Otto Moderson hervorgebracht hat. Dessen junge Frau Paula Moderson-Becker (sie starb mit 31 Jahren) versuchte diese zurückgezogene „heile“ Welt nach ihrem ParisAufenthalt für die französische Moderne (Cézanne und die Folgen) zu öffnen und gleichzeitig den Blick auf die soziale Wirklichkeit zu schärfen (siehe die Bemühungen von Zola und später Picasso in diese Richtung und zur Worpsweder Landschaftsmalerei Wedewer, 1978: 185f.). Auch die an die französischen Wilden („Fauves“) anknüpfenden Expressionisten suchten den Kontakt zur ländlichen Welt, so Nolde, Macke, Münter, der frühe Kandinsky und später Korinth in seinen Landschaftsbildern vom Walchensee. Landschaftsbilder waren gleichzeitig Kompositionen von leuchtenden Farbflächen; bei Kandinsky führt der Weg von da aus in die abstrakte Malerei. Im 20. Jh. verliert das Sujet Landschaft die zentrale Rolle, die es im 19. Jh. gespielt hatte. Ein Merkmal der Moderne ist auch das hohe Maß an theoretischer Reflexion, das geschärfte Bewusstsein von Traditionen, denen man verpflichtet ist oder die es zu überwinden gilt. Damit geht eine immer wieder neue Anbindung an die Wissenschaften einher, insbesondere die Wissenschaft des Sehens oder die Materialwissenschaft (Farben, Materialen und Techniken der Formung und Gestaltung). In jüngster Zeit wird die Kunst immer stärker in die Medienproduktion und die elektronischen Medien integriert. In gewisser Weise sehen wir die Tendenz der zunehmenden wissenschaftlichen (und philosophischen) Reflexion bereits bei Leonardo oder Dürer. Sie ist aber in der Moderne wesentlich ausgeprägter, was mit der
13 Van Gogh hat in den besprochenen Werken vor der Natur, also nicht im Atelier gearbeitet. Im Atelier kann der Künstler Skizzen aber auch Bilderinnerungen zusammenfügen und damit fiktive Landschaften malen. Dies war vor der Entdeckung der Freiluftmalerei im 19. Jh. wohl der Normalfall. Aktuell werden fiktive Landschaften in Film, Computersimulation oder in sozialen Netzwerken aus Fragmenten bekannter Landschaften zusammengesetzt (vgl. die Landschaften im Second Life Netzwerk).
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ökonomischen und technischen Gesamttendenz der Moderne zusammenhängt, die ich oben skizziert habe. Die Reflexivität und Selbstbezüglichkeit in der Kunst der Moderne werde ich anhand einiger Arbeiten von Picasso und Dali diskutieren. Der Weg dorthin führt über die Kunst des 18. Jh. Deshalb setze ich bei zwei Gemälden von Velasquez und Vermeer an, die jeweils den Maler bei seiner Arbeit und sein Modell zeigen.
4.2 R EFLEXION UND M ETAREPRÄSENTATION IN DER M ALEREI Ich möchte die Bezeichnung metarepräsentative Kunst auf künstlerische Produkte einengen, die mindestens zwei Ebenen der Gestaltung und der Interpretation aufweisen. So ist ein Selbstporträt zwar selbstreferentiell aber nicht wirklich metarepräsentativ, da es nur den Maler des Bildes zeigt; die Tatsache, dass er vor einem Spiegel sitzt und ständig zwischen der Betrachtung des Spiegelbildes und des sich entwickelnden Bildes hin- und her schwenkt, kann man eventuell dem dargestellten Blick im Bild entnehmen; der Selbstbezug bleibt aber implizit, er ist nicht Gegenstand der Darstellung.14 Ebenso ist der Rahmen des Bildes, der uns darauf hinweist, dass hier die Grenzen des vom Maler gewählten Bildausschnittes liegen und der somit auf dessen Eingriff in das mögliche Gesamtbild verweist, nicht metarepräsentativ, denn auch der Blick durch ein Fenster weist eine Rahmung auf. Wichtig ist somit, dass der Maler und der Akt des Malens im Bild selbst dargestellt sind; in diesen Fällen wird einerseits das Sujet dargestellt, das der Maler wiedergibt, andererseits wird er selbst im Akt des Malens oder des Betrachtens des Sujets wiedergegeben.15 Ich werde zuerst zwei klassische Ölbildnisse, eines von Jan Vermeer van Delft (so wurde er genannt; 1632-1675) und eines von Diego da Silva y Velasquez (1599-1660) analysieren. Sie gehören in etwa der gleichen Epoche an, obwohl sie in unterschiedlichen nationalen Traditionen stehen, die allerdings nicht unverbunden sind (über die Habsburg-Lande einerseits und den Katholizismus andererseits).
14 Die Tätigkeit und Augenhaltung des Portraitmalers wird von Jean Baptist Reiter (18131890) in seinem Selbstbildnis mit Modell (Historisches Museum der Stadt Wien) wiedergegeben; allerdings mit Bezug auf das Modell, das in Rückenansicht gezeigt wird und das er in Frontansicht malt. 15 Ein klassisches Thema der religiösen Kunst ist die Darstellung des Patrons der Maler, des Evangelisten Lukas, wie er die Muttergottes mit dem Jesuskind malt. Siehe etwa die Darstellung durch Rogier van der Weyden: Der Evangelist Lukas portraitiert die Madonna (um 1440; Museum of Fine Arts, Boston).
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Die flämische Malerei wurde nach dem Manierismus zu einem Zentrum malerischer Innovation. Diese hatte neben technischen Neuerungen auch eine reflexive Dimension, die besonders bei Rembrandt und Vermeer zum Vorschein kommt. Rembrandt malt den Künstler in seinem Atelier, wohl beim Zurücktreten und Betrachten der Leinwand aus einiger Entfernung; siehe: Rembrandt: Der Künstler in seinem Atelier (1626–1628, Boston, Museum of Fine Arts). Bei Vermeer sehen wir dagegen den Künstler beim Arbeiten, wir sehen sein Modell und auch ein Eck der gerade in Arbeit befindlichen Zeichnung. Das Bild, das gezeichnet wird, ist aber eindeutig nicht dasjenige, das in toto dargestellt wird, d.h. das Bild ist nur selbstbezüglich in Bezug auf einen Teil des Sujets.
Abbildung 36: Vermeer: Die Malkunst oder: Allegorie der Malerei (1673, Wien, Kunsthistorisches Museum). Auf den ersten Blick fügt sich das Bild Vermeers in die Serie seiner Interieur-Bilder ein, die er vorher angefertigt hatte. Wenn wir jedoch annehmen, dass der Maler in Rückenansicht Vermeer selbst ist, so stellt sich dieser selbst als Malender dar.16
16 Diese Annahme ist umstritten. Jedenfalls wird der Akt des Malens im Bild thematisiert. Weitere allegorische Bedeutungen insbesondere bei der Ausstattung des Modells (Trom-
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Außerdem ist auf der Staffelei des Malers ein Bild partiell sichtbar, auf dem Haar und Lorbeerkranz des Modells zu sehen sind. Der Maler malt zwar nicht das Bild, das wir vor uns haben, aber eine Studie zu diesem oder einem anderem Bild mit diesem Thema und diesem Modell. Die Selbstreferenz im Bild ist also zweifach gebrochen: erstens ist der Maler nicht eindeutig als Vermeer identifizierbar, da wir ihn nur von hinten sehen, zweitens ist das Bild, das im Bild gemalt wird, nur teilidentisch mit dem Bild selbst. Man kann also von einer gebrochenen oder einer partiellen Metarepräsentation sprechen.17 Das Bild von Velasquez stellt zwar eindeutig den Maler Velasquez beim Malen eines großen Tafelwerkes dar; ob dieses Tafelwerk aber jenes ist, das wir (fertig gestellt) vor uns haben, bleibt offen. Es könnte ein ganz anderes oder wie bei Vermeer nur in Teilen mit dem hier wiedergegebenen Bild identisch oder thematisch verwandt sein. Im Eingangskapitel seines Buches: Les mots et les choses hat Foucault versucht, das Rätsel dieses Bildes zu lösen, das den Titel: Las Meniñas trägt und eine Prinzessin umgeben von einem kleinen Hofstaat zeigt, wie sie den königlichen Eltern, die nur im Spiegelbild am Ende des Raumes sichtbar werden, ihre Garderobe vorführt. Das Eigenartige dieses Bildes hängt aber weniger damit zusammen, dass Velasquez sich selbst mit in Szene setzt; es hängt vielmehr damit zusammen, dass fast alle Augen auf etwas gerichtet sind, was sich in der Position des Betrachters dieses Bildes befindet und deshalb im Bild nicht auftreten kann. Dieser Zielpunkt wird aber durch den Spiegel am Ende des Raumes in einer Weise inszeniert, welche lange Diskussionen über die Möglichkeit einer solchen Konstellation ausgelöst hat.18 Sowohl die Betrachtung der Szene durch die nur indirekt wiedergegebenen Eltern, als auch die Tatsache, dass die dargestellte Gruppe sich gerade vom Maler abwendet, ihm also den Rücken zukehrt, kompliziert die Interpretation und macht sie zu einem intellektuellen Experiment des Malers. In Bezug auf den Maler der Szene muss die Gruppe im Vordergrund in der Originalposition mit dem Rücken zum Betrachter Modell gestanden haben, denn in der Position des Malers steht
pete, Buch, blaues Kleid usw.) kommen hinzu; siehe zu allegorischen Bedeutungen die Kap. 3.3, 3.4 und 9.2.3. 17 Die Metarepräsentation kann auch das Medium wechseln. Dies zeigt ein Foto von Heinrich Traut, das den Maler Franz Stuck in seinem Atelier wiedergibt. Er steht mit Palette und Pinsel vor einem Gemälde, das ihn ebenfalls mit Palette und Pinsel zeigt, neben einer Frau, die er gerade malt. Vgl. Danzger u.a. (1996: 33). 18 In dem Bild Arnolfini-Hochzeit von Jan van Eyck (1434) befindet sich an der hinteren Wand ein Konvexspiegel, der das dargestellte Paar von hinten und dazwischen zwei Personen in der Position des Bildbetrachters zeigt.
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im Normalfall der Betrachter. Mit der Hereinnahme des Spiegelbildes an der Wand und des Blickes von Velasquez, der noch den Pinsel führt, auf das Herrscherpaar ergibt sich eine rätselhafte Bildkonstruktion mit Bezügen, welche über das Dargestellte hinausweisen. Dadurch ist das Gemälde mehrschichtig und metarepräsentativ.
Abbildung 37: Las Meninas von Velasquez (1656, Museo di Prado, Madrid; 276 x 318 cm) Der Einsatz eines Spiegels zur Betrachtung der dargestellten Szene und seiner selbst ist im Bild von Velasquez nicht wahrscheinlich. Dagegen wird im Bild ein
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Spiegel dargestellt, der die Situation vervollständigt und somit kommentiert.19 In ähnlicher Weise ist es nur schwer vorstellbar, wie Vermeer mit Hilfe eines Spiegels seine Rückenansicht beim Malen gestaltet haben könnte. Im Bezug auf das Selbstporträt von Velasquez im Bild ist es sicher nicht so, dass er gleichzeitig beim Malen der Szene in einen Spiegel geschaut hat, um sich selbst zu malen. Es ist wahrscheinlich, dass er separat einen Spiegel zum Selbstporträt benützt hat und dann das Ergebnis in das Bild eingefügt, es quasi dort zitiert hat. Dies deutet schon an, dass Metarepräsentation leicht zu einer Rekursion führt, die nur aus praktischen Zwecken begrenzt wird. Ich will mich etwas genauer mit dem Phänomen des Spiegelns beschäftigen. Whiten (2000: 146) spricht im Falle des Spiegels von Rerepräsentation. Dabei unterscheidet er verschiedene Ebenen: •
• •
Das Selbstporträt. Der Spiegel wird nicht selbst im Bild dargestellt. Dies führt zu einer eventuell im Bilde sichtbaren verkrampften Haltung des Kopfes und der Augen, da der Maler nach jedem Farbauftrag auf der Leinwand zu der vorherigen Position des Kopfes zurückkehren muss. Außerdem invertiert der Spiegel die Seiten des Gesichtes. Diese Verfälschung muss der Maler kompensieren, damit er sich selbst und nicht sein spiegelverkehrtes Bild darstellt. Das Porträt kann aber auch den Dargestellten und den Spiegel bzw. das dort erscheinende Spiegelbild zeigen.20 Der Spiegel kann sogar den Maler und sein Modell zeigen, die gemeinsam in den Spiegel schauen, so dass die doppelte Spiegelung im Bild dargestellt ist.21 Salvador Dali hat eine erste Annäherung an ein solches Bild realisiert. Es trägt
19 Spiegel, die das Sujet im Bild verdoppeln, gibt es in anderen Gemälden von Velasquez, so in dem Gemälde „Venus im Spiegel“ (1649, London); vgl. Museo del Prado (1999: 106). 20 In einem Ölbild der Dame Laura Knight (1877-1970) sieht man das Modell, dessen Spiegelbild und von der Seite gesehen die Malerin des Bildes (Rideal, 2001:56f). 21 Im Prinzip kann sogar eine unendliche Spiegelung gezeigt werden. In diesem Fall müsste das Bild so feinkörnig sein, dass der Effekt auch nach der n-ten Vergrößerung nicht verschwindet. Dies wird quasi durch die Selbstähnlichkeit der Chaosbilder (Apfelmännchen und Konsorten) realisiert. Spiegel verschiedenster Machart, trübe oder zerbrochene Spiegel oder Kristallkugeln spielen auch im Film eine wichtige Rolle. Dort kann auch die Kamera als künstliches Auge zum Gegenstand werden, so dass die Kamera in der Kamera aufgenommen und dadurch eine Metarepräsentation des „Spiegeltyps“ mit Verzerrung zum Thema wird. Vgl. zum Film Kap. 7.
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den Titel: „Stereoskopisches Gemälde” (1976, Teatro Museo Dali, Museum Figueras).22 Ein anderer Typus der Rekursion oder Iteration mit Deformation hat eher den Charakter eines Zitierens. Dadurch wird Intertextualität erzeugt; d.h. frühere Texte oder Textbausteine kehren verwandelt oder unverändert in anderen Texten wieder.23 Anhand des Topos „Letztes Abendmahl“ hatten wir bereits beschrieben, wie eine Bildtradition transportiert und verändert wird.
Abbildung 38: Links: Las Meninas, 3.10.1957 (129 x 161 cm) und rechts: Las Meninas, 24.10. 1957 und 8.11.1957 (130 x 96 cm, Öl auf Leinwand; alle: Museo Picasso, Barcelona) Es gibt einen modernen Künstler, der sich besonders intensiv und in Werkserien mit berühmten Werken der Malerei auseinandergesetzt hat und der dabei sogar das oben erläuterte Werk von Velasquez „Las Meniñas“ als Startpunkt ausgewählt hat: Pablo Picasso (1881-1973). Ich will einige Aspekte dieser zitierenden Neustrukturierung beleuchten (vgl. Claustre Rafart i Planas, 2001).24
22 Ab 1970 hat sich Dali damit beschäftigt stereoskopische und holografische Gemälde zu schaffen. Kurz vor seinem Tode lud er noch René Thom und Ilya Prigogine zu einem Gespräch in sein Haus ein. Wie bei Leonardo und vielen anderen Malern ist die Tendenz, in einen Diskurs mit den aktuellen Wissenshaften zu treten, deutlich. 23 Der Begriff „Text“ wird hier in einem allgemeinen Sinn (Textur, Zeichenstruktur) verstanden und kann auch mehrdimensionale Zeichengebilde umfassen (Bild, Film, Skulptur oder Gebäude). Das Zitieren und Wiederholen kann selbst als „Wiederholungskunst“ deklariert werden, so wie Duchamp den ready-made als Kunst bezeichnet hat. Vgl. die Ausstellung: Déjà vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube, Mensger (2012), sowie Ulrich (2012). 24 Picasso hat auch zu Arbeiten von Cranach (Doschka, 1989: 108-11), David, Poussin, Delacroix und Manet (Baldassari und Bernadac, 2008) zitierende Bildstudien angefertigt.
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In dieser Neugestaltung sind die wesentlichen Strukturen (Relationen) und Elemente des Gemäldes erhalten. Der Raum und die Figuren wurden aber einer kubistischen Deformation bzw. Reduzierung unterworfen. Auch die Farbpalette ist vereinfacht und flächenhaft umgesetzt. Der Spiegel im Bild, der das Königspaar zeigt, ist im linken Bild zumindest nicht eindeutig zu identifizieren (in einem frühen Bild der Serie vom 17.8.1957 sind auch der Spiegel und die beiden Gesichter zu erkennen). Das Zentrum, die Prinzessin, ist gelb hervorgehoben und Velasquez kann an seinem Mantel mit dem Ordenssymbol wiedererkannt werden. Die beiden Bilder rechts nehmen Teilgruppen heraus und gestalten sie mit den Mitteln der kubistischen Verfremdung. Der kubistische Stil ist zwar (in dieser Epoche) eine Signatur des Künstlers Picasso, man kann aber nicht von einer Repräsentation Picassos als Maler im Bild sprechen. Die Metarepräsentation betrifft vielmehr eine vorgängige Repräsentation und eröffnet einen Reigen von Wiederaufnahmen (vgl. Wildgen, 2009b für eine chaostheoretische Analyse). Das Bild von Velasquez selbst hat sich schon metarepräsentativ von der dargestellten Szene, die er beobachtet, entfernt. Insofern führt Picasso den Zyklus der Metarepräsentation mit seinen malerischen Mitteln fort.25 Man könnte wie in einem Autorennen die Pole-Position und die verschiedenen Durchgänge darstellen und erhielte dann die folgende Liste: • •
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Pole-Position: Velasquez bringt die Meniñas in die gewünschte Anordnung, um sie zu malen (der Maler wählt und konfiguriert sein Sujet). Bei Ankunft des Königspaares dreht sich die ganze Szene diesem zu. Der Maler hält inne und betrachtet die neue Situation, die nicht mehr auf ihn als den Malenden ausgerichtet ist. Als Konsequenz bringt er sich selbst ins Bild. Das veränderte Gesamtbild der Situation rekonstruiert er später aus Skizzen und Teilbildern im Atelier. Dabei hat er den Einfall, die Personen, auf die sich der Blick richtet, die aber außerhalb des Bildrahmens stehen, durch ihr Spiegelbild ins Bild zu holen (diese Etappe könnte man natürlich beliebig fein untergliedern). Picasso wählt das Bild des spanischen Klassikers (also eines Vorbildes seiner Zunft) als Thema für eine Serie von Gemälden. In dieser Serie (44 Bilder und einige indirekte Interpretationen; vgl. Claustre Rafart i Planas, 2001: 51) wird das Bild von Velasquez in verschiedenen Ausschnitten und mit unterschiedlichen Farb- und Formvarianten ausgeführt. Das Bild wird beschnitten, Details
25 Vgl. den Begriff des „détournement“ (der Umleitung) im 1957 formulierten Programm der Situationistischen Internationale. Damit ist die Umformung einer Bedeutung durch Tilgung originaler Bedeutungsbestandteile und der Aufladung der Zeichen mit neuen Bedeutungen gemeint. Vgl. Debord (1981) in: Harris und Wood (1993: 697).
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werden ausgewählt oder hervorgehoben, die kubistische Verwandlung und die Palette werden variiert. Innerhalb des Zyklus ist jedes fertig gestellte Bild auch wieder ein Bezug des neuen (neben dem Original von Velasquez). Dadurch entsteht eine zeitliche Struktur der Variationen, die quasi den Bildinhalt und dessen Formen- und Farbwelt ausbuchstabiert. Diese Serie könnte unendlich sein, wird aber pragmatisch nach einer endlichen Anzahl von Schritten abgebrochen.
Eine andere, an die Möglichkeiten der Kollage erinnernde Technik hat Andy Warhol angewandt und zwar mit Bezug auf Leonardos Abendmahldarstellung (siehe Abbildung 22 und eine Vielzahl von Varianten desselben Themas bei Warhol). Das zentrale Motiv, Jesus, kommt fünfmal in verschiedenen Größen, farbig oder grauweiß bzw. um 90º nach links gedreht vor; fünfmal kommt auch die Gruppe der drei Apostel, die links von ihn sitzen/stehen vor (grau-weiß und in Ausschnitten bzw. Drehungen). Da Warhol auch ein religiös motivierter Mensch war (innerhalb einer griechisch-katholischen Gemeinde) ist dieses Spiel keine Verunglimpfung des Themas, wie es z.B. die filmische Nachstellung durch Buñuel (zumindest in der Wahrnehmung des Vatikans und der Regierung Francos) war oder die zahllosen Neuinterpretationen des Abendmahls Leonardos mit Porträts bekannter Filmschauspieler oder von anderen Prominenten. Obwohl intertextuelle Bezüge in der Kunstgeschichte ein wesentlicher Faktor sind, sind direkte Zitate oder direkte Übernahmen nicht die Regel. Picasso, der ein großer Zweitverwerter von Kunst war, sagte einmal, dass alles was er wieder aufnimmt, in seiner Hand eine neue Gestalt annimmt. Ein Plagiat sei somit schon durch seine Seh- und Arbeitsweise ausgeschlossen. Dies mag eine Charakteristik der bildenden Kunst sein.26 Der Raum der Möglichkeiten der Neugestaltung oder der perspektivischen, gestaltartigen oder farbigen Neuformulierung ist so riesig und unausmessbar, dass eine eins-zu-eins Übernahme zumindest für den frei gestaltenden Künstler fast ausgeschlossen ist. Bei der linear organisierten Sprache ist das schon eher möglich. Allerdings zeigt z.B. der Fall Celan (siehe Wildgen, 2007c und zur „Affäre Goll“ Wiedemann, 2000), dass bei der Vielzahl einwirkender sprachlicher und motivischer Einflüsse von Kollegen oder durch Übersetzungen eine Plagiat-Vermutung oder -Verleumdung nur schwer zu konkretisieren bzw. zu widerlegen ist. Im Zeitalter der Computer ist das Plagiieren beim Text allerdings sehr einfach und auch beim Bild sind Übernahmen mit lediglich farblicher Veränderung
26 Panofsky (1980: 251f) weist auf die zahlreichen Übernahmen (bei gleichzeitiger Umformung) bei Michelangelo und Raffael hin.
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oder durch Rekomposition von Teilen relativ leicht technisch zu realisieren. Außerdem kommt es im kommerziellen Betrieb naturgemäß zu vielerlei Nachahmungen erfolgreicher Strukturbildungen, die sich nur schwer über die Copyright-Rechte eindämmen lassen. Im Internet entsteht sogar eine Art kollektiver Semiotisierung, wie sie nur vorliterarisch in den mündlichen Traditionen und beim Volkslied existierte (der Nachweis eines Autors/einer Autorin ist schwierig oder gar ausgeschlossen). Sprache und Kunst werden zu einem anonymen Allgemeingut (einer Art symbolischer Allmende). In gewissem Sinne gilt das aber auch für die Kunstgeschichte, denn die individuellen Schöpfer, selbst wenn sie so herausragen wie Leonardo oder Shakespeare, wären ohne ihr Umfeld (ihre Lehrjahre, ihre Lektüre bzw. ihren Bildbzw. Textkonsum) und ohne ihr künstlerisches Umfeld nie zu den Leistungen gekommen, die sie tastsächlich erbracht haben. Kollektive Selbstorganisation und kreative Gestaltung bedingen sich also gegenseitig. Es ist eher der Geschichtsschreiber, der preisgekrönte Häupter konstruiert, die dann scheinbar monolithisch und einsam in der Kultur-Landschaft stehen.
4.3 Z WISCHEN I MPRESSION
UND
ABSTRAKTION
Die abstrakte Kunst der Moderne hat nicht mehr die Lesbarkeit eines LeonardoBildes, wobei auch schon die Impressionisten, Expressionisten, Kubisten und Surrealisten die Kunst für den Laien zunehmend unleserlich gemacht haben. Mit der gegenstandslosen Kunst, etwa nach Wassily Kandinsky, wurde diese Nichtlesbarkeit für den visuell nicht gebildeten Betrachter zur Normalität.27 Ein weiteres Verfremdungsmoment ist die Fotografie, etwa in der Kriegsberichterstattung, die Chrono-Fotografie und die Stroboskop-Fotografie. Sie kann visuelle Szenen und Abläufe erfassen, die dem Alltagszuschauer und -fotografen nicht zugänglich sind. Bevor ich mich der amerikanischen Aktionskunst von Jackson Pollock zuwende, will ich kurz den Weg zur Abstraktion und Gegenstandlosigkeit anhand ausgewählter Stationen skizzieren. Zuerst ist der Verlust des Kanons (der darstellenden, narrativen Funktion) festzustellen; es wird etwas weggenommen (abstrahere = wegziehen). In einer Art Ausgleichsbewegung wird aber etwas hinzugenommen, bzw.
27 In den kritischen Reaktionen auf Kandinskys Werk in Deutschland vor 1933 spielte das Argument einer mangelnden Kommunikation, ja eines Solipsismus des Künstlers eine zentrale Rolle. In Frankreich, wo andere Künstler wie Picasso und Leger den Weg der Abstraktion bereits erfolgreich beschritten hatten, war die Kunstkritik aufgeschlossener. Nach 1933 wurde die Ablehnung des Expressionismus und der Abstraktion zur offiziellen deutschen Kunstpolitik; vgl. Haxthausen (1984).
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latente, immer schon vorhandene Aspekte treten in den Vordergrund, können sich entfalten.28 Der Beginn der Moderne in der Kunst kann anhand der Beiträge von vier Künstlern summarisch charakterisiert werden: Paul Cézanne (1839-1906), Vincent van Gogh (1853-1890), Wassily Kandinsky (1866-1944), Pablo Picasso (18811973). Paul Cézanne (1839-1906) Im Gegensatz zur Akademie-Malerei sind Farbauftrag und Strich bei Paul Cézanne hervorgehoben, d.h. die Darstellungstechnik drängt in den Vordergrund. Der Betrachter kann Linienzüge, aufgetragene Farben deutlich als Artefakt und damit als Ausdruck des Künstlers (unabhängig vom Sujet) erkennen. An den zahlreichen Bildern des Mont St. Victoire wird die Verdrängung des Sujets durch die Textur und Farbigkeit des Bildes deutlich. Vincent van Gogh (1853-1890) Besonders in der letzten Werk-Phase während seines Aufenthalts in Auvers (Mai bis Juli 1890) beherrscht der kraftvolle Pinselduktus, z.B. im Zypressenweg unter dem Sternenhimmel, das Bild. Große Flächen sind in unruhige Kurven und hackende Linien aufgelöst. Die Szene ist räumlich klar strukturiert, aber es dominiert der Duktus des manuellen und farblichen Ausdrucks. Die Dynamik der Figuren (zwei Wanderer, ein Wagen) ist nebensächlich; der Betrachter kann die Motorik (aus dem Strich) und die Ausdrucksintention (in der Farbe) des Künstlers als zentrale Botschaft lesen. Wenn wir das Bild (Abbildung in Walther und Metzger, 1989: 632) mit Leonardos Darstellung der Sintflut vergleichen, sehen wir, dass die chaotische Bewegung der Linien jetzt nicht das Sujet, sondern die Ausdrucksmotorik des Malers charakterisiert (zu van Goghs Landschaften siehe Kap. 4.1.4). Wassily Kandinsky (1866-1944) Anfang des 20. Jh. führten die Fauves (=franz. „Wilde“) die Tradition van Goghs nach dessen Anerkennung weiter und diese Richtung bekam den Namen Expressionismus. In Deutschland gab es in den Vereinigungen: Die Brücke und Blauer Reiter eigenständige Weiterentwicklungen des Expressionismus. Um 1910 wagte Wassily Kandinsky den Übergang zur gegenstandslosen Malerei. Die durch 30 Studien seit
28 Die Analogie zur Evolution ist aufschlussreich. Mit dem Verschwinden/Aussterben der Dinosaurier kommt die evolutionäre Linie der Säugetiere zur Blüte. Mit dem Erfolg des Homo sapiens verschwinden viele Arten, andere können sich in seinem Umfeld entwickeln (sowohl die Parasiten als auch die Haustiere).
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1910 vorbereitete Komposition VII (1913) ist im Großformat gemalt (200 x 300 cm) und versammelt eine große Anzahl farbiger Linien, Kurven, Flächen. Links von der Mitte kann man grob ein stark bewegtes Zentrum ausmachen, das am rechten Rand durch eine dunklere (schwere) Konfiguration aufgewogen wird. Dem Auge wird quasi ein „Warenkorb“ visueller Ereignisse angeboten. Kandinsky sagt selbst: „Mein Ziel war ja – sich gehen zu lassen und eine Menge kleiner Freuden auf die Leinwand zu schütten.“ (Zitiert bei Becks-Malorny, 1993: 109.). Das Fehlen von deutlich wieder erkennbaren Objekten entlastet die Wahrnehmung des Bildes und konzentriert dessen Lektüre auf Farbwerte, Formen und auf Bedeutungswerte, die von der Objektwelt unabhängig sind. Im Sinne von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, die ab 1920 entstand, wird die symbolische Form visuelle Wahrnehmung von ihrer Bindung an die konzeptuelle symbolische Form Sprache und deren Klassifikationsraster und Wiedererkennungs-/Referenzfunktion befreit. Den Weg der Gegenstandslosigkeit haben anschließend Generationen von Malern erkundet, andere gingen von der Gegenstandslosigkeit zur minimalistischen Reduktion weiter. Auch Kandinsky hat in seinem Spätwerk seine gegenstandslose Malerei formal regularisiert und minimalisiert. Im Gegensatz zu Kandinsky hat sein Kollege am Bauhaus Paul Klee (1879-1940) zwar auch den Weg der Abstraktion beschritten, er lässt aber die Kontinuität insbesondere zur belebten Form nicht abbrechen. Er verfolgt das Ziel „Abstraktion als künstlerisches Phänomen wieder neu zur Natur werden zu lassen, zur Eigennatur des Werkes“ (zitiert bei Laukötter, 2003: 209). Pablo Picasso (1881-1973.) Picasso führt mehrere Entwicklungslinien weiter, die bei Cézanne, Gauguin und Seurat angelegt waren. Im gewissen Sinn ist aber sein Kubismus die Antithese zum Impressionismus mit seinen das Kontinuierliche hervorhebenen Farbflächen zu einem Zeitpunkt, als dieser in der Kunstwelt vom Kanon vereinnahmt wurde (vgl. Pierre, 1967: 20). Mit dem Kubismus wurde eine Art von Ordnung eingeführt, die nicht im Sujet zu finden ist. So sind z.B. Menschendarstellungen schockierend unähnlich, obwohl Augen, Mund, Brüste, Beine usw. eindeutig auf den Typ des Dargestellten verweisen. Die Zerlegung in Dreiecke, Kreise, Trapeze, Pyramiden usw. führt eine geometrische Ordnung ein, die in den Bereich der visuellen Abstraktion gehört. Diese einfachen Formen werden jedoch zu Kompositionen zusammengefügt, wie sie z.B. in einem geometrisch-technischen Objekt (oder in dessen Zeichnung) nicht vorkommen könnten (vgl. in dieser Hinsicht Arcimboldo in Kap. 3.4.2). Die kubistische Kombinatorik ist instabil, insofern geometrisch nicht passende Teile mit geringer Bindungskraft zusammengefügt werden. Die semiotische Willkür
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des Malers ist in der Form- und Formgebung unübersehbar. Das Bild ist eindeutig als seine Kreation, die nur kompositorischen aber keinen physikalisch/biologischen Gesetzen folgt, erkennbar. Der Akt der Komposition und die Lösung des Bildrätsels (mit einem Titel) durch den Beschauer ist der wesentliche Inhalt des Bildes.29 Amerika hatte bereits seit dem Ende des 19. Jh. viele Einflüsse aus Europa aufgenommen und auch der Widerstand gegen die konservative Dominanz der Akademien nahm ähnliche Formen an wie zur Zeit von Cézanne und Monet in Paris. Ein entscheidendes Ereignis war die Armory Show in New York, wo neben vielen modernen europäischen Künstlern auch die Vielfalt der jungen amerikanischen Kunst gezeigt wurde. Dies führte vordergründig zu einer lang anhaltenden Polemik gegen die moderne (besonders die abstrakte) Kunst in Amerika. Nach 1933 erreichte eine große Gruppe von Emigranten aus Europa New York, so die Bauhauslehrer: Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius, Lazlo Moholny-Nagy u.a.; 1942 war eine bedeutende Anzahl europäischer Künstler in New York aktiv: Ossip Zlatkine, Yves Tanguy, Max Ernst, Marc Chagall, Fernand Léger, Piet Mondrian, André Masson und der Kunsttheoretiker des Surrealismus André Breton (siehe das Foto aus der Galerie Matisse in New York; Redaktion der TIME-LIFE-Bücher, 1973: 118). Die amerikanischen Inhalte waren bereits von den Realisten John Sloan (1871-1951), George Bellows (1882-1925), Edward Hopper (1882-1967), Thomas Hart Benton (1889-1975) in die Malerei eingeführt worden. Programmatisch sagte Andrew Weye (1917-2009) später: „Ich möchte Amerikanern zeigen, wie Amerika ist“ (ibidem: 89). Diese darstellende Funktion hatte aber bereits die Fotografie erfolgreich übernommen. Es galt jetzt auch auf der Seite der Form der Darstellung, des Stils etwas Eigenes zu kreieren. Das Werk von Jackson Pollock mag für diese Phase der amerikanischen Nachkriegs-Kunst stehen.
29 Luhmann (1995: 472) sieht in Picasso den typischen Vertreter seiner KünstlerGeneration, insofern er alles ausprobiert und dabei zeigt, dass nichts unmöglich ist: „Die Abstraktion auf reine Form hin ist ihrerseits nur ein Anzeichen dafür, daß alles möglich ist. Das Reich des Erlaubten, des künstlerisch Möglichen wird riesig, sofern nur beobachtbar bleibt, daß das, was es ausfüllt, als Symbol steht dafür, daß nur noch das Ausschließen ausgeschlossen ist.“
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4.4 A BSTRAKTER E XPRESSIONISMUS 30 BEI J ACKSON P OLLOCK (1912-1956) Die Kunst Pollocks hat viele künstlerische Vorbilder und weltanschauliche Väter.31 Er selbst schätzte Picasso und Miró, welche den Bildraum verflachten (im Kubismus) oder fleckenartig gestalteten (Miró). Die Technik des Malens mit flüssiger Farbe („Dripping“) auf einer waagerecht liegenden Bildfläche entwickelte Pollock ab 1947, möglicherweise beeinflusst durch indianische Sandbilder.32 Philosophisch sind die „écriture automatique“ des Surrealisten André Breton, der im Krieg nach New York kam (er blieb bis 1946), und die Archetypenlehre Jungs (vermittelt über eine Alkoholtherapie Pollocks bei Jung-Schülern in den USA) mögliche Einflussfaktoren. In künstlerischen Kontroversen wurde Pollocks Kunst Zufälligkeit, Primitivismus und Chaotizität vorgeworfen: Chaos, absolute lack of harmony. Complete lack of structural organization. Total absence of technique, however rudimentary. Once again, chaos … (zitiert in: Karmel, 1999: 70).
Pollock erwiderte darauf: „No chaos damn it!“ (Prange, 1996: 14 und Karmel, 1999: 71). Der Maler ist sich der Problematik bewusst, dass Energie und Bewegung Inhalte seiner Kunst sind, dass Kontrolle und Ordnung sein Ziel darstellen, auch wenn die Bilder beim ersten Eindruck als eher zufällig erscheinen mögen.33 Ich will zuerst die Form dieser Kunst, dann mögliche Inhalte diskutieren.
30 Für diesen Begriff steht nicht der deutsche Expressionismus Pate, vielmehr wird auf Picasso Bezug genommen. 31 Pollock war Schüler von Thomas Hart Benton (1889-1975), der zur Gruppe der amerikanischen Regionalisten gezählt wird. Seinen stark zeichnerischen und narrativen Bildstil veränderte er im Zweiten Weltkrieg, indem er surrealistische Darstellungstechniken benützte (vgl. Doss, 1991: 292f). Pollock wandte sich nach dem Krieg von Bentons Realismus ab und schlug den Weg der Abstraktion ein (ibidem: 330). 32 Max Ernst hatte kurz nach seiner Ankunft in den USA mit dem Dripping experimentiert. Die Farbe lief aus einer Dose, die allerdings wie ein Pendel relativ gesetzmäßig über die Leinwand geführt wurde. Siehe das Bild „Der verwirrte Planet“ von 1942 (http://www. tamuseum.com/Data/Uploads/ernst 20R_1.jpg). 33 Andere Künstler der Moderne sahen im Zufall eine notwendige Komponente des Schaffensprozesses. So hat Marcel Duchamp Schnüre von einem Meter Länge auf den Boden fallen gelassen und die erzeugten Kurven als Ausgangspunk der Gestaltung benützt. Joan
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Abbildung 39: „Number 32“, 1950 (Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf) Die Abbildung kann nicht alle relevanten Zeichenstrukturen wiedergeben, da die Farbe teilweise aufgesaugt wurde und matt wirkt, teilweise verdickt ist und deshalb ein glattes Profil hat. Diese Eigenschaften kann der Betrachter aber beim Abgehen des wandfüllenden Gemäldes (269 x 457,5 cm) erkennen. Die Linien gingen ursprünglich über den Bildrand, der nachträglich nach dem Abheben der Leinwand vom Boden durch Beschneiden erzeugt wurde. Folgende im Wesentlichen privative Eigenschaften fallen auf: •
• •
Monochrom schwarze (Lack-)Farbe, kein Titel. Im Gegensatz dazu war ein früheres Bild (1946) noch polychrom und war mit einem Titel (Ikarus, 1946, Sammlung Ulla Pietsch, Berlin) versehen. Es gibt keine Flächen im Bild, nur den Malgrund. Es gibt keine Hinweise auf Gegenständliches (Menschliches, Belebtes, Artefakte) oder als solches deutbare Formen.34
Die affirmative Aussage besteht aus Kurven, Linien, Knäueln, Flecken. Diese verteilen sich relativ homogen über die Fläche, die weder eine Oben-Unten- noch eine
Miró hat eine Keramikwand für das Kunsthaus Zürich mit Farben aus Eimern besprengt, Niki de Saint Phalle hat mit einem Farbgewehr auf Leinwände geschossen. 34 Fried (1998: 225) weist darauf hin, dass man bei Kandinsky noch den Weg der Abstraktion vom Figurativen zum Gegenstandslosen ahnen kann. Die kontinuierliche DrippingTechnik Pollocks verhindert solche abstraktiven Prozesse. Es gibt nur Linien und Farben; der Bezug zum Figürlichen wird systematisch verwehrt.
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Links-Rechts-Bewegung erkennen lässt. Man kann bei genauerem Hinsehen aber eine Grundmenge elementarer Formen herauslesen: • • •
Haarlinien, die häufig in Flecken münden oder davon ausgehen. Kurvenstücke, die längere Wege (halbdick) mit senkrechter Tendenz bilden. Verdickte Flecken mit einer maximalen Konzentration in der rechten Mitte.
Welche Bedeutung mögen diese graphischen Strukturen haben? Zuerst ist durch die fehlenden Eigenschaften klar, dass keine äußere Welt (mit Oben/Unten, Tiefenwirkung, Farbsättigung), keine Körper, keine Flächen mit Licht und Schatten (eventuell farblich kodiert) dargestellt sind. Welche Welt dient aber als Hintergrund der Repräsentation, wenn nicht die uns augenscheinliche? Eine erste Antwort hat bereits 1911/12 Kandinsky in seinem Essay „Über das Geistige in der Kunst“ gegeben. Kandinsky setzt den äußeren Erscheinungen und deren subjektiver Aufnahme die „innere Notwendigkeit“ entgegen, die im Subjekt selbst ihren Ursprung hat. Dabei verneint er nicht radikal das Gegenständliche. Wie seine Bilder in der Periode des Übergangs zum gegenstandslosen Bild zeigen, kann die innere Empfindung äußere Reize als Anlass nehmen, diese verlieren aber ihre eigenständige Bedeutung.35 Für Kandinsky entwickeln unter diesen Bedingungen Farbflächen und Linien eine Eigendynamik, die im gegenständlichen Bild gebunden, unterdrückt wurde. In späteren Arbeiten versucht Kandinsky die Wirkung von Punkt, Linie und Fläche theoretisch zu bestimmen (Punkt und Linie zur Fläche, 1925). Die äußeren Formen (Geometrie und Farbe) bestimmen allerdings nicht die Aussage des Bildes, „sondern die in den Formen lebenden Kräfte = Spannungen“ (Becks-Malorny, 1993: 149). Diese dynamische Sicht wird fast zeitgleich auch in der Gestaltpsychologie thematisiert und später kunsttheoretisch von Arnheim interpretiert (vgl. Verstegen, 2005). Das Bild Number 32 von Pollok zeigt eine Grundfläche, den Malgrund mit Rand, Punkten, Linien (verschiedener Dicke und Konsistenz) und Flecken (Flächen mit unregelmäßigen Konturen). Im Sinn des „Action Painting“ sind die Punkte Spritzer, die Linien Bewegungen des Künstlers, wobei die Farbe auf die am Boden liegende Fläche rinnt. Flecken sind Momente des Verharrens oder Vermischungen
35 An dieser Stelle ergibt sich eine Beziehung zum Phänomen des wiederholten VideoFeedback (zwischen Kamera und Bildschirm) bei leichter Verzerrung. Die Input-Information geht verloren und es zeigt sich ein systeminterner Attraktor des Abbildungsprozesses, der vom Input unabhängig ist. (Vgl. Peitgen, Jürgen und Saupe,1992: Kap. 5 und Wildgen, 1998b).
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der noch frischen Farbe. Zusätzlich zu diesen Bewegungsmustern können nach dem Abtrocknen des ersten Auftrages weitere Farbaufträge erfolgen. Die ins Bild geschriebene Dynamik ist einerseits eine Spur des Herstellungsprozesses, den Pollock später im Film publikumswirksam dokumentierte, womit aus dem statischen Bild ein Aktionsvideo wurde. Ohne Film kann diese Dynamik vom Betrachter aber nur grob rekonstruiert werden. Andererseits kann der Betrachter bei der Größe des Bildes (ca. 12 qm) das Bild aus verschiedenen Entfernungen betrachten und aus der Nähe Feld für Feld lesen. Das Bild „Number 32“ steht am Endpunkt eines radikalen Weges. Ich will ein etwas früheres Dripping-Bild Pollocks kurz betrachten.
Abbildung 40: „Grey and Red“, 1948 (Lack auf Papier, 57,5 x 78,4 cm, Frederik R. Weisman Foundation, Los Angeles) Tritt man näher an das Bild, erkennt man deutlich die roten und schwarzen Kurven, die beim Verharren in einem runden „Kopf“ enden. Linien und Köpfe bilden verschiedene Konstellationen. Außerdem gibt es relativ leere und stark verknäuelte Zonen. Die dicksten bilden eine Mitte, wobei das Schwarze dominiert. Ein wesentliches Element des Bildes sind die Kurvenverläufe und die Singularitäten beim Zusammentreffen von Kurven, sozusagen die Attraktoren der Kurven, die zu Flecken expandiert werden. Die Herstellung dieser Bilder wurde auch auf Fotos und im Film dokumentiert. Manche Kommentare sehen in Pollocks Malstil eine Form der selbstorganisierenden Malerei, d.h. der Körper des Künstlers und physikalische Kräfte (Bewegungen des Körpers und Fließbewegungen der Farbe, bzw. dessen Verlaufen und Trocknen) bilden ein Prozessganzes, das nur global vom Willen des Künstlers beeinflusst wird; die Bilder malen sich quasi selbst (vgl.: http://
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www.vianec.de/Trance-Art/Evo-Kunst/Evo-Kunst-Beschreibungen/SelbstorgMalerei. html). Die Vielzahl der Nachahmer seines Malstils konnte aber seine Berühmtheit nicht erreichen, d.h. seine Bilder waren an seine Person, den Glauben an seine Innovations- und Überzeugungskraft gebunden. Die Bilder Pollocks wurden später zitiert bzw. in Variationen neu inszeniert. Das Ergebnis einer gestischen Reinszenierung (nicht einer grafischen Reproduktion) im Jahre 1985 nannte Nike Bidlo „Not Pollock (Convergence 10, 1952)“. Nach diesem Analysebeispiel will ich mich der Frage nach dem Wesen der Kunst, der Schönheit im Kontext der Begriffe Ordnung und Chaos zuwenden, bzw. ich möchte prüfen, ob es möglich oder sinnvoll ist, nach einer formalen Definition von Schönheit (in der Kunst) zu suchen.
4.5 O RDNUNG UND C HAOS IN DER K UNST ODER G IBT ES EINE F ORMEL DER S CHÖNHEIT ? Ein zentraler Begriff von Ordnung oder Einfachheit lässt sich mathematisch formulieren. Ein System aus wenigen Teilsystemen oder Elementen, mit wenigen und klar definierbaren Relationen im System mag als einfach und geordnet bezeichnet werden.36 Wenn es sehr arm an Struktur ist oder diese sehr repetitiv (einförmig) ist, kann man auch von einer primitiven Ordnung sprechen. So sind Verhaltens-Ticks oder die Zeichnungen von geistig Behinderten primitiv zu nennen, wenn sich ständig dasselbe Muster wiederholt. Die Struktur kann auch dadurch einfacher sein, dass sie Symmetrien aufweist. In diesem Sinn ist ein Kreis einfacher als eine Ellipse, diskrete Formen der Symmetrie weisen reguläre Vielecke (Polygone) auf. Dabei ist z.B. das Quadrat symmetrischer als das Rechteck, dieses symmetrischer als ein Trapez usw. Bisher ist es aber nicht gelungen ein allgemeines Maß der Einfachheit von Figuren oder gar Gestalten zu finden. Insgesamt haben die vorangegangenen Analysen gezeigt, dass es sich bei der abstrakten Kunst um die radikale Reduktion auf grundlegende optisch-dynamische Wahrnehmungsmuster und -prozesse handelt, die auch beim gegenständlichen Bild
36 In diesem Sinn ist das System der natürlichen Zahlen (algebraisch ein Körper) durch die Relationen der Addition/Subtraktion und der Multiplikation/Division einfach geordnet. Noch einfacher sind die freien Monoïde, die als Basis generativer Systeme dienen (Kettenmuster). Innerhalb der Chomsky-Hierarchie sind lineare Systeme primitiv, kontextfreie Systeme einfach. Chomsky argumentiert in Chomsky (1957), dass beide als Modelle der Syntax natürlicher Sprachen zu einfach sind.
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eine Rolle spielen (aber unbewusst bleiben). Bei der Aktionskunst kommt die motorisch-mimetische Komponente als Möglichkeit hinzu. Da die Fixierung auf Gegenstände wegfällt und die Bilder die marginal gewordenen narrativen Inhalte aufgeben, kann der „abstrakte“ Inhalt allerdings nicht mehr sprachlich (propositional) wiedergegeben werden. In der Konsequenz haben die Künstler (seit Kandinsky) auch auf einen Titel verzichtet bzw. die Bilder nur mit Nummern versehen. Wie die Analysen der Entwürfe zum Bild Anna Selbdritt Leonardos gezeigt haben, bestimmen auch die Vektoren im Bild eine Ordnung (der Kraftlinien). Hinzu kommt, dass bereits der Bildrahmen und dessen Format Kraftlinien (vgl. Kap. 1.1.5) und Zentrierungen (vgl. Kap. 1.1.4) ins Spiel bringen. Das Zusammenspiel des vektoriellen Netzes der Bildthematik mit den Kraftlinien des Rahmens stellt also einen Typus dynamischer Ordnung dar, den man Harmonie oder Synergie nennen kann. Ein System von Vektoren hat Quellpunkte und Senken (Ziele), außerdem kann man einen Schwerpunkt (ein Baryzentrum) bestimmen, in dem sich die Kräfte ausgleichen. Ordnen sich die Vektoren um wenige Quell- und Zielpunkte oder gibt es ein einziges (eventuell wenige) Schwerpunkte, so kann das Bild als vektoriell geordnet (einfach) angesehen werden. Wichtige Orientierungshilfen beim klassischen Bild waren die Oben-Unten-Struktur (Himmel-Mensch-Erde), die eine Konsequenz der Schwerkraft ist, und die Links-Rechts-Orientierung, die kulturell durch unser Schriftsystem vorgeprägt ist. Beide Arten der Orientierung werden in Pollocks Aktionskunst aufgehoben. Wenn im einfachsten geometrischen Fall die gerade Linie für Ordnung steht, dann ist die fraktale Kurve das Gegenteil von Ordnung. Diese Anti-Ordung tritt in deutlich verschiedenen Erscheinungsformen auf: •
•
•
Die gebrochene Linie (Cantor-Linie), die mit leeren Flächen oder Pyramiden durchlöcherten Sierpinski-Teppiche und -Pyramiden oder alltagsbezogen der Schweizer Käse oder der Bierschaum. Die unendliche Umrandung, Typ: Küste Englands in immer feinerer Auflösung. Vergrößert man Ausschnitte der irregulären Grenzlinie, entsteht keine gerade Linie, die Irregularität bleibt ad infinitum erhalten (siehe Mandelbrot, 1987). Die beschleunigte Bifurkation. Spaltet sich ein Zustand und wird die Spaltung exponentiell beschleunigt, entstehen Phasen mit extrem vielen Zuständen, die periodisch zusammenbrechen und sich erneut beschleunigt verzweigen können (vgl. das Feigenbaum-Diagramm).
Die mathematische Theorie der Fraktale und der Chaos-Attraktoren erfasst dieses Gegenbild. In der visuellen Semiotik bildet die Wahrnehmungsschwelle einen Rand, d.h. wird die irreguläre Erscheinung bis zu dieser Grenze nicht aufgelöst, kann sie als fraktal gelten. Ein Betrachter kann etwa aus der Distanz die Fassade des Bremer Rathauses als filigranes (fraktales) Muster wahrnehmen, tritt er näher
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heran, erkennt er eine Vielzahl einzelner in Stein gehauener Bildnisse oder regulärer Ornamente (vgl. Kap. 9.2.3). Tritt er dagegen näher an ein Dripping-Gemälde Pollocks heran, verschwindet die Irregularität nicht. Taylor, Nicolich, Jonas (1999) haben mit Mitteln der box-counting-Methode die fraktale Dimension der Gemälde Pollocks berechnet.37 Sie stellen einerseits fest, dass zwischen 1943 bis 1952, d.h. im Zeitraum der Entwicklung seiner Dripping-Technik die fraktale Dimension von 1 (1943) auf 1,72 (1952) anstieg. Die Analyse der Filme, die Pollock beim Malen zeigen, weist auf zwei relevante Größenordnungen hin. Im Bereich 1 mm bis 5 cm wird das fraktale Muster durch Handbewegungen beim Träufeln, im Bereich 5 cm bis 2,5 m durch die Gesamtbewegung um die Leinwand und in sie hinein (sie lag auf dem Boden) erzeugt; diese Aufteilung lässt sich auch anhand der Fraktalanalyse nachweisen. Ähnliche, quantitative Messungen werden heute mit dem WaveletVerfahren an digitalisierten Bildern durchgeführt (vgl. Hughes, Brevdo and Daubechies, 2007). Mit diesem Verfahren lassen sich z.B. van Gogh-Fälschungen anhand der Strichtechnik nachweisen. Es ist somit möglich, mit mathematischen Verfahren die Textur und Dynamik des Bildaufbaus zu messen. Diese Messmethoden mögen vorläufig als Operationalisierung von Ordnung und Chaos (Unordnung) im Bild genügen. Wird damit aber bereits ein Begriff von Schönheit (ästhetischer Qualität) fassbar? Die Versuche, Schönheit mathematisch zu bestimmen, sind Legion. Aber bereits die Harmonievorstellung von Pythagoras, die auf rationalen Zahlen (1/2, 1/3, 1/4, …) beruhte, und die Lehre vom Goldenen Schnitt enthalten radikal verschiedene Ordnungsvorstellung, da der Goldene Schnitt eine irrationale Zahl ist und mit chaotischen Mustern in Verbindung steht (vgl. Bird, 2003: 158); die Proportionen nach Pythagoras gehören dagegen in den Bereich rationaler Zahlen. Auch perfekt symmetrische Gesichter entsprechen nicht dem Schönheitsideal, andererseits kann eine Kurve, die sich am Körper oder an der Bekleidung wiederholt, ein starkes Schönheitsempfinden auslösen. Manche prägungsstarken Formen sind künstlich optimierbar und werden zu super-releasers (Extremauslöser), wie Konrad Lorenz anhand von Raubvogelattrappen und deren Wirkung auf Hühner zeigen konnte. Es gibt also Morphologien, die einen besonderen Bezug zum maximalen Aufmerksam-
37 Grob gesagt, werden in immer kleiner werdenden Ausschnitten des Bildes Vorkommnisse von Linie bzw. Leerfläche (Abwesenheit der Linie) gezählt. Je kleiner die Ausschnitte werden müssen, bis diese Unterscheidung verschwindet, desto näher ist die fraktale Dimension an der Zahl 2 (im Grenzfall wäre die ganze Fläche ad infinitum mit Linien „ausgestopft“). Ich danke Prof. Plath für Erläuterungen zu dieser Technik.
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keitseffekt haben, sie können die Basis für eine ästhetische Wahrnehmung bereitstellen, fallen aber nicht mit dieser zusammen.38 Wir haben bereits gesehen, dass eine stark realistische Kunst die Ordnung in der Welt wiedergibt (oder sie gar zum Idealtypus erhöht). In dieser Linie wäre aber eine fotografische Darstellung geordneter Muster (z.B. in Kristallen) oder eine Computersimulation die höchste Kunst. Dieses Argument ließe sich analog auf chaotische oder fraktale Ordnungen in der Natur (bzw. deren Simulation) anwenden. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass sich Kunst darin jedenfalls nicht erschöpfen kann. Die Ordnung im Geist kann man phänomenologisch an den psychologischen Gestaltgesetzen festmachen oder direkt auf das Gehirn oder generelle physiologische Gesetze des Körpers beziehen. In Bezug auf die Gestaltgesetze wird meist der konstruktive Charakter der Wahrnehmung hervorgehoben; der Geist erzeugt Ordnung, wo diese nur scheinbar herrscht. In Bezug auf das Gehirn spielt die Stabilität in bestimmten Zeitfenstern eine wichtige Rolle. Alles, was nicht in vorgegebener Zeit in eines der verfügbaren Muster passt oder als dessen Erweiterung, Variation aufgefasst werden kann, verschwindet aus der Wahrnehmung. Allerdings sind Wiederholungen gleicher Muster ebenfalls suboptimal und werden ausgeblendet. (vgl. Kap. 1.3.4 und Wildgen, 2006a zur Neurodynamik). Im Strukturalismus ging man davon aus, dass semiotische Systeme hochgradig geordnet, ja von allgemeinen Gesetzen und Prinzipien bestimmt seien. Chaos scheint somit in Sprache und Kunst per definitionem unmöglich (undenkbar) zu sein. Selbst in Begriffen von Peirce, der kein Strukturalist war, ist der Interpretant das Ergebnis von Gesetzmäßigkeiten, welche die Zeichenform mit dem Objekt verbinden. Immerhin werden neben der konventionellen Bindung, die Peirce symbolisch nennt, noch zwei weitere, stärker motivierte Bindungen, die ikonische durch Ähnlichkeit und die indexikalische durch Verursachung und Deixis, eingeführt. Erstere ist naturgemäß partiell (im Prinzip ist alles allem ähnlich) und vage, letztere kann vielfältig sein, da ein Effekt viele Ursachen haben kann. Im Prinzip lässt der Interpretant also auch chaotische Ordnungen (und sogar zufällige) zu.39 In der abstrakten Kunst wird aber gerade der Bezug auf das wieder erkennbare Objekt verweigert, womit scheinbar der Interpretant deaktiviert wird. Im Rahmen der unendli-
38 Im Tierreich gibt es Beispiele, wo das Zeichen, das Aufmerksamkeit erregt, dazu benutzt wird, um sekundär eine Mitteilung, z.B. einen Paarungsruf, in dem geöffneten Aufmerksamkeitsfenster zu platzieren; vgl. Greig und Pruett-Jones (2010). 39 Peirce hat in Reaktion auf Darwins Evolutionstheorie auch dem Zufall einen Platz in seiner Semiotik eingeräumt (siehe seinen Synechismus).
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chen Semiose von Peirce kann man aber sagen, dass jedes Objekt schon (mehrfach) semiotisiert ist und dass die graduelle Entgegenständlichung bei Picasso und Kandinsky lediglich eine Fortsetzung dieses Prozesses ist. Dieser kann schließlich dazu führen, dass jeder Bezug zu identifizierbaren Objektklassen verschwindet. Was bleibt, sind nur noch die Eigenschaften der Wahrnehmungswelt; die Objektklassen lösen sich quasi in ihre wahrnehmbaren Eigenschaften auf. Bei Picasso sind die Reste des Reduktionsprozesses noch Teile des Objekts: Auge, Mund, Wange, Haar usw. einer Person, Flächen des Tisches. Bei Kandinsky sind es Farbstimmungen, Konturen, Skizzen; bei Klee Flächenmuster und flächenartige Anordnungen. Bei dieser Reduktion der Komponenten rückt die Komposition in den Vordergrund. Durch eine künstlerische „Parkettierung“ (im Kubismus durch dreieckige Formen, bei Mondrian durch rechteckige Raster) wird außerdem eine Rahmen-Ordnung erzwungen. Gleichzeitig wird das Inventar der Farben oft drastisch reduziert (z.B. auf ein bestimmtes Blau wie bei: Yves Klein, Monochronie Bleu: IKB). Diese Tendenz zur Reduktion des Formeninventars und zur geometrischen Parkettierung könnte eine Grundtendenz der abstrakten Malerei sein, insofern der Raum der Eigenschaften jenseits der schier unendlichen Vielfalt individueller Objekte sich aus den geometrischen Grundformen und aus den Grundfarben rekonstruieren lässt. Da den Farbflächen nicht wie beim farbigen Objekt eine konzeptuelle (Erfahrungs-)Tiefe eigen ist, erscheint es kommunikativ effizient, einfache, stark kontrastierende Kompositionen zu wählen, damit die Botschaft beim Betrachter nicht als beliebig und damit bedeutungslos ankommt. Pollock und mit ihm viele andere Künstler haben den entgegengesetzten Weg eingeschlagen: • • • •
Seine Formen sind Linienbündel, -haufen. Sie bilden Gestrüppe, wobei die Linien entweder in Flecken, Knöpfen oder zerfaserten Flächen enden. Seine Bilder bestehen aus der Superposition von Kurven oder gebogenen Bändern. Die Flächen sind geädert, haben mäandernde Ränder oder sind ölig mit umgebender Farbe vermischt (siehe: Two sided painting, 1950/51, in: Vogt, 1963: 169).
Kann man daraus folgern, dass die moderne (vorwiegend die abstrakte) Kunst zwei entgegengesetzte Pole: Minimalismus (der Formen und Farben) und fraktale Auflösung hat? Rohn (1987) versucht, ein Inventar von primären und sekundären Motiven in Pollocks Gemälden auszumachen: senkrechte Pfähle (poles), Arabesken, Schmetterlingsfiguren, Kreuz- und Labyrinth-Muster. Es dominieren nach Rohn (1987: 125) Mikrostrukturen; der Schwerpunkt der Bildsaussage liege aber in: „coordinate, interactive forces symbiotically affecting one another’s dynamics“ (ibi-
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dem). Die übliche Links-Rechts-Lektüre des Bildes wird konterkariert, Zentrierung ist abwesend oder schwach ausgeprägt und es gibt keine Hierarchie (schon gar nicht in der vertikalen Dimension). Die visuelle Intensität ist demgemäß nicht fokussiert. Arnheim (zitiert in Rohn, 1987: 111) vergleicht die Textur der Bilder Pollocks mit den „Wimmel-Bildern“ eines Pieter Bruegels. In dieser Perspektive hat selbst die Avantgarde-Technik Pollocks einen klassischen Vorläufer, d.h. sie schöpft aus dem Fundus der visuellen Möglichkeiten und bleibt somit trotz aller Provokation im Rahmen der Tradition. Ich nehme an, dass ein Verlassen dieses Rahmens die kommunikative Wirkung annullieren und jeden Erfolg auf dem Kunstmarkt verhindern würde. Letztlich muss der Betrachter ebenso wie der Künstler mit einem fertigen Werk etwas anfangen, sich etwas Bedeutsames merken können. Ist dies nicht der Fall, ist das Werk keine vollendete Zeichenstruktur, keine Kunst. In der Welt der Dinge und Lebewesen gibt es eine materielle und biologische Ordnung mit räumlichen und dynamischen Gesetzlichkeiten. Diese entfällt mit dem Verlust der Gegenständlichkeit. Sie war aber eine bildexterne, „geliehene“ Ordnung. Die Frage ist also, gibt es im Bild eine von der externen Ordnung unabhängige Ordnung bzw. Unordnung? Dabei kommen folgende Typen der Ordnung in Frage. (a) Die materielle und formale Ordnung der Farben bzw. der Linien, Flächen, Körper im Bild, in der Skulptur. Diese Ordnung ist einerseits eine chemischoptische (Farbe) oder physikalisch-chemische (beim geformten Stein, bei der Eisenplastik), andererseits auch eine mathematische, insofern die Topologie und Geometrie der Konturen, Flächen, Körper eine Rolle spielt. Im Kubismus etwa wird die Relevanz idealer Formen und ihrer Deformationen deutlich in der Hervorhebung von Kugel (Kreis), Pyramide, Kubus usw. In den Kompositionen Piet Mondrians drängen rechteckige Raster in den Vordergrund. Mathematische Gesetze bestimmen auch die Computerkunst bis zu den Apfelmännchen der Chaosbilder. (b) Die phänomenologische Ordnung. Wie erscheint dem Betrachter (auch dem Künstler bei der Arbeit) das Bild? Farbpsychologie, Gestaltwahrnehmung, die negative Aussage des Bildes (Was fehlt?) führen zu einer Ordnung, die vom Perspektivpunkt (Nähe, Ferne), der Beleuchtung und schließlich den Seherfahrungen (dem visuellen Gedächtnis) des Betrachters abhängig sind. In dieser Hinsicht sind abstrakte Kunstwerke extrem offen; jeder Betrachter kann sein eigenes Bild-Erlebnis (oder gar keines) herstellen. Das angenommene Erleben des Künstlers selbst ist nur schwer verifizierbar und steht als Interpretationsfolie kaum zur Verfügung. (c) Es gibt eine dritte, kulturelle (politische) Ordnung, die gerade für die abstrakte Kunst große Relevanz erhält. Sie findet ihren Ausdruck in der Kunsttheorie, die dem Künstler als Hintergrund dient, oder von professionellen Interpreten (Gale-
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risten, Kunstwissenschaftlern) entwickelt wird. So konnten die amerikanischen Künstler die Theorien der „écriture automatique“ des Surrealisten André Breton nutzen. Diese wurden in den USA theoretisch (durch Breton) und praktisch durch surrealistische Künstler wie Max Ernst und deren Förderer (etwa Peggy Guggenheim) verbreitet. Die anerkannten Experten, wie Harold Rosenberg (1906-1978), konnten Pollocks Person mit dem Bild des freiheitsliebenden und ungebundenen Cowboys in Verbindung bringen (so wurde Pollock in der Zeitschrift „Life“ dargestellt). Seine Kunst konnte so zur Manifestation eines kulturellen Idealbildes werden, das auch Filmschauspieler wie James Dean und Marlon Brando verkörperten (vgl. Prange, 1996: 37 f.). Der abstrakte Expressionismus40 war gleichzeitig ein Anti-Entwurf zur besiegten Nazi-Ideologie, zu deren Verurteilung der „entarteten Kunst“ und zum neuen Feindbild, dem sowjetischen Kommunismus, dem staatlich verordneten sozialistischen Realismus. Auf dem Hintergrund dieser politischen Konstruktion funktionierte natürlich auch die Vermarktung der abstrakten Kunst,41 die nicht nur in Museen, sondern auch in den Chefetagen der Konzerne Einzug fand, da sie gut zur nüchternen, kalten Architektur der Verwaltungsgebäude passte. Bei dieser dritten Ordnung mag der Künstler als Person noch mitwirken (der Alkoholiker Jackson wurde dabei auch verbraucht, denn er starb mit Alkohol am Steuer); seine Werke und deren Gehalt haben aber nur noch geringe Bedeutung für diesen Prozess, sie sind quasi austauschbar. In Bezug auf die materielle/formale Seite (a) haben die Bilder von Pollock eine fast primitive Ordnung. Sie sind z.B. schwarz/weiß und bestehen aus Punkten, Kurven und Flächen. Letztere sind aber, im Falle von „Number 32“, wegen des Zerkratzens und Ausfaserns der Kleckse geometrisch kompliziert und somit von regulären Flächen weit entfernt. Der Begriff einer einfach konturierten Farbfläche wird quasi ne-
40 Dies ist eine spätere Bezeichnung; Harold Rosenberg (1906-1978) nannte die Richtung zuerst (1952) „Action Painting“. Bereits 1940 hatte er eine antieuropäische und proamerikanische Tendenz in dem Buch „The Fall of Paris“ proklamiert. Im Krieg leitete er die „Works Progress Administration“, die vielen amerikanischen Künstlern Arbeit gab. Doll (1991: 312) sieht im Wechsel von Benton zu Pollock den Übergang vom „New Deal“ zum Kalten Krieg nachvollzogen. 41 Die Person des Kunstspekulanten erschien bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh., als die neuen Bewegungen (die späteren Impressionisten) noch heftig vom Establishment angegriffen und vom Publikum der Galerien ausgepfiffen wurden. Zola beschreibt diese in seinem Roman „L’œuvre“ von 1886 in der Person des Naudet (vgl. Zola 1985: 221).
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giert und die farbliche Vielfalt wird aufgehoben.42 Im Vergleich zu den klaren Farbflächen eines Miró ist „Number 32“ antiflächig und antikörperlich. In Bezug auf die phänomenologische Ordnung (b) sind die meisten Bilder seit dem Impressionismus (also seit der Moderne) höher geordnet. Sie heben Prinzipien der Sehordnung in Bezug auf Licht, Form und Farbe hervor und sie tun dies unter Verzicht auf eine katalogartige Abbildung von Weltausschnitten. Verstegen (2005: 44) verweist zu Recht auf die besondere Rolle, welche die Wahrnehmung menschlicher Gesichter oder zeichenhafter Körperteile (z.B. erotisch signifikanter Formen) für unsere Wahrnehmung spielt. Dies bedeutet, dass die phänomenologische Ordnung Inhalte eines generellen Typs hervorhebt. Dies zeigt sich z.B. in manchen Stillleben Picassos, wo geschwungene Formen auf weibliche Konturen, Brüste, Augen usw. verweisen bzw. vom Betrachter so gelesen werden können (vgl. das Stillleben in Krens u.a., 1990: 306). Diese Körperbezogenheit fehlt zwar bei Pollock in „Number 32“, sie charakterisiert aber viele seiner frühen Bilder. Der Bezug zu menschlichen Formen stellt gewissermaßen einen kleinen Satz starker Attraktoren dar, die abstrakten Kurven (besonders den Kreisbögen) eine anthropomorphe Ordnung aufprägen können. Die kulturell-politische Ordnung (c) wird primär im Umfeld des Kunstwerkes und des Künstlers erzeugt. Sie beinhaltet im Wesentlichen privative Aspekte: Was fehlt? Was wird verneint? Welche Freiheit nimmt sich der Künstler, indem er von bestimmten Traditionen abweicht? Sie ist tendenziell populistisch, da sie sich als Markenzeichen eines vermeintlichen Zeitgeistes anbietet. Für die Steuerung des Kunstmarktes und die Steigerung des Verkaufspreises ist diese Ordnung (zumindest mittelfristig) die entscheidende. Wenn sich die Figur des Künstlers durch öffentliche Provokationen und extremen Lebensstil (einschließlich eines spektakulären Todes) dieser Ordnung fügt, ist der Effekt maximal. Ob diese Dynamik noch zur Kunst zu rechnen ist oder dazu parasitär ist, ist schwer zu beurteilen. Nach dem Soziologen Luhmann ist Kunst, ähnlich wie die Suche nach seltenen Objekten (Diamanten, Gold; früher seltene Federn oder Muscheln) ein Mittel der imaginären Wertkonstruktion, d.h. sie ist von Prozessen des Tausches und Marktes nicht zu trennen. Sie dient als generalisiertes Medium der gesellschaftlichen Wertkonstruktion (vgl. Luhmann, 1975) oder als eine Form der „Beglaubigung“ des Geldes, d.h. die allgemeine Wertschätzung von Kunst und deren Zeitkonstanz sowie die Seltenheit originaler Kunstschöpfungen werden als Garantien jenseits des Papiergeldes
42 Greenberg (1962, wiedergegeben in: Harrison und Wood, 1993: 767) sagt: „unequal densities of paint become, as I have said, so many differences of light and dark, and these deprive colours of both its purity and its fullness.“
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oder der Kontoauszüge gesehen und deshalb gesammelt oder gar gehortet. Ob es sich dabei aber neben der Beglaubigung des Geldes und einer „neuen Leiblichkeit“ (von Braun, 2012: 279) auch um eine Art der „Domestizierung der Sexualität“ handelt, erscheint fraglich. Immerhin hat der ästhetische Reiz eine Art von Körperlichkeit, die dem Kontoauszug mangelt. Der ästhetische (lustbezogene) Aspekt von Kunst wäre demnach nur eine Begleiterscheinung, nützlich, aber eigentlich verzichtbar, die Schönheit lediglich ein Seiteneffekt gesellschaftlicher Wertkonstruktionen.43 Dies mag eine übertriebene Konsequenz sein; aber die aktuellen Vorgänge in der Kunstszene sprechen für eine nicht aufhebbare Verzahnung mit dem Markt, insbesondere dem symbolischen Markt (vgl. Bourdieu, 2009). Semiotische Kernpunkte (Kap. 4) 1. Das Licht bildet die Substanz der visuellen Kommunikation; im Bild wird diese Substanz zur Segmentation (anhand von Konturen), Gliederung und Profilierung der Aussage genützt und erzeugt ein komplexes visuelles Zeichengebilde. 2. Charakteristisch für die kulturelle Entfaltung im Visuellen sind Reflexion und Metarepräsentation. Als Folgen sind Spiegeleffekte und Bildzitate zu nennen. 3. Die gegenstandslose Kunst negiert die diskursive Ebene (Beschreibung, Erzählung, Argument) und isoliert das Visuell-Piktoriale. Dadurch rückt die visuelle Interpretation der Punkte, Linien/Kurven, Flächen und Grundfarben in den Vordergrund. 4. Der ästhetische Wert ist eine komplexe Größe, für die Eigenschaften von Form und Farbe, Bezüge zur Lebenswelt (Phänomenologie) und die Ökonomie der sozialen Wertkonstruktion eine Rolle spielen.
43 Braun (2012: 290) spricht von einer „magischen Aufladung des Kapitals“ durch die Kunst. In ähnlicher Weise sei die Religion durch Leonardo magisch aufgeladen worden. In der Moderne habe Andy Warhol den Kunstmark in besonderer Weise reflektiert (ibidem: 292)
5. Bildordnungen im Raum (Skulptur) und in der Aktionskunst
Der menschliche Körper ist ein primäres Objekt menschlicher Wahrnehmung (visuell, taktil, olfaktorisch u.a.). Die visuelle Eigenwahrnehmung ist dabei partiell, kann aber über Spiegel vervollständigt werden. Die Ansicht des Anderen ist vollständiger, auch wenn gewisse Sehwinkel (frontal oder von hinten) dominieren. Beim frontalen Ansehen kommt es meist zu einem Blickwechsel, d.h. man nimmt den Anderen wahr und gleichzeitig wird einem bewusst, dass der Andere einen wahrnimmt (das lässt sich fortsetzten, da der Andere auch sieht, dass man ihn sieht usw.). In ähnlicher Weise nimmt man Tiere wahr, wobei der rekursive Prozess weniger Gewicht hat; immerhin ist es wichtig, ob das Tier einen wahrnimmt und wie es eventuell auf diese Wahrnehmung reagiert (vgl. die Bisondarstellung in der Grotte Chauvet; Kap. 2.1; Abbildung 4). Bei unbelebten Objekten und der Ausstattung des Hintergrunds ist die visuelle Reaktion wiederum einfacher; außerdem fällt das Moment der Bewegung fort, das bei der Beobachtung von Menschen und Tieren die größte Aufmerksamkeit auslöst.
5.1 T IER , M ASKE , M ENSCH
IN DER FRÜHEN
P LASTIK
Als Ausgangspunkt mag der rituell gestaltete Körper, die bildhauerische Darstellung von Ahnen und Geistern entweder durch Masken und Bekleidung am eigenen Körper oder als Fetisch und Pfahlskulptur, wie wir sie aus vielen Ethnien kennen, gedient haben. Im Paläolithikum finden wir sowohl Tierskulpturen, meist als Halbrelief (Höhle Tuc d’Audoubert, Lehmskulptur zweier Bisons, Magdalénien) oder als lebensgroßes Figurenfries (Cap Blanc, Frankreich; an der Felswand sind Pferde im Halbrelief dargestellt, Magdalénien). Selten werden Menschen plastisch dargestellt; die in Kapitel 2 beschriebenen Skulpturen aus Höhlen der Schwäbischen Alp zeigen Mensch-Tier-Hybride, die entweder verkleidete Menschen oder Geister einer Totemkultur darstellen. Häufiger sind aber kleine, transportable Figuren, wie etwa die so genannten Venusfiguren; vgl. Kap. 2.1. Reflexe dieser Idole finden wir
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auch in späteren Kulturen etwa in der Kykladenkultur um 2700 bis 2300 v. Chr. Ich will mich aber im Folgenden den historischen Entwicklungen, d.h. seit der Existenz einer Schrift zuwenden. In historischer Zeit finden wir allerdings auch Skulpturen, die einen Hinweis auf die Zwischenphase, d.h. jene Kulturen zwischen den steinzeitlichen Jäger- und Sammlerkulturen und den Hochkulturen in Mesopotamien und Ägypten, enthalten. Charakteristisch ist dabei, dass besonders agrarische Kulturen etwa im Südwesten Afrikas oder in Mittelamerika einen reichen Skulpturen-Schatz aufweisen. Dies hängt damit zusammen, dass diese Kulturen sesshafter waren und zentrale Herrschaftsstrukturen entwickelten, in deren Kontext auch größere und technisch aufwendige Plastiken in Auftrag gegeben wurden, bzw. es gab ein Handwerk mit hohem Standard zur Herstellung solcher Objekte. Dazu zählen die NokKultur in Nigeria (Blütezeit 500 vor bis 200 nach Christus), die Terrakotta-Köpfe herstellte, und der Bronzeguss in Benin (ähnlich bei den Yoruba in Nigeria und den Kakuba im Kongo; ca. ab dem 9. Jh. n. Chr.). Der Bronzeguss wurde ausschließlich im Auftrag des Königs hergestellt. So stellten die Bronze- oder Elfenbein-Plastiken häufig einen Leoparden dar und wurden an Würdenträger vergeben. Sie symbolisierten neben der Zugehörigkeit zum Adel die Macht der Blutgerichtsbarkeit (der Leopard als ein den Menschen jagendes Tier).1 Daneben entstanden in der Blütezeit dieser Kultur, die vom Sklavenhandel mit den Europäern profitierte, auch Herrscherdarstellungen im Bronzeguss. Wesentlich ursprünglicher sind die an vielen Orten vorfindlichen Masken, die plastischen Kopfaufsätze für Maskentänzer und die Ahnenfiguren aus Holz (vgl. Leuzinger, 1978, Förster, 1988 und Herold, 1989). Sie stehen in Zusammenhang mit dem Totenkult, der wohl seit dem Paläolithikum Bestandteil vieler alter Kulturen war. Die Plastik zeigt nicht etwas Lebendes, in der Alltagswelt von jedermann Erfahrbares, sondern ein Wesen aus der Geisterwelt der Verstorbenen. An den Totempfählen werden neben dem Totemtier einer Familie oder Gruppe, Elemente des Mythos, d.h. der mündlichen Tradition dargestellt. Die Kachina-Puppen der Hopi geben die Maskentänzer wieder, die bei zeremoniellen Anlässen auftreten und dabei die Glaubenswelt der Kultur veranschaulichen. Insgesamt existiert ein „Lexikon“ von mehr als 200 Charakteren mit Namen und Eigenschaftsrepertoire.2 Die Kunst,
1
Eine ähnliche Funktion, jetzt aber in ganz anderem Kontext hat der Roland, dessen Bedeutung in Kap. 9.2.2 diskutiert wird. Sein Schwert verweist auf die Blutgerichtsbarkeit, die die Freie Reichsstadt für sich beanspruchte.
2
In Colton (1959: Kap. 4) werden für 266 Kachina-Puppen Beschreibungen mit Angaben zu den Original-Masken angegeben. Er sagt (ibidem: 5): „Hopi children believe in kachi-
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besonders die plastische, dient wie eine rituelle Vorführung, ein Mysterienspiel, ein Theater (heute ein Film) der optischen Veranschaulichung von MystischAbstraktem. Durch die Räumlichkeit, Plastizität kann allerdings die Skulptur noch mehr als das Bild direkt für das Bezeichnete, die Gottheit stehen, diese quasi inkorporieren und damit auch als Ersatz des Nichtanschaulichen, des Geisthaften dienen. Das Bildzeichen wird zum Idol, was immer wieder für die Schriftreligionen ein Ärgernis war und in Bilder- oder Skulpturenverbote (bzw. in die Zerstörung vorgefundener Bildwerke) mündete. In Ägypten, dem frühen Großreich am Nil, entstanden im Auftrag der Pharaonen und ihrer Würdenträger eine Vielfalt von Skulpturen, die meist in architektonische Großbauwerke integriert waren. Charakteristisch sind die halb Tier halb Mensch figurierenden ägyptischen Götter und Göttinnen (menschenähnliche Körper mit dem Kopf, z.B. eines Falken oder eines Hundes), denen sich die Darstellungen der göttlichen Pharaonen zugesellten. Ein entscheidender Umbruch erfolgte in der griechischen Plastik. Die polytheistische griechische Götterwelt war eng mit der Menschenwelt verquickt und die Bildnisse der Götter zeigten durchgehend Menschen bzw. in der Darstellung kann (heute) nicht immer entschieden werden, ob ein Mensch oder ein Gott als Ziel diente (außerdem gab es Halbgötter und Heroen). Die griechische Plastik nahm deshalb systematisch am Menschen Maß und entwickelte Idealformen, die auch anlässlich von Sportfesten und Olympiaden durch Menschen repräsentiert werden konnten. Waren die Darstellungen zuerst noch sehr statisch und monumental, da die Figur im Tempel der Statthalter des Gottes war, so wird besonders in der griechischen Aufklärung die Skulptur nimmer mehr zum Bildnis des schönen Menschen.3 Die Männer werden wie bei den sportlichen Anlässen nackt gezeigt (Frauen waren dort ausgeschlossen). Eng anliegende Kleidung lässt aber auch bei den Frauen-Darstellungen die natürlichen Körperformen sichtbar werden.4
nas just as our children believe in Santa Claus. […] Hopi children enjoy a whole series of Christmas delights during the period from late December to July.” 3
Die Dan in Liberia zeigen mit ihren dea-Masken ebenfalls ein Ideal weiblicher Schönheit an; vgl. Förster (1988: 225f.). Dieses westsudanische Schönheitsideal ist mit europäischen Vorstellungen zumindest kompatibel.
4
Der Realismus ging soweit, dass sich Menschen in eine Skulptur verlieben konnten (vgl. den antiken Stoff des Pygmalion), so wie sich heute Menschen in einen Filmstar verlieben und ihn verfolgen (stalken). Vgl. zur Entwicklung der griechischen Plastik Fuchs (1993). Am Anfang scheinen in der minoischen Tradition Statuen von Göttinnen gestanden zu haben; mit dem Aufkommen der Tyrannenherrschaft wurden dann Zeus und He-
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Diese Tradition wurde in der römischen Kunst, wo sie dominant politischen Zwecken untergeordnet wird, fortgeführt. Ihre Spuren wurden aber mit der Christianisierung systematisch getilgt, da diese Plastiken als heidnisch aufgefasst wurden (der erste christliche Bildersturm). Sie blieb lediglich in der Tradition der Grabmäler erhalten (die etruskischen Grabmäler waren das Vorbild der römischen und später der christlichen Grabkunst). Erst in der Renaissance, besonders bei Donatello und Michelangelo wird die antike Tradition der skulpturalen Menschendarstellung weitergeführt (vgl. die David-Figuren von Donatello, 1440, Bronze; Verocchio, 1470, Bronze und Michelangelo, 1501-1504, Marmor). Im Mittelalter hatte seit etwa 1000 eine reiche Dekoration der Kirchen eingesetzt, beginnend mit der Verzierung der Kapitelle in der Romanik und dann in der reichen Ausstattung der Portale und Innenräume gotischer Kathedralen. Der zweite Bildersturm im Kontext der Reformation konnte diesen Reichtum nicht gänzlich zerstören (vgl. auch das Kap. 3.1.6 zur skulpturalen Gestaltung des Sujets „Letztes Abendmahl“).
5.2 S EMIOTISCHER S TATUS
DER
S KULPTUR
Nach diesem raschen Überblick zur Geschichte der Skulptur will ich, bevor ich mich einem besonderen Fall, der Plastik von Henry Moore, zuwende, die Frage erörtern, welchen semiotischen Status die Skulptur hat. Als Zeichengestalt (representamen bei Peirce) ist die Charakteristik deutlich. Die Plastik ist dreidimensional, auch wenn im Einzelfall eine oder mehrere Ansichten dominieren mögen (z.B. im architektonischen Kontext). Wichtig sind außerdem Statik und räumliche Fülle, das wahrgenommene Gewicht und die Standfestigkeit der Skulptur. Die Materialien können vielfältig sein; seit den Hochkulturen (in Ägypten, Mesopotamien, Griechenland, Afrika) dominieren besonders haltbare und teure (oft technisch schwer beherrschbare Materialien). Letzteres zeigt sich besonders im Gussverfahren. Die technische (bis industrielle) Herstellung ermöglicht allerdings auch die Erzeugung von Multiples und ab dem 19. Jahrhundert sogar von Massenware. Die Größe der Objekte kann stark variieren, von der feinen Goldschmiedearbeit bis zu den Kolossen der Antike und den Großplastiken des 19. Jh. (so die Freiheitsstatue in New York). Die Übergänge zur Architektur sind fließend. Im architektonischen Kontext ist die Skulptur häufig Dekor oder sie verziert Plätze und Gartenanlagen. Die Bedeutungen skulpturaler Zeichen sind vielfältig. Wie bei vielen anderen Zeichenformen wird vorrangig Abwesendes, nicht Zuhandenes bezeichnet. Dies sind klassisch
rakles zu zentralen Themen (ibidem: 17). Vgl. Kap. 9.2.2 für den Zusammenhang von Herakles-Kult und Rolandsfigur.
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Geister, Ahnen, Götter, Heilige. Seit den Pharaonen und verstärkt bei den römischen Kaisern, dient die Skulptur auch der Verherrlichung des Herrschers (vor und nach seinem Tode). Diese Bedeutungskategorie spielt auch im Europa nach 1000 (z.B. bei den Ottonen) wieder eine große Rolle. Die bildhauerische Darstellung des Menschen charakterisiert den Typus Mensch (dessen kulturelle Idealform) oder einzelne Individuen (z.B. als Portraitbüste). Die aktuelle Idealform des Menschen wird im 20. Jahrhundert eher durch die Fotografie, den Film und die Mode repräsentiert, d.h. dieser Bedeutungstypus wurde an andere Kunst- und Kulturformen abgetreten. Was bleibt, ist die dreidimensionale (räumliche) Form, die Wirkung auf den Raum und im Raum. Stellt die Plastik eine bestimmte Person dar, kann auch ein Referent, ein spezifisches Designat angegeben werden. Die ikonischen, indexikalischen, symbolischen Gesetzmäßigkeiten funktionieren dann in etwa wie beim Bild (und wie beim Wort). Die syntagmatischen Stufen – vgl. die drei Ebenen: Wort, Satz, Text in der Sprache – können beim Bild und bei der Skulptur als Komplexstufen: Einzelbild bzw. –skulptur, Bilderreihe oder Figurengruppe, oder mit einem Figurenprogramm geschmückte Fassaden (vgl. Kap. 9.2.3) oder Altarbauten (vgl. Kap. 10.4 zum Pergamon-Altar) realisiert werden. Mit der Skulptur ist eine grundlegende Neuerung in die Betrachtung eingetreten, der räumliche Kontext, der unter zwei grundlegenden Aspekten zu analysieren ist, der Raum, in dem sich das Bild/die Skulptur befindet, und der Raum des Betrachters und dessen Bewegungen im Raum. Das Bild ist zweidimensional (und damit dem Sehen mit einem Auge dimensional äquivalent), die Skulptur ist dreidimensional (dazwischen liegen Reliefs, HalbReliefs und fest an Wände gebundene Plastiken). Der Bewegungsraum des Betrachters ist entsprechend verschieden. Im Großen und Ganzen bleibt das Bild für den Betrachter selbstidentisch (Ausnahmen sind spezielle Bilder, auf denen die Illusion einer Mitbewegung, z.B. der Augen der dargestellten Person erzeugt wird), die Skulptur verändert sich dagegen kontinuierlich mit der Bewegung des Betrachters, falls sie nicht rotations-symmetrisch wie eine Kugel ist. Der Bezug der Skulptur zum Raum verändert sich im Laufe der Geschichte und unterscheidet sogar Bildhauer der gleichen Epoche. So attestiert Leonardo der Skulptur zwar die Möglichkeit unendlich vieler Ansichten, er hält aber nur zwei Ansichten für wesentlich: die Vorder - und die Rückansicht (siehe Panofsky, 1980: 291, Fn. 7). Michelangelo vertritt dagegen eine ganzheitliche Auffassung. Er unterscheidet außerdem zwei Arten der Herstellung einer Skulptur und erkennt darin einen wesentlichen Unterschied in Gestalt und Wirkung: •
Die privative Herstellung. Der Bildhauer entfernt solange Material bis die Form, die er intendiert, erreicht ist. Diese Formung stellt für Michelangelo die eigentliche, originäre dar. Der Gestaltungsprozess beginnt bereits, wenn der Künstler im Steinbruch die geeigneten Steine auswählt.
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•
Die plastische Gestaltung eines formbaren (eventuell weichen) Materials. Die erreichte Gestalt kann später durch einen Bronzeguss oder mittels eines damit beauftragten Steinmetzen in eine harte, beständige Form gebracht werden. Die Plastiken Moores gehören meist dem zweiten Typus an. Sie werden häufig durch Zeichnungen oder kleine Probeplastiken (im Handformat) vorbereitet. Moore sieht gerade in dieser Handlichkeit ein charakteristisches Merkmal auch seiner Monumentalplastiken (siehe Moore, 1983: Vorwort von Gerhard Habarta). Die Fertigstellung und Aufstellung der Monumentalplastiken hat Moore allerdings akribisch überwacht (vgl. Le Normand-Romain, 1986: 201).
Michelangelo möchte, dass die Dynamik der Herstellung in der Skulptur sichtbar bleibt. In der Konzeption Leonardos stellt die Skulptur dagegen eine Art Doppelrelief dar, wobei die Seitenansichten lediglich ein neutraler Übergang sind. Sie bleibt damit in der Nähe des Bildes. Für Michelangelo haftet der fertigen Skulptur immer noch die Charakteristik des Ausgangspunktes, des Steinquaders an. Die Skulptur, sagt er, sollte so gemacht sein, dass man sie einen Hang hinunter rollen kann, ohne dass sie zerbricht. Moore nimmt hier eine Mittelstellung ein. Grundsätzlich ist die Skulptur für ihn etwas in der Hand Geformtes und damit der Handhabung Angepasstes. Sie bleibt, selbst in der monumentalen Ausformung „handlich“. Der Blick umfasst sie und „hantiert“ mit ihr wie mit dem Zuhandenen (ein Grundbegriff bei Heidegger). Ich werde auf einen Aspekt seines Werkes, die „reclining figure“, besonders eingehen. Mit Joseph Beuys wird später ein Bildhauer betrachtet, der die Grenzen dessen, was traditionell unter Bildhauerei verstanden wurde, sprengt (insbesondere mit seiner Konzeption der „sozialen Plastik“). Seine Diagramme bringen außerdem die Plastik in die Nähe der Sprache (ihrer Konzeptstruktur).
5.3 K ÖRPER UND R AUM IN DER P LASTIK (H ENRY M OORE )
ANTHROPOMORPHEN
Eine Plastik, ein Bild, ein dekoratives Muster, ist immer in ein historisches Paradigma, eine Tradition eingebettet. Sie wählt aus, negiert, korrigiert Elemente dieser Tradition. Die Plastik von Moore kann man generell in eine größere Bewegung einordnen, die mit der Bevorzugung organischer Formen, der Ablehnung des Mechanisch-Technischen und des Brutal-Monumentalen einhergeht. In Kap. 8.4 gehe ich auf biomorphe Tendenzen in der Architektur von Gaudi ein. Frühe Vertreter einer organischen Form in der Bildhauerei waren Archipenko (1887-1964; siehe seinen Sitzender Torso, 1909 und Fitschen, 2003: 14) und einige der Futuristen, so Umber-
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to Boccioni (1882-1916): Einheitliche Formen der Kontinuität im Raum, 1913; ibidem: 17). Weiche Formen finden wir auch in der Malerei von Picasso,5 Miró und Dali. Neben Henry Moore hat besonders Hans Arp (1886-1966) dieses Konzept vielfach in plastische Arbeiten umgesetzt. Es gibt natürlich bei Moore eine große Vielfalt von Themen und Skulpturtypen. Als Körperhaltungen kommen außer dem „reclining“-Typus vor: liegende, stehende, knieende; außerdem Mehrfigurentypen: Mutter und Säugling, Mutter und Kind (in vielen Posen; vgl. Moore, 1983: Abb. 16 bis 33), Mann und Frau (ibidem: 38-41).6 Ich werde mich im Folgenden nur mit Henry Moores „reclining figures“ beschäftigen. Ich gehe aus von einer Bleistiftzeichnung „Reclining Nude”, red and black crayon, ca. 1923; vgl. Moore (1989: 96). Hier zeigt Moore eine recht realistisch wirkende Darstellung des Themas, die uns als Folie für die in seinem späteren Werk zentrale Abstraktion im Räumlichen dienen soll. Eine Zeichnung von 1933 zeigt eine Serie von plastischen Projekten zum gleichen Thema. Obwohl einige der Figuren noch an ein menschliches Wesen in der Zwischenposition der „reclining“-Pose denken lassen, liegt insgesamt doch eher eine Studie zu räumlichen Proportionen und Positionen vor (mit dem Grundmaterial einer menschenähnlichen Figur und visuell motiviert durch auf seiner Farm gefundene Feuersteine und Tierknochen). Was im Abstraktionsprozess übrig bleibt sind: eine gewisse Horizontalität, eine teilweise Aufrichtung (mit Stütze) und die relativen Körpermassen: Kopf, Rumpf, Unterleib, Beine (vgl. Moore, 1989: 112).
5
In einer „Reclining figure“ von 1936 zitiert Moore die Struktur eines Gemäldes von Picasso von 1921 „La source“ (Moderna Museet, Stockholm); vgl. Valzey (2012).
6
Die Auswahl der Haltung spielte auch in früheren Kulturen eine große Rolle. So sind die „Hockfiguren“ weltweit verbreitet (vgl. die Weltkarte in Lommel, 1967: 103). Eine Abwandlung stellen die polynesischen Figuren mit gebeugten Knien dar (ibidem: 129f). Diese konnten auch gestapelt werden und bildeten dann Zauberstäbe oder SkulpturenPfähle. In der griechischen Plastik (vgl. Fuchs, 1993) gibt es stehende, sitzende und „gelagerte“ Figuren (ibidem: 305f.). Letztere sind häufig in einen dreieckigen Giebel eingepasst und stellen schlafende, sterbende oder tote Helden dar. Plastiken in „reclining“-Pose gibt es seit der Antike, z.B. den Dionysos am Parthenon (5. Jh. v. Chr.), die Darstellung des Tibers als Figur in Rom (1. Jh. n. Chr.) und zahlreiche Figuren bei Michelangelo. Selbst außereuropäisch findet sich diese Pose bei den Tolteken (Mexiko) in der Figur des Chacmool (11. bis 12. Jh. n. Chr.). Siehe Moore (1968: 158f.).
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Abbildung 41: Henry Moore. „Reclining Nude”, roter und schwarzer Bleistift, ca. 1923 (vgl. Moore, 1989: 96). Berühmt wurde Henry Moore durch seine großen bis gigantischen Skulpturen. Viele erinnern noch an menschliche Körper, andere entbehren dieses Verweises. In Abbildung 42 ist eine der vielen Ausprägungen unseres Themas bei Moore zu sehen, bei der die menschliche Form noch zu erkennen ist (ein Guss steht in Moorweide, Hamburg).
Abbildung 42: Henry Moore. „Reclining Figure: Hand”, 1979, Bronze (vgl. Moore, 1989: 265).
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Der Kopf hat noch die Position eines anatomischen Kopfes, die Form ist dagegen auf den Hals und dessen Verdickung (zum Kopf) reduziert. Man kann auch eine Ausrichtung des Kopfes (ähnlich wie bei der Zeichnung oben) erahnen. Unterhalb dieses Kopfes kann man eine Masse, die aus Schultern und Armen besteht, sowie die zentrale Kontaktfläche mit dem Untergrund, das Gesäß, erkennen. Unten und zur Rechten des Rumpfes gibt es eine Masse, die man als Bein, Knie, Füße (eventuell mit einem gespannten Bekleidungsstück)7 verstehen darf (siehe auch die Zeichnungen von 1948 in Moores Skizzenbuch; Moore, 1989: 151). Moore selbst verweist in einem Kommentar auf den visuellen Eindruck einer Steilkünste vom Strand aus, d.h. die anthropomorphe Skulptur verbindet eine breite Skala von Formeindrücken aus der belebten (menschlichen) Welt und der Natur (vgl. Moore, 2000). Das Ergebnis dieser ersten Analyse der plastischen Formen lässt eine Zuordnung zum Typus „Reclining Figure“ zu, wobei die anatomischen Körperteile zu regulären und weniger ausdifferenzierten Formen, die sich im Übergang zu mathematisch definierbaren Körpern wie Kugel, Zylinder, Kegel u.Ä. befinden, abstrahiert werden.8 Diese werden quasi weich „verdrückt“ wie die Uhren in Dalis Gemälden, so dass aus dem Zylinder die länglichen Körperformen Hals, Rumpf, Beine, Arme werden. Der Unterleib kann aus der Kugel abgeleitet werden, die Taille ist wiederum eher an den Zylinder angelehnt. Übergänge sind wie Kegelstümpfe gestaltet und das Ganze wird weich zusammengefügt, d.h. die Übergänge werden entgrätet, entkantet. Was deutlich erhalten bleibt, sind topologische Eigenschaften: Gibt es eine zusammenhängende Form oder zwei, mehrere getrennte? Gibt es negative Flächen, Höhlen, Löcher oder Henkel?9 Geht man von der Benennung durch Moore „reclining” d.h. sich zurücklehnen aus, so kann man semantisch die Nachbarn des Verbs bestimmen: liegen, sitzen,
7
In manchen Skulpturen Moores gibt das Gewand der Figur eine besondere Textur und ermöglicht ein Spiel von Licht und Schatten; vgl. die Große Liegende (1957, Haus der Kunst, München).
8
Bei der Entstehung des Kubismus haben die Entdeckung afrikanischer Kunst und die Zurückführung von Kunst auf geometrischer Formen zusammen gewirkt (so durch Golberg im Jahr 1908; vgl. Le Norman-Romain, 1986: 126f).
9
In Arnheim (1969: 272f) wird die zweiteilige Plastik von Moore (Two Forms, 1934) mit einem Gemälde von Camille Corot (Mutter und Kind am Strand) verglichen, für das Arnheim ein Strich-Skelett anfertigt. Moore isoliere wie ein Chemiker das signifikante Erscheinungsbild und lege die konzeptuelle Struktur frei, ohne allerdings dazu ein Diagramm anzufertigen. Er verbinde Konzept und Perzept „animating and enlightening each other“.
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stehen. Die reclining-Pose ist ein Mittelding zwischen diesen drei: stehen und liegen entsprächen eigentlich eher einer Pyramide oder einem Doppelkegel, während sitzen zumindest eine Komponente Kugel hat, d.h. der Bereich des Unterleibs, der die Fläche berührt, ist im Kontakt zur Fläche gerundet, wie etwa eine Halbkugel. Anhand der Grundformen, ihrer Gewichte (optisch) und der Deformationen und Übergänge ergeben sich vielfältige Raumgebilde, die Gegenstand der skulpturalen Darstellung sein können, ohne dass dabei die Verbindung zum Lebendigen, in der Lebenswelt räumlich Erlebten abbrechen würde.10 Die Gradwanderung zwischen Abstraktion und lebensweltlicher Verankerung ist wohl der Kern des bildhauerischen Bemühens bei Moore. In seinem Gesamtwerk lassen sich verschiedene Tendenzen oder Werks-Trajektorien aufzeigen: Anstatt einen Körper und diesen als Gesamtheit darzustellen, versucht sich Moore an Mehrkörperfiguren bzw. an mehrteiligen Körpern mit topologischer Zerlegung. Er drückt dies auch durch die Benennungen aus: „two piece, three piece, and four piece reclining figures“.11 Moore sagt: „Bei einer Figur aus zwei Teilen ist die Überraschung viel größer, sie bietet unerwartete Perspektiven (…). Ihre Frontalansicht lässt nicht auf ihre Rückansicht schließen.(…) Die dreidimensionale Welt steckt voller Überraschungen.“ (zitiert in: Le Normand-Romain u.a., 1986: 200f).
Mit der Anzahl der Teile bzw. dem Grad der Zerlegung in einzelne Teilkörper wächst auch die Abstraktion, d.h. die Teile nähern sich Kugeln, Kugelsegmenten, Kombinationen von Zylinder und Kegel usw. Dies wird besonders an der Four Piece Reclining Figure von 1934 (Tate Gallery London) deutlich. Im Hinblick auf die Sprache können wir sagen, dass die Segmentation und der Bezug auf Prototypen (Klassifikation) eine natürliche Tendenz komplexer Zeichengestalten darstellt. Sie manifestiert sich hier in Moores Skulptur; für die Sprache stellt sie aber eine BasisDynamik dar, die nicht erst im Sprechakt sondern bereits in der Sprachgenese vollzogen wurde (vgl. Wildgen, 2004a).
10 Moore war auch ein Bewunderer der Plastik von Auguste Rodin, und beide haben sich an Michelangelo orientiert. Rodin bestimmte die Skulptur in einer Weise, die auch auf Moores Skulpturen zutrifft: „Skulptur ist die Kunst der Buckel und Löcher, die Kunst, die Formen im Spiel von Licht und Schatten darzustellen.“ (zitiert in Netzer, 1960: 65). 11 In Moore (1968) werden Beispiele gezeigt: Nr. 10 one piece, Nr. 11 two piece, Nr. 40/41 three piece; die „four piece“-Komposition (N. 86) wird nicht mehr „reclining figure” genannt, gehört aber offensichtlich zu selben Familie von Skulpturen. In San Francisco, Civic Center befindet sich eine „Large Four Piece Reclining Figure“ (1973).
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• Außer konkaven und konvexen Deformationen gibt es auch Lücken, Löcher als Gestaltungsmittel. Diese treten etwa auf zwischen Armen und Beinen (wenn diese am Körper angewinkelt sind) oder als Höhlungen zwischen Körper und Liegefläche. Einige Skulpturen verneinen sogar die Referenz auf menschliche Körper: z.B. „Three rings, 1966-67” (Moore, 1968: Nr. 74). Einerseits wird dadurch die topologische Komplexität der Skulptur erhöht, andererseits aber die Bindung an den alltäglichen Anschauungsraum geschwächt. • Anstelle kontinuierlicher (konvexer oder konkaver) Flächen können scharfe Kanten oder Spitzen vorkommen (mathematische Singularitäten). Dies zeigt die Skulptur: Three points 1939-40 (Martigny, Schweiz); vgl. Moore, 1968: 45 (Nr. 37). Henry Moore und viele seiner kubistischen Vorgänger waren sich bewusst, dass es vergleichbare abstraktive Tendenzen schon in der Kunst von Naturvölkern gab, die seit Ende des 19. Jh.s auch häufig in Ausstellungen einem breiten Publikum vorgeführt und in der kunstgeschichtlichen Literatur gründlich rezipiert wurde. Um 1940 kam es zu einer Verbindung dieser durch Anthropologen zur öffentlichen Aufmerksamkeit gebrachten Kunst und den modernen Kunstströmungen. Damit wurde die Allgemeinheit von Gestaltungsprinzipien aufgezeigt, die nicht bloß das Ergebnis einer Wahrnehmungsskepsis oder einer Ermüdung durch traditionelle Formen der Plastik darstellen, sondern auf grundlegende Prinzipien der menschlichen Wahrnehmung einerseits und des künstlerischen Schaffens andererseits verweisen.12 Eine manieristische Variante der körperbezogenen Plastik finden wir in den Riesen-Keramiken von Elmar Trenkwalder (* 1959). Als er 1986 anfing in Ton zu modellieren, faszinierte ihn die Qualität des feinen Tons, seine Formbarkeit aber auch das Gefühl wie Fleisch und Haut beim Modellieren. Eine der wiederkehrenden Motive seiner vielgestaltigen Tonplastiken sind entsprechend auch menschliche Körper, häufig in erotischen Stellungen.13 Sind Moores Plastiken monumental und vielgestaltig, so bestehen die ebenfalls raumhohen Kompositplastiken Trenkwalders, wie es die Keramik erfordert, aus vielen Einzelplastiken, die mit sichtbaren Nahtstellen zusammengefügt sind. Die Komposition bedient sich der Zusammenfügung von Verschiedenartigem wie in der Groteske (vgl. zu Bosch und Arcimboldo Kap. 3.4). Dabei werden die Details nur angedeutet; die rhythmische Wieder-
12 Vgl. aber die Kritik an der eurozentrischen Interpretation afrikanischer Kunst in Förster (1988: Einleitung). 13 Vgl. Allemand u.a. (2012) und die Ausstellung in Bremen und anderen Städten, z.B. im Gerhard Marcks Haus vom 28.10.2012 bis zum 17.2.2013.
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holung einzelner Stilelemente lässt an indische Tempelfassaden und die spanische Spätgotik denken. Es dominiert die Phantasie, die Gesehenes, Erlebtes in eine komplexe visuelle Form zusammenführt. Drei Bedeutungsebenen bleiben bestimmend: 1. Im Detail konkret erfahrene Elemente der visuellen Welt mit einer Präferenz für erotisch-sexuelle Themen (Phallus-Vulva-Finger, erotische Körperstellungen). 2. Mittlere, zusammengesetzte Objekte haben den Charakter von Statuen, Brunnenplastiken, Gefäßen. 3. Die großen Ensembles wirken wie verkleinerte Tempelarchitekturen, Viel-Ebenen-Stalagmiten. Dadurch dass die einzelnen Formen nur weich angedeutet sind, bleibt der lebensnahe Charakter des Tons (obwohl er gebrannt ist) visuell erhalten (siehe dessen Rolle in alttestamentarischen Schöpfungsmythen). Die Plastik erhält dadurch einen organischen, vegetativen Charakter. Eine Tendenz, die uns in der Architektur auch bei Gaudi, der sich auch an gotischen Ornamentformen orientiert hat, begegnet; vgl. Kap. 8.4. Die besondere Beziehung zwischen dem Körper des Künstlers und der von ihm geschaffenen Skulptur wurde schon bei Moore deutlich, der auf die Handlichkeit (auch in der visuellen Anschauung) hinweist und sie ist auch in den erotischsexuellen Plastiken Trenkwalders zu spüren. Sie tritt mit der Aktionskunst, mit dem „happening“ endgültig in den Vordergrund. Gleichzeitig entsteht eine deutliche Trennung zwischen der aktualen Inszenierung (auch am Körper des Künstlers oder mit dessen Mitwirkung) und der Erinnerung daran in den museal darstellbaren Objekten und Spuren der Aktion. Ich werde dies am Werk von Joseph Beuys zeigen.
5.4 A RME , WARME M ATERIALIEN DER P LASTIK AKTIONSKUNST (J OSEPH B EUYS )
UND
Der Begriff der Kunst ist wohl immer mehr oder weniger umstritten gewesen. Gewiss konnten die Akademien für ihre Schüler und auch einen Teil des KunstPublikums eine Definitionsgewalt ausüben, aber die jeweiligen Bestimmungen haben nie den vielfältigen Bedürfnissen und Intuitionen der Künstler und der Kunstfreunde genügt. Die Krise der tradierten Kunstbegriffe wurde im 19. Jh. virulent, ja es kam zu einer Art Revolution im Kunstbetrieb und diese Revolution setzte sich fort, beschleunigte sich. Sie ist keineswegs abgeschlossen und ich möchte die Hypothese wagen, dass die zugrunde liegende Unsicherheit oder Unschärfe selbst zum Wesen der Kunst gehört und somit unauflösbar ist. Alle Definitionsversuche (inklusive der Revolutionen) sind als Impulse und Energiespender für neue Kunst segensreich und notwendig, aber sie „lösen“ das Problem der Definition nicht (und
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die Verantwortlichen sollen es gefälligst unterlassen, neue „Akademiegewalten“ einzuführen). Eine der provokantesten Figuren der zweiten Jahrhunderthälfte (des 20. Jh.) war Joseph Beuys. Er ist mit seiner Provokation durchaus mit dem in Kap. 4.4 behandelten Pollock vergleichbar, obgleich sowohl seine künstlerische Herkunft auch seine Zielsetzungen mit denen eines Pollock wenig gemein haben. Außerdem war er Bildhauer und nicht (in erster Linie) Maler. Da er sowohl in Bezug auf Materialien, aus denen Kunst gemacht wird, als auch in Bezug auf die zentralen (politisch-sozialen) Aufgaben, für die er die Kunst in der Pflicht sah, von der Nachkriegskunst provokant abwich, will ich mein Augenmerk zuerst auf die Entfaltung der Materialien (der dazu gehörigen Gestaltungstechniken) und danach auf die Programmatik seiner Installationen und Performances richten. Als Beuys an der Kunstakademie in Düsseldorf studierte, hatte er als seinen wichtigsten Lehrer den Bildhauer Mataré (1885-1962). Als dessen Meisterschüler hat er hauptsächlich Skulpturen in Stein und Eisen (Begräbnis- und Kirchen-Kunst) hergestellt. Im Jahr 1952 entwarf er einen Brunnen in Stahl (bestellt aber nicht angenommen von einer Stahl-Firma in Krefeld). Er wurde im Jahr 1984 Teil der Installation „D’Dull Barraque Doddle“. Sehr bald fügte er organisches Material (Pflanzen und Tiere): Hirsche, Elche, Schafe, Hasen, Bienen sowie Produkte von Tieren: Wachs, Honig (von Bienen), Fett (vom Tierkörper) und Filz (gewonnen vom Haar der Schafe) hinzu.14 In den sechziger Jahren (zuerst 1967, dann als Professor in Düsseldorf) und den siebziger Jahren begann Beuys, sein Konzept der Skulptur neu zu bestimmen und schuf den Begriff der „sozialen Plastik“. Die Materialien sind in dieser Schaffensphase nicht nur organischen oder tierischen Ursprungs, sie sind sozial und politisch (Gesellschaft, Menschheit). Wenn wir diese Entwicklung überblicken, können wir sagen, dass Beuys die Art der Materialien erweitert oder dass er den Begriff der „Skulptur“ totalisiert hat: • •
Von Stein und Stahl zu „warmen“ Materialien: Wachs, Honig, Fett, Tiere. Vom Lebewesen (Tiere, Menschen) zu Gesellschaften, zur sozialen und politischen Dynamik. Das ultimative Werk der Künstler sollte eine bessere (zukünftige) Gesellschaft oder gar Menschheit sein.
14 Jannis Kounellis stellte 1969 zwölf lebende Pferde in der Galleria l’Attico aus. In der Arte Povera der 60er Jahre wurden „ärmliche Materialien wie Erde, Glas, Äste, Neonlicht oder Wachs“ (Mendes, 2012: 7) bevorzugt.
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Nach seiner Entlassung als Professor in Düsseldorf schuf Beuys ein Programm für alternative Hochschulen. So wurde die „Freie Internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung“ zuerst in Deutschland konzipiert (1974, zusammen mit Klaus Staeck, Gerhard Richter, Erwin Heinrich und Heinrich Böll) und schließlich wurde sie in Irland (Dublin, Belfast, Derry) institutionell realisiert. Für sein bildhauerisches Werk in der ersten Zeit des Aufbruchs (der Begriff der „Bildhauerei“ passt natürlich nicht mehr zu Beuys neuer Technik der Kollage und der Zusammenfügung alltäglicher Gegenstände) mögen die Kreuzigungsgruppe und der Fettstuhl stehen. Im ersten Fall handelt es sich wie bei Leonardo um die Behandlung eines ikonografischen Grundmusters der christlichen Kunst. Maria und Johannes stehen als Zeugen des Kreuzigungstodes Christi unter dem Kreuz. Dieses ist bei Beuys auf ein Stück Holz reduziert, das Symbol des Kreuzes wird als „rotes Kreuz“ neu interpretiert. Dazu passen die beiden Blutkonserven, die für die Figuren von Johannes und Maria stehen. Die symmetrische Konfiguration mit der Dreiecksdisposition der Personen ist trotz der Verwandlung der Figuren erhalten geblieben. Beim Fettstuhl fehlen solche ikonografische Linien, welche es uns erlauben, eine reichhaltige Wissensstruktur in das Bild hineinzulesen, vollständig. Das Fetteck, das Beuys auch ohne Stuhl zur Plastik geformt hat, nimmt die Sitzposition eines Körpers ein und konzentriert ihn in der Materie, dem Fett, für Beuys den Inbegriff von Lebensstoff (Nahrungsreserve, Leibesfülle, Eigenprodukt des Körpers). Man mag an die fettleibigen Frauenfiguren der Eiszeit-Kunst (siehe Kapitel 2) denken oder an die Inuit und deren vielfältige Verwendung des Trans und die isolierende Speicherung von Eigenfett im Körper unter extremen Witterungsbedingungen. Im Gegensatz zu einer wertvollen Bronzeplastik ist das Fetteck auch eine Anti-Plastik, der Materialwert ist gering (das Material wird außerdem eher als abstoßend, ekelig, wertlos wahrgenommen). Die Form, der dreieckige Keil, der halbe Kubus, ist dagegen nahe an einer platonischen Idealform, allerdings verweisen die rauen Dreiecksseiten auf die Natur des Organischen, die glatten Quadrat-Seiten sind dagegen deutlich als gestalterischer Eingriff des Menschen zu verstehen. Im weiteren Verlauf seiner künstlerischen Entwicklung, wurden die Materialien zahlreicher (die Kompositionen immer komplexer) und die Dynamik der künstlerischen Realisierung vor dem Publikum rückte ins Zentrum. Performances wurden zum Wahrzeichen seiner Aktivitäten.15 Im Jahr 1965 erklärte Beuys seine Zeich-
15 Das „happening“ bzw. die Aktionskunst (performance) als Kunstform ist etwas älter. Wahrscheinlich wurde sie als Interaktion unterschiedlicher Künste von John Cage (Musiker), Robert Rauschenberg (Maler), Cunningham (Tänzer) und vielen anderen am Black
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nungen einem toten Hasen; dabei war sein Kopf mit Honig lackiert, auf den Goldplättchen geklebt waren. Im Jahr 1974 lebte er drei Tage lang auf der Bühne in einer New Yorker Galerie gemeinsam mit einem Kojoten. Im Jahr 1982 begann er in Kassel 7000 Eichen, jeweils von einem Basaltstein begleitet, zu pflanzen. Eine Sammlung von Basaltsteinen mit ringförmiger Perforation aus dieser Aktion befindet sich im Museum Hamburger Bahnhof, Berlin.
Abbildung 43: Kreuzigung 1962/63 und „Fettstuhl”, 1963 (Landesmuseum Darmstadt) Die politischen Aktivitäten von Beuys und deren Beziehung zu seiner künstlerischen Arbeit gehören zur gleichzeitig in Westeuropa sich abspielenden Kritik an der Kriegsgeneration und der durch sie bewirkten kulturellen Stagnation; insofern schwimmt Beuys mit seiner Kunst im Zeitgeist, man könnte auch sagen, er ist ihr künstlerisches Sprachrohr. Auch die Ökobewegung spiegelt sich in der Kunst von Beuys; bereits während und nach dem Krieg hatte er sich für Biologie- und Tierfilme interessiert bzw. dabei mitgewirkt (mit seiner Kriegsbekanntschaft Heinz Sielmann, 1917-2006). Jedenfalls gehörte Beuys zu den Gründungsmitgliedern der Partei der Grünen und kandidierte bei deren ersten Teilnahme an allgemeinen Wahlen. In Anbetracht der Provokationen durch Beuys und der öffentlichen Kontroversen drängt sich die Frage nach dem künstlerischen Wert seiner plastischen und
Mountain College um 1952 initiiert. Als Wort wurde „happening“ mit Bezug auf Pollock von Allen Kaprov in die Kunstliteratur eingeführt.
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graphischen Arbeiten auf. Diese Frage ist im 20. und 21. Jh. eng mit der Frage nach dem Markwert und den Wertmaßstäben des Kunstmarktes verbunden. Wie in anderen Bereichen der modernen Kunst ist der materielle Wert oft gering, da einfache, billige Materialien verwendet werden. Die Dauerhaftigkeit des Kunstwerks ist auch eher mäßig, d.h. die Bewertung bezieht sich wesentlich auf das Kunstwerk in seiner Auf- oder Ausführung, in einer bestimmten Situation oder in dem begrenzten Zeitraum seiner situativen Existenz (z. B. in den zwei Monaten der Aufstellung der „Straßenbahnhaltestelle“ bei der Biennale in Venedig; danach wurde das ganze Material demontiert und eingelagert). Die nach den Aktionen oder Ausstellungen verbleibenden und in einem Museum gelagerten Stücke oder die in einer KunstAuktion verkauften Werke, können nicht das primäre Objekt der ästhetischen Beurteilung sein, obwohl sie den wirtschaftlichen Wert (den Preis) des Kunstwerks definieren. Jenseits dieser „Erinnerungskultur“ ist es aber schwierig bis unmöglich einen Wertmaßstab anzulegen. Viele Kunstobjekte von Beuys haben biografischen Erinnerungs-Wert. Die Frage ist dann: Haben diese biographischen Erinnerungs-Werte (etwa an Situationen in Beuys’ Leben) einen ästhetischen Wert für die größere Öffentlichkeit, die diese Erinnerungen nicht teilt. Beuys’ Kunst spiegelt in der Regel darüber hinaus meist einen „Zeitgeist“ wieder. Insofern sie diesen „Zeitgeist“ auffängt, hat sie einen Wert für eine Gemeinschaft (z. B. für Deutschland oder Europa) in dieser Periode (z. B. in den sechziger Jahren). Wie verändert sich dieser Wert im Laufe der Zeit, wird er möglicherweise verblassen? Dies kann auch ein Kriterium für die Bewertung seiner Kunst als „soziale Plastik“ sein. Kann die gesellschaftliche Struktur realisiert werden oder hat ihr Programm zumindest politische Folgen (die Spuren einiger Konzepte von Beuys könnte man in der Öko-Bewegung und in den neuen Parteien suchen)? Schließlich ist die Investition des persönlichen Lebens im Kunstwerk auch ein Kriterium. Der wahrgenommene Wert von Beuys’ Installationen und Performances hing wesentlich von seiner körperlichen Präsenz ab. Wie hat dieser Wert sich nach seinem Tod verändert? Eigenartiger Weise spielt bei vielen modernen Künstlern auch die Art des Todes (und des vorherigen Lebens) eine Rolle bei der Evaluation ihres Werks. Dies ist bei Pollok (sein Alkoholismus und sein Unfalltod im Rausch passen in den Stereotyp des extravaganten Künstlers, wie er noch heute in der Rock- und Pop-Kultur gepflegt wird). Beuys als Familienvater und engagierter Lehrer passt nicht zu diesem (amerikanischen) Stereotyp. Immerhin war der Mythos seines Flugzeugabsturzes und der Pflege durch die Krimtartaren ein Baustein, der von der Presse gepflegt und von Beuys zumindest geduldet, wenn nicht gar unterstützt wurde. In Beuys’ Motto: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ (einige Schüler fügen hinzu: solange er nicht Kunst studiert) leugnet er eine solche Spezifizität; aber seine exzentrische Persönlichkeit und die Erfolge seiner Auftritte beweisen, dass er nicht
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Jedermann ist und so widerspricht seine künstlerische Arbeit seinem Diktum (in einer weiteren Interpretation: „Jeder Mensch hat die Fähigkeit kreativ zu sein“ gilt das Diktum wohl, überrascht aber nicht). In einem anderen Diktum „Kapital = erweiterter Kunstbegriff“ bezieht er sich zunächst auf die menschliche Kreativität, auf die Befähigung zur Kunst, die ein Kapital für die Menschheit bedeutet. In zweiter Linie (unter Umkehrung der Marxschen Mehrwert-Theorie) sagt es, dass die ausgetauschten Produkte selbst zum Medium werden können, wenn das Geld und dessen Flüsse und nicht mehr die Waren, die ausgetauscht werden, im Zentrum stehen. Kunstobjekte können diese mediale Funktion in Reinform repräsentieren; sie wären dann eine Alternative zu Papiergeld und Aktien. Man könnte schlussfolgern, das die ganze Wirtschaft zum symbolischen Prozess wird, der nur noch punktuell und sporadisch auf die Warenproduktion und deren Zirkulation bezogen ist. Jede Wirtschafts- oder Bankenkrise straft diese Sichtweise allerdings Lügen (in den Zeiten der Konjunktur und des Reichtums mag sie dennoch eine gewisse Geltung haben).16 In einer Fernperspektive könnte man sich eine Welt vorstellen, die zu großen Teilen und besonders in ihrer Entwicklungsdynamik vom Menschen, d.h. von seiner Imagination und Zeichenkreativität geformt wird. Bezogen auf die theologischen Debatten zum Kreationismus könnte man sagen, das Bibelwort: Gott sprach, es werde Licht und es ward Licht wird umgewandelt in: Der Mensch sprach, es werde Licht und es ward Licht. Die Schöpfung liegt dann in den Händen des Menschen (in seiner Verantwortung). Man kann diese Neue Zeit, die wir gerade erleben, das Anthropozän nennen (vgl. die Bemerkungen dazu in Kap. 11). Möglicherweise geht es mit dieser Ambition aber wie mit dem Turmbau zu Babel; die Sprachen verwirren sich, die Zeichendynamik wird chaotisch, der Turm bleibt unvollendet und kehrt in den Naturzustand, den Erdhaufen zurück. Die bereits festgestellte Reflexivität und Konzeptorientiertheit der modernen Kunst rückt sie in die Nähe der sprachlichen Kunst, die wir in Kap. 10 im Zusammenhang mit Bild und Bildlichkeit untersuchen werden. Da gerade Beuys zu dieser Frage wichtige Beiträge geleistet hat, will ich vorausgreifend seine Bildhauerkunst mit der Sprache vergleichen und mich dabei an seinen Konzepten orientieren.
16 Dies hat bereits der Soziologe Luhmann so gesehen, der Kunst als generalisiertes symbolisches Medium in eine Kategorie mit Besitz und seltenen/wertvollen Objekten des Besitzes stellt. Vgl. dazu aus einer evolutionären Perspektive Wildgen (2004a: 190-195).
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5.5 S OZIALE P LASTIK
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BEI
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Einfache Kunstobjekte, z. B. Skulpturen oder Gemälde, Konfigurationen von vielen Objekten, sowie technische Anlagen (vgl. seine Honigpumpe) reichten nicht aus, um die pädagogischen und politischen Ambitionen von Beuys zu befriedigen. Er fing an, utopische politische Programme bis hin zu internationalen Treffen zu organisieren und gründete mehrere politische Parteien. In seinen Diagrammen auf Tafeln oder auf dem Boden führte er figurative Zeichnungen kombiniert mit grafischen Symbolen (Linien, Kreisen, Pfeilen) und dem geschriebenen Wort vor. Explizit bezog er sich dabei auf den Darstellungsstil in Leonardos Codices. Zur Exemplifizierung dieser Ambition kann man zwei Darstellungen des Menschen (der Frau) in wissenschaftlicher Absicht bei Leonardo und Beuys einander gegenüberstellen: Leonardo da Vinci, 1508. Innere Organe einer Frau (vgl. Beuys, 2008: 230 und Zöllner, 2011: 450) und die Zeichnung von Beuys, 1975: Hören, Sehen, Fühlen (vgl. Beuys, 2008: 231). Leonardo bezieht sich dabei auf die Anatomie (wobei er hauptsächliche Quellen seiner Epoche benützt), Beuys dagegen auf das Gefühls- und Geistesleben (die Sinne). In der Zeichnung von Beuys aus dem Jahr 1975 weisen schematische Elemente auf Prozesse wie: Hören, Sehen (vgl. die „Kanäle“, die von den Augen und dem rechten Ohr ausgehen) und Gefühl (vgl. die Pfeile vom Unterleib zum Kopf). In einem weiteren Diagramm aus derselben Zeit (1972) verwendet er logische Gegensätze zur Charakterisierung der Begriffsfelder (vgl. Diagramm ohne Titel 1972 in: Beuys, 2010: 261): •
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• •
Chaos − Ordnung; Geburt − Tod, Wärme − Kälte; Willen − Gefühl − Denken. In diesen Skalen mit zwei oder drei Werten könnte man eine Analogie zum „carré sémiotique“ erkennen (vgl. Greimas, 1966 und Wildgen, 2010a: 138141); doch Beuys verwendet lediglich die klassische aristotelische Technik der Gegensätze, die auch Greimas erneut zur Anwendung gebracht hat. Immerhin ist es interessant, dass beide, der Künstler und der Semiotiker zur selben Technik gegriffen haben, um ihre Intuition in eine verständliche Form zu bringen. Ordnung und Form werden durch Kristalle (regelmäßige Körper) dargestellt. Dies ist ein klassischer Topos seit Platons Dialog „Timaos“. Leonardo, Dürer, Kepler, Goethe und viele andere in der platonischen Tradition benützten die genannten regelmäßigen Körper und Kristalle, um die Regelmäßigkeit in der Natur zu erklären. Das Gegenteil der Ordnung: Chaos und Turbulenz, wird durch Spirallinien dargestellt. Eine andere Zeichnung enthält Anspielungen auf mathematische Formen und Konzepte in den Naturwissenschaften:
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Kristallisation als anorganischer Prozess (diese produziert regelmäßige Formen), Embryologie, Zellteilung und biologische Entfaltung (vgl. dazu auch Thom, 1972). Energie-Fluss und Thermodynamik (Wärme); vgl. dazu „das Strömen von Energie in den Dingen“ (Mendes, 2012: 7) in der Arte Povera sowie Prigogines „dissipative Strukturen“.
Eine große Sammlung beschrifteter Schieferplatten ist im Museum, Hamburger Bahnhof, Berlin zu besichtigen. Auf einer der Platten schreibt Beuys sinngemäß: Die Kunst ist das einzige Mittel um die Welt, die sich im Niedergang befindet, noch zu retten. Der Künstler ist in Beuys’ Vision Prophet und Lehrer zugleich. Die Zeichnung ohne Titel von Beuys (Evolution), 1974 (vgl. Beuys, 2008: 313) ist eher eine Ansammlung von vielen Diagrammen mit ähnlichen Themen zu einer Zeichnung als ein komplexes Diagramm, eher das Tafelbild zu einer Vorlesung als ein grafisches Kunstwerk. Mit Beuys’ Aufhebung der Grenzen zwischen den Kunstformen einerseits und von Kunst und Wissenschaft/Philosophie andererseits, sind solche Abtrennungen aber belanglos geworden. Mit der Entstehung der abstrakten Kunst (Duchamp, 1911, Kandinsky, 1913) gewannen in der Kunst reflektierende Prozesse an Bedeutung. Dies zeigt sich besonders im Werk von Paul Klee. Gesten und Bewegungen / Performances treten in den Vordergrund, dies ist z.B. charakteristisch für die Arbeiten von Pollock nach 1945 (vgl. Kapitel 4.4). Ergänzend zur schwindenden Relevanz der figurativen Kunst und dem Überwiegen der reflektierenden Prozesse setzte sich eine minimalistische Haltung durch (vgl. Arte Povera, Informel, Minimal Art). Dieser Trend fand Anhänger und beeinflusste viele aktive Künstler. Als allgemeine Konsequenz des Hervortretens des konzeptionellen Hintergrunds im Kunstwerk verlor die technische Leistung in der klassischen Bildhauerei an Bedeutung, ja es kam zu einer bewussten Abkehr von der technologischen Welt (vgl. Mendes, 2012). Diese Entwicklungslinie brachte das visuelle Kunstwerk in der Nähe des sprachlichkonzeptuellen Denkens.17 Beuys sagte in einem Vortrag von 1985: Mein Weg ging durch die Sprache, obwohl dies seltsam scheint, es kam nicht aus dem künstlerischen Talente [...] Es führte mich zu einem Begriff der Skulptur, die bereits beginnt, wenn
17 Fried (1998: 148) nennt den Minimalismus auch „literalist art“. Diese Kunst lehnt sowohl anthropomorphe Gestaltungen als auch relationale, d.h. aus bestimmten Teilen zusammengefügte Gestaltungen ab. Fried hält sie für eine Kunstideologie (ibidem).
176 | BILDORDNUNGEN IM R AUM wir denken und sprechen […] der Gestaltung unserer Gefühle und Absichten. (Zitiert in: Beuys, 2000: 27)
Sprechen und Sprache als Kunstwerk war jedoch für Beuys in erster Linie konzeptionelle Innovation und die Schaffung neuer sozialer Bedeutungen. Starre Regeln der Syntax konnten ebenso wie die etablierten Wortbildungs-Produkte in einem Lexikon geändert, mit neuen Bedeutungen und Funktionen gefüllt werden. Das Kunstwerk wird in dieser Linie des Denkens zu einem konzeptionellen Verfahren, zu einer Operation mit konkreten, visuellen oder gesprochenen Formen und es ermöglicht den Zugang zu einem unsichtbaren, nicht direkt wahrnehmbaren Raum der intellektuellen Kreativität. Die Techniken der visuellen Kunst sind dabei vielfältig: 1. 2. 3. 4.
Grafische Zeichen auf Oberflächen Diagramme, Schreiben, Skulpturen (einschließlich Innenausstattungen, Installationen), Aktionen mit Gesten, Happenings und Video-Dokumentationen (einschließlich einer parallelen musikalischen Performance).
In einem Interview präzisiert Beuys den Zusammenhang zwischen Zeichnen und Sprache: es ist eine wirkliche Grundtatsache, dass diese Zeichnungen einen unmittelbaren Niederschlag in meiner Sprache gefunden haben …“ (Beuys, 1979: 39b).
Seine Sprache löst sich vom Alltagsgebrauch und wird zum Instrument seiner künstlerischen Kreativität. Als Schriftsteller hätte er sich eher diesem Sprachgebrauch verpflichtet gefühlt und weniger Freiheiten gehabt (siehe die Kommentare von Beuys: ibidem). Im seinem Gebrauch von Wörtern und der damit verbundenen Konzepte benutzt er zwei Techniken der Innovation: 1. Das Ausleeren des Bedeutungsraumes entweder durch eine Reduzierung der Wörter auf Laute (vgl. die Dada-Poesie) oder durch ein Pseudosprechen, z.B. das Sprechen zu einem toten Tier (das zudem für die Zuschauer nicht hörbar war). 2. Das exzessive Spiel mit den Wörtern und mit deren Bedeutungen; Beuys gebraucht eine musikalische Metapher: mit den Wörtern Rock & Roll spielen. In einer Hinsicht sieht Beuys die Sprache als eine natürliche Ausstrahlung des menschlichen Körpers; die menschliche Stimme ist an und für sich eine Art Kunstwerk (unabhängig von der referentiellen Funktion, die sie haben kann). In anderer Hinsicht ist sie die Manifestation des menschlichen Denkens und sie ist in dieser
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Hinsicht instrumentell, d.h. das (sprachliche) Denken ist das eigentliche künstlerische Phänomen. Dessen Ausdruck durch die Sprache ist nur ein Kanal, eine Adaptation an die artikulatorischen Möglichkeiten (insofern eher eine Einschränkung als ein eigener Kreativitätsbereich). Deshalb ist die konventionelle Konstruktion der Sprache auch ein Hindernis, das überwunden, ein Filter, der durchdrungen werden muss. Die Starrheit des Lexikons muss dekonstruiert werden, damit neue Bedeutungen im Kontext auftauchen können.18 Aber die Sprache ist auch ein Thema in seinen Zeichnungen und Diagrammen. Die gesprochene Sprache ist wie Rauch aus dem Schornstein einer Fabrik, das Nebenprodukt in der Fabrikation des Denkens, Fühlens. Sprache ist auch eine vokale Geste, die wir beim Lippenlesen oder anhand des Röntgenfilms einer sprechenden Person beobachten können. Bei der Experimenta 3, 1969 in Frankfurt, rezitierte Beuys Teile des Theaterstücks Titus und Iphigenie. Dabei bediente er auf der Bühne Musikinstrumente und deutete auf Diagramme, welche die Bewegungen der menschlichen Zunge, die das Wort Iphigenie aussprechen, beschreiben. Sprache wird als Klangskulptur und Lautgeste verstanden; vgl. Bodentafel II, entstanden 1970 in Edinburgh mit dem Titel: Der menschliche Sprachfluss (Beuys, 2008). Der Stimm-Apparat ist auch ein Bifurkationspunkt in einem allgemeineren dynamischen Feld, das den menschlichen Willen, die menschliche Bewegung und das Bewusstsein („bewusstes Seelenleben“) einschließt (vgl. Beuys, 2008: 55). In eine ganz andere Richtung als die Kunst von Beuys weisen die folgenden Ausführungen. Eine sehr alltägliche Gestaltung des menschlichen Körpers erfolgt in den Bereichen der Kosmetik, des Haarschnitts und besonders der Bekleidung (man könnte noch die Schönheitschirurgie und die ganze mediale Werbung zu diesen Themenbereichen hinzufügen). In unmittelbarem Zusammenhang mit dem menschlichen Körper stehen auch das Design von Gebrauchsgegenständen, die mit dem Körper zu tun haben, insbesondere das Mobiliar, das sportliche Equipment und vieles mehr. Ich will mich lediglich mit der Bekleidung beschäftigen und dazu erneut von der evolutionären Ausgangsbasis starten.
18 Von „einer minutiösen lexikographischen Analyse des Realen“ (Mendes, 2012: 72) ist bereits in der Arte Povera die Rede. Diese bezieht Beuys auch auf die Lautform. In einer Rede, die er vor Studienanfängern in der Kunstakademie Düsseldorf halten musste, erzeugte er nur die Laute von Schafen: „öö öö“, um so den rituellen Charakter solcher Ansprachen zu brechen.
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Semiotische Kernpunkte (Kap. 5) 1. Das plastische Zeichen entfaltet seine visuelle Form mit der Bewegung des Betrachters. Die Abstraktionsprozesse sind einerseits geometrisch/ topologisch, andererseits bleibt häufig eine Referenz auf Biomorphes erhalten. 2. Die Plastik prägt den umgebenden Raum und tritt damit in eine Zeichenbeziehung zum sozialen Geschehen in einem architektonischen oder städtebaulichen Kontext. Im Extremfall wird sie deshalb zur sozialen Plastik (Beuys). 3. Die konzeptuelle Plastik verstärkt den Zusammenhang mit der Sprache, verweigert sich aber der dort dominanten Konventionalität.
6. Der menschliche Körper als Zeichenfläche und die vestimentäre Semiotik
6.1 B IOLOGISCHE P RÄGNANZ DES MENSCHLICHEN K ÖRPERS UND DIE S EMIOTIK DES K ÖRPERS In seinen Werken von 1871 und 1872, in denen Charles Darwin spezieller auf die Evolution des Menschen eingeht und die Ausdrucksfähigkeit von Tier und Mensch untersucht, spielt die sexuelle Selektion eine zentrale Rolle. Noch mehr und radikaler (schneller) als die Selektion durch Umweltfaktoren (Klima, Krankheitserreger, biologische Konkurrenten) wirkt die innerartliche Selektion bei der Partnerwahl, da sie direkt die Art und Anzahl der Nachkommen steuert. Darwin veranschaulicht dies anhand des Paarungsverhaltens von Hirschen (Brunst) und Vögeln (Balz). Die Weibchen folgen dem in der Konkurrenz der Männchen erfolgreichen Hirsch und die weiblichen Vögel bevorzugen schöne, ausgiebig balzende Partner. Die männlichen Tiere gehen dabei ein großes Risiko ein, d.h. sie verringern ihre Überlebenschancen, so dass Umgebungsselektion und sexuelle Selektion konträr sein können. Manche Biologen sehen darin einen tieferen Sinn, da sich damit sehr starke, der Umgebungsselektion trotzende Individuen in der sexuellen Konkurrenz durchsetzen. Im Grunde liegt aber ein einfacher Mechanismus vor: der Erfolg bei der Partnerwahl erhöht für die männlichen Mitglieder der Gruppe die Chance, ihre Gene weiterzugeben. Da meist eine Asymmetrie zwischen den Geschlechtern besteht, wobei das Weibchen die größeren Kosten bei der Geburt und Aufzucht der Jungtiere hat, wird die sexuelle Selektion oft als gerichtet angesehen. Die Weibchen selegieren die Männchen für die Weitergabe von Genen. Besonders bei sozial lebenden Tieren, wo die Kosten besser verteilt sich, d.h. Männchen und weitere Familienmitglieder teilen sich mit den Weibchen die Kosten des Nachwuchses, ist auch eine Selektion der Weibchen durch die Männchen anzunehmen. Dies gilt besonders für den Menschen, wie das Bemühen der Frauen, sich dem Begehren der Männer entsprechend zu verhalten und zu kleiden, in vielen Kulturen deutlich erkennen lässt. Außerdem gibt es Kulturen mit matrilinearer Erbfolge oder eher gleichverteil-
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ten Rechten von Männern und Frauen, wo eine Selektion in umgekehrter Richtung oder in beide Richtungen erfolgen kann.1 Die semiotische Gestaltung des eigenen Körpers und die Bekleidung sind deshalb auf dem Hintergrund der sexuellen Selektion und spezifischer kultureller Formen der Paarbildung zu verstehen. Dies wirkt sich direkt auf die körperlichen und vestimentären Zeichen, sowie auf Ideal- und Schönheitstypen aus. Wir können grob eine Skala von biologischen sehr stark regulierten Zeichen und kulturell variablen, konventionellen Körper- und Kleidungszeichen unterscheiden: 1. Informationen des Körpers, die auf Immunitäten verweisen und z.B. durch den Körpergeruch signalisiert werden und dadurch die Partnerwahl beeinflussen. Tendenziell wirken komplementäre Immunitäten selektionsfördernd, jedenfalls aber Resistenz gegen Krankheiten (z.B. signalisiert durch „gesundes“ Aussehen und entsprechende Bewegungsformen). Solche Faktoren können im Detail durch Regeln der Partnerwahl, z.B. das Verbot von Inzest, kulturell elaboriert werden. 2. Stereotype Ideale der Körperform, so etwa die klassischen Hüft-, Taille-, Brustmaße (90-60-90) bei Frauen oder die breiten Schultern und sichtbaren Muskelpartien bei Männern. Dazu gibt es schon in der Steinzeit Zeichnungen, und plastische Darstellungen. Später spielen in der bildenden Kunst, der Fotografie, dem Film Konkretisierungen dieser Ideale eine zentrale Rolle, d.h. bildliche Darstellungen, welche die Idealformen zum öffentlichen Bewusstsein bringen (und damit die natürliche Variabilität solcher Idealvorstellungen reduzieren). Auch Bekleidungsformen werden auf diesem Wege bildlich, quasi katalogartig fixiert. 3. Kurzfristige Moden, welche etwa die „Sexbombe“ oder dann die „TwiggyFigur“ zum Ideal erheben oder über die Sport- und Freizeitindustrie gesteuert werden (etwa die Joggerin, der Bodybuilder usw.). Es gibt dabei konträre Tendenzen: Uniformierung, entweder zentral gesteuert, wie die blauen Uniformen in Maos China, oder selbstorganisiert wie die Jeansmoden im Westen, oder aber als Gegensatz dazu die Individualisierung und Gruppenselektion, wie in der Haute Couture oder in den zahlreichen Subkulturen, von den Blumenkindern der 70er Jahre bis zu den Gothics der 90er.
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Eine stärkere Differenzierung der Geschlechterrollen ist wahrscheinlich erst in den agrarischen Kulturen, d.h. im Neolithikum aufgetreten. Die Evolution des moderen Menschen war da aber im Wesentlichen abgeschlossen. Die eher wechselseitige Selektion von Männern und Frauen mag auf eine frühe egalitäre Aufgabenverteilung verweisen.
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Die körperlichen Zeichenbildungen sind, da sie das Substrat, den Körper nur begrenzt formen können, natürlicher, d.h. es wird nur die Oberfläche modifiziert, der Körper bleibt insgesamt erhalten. Immerhin kann man anhand der ethnologischen Forschungsergebnisse sehen, wie weit die Umformung des Körpers im Sinne einer Zeichengebung gehen kann. Die Kopfform kann im Säuglingsalter modifiziert (so bei den alten Ägyptern), die Füße können klein gehalten werden (so bei Frauen im alten China), Ohren, Lippen können perforiert werden, so dass Zierobjekte eingefügt werden (diese Technik ist im Piercing wieder modern geworden). Meist ist aber nur die Haut und das Haar betroffen, d.h. die Körperoberfläche. Nach Knight (2002: 150ff) spielte die Ockerfärbung der Haut bei Frauen vorgeschichtlich eine große Rolle, da sie Menstruation vortäuschte bzw. deren Phasen verschleierte. Seitdem Freizeitaktivitäten Statussymbole geworden sind, ist eine braune Haut (am besten nahtlos) ein leicht manipulierbares Zeichen geworden (durch Sonnen im Urlaub oder auf der Solarbank). Viele körperliche Zeichen sind aber an Bewegungen gebunden bzw. werden durch sie ausgedrückt. Klassisch sind der feste Schritt des Militärs, das gemächliche Schlendern des „Flaneurs“, der Hüftschwung der Sexbombe, die erratischen (kindhaften) Bewegungen der „Girlies“. Da die visuelle Wahrnehmung sehr stark auf die Bewegung ausgerichtet ist, sind solche Stile kommunikativ wirkungsvoll (insbesondere bei der ersten Kontaktaufnahme möglicher Geschlechtspartner). In den körperlichen Zeichen ist die subjektive Prägnanz von Zeichen am deutlichsten und die ursprüngliche Beziehung zur sexuellen Selektion ist am klarsten erkennbar. In der weiteren sozialen Kommunikation werden diese Zeichen dann in Status- und Hierarchiezeichen umgewandelt und weiter variiert und konventionalisiert. In der Körperkunst, etwa dem Ballet, der Pantomime, der Schauspielkunst wird das Grundrepertoire des körperlichen Ausdrucks variiert, in seinen Möglichkeiten über das Alltägliche hinaus ausgeschöpft und im Kontext von Musik oder dramatischer Thematik in immer wieder neuen Konfigurationen und seriellen Abfolgen gestaltet. Es wird quasi sprachähnlich verdichtet und von den gewöhnlichen Kontexten seines Gebrauchs abstrahiert und damit zur Kunst, einer Zeichenkultur jenseits (aber nicht gänzlich losgelöst) von gewöhnlichen, sich ständig wiederholenden Mustern.2 Das Lexikon solcher Bewegungszeichen, etwa im Tanz oder in der Cho-
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Die biologische Basis von „Kunst“ könnte die Auslotung des menschlichen Gestaltungspotentials und damit die kulturelle Aktivierung der biologisch angelegten Möglichkeiten im Sinne einer Steigerung, gar einer Weiterentwicklung menschlicher Gesellschaften sein; vgl. dazu Beuys’ soziale Plastik und Kap. 5.5. Hier zeigt sich das Phänomen der In-
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reografie, ist rund um Prototypen, z.B. der Bein- und Armbewegungen, der Kopfund Rumpfbewegungen, in Feldern organisiert. Die Syntax ist einerseits in den bildhaften Konfigurationen dreidimensional als ein Nebeneinander im Raum organisiert, andererseits wird sie durch die zeitlichen Abfolgen solcher „Körperbilder“ und deren Konfigurationen bei der Bewegung von Paaren, Tanz-Gruppen oder ganzen Ensembles realisiert. Diese Zeichen verweisen aber ebenso wie diejenigen der Musik nicht mehr auf eine äußere, dargestellte Welt, sondern zuerst auf die Gefühls- und Bewegungswelt von Tänzer und Choreograph, dann auf analoge Seelenund Körperbewegungen beim Zuschauer und schließlich in einer pauschalen Weise auf das menschliche Leben in seiner Dramatik und empfundenen Bedeutsamkeit. Diese Hinweise zum Tanz und zur Dramaturgie des Schauspiels müssen hier genügen, da wir bei einer weiterführenden Betrachtung auf die Kulturgeschichte des Tanzes und seine evolutionären Wurzeln eingehen müssten; vgl. auch die Bemerkungen von René Thom zum Tanz in Kap. 1.1.6 (c). Ich möchte mich exemplarisch einem der visuellen Wahrnehmung und Gestaltung im Alltag näher liegenden Phänomen, der menschliche Bekleidung, zuwenden und dabei von der Gestaltung des Haupthaares ausgehen.
6.2 D IE S EMIOTIK DES MENSCHLICHEN H AARES Ü BERGANG ZUR K LEIDUNGSSEMIOTIK
IM
Die ursprüngliche Behaarung unserer Vorfahren bis zum Australopithecus vor vier Millionen Jahren trägt klare Funktionsmerkmale, z.B. die äußere Isolation gegen Hitze und Kälte, den Schutz bei Beißangriffen, die optische Tarnung und mehr. Mit dessen Verlust ging aber nicht die gesamte Bedeutung verloren. Wie bereits Darwin im Kontext des Ausdrucksverhaltens von Tieren (und Menschen) erläutert, bleibt auch nach dem Verlust der „dienstbaren“ Funktion die Gewohnheit (habit) und die damit verbundene Assoziation erhalten: Certain complex actions are of direct or indirect service under certain states of the mind, in order to relieve or gratify certain sensations, desires &c.; and whenever the same state of mind is induced, however feebly, there is a tendency through the force of habit and association for the same movement to be performed, though they may not then be of the least use. (Darwin, 1872/1969: 28 f.)
dividuation einer allgemeinen Fähigkeit (etwa der bildlichen oder sprachlichen Gestaltung), siehe zum geometrischen Aspekt der Individuation Thom (1991: 60).
H AAR UND KLEIDUNG
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Zuerst wird die Gewohnheit und Assoziation der Behaarung auf das verbleibende Haupthaar übertragen (Achselhaare sind weniger gut sichtbar, Schamhaare meist verdeckt). Die dominante Nacktheit erhält ebenfalls eine Bedeutung, die sich nach dem von Darwin principle of antithesis genannten Prinzip verstehen lässt: ... when a directly opposite state of mind is induced, there is a strong and involuntary tendency to the performance of movements of a directly opposite nature, though these are of no use; and such movements are in some cases highly expressive (ibidem).
Die Nacktheit (das Fehlen des Haares) erhält eine Antithesen-Bedeutung, die wir in Gegensatzpaaren ausdrücken können: Tabelle 3: Antithesen-Bedeutungen des Haares bzw. der Haarlosigkeit Fell, Haar
Nacktheit, Haarlosigkeit
Isolation gegenüber der Umwelt, thermische Autonomie
Offenheit gegenüber der Umwelt, Abhängigkeit von der Umwelt
Schutz vor Beißangriffen
Schutzlosigkeit
Optische Tarnung (Reduktion der Sichtbarkeit)
Enttarnung (volle Sichtbarkeit)
Durch die Pigmentierung der Haut, welche ein Laufen unter der Sonne ermöglichte, wurde die Antithese abgeschwächt; es bleiben neben feineren Farbunterschieden aber Texturunterschiede: glatt gegen strukturiert, fest gegen beweglich. Bei langem, wallendem Haar werden diese Unterschiede besonders hervorgehoben. Helles (blondes) Haar hebt dieses optisch von der Haut ab, besonders wenn diese nicht gleich hell oder weiß ist. Weiße Haut und helles Haar können aber auch gegenüber der dunklen Haut und dem dunklen Haar einen Kontrast bilden. Diesen nützt die Darstellung blonder Frauen seit der Renaissance aus (siehe Botticellis Venus-Darstellung mit langem blondem Haar). Im Film wird die Blondine zum Symbol attraktiver Weiblichkeit (so bei Hitchcock die Blondinen Grace Kelly und Tippi Hedren); diese Tendenz wurde in Werbung und Kosmetik fortgeführt. Mit weiteren Textureigenschaften des Haares, der Frisuren oder bei gefärbtem Haar ergeben sich viele Bedeutungserweiterungen und damit Mitteilungsmöglichkeiten im Rahmen der Körperkommunikation. Da die Fläche des Haares gegenüber der des Gesamtkörpers klein ist, kommt es auch zu einer Konzentration der Kommunikation in diesem Bereich. Sehr früh in
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der Evolution der Menschenaffen war auch das Gesicht eine relativ haarfreie Zone der Zeichengebung (durch die Augen und den Mund, sowie deren Bewegungen).3 Beim Menschen ist eine deutliche Verlagerung zur Schauseite: Gesicht und Oberkörper zu beobachten. Das Haupthaar bildet mit der Gesichtfläche eine körperbezogene Opposition: •
•
•
•
Das Haar bedeckt den Hinterkopf und die Kopfoberseite, das Gesicht prägt die Vorderseite. Sieht man jemanden von hinten, teilt sich das Hinterhaar (außerdem der Rücken) dem Betrachter mit. Dreht sich die betrachtete Person dem Betrachter zu, wird das Gesicht (eventuell vom Haupthaar eingerahmt) sichtbar. Das Haar wirkt dann wie ein Bühnenvorhang, der aufgezogen wird. Die Inszenierung kann beginnen. Das Haar bewegt sich passiv mit dem Körper (oder kann beim Kämmen oder Durchstreifen mit der Hand bewegt werden). Das Gesicht hat Zonen der Ausdrucksbewegung (Augen- und Mundpartien). Zusammen ergeben sie eine komplexe Ausdrucksbewegung der Zuwendung – Nicht Zuwendung – Abwendung. Da die Gesichtpartie und der Blickkontakt häufig mit sprachlicher Kommunikation verbunden sind, steht das Haar (besonders in Rücken- oder Seitenansicht) für das Schweigen oder die Phase vor und nach der sprachlichen Kommunikation. Die Länge des Haupthaares ist ein natürliches Unterscheidungsmerkmal der Geschlechter, da das weibliche Haar in vielen Populationen länger wächst, bevor es bricht oder ausfasert. Dieser relativ geringe Unterschied kann semiotisch elaboriert werden, indem Frauen ihr Haar länger wachsen lassen (etwa bis zur Hüfte in vielen Kulturen Südostasiens). Die Länge ermöglicht außerdem eine große Vielfalt von Frisuren oder Trageweisen des Haares. Auf deren symbolische Aufladung gehe ich später ein. Immerhin liegt hier eine (minimale) natürliche Quelle der Geschlechterspezifik des menschlichen Haares vor, die u.a. zum Tabu des weiblichen Haares in manchen Religionen führt.
Mit der Bekleidung, welche Teile des Körpers bedeckt und ebenfalls im Kontrast zur Nacktheit steht, ergibt sich eine Erweiterung der bipolaren Opposition: Haar – nackte Haut zur tripolaren Konfiguration: Kleidung – Haar – nackter Körper. Die Kleidung erbt quasi die bereits eingeführte Antithese: nackter Körper - Haar und
3
Die Umrandung des Gesichtes (Augen, Nase, Mund) durch Haare, die oft den Farb- oder Hell-Dunkel-Kontrast betonen, finden wir auch bei vielen Affen: Gibbons, Languren, Meerkatzen, Mantelpavianen, Kapuzineraffen u.a.
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entfaltet sie. Als Bindeglieder fungieren: fremde oder falsche Haarteile, Bekleidung aus Fellen oder aus Haaren von Tieren (Wolle) oder aus haarähnlichen Pflanzenteilen (Flachs, Leinen usw.) hergestellte Bekleidung. Neben der Differenzierung der Kleidung in Bezug auf Körper und Haar, gibt es weitere Differenzierungen, die vom Körper über bestimmte, in besonderer Weise instrumentelle Körperteile (siehe zur Semiotik der Hand Wildgen, 1999b), zum Werkzeug (bereits im Tierreich), zur Waffe und ´generell zum kulturspezifischen Artefakt führen. Insgesamt liegt also eine Ausfaltung primärer Oppositionen vor, die man morphodynamisch als Bifurkation unter Erzeugung diskreter Grenzflächen im Rahmen der Kastastrophentheorie beschreiben kann. Vgl. zur Katastrophentheorie Wildgen (1985) und Petitot (1985/2004). Tabelle 4: Wege der biologischen und kulturellen Entfaltungen
Körper)
Haupthaar
biologische Entfaltung
Hand
kulturelle Entfaltung Kleidung (Tierfell, Gewebe)
Artefakte (Werkzeug, Haus)
Das Haupthaar ist zuerst ein Teil des Körpers, der sich evolutionär ausdifferenziert und dabei neue Funktionen und Bedeutungen erzeugt (die aber ihr Fundament in der Körperlichkeit bewahren). In einer Dynamik der Entkörperlichung oder der sozial kontrollierten Ablösung vom individuellen Körper entstehen Surrogate mit körperfremden Materialien. Das künstliche Haar, die Perücke funktioniert wie ein Bekleidungsstück. Aber auch wenn man das Haar lang wachsen lässt, kann es eine bekleidende Funktion erhalten; allerdings bleibt es als Körperteil noch mit den Attributen der Natur verbunden. Das Haar kann das Gesicht verdecken oder von hinten betrachtet auf das nicht sichtbare Gesicht verweisen. Diese Interdependenz macht es verständlich, dass in der Konsequenz der Verdeckung des Haars (etwa im Islam) auch das Gesicht, dessen Rahmung das Haar leistet, verdeckt wird. Als weitere Konsequenz werden auch alle sichtbaren oder ahnbaren Körperformen verdeckt und schließlich wird die Frau ganz unsichtbar gemacht (im Haus, im Harem versteckt). Da das männliche Haar dieselben Funktionen haben kann, bleibt es aber unverständlich, weshalb dieser Prozess nicht auch auf den Mann ange-
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wandt wird. Im Endeffekt würde die ganze Menschheit unsichtbar gemacht werden, was natürlich eine absurde Folge wäre. Freiwillig kann natürlich jeder entscheiden, welche Zeichen er verdecken oder offen legen will. Die visuelle Zeichenwelt ausschalten kann aber niemand und insbesondere keine Institution.4 Die Frage, weshalb das Haar der Frau als sexuelles Symbol gilt (und im Islam bedeckt wird) wird kontrovers diskutiert; die Antworten sind meist unbefriedigend (etwa die psychoanalytische These dazu). Ich will eine sehr komplexe mythische Herleitung erwähnen: Bei den Dogon-Frauen (Mali) wird das Haar mit dem weiblichen Uterus in Verbindung gebracht und zwar über einen Fisch, den das junge Mädchen bei der ersten Regelblutung in einem rituellen Mahl verzehrt; dieser Fisch wird dann in der Haartracht des jungen Mädchens und später der Ehefrau nachgebildet. Nach der Heirat legt die Frau ein schwarzes Tuch über die Frisur, welches das Wasser symbolisiert, in dem der Fisch schwimmt (vgl. Frehen und Krings, 1986: 36-40). Diese Symbolik ist kulturell und nicht biologisch motiviert und es könnten unzählige andere kulturelle Motivationen angegeben werden, ohne dass es dazu eine allgemeine Motivation gäbe. Das Haar bietet sich lediglich als Ansatzpunkt für solche Mythen an.5
6.3 B EKLEIDUNGSZEICHEN ODER G RUNDZÜGE VESTIMENTÄREN S EMIOTIK
EINER
Vestimentäre Zeichen nehmen eine Mittelstellung zwischen natürlichen Zeichen des menschlichen oder tierischen Körpers und künstlichen Zeichen-Systemen (Kodes), wie etwa der Schriftsprache ein. Natürliche Zeichen des Körpers können
4
Im abendländischen Mittelalter galt das Bedecken des weiblichen Haares als gottgefällig und die Moden des späten Mittelalters zeigen üppige Tuchkombinationen zur Bedeckung des weiblichen Haupthaares, vgl. Rogier van der Weyden (1399-1464): Bildnis einer jungen Frau (Berlin, Museum Dahlem). Diese Mode wurde in manchen Frauenorden zur Ordenstracht fixiert und blieb bis in die Jetztzeit erhalten. Extrempunkte der Haar-Mode sind die den Oberkörper bedeckenden Haare (siehe Albrecht Dürer, Portrait der Catharina Fürlegerin, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt) oder der Glatzkopf des Schauspielers (so klassisch der Filmschauspieler Yul Brynner und der Bühnenschauspieler Harald Kreutzberg (vgl. Lehmberg, 1983: 80f).
5
Archetypisch wird das männliche und das weibliche Haupthaar von Tilman Riemenschneider (um 1460 - 1531) in der Figuren-Gruppe Adam und Eva (1493, Mainfränkisches Museum, Würzburg) dargestellt. Adam trägt das Haar in wallenden Locken bis zum Schulter, Eva in sanfteren Locken bis zur Hüfte.
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visuell sein wie Körpergröße oder dessen Volumen, die Stärke und Macht signalisieren. Sie können auch akustisch sein wie etwa tiefe Frequenzen der Stimme in Bezug auf die Länge des Kehlkopfes, die indirekt auf die Größe und Stärke des Trägers der Stimme verweisen. Selbst bei Tieren können diese Signale manipuliert werden; so stehen männliche Bären auf, um groß zu erscheinen, Pfauen fächern ihre Federn auf und machen Rivalen oder Weibchen glauben, dass sie groß und stark sind, Hirsche senken den Kehlkopf um tiefe Laute zu produzieren. Dies scheint die Basislinie zu sein, von der aus sich komplexe, bewusst geformte Zeichen entwickelt haben. Wir müssen also fragen: Was ist die Grundlage für vestimentäre Bedeutungen und Kodes? Wie unterscheiden sie sich von den natürlichen körperlichen Signalen? Wenn wir die natürlichen körperlichen Zeichen / Signale als das eine Extrem einer Skala nehmen und völlig entkörperlichte technische Signale als das andere, so erhalten wir die lineare Skala von Ausführungsformen, die in Tabelle 5 dargestellt wird. Tabelle 5: Grad der Ausgestaltung der visuellen Zeichen / Signale und die Position der vestimentären Zeichen in diesem Feld Natürliche körperliche Zeichen
Zeichen, die am oder mit dem Körper geformt werden KörperHaltungen
Vestimentäre Zeichen
Visuelle Zeichen
Geschriebene Sprache
Körperlose, technische Signale
Die im engeren Sinn visuellen Zeichen in Bild und Plastik wurden in den vorangegangenen Kapiteln bearbeitet. Die vestimentären Zeichen gehören als Abbildung (in Kunst und Fotografie) zu den visuellen Zeichen im engeren Sinn; die Kleidung am Körper verweist aber auf Körperhaltungen und natürliche körperliche Zeichen und hat sich aus diesen entwickelt, kulturell entfaltet. Ich werde deshalb eine evolutionäre und kulturgeschichtliche Betrachtung an den Anfang stellen und gehe dabei von dem linken Feld, d.h. von den natürlichen körperlichen Zeichen und Körperhaltungen aus. Sie werden durch vestimentäre Zeichen erweitert, diversifiziert, eventuell verdeckt oder manipuliert. 6.3.1
Die Evolution der Kleidung und die Entstehung vestimentärer Kodes
Die richtige Antwort auf die Frage nach dem Ursprung menschlicher Bekleidung hängt von der Antwort auf eine andere Frage ab: Wann und warum hat eine vormenschlichen Spezies das Fell verloren, das wir typischerweise bei anderen Homi-
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niden finden?6 Teilweise können wir den Verlust von Körperbehaarung schon bei Affen beobachten, denn Gesicht und Hinterteil können mehr oder weniger haarlos sein. Gleichzeitig sind diese Körperzonen auf das Zeichen-Verhalten (z.B. Aggression oder sexuelle Anziehungskraft) spezialisiert. Solche körperlichen Merkmale können aber nicht nach Belieben verändert werden. Sobald nicht angeborene Merkmale sondern kulturelle Traditionen die Verhaltensweisen steuern, entsteht eine besondere Art des kommunikativen Verhaltens. Wir nennen es semiotisch. Semiotisches Verhalten ist meist parasitär in Bezug auf nicht-semiotisches. Gesten sind parasitär zu manuellen Tätigkeiten, Mimik zu Bewegungsmustern der Augen und des Mundes, und die Sprache ist parasitär zu der Bewegung beim Atmen und Kauen.7 Der Übergang von einem unmittelbar funktionalen Verhalten zu einem semiotischen Verhalten wird auch als Ritualisierung bezeichnet. Die Grenzlinie ist unscharf. Im Falle der vestimentären Semiose stellt sich die Frage, ob die Reduzierung des Körper-Fells ein natürliches, extern motiviertes Phänomen oder selbst ein Zeichen war. Es gibt entsprechend zwei Antworten: 1. Die vor-menschlichen Spezies verloren ihr Fell aufgrund der klimatischen Veränderungen und der Anpassung an sie (über Selektionsprozesse). So kann man das Klima der Savanne, die Exposition gegenüber der Sonne, den aufrechten Gang, das Laufen tagsüber über lange Strecken und den entsprechenden Wandel der Blutzirkulation und des energetischen Gleichgewichtes als Grund für eine solche Veränderung ansetzen. Der Verlust des Fells hätte somit natürliche Ursachen gehabt aber keine semiotische Funktion. 2. Vermittelt durch sexuelle Selektion, d.h. der Präferenz eines oder beider Geschlechter für die Haarlosigkeit wurde der Verlust des Fells zum Zeichen für die
6
Siehe auch Jablonski (2010). Sie nimmt an, dass der Homo ergaster vor ungefähr 1,6 Mill. Jahren als erster (fast) nackt war. Die Gene für die dunkle Hautpigmentierung, welche den Verlust des Fells kompensierten, sind ca. 1,2 Millionen J. alt. Die Kleiderlaus hat sich zwischen 100.000 und 50.000 J.v.h. von der Kopflaus differenziert. Man kann daraus folgern, dass der Verlust des Fells mindestens 1 Million Jahre weit zurückliegt und die Einführung von Kleidung mindestens 50.000 J.
7
Diese parasitären Bewegungen unterscheiden sich hauptsächlich in Amplitude und Frequenz. So konnte Fitch (2011) zeigen, dass die mimischen Lippenbewegungen von Schimpansen nicht nur Frequenzmuster aufweisen, die sich deutlich von denen ihrer Kaubewegungen unterscheiden; sie sind auch mit Frequenzmustern der menschlichen Sprache vergleichbar.
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Zugehörigkeit zur neuen Spezies. Dieses (sexuelle) Zeichen schloss die weitere Vermehrung von Individuen mit Fell aus. Die Rolle von Nacktheit und Entkleidung für die sexuelle Begegnung spricht für diese Hypothese. Im Gegensatz zu dieser allgemeinen Tendenz konnten spätere Spezies die Bekleidung (oder künstliche Behaarung) zur Tarnung oder für rituelle Aktivitäten, z.B. zur Darstellung von Clan-Tieren oder Ahnen, wieder einführen, ohne dass dies von Außen erzwungen wurde. Nach der Migration out-of-Africa (70.-60.000 J.v.h.) und dem Eindringen in nördliche Regionen (um 40.000 J.v.h.) wurde dann die vorherige Selektion in Richtung auf Nacktheit selektionsnegativ und konnte durch die Herstellung und Verwendung von Kleidung, die ja für semiotische Funktionen schon existierte, korrigiert werden. Im Falle der Antwort (1) hätte die Kleidung den Verlust des Fells funktionell kompensiert, sobald die klimatischen Bedingungen sich verändert hätten. Soziale Unterschiede bei vestimentären Kodes wären nur eine Folge der klimatischen Schwankungen. Bei der zweiten Antwort hätten sowohl der Verlust des Fells, als auch die Kleidung einen semiotischen Ursprung. Die Bekleidung hätte sowohl einen sozialen (kulturellen) als auch einen funktionalen Sinn und ihre Bedeutung würde sich auch unabhängig vom Klima ändern. In den Höhlenmalereien und Felszeichnungen der Altsteinzeit sind nur selten Menschen vertreten. Wenn sie es sind, finden wir sie oft als Mensch-Tier-Hybriden. Dies kann entweder bedeuten, dass sie die Form von Tieren annahmen, indem sie in deren Fell schlüpften und so an einem schamanischen Ritual teilnahmen, oder dass sie das Fell als Tarnung benutzten, um sich diesen Tieren zu nähern und sie mit ihren Speeren oder Stein-Äxten aus der Nähe zu erlegen. Im süddeutschen Hohlenstein-Stadel und in der Geißenklösterle-Höhle in Blaubeuren wurden mehrere Skulpturen aus Mammut-Elfenbein gefunden. Der Löwenmensch ist die älteste bekannte Skulptur und zeigt einen Menschen mit einem Löwenkopf (vgl. http://www. loewenmensch.de/index.html); das Relief zeigt eine menschliche Figur in einer bärenähnlichen Körperhaltung (beim aufrechten Drohen). Die Bekleidung wäre in dieser Sichtweise aus der Nützung von Tierfellen entweder in rituellen Handlungen oder bei der Jagd oder aus beiden abgeleitet. Da sich die Stadelhöhle in Süddeutschland befindet, wo um 32.000 J.v.h. ein subarktisches Klima herrschte, ist anzunehmen, dass zu diesem Zeitpunkt Tierfelle ebenfalls und wahrscheinlich vordringlich als Schutz gegen das kalte Klima benützt wurden. Auch die gleichzeitig lebenden Neandertaler mussten klimatisch bedingt bekleidet gewesen sein; allerdings mag ihr gedrungener und muskulöser Körperbau weniger
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kälteempfindlich gewesen sein als derjenige des in den Tropen evolvierten Homo sapiens.8 Aus der frühen Jungsteinzeit (ca. 7 Jahrtausend v. Chr.) in Spanien, der so genannten Levantinischen Kunst, sind Felszeichnungen bekannt, deren Umrisse Bekleidungen des Oberkörpers und des Unterleibs erkennen lassen. Alonso und Grimal haben dabei drei Bekleidungsstile bei Frauen ausgemacht, die häufigste Form geht bis zur Kniebeuge (siehe Sanchidrián, 2001: 396f). Ähnliche Bekleidungsstücke (Wickelröcke bei Frauen und Fell- bzw. Lederschurze bei den Männern) finden sich heute bei den Fulbe Wodaabe, einem Volk von Viehzüchtern in Westafrika, die am ehesten als Nachkommen der jungsteinzeitlichen Hirten der Sahara in Frage kommen. Bei ihnen existiert auch ein besonderer Schönheitskult, der für beide Geschlechter gilt; vgl. Frehn und Krings (1986: 90f). Das gesamte Repertoire der alpinen Kleidung zeigt sich beim „Eis-Mann“ aus der Bronzezeit, der an der Grenze von Österreich und Italien gefunden wurde. Er war perfekt für Exkursionen über große Entfernungen in einem alpinen Kontext ausgerüstet. Das Neandertalmuseum in Mettmann zeigt, wie ein bekleideter Neandertaler aussehen mochte; im Südtiroler Archäologiemuseum, Bozen wird die archäologische Rekonstruktion der Bekleidung des Eismannes „Ötzi” gezeigt, der vor 5300 Jahren lebte. Die Technik der Herstellung von Tuch entwickelte sich parallel zu anderen Kulturtechniken wie Wohnungsbau, Landwirtschaft, der Zucht von Tieren, der Herstellung von Waffen weiter. Wichtige Schritte waren: •
• • •
8
Kleidung aus Leinen (seit 3000 v. Chr.). Die Technik wurde im Grunde für Korbwaren entwickelt, konnte aber zum Zwecke der Weberei erweitert werden; vgl. Barber (1991: Kapitel 1), Kleidung aus Wolle (von Ziegen, Schafen und anderen Tieren) (seit 2800 v. Chr.), Schuhe aus Leder gefertigt (seit 1500 v. Chr.), Kleider mit Falten (zuerst in Susa, Persien, später von den Griechen übernommen, 550-500 v. Chr.),
100.000 Jahre alte Schaber werden als Hinweis dafür genommen, dass die Neandertaler bereits zu dieser Zeit Fleisch und Fett vom Fell schabten, um dieses als Bekleidung nützen zu können; auch Abriebspuren an ihren Zähnen weisen darauf hin. Es ist auch ein Szenario denkbar, bei dem die modernen Menschen die Herstellung und Verwendung wärmender Kleidung von den Neandertalern gelernt haben. Da das Zusammennähen von kleinen Fellen die Verwendung von Aale und Faden erfordert, könnten vorher große Bärenfelle die bevorzugte Bekleidung gewesen sein (vgl. Reichholt, 2010: 86f.).
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• •
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Einführung von Hemden bei gallischen Stämmen (ca. 450 v. Chr.), Verwendung von Hosen in Persien (400 v. Chr.).
All diese Technologien gestatteten die Entwicklung von Stilen, die charakteristisch für bestimmte Bevölkerungsgruppen und Regionen sind, und sie öffneten den Weg für den vestimentären Luxus und damit für die Markierung wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede. Im Vergleich mit der Evolution der Sprache (vgl. Wildgen, 2004a) können wir sagen, dass das Lexikon der vestimentären Formen vergrößert wurde und eine Syntax der Verbindung von Stilelementen entstand. Die Bedeutungen von Kleidung wurden vielfältiger. Bekleidungsstandards wurden immer stärker gesellschaftlich relevant und mussten in einigen Gesellschaften sogar durch soziale Institutionen und Gesetze kontrolliert werden. Die Grundtypen der funktionellen Bedeutung waren wahrscheinlich die folgenden (vgl. Ross, 2008: 12): • • •
politisch-soziale Zugehörigkeit oder deren Umkehrung, die soziale Ausgrenzung, Anzeige von Rang, sozialem Status, Symbol des moralischen Verhaltens oder religiösen Bekenntnisses.
Die dritte Funktion ist wahrscheinlich erst mit der geschlechtsspezifischen Markierung der Kleidung und mit Religionen, die Formen des sexuellen Verhaltens (besonders der Frau) vorschreiben, entstanden. So wurde im mittleren assyrischen Reich durch Gesetze ein Schleier für verheiratete Frauen verordnet, aber keiner für Sklavinnen und Dirnen (15. bis 13. Jahrhundert v. Chr.). Viele Religionen dürften diese Vorschriften übernommen haben. In der katholischen Kirche dürfen Männer ihren Kopf in der Kirche nicht bedecken, Mönche und Nonnen tragen spezielle Kleidung und müssen teilweise ihre Haare abschneiden oder ausrasieren (Tonsur). In der muslimischen Tradition bedecken die Frauen ihre Körperteile außer Händen und Füßen (vgl. die aktuelle Debatte über das muslimische Kopftuch und die Ganzkörper-Verschleierung, sowie ùahin, 2012). In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass die Religionen auch körperliche Korrekturen vorschreiben vor allem in Bezug auf Sexualorgane (z.B. durch die Beschneidung), d.h. Körper-Zeichen und vestimentäre Zeichen werden als eine ähnliche Kategorie behandelt. In Frerichs (2004) wird anhand des Übergangs vom hohen zum späten Mittelalter gezeigt, wie sich die sogenannten „ostentativen Zeichen“, die nicht konstitutiv für eine Sache (einen Stand) sind, sondern einen solchen simulieren oder vortäuschen, in den Vordergrund drängen. Dies geht mit einem Aufweichen der Standesgrenzen und der breiteren Verfügbarkeit von Stoffen und Kleidungsformen einher (besonders in den Städten). Gleichzeitig beschleunigen sich Bekleidungsmoden, d.h. mit der Destabilisierung standesgemäßer Kleidungsnormen kommt es zu einem Wettlauf bei der Nützung und Veränderung ostentativer Bekleidungsformen. Da zu
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einzelnen Zeitpunkten (besonders im 19. Jh.) solche Moden in die bäuerliche Tracht (für Festtage) Eingang fanden, brachte ihre Variabilität die sehr unterschiedlichen Trachten hervor, die allerdings später im bäuerlichen Gebrauchskontext verstetigt wurden.9 Obwohl wir explizite Bekleidungskodes nicht in ähnlicher Weise vorfinden, wie wir bereits in der Antike Grammatiken (des Sanskrit, des Griechischen, des Latein) vorfinden, gibt es häufig negative Vorschriften, d.h. schriftliche Regeln geben an, was für wen nicht erlaubt ist. Solche Gesetze wurden zwischen 1300 und 1700 überall in Europa erlassen, möglicherweise aufgrund des sozialen Aufstiegs der Bürger und Kaufleute in den Städten (im Gegensatz zu der im Niedergang begriffenen niederen Aristokratie). Ähnliche Entwicklungen fanden in Japan (1600-1800) statt. In Holland, einem der Handelszentren Europas, wurde eine Luxus-Steuer auf die Kleidung erhoben. Dadurch wurde die vestimentäre Manifestation des Reichtums beschränkt. 6.3.2
Die Ökosemiotik vestimentärer Zeichen
Die Ökosemiotik umfasst neben der Selbstorganisation der Energieausbeute und des Formenwechsels in der Biosphäre (vgl. Tembrock, 2004) die Selbstorganisation der Information, die durch Semiose geleistet wird. Tembrock unterscheidet dabei das tradigenetische und das ratiogenetische Potential. Ersteres umfasst tradierte Vorgaben soziokulturell fixierter Werte, Regeln und Normen des Verhaltens und erzeugt sogenannte Sekundärmotivationen in der Semiose, d.h. es werden Zeichen gebildet, die nicht primär an biologische/ökologische Funktionen gebunden sind, sondern sich indirekt daraus ableiten. Dazu zählt Tembrock den körperlichen Schutzanspruch, der z.B. durch die Bekleidung, durch die Behausung und durch medizinische Traditionen kulturell befriedigt wird. Aus ökosemiotischer Sicht ist die Bekleidung tradigenetisch im Kontext eines Schutzes vor negativen Einwirkungen der Umwelt und steht damit neben der Architektur und den Siedlungsformen (siehe die nächsten Kapitel) und der Körperpflege und medizinischen Vorsorge bzw. Heilung. Ab dem Zeitpunkt, als der klimatische Druck geringer und die Verfügbarkeit von Bekleidungsvarianten gesteigert wurde, konnten sich die Traditionen von der Grundfunktion lösen und in ihren jeweiligen Formen verstetigen bzw. unabhängig von der Schutzfunktion variieren.
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Das Phänomen einer schnellen und anhaltenden Fixierung zeigt sich auch bei den Karnevalsuniformen. Als Köln 1815 Teil Preußens wurde, karikierten die Karnevalskostüme deren Soldatenuniformen (erster Kölner Rosenmontagszug 11. Februar 1823).
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Die Bekleidung ist in die Selbstorganisation anderer semiotischer Systeme eingebunden, insbesondere in die der Körper- und Verhaltensformen der sozialen Kommunikation. Besonders in der Partnerkommunikation (Sexualpartner aber auch Alterspartner, Berufspartner usw.) spielen das äußere Erscheinungsbild und die Bewegungsdynamik (Gehen, Körperhaltung, Gestik, Mimik) eine große Rolle. In Bezug auf die Körperform hat Grammer (2004) einige Ergebnisse der Verhaltensforschung zusammengefasst. Bei den Körper- und Gesichtsformen gibt es Idealtypen (die kulturell variabel sind). Sie hängen einerseits mit statistischen Werten (dem Mittelwert der wahrgenommen Körperkonturen oder Gesichtsformen) zusammen, andererseits mit ökologischen Funktionen. So urteilen Frauen und Männer unterschiedlich über die Attraktivität von Gesichtern oder Körperformen. Männer reagieren stärker (schneller) auf die weiblichen Umrisse (die Figur, die Rundungen), Frauen stärker auf das Gesicht und das Auftreten. Beim Präsentieren des eigenen Körpers sind auch unterschiedliche Akzente feststellbar (etwa beim ersten Kontakt oder beim Flirten). Die Kleidung kann als ein Moment der Eigenpräsentation im sozialen Kontakt oder als Vorbereitung einer solchen Inszenierung verstanden werden. Da für Frauen die Attraktivität der Männer nicht nur mit dem äußeren Erscheinungsbild zusammenhängt und durch Statussignale des Mannes überdeckt werden kann, ist der Druck auf den Mann, sich optimal bekleidet zu präsentieren, geringer als bei der Frau. Die männliche Bekleidung wird stärker vom Berufsfeld geprägt, d.h. sie wird kategorial normiert, wie dies viele Krawattenträger in grauen oder dunklen Anzügen demonstrieren. In Bezug auf die Kleidung ist die Frau eher interessiert sich zu unterscheiden als sich optisch in das Umfeld einzupassen. Der modische Wandel ist ein semiotisches Phänomen, das in Analogie zum Sprachwandel untersucht werden kann. Keller und Lüdtke (2004: 421) stellen Maximen auf (in Analogie zu den Griceschen Konversationsmaximen), von denen ich einige zu Gegensatzpaaren ordne, um den programmierten Zielkonflikt zu verdeutlichen: Kleide dich so, (a) dass du als zur Gruppe X gehörig erkennbar bist; (b) dass du dich von der Gruppe Y abgrenzt; (c) dass du nicht (zu sehr) auffällst; (d) dass du (ein wenig/stark) beachtet wirst; (e) dass dein sozialer Status sichtbar wird/relativ hoch erscheint; (f) dass du Bescheidenheit signalisierst; (g) dass deine politische/religiöse Haltung, bzw. deine Indifferenz diesbezüglich zum Ausdruck kommt. Wegen der programmierten Zielkonflikte muss in der jeweiligen Situation ein Kompromiss gefunden werden. Einige der Maximen tendieren eher dazu das Mo-
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deverhalten zu homogenisieren (also zur Konvergenz der individuellen Entscheidungen), andere sind dagegen heterogenisierend. Da sich die Einzelentscheidungen zu einem öffentlichen Erscheinungsbild der Mehrheit /des Durchschnitts addieren und dieser wiederum das Wahlverhalten der Individuen beeinflusst, kommt es zu einer selbstbezüglichen sozialen Dynamik. Wir sprechen in Analogie zu strukturell vergleichbaren Phänomenen in der Natur von Selbstorganisation. In einem Wettbewerb vieler Beteiligter werden Tendenzen (auch konträre) abgeglichen, schwache Kräfte werden ausgeblendet und starke Attraktoren beherrschen das Feld in einer Art forcierter Darwinschen Selektion. Der Extremfall einer einseitig von der Modeindustrie und den Modemedien kontrollierten Dynamik bildet den Hintergrund der Untersuchungen von Roland Barthes, auf die ich im folgenden Abschnitt kurz eingehe. 6.3.3
Der Diskurs zur vestimentären Norm in den Modemedien
In dichter zusammenlebenden und sozial differenzierten Gesellschaften (seit der Jungsteinzeit) ist Kleidung als Medium der sozialen Kommunikation allgegenwärtig und es entstehen „Industrien“ zur Herstellung von Tuch und Bekleidung (zusammen mit anderen Produktions-Branchen). Dies führt zu einem komplizierten System von Zeichen, die auf vestimentären Materialien, Farben und Formen basieren. Wenn verschiedene Arten von Kleidern kombiniert werden, entsteht eine Art „Syntax“ der Kleider, in der die Formen und Farben orchestriert werden können. Wie in anderen Bereichen der visuellen Wahrnehmung und Kommunikation wird das visuelle Zeichenmedium in der sozialen Kommunikation elaboriert. Es nimmt dabei immer stärker Züge des sprachlichen Kodes an, dadurch dass eine Art Lexikon festgelegt wird und Regeln der Kombination (inklusive der Optimalität von Kombinationen und Kombinationsregeln) fixiert werden. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der professionellen Gestaltung von Kleidung. Das Gegenteil der Elaboration ist die Restriktion.10 Diese Dynamik lässt sich auch in der Sprache beobachten, die in Richtung auf einen situationsbezogenen oder gar einen nichtsprachlichen, deiktischen Kode verflacht werden kann. Im Bekleidungsverhalten ist die Restriktion als Verbot oder als Uniformierung zu beobachten.
10 Dies war die Grundhypothese von Bernstein zum elaborierten und restringierten Kode, die in Wildgen 1977a, b einer theoretischen und empirischen Prüfung unterzogen wurde. Wirtschaftliche Gründe sind bei der Sprache am ehesten beim Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen relevant; vgl. Bourdieus Thesen zum symbolischen Markt (Bourdieu, 1982).
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Wenn wir rhetorische Figuren, anstatt Regeln der Grammatik als Vergleichspunkte zwischen vestimentärem Kode und Sprache ansetzen, bemerken wir, dass die Figuren der Wiederholung: Anapher, Kette, Verstärkung, Rhythmus in beiden Bereichen angetroffen werden. Wenn die Kleidung einen Verweis auf Körper-Teile hat, kann man die Figuren der Metonymie, Paraphrase, Betonung, Metapher, Paradoxie, Ironie und Hyperbel anwenden (siehe zur Rhetorik visueller Zeichen Kap. 1.1.5). Wie wir im vorherigen Abschnitt gezeigt haben, besitzen Kleider einen starken außersprachlichen Bezug. Sie verweisen auf: Geschlecht, Beruf, Alter und auf den sozialem Rang, Ansehen und Funktion. Insofern enthält die Kleidung einen doppelten Bezug: • •
Verweis auf den Körper, der von der Kleidung bedeckt oder unbedeckt (nackt) ist. Verweis auf angenommene / erwünschte Eigenschaften der Person, die die Kleidung trägt.
Trotz der großen Unterschiede zwischen vestimentären und sprachlichen Kodes geht die klassische Abhandlung über die „Systeme der Mode“ von Roland Barthes (1967) davon aus, dass der vestimentäre Kode mehr oder weniger ein sprachlicher Kode ist, d.h. Barthes thematisiert den elaborierten sprachähnlichen Kode der Bekleidungsbranche und ihrer tonangebenden Kundschaft.11 Barthes’ Analyse geht von französischen Modezeitschriften, den Texten, die in diesen Zeitschriften Kleidung beschreiben, und als Hintergrund den Fotos der Mannequins aus. Sein eigentliches Thema ist der Mode-Diskurs in diesen Zeitschriften. Es gibt zwei Typen von referentiellen Bezügen der Kleidung (Bedeutungen bei Barthes) in diesen Publikationen: 1. Die Welt, wie sie in der Mode-Fotografie erscheint. Man kann das Sein (être) und das Tun (faire), beide sichtbar auf den Fotos, unterscheiden. Weitere wichtige Bedeutungskomponenten betreffen die Fragen: Wer trägt die Kleidung? Wo werden die Kleider gezeigt: am Strand, im Restaurant, in der Oper? Die in den Fotos gezeigten Handlungen beziehen sich meist auf ein Leben in Luxus. Implizite semantische Felder sind: weiblich – männlich, jung (aussehend) – nicht mehr jung. In Modezeitschriften sind die Körper der Mannequins in der Regel
11 Klinkenberg (2012: 27) sieht diese Untersuchung als eine Karikatur der linguozentrischen Semiotik. Die visuelle Semiotik wird zu einem Lexikon von Inhaltsfiguren (ibidem).
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standardisiert (jung, schlank, langbeinig), obwohl neue Gesichter erwünscht sind, um eine insgesamt drohende Unpersönlichkeit zu vermeiden. 2. Die tatsächlich getragene Mode ist ein weiterer Bezugspunkt. Die Kleider sind „in Mode“ (dann werden sie in der Modezeitschrift abgebildet) oder „aus der Mode“ (sie werden nicht mehr dargestellt). Der Zuschauer /die Zuschauerin muss erkennen, was in Mode ist und versuchen, diese Qualifizierung für sich selbst zu übernehmen, damit er/sie selbst modisch gekleidet ist und dies auch von allen anderen so wahrgenommen wird. Der Modediskurs fixiert den Trend und versucht ihn darüber hinaus für die kommende Saison neu zu bestimmen. Diese Zusammenfassung zentraler Ideen in Barthes’ Studie (vgl. auch Kap. 1.1.5 a) zeigt, dass es jenseits der Gemeinschaft der Kleidungsnutzer und ihrer visuellen Kommunikation untereinander einen Diskurs zur Mode in Mode-Zeitschriften oder anderen Medien (z.B. heute eher in TV-Shows) gibt. Diese Medien neigen zur Kodifizierung eines Lexikons der aktuellen Mode und der Diskurs über Mode zwischen den Kunden wird von den rhetorischen Strategien der Mode-Produzenten angeleitet oder gar gesteuert.12 Aus dieser Perspektive betrifft Barthes’ Analyse primär den vestimentären Kode einer Sub-Population (in Frankreich, in den sechziger Jahren), die in ihrer Wahrnehmung und Interpretation der Kleidung von den ModeMedien gesteuert wird.13 Die Analyse vernachlässigt aber jene kommunikativen Prozesse, die sich entweder in Subkulturen, die nicht durch diese Medien vertreten werden, abspielen oder die nur in geringem Maße durch Massenmedien gesteuert werden, d.h. die im Alltag, in Freundeskreisen, im Berufsumfeld ihre Wirkung entfalten. Wenn wir auf die im vorangegangenen Kapitel erörterte Plastik zurückblicken, so fällt auf, dass insbesondere seit den Griechen und in deren Tradition der nackte Körper im Vordergrund stand. Die Rolle der Kleidung bei der Inszenierung des menschlichen Körpers wird damit in der plastischen Kunst zurückgefahren, es kann von ihr abgesehen (abstrahiert) werden. Sie steht offensichtlich im Geruch, das Wesen des Menschen zu verbergen, unsichtbar zu machen, dessen natürlichen Ausdruck zu manipulieren. Die Kunst soll entsprechend diesen schnöden Schein igno-
12 Diese können sich dem von Experten und Modezeitschriften propagierten Trend allerdings verweigern und ihn im Laden zum Flop werden lassen; vgl. den Artikel: „Wie Blei am Bügel“ von Silke Wichert in der Süddeutschen Zeitung (2013, Nr. 103: V2/3) 13 In Braun (1998: Kap. 5) wird eine vergleichbare Analyse der italienischen Herrenmodezeitschrift L’UOMO VOGUE durchgeführt. Dabei wird die Orientierung an der Marke als neuer Zeitgeist deutlich.
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rieren oder zumindest begrenzen.14 Bei den weiblichen Statuen spielt auch in der griechischen Antike die Bekleidung eine Rolle (nur die Aphrodite ist manchmal unbekleidet). Sie wird aber möglichst neutral gehalten, indem die Form erst am Körper durch geeignetes Drapieren entsteht; der Chiton etwa ist wesentlich ein rechteckiges Tuch. An Statuen werden besonders die dünnen, fast durchsichtigen Seidenstoffe gezeigt, die der natürlichen Körperform keine autonome visuelle Form aufprägen, da sie nur die Textur verändern. Anfang des 20. Jh. hat Mariano Fortuna y Madrazo (1871–1949) diese Kleidung mit der Bezeichnung Delphos wieder in die Haute-Couture eingeführt. Sie lässt besonders bei Tänzerinnen die Bewegungsformen durchscheinen und eignet sich deshalb für den tänzerischen oder eleganten Auftritt. Aber auch klassische kulturelle Bewegungen, so bereits in der griechischen Antike der Sport oder die Freikörperkultur sowie der Nudismus im frühen 20. Jh. versuchen die Überformung des Körpers durch die Kleidung zu eliminieren. Es gibt im Effekt eine komplizierte Wechselwirkung zwischen Nacktheit und Bekleidung, die auch in der Mode ein Motor der Veränderung ist, wie die sich ständig wandelnden Rocklängen oder die Brust-, Bauch- und Rückenausschnitte zeigen. Im Folgenden will ich die spezifische Semiotik der öffentlichen Personen und ihrer Körpersprache bzw. Bekleidung näher betrachten.15
14 Der Schein lässt sich durch Kunst und Technik natürlich auch steigern. Nachdem Francesca Rosella anfing in der Frauenmode Technik in Stoffe und Kleidung zu integrieren, gibt es jetzt farblich variable und leuchtende Stoffe, die mit LEDs betrieben werden. Außerdem können Körper und Kleidung zur Computeroberfläche werden; vgl. den Artikel: „Chips zum anziehen“ in der Süddeutschen Zeitung (2013, Nr. 103, V2/7). 15 Es gibt interessante Verschiebungen von der Modebranche, etwa der Rolle der Models, zur Öffentlichkeit (Medien und Politik). Einerseits eignet sich ein aus Film und Fernsehen bekanntes Gesicht als Träger von Werbeinformation, andererseits verschafft dies der öffentlichen Person (etwa der Schauspielerin, oder dem Talkmaster) weitere Bekanntheit, es verfestigt seine „Marke“. Aus diesem Grund drängen viele Möchte-gern-Prominente in die Modebranche und verdrängen die traditionellen Models aus dem Rampenlicht (siehe Interview in SZ-Journal Oktober 2012). Modell-Figuren wie Schwarzenegger durchlaufen die Karriere vom Sportler, zum Filmhelden und zum Politiker. Es scheint so als würden immer größere Bereiche der Öffentlichkeit von solchen Körper-Darstellern beherrscht.
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6.4 D IE
ÖFFENTLICHE P ERSON UND IHRE VISUELLE I NSZENIERUNG
Bei der Wirkung einer Inszenierung des Körpers durch dessen Gestaltung und Ausstattung muss man unterscheiden, ob die Person lediglich mit ihrem sozialen Nahfeld (Partner, Familie, Freunden) kommuniziert oder Teil einer öffentlichen Präsentation ist. Neben den klassischen Rollen des Priesters und Schauspielers sind es insbesondere die Stars der Medienbranche (Printmedien, Fernsehen, Internet) und die Politiker, welche ihren Körper zur Schau stellen und damit arbeiten (davon leben). Da diese Funktion in der modernen Massengesellschaft und im Kontext der Globalisierung zu einem immer bedeutsameren Phänomen des visuellen Umfeldes wird, will ich kurz darauf eingehen. Man spricht in der Sozialpsychologie (vgl. die Arbeiten von Erwin Goffman) von Imagearbeit, vom „face“, dem Gesicht, das man zeigt und das darüber entscheidet, ob man von vielen akzeptiert (gefördert, gewählt, ja geliebt) wird oder im Gegenteil von der öffentlichen Bildfläche (unter Verlust der Privilegien) abtreten muss. 6.4.1
Die Frau in der Öffentlichkeit
Die Figur der „femme fatale“ in der Literatur des 19. Jh. werden wir in Kap. 10.3.1 besprechen. Meist handelte es sich im Schauspielerinnen oder Kurtisanen der feineren Gesellschaft. In ihnen präsentierte sich die Frau als Verführerin oder gar als „männerfressendes Weib“. Diese Rolle erforderte erstens Jugend (real oder durch Schminke und Kostüm vorgespiegelt), zweitens einen „sex appeal“, der die Frauen zum imaginierten Objekt sexueller Männerphantasien machte. Gesellschaftlich markierte sie den Übergang von einer durch Religionsmoral kontrollierten Gesellschaft zur nachrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft. In den Romanen des 19. Jh. wurde außerdem die ökonomische Macht der „femme fatale“ herausgestellt, da sie ihre Liebhaber durch exzessive Luxusansprüche ruinieren konnte. In der französischen Gesellschaft nach Napoleon und im Kontext des blühenden Kapitalismus einerseits und der Stadtflucht sowie der Elendswirtschaft in den Großstädten andererseits, verwies diese Figur außerdem auf eine Prostitutionsindustrie ganz neuen Ausmaßes. Eine mildere Form bildet der Starkult der Filmindustrie im 20.Jh. und die Welt der Mode-Models und vieler Talk-Show-Gäste heute. Ich will nur die auf unzähligen Reklamewänden sich präsentierenden Models kurz kommentieren. Die Frau im Kleid wird quasi zum Kleiderträger, deren Körper den Kleidern einen lebendigen Inhalt gibt (so wie die Schaufensterpuppen zur Präsentation des Kleider-
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angebotes dienen).16 Neben den Kleidern, dem Hauptthema, an dem das ökonomische Interesse festgemacht ist, sind auch noch Gesicht und Gesichtsausdruck, sowie unbekleidete Körperteile (Brust, Arme, Beine) relevant. Sie sollen aber wie bei den Puppen einem jeweils akzeptierten Standard entsprechen. Die Spezialisten, welche im Alltag nach möglichen Models Ausschau halten, haben sehr konkrete, fast wissenschaftliche Vorstellungen, wie das Model auszusehen hat. Augenabstand (nicht zu eng), Wangenknochen (nicht zu flach), Kinnpartie und Abstand von Nasenwurzel zur Oberlippe gelten als Kriterien (siehe das Interview mit Sarah Doukas über Kate Moss in der SZ-Beilage, 24.10.2012).17 Bei der Brust, die beim meist sehr leichten Model nicht üppig sein kann, und bei Armen und Beinen können entweder real (durch Chirurgie) oder bei der Bildgestaltung am Computer Modifikationen vorgenommen werden. In ganz anderer Weise als bei der Kurtisane oder Revueschauspielerin des 19. Jh. werden ökonomische Interessen am Körper der Frau realisiert, ohne dass diese direkt einer sexuellen Ausbeutung unterliegt. Sekundär werden die von der Modeindustrie geschaffenen Frauenbilder zum Nachahmungsbild, dem man nicht nur durch den Kauf der entsprechenden Kleider sondern auch durch Annäherung an die Körperform der Models (im Fitness-Center und beim Schönheitschirurgen) entsprechen kann. Die Frau ist natürlich auch ein zentrales Darstellungsziel in der bildenden Kunst und viele Skandale der Moderne hängen mit der Darstellung der nackten Frau zusammen, siehe die Reaktion auf Manets „Le déjeuner sur l’herbe“ (1863). Bereits 1905 hatte Freud die öffentliche Zurschaustellung der nackten Frau auf einen ange-
16 Die Kleiderpuppen werden nach echten Menschen gestaltet, das Gesicht bezieht sich häufig auf lebende Fotomodelle. Das Verhältnis von Puppe und Model wird von Helmut Newton in dem Foto: Liebesspiel mit Schaufensterpuppe thematisiert. 17 In dem Interview beschreibt die Entdeckerin des Models Kate Moss ihre Kriterien („tolle Knochenstruktur“): „Das Gesicht muss wie eine Leinwand funktionieren. Das wichtigste ist: hohe Wangenknochen. Oder zumindest äußerst definierte Wangenknochen. Eine gute Kieferkontur, die mit den Wangenknochen korrespondiert. Deshalb muss man ein Mädchen auch im Profil ansehen, ob das alles zusammenpasst. Dann darf sie keinen breiten Nasenrücken haben. Es geht nicht darum, wie lang die Nase an sich ist […] ich liebe Nasen, sie geben dem Gesicht Charakter. […]. Die Augen müssen weit genug auseinanderstehen […] es geht um die richtige Leinwand, mit der der Make-up-Artist und der Fotograf dann arbeiten können. […] Ein langer Hals, eine gute Lücke zwischen Oberlippe und Nase.“ Sarah Doukas sagt dann, dass ihre praktische Erfahrung genau mit den wissenschaftlichen Kriterien für Schönheit übereinstimmt, obwohl sie diese gar nicht kannte. (ibidem: 26).
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borenen sexuellen Partialtrieb, die Schaulust (Skopophilie) zurück geführt. Als Edelpornograph wird manchmal Helmut Newton bezeichnet; seine Fotos und Bildbände haben die Modefotografie wesentlich beeinflusst. Als klassische Vertreter einer filmischen Befriedigung der männlichen Schaulust gelten die Filme Hitchkocks „Vertigo“ (1958) und „Rear Window“ (1974); vgl. Prinz und Reckwitz (2012: 183). Inzwischen bedient eine überwuchernde Pornoindustrie dieses visuelle Bedürfnis. Im Bereich der visuellen Künste spielen solche Inhalte zwar eine Rolle als Aufmerksamkeitsattraktoren, stehen aber nicht im Zentrum. Gegen diese ökonomische Wertung des weiblichen Körpers wenden sich einerseits feministische Organisationen, andererseits bringen Religionsvertreter ihre traditionellen Vorstellungen von einer ganz anderen Rolle der Frau (in der Familie oder unter der Aufsicht des Mannes) in Anschlag. Allerdings zeigt ein Blick in die Motivationen der religiösen Frauenbilder, dass sie historischen Situationen entsprechen, in denen die Frau ebenfalls ökonomischen Zwecken, sei es dass sie die Hauptlast der Arbeit trug oder im Interesse von Kirche/Moschee und Staat eine maximale Produktion von Nachwuchs (oft beides) leisten musste. Die Ausbeutung der Ressource Frau hat somit nur ihre Form geändert. Das Verhüllungsgebot des Islams hat im Kontext des modernen Marktes einer Modeindustrie mit Doppelcharakter Vorschub geleistet. Einerseits gilt es die Vermummung attraktiv zu gestalten und damit den Status der Frau und ihres Mannes zu repräsentieren, andererseits kann im Privatbereich (vor anderen Frauen oder vor dem Ehemann) derselbe modische Aufwand getrieben werden, den die westliche Frau in der Öffentlichkeit treibt.18 Aspekte dieses Dilemmas wurden in der Doktorarbeit von Reyhan ùahin (2012) zum Kopftuchgebrauch muslimischer Frauen in Deutschland empirisch untersucht.
18 Die Öffentlichkeit ist selbst eine semiotische Struktur, die durch das kommunikative Potential definiert ist. Sie unterliegt einem historischen Wandel. So sind der Dorfplatz, die Kirche (besonders der Eingang) oder die Hafenpromenade, der Boulevard, das Kaffeehaus oder das Theater, die Diskothek, die Sportarena Öffentlichkeit. Hier ergeben sich eine Vielfalt von Bewegungen, Begegnungen. Beziehungen werden angebahnt, verstärkt, Informationen, Meinungen, Emotionen werden ausgetauscht. Dagegen ist der Privatbereich durch Barrieren markiert, die andere ausschließen (cf. Sonesson, 2011). In diesem Sinne ist die total verhüllte islamische Frau zumindest vestimentär und kommunikativ eine Gefangene des Privatbereiches.
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6.4.2
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Die visuelle Bedeutung öffentlicher Personen und die Politik
Als einer der ersten erkannte Hitler die Möglichkeiten der modernen Reklame- und Marketing–Methoden für die politische Selbstinszenierung und nützte sie auf fatale Weise. In der Nachkriegszeit hatte die Reklame in Deutschland deshalb auch einen schlechten Ruf; sie wurde häufig mit Manipulation, Lüge, politischem Betrug in Verbindung gebracht. Die Rolle der Selbstrepräsentation im Bild wird besonders bei den amerikanischen Präsidentenwahlen deutlich (vgl dazu Müller, 1997). Um sich als derjenige /diejenige darzustellen, der/die alle /die meisten Wünsche realisiert, werden im Wahlkampf Milliardenbeträge ausgegeben und ein Heer von Beratern wird beschäftigt; wie in der Geschäftswelt ist Reklame der Weg zum Erfolg. Die Politiker müssen allerdings eine Gradwanderung zwischen Glorifizierung und Glaubwürdigkeit bewältigen. In manchen Kontexten mag ihr Stil an den der großen Religionsgründer erinnern oder eine vergleichbares Heilsversprechen andeuten. In neuerer Zeit sind Figuren wie Charles de Gaule (Frankreich), Kennedy (USA), Perón (besonders Evita Perón; Argentinien), Fidel Castro (Kuba), Chavez (Venezuela) Repräsentanten einer erfolgreichen Selbstinszenierung; in der Antike können Perikles (Griechenland) und Caesar (Rom) dafür stehen. Für demokratische Systeme stellt sich aber generell das Problem, wie die Parteien und die zu wählenden Personen mit den Wählern über die öffentlichen Medien oder in Großveranstaltungen kommunizieren können. Wenn eine Person, etwa ein Präsidentschaftskandidat der USA mit Millionen Bürgern kommunizieren will und dies in der begrenzten Zeit des Wahlkampfes, scheiden face-to-face Kommunikation, ein realitätsnaher Einblick in das Lebens- und Arbeitsfeld des Kandidaten oder des noch amtierenden Bewerbers aus. Wie kann außerdem die Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit der Botschaft vom Empfänger überprüft werden? Dies gelingt nur, wenn ein Großteil der Botschaft entweder sowieso als akzeptiert gilt (was die Kommunikation trivialisiert) oder aber über die vertrauenswürdigere Körpersprache.19 In dieser Konstellation kommt der visuellen Kommunikation, insbesondere der körperlichen und vestimentären eine besondere Bedeutung zu. Diesem Problem hat sich bereits die griechische Rhetorik gestellt, denn auf der Agora, dem Markplatz oder vor Gericht gewann derjenige, der die Mehrheit der
19 In Aviezer u.a. (2012) wurde experimentell untersucht, ob Probanden den Gemütszustand einer Person an ihrer Mimik oder an ihrer Körpersprache erkennen. Obwohl die Probanden glaubten, die Mimik sei ausschlaggebend, vertrauten sie bei starken Affekten eher der Körpersprache. Emotional weniger extreme Situationen können aber durchaus zuverlässig durch Mimik und Stimmqualität manifestiert werden (vgl. ibidem: 1229).
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Anwesenden am schnellsten und nachhaltigsten überzeugen konnte. Zur „elocutio“, der Darbietung der öffentlichen Rede gehörten neben der geeigneten Stimme und Intonation auch das Auftreten und die visuelle Präsentation. Prägnanz erhält hier eine besondere Bedeutung, denn die allgemeine Erscheinung des Redners muss wie die eines Schauspielers einprägsam sein, seine Bewegungen müssen sicher und klar interpretierbar sein, seine Kleidung sollte ihn deutlich und effektiv aus der Masse herausheben, ohne abweichend zu sein, und seine Mimik muss die Illusion einer direkten Bezugsnahme auf die Zuhörer fördern. Im Zusammenpassen all dieser Zeichenmodi liegt die fast hypnotische Wirkung des guten Massenredners oder -predigers. Für moderate Töne, Unsicherheiten bleibt kein Platz und die Demagogie ist der ständige Begleiter dieser Art öffentlicher Selbstinszenierung politischer Personen. Sie kann lediglich durch den Gewöhnungseffekt allzu lauter und affektgeladener Selbstpräsentationen abgemildert werden, denn nach einer Zeit wird eine signifikante Gruppe von Zuhörern sich von dem Schreihals oder selbstverliebten Angeber abwenden.20 Im Folgenden wird die Thematik der Körperlichkeit zuerst anhand des Portraits weitergeführt. Im Zentrum stehen aber die primär indexikalischen visuellen Zeichen in Foto und Film. Im Übergang vom Bild/Foto zum Film gehe ich kurz auf das Medium der Comics ein. Semiotische Kernpunkte (Kap. 6) 1. Die Prägnanzaspekte von Zeichen werden bei den Körper- und Bekleidungszeichen besonders deutlich. Beide können kulturell elaboriert und damit konventionalisiert werden. 2. Die Bekleidung trägt neben der Grundfunktion des körperlichen Schutzes die semiotischen Funktionen einer Elaboration und Kommentierung körperlicher Zeichen (auf die sie verweist) und einer Markierung der sozialen /religiösen Identität der Träger (unter Verweis auf deren soziale/religiöse Gruppe). 3. Im Mode-Diskurs zum vestimentären Zeichen wird dieses quasi versprachlicht, indem ein Lexikon und Regeln des Zusammenfügens (eine Syntax) entwickelt werden. Allerdings ist die Stabilität solcher Konventionalisierung gering, was zu einer raschen Variation in der Mode führt.
20 In großen Demokratien sind Schauspieler nicht selten als Politiker erfolgreich; siehe in den USA Ronald Reagan (1911-2004) und Arnold Schwarzenegger (*1947). Die maskenhafte Gesichtskosmetik Berlusconis und die Exzentrik des Komikers Beppe Grillo haben deren Wahltriumph in Italien (2013) nicht verhindert, im Gegenteil.
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4. In der Öffentlichkeit ist das mediale Erscheinungsbild des Menschen entscheidend und unterliegt deshalb einer rationalen Kontrolle. Dabei werden Berufsund Geschlechterrollen besonders stark ausdifferenziert.
7. Die Semiotik von Portrait, Foto, Comic und Film
Bilder, die unmittelbar oder physikalisch-technisch vermittelt auf Realität, Realitätsausschnitte, individuelle, lebende und historisch belegte Personen verweisen, können wir als (überwiegend) indexikalisch bezeichnen. Der Zuschauer registriert die gezeigten Bilder als überwiegend real, als in Raum und Zeit situiert und dort nach bekannten Gesetzen funktionierend. Dies verleiht den Medien Foto und Film eine quasi magische Wirkung: die Illusion wird als tatsächlich erlebt und auch so miterlitten. Diese Illusion mag am Fernseher weniger stark sein als im Kinofilm. Im Theater bleibt dem Zuschauer bei aller Illusion bewusst, dass die Kulissen nicht der reale Raum der Handlung, die Schauspieler nicht die real Liebenden oder Sterbenden sind. Bevor ich auf die Fotografie und den Film als zentrale Themen dieses Kapitels eingehe, will ich zuerst das Porträt als eine frühe Form des indexikalischen Bildes betrachten. Im Übergang vom Foto zum Film werde ich die Semiotik von Bilderserien am Beispiel der Comics behandeln, die wiederum den Ausgangspunkt für das Genre des Zeichentrickfilms bilden.
7.1 P ORTRÄT
UND F OTOGRAFIE : DAS INDEXIKALISCHE VISUELLE
Z EICHEN
Das visuelle Zeichen kann auf ein Individuum verweisen, dieses identifizieren. Dies wird in modernen Verwaltungsapparaten durch den Pass gesichert, der ein Foto nach standardisierten Kriterien, einen Fingerabdruck enthält (in Zukunft vielleicht einen DNA-Schlüssel). Der früheste indexikalische Abdruck sind positive oder negative Abdrücke der Hand, die manchmal sogar individuelle Merkmale, z.B. Verletzungen, zeigen (vgl. Kap. 2.1 ).
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Die Porträtkunst erhielt in den antiken Hochkulturen einen großen Wert insbesondere zur Darstellung von Herrschern oder zur Erinnerung an Tote.1 Die Porträtbüste der Nofretete (etwa 1338 v. Chr.) oder die ägyptischen Mumienporträts sind die frühesten Beispiele. In der römischen Antike gewann die Porträtbüste an Bedeutung und sie bildet bis heute einen wichtigen Bereich der Bildhauerei (vgl. Kap. 5.2). In der christlichen Kunst spielte des „Schweißtuch der Veronika“ eine zentrale Rolle. Als Bildabdruck des kreuztragenden Jesus stellt es das wirkliche Abbild (vera icon) des wirklichen Körpers (verum corpus) Christi dar. Für Alberti in seinen grundlegenden Werk De Pictura (1540) ist dieses Bild der Prototyp der Malerei (vgl. Reichle, 2004: 323f). Ich will diesen großen Komplex visueller Kunst an dieser Stelle aber nicht behandeln, sondern mich mit der indexikalischen visuellen Abbildung par excellence in neuerer Zeit, der Fotografie, beschäftigen. Ihren Ursprung kann man einerseits in der Camera obscura, die zwar bereits Aristoteles (4. Jh. vor Chr.) erwähnt hat, die aber erst 1568 der Venezianer Daniele Barbaro in seinem Werk La pratica della perspettiva mit einer Linse versah (bzw. diese Konstruktion beschrieb; 1589 setzte Giovanni Battista Della Porta diesen Konstruktionsvorschlag praktisch um).2 Entscheidend war aber die Erfindung der chemischen Mittel zur Fixierung des projizierten Bildes. Vorher musste das schwache Bild mühselig auf einem durchsichtigen Paper nachgezeichnet oder punktiert werden. Mit dieser Me-
1
Eine besondere Form der Porträtkunst besteht darin, direkt den toten Körper oder Teile (etwa den Kopf) zu konservieren oder bildnerisch zu gestalten. Die frühesten Formen sind etwa ein Totenschädel aus Jericho (7000 v. Chr.; siehe Schulz, 2009: 184), mit einer Kalkschicht überzogene Totenschädel (vgl. Belting, 2013: 42) oder die ägyptischen Mumien. Moderne Formen sind Gipsabdrücke, die vom Gesicht des Toten abgenommen werden, wie etwa die Totenmaske von Nietzsche (vgl. Schulz, 2009: 192).
2
In Hockney (2009) wird behauptet, dass viele Künstler in der zweiten Hälfte des 16. Jh. bereits die Technik der Camera obscura benutzten, eventuell sogar verbessert durch die von della Porta (1589) vorgeschlagene Innovation, die die Verwendung von Linsen und damit ein schärferes (größeres) Bild und die Aufrechtstellung des Bildes ermöglichten, und dass dies auch die besonderen Leistungen von Caravaggio erklären könnte. Falls diese Hypothese zutrifft, hätte bereits im 16. Jh. die wissenschaftliche und technische Optik wesentlich zum Fortschritt der bildenden Kunst beigetragen. Eine der Spiegelreflexkamera ähnliche Vorrichtung erfand 1769 Georg Friedrich Brander: die ausziehbare Camera obscura mit Spiegel.
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thode konnte immerhin der Maler Canaletto3 (bzw. seine Helfer) in seinen Gemälden von Dresden und Warschau die genauen Details der Gebäude erfassen. Der Durchbruch zur modernen Fotografie geschah 1826 durch Joseph Nicéphore Niépce, der das Heliografie-Verfahren erfand; 1837 entwickelte Louis Jacques Mandé Daguerre ein Verfahren, das mit Quecksilber-Dämpfen arbeitete. Mit weiteren Techniken der Kopierung, des Vergrößerns entstand ein Raum der freien Weitergestaltung und Umformung des physikalisch erzeugten „Abdruckes“ und damit die Kunst der Fotografie, die wie Ernst Cassirer sagen würde, zur symbolischen Form wurde.4 Indirekt durch eine Art Nachahmung aber hauptsächlich eine Bewegung der Abgrenzung beeinflusste die Fotografie die Malerei (ab der zweiten Hälfte des 19. Jh.) und es entwickelte sich eine Übergangsform zwischen Fotografie und graphischen Techniken. Zuerst wurden die spontanen Bildausschnitte der Fotografen nachgeahmt, etwa bei Toulouse-Lautrec, dann dienten Fotos als Vorstudien zur Atelier-Malerei, so etwa bei Franz Stuck um 1900 (vgl. Danzker u.a., 1996).5 Um 1900 entwickelte sich in der Fotografie der so genannte Piktorialismus, der Effekte des inzwischen akzeptierten Impressionismus nachahmt. In die entgegengesetzte Richtung bewegte sich die sachliche Inventarisierung von Stadtansichten. Eugène Adget dokumentierte zwischen 1856 und 1927 in 8500 Aufnahmen den Zustand der Pariser Stadtviertel (vgl. Kemp, 201: 29-37). In dieser Form wird die Fotografie zu einem Hilfsmittel der Geschichtswissenschaft auf einer Ebene mit geschriebenen Zeitdokumenten. Von Andy Warhol und in der Pop-Art wurden Fotos in Grafiken eingebettet, iteriert und verfremdet; vgl. Kap. 3.1.7. Gerhard Richter (* 1932) wurde durch seine Gemälde, die Fotos seines Familienalbums graphisch überarbeiten, berühmt.6 Er sagt in einem Interview:
3
Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, (1721/22 - 1780), ein venezianischer Maler, der sehr realistische Veduten von Dresden und Warschau malte. Seine Technik wird im Muzeum Narodowe, Warschau demonstriert.
4
William Henry Fox Talbot machte den entscheidenden Schritt vom Einmal-Bild Daguerres zum Negativ, das beliebig oft kopiert werden konnte. Seine Publikation von 1844-46: The Pencil of Nature eröffnete die Tradition bebilderter Medien, die heute Presse und Buchwesen beherrscht. Vgl. Guadagnini (2010: 42-45).
5
In der Kunst blieben selbst bei Malern, die ähnliche Motive zeichneten/malten und fotografierten, deutliche Unterschiede der Bildbehandlung sichtbar; vgl. Eaton (2011).
6
Siehe die Fotobilder von Gerhard Richter. Sie haben als Hintergrund Fotos, die quasi ein „objet trouvé“ darstellen, verfremden diese aber, indem mit malerischen Mitteln Unschärfe erzeugt wird. Vgl. das Bildmaterial in: http://www.gerhard-richter.com/art/ paintings/
208 | I NDEXIKALISCHE BILDZEICHEN Well, photography is surely an external factor that has contributed to the fact that we are now unable to paint in a particular manner and that we can no longer produce a certain artistic 7
quality” (wiedergegeben in: Harrison und Wood, 1993: 1038).
Heute, besonders mit dem Einsatz der Digitalfotografie und deren Manipulation am Computer, verschwindet die Differenz zwischen grafischer Gestaltung und Fotografie fast vollständig. Barthes (1980) fragt sich, welche Fotos der Trivialität der Alltagsfotografien entrinnen. Er weist darauf hin, dass Daguerre (der Vater der ersten kommerziellen Fotos) ein Theater mit Panoramen betrieb, „die durch bewegliche Teile und Lichteffekte künstlich belebt wurden“ (ibidem:13). Deshalb sieht Barthes die Fotografie in engem Zusammenhang zum Theater, und indirekt über das Theater zum Totenkult. Dies verdeutlicht er anhand von Beispielen aus der Dokumentar- und Kriegsfotografie. Im Gegensatz zur Malerei hat die Fotografie nämlich eine besondere Beziehung zur Realität und Vergangenheit. Es lässt sich nicht leugnen, dass die fotografierte Sache, der fotografierte Mensch dagewesen ist: Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. Und da diese Einschränkung nur hier existiert, muß man sie als das Wesen, den Sinngehalt (noema) der PHOTOGRAPHIE ansehen (ibidem: 32).
Der Aspekt der Präsenz des Fotografen am Tat-Ort wird auch von Helmut Newton hervorgehoben. Auf einem Foto von der schwindelerregenden Höhe eines Baugerüsts ist noch das Bein des Fotografen zu sehen. Es besagt: „Ich war hier!“ (Museum für Fotografie, Berlin). Auch das Pressefoto eines Unfalls oder eines Mordes und besonders die Kriegsfotografie bedienen diese Erwartungshaltung gegenüber dem Foto.8 Bourdieus Soziologie beruhte anfangs weitgehend auf fotografischen Studien, die er in Algerien gemacht hatte, d.h. Fotos werden für den Ethnologen und Soziologen zu einer Art Basisdokumentation, sowie dies Sprachaufnahmen für den Linguisten sind; vgl. dazu die Beiträge in Bismarck u.a. (2008). Der Berufsfotograf unterschied sich ursprünglich durch die Qualität seiner Ausrüstung vom Hobby-Fotografen und dadurch dass er selbst in der Dunkelkammer die Entwick-
7
Bereits Picasso hatte diese Konsequenz gezogen. Er sagte: „Wenn man sieht, was alles durch die Fotografie ausgedrückt wird, dann merkt man, wievieles nicht mehr Aufgabe der Malerei sein kann.“ (zitiert in: Doschka, 1989: 35).
8
Siehe die frühen Fotos in Gardner’s Photographic Sketch Book of the War (1865-66) in Guagagnini (2010: 170, 175, 184).
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lung oder Vergrößerung beaufsichtigen und auch formend eingreifen konnte.9 Mit der Digitalfotografie sind technisch hochwertige Kameras für jedermann erschwinglich geworden und das Bild ist bereits im Apparat „fertig“. Die Umgestaltung am Computer hat einen anderen Charakter als die im Foto-Labor. Insofern ist mit der Digital-Fotografie eine neue Epoche der künstlerischen Fotografie angebrochen; vgl. dazu Nadas (2012).10 Dies zeigt sich besonders in der Fortsetzung der bereits Ende des 20. Jh. begonnenen Karriere von Andreas Gursky (*1955). Wie seine Lehrer Bernd (1931 - 2007) und Hilla Becher (*1934) bevorzugt er meist menschenleere Riesen-Objekte (Stadien, Konzerthallen usw.). Durch das Zusammenfügen mehrerer eher flächiger Aufnahmen wird der Tiefencharakter negiert und es entsteht eine teppichartige Struktur, bei der aber die genaue Betrachtung eine unendliche Vielfalt entdecken kann (frühe Beispiele sind Paris-Montparnasse, 1993). Im letzten Jahrzehnt wurde das Fotomaterial in langwierigen Computer-Klausuren bearbeitet (vgl. die Bangkok-Serie von 2011). Da Bilder zusammengefügt, mit dem Computerstift auf einem Arbeitstisch bearbeitet werden, kann man sie mit denjenigen der Maler-Fotografen Anfang des Jahrhunderts vergleichen, die auf die Negativ-Platte gezeichnet haben. Die Komposit-Technik erinnert an Arcimboldo (vgl. Kap. 3.4.2). Im Laufe der Entwicklung der Fotografie entstehen auch eigene Bildwelten. So entwickelt Helmut Newton eine visuelle Kunstwelt, in der nur langbeinige weiße Frauen, die dem Zuschauer lasziv Einblick in ihre Intimwelt gestatten, vorkommen (Männer existieren nur als Zuschauer oder treten im Bild nicht auf). Diese artifizielle Welt wird durch die getragene Kleidung (vgl. Kap. 6.2), die Auswahl der Modelle, interessante Interieurs oder Hintergründe, perfekte Kosmetik, einstudierte Posen und raffinierte Beleuchtung für den Konsumenten hergestellt und massenhaft verbreitet. In der Welt der Mode etabliert sie einen Standard, der in der Modefotografie aber auch in der Dramaturgie von Modeschauen nachgeahmt wird. Newtons Fotos wurden damit zum Kode einer Industrie. Paul Virilio berichtet über ein Gespräch von Paul Gesell mit dem Bildhauer Auguste Rodin (1840-1917). Dieser vergleicht seine Plastik mit fotografischen Momentaufnahmen einer sich bewegenden menschlichen Figur. Die Plastik fasst in statischer Weise einen Bewegungsfluss zusammen und ist insofern nicht realistisch
9
Frank Eugene (1865-1936); siehe die Ausstellung The Creation of Beauty. Frank Eugene und die Technik der Kunstfotografie im Deutschen Museum, München, 3.12.201224.2.2013.
10 Ältere Fotos erhalten auf diesem Hintergrund wiederum Kunstcharakter, siehe die Ausstellung: Idylle + Desaster, Museum für Fotografie, Berlin 2012/2013.
210 | I NDEXIKALISCHE BILDZEICHEN
wie das Foto. Als Gsell ihn fragt, ob denn die Plastik lüge, da sie die Wirklichkeit nicht wiedergebe, wie sie sei, antwortet Rodin: „der Künstler ist wahr, und die Fotografie lügt; denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still“ (Virilio, 1989: 13). Anders ausgedrückt, die fotografische Momentaufnahme entspricht nicht dem Wahrnehmungsvorgang und auch nicht dem externen Vorgang, sie stellt ein künstliches Einfrieren, ein Weg-Abstrahieren der Zeit dar. Da die Prozessualität für die menschliche Bewertung aber wesentlich ist, wird eine abgeflachte, entstellte Wirklichkeit wiedergegeben.11 Dies gilt besonders dann, wenn das Bild Personen und deren Handlungen als Gegenstand hat. Das künstlerische Foto muss quasi trotz der Bindungen durch die Technik diese zu überwinden trachten um ihre volle Bedeutung zu entfalten. Der Verweis der Fotografie auf das Ganze des Bewegungs- und Handlungsablaufes wird besonders deutlich in den Standbildern des Films, die dem Besucher eine Art Einladung zum Betrachten des Filmes anhand der unvollständigen WerbeBilder überbringen. Ohne die Existenz des Films, der diese Momentaufnahmen in ihre Prozessualität zurückbringt, wären diese Bilder bedeutungslos.12 Im Kontext des Films und dann später als Erinnerungsbilder können die Fotografien aber für das Ganze stehen, das aus dem Gedächtnis ausgefüllt werden muss. Eine ähnliche Komplementarität finden wir bei der Verbindung von Text und Bild, die in Kap. 10.3 untersucht wird.
7.2 V ON
DER
B ILDERGESCHICHTE
ZUM
C OMIC -S TRIP
Ein räumlich gegliedertes Feld von Einzelbildern (Grafiken oder Fotos) kann im Prinzip anhand eines Leseweges zur Bildergeschichte werden. Neben den bemalten Höhlenwänden der Steinzeit (siehe Kap. 2.1) sind die „Totenbücher“ um 2000 v.Chr. in Ägypten, welche den Weg des Toten im Jenseits und die dort zu erwar-
11 Diese Kritik an der Statik des klassischen Abbildungsbegriffs greift Deleuze (1985:41f unter Bezugnahme auf Bergson) auf. Das Bewegungsbild („image-mouvement“) ist kein Abbild, keine Aussage („énonciation“) sondern etwas davor Liegendes, etwas Aussagbares („énonçable“), die Modulation, Variation einer Form. Dadurch ist sie der Realität näher als die statischen Abbilder, die versprachlichten Dinge (ibidem: 42f). Aus dem gleichen Grund trifft auch die Unterscheidung wahr-falsch auf diese Zeichengestalt nicht zu (und damit die zwischen realistisch und fiktiv). 12 Manche Filmstills erhalten dagegen Kult- und Kunstcharakter, wie die re-inszenierten Fotografien von Aneta Grzeszykowska nach Cindy Shermans Filmstills zeigen; vgl. Mensger (2012: 286-28).
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tenden Prüfungen beschreiben, und die Skulpturenfriese der griechischen Tempel zu nennen (vgl. Kap. 10.4 zum Parthenon-Fries). Als Bildergeschichten kann man auch chinesische Steinabreibungen der Han-Dynastie (206 v.Chr. – 200 n. Chr.), persische Metallreibearbeiten und im Mittelalter den 70 m langen Teppich von Bayeux bezeichnen. Auch beschriftete Spielkartensets und Tarotkarten mit Bild und Beschriftung können dieser Vorgeschichte der Comics zugerechnet werden (vgl. Habarta und Havas, 1993). In Bildern mit Texteinschüben erzählte Geschichten tauchen vermehrt im 19. Jh. auf. Der Schweizer Rodolphe Töpffer wurde von Goethe ermutigt, seine Bildergeschichte Monsieur Jabot zu veröffentlichen (1833 erschien die Geschichte, weitere folgten). In Deutschland wurde das Genre neben den humoristisch-satirischen Zeitschriften (so die Fliegenden Blätter ab 1844) besonders durch die Kinderbücher Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann, 1845 und Max und Moritz von Wilhelm Busch, 1865 populär. Als eigentlicher Beginn des Comics gilt der 5. Mai 1895, als Richard F. Outcault (1863-1928) seine Strips für die Zeitschrift New York World zeichnete und regelmäßig erscheinen ließ. Im Comic wird das meist seitenfüllende quasi-schriftliche Format mit Sprechblasen und Texteinschüben zu einem eigenen visuellen Massenmedium. Obwohl die Zeitungs-Strips überwiegend von Erwachsenen gelesen wurden, erhielten die Comics den Nimbus ein Jugendmedium zu sein. Immerhin wird an ihnen die Existenz einer Jugendkultur deutlich, was in der Literatur nicht in vergleichbarer Weise der Fall ist. Die semiotische Charakteristik der Comics wurde teilweise in ihrer Serialität, in dem Verbund von Bild und Text, in dem Medium Zeitung oder Heft gesehen. Es gab aber sehr schnell Hybrid-Formen, bei denen neben gezeichneten Bildern (mit Konzentration auf die Linie, oft in Schwarz-Weiß), fotobasierte Bilder, Fotos oder computergenerierte Zeichnungen verwendet wurden. Literarische Strukturen wurden imitiert, Comics wurden in Zeichentrickfilmen oder Spielfilmen weiter verwertet oder im Computerspiel neu arrangiert. Klassisch ist die Benützung der Seite (oder zu Beginn die waagerechte Zeitungs-Rubrik) als Basiseinheit; diese wird durch die Bildfelder (panels) untergliedert. Dabei dominiert im Westen eine schriftähnliche links-rechts-Lektüre, z.B. in den Erfolgsserien von Hergé (1907-1983): Tintin (Tim und Struppi) oder von René Gosciny (1926-1977): Asterix und Obelix. Die klassische Einteilung in Bild und Sprechblase wird ergänzt durch „Rezitative“, d.h. kurze Texte häufig in der obenen Ecke des Bildes, die zeitliche oder räumliche Sprünge indizieren, sowie durch Piktogramme und onomatopoetische Formeln. Baron-Carvais (1985: 48f) weist darauf hin, dass das Genre des Comics gewissermaßen die Trennung von Literatur und bildender Kunst korrigiert und aufhebt, da letztere die narrative Funktion nur beschränkt oder in der Moderne gar nicht mehr erfüllte. Damit kommt der Comic dem frustrierten Bedürfnis der Konsumenten entgegen (vgl. zur narrativen
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Funktion und deren Verdrängung in der Malerei Kap. 3.1 und 4.3). Es gibt allerdings im Laufe der Entwicklung eine Vielzahl von Variationen: •
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Ohne Sprechblasen, quasi dem Stummfilm nachempfunden. Dieses Sub-Genre beweist, dass Bild und Text autonom sind oder parallel gelesen werden können; so bereits in den Bildergeschichten Prinz Eisenherz (Prince Vailant von Harold Forster ab 1937). Guido Crepax (1933-2003) hat sich in dem Comic Lanterna Magica von 1978 ganz vom Text gelöst und erwartet vom Leser, dass dieser die Geschichte aus der Bildinformation rekonstruiert (vgl. zu Prince Vailant Robinson, 1974: 149-154). Die Abfolge der Bilder geschieht eher assoziativ als zeitlich-kausal, so bei Jean Giraud (Moebius). Dies ist in geringerem Ausmaß allerdings auch schon bei Hergé zu beobachten, d.h. die Lektüre der Panels einer Seite erfolgt gar nicht streng linear, der Blick kann trotz der Lesegewohnheiten für Texte (im Westen von links nach rechts, in Japan von oben nach unten) auf der Seite wandern und mehrere Bereiche fast gleichzeitig (in schnellen Sakkaden) abtasten. Die Farbe wurde auch schon früh eingeführt und wird bei Moebius auch zur Konstruktion von Tiefe eingesetzt, statt bloß die Flächen füllend vom Koloristen eingesetzt zu werden (vgl. Knigge, 1996: 276ff). Rechteckige Panels können durch runde oder durch Kreissegmente ersetzt werden (1937, René Pellos in Futuropolis) oder es gibt ein ganzseitiges Bild (Makropanel), in das Teilbilder eingesetzt sind (vgl. Captain America und Packard, 2006: 320ff). In Ausnahmefällen werden Bewegungsabläufe in einem Panel oder schnelle Sequenzen als Filmstrips wiedergegeben; so etwa von Guido Crepax; vgl. Caneppele und Krenn (1999: 140-151). Selbst Spiegelungen eines Sujets oder die Wiedergabe des Zeichners oder seines Stifts kommen vor (vgl. ibidem: 133 und zur Metarepräsentation Kap. 4.2).
Die entscheidende Schwelle zum Film wird überschritten, wenn die Illusion einer kontinuierlichen Bewegung erzeugt wird. Technisch ging der Elektrische Schnellseher (Elektrotachyscop), der bereits die Fotografie nutzte, dem Film unmittelbar voraus; siehe auch das Zoogyroscope, mit dem Muybridge 1880 Bewegungsbilder vorführte (Guadagnini, 2010: 244). Mit dem Film wird die Illusion technisch so perfekt realisiert, dass eine kontinuierliche Bewegung und Handlung vorgetäuscht wird (obwohl nur eine diskrete Bilderfolge vorliegt). Mit der Bewegung der Kamera und dem Filmschnitt wird schließlich auch die Bindung zum Theater aufgehoben (der Zuschauer hat eine feste Perspektive auf eine Bühne, die lediglich zwischen den Akten wechselt; vgl. Kap. 7.4.2). Ich will zwei Phasen der weiteren Entwicklung und die entsprechenden semiotischen Charakteristika des Films exemplarisch untersuchen.
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7.3 D ER S TUMMFILM : AM B EISPIEL VON F RITZ L ANGS F ILM „S IEGFRIED “ (1924) Der Stummfilm der Weimarer Zeit ist einerseits durch die Begrenzungen und Eigentümlichkeiten der Filmtechnik (dem Fehlen von Ton und Farbe), andererseits durch ästhetische Diskurse im Rahmen des Deutschen Expressionismus bestimmt. Zu ersteren zählen: •
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Die Realisierung in Schwarz - Weiß, die nicht nur die Farben eliminiert, sondern auch die Helligkeitswerte der Farben (z.B. von Rot und Blau) verzerrt. Weiße, leuchtende Flächen im Kontrast zu dunklen wurden dadurch sehr wichtig und zu Trägern zentraler Bedeutungen. Dies trifft besonders auf die Bedeutung der weiß überhöhten Frauen-Gesichter in Langs Film zu (vgl. auch Arnheim, 1932/1979: 90-97).13 Das Fehlen der Sprache. Immerhin gibt es in Langs Film Zwischentitel und die Einteilung in sieben Gesänge, wodurch das Geschehen in großen Zügen berichtet wird. In den sprachlosen Episoden ersetzen langsame Einstellungen mit einem Verweilen auf der Mimik und Gestik der Handelnden die Sprache weitgehend. Allerdings kann der Zuschauer Lippenbewegungen beobachten, d.h. es wird (im Gegensatz zur Pantomime) visuell auf das Sprechen hingewiesen. Die sichtbaren Sprachhandlungen treten aber deutlich zurück im Vergleich zu Szenen im Alltag oder auf der Sprechbühne. Die fehlende Geräuschkulisse kann durch die parallele Orchestermusik teilweise kompensiert werden. Dabei wird wie bei der Oper auch die Emotionalität und Dramatik des Geschehens akzentuiert.
In seinem Nibelungenfilm konnte der Regisseur davon ausgehen, dass zumindest dem deutschen Publikum das Geschehen durch die Schullektüre bekannt war.14 Die
13 Der Kontrast von Hell (Weiß) und Dunkel (Schwarz) wird auch eingesetzt, um die Hauptpersonen zu charakterisieren: Weiße Kleider, blonde Haare, weißes Gesicht, viel Haut (hell): Siegfried, Kriemhild – dunkle Kleider, dunkle Haare, wenig Haut sichtbar: Brunhilde, Hagen. Der etwas zwiespältige Gunther bewegt sich dazwischen. Gräf u.a. (2011: 87) sprechen gar von einem Helligkeits-Kode. Das grelle Weiß ist allerdings auch ein Nebeneffekt der damaligen Beleuchtungstechnik. 14 Der Stoff war seit der Nibelungen-Propaganda von August Zeune nach 1815 in den Unterricht eingeführt worden; vgl. auch Kap. 10.4.
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Opern Wagners hatten den Nibelungen-Stoff darüber hinaus auch einem internationalen Bildungs-Publikum bekannt gemacht.15 Die expressionistische Bildgestaltung nimmt Grundtendenzen des Expressionismus in der bildenden Kunst Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. auf. Dieser hatte sich auf die Architektur ausgeweitet, wie die Arbeiten von Bruno Taut zeigen, und auch die Bühnenbildner am Theater inspiriert. Charakteristischer Weise werden runde Konturen (vgl. die Landschaften und Bauten im Film „Siegfried“) und gezackte Muster (vgl. dort die Kleider und Interieurs) bevorzugt. Die Formenvielfalt wird stark reduziert und schemenhaft vereinfacht. In Langs Film „Siegfried“ (Nibelungen I) sind die Kostüme (z.B. Siegfrieds) und die Innenausstattungen, aber auch die symbolischen Landschaften (der Wald, durch den Siegfried reitet, die Burg Brunhildes im Flammenmeer, die Treppe zur Kirche, der blühende Busch) deutlich vom Expressionismus (und Symbolismus) geprägt. Auch die langen Einstellungen auf die weiß geschminkten Frauengesichter mit starker Augenbemalung erhöhen die Expressivität drastisch. 16 Das Statuarische, Symbolhafte kommt besonders in den Standbildern, die mit dem Film ausgeliefert wurden, zum Tragen. Sie wurden in Bildbänden verbreitet und übernahmen in popularisierter Form die Funktion der Historienbilder im 19. Jh.17
15 Es gab 1910 und 1912 bereits zwei Verfilmungen, die allerdings nicht in derselben Weise wahrgenommen wurden wie der Film von Lang (1924); vgl. Breitmoser-Bock (1992: 109). 16 Durch die relativ langsame Bildführung und Montage in Langs Stummfilm „Nibelungen I“ kommen auch traditionelle Bildordnungen zum Tragen; z.B. Symmetrien und Diagonalen. In Gräf u.a. (2011) werden anhand des Stummfilms Nibelungen I von Lang die Diagonalen in der Einstellung: Rückkehr nach Worms (ibidem: 102f) und die Symmetrien im Raum, als Kriemhild mit der Leiche Siegfrieds konfrontiert wird (ibidem: 105), hervorgehoben. 17 Überhaupt sind die Filme Langs durch eine hervortretende Piktorialität gekennzeichnet. Er wollte zu Beginn seiner Karriere Kunstmaler werden und dies zeigt sich besonders in seinen frühen Filmen (vgl. Maibohm, 1990: 13). In dem Film Gefährliche Begegnung von 1944 spielt der Kontrast/Konflikt: gemaltes Portrait – reale bzw. gefilmte Person eine zentrale Rolle.
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Abbildung 44: Siegfried schmiedet das Schwert, der Tod Siegfrieds Die grobe Zeitstruktur des Films wird durch die Zwischentitel und die Einteilung in sieben Gesänge nicht-filmisch (schriftlich) fixiert. Die Raumstrukturen orientieren sich an einem „topographischen Makrosystem“. Dabei dient Worms als zentraler Ort, zu dem das Geschehen hinführt und am Ende nach Siegfrieds Tod bei der Jagd zurückkehrt. Außerdem gibt es eine Reihe „topographischer Mikrosysteme“, die den Ort der jeweiligen Detailhandlungen bestimmen und den Hintergrund für die sozialen Beziehungen in Konflikt und Liebe bilden. Hervorzuheben sind die Szenen: Siegfried mit dem Drachen, Siegfried mit Kriemhilde vor dem blühenden Baum, Siegfried und Hagen an der Quelle.18 Das Hinzutreten der Tonaufnahme (und deren Synchronisierung mit dem Bild) sowie der Farbe revolutionierten den Film und die Filmindustrie ab Ende der 20er Jahre.19 Wichtige Regisseure haben den Wechsel aktiv mit vollzogen und sich den neuen Möglichkeiten angepasst. Dies tat auch Fritz Lang; sein erster Tonfilm „M“ (1931, ein Kriminalfilm zum Thema Kindsmörder) wurde ein großer Erfolg. Er nutzte die Tonspur u.a. auch dazu Bild und Ton kontrapunktisch zu verbinden. Zwei parallele Prozesse, einer in der Gangsterwelt und einer bei der Polizei werden durch Szenenwechsel bei Fortsetzung der Thematik des Gesprächs: Wie kann der Kindsmörder gefasst werden, abwechselnd verknüpft. Die Sprache verdoppelt also nicht die bildliche Information sondern fügt dieser etwas filmisch Relevantes hinzu (vgl. dazu Maibohm, 1990: 147-150). Nach seiner Emigration in die USA machte
18 Breitmoser-Bock (1992: Kap. 6.1.) benützt die semiotischen Begriffsbildungen von Lotman (1977); siehe dazu Kap. 1.1.5. Ich werde das Thema der Raumauswahl, -gestaltung und -aufteilung im Film im folgenden Abschnitt behandeln. 19 Arnheims Buch „Film als Kunst“, das 1932 erschien, bespricht auch den Tonfilm, hebt aber besonders dessen Problematik hervor. Er fragt sich, ob er wirklich neue künstlerische Akzente setzt (oder nur trivialisiert) und ob er nicht eine Art mechanisiertes Theater darstellt.
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sich Lang sogar einen Namen mit Westernfilmen: The Return of Frank James (1940), Western Union (1940) u.a. Sie waren nicht nur in Ton sondern auch in Farbe gedreht. Wie diese Entwicklung des Films zeigt, muss der Filmkünstler erst die Möglichkeiten und Begrenzungen (Probleme) der technischen Innovation erkennen und entsprechend filmisch umsetzen, damit ein ästhetisch anspruchsvoller und das Publikum begeisternder Film entsteht. Die Farbe kann zur Überlastung führen, die Prägnanz der filmischen „message“ eintrüben; sie kann aber auch neue Informationen, z.B. die Grandiosität einer Landschaft im Western oder Stimmungswerte von Räumen und Ereignissen einfangen, die dem Schwarz-Weiß-Film verschlossen bleiben. Der Ton, die Sprache können das visuell Gesehene verdoppeln und damit die Botschaft unscharf machen; sie können aber auch in kontrapunktischer Weise neue Bedeutungsschichten erschließen und damit den Effekt des Films verstärken. Im Übrigen war ja der Verzicht auf Farbe und Sprache kein freiwilliger; die Filmtechnik war noch nicht ausgereift und ihre Vervollständigung war unvermeidbar. Insgesamt bleibt besonders im Ton- und Farbfilm die starke Realitätsillusion des Films erhalten und wird sogar gesteigert. Diese toleriert und ermöglicht wiederum künstlerische Eingriffe in die Raum- und Zeitkontinuität. Die Mittel dieser Gestaltung nennt man „mise-en-scène“ (Raumgestaltung) und „montage“ (Zeitgestaltung), vgl. dazu Monaco (2009: 197-241). Im Gegensatz zum Dokumentarfilm, der zumindest behauptet etwas Wahres darzustellen (es aber nicht beweisen kann), bleibt beim Spielfilm die Frage der Wahrheit offen. Dies zeigen besonders deutlich die Filme von Orson Wells („La Grande Illusion“, 1937), aber auch die späteren Filme von Fritz Lang, in denen Gerichtsprozesse im Vordergrund stehen. Der Betrug wird durch innere Widersprüche aufgedeckt, der Täter verrät sich selbst; die Wahrheit wird nicht absolut gefunden, sondern ein falscher Schein wird entlarvt (vielleicht um einem anderen Schein Platz zu machen). Das Urteil bleibt beim Zuschauer; vgl. dazu auch Deleuze (1985: 180-182). Ich werde mich im Folgenden einer Frage zuwenden, die zentral für das bewegte Bild ist: Aktion − Konflikt − Verfolgung im Kriminal- und Abenteuerfilm. Stellvertretend für die gewaltige Industrie der Action-Filme (vgl. Monaco 2009: 412416) werde ich zwei James-Bond-Filme analysieren, wobei es mir wesentlich um schnelle Handlungsabläufe, Verfolgungsszenen, Beschleunigungen (Verlangsamungen) und Verdoppelungen von Handlungssequenzen geht (vgl. auch Wildgen, 2013a).
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7.4 F ILMISCHES E RZÄHLEN UND DIE K ONSTRUKTION R AUM UND B EWEGUNG IM ACTION -F ILM
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VON
Der Film ist einerseits bewegtes Bild, visuelle Kommunikation in der Zeit, zirzensische Attraktion, anderseits wird eine Geschichte erzählt. Dabei ist das Gleichgewicht zwischen visueller Attraktion und erzählend motivierter Handlung in den Film-Genres unterschiedlich. Im Action-Film steht die auf wenige Akteure zugespitzte dramatische Aktion im Zentrum, sie muss aber in eine narrative Textur „eingeflochten“ werden. Viele Action-Filme, so die später analysierten Bond-Filme, werden vom Publikum als Film-Serie wahrgenommen. Der Erzählstrang muss deshalb über den jeweiligen Film hinausweisen, Strukturanalogien zu vorausgegangenen Filmen und möglicherweise Anknüpfungspunkte zum nächsten Film liefern.20 7.4.1
Die semiotische Konstruktion des Raums im Film
Die Produktionsdesigner müssen oft einen großen Aufwand treiben, um einen Ort zu schaffen, der für die Dreharbeit und die Illusion des Films geeignet ist. Dieser Aufwand ist gerechtfertigt, weil der Ort der Handlung der Anker für das Geschehen ist und es glaubwürdig erscheinen lässt. Außerdem werden Charaktere und Handlungen erst im Kontext dieser Orte verständlich und als Konstrukte wirksam. Im weiteren Sinn gehören zu den Orten auch die Kostüme und das ortspezifische Verhalten der Charaktere. Insofern ist mit der exakten Konstruktion der Orte und der Regie der Handlungsabläufe an diesen Orten bereits die Grundstruktur des Films festgelegt. Für die Bond-Filme sind bekannte Orte, die meist über mehrere Kontinente verstreut sind, charakteristisch. Am häufigsten agiert er dennoch in England, das der Zentralpunkt seines Imperiums bleibt; diese Charakteristik wird besonders im Jubiläums-Bondfilm Skyfall (2012) hervorgehoben. Übergangsorte spielen ebenfalls eine große Rolle, so die Eingangshallen von Hotels, Aufzüge, Bahnhöfe, Flughäfen, überfüllte Plätze: der Marktplatz von Siena, wo auch das Finish des Pferderennens stattfindet (in Ein Quantum Trost, 2008) und der türkische Basar in Istambul (in Skyfall, 2012). Bond befindet sich dauernd im Übergang und scheint sich überall sofort auszukennen. Die Ausstattung der Räume hat sich in den BondFilmen im Laufe der Zeit gewandelt. Im Film Ein Quantum Trost werden natürliche Orte weitgehend bevorzugt: Gardasee, Siena, London, Port au Prince, Bolivianische
20 Zum seriellen Charakter der Bond-Filme siehe Hicketier (2012: 137f). Der Fortsetzungscharakter ist besonders im Film Ein Quantum Trost deutlich, der zusammen mit dem Film Casino Royale konzipiert wurde und der seine Fortsetzung, in gewisser Weise seinen Abschluss, im Film Skyfall findet.
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Wüste. In Skyfall wird sogar die Verfolgung über die Dächer Sienas im vorangegangenen Film in der Anfangsszene zitiert, wenn Bond seinen Gegner über die Dächer des Basars in Istanbul verfolgt. Solche Wiederaufnahmen sind charakteristisch für Serienfilme. Die Handlungsklimax (mit der Trostszene) im Film: Ein Quantum Trost, spielt im Wüstenhotel, Perla de las Dunas.21 Die sukzessive Explosion des Gebäudes (von rechts nach links) ist einer neuen Technologie mit Brennstoffzellenversorgung verpflichtet. Damit wird gleichzeitig das zentrale Thema Wasser– Wasserreserven–Wasserknappheit–Wasserstoff (als Energie) zugespitzt. In Skyfall wird die finale Konfrontation in ein schottisches Schloss, dem Ort von Bonds Kindheit, verlegt. Auch dieser Ort wird vollständig zerstört. 7.4.2
Die filmische Organisation von Bewegung im Raum
Wie beim Bild spielt zuerst der Rahmen, das Sichtfenster eine bestimmende Rolle. Ein Film im Academy-Format (quadratisch) betont die Mitte stärker und verstärkt damit die Tiefenillusion. Das Breitband-Format betont die Horizontale, so dass Landschaft und Handlungsszenario stärker hervortreten; Handlungen und Bewegungen quer zur Filmfläche können länger verfolgt werden, ohne dass sich die Einstellung ändern muss. Spielt der Film in architektonischen Innenräumen, so können Elemente der Architektur: Türen, Treppenaufgänge, Fenster, enge Korridore, Raumteiler, ja Möbel (siehe die Rolle des Tisches bei den Abendmahldarstellungen in Kap. 3.1) eigene Rahmungen innerhalb des Formats erzeugen und dadurch den Raum gliedern. Personen können einzelnen Raumsegmenten zugeordnet werden. Diese Raumgliederungen können wiederholt werden, etwa bei der Bewegung durch eine Zimmerflucht. Die Blickrichtung der Person (und der Kamera) kann nach unten gehen (von einem Balkon, einem Fenster in der oberen Etage in den Hof, auf die Straße) oder hinauf in ein Treppenhaus oder besonders extrem in eine Felswand beim Klettern (entsprechend hinab in den schwindelerregenden Abgrund). Im Zusammenhang mit der Raumgliederung erhalten Personen und deren Handlungen spezifische Bedeutungen. Die Gliederung des Raumes (besonders durch die Trennlinien und Schwellen) ist bedeutungsgebend, da sie Bindungsstrukturen von thematisch zusammenhängenden Teilfeldern, die räumlich separiert sind, erzeugt; vgl. Saint-Martin (1990: 208ff). Im Film kommt die Transformation der Raumstrukturen in der Bewegung der Personen und der Kamera hinzu. Man kann den Film gar als das Medium der Raumtransformation betrachten. Die sich bewegende Person kann
21 Die Außenaufnahmen erfolgten in Chile, die Innenaufnahmen im Studio. Das explodierende Hotel wurde vom Modell elektronisch in die Szenerie eines chilenischen Observatoriums eingefügt.
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im Vordergrund fokussiert sein, der umgebende Raum fließt dann an der Person vorbei; dies ist besonders deutlich in den älteren Hollywoodfilmen und in manchen Filmen der Nouvelle vague, wo über lange Einstellungen die Akteure am Steuer eines Autos gefilmt werden; die Fortbewegung konnte durch eine davon unabhängig gefilmte Kulisse eingeblendet werden. Die Bewegung kann aber auch dadurch zustande kommen, dass sich die Kamera bewegt, bzw. die Einstellung von einer Totalen zur Nahaufnahme variiert wird. Bei der Bedeutungskonstruktion leistet der Kameramann (von der Regie angewiesen) einen wesentlichen Teil der Arbeit. Die Abfolge von Bewegungsszenen und Handlungen in verschiedenen Raumsegmenten wird in der Montage (im Schnittraum) geleistet. Sam Mendes sagt in einem Interview zum Bond-Film Ein Quantum Trost: Ein Film ist ein Mosaik. Jeden Tag legt man die paar Stückchen, die man gedreht hat, in einen Kasten. Das macht man ein paar Monate lang und am Ende öffnet man den Kasten und fügt alle Teile zusammen (Duncan, 2012: 124).
Einstellungen der Kamera und die Konstruktion der Szenenfolge im Schnittraum sind damit die zentrale Organisationsebene filmischer Bedeutungen. Sie ergänzen, vervollständigen die von den Schauspielern geleistete Darstellungsleistung vor der Kamera. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Theater, wo zwar in der Vorbereitung auch die Raumpositionen, Bewegungen und die Perspektiven, die sich dem Zuschauer eröffnen sollen, geplant werden, das Ergebnis kann aber nicht so ausführlich und radikal wie in der nachträglichen Konstruktion durch Montage gestaltet werden. Wir können somit drei Unterebenen der Bedeutungskonstruktion von Zeichen im Film unterscheiden: 1. Die Bedeutungskonstruktion in der Szene vor der Kamera (im Skript vorbereitet, von der Regie geplant und kontrolliert, von den Schauspielern konkretisiert). 2. Die Bedeutungskonstruktion durch die Kamera-Arbeit in der Wahl der Einstellung, Kontrolle der Beleuchtungseffekte und durch die Bewegung der Kamera im Raum. Meistens wird ein Vielfaches des benötigten Filmmaterials aufgenommen, d.h. die Kamera erzeugt einen potentiellen narrativen Raum, aus dem dann radikal ausgewählt wird. Komplementär zum erfassten Bild gibt es das Off oder Hors-champ, das mitbedeutend sein kann. 3. Die Montage. Sie ist erst privativ, d.h. es werden große Teile des Filmmaterials ausgesondert. Der Filmregisseur im Schneideraum entspricht dem Bildhauer, der aus dem Marmorblock das nur in der Vorstellung existierende Produkt formt (siehe Kap. 5.2). Wichtiger ist aber die syntaktische und narrative Ordnung, welche in der Montage erzeugt wird. Im zeitgenössischen Film werden außerdem die Szenen computertechnisch überarbeitet und durch Spezialeffekte ergänzt, wenn nicht gar der ganze Film in den Hauptbestandteilen elektronisch
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erzeugt und durch kameratechnisch aufgenommene Szenen ergänzt wird (die Bewegungen realer Schauspieler dienen dann als Material für die Animation von Kunstfiguren, die am Computer geformt wurden). Diese drei Bedeutungsebenen sind im Wesentlichen visueller, optischer Natur. Ihnen kann die textuell-sprachliche und die musikalisch-akustische Dimension hinzugefügt werden. Verschiedene Fassungen können auch mit anderen Texten in anderen Sprachen oder ohne Musik, die z.B. live durch ein Orchester aufgeführt wird, hergestellt werden. Dadurch wird die Separierbarkeit der drei Grundebenen: Bild − Text − Musik deutlich. Die visuelle Organisationsebene wiederum ist wie oben gezeigt gegliedert in: Organisation vor der Kamera (Regie- und Schauspielerleistung) − Kamera- und Lichtführungsleistung − Schnitt, Montage und Spezialeffekte. Das filmische Zeichen muss diese drei Ebenen und ihre Unterebenen integrieren, d.h. ohne zuviel Redundanz oder Widerspruch/Inkonsistenz zusammenfügen. Die Integration geschieht in besonderen Zonen der jeweiligen Organisationsebene, so dass diese insgesamt relativ autonom bleiben. So müssen die Montage und die Textorganisation zusammenpassen, bzw. eine veränderte Montage ändert automatisch die Textstruktur und den narrativen Gehalt. Auch die Fokussierung der Kamera muss mit dem Gewicht einer Person oder ihrer Rolle im Text harmonieren. Wenn die Hauptperson in keiner Weise (optisch durch Größe oder Schärfe oder im Bewegungsmoment, wenn die Kamera ihr folgt) hervorgehoben ist, können auch bestimmte narrative Stränge, bei denen sie im Mittelpunkt steht, nicht angemessen zur Wirkung kommen. Die Integration der Musik muss mit Schnitt und Montage koordiniert sein, sie ist aber auch an die narrative Struktur gebunden, insofern Komplikations- und Klimaxpassagen der Erzählung in der Musik ein Korrelat haben. Die dominante Dimension ist sicher die visuelle Konstruktion, die von den Schauspielern, der Kamera und durch Schnitt und Montage geleistet wird.22 Insgesamt ergibt sich ein ausreichend großer Artikulationsraum, ohne dass die zu erbringende Organisationsleistung in der filmischen Semiose aus Komplexitätsgründen scheitern müsste. Die Trennung der Ebenen und deren weitgehende Autonomie ist der Schlüssel zur notwendigen Komplexitätsreduktion. In dieser Hinsicht war der Stummfilm (siehe Kap. 7.3) ein historisches Experiment, da er die weitgehende Autonomie der visuellen Filmnarration (auch deren Grenzen) aufgezeigt hat. Die Techniken der Komplexitätsbeherrschung sind in etwa die gleichen wie in der
22 Neben dem kontinuierlichen (unmerklichen) Schnitt der Hollywood-Filme sind die formalistische Montage Eisensteins, die nicht kausale Montage bei Orson Wells und die Montage der Lücke von Godard zu nennen (vgl. Agotai, 2007: 98).
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Sprache. Erstens wird ein Lexikon standardisierter Bild- und Montagetechniken entwickelt, zweitens werden Regeln der syntaktischen Konstruktion auf mehreren Ebenen bereit gestellt. In dieser Hinsicht kann man auch berechtigt von einer Sprache (Grammatik) des Films sprechen. Man kann sogar mutmaßen, dass die semiotische Leistung, die der Film in der Zeit seit seiner Einführung erbracht hat, jene Leistung repliziert, welche der Mensch bei der Evolution und Fortentwicklung der Sprachen viel früher (wahrscheinlich zwischen 300.000 und 50.000 J.v.h.) erbracht hat.23 In beiden Fällen wird das semiotische Potential der Spezies Mensch entfaltet und dies wird auch noch bei weiteren Entwicklungen, die ganz andere Medien der Kommunikation in den Alltag einführen, notwendig und möglich sein. 7.4.3
Handlung, Interaktion, Kampf im James Bond-Film
Der Film unterscheidet sich grundlegend von Text und Bild in Bezug auf die Repräsentation von Handlung, sei sie sprachlich als Auseinandersetzung oder körperlich als Kampf. Der Action-Film betont dabei eindeutig den körperlichen Kampf (mit dem Gegner oder mit widrigen Verhältnissen). Im Action-Film sind die Dialogszenen meist kurz und erlauben keine genauere Betrachtung der Akteure. 24 Im Vergleich zum Text kann am ehesten die direkte Rede in ähnlicher Weise wiedergegeben werden, z.B. durch den regelmäßigen Wechsel der Einstellungen, die in der Schuss-Gegenschuss-Montage (SRS; shot reverse shot) auf die jeweiligen Sprecher fokussiert werden. Der entscheidende Unterschied zwischen Film und Text betrifft die darstellende Funktion. Im Text wird der Handlungsverlauf durch Verben, Präpositionen und Konnektoren (der Zeit und Kausalität) wiedergeben, d.h. kategorial auf Prototypen projiziert. Im Film erfolgt die Wiedergabe der Bewegung, Kraftwirkung und Interaktion quasi zeit- und wirkungsanalog, wodurch dem Zuschauer eine körperlich nachvollziehbare Handlung vorgeführt wird. Dies bedeutet, dass der narrative Kern in einem anderen Medium, das anderen Gesetzen gehorcht,
23 Metz (1968: 249) vergleicht dagegen die „phylogenetische“ (kulturhistorische) Entwicklung des Films zwischen 1895 und 1915 (Lumière bis Griffith) und die ontogenetische Entwicklung der Sehkompetenz des Kindes, das mit etwa zwölf Jahren film-sozialisiert ist. 24 Wie Lotman (1977: Kap. 12) zeigt, ist die Kontinuität des Filmschauspielers, ja sein Mythos, ein wesentlicher Faktor. Er kann einen Typus von Film charakterisieren. So werden die Bond-Filme auch nach den Schauspielern und deren Charakter- bzw. Handlungstypus unterschieden. Lotman erläutert dazu: „der Filmschauspieler erscheint quasi als Doppelwesen: als Darsteller einer bestimmten Rolle und als Kinomythos“ (ibidem: 139).
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dargestellt wird und insofern mit der Repräsentation im Text nicht kommensurabel ist. Wenn wir die im Action- und besonders im James Bond-Film so charakteristischen Verfolgungsszenen als Beispiel nehmen, so kann sich etwa der Verfolgte zuerst zu Fuß durch die Straßen einer Stadt bewegen. Wie in einem Dialog wird dann alternativ der Verfolger (oder der beschattende Detektiv) und der Verfolgte gezeigt. Die Perspektive und die Handelnden wechseln rhythmisch. Durch die regelmäßige Wiederholung des Wechsels wird aber eine Kontinuität suggeriert, die durch den Perspektivenwechsel ja eigentlich aufgehoben ist, denn der Verfolgte bewegt sich natürlich weiter, während der Filmausschnitt den Verfolger zeigt. Die zeitlichen Lücken in der Parallelmontage (cross cutting) müssen vom Betrachter gefüllt werden. Der Rhythmus des Wechsels zwischen Ausschnitten, die den Verfolgten bzw. den Verfolger zeigen, ergibt eine Grundgeschwindigkeit, die gesteigert oder verlangsamt werden kann.25 Der Verfolgte fängt an schneller zu gehen, schließlich läuft er; die Bewegungsart kann gewechselt werden, wobei ein schnelleres Bewegungsmittel gewählt wird: zu Fuß > mit dem Motorrad > mit dem Auto > mit dem Helikopter. Charakteristischerweise sind dann auch die Fortbewegungsmittel des Verfolgten verschieden: Der Verfolgte flieht mit dem Motorrad, der Verfolger benützt ein Auto; der Verfolgte fährt mit dem Auto, der Verfolger hat einen Helikopter usw. Im Western fährt z.B. der/die Verfolgte mit der Kutsche, die Verfolger reiten. Es ergeben sich endlos viele Konstellationen, deren Basis aber die Geschwindigkeit ist; die einzelnen Fortbewegungsmittel können außerdem verschieden auf Hindernisse, die es zu überwinden gilt, reagieren. Im James Bond-Film finden die tollkühnsten Wettrennen statt, wobei der Held meistens gegen mehrere, besser ausgerüstete Gegner kämpft und manchmal zur sorgfältig vorbereiteten (im ersten Teil des Filmes eingeführten) Geheimwaffe greift.26
25 Häufig kommt es zu einer Koppelung der Beschleunigung der im Film gezeigten Bewegung und der Beschleunigung des Szenenwechsels, d.h. mit der Dramatik des Geschehens wird auch die Schnittfolge gesteigert. 26 Die Geheimwaffen sowie schier übermenschliche Fähigkeiten und Eigenschaften des Helden gehörten bis zu Casino Royal 2006 zu den Elementen, die den eigentlich realistischen Agenten-Thriller (zum Teil ironisch) in das Genre des phantastischen Films überführten. Erst der Relaunch mit dem neuen Bond Daniel Craig verabschiedete sich davon zu Gunsten eines realistischeren Konzepts der Figur und der Handlung. Konnte Craig in Casino Royal immerhin noch auf eine medizinische Notfallausrüstung mit AntidotAmpullarium und Defilibrator in seinem neuen Aston Martin DBS zurückgreifen, musste
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Neben dem Bewegungsrhythmus von Verfolger und Verfolgtem kann eine dritte Kraft eingeführt werden: Die Umgebung, in der der Kampf stattfindet, kommt selbst in Bewegung. So kann das Gebäude zusammenbrechen, Räume explodieren oder ein Feuer breitet sich aus, Kessel mit heißen oder ätzenden Flüssigkeiten werden undicht (durch den Schusswechsel der Verfolgung), explodieren usw. Diese Art der Vermehrung der in Bewegung befindlichen Komponenten erzeugt eine eigene Form der subjektiv wahrgenommenen Beschleunigung. Natürlich muss diese Steigerung einen Abschluss finden. So kann der Verfolger die Spur des Verfolgten verlieren, der Verfolgte wird ein Opfer der zusammenbrechenden Räume oder er unterliegt schließlich in der direkten Konfrontation. Im klassischen Western wird vor dem Höhepunkt, dem Zweikampf der Kontrahenten, die Bewegung typischerweise entschleunigt, sie kommt fast zum Stillstand. Die Spannung wird schließlich durch den finalen Schusswechsel aufgelöst. Im Film Ein Quantum Trost werden dem Betrachter nur kurze Ruhepausen gegönnt; erst gegen Ende, als alles entschieden ist, quasi im Nachspann, wird der Film entschleunigt. Im Action-Film wird die zielführende Struktur der Abfolgen bewahrt; der Gute gewinnt nach endlosen und unwahrscheinlichen Auseinandersetzungen. Im James Bond-Film wird dieses Spiel zwar nicht persifliert, aber als weniger ernst zu nehmen dargestellt (quasi als inszeniertes Amüsement für den Zuschauer angedeutet). Dennoch dürfen die hehren Ziele als Endgarant des Sinns dieser Sequenzen nicht fehlen; sie sind jedoch standardisiert (im Dienst Ihrer Majestät der Königin, die nicht eingreift; für die Rettung der Menschheit, usw.). Das jeweilige Böse kann dabei geschickt an Zeittendenzen angepasst werden. Im Film Ein Quantum Trost (2008) ist es die Rettung vor Öko-Verbrechern. Da die üppigen Verfolgungsszenen jede Menge Schaden anrichten und viele Beteiligte dabei umkommen, muss sich der Held rechtfertigen. Die Rechtfertigung des Helden mit der Lizenz zum Töten ist natürlich im Kontext der Abschaffung der Todesstrafe besonders schwierig und bedarf ständig erneuerter moralischer Konstrukte. Diese Rechtfertigung vor dem Publikum wird gerade im Film Ein Quantum Trost ein wichtiges Moment, da Bond wegen der scheinbar nicht gerechtfertigten Tötungen vom Dienst suspendiert wird. In Skyfall (2012) gibt Bonds Vorgesetzte M den Befehl auf die beiden Kämpfenden auf dem Dach des Zuges zu schießen. Dabei wird Bond getroffen und stirbt (scheinbar), als er in die Schlucht stürzt. Dennoch kämpft Bond später gegen den Bösewicht, um das Leben von M zu retten, die allerdings am Ende stirbt und damit
er in Ein Quantum Trost erstmals auf Gimmicks verzichten. In Skyfall (2012) wird wegen der 50-Jahre Feier der Bond-Serie der alte Aston Martin DB5 mit Maschinenpistolen hinter der Stoßstange reaktiviert (und im finalen Kampf zerstört).
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ihre lange Karriere als Figur im Bond-Film beendet.27 Es wird also subtil ein Übergang vom Bösen zum Guten bzw. ein Gewissenskonflikt inszeniert, der aber Bonds Loyalität nichts anhaben kann. Es stellt sich die Frage: Welches ist der semiotische Kern der das Genre definierenden Verfolgungs- und Kampfszenen. Ist dieses Moment eventuell aus anderen Zeichenfeldern abgeleitet und welches sind die charakteristischen semiotischen Organisationsformen? Drei Möglichkeiten bieten sich an: 1. Der von der Tagesschau oder der Kriegsberichterstattung sozialisierte Betrachter wünscht sich sensationelle Ereignisse, die er aus sicherer Entfernung betrachten kann. Topfavoriten sind dabei die instinktiv einen Appell auslösenden Themen: Gewalt (Angriff/Flucht) und Sex (Appetenz oder Ablehnung im Fall von Vergewaltigungen oder Perversionen). Dieser Aspekt spielt eine Rolle im Film Ein Quantum Trost, da Camille die Vergewaltigung ihrer Mutter und ihrer Schwestern durch den General rächen will. Ihr Kampf mit dem General ist auch der Kampf mit einem Vergewaltiger; ja sie begibt sich sogar in eine Situation der Vergewaltigung, um sich zu rächen 2. Auffällig ist die verschachtelte Rahmung der Konfrontationen; d.h. das Grundmuster des Kampfes tritt auf mehreren Ebenen auf. Dies geschieht auch im wirklichen Leben: Der Monarch (Präsident) kämpft mit dem Monarchen des Nachbarstaates; die Generäle der jeweiligen Monarchen planen den Konflikt sorgfältig und führen ihn; die Soldaten (auf erneut getrennten Stufen der Befehlshierarchie) setzen die Pläne der Generäle um (und sterben). James Bond ist quasi der verallgemeinerte Soldat (er ersetzt das umständlich manövrierende Heer), die Befehlshierarchie ist auf den Minister oder Bonds Chefin M. verkürzt.28 Die Königin bleibt im Hintergrund. Als besonderes Komplikationsmoment können Unstimmigkeiten innerhalb der Hierarchie auftreten: Im Kriminalfilm ist der Chef inkompetent und behindert die Ermittlungen oder der
27 Judi Dench spielte diese Rolle von 1995 bis 2012 und zwar in den Filmen: Golden Eye, Der Morgen stirbt nie, Die Welt ist nicht genug, Stirb an einem anderen Tag, Casino Royale, Ein Quantum Trost und Skyfall. 28 Beim Ur-Autor Ian Fleming stehen dessen Kriegserfahrungen (in der englischen Spionage-Abwehr) und gewisse Charaktere seines damaligen Umfeldes Pate für Figuren und Handlungsmuster. Wie Eco (1984: 308f) zeigt, kann er auch auf erfolgreiche Romanfiguren wie: Rocambole, Rouletabille, Fantômas und Fu Manchu zurückgreifen, die bereits zum Inventar früher Filme (seit 1913) gehörten. Vgl. zur Bond-Figur Schmidt (2012).
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Geheimdienst versucht den Kommissar aus der Ermittlung zu drängen, Kollegen sind korrupt und kooperieren mit der Gegenseite, usw. Im Film Ein Quantum Trost ist z.B. der CIA-Chef korrupt. Im Film Skyfall trifft M. eine Fehlentscheidung, als sie befiehlt trotz der Gefahr für Bond auf die beiden Kämpfenden zu schießen. 3. Eine konfliktreiche Spannung kann auch dadurch entstehen, dass gleichzeitig widerstrebende Kräfte wirken. Diese werden entweder (vom Helden) zum Ausgleich gebracht oder es tritt eine Katastrophe ein. Barba (2007) verweist auf den Urtypus dieser Dramaturgie in der Fahrt des Odysseus zwischen Skylla und Charybdis. Der enge, instabile Pfad zwischen zwei zerstörerischen Alternativen muss gefunden werden. Das moralische Dilemma der griechischen Tragödie ist ein anderes Beispiel dieser Dynamik. Da der Film ein Phänomen des Massenkonsums ist, wird die Kreativität vieler Beteiligter gefordert, um ständig Neues oder neu Erscheinendes zu produzieren und damit den Konsum zu erweitern oder wenigstens zu erhalten. Wie im Zaubermärchen bestimmt im kommerziellen Film eine sehr begrenzte Reihe von Handlungsmotiven und -konstellationen den Inhalt der Filme. 7.4.4
Dynamik und Chaos-Kontrolle im Bond-Film
Die perzeptuelle Kontrolle von Bewegungsabläufen ist eine evolutionär sehr grundlegende Fähigkeit, die mit der Evolution des Auges unmittelbar zusammenhängt.29 Bei den höheren Primaten ist das Gehirn mit den so genannten „Spiegelneuronen“ ausgestattet. Sie erlauben dem Organismus, visuell erfahrene Bewegungsmuster in eine innere Repräsentation umzusetzen, erstere quasi zu simulieren und damit schnell nachahmen zu können. Dies bedeutet gleichzeitig, dass die Bewegung sowohl als fremde wahrgenommen wird als auch als eigene simuliert wird. Für die filmische Wahrnehmung impliziert dies eine starke körperliche und emotionale Reaktion auf Bewegungsszenen. Ich gehe deshalb im Folgenden davon aus, dass Verfolgungs- und Fluchtszenen den Zuschauer einerseits mitreißen, weil er die Bewegung innerlich mit vollzieht; anderseits lösen sie auch starke Emotionen aus, die normalerweise mit Verfolgung (Aggression) und Flucht (Angst) verbunden sind. Damit erzeugen sie einen emotionalen Rahmen, in den der Zuschauer das narrative Geschehen einfügen kann (vgl. zu narrativen Strukturen Wildgen, 1987, 1994 und
29 Sie entsteht quasi mit der kambrischen Revolution vor ca. 500 Millionen Jahren, als Lebewesen Sehorgane entwickelt haben und damit ein Wettlauf von Sehen (Verfolgen) und Verstecken, Tarnen (Flucht) ausgelöst wurde.
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mit Bezug zum Film Wildgen 2013a). Ich werde im Folgenden die Struktur und Komplexität ausgewählter Verfolgungsszenen im vorletzten James Bond-Film Ein Quantum Trost untersuchen. Ähnliche Strukturen weisen alle Bond-Filme und genereller die Genres „Action-Film“ und „Kriminalfilm“ auf. Ein einfacher Verfolgungsprozess (zu Pferd oder im Auto) ist linear; z.B. verläuft er entlang einer Straße (beim Auto) oder eines Weges/Pfades (bei der Kutsche oder dem Reiter im Western). Erst wenn die beiden Protagonisten zusammentreffen, ergibt sich eine mehrdimensionale Mikrostruktur, etwas der Kampf um die Kutsche im Western oder die sich von der Straße drängenden Autos im Verfolgungsrennen. Inzwischen werden die klassischen Verfolgungsjagden auch als Komponenten von Videospielen angeboten, etwa: Call of Juarez: Bound in Blood (Uncut) von Ubisoft. Ein Werbebild im Internet zeigt den rasanten Ritt vor einer verschwimmenden Kulisse. Der Film Ein Quantum Trost bringt bereits im Vorspann eine Autoverfolgungsjagd entlang des Gardasees und der Steinbrüche (Carrara). Der Verfolger muss in der Regel zuerst den Vorsprung des Verfolgten reduzieren, bis er in Sicht- und Schussweite gelangt (diese Phase wird im Vorspann übersprungen, im Western kann sie sehr ausführlich dargestellt sein); damit beginnt dann die Interaktionsphase.30 Meistens entscheidet der Schusswechsel die Verfolgung noch nicht (er begleitet sie, macht sie riskanter). Die Autos kommen schließlich in Kontakt, stoßen sich, drängen sich zu Seite, schneiden sich usw. Dabei kommt es manchmal sogar zu einem Augenkontakt zwischen den Fahrern (wenn sie parallel fahren; Bond schießt z.B. im Film Ein Quantum Trost in das parallel fahrende Auto, d.h. er hat Augenkontakt mit dem Fahrer). Charakteristischer Weise kommen außerdem Dritte ins Spiel: Der Gegenverkehr (häufig Last-, Tank- oder Baustellenfahrzeuge, d.h. große, schwere Hindernisse), die Polizei, die einzugreifen versucht (meist vergeblich). Indirekt erweist sich auch die Straße als eine Art neutraler Gegner: Enge Kurven und unübersichtliche Kuppen, steile Straßenränder oder dunkle Tunnels, Baustellen, Staus müssen von den Fahrern in Rechnung gestellt werden.
30 In Flemings Romanen gibt es auch sprachliche Schilderungen von Autoverfolgungsjagden, so etwa im Roman Casino Royale. Das entsprechende Kapitel 15 trägt den Titel: „Black hare and grey hound“, womit ein Hinweis auf die in England und Australien beliebten Hunderennen gegeben wird. Dies zeigt gerade im Kontext von „Casino Royale“, dass die Verfolgungsjagden von Fleming als Spiele gesehen werden, bei denen die Geschicklichkeit der Spieler erprobt wird. Dies ist zumindest im Film Ein Quantum Trost nicht so deutlich, wo die Verfolgungsszenen sofort als Konfrontation beginnen, die einleitende Phase fällt also der Beschleunigung dieser Szenen zum Opfer.
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Die erste Spielszene des Films eskaliert das Verfolgungsthema und bettet es in die beginnende Erzählung ein. Die Eskalation erfolgt auf zwei Ebenen: Einerseits ist Siena der Ort, wo traditionell Pferderennen im Stadtzentrum ausgetragen werden. Diese finden zeitgleich mit dem Treffen Bonds, seiner Chefin und einem Gefangenen statt. Andererseits kann der Gefangene fliehen und Bond verfolgt ihn über die Dächer von Siena. In Abbildung 45 werden Phasen der beiden parallelen, aber nicht ursächlich verbundenen Verfolgungen gezeigt.
Abbildung 45: Pferderennen in Siena und Verfolgungsjagd Bonds31 Die beiden Prozesse werden punktuell verbunden: Zuschauer blicken zu den Dächern, wo die zweite Jagd stattfindet; schließlich geht die Jagd durch das Rennfeld der Pferde und durch die Zuschauermenge. Während die Menge den Sieger des Pferderennens bejubelt, geht Bonds Jagd weiter: von den Dächern, durch eine Wohnung. Unterwegs benützt Bond das Dach eines fahrenden Busses als Abkürzung. Vom Glockenturm fallen beide Kontrahenten auf ein labiles Baugerüst mit einem sich drehenden Lastenaufzug und den Aufzugsseilen, die für einen Kampf in der „Zirkuskuppel“ genützt werden.32 An dieser Stelle wird das lineare Modell verlassen, die Bewegungen erfolgen pendelartig im Raum, d.h. nicht mehr auf der Fläche. Die Singularitäten, d.h. die Treffpunkte beider Akteure werden dadurch komplizierter und schwerer zu erreichen. Zusätzlich verlieren beide ihre Waffe und müssen diese, die von der Bewegung des Gerüstes und der Seile mitgerissen werden, erst wieder in die Hand bekommen.
31 Screen shots aus: http://screenmusings.org/QuantumOfSolace/index_19.htm#2035 (letzter Besuch 26.11.2012) 32 Hitchcocks Film Vertigo (1958) konzentriert sich auf die Angst vor der Tiefe und den Sturz in die Tiefe. Dieses Motiv ist in zahlreichen späteren Filmen eingesetzt worden, um Spannung zu erzeugen.
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Abbildung 46: Gekoppelte Pendel (die beiden Seile) und Doppelpendel (der Arm, an dem das Seil hängt, schwingt ebenfalls) Zu der räumlichen Komplikation kommt eine kinematische hinzu. Die Bewegung von Bond ist von dem Pendeln des Seils und der Drehung des Stahlarms, an dem das Seil hängt, abhängig. Dass Bond im letzten Moment an seine Waffe kommt und den Gegner, der ebenfalls seine Waffe gefunden hat, erschießt, grenzt an ein Wunder.33 Das erweiterte Muster kann man als ein gekoppeltes Pendel beschreiben (wenn beide am Seil hangeln) oder als ein Doppelpendel (wenn sich der Balken, an dem das Seil hängt, bewegt). In Abbildung 46 werden anschauliche Modelle des gekoppelten und des doppelten Pendels (links) mit Kampfszenen in der Kuppel aus dem Bond-Film Ein Quantum Trost (rechts) in Verbindung gebracht. Aus der Physik (und Chaostheorie) wissen wir, dass doppelte Pendel chaotische Zustände haben, d.h. nicht strikt kontrollierbar sind. Bei gekoppelten Pendeln gibt
33 In den Romanen von Fleming (auch im Roman und Film Casino Royale) wird Bond als exzellenter Spieler beschrieben, der die Züge seiner Gegner genau berechnet und ganz unwahrscheinliche Erfolge erzielt. Auf die als Partie verstandene Handlung im Flemings Romanen verweist auch Eco (1984). Der Erzähltext wird in Wildgen (1994: Teil II) spieltheoretisch analysiert. Im Vergleich dazu könnte man die Verfolgungsszenen auch als ein Bewegungsspiel im Raum charakterisieren. Allerdings sind Spiele diskrete dynamische Systeme, während die Bewegung im Raum kontinuierlich ist. Singuläre Lösungen wie in der oben beschriebenen Szene sind deshalb noch wesentlich unwahrscheinlicher (und insofern überraschender) als Erfolge im Glücksspiel.
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es zwar harmonische Schwingungsmodi, diese sind aber nur unter besonderen Bedingungen erreichbar. Der Zuschauer ist natürlich kein Chaostheoretiker, aber er kann die Steigerung der Unkontrollierbarkeit nachvollziehen (quasi körperlich) und somit die extreme Geschicklichkeit des Protagonisten Bond einschätzen. Gleichzeitig bedient diese Konstruktion ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, das im Glücksspiel befriedig wird. Die Spieler geben sich der Illusion hin, die Situation beherrschen zu können. Sutton-Smith (2007: 173) spricht von einer illusionären „ego-mastery“. Er sieht darin die Erwartung einer göttlichen Hilfe oder gar ein Spiel der Götter, von denen sich der Spieler einen Beistand erhofft (ibidem: 157; hier ist erneut ein Hinweis auf Homers Ilias naheliegend). Auf die Eskalation der Verfolgungsszene folgt eine allerdings eher kurze Ruhephase des Films mit dem sich leerenden Platz in Siena und den die Szene verlassenden Zuschauern. Dies ist ebenfalls ein sich wiederholendes Muster. So läuft nach der Verfolgungsjagd per Schiff (ein klassisches Bond-Motiv)34 das Boot in einen sonnigen Hafen ein, wo sich gerade Ausflügler einschiffen. Bond übergibt die bewusstlose Camille einem der Touristen. Das Motiv der nur punktuell verbundenen, aber parallelen Handlungsabläufe, das für Siena charakteristisch war, wiederholt sich in Bregenz. Während die Oper Tosca – übrigens wohl nicht zufällig ein frühes musikalisches Geheimdienstmelodram – ihrem Höhepunkt, einem Mord mit dem Messer, zustrebt, stört Bond die geheime Besprechung von Greene mit seinen Partnern. Die Verfolgung geht durch die Foyers, die Küche und endet in dem Zweikampf mit einem anderen Agenten (wodurch ein weiteres Missverständnis mit seiner Vorgesetzten M. ausgelöst wird, das Bonds Vorgehen erschwert). Eine dramatische Verfolgungsjagd in Bolivien hat die Konstellation: ein altes Motorflugzeug (mit Bond am Steuer) und ein Jagdflugzeug. Bond und seine Partnerin Camille retten sich per Fallschirm, das Jagdflugzeug zerschellt. Insgesamt sind diese an verschiedenen Orten stattfindenden Jagden der dramatische Kern der Story, die Erzählung hält diese ritualisierten Muster zusammen, setzt ihnen ein Ziel und gibt ihnen eine pauschale Wertung.
34 Eine weitere Komplikation stellt der gleichzeitige Kampf mit seiner späteren Partnerin dar, der Bonds Rettungsversuch ungelegen kommt (also ein Missverständnis als zusätzliche Komplikation); Bond muss somit gleichzeitig mit seinen Gegnern und der geretteten Partnerin kämpfen; diese wird aber noch im Verlauf des Geschehens zu seiner Helferin. Im Weiteren wird auch seine Dienstherrin (über ein Missverständnis) zur Gegnerin, da sie seine Konten sperrt, was eine weitere zu überwindende Schwierigkeit ins Spiel bringt.
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Die letzte und entscheidende Verfolgungsszene bringt eine neue Kombination ins Spiel: Camille will den Mörder ihrer Familie, einen bolivianischen General, der sich in dem mit Brennstoffzellen betriebenen Hotel befindet, töten. Bond will den Betrüger Greene, der mit dem General verhandelt, fassen. Beide Verfolgungen finden parallel statt, nachdem Greene das Treffen mit dem General verlassen hat. Beim ersten Schusswechsel Bonds fangen die Brennstoffzellen an zu explodieren. Es laufen also drei Prozesse ab, wobei die Explosionen von keinem der Beteiligten kontrolliert werden können. Der Film stellt in abwechselnden Schnitten die Zweikämpfe: Camille–General und Bond–Greene dar. Sie werden gekoppelt, als Bond einen Schuss hört (Greene sagt: „Sie haben schon wieder jemanden verloren“). In der folgenden Szene verlässt Bond Greene, um Camille zu finden. Die verschobene Abrechnung mit Greene wird in der Wüstenszene, als Bond Greene eine Dose Motoröl zum Trinken überlässt, nachgeholt. Die Kampfszenen im Hotel enden mit einer Art Versöhnung der überlebenden Protagonisten, Bond und Camille, deren Wege später aber wieder auseinander gehen. Dieser Trost im Flammeninferno nimmt zumindest schematisch den Platz der sonst üblichen Schlussszenen ein, wo Bond und das „Bond-Girl“ in Frieden vereint sind. Siehe dazu das Ende des ersten Bond-Films James Bond jagt Dr. No (1962), wo Bond das Bondgirl im Beiboot sitzend umarmt. Im Jubiläumsfilm von 2012 Skyfall hält Bond gegen Ende seine sterbende Chefin M in den Armen. Das brennende Hotel Perla de las dunas entspricht dem zusammenbrechenden Gerüst in der Verfolgungsszene von Siena. Im Dialog zu Beginn der Szene wird die Stromversorgung als instabil bezeichnet, damit wird das Gefahrenpotential des Raumes evoziert, in dem die Verfolgungen stattfinden. Auch die Endergebnisse der verschiedenen Verfolgungsszenen gleichen sich: •
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In den Steinbrüchen Carraras endet die Verfolgung dadurch, dass das Verfolgerauto die Seitenbegrenzung durchbricht und in den Abgrund stürzt (die Straßenführung ist instabil). In Siena erschießt Bond seinen Gegner, als er selbst kopfunter an einem Seil im Glockenturm hängt (seine Lage ist instabil). In Haiti findet die Bootsjagd im Hafen zwischen dicht stehenden Schiffen statt (die Bewegung durch eine Vielzahl schwimmender Objekte ist sehr riskant). In Bolivien ist der Ort der Konfrontation zuerst das Gebirge, später die Wüste. Das kaum flugfähige (unsichere) Transportflugzeug ist im Gegensatz zu den Jagdflugzeugen ein schwacher, unsicherer Ort. Die wasserlose Wüste bedeutet (für Green) den Tod durch Verdursten. Das Hotel „Las Dunas“ mit seiner Brennstoffanlage explodiert nach dem ersten Schusswechsel.
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Die Orte sind somit auf Grund ihrer Anlage selbst in Bewegung oder dazu vorbereitet zerstört zu werden oder den Menschen zu zerstören (die Wüste); sie machen den glücklichen Ausgang (zugunsten des Helden) unwahrscheinlich und stellen dann bei der Rettung des Helden den Zuschauer zufrieden. Wenn Film Bewegung ist, wie Hans Richter sagt,35 dann ist der James Bond-Film ein Prototyp des Films, d.h. er nützt ein im semiotischen System Film natürlich angelegtes Potential bis zur Neige. Wie die Detailanalysen am Bond-Film gezeigt haben, ist der Raum nicht nur ein statischer Hintergrund für Ereignisse und Handlungen, er ermöglicht, formt, erzwingt Bewegung (so als Straße/ Kurve/ Tunnel, als zusammenbrechendes Gerüst/ explodierendes Hotel oder als Lastenaufzug mit schwingendem Arm und laufendem Seil). Objekte im Raum können ebenfalls für die Bewegung von zentraler Bedeutung sein; so etwa die Fortbewegungsmittel: Motorrad (in Haiti), Auto (am Gardasee), Bus (in Siena), Motorboot (in Haiti), Flugzeug (in Bolivien). In oder auf diesen Räumen spielen sich Handlungen ab, aber diese Orte sind auch Mittel der Handlung, d.h. deren Eigenbewegung kann für die Handlungen benützt werden oder kann diese behindern. Die Beherrschung des Raums und der Bewegungsgesetze im Raum zeichnet den Helden (Bond) aus und begründet seine Überlegenheit, seinen (relativen) Sieg am Ende des Films.36 Eine zentrale Rolle spielt natürlich die Waffe, die einerseits eine Art Hand/Faust darstellt (vgl. Wildgen 1999b), andererseits aus der Hand fallen kann, sich dann im Raum bewegt und wieder erlangt werden muss. Neben der Pistole, der charakteristischen Waffe Bonds, kommen Maschinengewehre, Bordkanonen (in der Flugzeugszene), eine Axt (von Greene geführt) und andere spontan verfügbare harte Gegenstände zum Einsatz (u.a. eine Schere und eine zerbrochene Glasscheibe). Insgesamt ist der Held durch eine perfekte Beherrschung seines Körpers und seiner Bewegungsabläufe, der Waffen und der Fahrzeuge (Auto, Boot, Flugzeug) gekenn-
35 „Die eigentliche Sphäre des Films ist die des bewegten Raumes, der bewegten Fläche, der bewegten Linie. Dieser Raum ist nicht wesentlich architektonisch oder wesentlich plastisch, sondern zeitlich“; Richter (2003: 36). 36 Die Kompetenz zur Beherrschung des Raumes beim Mann könnte ein archaisches Selektionsmerkmal seit dem Paläolithikum sein. Nach Deleuze (1985) zeichnet sich der moderne Film im Gegensatz zum Hollywood-Film dadurch aus, dass die Handelnden eher vom Raum als dieser durch sie beherrscht werden. In diesem Sinn wäre der Bond-Film nicht modern. Die Hypothese von Deleuze trifft aber am ehesten auf den italienischen Neorealismus zu; siehe den Film Fahrraddiebe (Ladri di biciclette) von Vittorio de Sica (1948).
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zeichnet. Er ist Sportler und Techniker zugleich und entspricht damit einem männlichen Ideal der Nachkriegszeit.37 Dass er auch ein perfekter Salongänger (Trinker, Esser, Spieler) und ein Schwarm der Frauen ist, erscheint als die wichtigste Nebensache. Dieser Aspekt wird aber in Flemings Romanen stärker betont als im Film und die Beziehung Bonds zu den Frauen hat sich im Verlauf der Bond-Serie ständig verändert. So kommt im Film Ein Quantum Trost nur eine Bettszene Bonds mit einer Nebenperson vor, die außerdem als naiv karikiert wird. Die weibliche Hauptfigur Camille steht im Mittelpunkt einer Parallelerzählung und schwächt damit die narrative Dominanz der männlichen Hauptfigur ab. Sie führt ihren Kampf ohne männliche Hilfe zu Ende (Bond hat sie sogar beim ersten Racheversuch behindert). Bond tröstet Camille, nachdem sie die Rache ausgeführt hat; er übernimmt quasi die Rolle eines Vaters oder Kameraden (und nicht die eines Liebhabers). Camille handelt im Wesentlichen selbstständig und geht am Ende stolz zu ihrem Zug und damit aus Bonds Leben. Der Film beginnt mit einer Verfolgungsszene und endet mit besinnlichen, dem ganzen Geschehen einen moralischen Sinn gebenden Bildern: das Gespräch zwischen Bond und Camille im Auto und das zwischen Bond und dem russischen Agenten Yusef und dessen Partnerin in Kazan. Damit ist auch das Schema der mündlichen Erzählung, die mit einer Coda enden soll, erfüllt.38 Außerdem wird nach den turbulenten Anfangsszenen und den die Handlung rhythmisch strukturierenden Verfolgungs- und Kampfszenen der Film besinnlich und klingt relativ fried-
37 Die Beherrschung von Raum und Bewegung war ursprünglich dem männlichen Helden vorbehalten. Camille oder andere moderne Heldinnen nähern sich aber zunehmend diesem „männlichen“ Ideal. Allerdings verursacht ein Fehlschuss der weiblichen Helferin in Skyfall beinahe Bonds Tod (und damit den „worst case“); sie zieht sich später freiwillig auf die Sekretärinnenrolle zurück, womit gleichzeitig die frühere Rolle der Sekretärin Moneypenny, die in den drei letzten Bond-Filmen vakant geblieben war, neu besetzt wird. Der Wandel der Frauenrollen und die Wiederkehr von Moneypenny könnten aus feministischer Perspektive ein interessantes Thema sein. 38 Noch deutlicher ist das Moment der Fürsorge im neuen James Bond-Film „Skyfall“ (Herbst 2012), wo am Ende Bond seine Chefin, die am Anfang den fast tödlichen Befehl auf ihn und seinen Gegner im Kampf zu schießen gab, schützt und sie schließlich in den Armen hält, als sie stirbt. Hier begegnen sich zwei biologische Dimensionen der männlichen Anziehungskraft auf Frauen: in der direkten sexuellen Begegnung (in der Fruchtbarkeitszone) wird dominante Aggressivität positiv bewertet, in Bezug auf das langsfristige Wahlverhalten wird Fürsorglichkeit bevorzugt; vgl. die experimentellen Ergebnisse von Giebel (2013).
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lich aus: Bond erschießt den feindlichen Agenten nicht, der aus Vesper eine Quantum-Agentin gemacht hatte, und er lässt die Kette, die ihn an die zu rächende Vesper aus Casino Royale erinnert, in den Schnee fallen.
7.5 A RGUMENTATIVE
UND ETHISCHE
ASPEKTE
DES
F ILMS
Obwohl die Action-Filme nicht den Anspruch erheben, Lehrfilme zu sein oder eine Weltsicht zu vermitteln und zu rechtfertigen, haben wir doch gesehen, dass Bond sich für seine Töten rechtfertigen muss und sogar zeitweilig seine Lizenz zum Töten verliert (wodurch er sich natürlich nicht behindern lässt). Neben den positiven Figuren (Bond und Camille), deren Taten eine Rechtfertigung erfahren, gibt es die Bösen, den Umweltverbrecher und Heuchler Green sowie die klassische Figur des südamerikanischen Diktators, bzw. des Generals, der diese Position erreichen möchte. Außerdem gibt es natürlich Feiglinge, Betrüger, korrupte Beamte und die ganze Helferschar der Bösen. Action gibt es aber auch in politischen oder sozialen, moralisch ausgerichteten Filmen. Dazu gehören die nach dem zweiten Weltkrieg florierende Kategorie der Kriegsfilme oder Antikriegsfilme, die Filme, welche sich mit verbrecherischen Regimes auseinandersetzen und natürlich die Terrorismus-Filme (in Deutschland besonders im Kontext und im Nachhall der Bader-Meinhof-Prozesse).39 Es stellt sich die Frage, die sich zur Zeit der Nürnberger Prozesse schon für Texte und andere symbolische Produkte gestellt hatte: Ist auch der Schreibende, der künstlerisch Schaffende für die Indoktrination durch sein Produkt und für die Folgetaten, zu denen er anregt, verantwortlich. Im Falle des Hauptideologen Rosenberg hat das Nürnberger Gericht die Frage bejaht, er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Beim prominenten Architekten Hitlers, Albert Speer, der zudem die Kriegswirtschaft leitete, wurde ein milderes Urteil gesprochen (20 Jahre Haft). Eine ganze Heerschar von Helfern in den Medien, Instituten, Gerichten usw. blieb unbehelligt. Es scheint also bzgl. der Verantwortung für das symbolische Handeln eine gewisse Unsicherheit zu herrschen. Auf einer weniger juristischen als moralischen Ebene stellt sich die Frage, ob ein Film eine moralische Position definiert, für die seine Autoren verantwortlich zu machen sind. Die Schwierigkeit besteht teilweise darin, dass die ästhetischen und kommunikativen Qualitäten des Films (Ist er spannend, mitreißend, unterhaltsam?)
39 Die Umsetzung der zu Grunde liegenden ethischen Fragen (Rechtfertigung von Widerstand oder Gewalt) in ästhetische Strategien gelingt eher selten, wie Borchers und Preußer, 2011: 54-57) an Filmen zur Bader-Meinhof-Thematik zeigen.
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nicht so leicht von den moralischen Ansprüchen zu trennen sind. Außerdem stellt sich die Frage: Wer spricht, wer argumentiert? Ist es eine Figur im Film, so etwa die Figur des Terroristen oder der Terroristin, die eine Position einnimmt; dann kann sich der Film insgesamt in seiner Aussage (oder der Autor im Hintergrund) zurückhalten oder gar eine gegenteilige Position einnehmen. Bei der Vielfalt der Figuren mag am Ende gar nicht klar sein, welches die Position des Filmes (des Autors womöglich) ist. Außerdem kann der politische und historische Stoff als interessantes (bekanntes) Material zur Konstruktion einer Story benützt werden, die sich als fiktiv gibt und somit ebenfalls der Verantwortung entzieht.40 Die zugrunde liegende Frage ist die nach der Herkunft, der Stabilität und dem Verfall moralischer Ordnungen. Gibt es überhaupt allgemeine, d.h. langfristig stabile, nicht durch historische oder ethnische Zufälligkeiten bedingte moralische Ordnungen? Die Charta der Menschenrechte geht davon aus. Bei der Frage, welches konkrete Handeln in bestimmten Situationen (in Anbetracht des Handelns anderer) als moralisch gerechtfertigt angesehen werden kann, ist eher eine zeitlich und situativ begrenzt gültige Entscheidung möglich. Die Gesamtlandschaft, die sich aus solchen Einzelentscheidungen ergibt, kann sehr unsystematisch sein, d.h. die lokale Entscheidung lässt sich vielleicht auf wenige ähnliche Fälle verallgemeinern, dennoch kann der Wert insgesamt unentscheidbar sein. Dies gilt insbesondere für das Bedeutungsuniversum des Films, der unterschiedliche Figuren in unterschiedlichen Situationen und Konfrontationen zeigt. Der moralische Gesamtwert existiert möglicherweise gar nicht, weil sich die Einzelwerte nicht insgesamt verrechnen lassen. Dies entspricht auch der dominierenden Einstellung zu symbolischen Verhaltensweisen; man überlässt es dem Lesenden, dem Filmzuschauer, welche moralischen Folgen er ziehen möchte, d.h. die Verantwortung wird vom symbolischen Objekt (bzw. dessen Urheber) auf die Verwender verschoben. Diese neutralistische Position wird auch in den philosophischen/kunsttheoretischen Positionen der Strukturalisten und Dekonstruktionisten (Barthes, teilweise Eco, Derrida) sichtbar. Es gibt
40 Im Falle von Rosenbergs Programm-Schrift „Mythos des 20. Jh.s“ könnte man argumentieren, dass hier lediglich ein pseudowissenschaftlicher Schund vorliegt, wie er massenhaft produziert wurde und wird. Schlechte Wissenschaft oder schlechtes Schreiben sind aber nicht strafbar oder moralisch verwerflich. Es handelt sich im Grund nur um eine Art Dummheit, die vom Nazi-Regime protegiert wurde. In der Tat gab es eine massive Konkurrenz ehrgeiziger „Intelligenz“, welche sich den Nazi-Größen in Erwartung eines beschleunigten Erfolges anbot, gar anbiederte (vgl. Wildgen, 1996). Die Intelligenz, welche in die Dienste des Kommunismus und des stalinistischen Regimes trat, umfasst viele noch heute große Namen.
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keinen Rückschluss vom Text, vom Film auf den Autor (auf dessen Intention). Somit wird er moralisch entschuldet.41 Dies mag eine Reaktion auf die Schuld, welche Ideologen und die Erfinder und Verbreiter moderner Mythen im 20. Jh. (vgl. Cassirer, 1946) auf sich geladen haben, sein oder es hat sich die Einsicht in die Ohnmacht der Intellektuellen in vielen modernen Gesellschaften durchgesetzt. Man kann es aber auch als eine ästhetische Frage ansehen, in welchem Maße Narration und Handlungsverlauf mit grundlegenden Wertdimensionen in Einklang stehen, bzw. ob das Bedeutungsfeld insgesamt kohärent ist. Bei vielen kommerziellen Filmen (besonders drastisch in manchen Bollywood-Filmen) wird versucht jedem Typ von Zuschauer etwas Erfreuliches anzubieten, selbst auf die Gefahr hin, dass die einzelnen narrativen und ins Bild gesetzten „Happen“ kein sinnvolles Ganzes ergeben. Die ethische Ebene könnte in dieser Sichtweise ein globales Sinnkriterium des Films sein, an dem sich dessen ästhetischer Wert messen lässt. Semiotische Kernpunkte (Kap. 7) 1. Die indexikalische Motivation der Zeichen verbindet das Portrait, das Foto und den Film. Sie erzeugen die Illusion einer unmittelbaren Realität/Präsenz. 2. Im Foto wird die Zeit eingefroren. Es ist deshalb zwar in Bezug auf den abgebildeten Gegenstand realistisch (indexikalisch motiviert), in Bezug auf Zeit und Geschehen aber abstrakt. In der künstlerischen Fotografie kommt es immer wieder zu Vermischungen mit Grafik und Malerei. 3. Das Prinzip der Bilderserie wird in diskreten Abfolgen im Comic und mit der Illusion einer kontinuierlichen Abfolge im Film realisiert. Es kommt zu einer parallelen Entwicklung der beiden Medien mit gegenseitigen Übernahmen. 4. Der Stummfilm zeigt als historisches Experiment, wie autonom die Bildinformation bzgl. der Sprache sein kann und wo die Grenzen einer ausschließlich visuellen Kommunikation liegen. 5. Die Beschleunigung von Handlungsabläufen ist das Charakteristikum des Action-Films und erfordert besondere Techniken der Einstellung und Montage, sowie eine Dialektik von Turbulenz und Fluss.
41 Dies gilt insbesondere für die Gesellschaft, in der das Produkt entsteht. Eine Verantwortung der Gesamtgesellschaft wird dagegen im Falle der Mohammed-Karikaturen von vielen Islamisten angenommen.
8. Architektursemiotik: von der Höhle bis zur Sportarena
In diesem Kapitel sollen grundlegende, sowohl evolutionäre als auch theoretische Gesichtspunkte gebündelt werden, die es ermöglichen, eine Semiotik der Architektur zu entwickeln. Insgesamt ist die Semiotik der Architektur eine ziemlich neue Disziplin, die allerdings auf eine lange Tradition der Theoretisierung in diesem Bereich (Architekturtheorie seit der Antike) zurückblicken kann. Es erweist sich somit als ein Desiderat, diese Theorie-Ansätze in den semiotischen Kontext einzubinden. Wie dies schon Beuys dargelegt hat (siehe Kap. 5.4), lässt dich die künstlerische Arbeit nicht auf kleine Ausstellungs- und Dekorobjekte eingrenzen; sie erfasst vielmehr den ganzen menschlichen Lebensraum, der als semiotisch konstituiert und organisiert angesehen werden muss. Semiotische Aspekte des Außen- und Innenraums wurden auch in Kapitel 7.4.2 zum Film behandelt. Die Architektur und der Städtebau sind die räumlich (auch zeitlich) breiteste semiotische Manifestation, die ich in diesem Buch untersuche.1
8.1 E VOLUTION DER DER S TÄDTE
MENSCHLICHEN
B EHAUSUNG UND
In der menschlichen Entwicklungslinie wurde ein nicht-linearer Übergang (eine „Katastrophe“ im Sinne René Thoms) durch die Umwandlung der ostafrikanischen Ökosysteme vom Regenwald zur Savanne erzwungen. Der Regenwald, also die Ökologie unseres gemeinsamen Vorfahren mit den Schimpansen, hatte die Form eines großen Würfels mit dem Waldboden und dem Blätterdach der großen Bäume
1
Man kann an eine Semiotik der Staaten, Kontinente, des Erdballs, ja der extraterrestrischen Welten denken. Zumindest in der science fiction sind solche zeichenbasierten Erweiterungen angelegt.
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als untere und obere Abgrenzung. Die Tages-Routen der frühen Hominiden wurden durch die Bäume und ihre Zweige in ihrer quasi-fraktalen Struktur zwischen Boden und Dach definiert. In der Savanne, wo die Australopithecinen entweder eine Beute jagten oder die Reste eines Beutefanges anderer Jäger fanden (vor etwa 4 Millionen Jahren), ging das vertikal abgegrenzte „Haus“ verloren. Einzelne Bäume, Felsen oder Unterschlüpfe am Meeres- und Seeufer dienten als vorübergehende Bleibe. Im Allgemeinen waren diese Arten extrem gefährdet und der Begriff des (gewünschten) Schutzraumes kann aus diesen Situationen hervorgegangen sein (dieses Bedrohungsszenario blieb mehr oder weniger für Millionen von Jahren konstant).
Abbildung 47: Regenwald (links) im Vergleich zu Savanne (rechts) Eine besondere Art des Unterschlupfs könnte relevant geworden sind, als spätere Arten (der Spezies Homo sapiens) aus klimatischen Gründen in kleinen ökologischen Enklaven überleben mussten, z.B. in südafrikanischen Höhlen nahe dem Meeresufer, wo sie sich von Weichtieren und anderen Meeresfrüchten ernähren konnten. Dies trifft z.B. auf die Pinnacle Point Höhle in Südafrika zu (vgl. Marean, 2010). Der Prototyp eines Unterstands zum Überleben bei extremen Wetterbedingungen war ein Höhleneingang, nicht weit vom Meeresufer, von einem See oder einem Fluss entfernt und möglicherweise am Hang eines Hügels, der einen guten Überblick bot. Dieser Schutzort ist häufig entlang der Wanderrouten des Homo heidelbergensis (neanderthalensis) und Homo sapiens (er folgte vorwiegend den Küsten und Flüssen) zu finden und entspricht den Höhlen, in denen später das soziale Leben des Homo sapiens stattfand. Der Prototyp für die (meist saisonalen) Wohnungen hatte die folgenden Zonen:
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Eingang der Höhle (oft unter einem felsigen Dach) mit einer externen Zone für das gesellschaftliche Leben, die Fertigung von Werkzeugen und die Verteilung der Beute und gesammelten Nahrung.2 Höhlenöffnung (immer noch mit Licht aus dem Eingang oder vom Feuer) für das Familienleben und den Schlaf. Eventuell ein Höhlen-Innenraum für seltenere Ereignisse wie Initiationsriten, etc.
Höhleneingang öffentlich
dunkles Höhleninnere bewohntes Innere
Abbildung 48: Funktionale Zonen eines Abri (Höhle) Der Unterstand (Abri) steht im Kontrast zum Gebiet der Jagd / Sammeltätigkeit (einschließlich der See- oder Flussufer). Diese Nah-Ökologie kann unterschieden werden von einer offenen, fernen, noch zu entdeckenden Welt. Letztere konnte durch eine sukzessive Erweiterung der üblichen Jagdterritorien oder durch eine Verschiebung entlang der Uferlinie ausgedehnt werden, z.B. konnte die nächste Generation sich zu einer ähnlichen Ökologie entlang der Erkundungswege und der Uferlinie bewegen. Obwohl die Expansion vielleicht nur 30 km pro Generation betrug, ergab sich nach Jahrhunderten und Jahrtausenden eine Ausdehnung der Population bis in ferne Kontinente. Zur Bewegung in der Fluss- oder Uferlinie, zur Überquerung von Flussläufen und Meeresengen war häufig ein Floß oder Boot not-
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In Breitenbach bei Zeitz in Sachsen-Anhalt wurde 2012 eine Elfenbeinwerkstätte entdeckt, die 35.000 J. alt ist. Die Funde zeigen, dass die damaligen Bewohner „abgegrenzte Bereiche eingerichtet hatten - einen, in dem die Elfenbeinstücke aufgespalten wurden, und einen anderen, in dem geschnitzt und der Abfall gelagert wurde“ 27.09.2012 / Kulturzeit mit Material von dpa).
(3sat,
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wendig. Das Floß/ Boot wurde schließlich zur zweiten Art eines (bewegten) Aufenthaltsortes und das erste körperexterne Fortbewegungsmittel. Man muss seine Benützung spätestens mit der Besiedlung Australiens und danach Nordamerikas (z.B. entlang der Küste im Nordwesten) voraussetzen. Bis zur neolithischen Revolution waren alle Siedlungen saisonal, weil die Menschen, wie andere Fleischfresser, ihre Beute zu saisonalen Aufenthaltsorten verfolgen mussten (wenn sie BeuteZweitverwerter waren, mussten sie den Raubtieren folgen). Dieses Muster setzte sich nach der Domestikation von Tieren in vielen Teilen der Welt bis in die jüngste Zeit in der nomadischen Lebensform fort. Dauerhaftere Siedlungen erschienen erst, als die Landwirtschaft vorherrschend wurde. Man findet zwei Grundtypen des Hauses: Das Rundhaus, wie es in Çayönü (heutige Türkei) in der frühen Jungsteinzeit (10. - 9. Jahrtausend v. Chr.) auftritt und das rechteckige Haus, das zellenartig zu Wohnvierteln erweitert werden konnte. Relikte dieser beiden archaischen Grundformen finden wir noch heute in Apulien (die Trulli von Alberobello) und in der Pueblo-Kultur (Südwesten Nordamerikas; z.B. im Hopi-Stammesgebiet in Arizona). Geometrisch eignen sich Rechteckbauten besser zur Raumfüllung als Kreisbauten. Es ist kein Zufall, dass in der modernen Stadtarchitektur immer noch die zelluläre Rechtsecksbauweise dominiert. Runde, ovale oder schiefwinklige Bauten werden entsprechend als Ausnahme und Besonderheit gesehen und kommen bevorzugt in modernen Museumsbauten vor. Siehe etwa das Guggenheim-Museum in Bilbao (Frank O. Gehry) oder das Jüdische Museum in Berlin (Architekt Daniel Libeskind). Die Verbindung von Quader und Kugel (Kuppel als Halbkugel) wird ein zentrales Moment der Architekturgeschichte werden; vgl. Kap. 8.3. Die ersten Städte entstanden in Jericho (10.000 J.v.h.), Çatalhöyük (9.500 J.v.h.), Eridu, Ur, Byblos (zwischen 7.000 und 6.000 J.v.h.). Diese „Städte“ enthielten bereits große Bevölkerungen (ca. 3.000 Einwohner in Jericho, 6.000 in Çatalhöyük) und hatten einen Graben oder eine Mauer, die das Stadtgebiet begrenzten und später auch zur Verteidigung dienten. Spezielle kulturelle Varianten, die sich auch aus der Höhle ableiten lassen, sind Grabstätten, Gräber und Friedhöfe (GrabDörfer und -Städte). Die Morphogenese der Stadt wird durch zwei Kräfte, die ihre Form definieren, gesteuert: 1. Die einzelnen Häuser und ihre Verwendung durch die Eigentümer / Bauherren. Die Häuser konnten zu ausgedehnten Siedlungen zusammenwachsen. 2. Der kollektive Gefahrenschutz (gegen Feinde) und die kommunalen Aufgaben (Markt, politische Entscheidung, religiöse Praxis). Die Befestigung wurde durch die Anhäufung von Gütern und Reichtum in neolithischen Gesellschaften notwendig gemacht, d.h. sie ist im Grunde wirtschaftlich mo-
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tiviert. Dieselben Gründe führten auch zur sozialen Segregation innerhalb der Stadt und zu entsprechenden Unterschieden in der Art des Hausbaus und der Verteidigung. Die nächste Stufe ist erreicht, wenn die lokale Art von Selbst-Organisation, die nur global durch die schützende Mauer gebunden wird, durch einen zentralen Plan ersetzt wird. Dies kann am Beispiel von rechteckigen Rastern in den Städten (vgl. Stanislawski, 1946) gezeigt werden. Das erste Raster-Muster in Städten entstand vermutlich im Indus-Tal (ca. 2.800 - 1.800 v.Chr.) und Herodot berichtet, dass das große Babylon gerade Straßen hatte, die sich rechtwinklig kreuzten. Die Römer, die einen standardisierten Bebauungsplan in viele Regionen ihres Reiches exportierten, entwickelten die Muster, die sie in den griechischen Kolonien in Italien (vgl. Neapel) vorgefunden haben, weiter. So hatte das römische Paris eine rechteckige Umgrenzung und ein Rechteckraster, das heute noch im Quartier Latin sichtbar ist (vgl. Kap. 9.1.3). Im Mittelalter wurde dieses städtebauliche Muster vergessen, konnte aber in Frankreich im 13. Jahrhundert („Ville-neuves“ und „Bastides“) und in England („Bastiden“ in Wales) neu entwickelt werden. Die Unterstadt von Lissabon wurde nach ihrer Zerstörung durch ein Erdbeben im Jahre 1755 auf der Basis eines rechteckigen Rasters rekonstruiert. In Bremen erschien das reguläre Raster erst, als nach 1848 neue Quartiere gebaut wurden (nach der Abschaffung der Stadtmauer als Außengrenze). Waren die frühen mittelalterlichen Städte noch ein Kompromiss zwischen mehr oder weniger freien einzelnen Baugruppen und einer Verteidigungsanlage (idealerweise in der Form eines Kreises), so waren die neuen, von zentraler Stelle geplanten Städte eher der Ausdruck des Willens einer Planungsgruppe, einer Verwaltung. Die klaren geometrischen Formen mussten aber die geographischen, klimatischen und wirtschaftlichen Bedingungen einer bestimmten Bevölkerung respektieren. Daher ist das endgültige Ergebnis meist ein Kompromiss zwischen: • • •
Natürlichen (ökologischen) Bedingungen, die sich mit der Zeit ändern konnten, persönlichen und kollektiven Bedeutungen, Zielen und Werten, traditionellen Formen, die Anerkennung gewannen und zum Vorbild wurden.
Auf dieses grundlegende Substrat kann eine Semiose aufbauen, d.h. jenseits praktischer Funktionen kann eine Zeichenstruktur entstehen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Natur architektonischer Zeichen, d.h. in wiefern handelt es sich um Zeichen und worin unterscheiden sich architektonische Zeichen von sprachlichen oder klar konventionell geregelten bildhaften Zeichen (mit Symbolfunktion im Sinne von Peirce).
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8.2 W AS
IST EIN
Z EICHEN IN DER ARCHITEKTURSEMIOTIK ?
Um diese Frage zu beantworten, können wir uns dem Problem vom sprachlichen Zeichen ausgehend nähern. In Tabelle 6 nehmen wir eine Skala sich jeweils nahestehender, bzw. überschneidender Zeichentypen an: vom Sprachzeichen bis zur Stadt / zur urbanen Struktur (erste Zeile). In der zweiten Zeile stehen individualisierende Zeichen, die jeweils einen Referenten haben (man spricht von Denotation). In der dritten Zeile dominieren Funktionen im Kontext, d.h. das Zeichen dient dazu einen Zweck zu erfüllen, etwas herzustellen (man spricht von Konnotation). Die Denotation kann im einfachsten Fall auf ein Individuum verweisen, es darstellen. Die Konnotation (kursiv in der Tabelle) ist Ausdruck einer Intention, eines Planes; sie ist in erster Linie zweckdienlich. Tabelle 6: Sequenz denotativer und konnotativer Zeichentypen (vom Kleinen zum Großen). Sprachzeichen > Bild Eigennamen
Interjektion
> Plastik
> Architektur > Stadt
Porträt Statue Palast, Rat- Königsstadt, eines haus Hauptstadt Herrschers Plan Möbel Container Fabrik
Als Grundtypen einer Explikation des Zeichenbegriffs stehen uns das dyadische und das triadische Modell zur Verfügung. 1. Dyadisches Zeichenmodell: Zeichen (signifiant) – Bedeutung (signifié); de Saussure, Strukturalismus 2. Triadisches Modell: Zeichenform – Referent – Interpretant; Peirce, philosophische Semiotik Beim Bild ergibt sich bereits ein Problem mit dem dyadischen Modell, da beide Seiten des Zeichens zur gleichen Sinnesmodalität gehören und nur ein Unterschied zwischen Vorstellungsbild und realisiertem Bild übrig bleibt. Saussure ging anscheinend davon aus, dass die Bedeutung des Zeichens in einer Art innerem Bild besteht, dass also eine Projektion vom akustischen Bereich in einen abstraktvisuellen stattfindet. Dies erschwert allerdings die Anwendung seines Zeichenbegriffs auf visuelle Zeichen und es zeigt, dass der Verzicht auf das äußere Phänomen (den Referenten bei Peirce) voreilig war. Im triadischen Modell funktioniert das besser, da z.B. das Verhältnis von Person (Objekt) und Passfoto (Zeichenkörper) durch eine kausale Kette von der Kamera-
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technik bis zur Bildentwicklung bestimmt ist. Diese Kette erzeugt den Interpretanten und ist in erster Linie ein Index, d.h. die Beziehung zwischen Person und Foto ist durch eine physikalisch-chemische Ursache-Wirkungs-Beziehung gegeben. Gleichzeitig ist diese Wirkung aber so ausgewählt und technisch kontrolliert, dass zwar die Ähnlichkeit gesichert wird (wenn ein Wiedererkennen erwünscht ist), jedoch eine Gestaltung möglich ist, z.B. durch: • • • •
Kontrast (Beleuchtung) Körnigkeit (eventuell Raster) Farbton (schwarz-weiß, Grautöne, eine vorgegebene Farbskala usw.) Verfremdungen am Computer oder beim Entwickeln
Die Freiheit der Gestaltung führt die Arbitrarität des Zeichens ein und macht aus dem indexikalischen ein symbolisches Zeichen (im Sinne von Peirce). Die Plastik wurde in Bezug auf Raum, Perspektive und Bewegungen des Betrachters in Kap. 5 behandelt. Von ihr führt ein direkter Weg zur erfahrenen Räumlichkeit in der Architektur. Die Architektur ist aber in ihren Maßen (im Vergleich zum Menschen) verschieden von der Plastik, d.h. ein Gebäude ist meist wesentlich größer (repräsentative Häuser sind um ein Fünf- bis Zehnfaches größer). Außerdem geht man um eine Plastik herum, bei der Architektur geht man in diese hinein und man bewegt sich in ihr (oder wohnt in ihr). Der Lebens-Archetyp der Architektur ist der Schutz (urtümliche Formen sind: die Laubhütte, der Höhleneingang). Die Architektur ist ein Zeichen, in dem sich der Mensch bewegt, das er bewohnt.3 Die Referenz der Architektur ist eine andere als beim Prototyp der (personalisierten) Plastik. Es mag einen Eigentümer, Auftraggeber geben, jemanden, dessen Status das Bauwerk repräsentiert; es stellt ihn aber nicht dar. Der Bezug zum Bauherrn, Besitzer ist nur schwach ikonisch (sein Reichtum, seine Macht, sein Status werden im Bauwerk durch ähnliche Proportionen dargestellt); der Zeichenbezug ist
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Aus dieser Perspektive betrachtet kann man das sprachliche Zeichen als ein solches definieren, das (zumindest vor der Erfindung der Schrift) dem Körper des Menschen inhäriert, diesem zugehört (als Bewegungsgeste). Mit der instrumentellen Funktion der Hand und der Herstellung von Werkzeugen, Waffen, Artefakten wird das Zeichen quasi entkörperlicht, auf fremde Substanzen übertragen, im Raum fixiert aber auch transportabel. Die Objektwelt der Menschen wird zunehmend semiotisiert, indem sie vom Menschen geformt oder gar hergestellt wird. Die Semiotisierung der Welt fällt zusammen mit der Erzeugung von Kultur und Kunst; insofern ist Semiotik von Grund auf Kulturwissenschaft bzw. Kunstwissenschaft (vgl. auch Wildgen, 2013b).
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indexikalisch insofern der Bauherr bei der Auswahl der Baupläne mitbestimmt, quasi das Bauwerk erzeugt, und symbolisch insofern Bautraditionen und Baustile (also Konventionen) eine Rolle spielen. Bei überwiegend funktionalen, großen Raumgebilden mag dieser implizite Verweis auf den Menschen verschwinden. So ist der Container (in seiner primären Funktion ähnlich einer Abteilung im früheren Schiffsbauch) zwar für die menschliche Benützung als Transportgefäß vorgesehen, seine „Architektur“ ist aber für den erleichterten Transport und die Stapelung im Schiff und im Hafen konzipiert. Die Ölraffinerie dient zwar als Arbeitsplatz vieler Menschen, ihre Struktur ist aber primär auf die technischen Abläufe hin ausgerichtet. Ebenso ist ein Werkzeug zwar an die menschliche Hand angepasst, es muss aber primär seinen Zweck erfüllen. Ähnliches gilt für den Stuhl und den Tisch; beim Designer-Stuhl ist dies weniger klar, da ästhetische und den Wert des Objekts (seine Exklusivität) betreffende Eigenschaften die funktionalen Aspekte überdecken, ja negieren können.
8.3 A RCHITEKTURTHEORIE
UND
ARCHITEKTURSEMIOTIK
Die antike Theorie der Architektur (Vitruv4) wurde in der Renaissance von Palladio5 wieder aufgenommen und in Bauten umgesetzt. Vitruv spricht von einem logos opticos, die architektonische Inszenierung heißt Diathese.6 Am Beispiel der Villa Maser erläutert Boudon (1992) einige Grundprinzipien der Architektur. Ich will zwei Prinzipien aufgreifen: 1. Der architektonische Raum weist eine Außen- und eine Innenperspektive auf, wobei eine Asymmetrie von Front- und Hinterseite des Gebäudes zu beachten
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Vitruv, röm. Architekt, * um 84, + nach 27 v.Chr., schrieb ein grundlegendes Werk über die Baukunst.
5
Palladio, Andrea, 1508-1580, italienischer Baumeister; entwarf Paläste, Villen und Kirchen. Wie Vitruv versucht Palladio eine Art Grammatik der Baukunst aufzustellen und praktisch umzusetzen. Die starke Standardisierung und das Bauen nach Regeln erinnert in der Tat an die Sprache und Palladio hatte in dem Linguisten Giangiorgio Trissino (14781550) einen Mentor, der ihm den Zusammenhang von literarischem Stil und Grammatik des Bauens aufzeigte und quasi aus einem Steinmetzen einen Architekten formte (vgl. Beltramini und Paduan, 2002: 4f und 13).
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In der Syntax ist die Diathese die Variation einer Aussage in den Formen des Aktivs, Passivs oder Mediums.
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ist. Boudon erläutert dieses Prinzip anhand eines Entwurfs von Palladio und dessen Realisierung in Venetien. Die beiden Blickrichtungen sind: a. Von dem Kreuzungspunkt Straße, Zubringerweg auf die Villa. b. Vom Salon der Villa auf den Park. 2. Die Frontseite ist für die Besucher, die Außenwelt gedacht. Sie entspricht den öffentlichen Funktionen des Gutsherrn und des Gebäudes. Die Rückseite ist eher dem privaten, gar intimen Bereich zuzuordnen, was durch die Installation eines Nymphäums markiert wird. Agotai (2007: 107) spricht in ähnlichem Zusammenhang von einer „Physiologie der Architektur“, die auf den Augenkontakt des Betrachters Bezug nimmt. Der Blickwinkel von einem Standpunkt (eventuell durch eine Loggia oder eine Säulenöffnung) auf die Landschaft sollte 60° nicht überschreiten, da dies dem natürlichen Sehwinkel des menschlichen Auges entspricht. In der Konsequenz ist eine Konstruktion auf der Basis gleichseitiger Dreiecke angemessen (Winkel jeweils 60°). Dies haben bereits maurische Baumeister in Spanien realisiert, bevor die Renaissance das Prinzip wieder aufnahm (vgl. Arnold, 2013: 75). Im obigen Beispiel kann etwa der Gastgeber /die Gastgeberin vom Balkon im ersten Stock des Mittelteils, bzw. dem dahinter liegenden Salon, die Ankunft der Gäste betrachten oder die Arbeiten auf den Gutshof beaufsichtigen.
Nymphäum
Salon mit Blick auf Hof und Zufahrt
Eingang und Hof
Abbildung 49: Plan der Villa Barbaro in Maser (Bild: de.wikipedia.org) und die drei Betrachtungspunke Ein weiteres Prinzip ordnet die Hauptfunktionen, die in der Architektur zu erfüllen sind, zu einer Kreisfigur mit drei Segmenten: Tektonik (das Gebäude muss stabil konstruiert sein und äußeren Einflüssen standhalten) – Plastik (das Haus wird als
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Ganzes wahrgenommen und stellt eine in sich geschlossenen Form dar) – Dekor (am Haus treten dekorative Momente auf, welche die Gesamtform gliedern und ausschmücken). Das Tektonische manifestiert sich im Tragegerüst, den Kraftlinien, Verbindungen eines gegliederten Ganzen. Es zeigt sich in der Architektur, betrifft aber auch die Stabilität, das Gleichgewicht der Kräfte in einer Plastik. Das Plastische ist eher durch die Formung der Konturen, der Massen charakterisiert, während das Ornament auf der Wiederholung eines geometrischen oder organischen Musters beruht.7 Die drei Hauptfunktionen bilden ein Spannungsfeld; das einzelne Bauwerk kann sie in einer spezifischen Weise realisieren, allerdings können die Gewichte sehr verschieden sein. Zwischen dem Plastischen und dem Dekorativen stehen die Embleme, Wappen, aber auch die Masken in außereuropäischen Kulturen. Sie können auf den Außenflächen des Gebäudes appliziert werden. So trugen die Rathäuser der niederländischen Renaissance die Wappen befreundeter Städte an der Fassade; vgl. Kap. 9.2.3. Zwischen dem Tektonischen und dem Ornament finden wir die Wiederholungen und Rhythmen, die sich etwa in der Fensterreihe einer Fassade, in den Segmenten einer Passage oder den Abschnitten einer Säulenhalle erkennen lassen. Zwischen dem Tektonischen und dem Plastischen finden wir die Falten, die konstruktiven Adern einer Architektur etwa Säulen, Fenstersimse usw. Eine Architektur, ebenso wie eine Plastik, ein Bild, ein dekoratives Muster, ist in ein historisches Paradigma, eine Tradition eingebettet, wird variiert und kombiniert, wählt aus, negiert, korrigiert Elemente der Tradition. Am Beispiel der Villa Rotonda von Palladio (vgl. Abbildung 50) kann die Überlagerung semiotischer Ebenen eines Gebäudes idealtypisch gezeigt werden.
7
Klassisch wird das Architektonische als die Vermählung des Plastischen mit dem Tektonischen, gemessen am menschlichen Leib verstanden (so in: Piel, 1968: 8). Das Ornament wird der Oberfläche des Architektonischen hinzugefügt. Es verweist eher auf das Pflanzliche (vgl. ibidem: 12).
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Abbildung 50: Villa Rotonda. Grundriss von Palladio und aktueller Zustand 1. Im Zentrum befindet sich ein quadratischer Block mit einem eingebetteten Zylinder (gekrönt durch eine Halbkugel). Er wird umgeben vom griechischen Kreuz der Aufgänge und Vorhallen.8 2. Die vier Vorhallen entfalten das innere Quadrat, das zu einem (semi-regulären) Achteck erweitert wird. Die Treppenaufgänge verweisen auf die vier Himmelsrichtungen. Diese Struktur verbindet den Bau außerdem mit dem antiken Tempel. 3. Dem Ganzen wird anstelle einer zentralen offenen Fläche (als Hof oder Atrium) eine Kuppel aufgesetzt, wodurch die oben/unten-, die Kosmos-MenschOpposition verstärkt und in die architektonische Gesamtaussage eingebunden wird. Die Kuppel ist quasi ein künstlicher Himmel, der das Bauwerk vertikal schließt und gleichzeitig die Lichtverteilung reguliert (sie je nach Tageszeit beweglich macht). 4. Die Villa steht auf dem natürlichen Podest eines Hügels und verweist auf die Akropolis als herausgehobenen Ort. Insgesamt wird ein gestuftes Zeichen geschaffen: Vom künstlich modellierten Hügel (als Erdkuppel), den gestuften Baukörpern von den Treppenaufgängen über die Vorhallen und den quadratischen Zentralbau bis zur krönenden Kuppel, die die Form der natürlichen Landschafts-“Kuppel“ wiederholt.9 Von diesen Konstruk-
8
Diese reguläre Form verweist einerseits auf die platonischen Idealformen, andererseits auf die Bautradition autochthoner Höfe der ländlichen Gegend in Venetien.
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Die Kuppel ist im realen Bauwerk übrigens flacher als in der Idealkonstruktion Palladios. Es war aber die theoretisch konzipierte Idealkonstruktion, die das Vorbild vieler neopalladischer Bauten im England des 17. Jahrhunderts werden sollte.
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tionsformen führen viele Formen (quasi als Zitate) zu früheren Bauten der Antike und des Quattrocento und zu vielen späteren Bauten.10 So zitieren viele Gebäude des 17. Jh. in England, so wie die Bauten des Barock und des Klassizismus die Bauformen der Renaissance (Palladios und Michelangelos).11 Eine zweite Theoriekonzeption, welche in der Renaissance die Architektur beeinflusst hat, ist die des „Gedächtnistheaters“. Der Ursprung der antiken Gedächtnistheorie geht auf einen Mythos zurück, nach dem beim Einsturz einer Saaldecke der überlebende Simon alle Toten anhand ihrer Sitzorte identifizieren konnte. Im antiken Rhetorik-Training hatte dementsprechend der Redner die Hauptinhalte seines Vortrages in einem vorgestellten Gebäude (mit Park, Nischen, Statuen, Möbeln) zu verorten und dann, im Geiste umhergehend, abzurufen. Umgekehrt wurden die öffentlichen Gebäude so konzipiert, dass sie beim Abschreiten oder anlässlich ritueller Handlungen eine geordnete Folge von Erinnerungen/Inhalten nahe legten, d. h. die Architektur wurde zum Gedächtnistheater. Die Renaissance hat diese antiken Konzeptionen aufgefrischt und gemeinsam mit den antiken Architekturvorbildern neu belebt (vgl. zur Gedächtnistheorie der Renaissance Wildgen, 1998a). Eine wichtige Rolle spielte dabei die wiederentdeckte griechische Geometrie (Euklid und Archimedes) und deren Proportionslehre. Luca di Paciolis Buch De divina proportione, an dessen Illustration Leonardo da Vinci (ab 1496) mitgearbeitet hat, stellte dieses Wissen auch Handwerkern und Laien zur Verfügung.12 Interessanterweise hat man fast zur gleichen Zeit (im 15. und 16. Jh.) in Japan die sogenannte Tee-Architektur (Sukiya-Stil) entwickelt, die eng an rituellen Prozessen und an einer Korrespondenz von Mikro- und Makrokosmos orientiert war (vgl. Hammad, 2006).13 Wie in anderen ostasiatischen Kulturen spielen neben der
10 Man kann in Anlehnung an die Sprache auch von einem Paradigma sprechen. Fischer (1991: 30) stellt die Villa Rotonda in ein Paradigma mit dem Pantheon in Rom (125 n.Chr.) und der Villa Cordellina Lombardi in Venetien (ca. 1750), dem Chiswick House in England (um 1720), dem Palazetto Skorzewski (um 1800) in Polen und der Sofia Kathedrale in Puschkin bei St. Petersburg (1788). Selbst das durch eine Kuppel ergänzte Berliner Reichstagsgebäude (Norman Forster, 1999) könnte an den Rand dieses Paradigmas verlegt werden. 11 Vgl. Wagner (1966: XV, XVIII, XX, XXII). 12 Vgl. zur Praktischen Geometrie des 16. Jh. Wildgen (1998a: 87-102) und zum Zusammenhang von architektonischer und sozialer Proportion Bentmann und Müller (1970: 5159). 13 Da ein direkter Einfluss auszuschließen ist, verweist diese Parallelität auf gemeinsame ältere Traditionen, z.B. auf Beziehungen zwischen Buddhismus und Christentum.
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Abbildung idealer Landschaften, die Aufgliederung der Zugangsberechtigung und Rituale des sozialen Zusammentreffens, z.B. des Hausherrn mit seinen Gästen eine große Rolle. Dadurch überwiegt das dynamische Moment in der Architektur, d.h. erst im Ritual entfaltet sich die Bedeutung des Gebäudes und seiner Ordnungen. Beide Bewegungen, insbesondere die Renaissance-Architektur Palladios und die Tee-Architektur Japans, bilden einen Archetyp, der für Jahrhunderte die Architekturtraditionen Europas und Japans prägte. Hammad spricht in beiden Fällen, der Architektur Palladios und der Tee-Architektur von einer essentialistischen Semiose. Der Sinn der Architektur ergibt sich demnach natürlicherweise aus dem Wesen der Dinge, z.B. der Materialien, die verwendet werden, oder aus dem Gebrauch der Architektur. Der Sinn ist also nicht wie bei de Saussure eine arbiträre Konvention, die aus historischer Kontingenz zu erklären ist. Er ist vielmehr zuerst ein natürlicher, wie im Falle des Symptoms oder der Spur, oder er entwickelt sich aus einem Gebrauch, einer Lebensform, wie Wittgenstein sagen würde. Auf dieser Grundlage bauen weitere semiotische Prozesse auf und bereichern die Bedeutung. Bei Palladio und in der Tee-Architektur Japans wird deutlich, dass architektonische Zeichen so etwas wie allgemeine Zeichen-Schemata, d. h. auszufüllende Konzeptfolien darstellen. Im Ritual, durch den Hausherrn und seine Gäste im TeeRitual, durch die Liturgie (Wörter und Handlungsmuster) in Palladios Kirchen, durch die venezianischen Adeligen, die das Landgut verwalten und die Gäste, die an ihren Festen teilnehmen, ist die Architektur jeweils als vorgegebene Zeichenform weiter auszufüllen. Die Bedeutung und Funktion der Bauten ist somit als Potential, als Schablone angelegt. Diese bedingt und ermöglicht die Prozesse in ihnen, lässt ihnen aber auch Freiräume zur weiteren Gestaltung. Es sind gerade diese Freiräume, welche es erlauben, dass nachfolgende Generationen den Gebäuden neue, wenn auch ähnliche Bedeutungen geben können. Die Architektur ist somit zumindest in den genannten Archetypen bedeutungs- und interpretationsoffen und dies muss beim Versuch, vorhandene Architektur zu verstehen oder zukünftige zu planen, beachtet werden. Damit fällt aber die Architektur nicht aus der Semiotik heraus, denn dasselbe gilt, eventuell in unterschiedlichem Ausmaß, auch von der Sprache (Literatur), vom Bild (Malerei) und der Musik.
8.4 B IOMORPHE S TRUKTURPRINZIPIEN DER ARCHITEKTUR
IN
In dem Maße, wie einheitliche Weltentwürfe, die kosmologisch oder religiös/rituell begründet sind, nach der Aufklärung in Europa und im Rahmen der Globalisierung ihre Kraft verloren haben, sind auch Architekturen, wie die Palladios oder der TeeKultur zumindest für die Avantgarde der Architektur in den Hintergrund gerückt. Mit Antoni Gaudi hat ein moderner Architekt versucht, die religiöse Tradition der
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Gotik wieder zu beleben und mit neuen Ideen zu befruchten. Ich will kurz auf sein immer noch nicht fertig gestelltes Projekt der Kathedrale Sacrada Familia in Barcelona eingehen. Antoni Gaudi (1852-1926) geht vom Prinzip aus, dass das Schöne und Wahre in der Architektur nicht vom Menschen erfunden wird, sondern durch Beobachtung und Nachahmung der Natur vom Menschen gefunden wird. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Organische bzw. die Prinzipien, die dem Organischen zu Grunde liegen.14 Bei der Abstraktion setzt Gaudi ebenso wie Vitruv und Palladio auf die Geometrie. Allerdings steht nicht die Geometrie der Landvermesser sondern die Geometrie der belebten Natur im Zentrum. Gaudi hat sich deshalb experimentell mit konvexen und konkaven Flächen, mit Konoïden, hyperbolischen und parabolischen Flächen und deren Überschneidungen beschäftigt. Da die mathematische Beherrschung dieser neuen Formen noch ungenügend war, hat Gaudi insbesondere die Statik und Dynamik solcher Konstruktionen anhand seiner umgedrehten, mit Gewichten behängten Seilmodelle getestet. Derzeit wird das Gewölbe der Sacrada Familia mit modernen Techniken vollendet, wobei computergestützte Designmethoden und Techniken der Statikberechnung zum Einsatz kommen. Die Grundideen Gaudis bleiben aber bei diesen Techniken erhalten, bzw. sein Architekturstil enthält Anforderungen an eine technische Realisierung, die durch moderne Methoden besser als zu seiner Zeit erfüllt werden können. Mit seinen der belebten Natur abgeschauten Konstruktionsmethoden hat Gaudi eine Tradition eröffnet, die zu vielen modernen Bauten führt. In der Fortsetzungslinie der Architektur Gaudis ist zuerst die Dachkonstruktion des Opern-Gebäudes in Sydney in Analogie zur sphärischen Schalengeometrie zu nennen (Entwurf von Jorn Utzon 1957). Der Bau konnte erst nach längeren Experimenten zur Statik in eine technisch realisierbare Konstruktion umgesetzt werden (Bauende 1973); er steht im Übergang zur heute fasst virulenten „weichen“ Formgebung in der auf Computersimulationen und CAD basierenden Architektur. Die CAD-Technik des Entwurfs bringt die Architektur in die Nähe eines skulpturalen Stils. Klassische Beispiele sind das Guggenheim Museum in Bilbao (Frank O. Gehry, 1997), sein Experience Music Project, Seattle, 2000 oder innerhalb des Millenium Dome (London) die Body Zone, ein Bauwerk in der Form einer liegenden Frau (Branson Coa-
14 Der menschliche Körper, seine Physiognomie als Haus, als Architektur ist ein Thema, das man durch die ganze Architektur- und Geistesgeschichte verfolgen kann; vgl. Feuerstein (2002). Zeitgenossen von Gaudi, die ebenfalls zu einer bio- und anthropomorphen Architektur tendierten, waren Rudolf Steiner (1861-1925): Goetheaneum, Dornach (19131920) sowie Berhard Maybeck (1862-1957): Leon Ross House in San Francisco (1909); vgl. ibidem: 40-59.
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tes, 2000); vgl. Jodidio (2002: 60f. und 32f.). Die moderne, auf CAD-Techniken fußende Architektur wird von Leyton (2001) im Rahmen einer DifferentialGeometrie mathematisch analysiert; siehe seine Analyse des Guggenheim Museums in Bilbao (ibidem: 375-378). Inzwischen gibt es eine große Zahl ähnlicher Bauten, die zumindest in ihrer äußeren Gestalt natürliche Formen nachahmen oder auf diese verweisen. Die konsequente Durchdringung der Konstruktion mit einer solchen Idee zeichnet aber immer noch die Bauten Gaudis aus, da er die Außenfassade, die Innenarchitektur und das Mobiliar nach den gleichen Prinzipien gestaltet hat. Eine wesentliche Rolle bei der Suche nach neuen Formen spielen die Materialien und Verarbeitungstechniken. Man denke nur an die Eisenkonstruktionen des späten 19. Jh. (Prototyp: Eiffelturm), die Betonkonstruktionen (Le Corbusier, Kirche von Ronchamps) und gespannte Zeltkonstruktionen (Olympiastadium München; Zeltkonstruktion in Astana; Kasachstan). Als natürliches Pendant können Spinnennetze angeführt werden, da sie ebenfalls zwischen verschiedenen Punkten aufgespannt sind. Aber auch Zelte als primitive (vorgeschichtliche) Baukonstruktionen könnten der Bezug sein.15 Für Frei Ottos Leichtbauweise standen erstens technische Errungenschaften beim Bau leichter Segelflugzeuge, die Otto als Schüler kennenlernte, Pate, andererseits inspirierte ihn wie Gaudi die lichte Architektur der Gotik. In all diesen Fällen ist der menschliche Bau ein Nachvollzug oder die Umsetzung einer in der Natur vorfindlichen Konstruktion mit anderen und technisch verbesserten Mitteln. Mit dem biologischen Sinn der natürlichen Konstruktion, die im Instinktverhalten eines Tieres und letztlich in den evolutionären Selektionsbedingungen der Gattung ihre Wurzeln hat, erbt die architektonische Konstruktion auch eine Bedeutungsschicht. Diese wird aber im menschlichen Kontext neu interpretiert. Zumindest teilweise hat die Bedeutung für die Menschen somit ein Fundament in grundlegenden Bedeutungen in der Natur; d.h. sie kann aus einer Biosemiotik abgeleitet werden (vgl. Nöth, 2000: 254). Die in diesem Teilkapitel analysierten Gebäude bilden häufig Knotenpunkte im sozialen Leben. In der Kirche, der Oper, im Stadion versammeln sich viele Menschen. Hier nehmen sie sich als Gemeinschaft wahr und beteiligen sich an rituellen Handlungen. Die einfachen Wohnhäuser haben hingegen nicht diese kollektive Bedeutung; dafür bestimmen sie die private Lebenswelt, die Intimsphäre der Bewohner, tragen also Bedeutung für Familien und Individuen. Innerhalb der Wohnung sind die einzelnen Zimmer mit verschiedenen Funktionen und Bedeu-
15 Klassische Varianten sind das Tipis der Prärieindianer Nordamerikas oder die Jurten der zentralasiatischen Hirten.
252 | A RCHITEKTURSEMIOTIK
tungspotentialen ausgestattet, etwa Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer. Das Mobiliar ist diesen Funktionen angepasst. All diese Teilstrukturen und Objekte sind natürlich mit weiteren Bedeutungen verknüpfbar, man kann auch sagen, sie können zu Medien werden (vgl. zur Medialität von Möbeln Hackenschmidt und Engelhorn, 2011). Im Folgenden will ich aber nicht die visuelle Bedeutung von Häusern, Innenarchitektur, Möbeln und das Design von Gebrauchsobjekten untersuchen, sondern aus einer semiotischen Perspektive umfassendere visuelle Gebilde analysieren: wie Stadtzentren, Städte und allgemeiner urbane Organisationsformen (insbesondere Hafenstädte). Semiotische Kernpunkte (Kap. 8) 1. Die Grundfunktion der Architektur ist die des Schutzes. Der abri oder Höhleneingang mag der Urtypus sein, der sich zu unterschiedlichen Kulturformen entfaltet hat. 2. Geometrisch dominieren der Kubus/Kasten oder die Rundformen: Zylinder und Kegel. Es gibt signifikante Unterschiede zwischen Frontal- und Rückseite, zwischen Oben (Himmel) und Unten (Erde). Mit der Kuppel wird der Himmel geschlossen. 3. Rituelle/ liturgische oder politisch/ mediale Inszenierungen bestimmen die Feinstruktur des architektonischen Gebildes und prägen diesem eine kollektive Gedächtnisstruktur auf. Gleichzeitig wird diese durch die Architektur sichtbar gemacht und damit gefestigt. Manche dieser Funktionen sind inzwischen in Innenräume (Museen) abgewandert oder werden durch Bildungsinstitutionen bedient. 4. Biomorphe Aspekte spielen sowohl im Plastischen (als Verweis auf den menschlichen Körper), als auch im Dekor (als pflanzliche Motive) eine wichtige Rolle. In der Moderne sind diese Aspekte tendenziell zugunsten einer rationalen Funktionalität zurückgesetzt worden.
9. Stadtsemiotik oder die Morphogenese urbaner Strukturen
So wie das architektonische Werk in seiner wahrnehmbaren Gestalt das Selbst- und Weltverständnis des Bauherrn und Architekten zum Zeichen formt, d.h. diesen und auch dem geistesverwandten Besucher oder Gast sichtbar macht, so tut dies auch die Stadt. Die Hauptunterschiede zwischen Architektur- und Stadtsemiotik betreffen zuerst Raum und Zeit.1 Räumlich fasst die Stadt nicht nur Bewohner und Gäste (wie das Haus), sie bindet auch Häuser, Straßen/Plätze, Umgrenzungen (Befestigungsanlagen), eventuell einen Fluss oder ein Mündungsgebiet mit ein. So wie das Haus in eine Landschaft, die durch Wege, Felder/Gärten, Wald/See/Moor gegliedert wird, eingebettet ist (z.B. als Landhaus), so ist auch die Stadt in ein Wegenetz, häufig in ein Netz von Fernstraßen eingebettet. Der Maßstab der Stadt ist um eine soziale Größenordnung gegenüber dem Haus gesteigert. Beherbergt das Haus eine Familie (oder mehrere) und deren Eigentum, so enthält die Stadt eine (meistens gegliederte) Bevölkerung. So wie das Haus als Zentrum einen herausgehobenen Raum (das Wohnzimmer oder den Kuppelsaal der Villa Rotonda bei Palladio) besitzt, hat die Stadt häufig ein Gebäude oder einen von Gebäuden umstandenen zentralen Platz als Zentrum. Zeitlich kann eine Stadt zwar von einem Bauherrn und seinem Architekten konzipiert und gebaut werden (vgl. die Plan-Städte in der Renaissance); im Normalfall entsteht eine Stadt aber in einer Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende anhaltenden Morphogenese. Dabei werden vorhandene Räume immer wieder neu bebaut, häufig unter Erhalt ihrer Grundfunktionen und Bedeutungen. Die Stadt ist in dieser zeitlichen Perspektive von individuellen Planungen relativ unabhängig, ihre Strukturkonstanz prägt sich vielmehr dem Willen historisch Handelnder auf. In Fällen der grundlegenden Zerstörung durch Feuersbrunst, Krieg oder durch brutale Stadter-
1
Vgl. Wildgen (2007b) für die Lektüre einer Stadt, am Beispiel Bremens.
254 | STADTSEMIOTIK
neuerung wird diese quasi-biotische Morphogenese durchbrochen und die Stadt wird zur Riesenarchitektur oder gar zu einer Monumentalplastik mit architektonischem Innenleben. Die morphogenetische Sicht der Stadt hebt die Lebensformen in der Stadt und deren historische Kontinuität hervor. Zu den autochthonen oder primär funktionsbezogenen Lebensformen gehören die Kate, das Bauernhaus, ab dem 20. Jh. das Einfamilienhaus oder das Mietshaus. Die Repräsentativbauten sind in besonderer Weise von der existentiellen Lebensform losgelöst und quasi als Intertext in ein Wissenssystem über Bauformen eingebettet. Sie erfordern deshalb eine Analyse, in welcher die spezifischen Bildungsprofile der Auftraggeber differenziert betrachtet werden (auf dem Hintergrund der Wissensformen und des Architekturbewusstseins der jeweiligen Zeit). Zwischen Architektur- und Stadtsemiotik liegt ein Feld, das man Landschaftssemiotik nennen kann. Die Landschaft, z.B. eines Landgutes in Venetien (siehe die Analyse der Villa Barbaro in Maser von Palladio in Kap. 8.3) wird in der Architektur des Landhauses (Gutshofes) funktional und zeichenhaft reflektiert. Global gesehen ergeben eine Anzahl von Höfen, Nebengebäuden, Feldern, Wegen, Wäldern und Gewässern eine höhere Ganzheit, die in stark kultivierten Landstrichen durchaus auch als Ganzheit vom Menschen (allerdings selten von einem Architekten wie Palladio) geformt wird. Die geologische Formung der Landschaft, und dies ist besonders deutlich bei Meeresgestaden und Gebirgen, gehört aber zu einer anderen, vom Menschen weitgehend unabhängigen Dynamik der Formgebung.2 Für die Künstler des 19. Jahrhundert wurde deshalb diese Landschaft in ihrer natürlichen Zeichenhaftigkeit besonders interessant; an diesem Sujet konnte der Maler elementare Kräfte und Inhalte verdeutlichen. In dem Maße, wie das vom künstlerischen Interesse angeregte touristische Interesse das Hochgebirge erfasste, wurde aber die Naturbelassenheit dieser Landschaft zunehmend zerstört und durch zahllose (hauptsächlich architektonische) Eingriffe verändert. Dem Ski-Fahrer, der sich zu Füßen einer für ihn unzugänglichen Felsenlandschaft auf präparierten Pisten und in Sesselliften bewegt, präsentiert sich das Hochgebirge nur noch als Kulisse, die seinem Sport angemessen erscheint und die er quasi wie eine Tapete im Wohnzimmer igno-
2
Durch die Landschaftskunst von Christo (*1935), siehe etwa die Verhüllte Küste (1969, Australien) und den Valley Curtain (1970, Colorado) wird allerdings auch diese natürliche Struktur künstlerisch geformt. Die land art gesellt sich zur postindustriellen (umgeformten) Landschaft; vgl. Paquet (2009).
S EMIOGENESE URBANER S TRUKTUREN | 255
rieren kann (es sei denn eine Lawine löst sich von den Felshängen und begräbt ihn unter sich).3 Als äußerster Rand einer semiotischen Gestaltung mag das Weltall gelten, da menschliche Spuren und somit Zeichen seiner Anwesenheit nur auf dem Mond zurückgelassen wurden. Vom Menschen ferngesteuerte Roboter hinterlassen derzeit Spuren auf dem Mars. Das Weltall ist zwar das Objekt einer interpretativen Ordnung des Wahrgenommenen in Zeichen (manifestiert in den Sternzeichen seit den Babyloniern), es ist aber durch die Zeichengebung des Menschen (noch) nicht modifizierbar und bleibt somit Natursymbol.4 So gesehen bildet das Weltall (ebenso wie die Quantenwelt) eine unerreichbare Grenze semiotischer Aktivitäten. Der Mensch kann das, was er jeweils von dieser Wirklichkeit wahrzunehmen in der Lage ist, in Zeichen (Namen, mathematischen Formeln, Computersimulationen) erfassen und sich mit dem zeichenhaften Ersatz der unzugänglichen Wirklichkeit zufrieden geben; diese bleibt allerdings – und dies wird dem Menschen als faszinierender Effekt bewusst – von jeder menschlichen Semiotisierung unberührt und ist somit ein Garant der Unbestechlichkeit der Wirklichkeit unter dem Effekt menschlicher Semiotisierungen.5
9.1 D IE M ORPHOGENESE
DER
H AFENSTADT
Im Folgenden will ich die Morphogenese von vier ausgewählten europäischen Hafenstädten im Sinne einer Aufteilung des geografischen Kontinuums durch prägnante, für den Menschen jeweils bedeutsame Attraktoren, Repelloren, Grenzen, Übergänge rekonstruieren. In einer weiteren exemplarischen Studie (vgl. Kap. 9.2) wird das Bremer Stadtzentrum, wie es sich seit dem Mittelalter und der frühen Neu-
3
Dieser gefährliche Bereich wird von Extremsportlern erschlossen und dem Publikum
4
Wahrscheinlich existiert die symbolische Erfassung der Gestirne, seitdem der Früh-
durch Fernseh- oder Internetpräsentationen zugänglich gemacht. mensch sich nachts am Sternenhimmel orientiert hat, d.h. seitdem er in der Savanne und nicht mehr im dichten Regenwald lebte; vgl. dazu Kapitel 8.1. 5
Eine Semiotisierung des Weltalls hat z.B. Giordano Bruno unter dem Einfluss des Renaissance-Platonismus versucht (vgl. Wildgen, 1998a). Die weitere Entwicklung lässt sich innerhalb der Biographie Keplers als Übergang von seiner neuplatonischen Frühschrift: Mysterium Cosmographicum (1596) zur Berechnung der Marsbahn (nach 1600) weiter verfolgen. Erst Newton sollte aber die neue Naturphilosophie als eigenständiges Erkenntnisprogramm formulieren und Keplers Gesetze in einen größeren argumentativen Zusammenhang stellen.
256 | STADTSEMIOTIK
zeit entwickelt hat, als für die Bewohner/Besucher semiotisch aussagefähiges Zeichenensemble untersucht. 9.1.1
Die Entstehung von antiken Hafenstädten im Mittelmeer
Maritime Handelsplätze entstanden in der Bronze-Zeit mit den sogenannten Seevölkern, d.h. Gemeinschaften, deren Macht und Reichtum hauptsächlich auf der Seefahrt (dem Schiffbau, der erfolgreichen Erkundung neuer Märkte oder Ressourcen, der Piraterie, dem Handel) beruhte. Klarer umrissen sind die Handelsnetze und Kolonien der Phönizier, Karthager, Griechen und später der Römer. Solange die Anzahl der Schiffe überschaubar war und deren Tiefgang gering, konnten sie am Strand landen und entladen werden oder an Land gezogen werden. Die ältesten Seestädte sind wohl die phönizischen Hafenstädte Sidon und Tyrus. Künstliche Hafenanlagen sind seit etwa 1700 v.Chr. bezeugt. Die Grundkriterien für die Wahl und den Ausbau von Hafenanlagen waren (vgl. Lehmann-Hartleben, 1963 und VoisinBey, 1886): •
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Eine geschützte Lage, damit auch größere Schiffe, die nicht an Land gezogen werden konnten, vor Wind und Wellen sicher waren. Dazu wurden entweder Buchten mit enger Öffnung (nicht in Richtung der vorherrschenden Winde) gewählt oder solche mit engen Öffnungen künstlich hergestellt. Häufig gab es zwei Häfen mit einem Verbindungskanal, so dass Schiffe unabhängig von der Windrichtung ein- und ausfahren konnten. War das Hinterland unsicher, z.B. in den Kolonien, musste der Hafen zum Land hin befestigt werden. Bei Kriegshäfen (griech.: Kóthon = bauchiger Krug) wird teilweise ein totaler Einschluss mit einem Tor gebaut. Solche Hafenbecken wurden häufig aus dem Fels geschlagen. Zwischen Hafen und Stadt lag oft eine neutrale Zone, Emporion genannt, wo (ähnlich einem Freihafen) eingeführte Waren getauscht und vermarktet werden konnten. Die dort ansässige Bevölkerung hatte oft kein Stadtrecht. In sicheren Zeiten lag die Hafenstadt auch am Meer. In unsicheren Zeiten wanderte sie landeinwärts und es wurde ein gesicherter Zugang zum Hafen gebaut. Der Hafen war häufig mit einem sakralen Ort verbunden, da die Götter bei der Abreise um Hilfe gebeten oder ihnen bei der Heimkehr Dankopfer dargebracht werden mussten. Als geeignete Orte für Hafenstädte boten sich auch Meerengen (Isthmen) an, da hier viele Schiffe passieren mussten. Später (etwa bei den Venezianern im Mittelmeer) wurde der Hafen, in dem sich große Anlagen zum Bau von Schiffen und zur Herstellung von Waffen befanden, in die Stadtmauer eingeschlossen (limen kleistos). Beispiel: Das Arsenal in
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Venedig und die Hafenstädte an der kretischen Nordküste. Für die Schiffsreparatur gab es Hallen rund um den Hafen (siehe deren Reste in Heraklion). Topologisch ist der Hafen ein offener oder schließbarer Halbkreis oder eine Kombination dieses Musters. Die Öffnung konnte auch durch Ketten verschlossen werden. An den Enden standen oft Türme zur Verteidigung oder Leuchtzeichen für heimkehrende Schiffe.
Abbildung 51: Topologischer Typ des Hafens: links Bucht mit enger Einfahrt, Mitte: Doppelbecken mit Kanalverbindung, rechts: versperrbarer Kriegshafen Die Grunddynamik ist eine des Schutzes bei gleichzeitiger Öffnung (Ein- und Ausfahrt). Im Verhältnis zur Stadt gibt es Distanz (auf einer sicheren Anhöhe: Beispiel Piräus und die Akropolis in Athen), Nähe (mit einem Zwischenraum, dem Emporion oder offenem Markt) und Einschluss in die Mauern. Bei vielen Hafenstädten der Antike spielt auch eine nahe gelegene oder integrierte Flussmündung eine Rolle. Dies gilt nicht nur für das ägyptische Alexandria sondern auch für das römische Ostia (= Mündung). Die Tibermündung erwies sich aber in zweierlei Hinsicht als ungünstig. Einerseits trieb der vorherrschende Wind Wasser und Sand in die Flussmündung, anderseits transportierte der Tiber viele Schwebestoffe. Die Konsequenz war eine schnelle Verlandung des Hafens. Ich werde mich im Folgenden exemplarisch mit vier europäischen Hafenstädten beschäftigen; in allen Fällen spielen Flüsse eine Rolle. Allerdings sind besonders Paris an der Seine (über 100 km Entfernung zum Meer) und Bremen (60 km Entfernung zum Meer) ebenso Städte am Fluss wie traditionelle Hafenstädte. Für eine bebilderte Übersicht zu heutigen Hafenstädten siehe Biebig und Wenzel (1989). 9.1.2
Die Hafenstadt als semiotischer Prototyp
Das grundlegende Merkmal einer Hafenstadt ist die Opposition: Land (Schutz) im Vergleich zu Wasser (Bewegung). Es impliziert die Verwendung von Booten und Schiffen, d.h. Boote kommen an und fahren ab, Schiffe werden gebaut (repariert), Waren werden transportiert und kommerziell genutzt (gestapelt, verkauft). Ein
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Marktplatz entsteht, schließlich werden Fabriken und Wohnungen für die Arbeiter und Angestellten gebaut. Solange die Zahl der beförderten und ausgetauschten Güter klein ist und ihre Verteilung keine Institutionen und Gesetze erfordert, ist dieses einfache Schema ausreichend. Aber nachdem das Wirtschaftswachstum eine Überschussproduktion und die Lagerung von Waren sowie Handelsbeziehungen gestattete, wurde die Situation komplizierter. Mit dem gegenseitigen Austausch von Waren begann auch ein gemeinsames Wertesystem zu entstehen. Es wird implizit bereits in Handel und Tausch benützt, bewusst wird es mit dem Einsatz von konventionalisierten WertMarken, z. B. Geld und der Entstehung der schriftlichen Buchhaltung. Das erweiterte Schema der Interaktion erfordert quasi als Katalysator des Tauschs die Gültigkeit eines symbolischen Wertesystems, das sich in Geld und Maßen für Längen und Gewichte ausdrückt.6 Das Anhäufen und Stapeln von Waren erforderte einen effektiven Schutz (gegen Diebe oder Piraten). Die sich abzeichnende soziale Schichtung konnte eine räumliche Differenzierung (Unterschiede der Häuser und Wohnungen) oder sogar die Absonderung (in Stadt-Vierteln) hervorrufen. Das Wertesystem führte zur Festlegung wirtschaftlicher Standards, die in einer Stadt / Region gültig waren, und zu Austausch-Strukturen zwischen Städten und Regionen (vgl. die Entstehung von Wechselstuben und Banken). Das kollektive Werte-System bewirkte die Konzentration von Werten in spezifischen Institutionen. Nach der Christianisierung wurden z.B. Kirchen und Klöster Konzentrationspunkte für die Anhäufung von Werten, die geschützt werden mussten; der Adel musste Privilegien und Besitz in Burgen schützen. Die Rechte der verschiedenen Gruppen in den Städten oder sogar in einem Handels-Netz erforderten Gesetze, Gerichte und Verwaltungen. Die Entwicklung eines globalen kommerziellen Systems führte zu sehr komplexen Regelsystemen, die wieder zusammenbrachen, als die globalen Bedingungen (der Macht oder der verfügbaren Handelsrouten oder Ressourcen) sich änderten. Was über die Jahrhunderte hinweg stabil blieb, waren die grundlegende Bedeutung von Land / See und die Handelswege, deren Frequentierung aber wesentlich von geographischen und physikalischen Bedingungen einer Region / eines Landes abhängig ist. So verschob sich mit der Eröffnung der Fernhandelswege über Land der Verkehr zunehmend von der See/ dem Fluss auf das Land/ die Landstraße. Mit der Entdeckung von Amerika verschob sich
6
Es hat drei oder vier stabile Zentren (Attraktoren): Das Schema des gegenseitigen Austauschs (doppelte Gabe) und das Schema des Sendens (über ein Medium), vgl. Wildgen, 1982: 85-92, und 1994: 68-72, 129-138.
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der Seehandel in Europa von der Ostsee und der Küstenschifffahrt zum Handel mit den überseeischen Gebieten und den Transatlantikhandel. 9.1.3
Vergleichende Morphodynamik von vier Hafenstädten
Diese Studie zur Morphogenese, d.h. zur Formgebung der Stadt nimmt die semiotischen Arbeiten zu den Städten Paris (Desmarais, 1995), Montreal (Ritchot, 1989, Desmarais und Ritchot, 2000) und Lissabon (Marcos, 1996) als Ausgangspunkt und erweitert die Analyse auf die Hafenstädte Bremen und Aarhus. Weiterführende Arbeiten könnten einerseits die Entwicklung anderer Hafenstädte seit dem frühen Mittelalter oder den Export von Stadtstrukturen in der frühkolonialen und globalen Expansionsbewegung thematisieren.7 Der zur Strukturbildung (Morphogenese) komplementäre Aspekt des „Chaos“ (der irregulären Struktur) wird hier nicht explizit behandelt, aber die Zerstörung vieler Städte und ihr Wiederaufbau, die wuchernden Viertel explodierender Großstädte in Europa (etwa Istanbul), in Amerika (etwa Rio de Janeiro) und in Asien oder Afrika bieten genügend Anhaltspunkte für chaotische Muster. Die fraktale Struktur wird durch Baulücken oder die Besiedlung von Zwischenflächen und öffentlichen Räumen durch Obdachlose, sowie durch Hausbesetzungen deutlich (vgl. die anarchistische Bewegung der Situationisten und deren Konzept eines Vagabundierens im Stadtraum, „dérive“ genannt).8 Generell macht die Kritik der Situationisten deutlich, dass Architektur und Kunst eng mit den Macht- und Geldeliten verbunden sind und ethisch-politische Werte transportieren, die über das visuell Erfahrbare hinausweisen.9 Morphodynamik setzt voraus, dass es eine „Keimzelle“ der Strukturen gibt und dass ihre Entfaltung durch dynamische Gesetze geregelt wird. Im Falle der Hafen-
7
Dass nicht nur Technik, Sprache und Religion mit der Bildung von Großreichen exportiert/globalisiert wurden, zeigte bereits die römische Antike. Die architektonische Form des befestigten Lagers (castrum) ist heute noch in vielen Städten visuell nachvollziehbar (etwa in Trier oder in Regensburg). Die Städte im römischen Reich waren alle nach demselben funktionalen Raster (am Prototyp des Militär-Lagers orientiert) konzipiert. An diesem Beispiel lässt sich sehr gut die Parallelität der symbolischen Formen zeigen. Der Export portugiesischer Stadtformen wird in Marcos (2002) untersucht.
8
Ein besonders schönes Beispiel selbstorganisierter Wohnkultur bietet ein nicht fertig gestellter 45 Stockwerke hoher Büroturm in Caracas, in dem sich inzwischen 2500 Bewohner illegal angesiedelt und die notwendigsten Einrichtungen zur Versorgung selbst geschaffen haben.
9
Vgl. Ohrt (1997), sowie die Ausstellung „Instant Urbanism“, Bilder in: www.sambasel.org/dms/Medien.../IS_Press_images_credits.pdf
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städte haben wir den Übergang von Land zu Wasser und eine Singularität von Wegen, wie die Kreuzung zweier Straßen (oder einer Straße mit einem Fluss) oder die Existenz einer Insel im Fluss. In den vier Beispielen, die ich untersuchen werde, gibt es immer eine Küste (des Meeres) oder das Ufer eines Flusses (mit Zugang zum Meer) und eine einfache oder doppelte Singularität von Pfaden: 1. Lissabon: Zwei Bäche führen zum Fluss zwischen zwei Hügeln und formen eine tiefe ebene Fläche (heute der Rossio-Platz im Zentrum). Der Fluss Tejo mündet ins Meer. 2. Paris: Eine Insel in der Seine, die zum Meer führt, und mehrere Hügel rund um einen flachen und sumpfigen Bereich (siehe das heutige Stadtviertel Marais, d.h. Sumpf). Eine Straße führt über den Fluss und über die Insel (Île de la Cité). 3. Bremen: Eine Dünenkette erstreckt sich entlang des Flusses, es gibt einen Nebenfluss, die Balge (später zugeschüttet), und zwei Fernwanderwege, einer von ihnen führt über den Fluss und über die Halbinsel. 4. Aarhus: Eine Küste (Ostsee) und ein Fluss. Umliegende Höhen betten eine ebene Fläche ein, die zum späteren Stadtzentrum wird. Die geografischen oder geologischen Situationen hatten unterschiedlichen Angebotscharakter in den verschiedenen Perioden / für verschiedene Populationen („affordance“, vgl. Gibson, 1979) und dieses Angebot hat sich auch im Laufe der Jahrhunderte mit den Menschen und Gesellschaften verändert. Was zählt, ist der nichtlineare Übergang: Land ĺ Wasser, die Wege-Verbindung (Transport von Gütern und Personen), d.h. ein dynamischer Pfad, und der Schutz-Typus (Düne schützt vor Hochwasser, Insel schützt gegen eine Invasion, steile Hügel dienen der Verteidigung). Schematisch finden wir die folgenden Situationen vor:
S EMIOGENESE URBANER S TRUKTUREN | 261
Abbildung 52: Keime der städtischen Morphogenese in Lissabon, Paris, Bremen und Aarhus Die Entfaltung eines solchen Keimes nutzt Gradienten der Basisfunktion. Im Fall von Bremen wird den Übergang Wasser / Land zum Anlegen von Schiffen und für den Schiffbau genutzt, zuerst am Nebenfluss (der Balge), dann am Ufer des Hauptflusses (der Weser), schließlich auch am gegenüberliegenden Ufer (einschließlich der Halbinsel) und weiter in Richtung Meer. 10
Abbildung 53: Entfaltung des Hafen-Keims in Bremen
10 Zur Hafenstadt als Risikogemeinschaft siehe Kühn u.a. (2012).
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Sekundäre Funktionen wie Lagerung, Herstellung, und Vermarktung entfalten sich in der Nähe des Hafens.
Weser Langenstraße (Kontorhäuser)
Kathedale
Markt
Bischofspalast Rathaus
Abbildung 54: Die Entfaltung der sekundären Funktionen in Bremen Bremen wurde vor 800 nach dem Sieg der Franken (Karl I.) über die Sachsen gegründet und entwickelte sich nach der Christianisierung der Region zu einem regionalen Zentrum mit einem Bischofs-Sitz.11 Daher kann der Bau einer Kirche auf der Düne der entscheidende symbolische Keim gewesen sein, der die weitere Morphogenese ausgelöst hat. Der Standort Bremen erfüllt mehrere bedeutsame Bedingungen: 1. Lage am Fluss (Fischfang/Nutzung des Wassers). 2. Position auf der Düne (Schutz vor dem Wasser).12 3. Position auf dem Fernweg über die Dünenkette nach Nordwesten bzw. Südosten. 4. Position auf dem Fernweg von Norden nach Süden
11 Bremen wurde 847 Sitz des Bischofs (ab 885 des Erzbischofs) von Hamburg-Bremen, nachdem Hamburg 845 zerstört worden war. Vor der Ostkolonisation und der Sicherung gegen Norden war Hamburg ein Grenzort, der zu unsicher war. Erst Anfang des 13. Jh. wurde Hamburg auch gegen Norden gesichert und konnte sich als Stadt und Hafen entfalten. 12 Die Bedeutung des Wassers (Süßwasser vom Land, Meerwasser bei Flut oder Sturmflut) ist ambivalent; es ist nützlich und gefährlich, wird also gesucht und gemieden, wobei ein Gleichgewicht gefunden werden muss.
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5. Position an einer Wegkreuzung. Diese ist ein singulärer Punkt und damit geeignet für einen zentralen Ort. Die Landschaft weist weitere Gliederungen auf, da die Dünenkette durch tiefere Wasserdurchlässe unterbrochen war. Im unmittelbaren Bereich der mittelalterlichen Stadt gab es drei bebaute Erhebungen: neben der Dom-Düne, die (ehemalige) Erhebung im heutigen Ostertor, auf der das Pauls-Kloster stand, und die Stephani-Stadt. Die Bischofsstadt steht auf der Domsdüne (14 m über NN), mit der Steffenstadt wurde die westlich gelegene Düne miteinbezogen; dies entsprach auch der Expansionsbewegung des Hafens in Richtung Mündung der Weser. Die weseraufwärts gelegene St. Pauls-Stadt (Klosterstadt) blieb lange autonom und fiel der Stadt als Folge der Reformation zu. Sie wurde aber erst nach der Maueröffnung im 19. Jh. städtebaulich integriert. Die weitere Entwicklung betrifft die Grenzlinie Fluss – Land (Düne) und die Brücken. Die Grundtendenz besteht bis Mitte des 19. Jh. darin, den Bremer Hafen durch eine Einbindung in die Mauern der Stadt zu schützen. Die Wiederherstellung und Fortschreibung der Hafenentwicklung durch die Weserbegradigung (19. Jahrhundert) wird heute durch Auslagerungen des Containerverkehrs und neuerdings durch die Beteiligung am Tiefwasserhafen Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven fortgesetzt (in Betrieb genommen am 21. September 2012).13 In Aarhus wurde eine Wikinger-Stadt auf der dreieckigen Fläche gebaut, die an zwei Seiten von Meer und Fluss begrenzt war. Die dritte flache Seite konnte künstlich durch einen Graben gesichert werden. Später bauten christliche Missionare eine Kirche außerhalb dieses Bereiches; die sakrale Funktion konnte nach der Christianisierung ins Zentrum rücken, wie dies Abbildung 55 zeigt.
13 Für die Entwicklung Hamburgs als Hafenstadt siehe Hein (2011a); für die groben historischen Phasen der Hafenentwicklung siehe Schubert (2011). Die theoretische Perspektive ist nicht semiotisch, sondern urbanistisch und global netzwerkbezogen.
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Abbildung 55: Morphogenese der Wikinger-Stadt Aarhus Im Fall von Paris ist die Morphogenese komplizierter, weil die sumpfige Ebene in der Nähe des Flusses für eine Ansiedlung nicht geeignet war. Die Römer bauten ihre Stadt auf den Höhen des Südufers (heute das Quartier Latin). Die zentrale Straße (cardo) der römischen Stadt entspricht dem Boulevard St. Michel und die Straßen des Quartier Latin weisen immer noch das Römische Raster auf (vgl. http://paris-atlas-historique.fr/38. html). Im Mittelalter bildete die Rue St. Jacques die Hauptader. Sie lag auf dem St. Jakobsweg nach Süden, führte an der Kathedrale vorbei und nach St. Denis (der Begräbniskirche der Könige) und weiter zu den Städten im Norden. Die Insel im Fluss war der sicherste Platz im frühen Mittelalter (sie wurde im 9. Jahrhundert erfolgreich gegen die Wikinger verteidigt). Im Inneren der Insel gab es einen kleinen Hafen im Anschluss an eine Rinne, die später zugedeckt wurde. Der Fluss Bièvre und die Zone rund um die Brücke auf die Insel im Süden waren die Hafen-Standorte außerhalb der Insel und deren Hauptstandort im Mittelalter (vgl. Velay, 2000: 1-2). Heute ist Paris nur noch ein Flusshafen; der See-Hafen befindet sich an der Mündung der Seine in Le Havre (vgl. die Lage von Bremerhaven an der Mündung der Weser). In Lissabon haben viele verschiedene Kulturen den Standort benutzt (vgl. Marcos, 1996), aber die Ebene zwischen den Anhöhen und dem Flussufer wurde zum Zentrum des Hafens, des Schiffbaus und des Handels. Sein Schutz wurde durch die Festung auf dem steilen Hügel gewährleistet. Die Morphogenese einer Stadt ist im Grunde eine Art von Semiogenese (Zeichenerzeugung) insofern die physikalische Faktoren: Land / Wasser und Hügel / Ebene nur zu Wirkkräften werden, wenn sie eine Bedeutung für die menschlichen Siedler gewinnen. Dennoch bleiben die bestimmenden Kräfte so grundlegend und stabil, dass wir sehr regelmäßige Muster, die analog zu morphogenetischen Gestaltbildungen in Physik, Chemie und Embryologie sind, beobachten können. Dies motiviert auch die Benützung des naturwissenschaftlichen Begriffs der „Morphogenese“.
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Wegen der unterschiedlichen Ökosysteme und Populationen unterscheiden sich Hafenstädte in Europa in vielerlei Hinsicht. Die vier Städte, die verglichen wurden, können entsprechend ihrer unterschiedlichen Netzwerke und Bereiche in zwei Gruppen eingeteilt werden: 1. Das nördliche Europäische Netzwerk der Wikinger-Handelswege (ca. 1.000 n. Chr.) und der Händler der Hanse-Liga (1200-1500 n. Chr.) sind die Grundlage vieler Stadtgründungen und deren Entwicklung im Mittelalter und der Neuzeit. Aarhus und Bremen sind Beispiele dieser Entwicklung. 2. Paris und Lissabon waren hauptsächlich von den städtischen Strukturen des römischen Reiches (seinen Kolonien) beeinflusst und wurden durch die mittelalterliche, christliche bzw. islamische Reorganisation und durch Modernisierungen seit dem 17. Jahrhundert weiter umgestaltet. Beide Städte wurden später entweder das Vorbild anderer moderner Hauptstädte (dies gilt besonders für Paris) oder wurden in Übersee-Gründungen nachgeahmt (dies gilt z.B. für Lissabon). Eine Gesamtklassifikation der größten europäischen städtebaulichen Strukturen und ihrer Entwicklung14 oder ihrer Nachahmung in Übersee wäre ein lohnendes Forschungsziel. Ich kann in diesem Kapitel nur einige Wesenzüge skizzieren, die sich auf die vier verglichenen Städte beziehen: 1. Aarhus entwickelte nach der Christianisierung im Mittelalter in seinem Zentrum ähnliche Muster wie Bremen. Das ursprüngliche Rathaus wurde mit dem Rücken gegen die Fassade der Kathedrale gebaut und blickte auf einem zentralen Marktplatz. Das Rathaus wurde später zerstört und die Nachfolgebauten wurden immer weiter an den Rand des historischen Zentrums verschoben. In dieser Hinsicht bewahrte Bremen seine Tradition nachhaltiger (Aarhus wurde unter die Herrschaft der dänischen Könige von Kopenhagen in den Schatten gestellt; Sitz des Erzbischofs wurde Lund auf Schonen).15 Im Gegensatz zu Bremen ist der Hafen von Aarhus aber immer noch in der Nähe des Stadtzentrums.
14 Die jüngere Entwicklung einiger europäischer Hafenstädte wird in Warsewa (2006) untersucht (Taranto, Patras, Gijon, Bremen, Cherbourg, Bilbao, Trieste, Soton, Kaliningrad, Southampton). 15 Die Hafenstadt Flensburg an der Ostssee entwickelte sich im Kontext des dänischen Reiches ähnlich wie Bremen. Auffällig sind die besonders tiefen Kaufmannshöfe, welche die
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2. In Lissabon befestigten die Westgoten den steilsten Hügel, der nach der arabischen Eroberung (719) weiter befestigt wurde, die „Alcacova“. Sie wurde nach der Rückeroberung (1147) zum Fort S. José. Die arabische Moschee im Zentrum der arabischen Almedina wurde (neu aufgebaut) zur christlichen Kathedrale Sé. Große Klöster und Kirchen wurden oben auf die umliegenden Hügel platziert und markieren die Randpunkte der urbanen Struktur. Die kommerzielle Stadt belegte den flachen Teil (das ehemalige Bachbett) und den Zugang zu den Ufern des Flusses Tejo (Praça de Commercio). Von den Werften auf dem Tejo ausgehend, eröffneten die Expeditionen nach Afrika (1419) und Indien (1488) die Ära der kolonialen Expansion Portugals. Ein Erdbeben und der Tsunami im Jahre 1755 zerstörten die Stadt (vor allem die Unterstadt Baixa), die vom Marques de Pombal mit einem rechteckigen Muster neu aufgebaut wurde. 3. Im Fall von Paris wurde die Insel bereits in vorrömischer Zeit besiedelt. Die Römer gründeten eine neue Stadt auf dem höheren Gelände im Süden und bauten eine Straße, die von Süden nach Norden verläuft und auf der Insel eine funktionale Zweiteilung erzeugte: West (administrative) versus Ost (religiöse Funktionen); diese funktionale Trennung hat Bestand bis heute. Im frühen Mittelalter wurde das Zentrum wieder auf die Insel verlegt. Im 17. Jahrhundert wurden die Stadtmauern durch breite Straßen (Boulevards) ersetzt und im 19. Jahrhundert zerstörte Haussmann (1809-1891) viele mittelalterliche Viertel und modernisierte die entsprechenden Stadtteile. Im Allgemeinen entfaltet sich die Stadt in einem permanenten Prozess, in dem die geographischen und geologischen Gegebenheiten recht stabil sind. Die Merkmale einer Hafenstadt können verloren gehen, wenn sich etwa der Meeresspiegel verändert, oder wenn neue Anforderungen die ursprünglichen Möglichkeiten (affordances) entwerten. So ist Paris nicht länger ein Hafen für Schiffe des Meeres, Bremen musste seinen Fluss im späten 19. Jahrhundert in einen tiefen Kanal umwandeln, um eine Hafenstadt bleiben zu können. Heute legen Container-Schiffe lieber in Bremerhaven an, obwohl sie die Fahrrinne nach Bremen benützen können. Aarhus hat noch einen Hafen in der Nähe des Stadtzentrums, aber die Ostsee hat keine Gezeiten und Ozean-Schiffe bevorzugen Kopenhagen oder Häfen auf der West-Seite von Dänemark. In Lissabon wie in den meisten klassischen Hafenstädten hat sich der Hafen von der Innenstadt entfernt. Die alten Hafenviertel mussten entsprechend neu gestaltet werden (mit Wohn- und Dienstleistungsfunktionen). Dies ist in Lon-
Stadt nach Spapel-, Produktions- und Verkaufszentren gliedern. Basis der Hafenanlage ist die lange Förde, welche gleichzeitig Zugang zum Meer und Schutz bietet.
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don exemplarisch geschehen (Docks of London) und findet in vielen Hafenstädten mit vergleichbarer Entwicklung Nachahmer. Damit entsteht eine neue morphogenetische Dynamik, die z.B. in Bremen zur Planung und Ausführung der so genannten „Übersee-Stadt“ mit Yacht-Häfen und Nobel-Adressen geführt hat (vgl. Warsewa, 2006: 22-24).
9.2 E INE F ALLSTUDIE : DIE DER S TADT B REMEN
SEMIOTISCHE
F EINSTRUKTUR
Zeichenstrukturen sind meist nicht gleichmäßig im Raum verteilt. Im Gegenteil sie tendieren dazu, sich in Zonen zu konzentrieren, gewisse Räume fast ausschließlich für sich zu beanspruchen. Dies ist bereits biologisch und evolutionär bedeutsam. So ist das Gesicht für den Menschen eine bevorzugte Zeichenfläche (ebenso die Hände und deren Bewegungsmuster; siehe die Taubstummensprache oder die Fingersprache der Blinden). Im Haus sind etwa das Wohnzimmer, in dem Gäste empfangen werden und die Familie sich trifft, Konzentrationspunkte für Zeichenprozesse (die Bilder an der Wand, die Vitrinen im Schrank, der Fernseher usw.). In der Stadt gibt es seit der Antike ein Zeichenzentrum, siehe die Agora der Griechen, das Forum der Römer, den Basar im arabischen Kulturkreis und andere Beispiele. Dies hängt auch mit der Zentralität der Herrschaft oder den herrschenden Institutionen (heute dem Parlament, früher dem Rat der Stadt) zusammen. Der Markt zeigt dies in anderer Weise. Einerseits werden die verfügbaren Waren angezeigt, deren Preise und die Normen für Längen, Gewichte usw. werden ausgestellt, andererseits demonstrieren der Pranger oder das Gericht, welches Recht hier herrscht und wie es ausgeübt wird. Die Funktionen und Inhalte verändern sich in der Geschichte und es mag heute Städte geben, in denen solche Zentren der Zeichengebung fehlen oder nur schwer auszumachen sind. Als Beispiel mag Los Angeles dienen, das aus über 100 Städten und Orten entstanden ist. Immerhin gibt es ein „Downtown“ für die Finanzwelt und ein „China-town“ für die Touristen. Wegen der großen geographischen und historischen Diversität wird in diesem Kapitel lediglich ein Beispiel, die Stadt Bremen untersucht. Durch diese Konzentration soll einerseits vermieden werden, dass ungerechtfertige Verallgemeinerungen stattfinden, andererseits ist es notwendig, die Zeichenprozesse in ihren konkreten historischen Kontext einzubetten, und dies ist nur exemplarisch möglich. 9.2.1
Die zentralen Plätze und Gebäude in der Stadt als Attraktoren von Bedeutung und als Konfliktfeld
Morphogenetischer Ausgangspunkt der mittelalterlichen Stadt war die auf der Weserdüne errichtete Holzkirche (789 geweiht), Vorgängerin des heutigen Doms und die Siedlung in ihrem Umkreis. Ein zweiter wichtiger Ort ist der 965 von Kaiser Ot-
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to dem Großen mit einem Privileg gesicherte Markt. Obwohl diese beiden Orte ihre Bausubstanz und selbst die genaue Platzierung verändert haben, bilden sie das erste Grundmuster, die erste stabile Gliederung (Bifurkation) der Gründung in zwei Raumbereiche, die man als profanen Ort (Markt) und als sakralen Ort (Kirche) näher bestimmen kann.16 Diese Opposition wurde verstärkt, als im 14. Jahrhundert der Rat der Stadt die Kontrolle über den Markt erhielt. Die Platzierung des Marktes ist interessant, insofern er ursprünglich auf dem Liebfrauenkirchhof abgehalten wurde. Das Areal der Liebfrauenkirche lag östlich des Dombezirks, der bis an die Balge, den damaligen Hafen reichte. Die Liebfrauenkirche (ursprünglich die Veits-Kapelle) war eigentlich eine Pfarrei neben der Dompfarrei. Aus ihr bildete sich am Rande des Kirchenareals zuerst der Kirchhof, der bald von Buden und Gebäuden (darunter einem Vorläufer des Rathauses) umgeben war. Auch der Freimarkt, Ausgangspunkt des heutigen Jahrmarktes zur „Freimarktzeit“, fand ursprünglich auf diesem Areal statt. Bildet man die Morphogenese dieser Orte nach, so ergibt sich die in Abbildung 56 dargestellte Opposition (links) von Ratsstadt und Domstadt oder abstrakt ausgedrückt (rechts) das Kräftefeld mit dem Attraktor 1 und 2 und der sie trennenden Bifurkation (senkrechte Pfeile).17
St. Veith Kapelle
Dom St. Petri
Markt
Domstadt
Weser
Attraktor 1
Attraktor 2
Abbildung 56: Entstehung der binären Grundkonstellation
16 Semiotisch ist die Aufgliederung des Raumes ein syntaktisches Phänomen, die Funktions- und Bedeutungszuordnung ein semantisches. Die geografischen, wirtschaftlichen und politischen Randbedingungen bilden den pragmatischen Kontext. 17 Vgl. zu den Grundbegriffen der Katastrophentheorie Wildgen (1985a, Anhang: 266 295) und Wildgen (1999a: 299 - 326).
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Interessant ist, dass Attraktor 1, der Markt, aus einer Abspaltung von Attraktor 2, dem Domareal, entsteht und sein (neues) Zentrum an der Kapelle St. Veit bzw. im Übergangsfeld des Kirchhofes hat. Der Aufspaltung in sakral vs. profan ging also eine hierarchische Aufspaltung in Dom- und Ratsgemeinde (beide sakral) voraus.18 Es gibt zwei Nebeneffekte dieser Morphogenese, die bedeutsam sind: (a) Im Jahre 1035 ließ sich Erzbischof Bezelin eine Urkunde für zwei Freimärkte im Jahr ausstellen. Der im November abgehaltene Freimarkt überlebte bis heute. Sein Standort war ursprünglich die Budenumgebung des Kirchhofes. Später wanderte er auf benachbarte Plätze, soweit diese im Besitz der Stadt waren, d.h. der Dombezirk blieb ihm verschlossen. Erst in jüngerer Zeit zog er in die Peripherie der Stadt, zuerst nach Westen (Grünenkamp), dann nach Norden auf die Bürgerweide. Die Zugehörigkeit zum Marktplatz und die historische Kontinuität werden heute durch den historischen (kleinen) Freimarkt auf dem Marktplatz sowie den mittelalterlichen Markt an der Schlachte am Weserufer markiert. (b) Bereits unter dem Vorgänger von Erzbischof Bezelin war mit dem Bau einer Mauer um den Dombezirk begonnen worden, um gegen Überfälle der Wikinger gesichert zu sein. Im Dombereich, in dem unter Adalbert (1043-1072) ein großer romanischer Dom begonnen wurde, gab es den sakralen Bereich (im Dom), der umbaut war (die enge Grenze), dann die bischöflichen Gebäude. Der ganze Dombezirk war wiederum in einer Mauer eingeschlossen. Der Markt hatte im Kern einen umfriedeten Raum für den Alltagshandel der Stadt, um den herum sich Repräsentationsbauten der Stadt, besonders das Rathaus (1405-1407) und der Schütting (Haus der Kaufleute, um 1444), gruppierten. Damit berührten sich praktisch die beiden konträren Machtzentren. Da der Erzbischof die Geschäfte in Bremen immer mehr seinem Vogt überließ und in Bremervörde residierte, war sein Bezirk dank des von Adalbert in einer Art Größenwahn errichteten Doms zwar optisch überlegen, das Geschehen in der Stadt wurde aber immer mehr vom Rat bestimmt und erzeugte ein Übergewicht der „Rats-Stadt“. Das Palatium des Erzbischofs stand direkt neben der seitlichen Front des Rathauses in Richtung Dom. Abbildung 57 illustriert die Raumkonstellation anhand einer Darstellung des Stadtkerns von 1588, d.h. vor der Erneuerung der Fassade des gotischen Rathauses (siehe dazu Kap. 9.2.3).
18 Die Kirchengemeinde ist das religiöse Fundament der Stadt, die sich als „Sakralgemeinschaft“ versteht. Gerade in der Reformation verstärkte sich dieses sakrale Verständnis der Stadt (vgl. Schmidt, 1952: 92 f.).
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Abbildung 57: Geometrische Grundkonstellation im Zentrum 1588. In diese architektonische Konstellation wurde der Roland eingefügt. Er steht vor dem Rathaus, an der Grenze der Marktmauer („Forum“ in der Darstellung oben) und blickt auf die Domfassade. Am gotischen Rathaus stehen an der Schauseite der Kaiser und die sieben Kurfürsten. Vor dem steinernen Roland (1404) gab es einen aus Holz, der 1366 bei einem Überfall von Knechten des Erzbischofs zerstört worden war. Nachdem die geflohenen Ratsherrn mit Hilfe der Grafen von Oldenburg die erzbischöfliche Besatzung überrumpelt hatten, wurden alle Zugeständnisse an den Erzbischof wieder aufgehoben. Das neue Stadtsiegel zeigt neben dem Kaiser den Hl.Petrus mit Schwert und Schlüssel. Noch deutlicher repräsentiert der Roland als Ritter des Kaisers mit Schwert, Rüstung und pelzbesetztem, goldberandetem Mantel den Anspruch der Stadt, dem Erzbischof gegenüber ebenbürtig zu sein. Die Gestaltung des Marktplatzes mit Rathaus und Schütting als repräsentativen Bauten und dem Roland als Darstellung des beanspruchten Status manifestiert eine bewusste Zeichengebung, die an den Erzbischof und seinen Anhang, aber auch an die eigenen Bürger, gerichtet ist.19 Diese Zeichensetzung war nur einmal wirklich ge-
19 Kunst (1997: 218) sieht in der Rathausfassade auch eine Antwort auf die Ansprüche der Kaufmannschaft, die sich in der Fassade des Schüttings (1594), direkt dem Rathaus am Markt gegenüber, manifestieren. Die Vertreter der Kaufmanschaft versuchten sich der Kontrolle des Rats zu entziehen und pochten auf ihre Eigenständigkeit.
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fährdet, nämlich in der Zeit der napoleonischen Besetzung.20 Das Konfliktfeld Markt – Dom blieb bestehen bis der Dombezirk aus hannoverschem Besitz (1803) in Bremer Besitz überging. Erst jetzt war die in der Figur des Rolands dargestellte Spannung aufgelöst.21 9.2.2
Der Bremer Roland oder die Polyphonie der Zeichen
Bei der Rolandstatue handelt es sich um ein Zeichen, das Teil eines komplexen Zeichengefüges und einer Zeichengeschichte ist. Die eigentliche „Geschichte“, d.h. die urkundliche Erfassung von Rolandfiguren, beginnt 1342 (vgl. Kottwitz, 1982: 7). Ab 1404 (in Bremen) wurden zerstörte Rolande durch neue, z.B. hölzerne durch steinerne, ersetzt, so dass das 15. Jahrhundert als die eigentliche Blütezeit angesehen werden kann. Nach der Konsolidierung des Rats 1404 (siehe oben) wurde ein neuer Roland vor das ebenfalls in diesem Zeitraum gebaute gotische Rathaus gestellt. Der Name und die Insignien des Rolands enthalten Verweise auf frühere Zeichenstrukturen: Der Name „Roland“ (als „Rodlan“ [Rothlandus], „Hruodlandus“) taucht in Urkunden, auf Münzen und in der fränkischen Geschichtsschreibung für einen Würdenträger im Reich Karl d. Großen zwischen 772 und 836 auf; die Sage macht ihn zum Neffen Karls d. Großen. Dies ist wohl die historische Wurzel der Rolandslegende. Der zweite Schritt der Umwandlung der Rolandsfigur erfolgte in der Literatur. Das altfranzösische „Chanson de Roland“, ein früher Typus mittelalterlicher Heldenepik, entstand zwischen 1070 und 1100. Bereits 1135 wurde es durch den Pfaffen Konrad ins Mittelhochdeutsche übertragen.22 Eine späte, in Bremen spielende Bearbeitung des Themas enthalten Wilhelm Hauffs „Phantasien im
20 Als in der Zeit der napoleonischen Besetzung Bremens der Abriss des Rolands zur Debatte stand, wurde er kurzerhand zu einem französischen Nationalheiligen uminterpretiert (vgl. die Figur der Hl. Jeanne d’Arc in Ritterrüstung). 21 1910 wurde neben dem Dom ein Reiterdenkmal Bismarcks eingeweiht. Man könnte die neue Konstellation so interpretieren, dass der 1871 zum Ehrenbürger Bremens ernannte Reichsgründer die Nachfolge des Rolands als Stütze des Reiches übernimmt. Sowohl die erste Aufstellung als auch die nach der Einmauerung im Krieg 1953 beschlossene Entmauerung waren umstritten. Das 1893 nicht weit davon aufgestellte Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm I wurde 1942 demontiert. 22 Die Heidelberger Handschrift (Codex Palatinus Germanicus 112) enthält 39 Federzeichnungen. Auf fol. 5v steht Roland als Schwertträger zur Rechten Karls des Großen (aber ohne Rüstung, da er sich im Rat befindet). Diese Funktion als rechte Hand des Kaisers, die auch mit der Bedeutung des Rechtes auf Blutsgerichtsbarkeit verquickt werden konnte, scheint der Kern der Roland-Symbolik in den Freien Reichsstädten gewesen zu sein.
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Bremer Ratskeller“ (1827), die von Max Slevogt im Hauffsaal des Bremer Ratskellers künstlerisch dargestellt sind: Der steinerne Roland steigt mit dröhnenden Schritten die Stufen zum Rathauskeller hinab: Riesengroß, mit abgemessenen, dröhnendem Schritt, ein ungeheures Schwert in der Hand, gepanzert, aber ohne Helm, trat die Gestalt ins Gemach. (Hauff, 1984: 66)
Hauff wird von Roland gefragt: Weiß man denn auch von Roland noch etwas auf der Welt und von dem großen Karolus, seinem Meister? (ibidem: 68)
In Hauffs Antwort vermischen sich Rolandslegende mit zeitgenössischen Akzenten: dem Aufstand der Griechen gegen die Türken und im Hintergrund das Einheitsstreben nach der Befreiung Deutschlands von Napoleon. Die Figur des Rolands dient als Kristallisationspunkt für immer neue Interpretationen, d.h. das steinerne Zeichen ist zwar ein feststehender, scheinbar unveränderlicher Zeichenkörper, aber seine Bedeutung verändert sich laufend (in einem Feld, das durch den Kampf um die Selbstständigkeit der Stadt definiert ist). Der Roland ist selbst nur ein Zeichen in einer Reihe weiterer Zeichen; d.h. insgesamt ergibt sich eine polyphone Zeichenstruktur im Sinne von Bachtin; siehe Lotman (1977), sowie Kap. 1.1.5. Dazu gehören: •
•
•
Das Siegel von 1366 (nach dem Frieden vom 26.09.1366). Es zeigt den Kaiser zur Rechten mit seinen Insignien und eine Figur mit Schwert und Bremer Schlüssel, dem Wahrzeichen der Stadt (die gekreuzten Schlüssel waren die Insignien des Doms St. Petri). Im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts entstanden in der Ratskanzlei eine Serie von Urkunden, mit denen die Stadt sich auf angeblich von Karl d. Großen verliehene Rechte berief, die von den Königen Heinrich V (1111), Wilhelm von Holland (1252) und Wenzel (1396) bestätigt worden waren (vgl. Schwarzwälder, 1975, Bd. I: 94) und Hägermann (1997: 25). Die Konstruktion einer direkt auf Karl d. Großen zurückverweisende Kaiserwürde wurde von Kaiser Karl IV (dem ersten deutschen Kaiser Karl seit den Karolingern, 1346-1378) wiederbelebt. Das kaiserliche Wappen auf dem Schild des Rolands ebenso wie die Figuren des Kaisers und der Kurfürsten am goti-
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schen Rathaus verstärken diese Konstruktion eines erneuerten Kaisertums, in dessen Schutz sich die Hansestadt stellt.23 Man kann diese Zeichenserie als „intersemiotisch“ bezeichnen; d.h. verschiedene Zeichentypen (freistehendes Bildnis, Siegel, Urkunden, literarische Gestaltungen) vermitteln eine ähnliche Botschaft und stützen sich gegenseitig. Das Feld der Bezüge lässt sich leicht erweitern, denn die Figur des Rolands ist mit der des antiken Herkules oder anderer Krafthelden vergleichbar. In der Renaissance wird der Herkules-Mythos als Herrschaftslegitimation erneuert.24 Der einzige Roland zu Pferd (in Haldensleben, 1528) nimmt die Tradition römischer Kaiser wieder auf, deren Privileg das Reiterstandbild war.25 Da die Selbstständigkeit Bremens (nach deren Abschaffung im Hitler-Reich und der Erneuerung nach dem Krieg) immer noch ein politisches Thema ist, hat der Roland auch 600 Jahre nach seiner Errichtung politisch nicht ausgedient. Neben dem Hauptzeichen mit den Merkmalen Schwert, Schild, Rüstung, gibt es weitere Nebenzeichen. So trägt der Bremer Roland an seiner prachtvollen Gürtelschnalle einen Laute spielenden Engel. Der Roland in Stendal (1525) hat auf der Rückseite eine Dudelsack pfeifende Figur, der Roland in Belgern (1610) hat in Hüfthöhe zwei Putten, der untergegangene Roland von Gardelegen (1564) hatte eine Eulenspiegelfigur auf der Rückseite. In diesen Fällen wurden dem kriegerisch ernsten Thema spielerische Elemente beigefügt (eventuell als Zeichenäquilibration zu verstehen), mit den Kontrasten: Kampf – Spiel, Krieg – Frieden.
23 Der Bremer Roland war ursprünglich farbig bemalt, blau an der Rüstung, rot am Mantel mit vergoldetem Saum. Die Ritterwürde wurde durch das Tragen von Pelz (rot) und Gold sowie durch die blaue Rüstung farblich angezeigt. Der Mantel trug eine Zeichnung, auf der sich Löwe und Hund um einen Knochen streiten, mit der Inschrift: „Eenem jeden dat sine.“ Dieser Spruch könnte auf die Antwort Jesus’ an die Pharisäer verweisen: „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist“ und damit auf eine Gewaltenteilung zwischen Stadt (des Kaisers) und Erzbistum (Gottes) hinweisen. Gleichzeitig ist der Ritter Roland im goldverbrämten Pelz und seiner Rüstung als ebenbürtiger Partner des Feudalherrn (des Erzbischofs) gekennzeichnet. 24 Der Roland von ZitomČĜice in Tschechien trägt eine Keule (ein Attribut des Herkules), der Roland in Perleberg (1546) zeigt am Sockel ein Relief mit Szenen der Herkules-Sage. 25 Diese Tradition wird zwischen 1890 und 1919 in Bremen mehrfach durch Reiterstandbilder wieder belebt: Kaiser-Wilhelm-Denkmal (1893), Denkmal für Kaiser Friedrich (1905), Bismarck-Denkmal (1910).
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Der Bremer Roland stand wohl zuerst wie andere Rolandfiguren vor einer Gebäudemauer, z.B. am Rathaus. Erst später (wohl 1512) wurde er vor das Rathaus in Sichtlinie zum Dom und an die Grenze zur Marktmauer gestellt.26 Die Ortsveränderung war sicher ein demonstrativer Akt; sie stellte den Roland (durch die hinzugefügte Rückseite und den Baldachin vergrößert) an den Kreuzungspunkt mehrerer Kraftlinien: Rathaus – Dom (als Zeichen der Opposition); Rathaus – umfriedeter Markt (als Zeichen der Verbindung und des Schutzes). Die Tatsache, dass am anderen Eckpunkt der Marktmauer der Pranger stand, mag die (würdevolle) Drohgebärde des Rolands konkretisiert und verstärkt haben. Insgesamt ist der Bremer Roland, wie andere Rolande des norddeutschen Raumes, eine politische Inszenierung, die aus einem Zeichenfundus schöpft, der sowohl Bildnisse und Dokumente, als auch Geschichten enthält. Der zentrale Ort, die Größe und die Ausführung in Stein führen dazu, dass das komplizierte semiotische Netzwerk, das nur für Spezialisten durchschaubar ist, in eine öffentliche, leicht „lesbare“ Form gebracht wird. Von da aus stabilisiert das Stadtzeichen die verzweigten Bedeutungsnetze und ist gleichzeitig Ausgangspunkt für immer neue Bedeutungsschöpfungen (z.B. beim einzelnen Betrachter); es ist quasi ein städtischer „Bedeutungsknoten“. 9.2.3
Die Semiotik des architektonischen Dekors und die Bildersprache der Rathausfassade
Die Schmuckformen des Bauwerks werden von Lipps (1906) als Bildkunst der technischen Kunst des Bauwerks entgegengesetzt.27 Er sagt:
26 Der Roland zeigt auf seinem Schild auch einen Text. „Vryheit do ik ju openbar de karl und mennich vorst vorwar desser stede ghegheven hat des dankt gode is min radt.“ Dieser verweist direkt auf den in Urkunden manifestierten politischen Anspruch. „Vryheit“ (Freiheit) und „karl und mennich vorst“ (Karl und mancher Fürst) sind dabei die Schlüsselbegriffe. Das Schild stammt aus dem Jahre 1512 und so mag dieser Text auch 1512 verfasst worden sein. 27 Vitruv bestimmt den Dekor im ersten Buch wie folgt (Vitruv, 1987: 39): „Decor ist das fehlerfreie Aussehn eines Bauwerks, das aus anerkannten Teilen mit Geschmack geformt ist. Decor wird durch Befolgung von Satzung, die die Griechen Thematismos nennen, oder durch Befolgung von Gewohnheit oder durch Anpassung an die Natur erreicht:“ Im Falle der Rathausfassade steht der konventionelle Aspekt, also Gewohnheit, im Vordergrund.
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Es gibt kein Mittleres zwischen technischer und Bildkunst. (…) das dekorative Bildkunstwerk kann nichts sein als ein Kompromiss zwischen diesen beiden grundsätzlich verschiedenen Welten. (ibidem: 602)
In semiotischen Begriffen liegt eine Polyphonie verschiedenartiger Zeichenformen vor. Dies wird im Falle der Bremer Rathausfassade dadurch verstärkt, dass die Bilder-Reliefs auf Stiche aus der Schule des Niederländers Floris, diese wiederum auf die Emblembücher zurückgreifen, in denen Text und Bild zusammengefügt sind. Einerseits ist die Anordnung der dekorativen Bilder dem Rhythmus der Fassade, die ebenfalls neu gestaltet wurde, untergeordnet, andererseits bilden die 48 Bildfelder eine große Schautafel, die vom Markt aus zu lesen ist. Die Fassade wirkt im Sinne von Michael Müllers „ausgestellter Stadt“ (Müller und Dröge, 2005) als Lehrbühne, Bibliothek des Wissens. Es ist kein Zufall, dass gleichzeitig in Bremen gelehrte Sammlungen entstanden, die als Grundlage des heutigen Überseemuseums dienten, d. h. die Funktion des Marktes als Ort von Ausstellungen wird spätestens im 19. Jh. durch die Gründung von Museen in der Peripherie des Stadtkerns übernommen. Die Bildersprache hat aber wie die Schrift Bedingungen der Lesbarkeit; sie setzt die Kenntnis eines dem Bild nicht immanenten Kodes voraus. Geht dieser Schlüssel verloren, so wird sie partiell unlesbar, wie alte Schriften, deren Nachfolgesprachen nicht oder nur bruchstückhaft bekannt sind.28 Da durch den Dreißigjährigen Krieg die Kultur der Spätrenaissance brutal beendet wurde, ist die Lesbarkeit der Bremer Fassade nur durch ein aufwändiges Studium der Quellen (Emblembücher, Drucke und zeitgleiche Gebäudedekorationen und Plastiken) möglich (vgl. Gramatzki, 1994). Hier liegt der Aufgabenbereich einer kunsthistorischen Ikonografie oder einer diachronen Architektur- und Kunst-Semiotik. In der Architektur der Moderne wurde der Gebäudedekor nicht nur minimiert, er wurde auch als ideologiebeladener Schwulst entschieden abgelehnt. Le Corbusier und Loos sind die bekanntesten Vertreter eines geometrisch klaren Architekturstils, aber auch Palladio und die japanische Tee-Architektur zeichnen sich bereits durch die Armut oder gar Abwesenheit des nichtfunktionalen Dekors aus. Man muss dabei allerdings den Kontext und die historischen Verschiebungen im Wirkungsfeld Gebäude – Stadt und Gebäude – Innenausstattung, sowie die Einbettung der Architektur in die Rituale des Alltags und der Festtage beachten. Die Verschiebungen der Ausstellungsfunktion der Bremer Fassade in die Innenräume von Museen, in die
28 Es bleibt natürlich der ikonische Verweis auf menschliche Figuren, Tiere und Sachen erhalten. Vgl. die Probleme bei der Dechiffrierung der Hieroglyphen, die Champollion nur gelang, weil im Nildelta noch koptische Folgesprachen existierten, die er zum Zweck der Dechiffrierung lernte (vgl. auch Kap. 2.3 und Wildgen, 2004b).
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Medien, ja, in Lehrpläne mit Bildungszielen, wurden bereits erwähnt. An die funktionale Stelle des Marktes vor dem Rathaus treten heute andere Handlungsszenarien: • •
•
Die alltägliche touristische Vorführung des Platzes, der Weihnachtsmarkt, der Kleine Freimarkt. Die organisierten Versammlungen; von Demonstrationen und Konzerten bis zu den Meisterfeiern des SV Werder. Im Innern des Rathauses finden regelmäßig Empfänge statt, einen jährlichen Höhepunkt bildet das Schaffermahl. Eine spektakuläre Variation der Fassade rund um den Marktplatz haben VideoProjektionen demonstriert. Dabei wurden neue Muster und Farben auf die Fläche unter Erhalt ihrer Gliederung projiziert.29
Die manieristische Fassade, die Lüder von Bentheim der gotischen Fassade des Rathauses auf- und davor setzte, erhält zwar die Gliederung der Arkaden, sie gestaltet jedoch die Fenster neu, fügt ein Risalit in der Mitte ein und stellt drei Prunkgiebel vor das erhöhte Dach. Im Folgenden soll ausschließlich das Bildprogramm der manieristischen Erneuerung Gegenstand der Analyse sein. Die erste Frage der semiotischen Analyse lautet: „Wer spricht hier, wer teilt sich mit.“ Die zweite ist dann: „An wen ist die Botschaft gerichtet?“ und die dritte: „Welches ist die Struktur und der Inhalt der Botschaft?“. Ein erster Überblick zum Bildprogramm der Fassade zeigt, dass sie aus mindestens acht Teilfeldern mit unterschiedlichen Themenbereichen besteht. Allein das Bildfeld der Arkadenzwickel enthält 22 Bilder, von denen wiederum jedes eine reiche allegorische Bildkonstellation darstellt. Im Gegensatz zum Roland ist diese Darstellung ein umfangreiches, klar strukturiertes Bilderbuch. Ich wende mich den drei oben gestellten Fragen zu: Wer spricht? Auftraggeber war der Rat; dessen Zusammensetzung hatte sich seit dem 14. Jahrhundert verändert. Bereits 1330 wurden Einkommenskriterien für die Wählbarkeit in den Rat eingeführt. Im vom Religionsstreit bestimmten 16. Jahrhundert (in Bremen standen sich besonders Lutheraner und Reformierte feindlich gegenüber, wobei letztere schließlich die Oberhand behielten) waren im Rat immer stär-
29 Die Semiotik von Herrschaftsarchitektur hat Dreyer (2001) anhand des Berliner Kanzleramts (2001, Architekten: Axel Schultes und Charlotte Frank) herausgearbeitet und damit die politische Dimension der Architektursemiotik skizziert.
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ker humanistisch Gebildete, besonders Juristen, vertreten. Innerhalb Bremens trug die 1528 gegründete Lateinschule zur humanistischen Bildung bei. Sie wurde 1584 um eine „classis publica“ als Vorbereitung der Fakultätswissenschaften erweitert und 1610 nach Herborner Vorbild zum „Gymnasium Illustre“ mit Standort im aufgelösten Katharinen-Kloster aufgewertet.30 Auf diesem Hintergrund kann die obige Frage beantwortet werden: Die im Rat vertretene Bildungsoberschicht der Stadt, die durch die humanistischen Religionsdiskurse, das „Gymnasium Illustre“ und das verzweigte Netz reformierter Hochschulen intellektuell geprägt war, zeichnet verantwortlich für den semiotischen Gehalt der Rathausfassade. Wer ist angesprochen? Sicher nicht die Masse der Bürger, Händler oder Besucher, für die die Figuren der Fassade ebenso unverständlich waren, wie für heutige Betrachter. Der Diskurs blieb also innerhalb der elitären Bildungsschicht. Die Fassade „sprach“ z.B. zu den Konsumenten der florierenden Buchpresse. Intertextuell bezog sich die Fassade auf die enorme Buchproduktion in Latein und in den Nationalsprachen und auf die weit verbreiteten grafischen Produkte. Sie war modernistisch in dem Sinn, dass sie dem Zeitgeschmack einer Elite huldigte. Als Vergleich mag dabei die Entwicklung in den Niederlanden (den Generalstaaten) dienen. Seit 1574 verzichtete man beim Bau der niederländischen Rathäuser auf die Bilder von Kaisern, Grafen und Bischöfen; stattdessen wurden die Wappen befreundeter Städte dargestellt.31 Große Giebel, die auch schon die Bürgerhäuser der Spätrenaissance auszeichneten, waren Pflicht (vgl. Kuyper, 1994: 230). In Leiden, das 1575 eine Universität gegründet hatte, waren van Hout und Isaac Swanenburg für die Ausführung verantwortlich. Lüder von Bentheim war ihr Steinbildmeister. Swanenburg, Mitglied des Rates in Leiden, hatte eine künstlerische Ausbildung in der Werkstadt des Frans Floris genossen. Es scheint so, als seien den Bauherren in Leiden durch eine konservative Ratsmehrheit Grenzen in der Modernisierung im Sinne des Manierismus gesetzt worden. 1595 erhielt Swanenburg die große Summe von 15 Pfund für den Fassadenentwurf (den Lüder von Bentheim ausführen sollte). Dieser wurde an die Stadt Bremen geschickt, in Leiden blieb lediglich eine Kopie. In gewissem Sinne realisierte später Lüder von Bentheim ein ähnliches Programm in Bremen und er hatte dabei freie
30 Wegen ihrer reformierten Ausrichtung konnte diese Institution das kaiserliche Privileg einer Universität nicht erlangen. Sie war aber den damaligen Universitäten (besonders den Neugründungen) ebenbürtig (vgl. Timm, 1989). 31 Auch die 22 Zwickel der Arkaden des Bremer Rathauses enthielten vor der Neugestaltung die Wappen von mit Bremen befreundeten Städten.
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Hand, seinen Manierismus architektonisch zur Geltung zu bringen.32 Die Fassade des Rathauses war also 1612 revolutionär und stellte eine ungehinderte Realisierung der geistigen und künstlerischen Ideale des späten 16. Jahrhunderts dar (vgl. zur Semiotik des 16. Jh. Wildgen, 1998a).33 Welche Botschaft, welchen Inhalt enthält die Fassade? Man kann dieses große bildhauerische und architektonische Kunstwerk aus der Distanz (etwa von der anderen Seite des Marktplatzes aus) oder im Detail, z.B. neben dem Roland vor den Arkaden stehend, betrachten. Aus der Distanz dominieren die Symmetrie und der Rhythmus des Dachs (mit drei Giebeln und Balustrade), die Fensterflächen der oberen Halle und die Arkaden vor der unteren Halle das Bild. Der Risalit mit dem großen Giebel (drei Fensterreihen) bestimmt den Gesamteindruck. Die Gliederung der Fenster hat die Ordnung 4 + 3 + 4, wobei der Risalit mit zwei Fensterreihen (à drei Fenster) die bis in die obere Rathaushalle reichende Zwischenstruktur markiert. Die einzelnen Bildfelder wirken aus der Distanz wie flächenfüllende Ornamente. Der architektonische Kontrast von Ziegelmauer und Sandstein und die Farbe des hohen Kupferdaches bilden den Hintergrund der aus der Distanz wie Ornamente wirkenden Plastiken und Reliefs. Die Fassade wirkt dadurch wie eine durchstilisierte Goldschmiedearbeit. Sie repräsentiert Reichtum und Stolz der Stadt (bzw. des auftraggebenden Rates). Die plastische Arbeit wird erst beim Herantreten sichtbar. Dabei fällt die Nacktheit der (meist weiblichen) Figuren auf, die Extravaganz der Posen, die manchmal anzüglichen Szenen. Einige Darstellungen sind heftig bewegt. Eine Frau sitzt auf dem die Tiara tragenden Mann und entwindet ihm das Schwert, wobei ihr ein Löwe zur Seite steht. Sie hält den Reichsapfel in der linken Hand, während dem Mann der Herrschaftsstab im Hinterteil steckt.34 Mag der Beschauer 1612 die triumphierende Reformation (als Personifikation der protestantischen Reichsstädte) und unter ihr kniend den Papst erkennen (die massenhaft verbreiteten Flugblätter hatten auch die
32 Van Hout scheiterte außerdem mit dem Versuch, die Literatur in der Nationalsprache an der Universität in Leiden zu etablieren (ibidem: 232). 33 Obwohl Giordano Bruno Ende des 16. Jh. in seiner Gedächtniskunst ähnliche piktoriale Ideale vertrat, stand er aufgrund seiner negativen Erfahrungen in Genf den Reformierten sehr skeptisch gegenüber. Sein Förderer in Helmstedt, Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel, war ebenfalls ein Gegner der reformierten Bewegung und griff 1569 und 1591 in die Bremer Religionsdispute ein (vgl. Schwarzwälder, 1975, Bd. 1: 253 f.). 34 Die auf dem Rücken des Mannes reitende Frau verweist auf die mittelalterliche Mär von Aristoteles und Phyllis, in der die Mätresse auf dem Rücken des Philosophen reitet.
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Religionskonflikte plakativ ins Bild gesetzt), so sind die meisten Bildfelder semiotisch so verschlüsselt, dass sie nur missverstanden werden konnten.
Abbildung 58: Psychomanien: Triumph der Majestas (links) und Triumph der Opulentia (Foto der Autor) Als Beispiel einer Fehlinterpretation mag das vierte Zwickelfeld35 von links an den Arkaden dienen, das eine Frau mit wehendem Tuch zeigt. Sie umfasst mit der rechten Hand das Nest, in dem ein Huhn ihre Küken bewacht. Die ikonologische Interpretation (vgl. Grammatzki, 1994, 90f) sieht darin eine Allegorie der Tugend „Custodia“ (Schutz) und interpretiert sie als Teil eines Emblems mit dem Sinnspruch (der Gnome): „Alit et protegit“ (Sie nährt und schützt). Damit wird eine Funktion des Stadtregiments, die Bürger zu nähren und zu schützen, im Bild dargestellt. Der gegenüberliegende Zwickel an demselben Bogen (hier nicht wiedergegeben) zeigt den zur Henne gehörenden Hahn und eine teilweise nackte Frauenfigur, die einen Hund unter dem linken Arm hält. Hahn und Hund stehen für die Tugend „Vigilantia“ (fürsorglicher Schutz). Beide Bildnisse haben Emblemcharakter (der Text fehlt allerdings) und sprechen von der Schutzfunktion der Stadt für seine Bürger.
35 Die Einpassung von Figuren in die Zwickelflächen, die jeweils einen Bogen mit den Rechteck bilden, finden wir bereits in Santa Maria dei Servi und der Casa Cogollo in Vicenza, die Palladio zugeschrieben werden (um 1531); vgl. Beltramini und Padoan (2002: 15 und 55). In näherer Beziehung zu Bremen stehen die Zwickelfiguren am Rathaus von Antwerpen (1576). Im Vergleich zu diesen ist das Figurenprogramm des Bremer Rathauses eine dramatische Steigerung.
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Abbildung 59: Allegorie der Vigilantia (wachender Schutz und Allegorie der Sobrietas (Enthaltsamkeit) (Fotos: der Autor) In der erfundenen Ursprungssage nach Wagenfeld (1845) ist das Nest des Huhnes auf der Dom-Düne ein Signal für die Stadtgründer, dass der Ort zum Bleiben und Siedeln vertrauenswürdig ist. Man könnte sagen, dass Wagenbachs Sage die Interpretationsnot der normalen Betrachter behoben hat. Allerdings bleibt bei dieser Reinterpretation die Rolle des deutlich dazugehörenden Bildes der „Vigilantia“ mit Hahn und Hund „bedeutungslos“, d.h. die Interpretation ist unvollständig.36 Ein weiterer Fall betrifft das Zwickelpaar in der siebten Arkade von links (siehe Abbildung 59 rechts). Eine nackte Frau reitet rücklings auf einem Meerestier (wohl das Phantasiebild eines Delphins) und hält einen großen Schlüssel in der Hand. Der Schlüssel – die Frau, weshalb nicht Brema mit dem Bremer Wappenzeichen? Ihr gegenüber sieht der Betrachter eine Frau mit Schreibtafel und Griffel und einem Tier (Marder/Hund) auf ihrem Schoß. In der oberen Ecke des Zwickels sind Bücher zu erkennen. Die ikonografische, auf Dokumenten des 16. Jahrhunderts fußende Interpretation identifiziert die Tugend „Sobrietas“ (Enthaltsamkeit) und damit zusammenhängend die geistige Fähigkeit der „Memoria“ (Gedächtnis). Gramatzki (1994) beruft sich für diese Deutung auf einen Emblemtext von Ripa und einen von Frans Floris entworfenen Stich. Die Enthaltsamkeit wird in diesen Quellen als Frau mit den Attributen Schlüssel und Fisch dargestellt. Der Schlüssel steht wie bei Petrus37 für den Zugang zum Himmelreich. Die Enthaltsamkeit bezieht sich vornehm-
36 Immerhin gibt es im 16. Jh. „Tierweisungslegenden“, d.h. ein Tier wird als Hinweis auf eine mögliche Stadtgründung interpretiert. Diese Bedeutung könnte demnach als KoBedeutung in Frage kommen. 37 Das Zeichen des Bremer Schlüssels kommt durch Partialisierung des Doppelschlüssels zustande. Dieser steht für den St. Petri Dom, da der Schlüssel das Attribut des Apostels Petrus ist (volkstümlich er öffnet und schließt die Himmelspforten). Die spätere Inter-
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lich auf Stolz und Hoffart. Die „Memoria“, eine besonders in der manieristischen Gedächtniskunst wichtige Eigenschaft, die auch die Basis der „Prudentia“ (Vorsicht) ist (vgl. Wildgen, 1998a: 184ff), hängt insofern mit der „Sobrietas“ zusammen, als viele Gedächtnistraktate naturgemäß Nüchternheit und ausgeglichenes (zurückhaltendes) Essen als Vorbedingung für die Ausbildung und Ausübung des Gedächtnisses empfehlen. Der schlanke Hund mag an den abgemagerten Hund in Dürers Melencholia I (1514) erinnern, er steht für die äußeren Sinne, die zurückgenommen, zur Nüchternheit gezwungen werden (vgl. ibidem: 192 und Kap. 3.3).38 Diese beiden ikonografischen Analysen mögen genügen, um zu zeigen, dass einerseits die Botschaften der in Stein gemeißelten Bilder mehrdeutig sind und dass sie selbst für den historisch gebildeten Betrachter der manieristischen Fassade teilweise ein Rätsel bleiben. Insgesamt kann man sagen, dass die forcierte Modernität der Rathausfassade verhindert hat, dass sie (für den Bürger) verständlich war. Immerhin blieb die semiotische Fernwirkung erhalten und erfüllt die Bremer Bürger bis heute mit Stolz. Die Auftraggeber der Fassade und ihre Künstler konnten allerdings nicht ahnen, dass mit dem bald einsetzenden Dreißigjährigen Krieg die Kultur der Spätrenaissance radikal zerstört werden sollte. Nachdem die intendierten Inhalte vergessen waren, blieb nur das Dekorative übrig. Immerhin sind die historischen Bedeutungen anhand intersemiotischer Verbindungen zwischen Bildmaterialien (als Skulptur oder als Druck) und Texten in großen Teilen rekonstruierbar.39 Im Prinzip sind sie auch revitalisierbar, etwa durch Führungen, Zeitungsartikel oder Fernsehsendungen. 9.2.4
Die Architektur der Hafenstadt: Kontor und Packhaus
Die Morphogenese der Hafenstadt führt zu spezifischen Architekturen. Für eine lange Zeit war die dominierende Art der kommerziellen Gebäude in Bremen durch den Fluss-Land-Gegensatz definiert, d.h. die kommerziellen Häuser und Lager-
pretation des Bremer Wahrzeichens als „Schlüssel zur Welt“ ist entsprechend eine profane Variante der Bedeutung „Schlüssel zum Himmelreich“. 38 Die Darstellung der Tugenden über den Arkaden erhält eine weitere funktionale Bedeutung dadurch, dass das Niedergericht (Marktgericht) in den Lauben tagte und sich der Pranger gegenüber den Arkaden befand. 39 Vor die Aufgabe gestellt, die Reste des Pergamon-Altars richtig zusammenzufügen, mussten die Archäologen die narrativen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Platten der Friese rekonstruieren, d.h. die narrative Struktur erlaubte erst die architektonische Rekonstruktion (vgl. auch Kap. 10.4).
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häuser standen an einer zentralen Straße (der „Langenstraße“) parallel zum Hafen / Fluss. Die beiden Teile des Komplexes waren räumlich (durch den Hof) getrennt: Lagerhaus mit den Tätigkeiten Ein- bzw. Ausladen und Zugang zum Hafen versus Privathaus mit den Kontor-Räumen. Die Aufteilung bewirkte gleichzeitig eine soziale Trennlinie zwischen Arbeitern und Händlern. Als die Schreiber und Händler zum Hochdeutschen übergingen, die Lagerarbeiter aber weiter Plattdeutsch sprachen, wurde diese soziale Trennlinie auch zu einer Sprachgrenze (vgl. Wildgen, 1986). Die Polyphonie der architektonischen und städtebaulichen Zeichen zeigt bereits eine besondere Nähe zur Sprache und Literatur. Auch in anderen Kapiteln wurde immer wieder der Bezug zur Sprache deutlich. Ich will deshalb im folgenden Kapitel auf die Sprache und die Literatur eingehen, insofern diese visuelle Eigenschaften haben oder spezifisch auf bildhafte Vorstellungen Bezug nehmen, diese in ihre Zeichenbildung einbinden. Semiotische Kernpunkte (Kap. 9) 1. Die Entstehung der Stadt entfaltet die wahrnehmbaren Angebote (affordances) des Standortes, welche die Keime einer Morphogenese /Semiogenese bilden. Die ersten Entwicklungsschritte entsprechen einer Embryogenese (Zellteilung) mit Bifurkationen. Die langfristige Entwicklung setzt diese Morphogenese fort und spezifiziert sie bis hin zu den Straßen- und Hausformen. 2. Regionale und lokale Traditionen wirken stilbildend und können sich innerhalb größerer Netzwerke durch Nachahmung (Import von Mustern) ausbreiten. 3. Die Stadt bildet ein oder mehrere Zentren aus (z.B. ein sakrales und ein profanes), die sich weiter ausdifferenzieren. Diese sind die Hauptzeichenträger der Stadt. 4. Die zentralen Plätze und Gebäude sind die Bühne einer semiotischen Inszenierung, die dem Bürger und dem Besucher in visueller Form das Selbstverständnis der Stadt oder ihrer Institutionen mitteilt. 5. Architektonische Bildprogramme sind einerseits Dekor, andererseits dokumentieren sie das politische Selbstverständnis der Stadt (bzw. ihrer Eliten).
10. Visuell-piktoriale Aspekte von Sprache und Literatur
Die Sprache hat in der Schrift eine visuelle Realisierungsform und die mündliche Sprache wird in Mimik und Gestik visuell unterstützt und ergänzt. Insofern gibt es Aspekte der sprachlichen Kommunikation, die in die visuelle Semiotik fallen. Die Sprache selbst enthält in ihrer Syntax, im Lexikon und in der Diskursstruktur implizite visuelle Aspekte. Diese manifestieren sind sowohl in sprachlichen Phänomenen, wie der erste Abschnitt zeigt, sie werden aber noch deutlicher in der Sprachkunst, d.h. in der Literatur. Es gibt visuelle Poesie und Bilder mit Textfragmenten; Dichter können auch Maler sein oder eng mit Malern zusammenarbeiten. Es gibt Künstlerbücher1, sowie die Vielfalt illuminierter Kodices und illustrierter Bücher oder im Bild kommentierter Texte. Einige Beispiele solcher Hybride von Text und Bild, von Gradwanderungen zwischen der sprachlichen und visuellen Darstellung sollen im Folgenden untersucht werden. Ich gehe dabei von grundlegenden Bemerkungen Ernst Cassirers aus.
10.1 D IE P ARALLELITÄT SYMBOLISCHER F ORMEN DEREN T RANSFORMATIONEN
UND
Cassirer hat seit etwa 1920, besonders aber in den drei Bänden der Buchreihe „Philosophie der symbolischen Formen“ von 1923 bis 1929, die Sprache (Bd. 1) neben Mythos (Bd. 2) und Erkenntnis/Wissenschaft/Mathematik (Bd. 3) gestellt. In späteren Publikationen wurden Technik und Kunst (am Rande die Ethik) als symbolische Formen spezifiziert (vgl. Sandkühler u.a., 2003: Kap. 8, 9 und 13). Alle symboli-
1
Die so genannten „Künstlerbücher“ gibt es seit den 20er Jahren des letzten Jh. Darunter versteht man sowohl zu Kunstobjekten gestaltete Bücher als auch Buchausgaben mit Illustrationen durch Künstler in streng limitierter Auflage.
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schen Formen haben dies gemeinsam, dass dem, was man gemeinhin den Eindruck der äußeren Welt nennt, etwas Eigenständiges, vom Menschen Selbstbestimmtes gegenübertritt. Unser Bewusstsein begnügt sich nicht damit, den Eindruck des Äußeren zu empfangen: Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft. (Cassirer, 1922: 175 f.)
Der Aspekt: Selbstständigkeit oder Autonomie betrifft in gewissem Maße schon die (aktive) Wahrnehmung, das Gedächtnis und natürlich Spiel und Traum, die für Piaget die Übergangszonen zum Symbolischen sind. Die Wahrnehmung bildet spätestens ab der Phase des stabilen Objektbegriffs Invarianten, extrahiert aus dem ständigen Fluss multisensorieller Eindrücke prägnante und wiederkehrende Gestalten und das Gedächtnis sortiert die Eindrücke nach Mustern begrenzter Komplexität (vgl. die Idee der „magischen“ Zahl 7 ± 2 bei G.A. Miller, 1956). Zeitfenster der Wahrnehmung erlauben strukturierte Gedächtniseinträge (vgl. die 30 msec und 3 sec Verarbeitungsfenster nach Pöppel, 1994). Die symbolischen Formen kodifizieren das auf der Ebene der präsymbolischen Verarbeitung Geschaffene, und zwar nach Cassirer gleich in einer Vielfalt von „symbolischen Formen“, die jeweils eigene Gesetzmäßigkeiten (trotz der gemeinsamen Basis) haben und besonders im Fall von Kunst und Technik vom Material, an dem die symbolische Form gestaltet wird, wesentlich abhängen. Für die Sprache stellt die Schrift seit mehreren Jahrtausenden ein institutionell gesichertes visuelles Medium der Kommunikation dar, das wie die Nachfolgemedien im Computerzeitalter sehr spezifische Anforderungen und Leistungen beinhaltet. Da die symbolischen Formen eine gemeinsame Basis, die Symbolfähigkeit des Menschen haben, gibt es auch Transformationen zwischen symbolischen Formen, sowie eine Verlust/Gewinnbilanz bei diesen Umformungen. Tabelle 7: Beispiele für Transformationen Rituell inszenierter oder in All tagshandlungen wirksamer Mythos
Religiöser Text, der zuerst in der mündlichen Überlieferung und dann als schriftlicher Text fixiert wird.
Sprache (z.B. biblische Erzählung)
Bild zu einer Passage des biblischen Berichts, eine Bibelillustration oder ein Tafelbild biblischen Inhalts.
Realisierung des Prototyps mit den verfügbaren Materialien.
Konstruktionsidee einer Maschine (bildhaft, schematisch)
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Bei allen Übergängen: von der Vielfalt momentaner Sinneseindrücke zur Wahrnehmung, von der Wahrnehmung zur Erinnerung, von der Erinnerung zum Symbol und dessen Materialisierung im wahrnehmbaren Zeichen oder im handhabbaren Artefakt (womit sich ein erster Kreis schließt) und schließlich bei den Transformationen zwischen symbolischen Formen, ist die Stabilität ein entscheidendes Selektionskriterium. Sie hängt mit Rekurrenz des Gleichen, Ähnlichen und der Konstanz über Zeitfenster und mit Komplexitätsniveaus zusammen. Cassirer nannte als zentrale Qualität die symbolische Prägnanz, René Thom hat eine mathematisch motivierte Theorie der Prägnanz vorgeschlagen, vgl. Kap. 1.1.6. Die einzelnen symbolischen Formen haben ihre eigentümliche Prägnanz, d.h. sie betreffen unterschiedliche sensorische und motorische Felder, sie realisieren aber auch verschiedene Typen von Ordnung. Die seit Jahrzehnten geführte Debatte zum Ikonismus in der Sprache ist ein deutlicher Beleg für die ikonisch-sensorischen Qualitäten von Sprache (vgl. Haiman, 1985 und als Überblick Nöth, 2000: 329-331). Ich will im Folgenden exemplarisch nur die Symmetrieeigenschaften von Sprache und Bild (Objekt) vergleichen und einige bildhafte Textgestaltungen kommentieren.
10.2 S YMMETRIE IN SPRACHLICHEN F ORMEN IM V ERGLEICH ZU B ILDERN Symmetrien drängen sich als natürliche Eigenschaft nicht unbedingt dem Betrachter auf. Die Landschaft, die Berge, Flüsse, Meeresufer oder Seeflächen sind meist nicht symmetrisch. Nur sehr spezielle natürliche Formen haben klassische Symmetrieeigenschaften. In einer etwas launischen Neujahrsschrift untersuchte Kepler 1611 nicht nur die sechseckigen Schneekristalle, sondern auch den Bau der Bienenwaben, die Füllung des Granatapfels, die Blütenstruktur von Blumen u.Ä. Bei der Frage nach den Ursachen dieser Symmetrien in der Natur kommt Kepler schnell darauf, dass hier gewisse Funktionen optimiert werden, z.B. die reguläre Packung von Körpern in einer Kugel. In seinen späteren Schriften beharrte er auf einer universellen Harmonie der Natur, wobei er die musikalischen Harmonien als Bezugspunkt nahm. 2 Heute wissen wir, dass Keplers harmonische Ordnung der Planeten nur eine Momentaufnahme darstellt, einen Augenblick der Ruhe, dem turbulente Situationen vorausgingen und die auch wieder durch solche abgelöst wird. Im Bereich der menschlichen Wahrnehmung
2
Neben rationalen Proportionen, etwa 1:2, 1:3, 1:5, gibt es in der Natur häufig irrationale Proportionen, für die z.B. der Goldene Schnitt charakteristisch ist. Auch sie gelten als harmonisch.
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hat bereits Leonardo das Entstehen von Ordnung aus „verworrenenen und unbestimmten Dingen“ beschrieben. Er empfahl dem Maler sich längere Zeit Flecken an Wänden, Baumstrünke und Erdklumpen anzusehen, bis sein Geist daraus Gestalten bilde. In einigen Bildern hat er auch die Verworrenheit erfasst. Eine Konsequenz der phantastischen Bildungsprozesse sind auch Monster, die er etwa in Zeichnungen der Windsor-Manuskripte ausführt (vgl. Hahn, 1989: 84). 3 Paul Klee hat ebenfalls die Form als Ergebnis einer Genesis gesehen, wobei der Prozess wichtiger sei als das Resultat (vgl. ibidem: 84f). Symmetrie steht damit immer im Kontext von Symmetriebruch oder gar von Chaos und Zufall. Ich will mich im Folgenden der Symmetrie und dem Symmetriebruch widmen. Bei der Symmetrie bleibt der wesentliche Bezugspunkt die Geometrie der regulären Vielecke (Polygone) und Vielflächler (Polyeder). Rein geometrisch haben die regulären Vielecke und die regulären (platonischen) Körper (neben Kreis und Kugel) die optimalen Symmetrieeigenschaften. In Fällen, wo die Symmetrie für natürliche Systeme zur Optimierung wichtig ist, treten deshalb auch reguläre Flächen und Körper auf. Ein Folgeproblem der Symmetrie ist die Füllung einer Fläche oder eines Raumes mit regulären Flächen bzw. Körpern; sie wird in der Fläche Parkettierung, im Raum dichte Packung genannt. Im einfachsten Fall werden gleichseitige Dreiecke, Quadrate, Sechsecke usw. zusammengefügt und ergeben eine reguläre Parkettierung bis ins unendlich Große (das Universum) und das unendlich Kleine (das Minimum). Die Fläche, der Raum kann aber auch durch die Kombination einer Anzahl verschiedener, aber zueinander passender regulärer Flächen, Körper gefüllt werden (vgl. Rucker, 1987: 103-118). Da die Symmetrie für viele visuellen Formen relevant ist, stellt sich die Frage: Gibt es diese Symmetrien nicht nur im Visuellen sondern auch in der Sprache? Das Axiom der Linearität der Sprache bei de Saussure schließt dies zwar nicht aus, begrenzt die Möglichkeiten aber drastisch auf lineare Symmetrien (vgl. zur Dimensionalität von Sprache und Bild, Wildgen, 2006b). Falls die Sprache linear oder dominant linear ist, was ich nur vorläufig akzeptiere, sind nur Spiegelungen an einem Punkt als Symmetriemerkmale möglich, z.B. die bekannten Palindrome, d.h. Äußerungen, die von links gelesen dieselbe Buchstabenfolge haben, wie von rechts gelesen. Beispiele (siehe Wikipedia. Liste deutscher Palindrome): Wörter: Rotor, Rentner, Sätze: Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie. Ein Esel lese nie
3
Die aktuellen, durch Computeranimationen und Spezialeffekte angereicherten BlockBuster-Filme (z.B. die Filmserien nach Tolkien-Romanen) sind voll von phantastischen Figuren, die erschreckend hässlich sind.
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Komplexer ist das Wort-Quadrat. Bei Ausgrabungen wurde das unten gezeigte Wort-Quadrat z.B. in Pompeji gefunden und man nimmt einen Bezug zum MithrasKult an. Außerdem gibt es christliche Verwendungen als Hochzeitsspruch und magische Zauberformeln, welche sich des Quadrats bedienen. Diese Nützungen zeigen, dass diese sprachliche Struktur als sehr ungewöhnlich angesehen wurde. Tabelle 8: Wort-Quadrat S
A
T
O
R
A
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E
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O
T
E
N
E
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O
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E
R
A
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O
T
A
S
d.h. der Sämann (sator), Arepo (Eigenname) lenkt (tenet) mit Umsicht (opera) den Wagen (rotas).4 Bereits 1898 hatte Peirce in einem Manuskript zum Thema: „Existentielle Graphen. Ein System des logischen Ausdrucks“ eine weitreichende Hypothese formuliert, nach der Pronomina (er, sie, dieser, jener), die ihrerseits für die Zeigegeste (Deixis) stehen können, jene Kerne darstellen, die dann sukzessiv expandiert werden, z.B. ein Pronomen zu einem Nomen (oder zu einem Eigennamen) wie in: er ĺ der Junge ĺ Hans-Friedrich und zur Nominalgruppe (ĺ der älteste Sohn des Dorfschullehrers). Die Symmetrie-Eigenschaften ergeben sich aus der schalenartigen Anreicherung des Ausgangspunktes (vgl. Peirce, 1986: 349ff). Die Dominanz eines Elements der Wortarten: Nomen, Verb, Adjektiv, Adverb, in vielen syntaktischen Gruppen wird von manchen modernen Grammatiken zum allgemeinen Prinzip erhoben (vgl. die X-bar Syntax und das Kopfprinzip). Die Grund-Kategorie bildet ein Zentrum, um das sich die obligatorischen oder fakultativen „Anreicherungen“ nahezu symmetrisch gruppieren. Die Art der Anordnung unterscheidet die Sprachen typologisch. Die symmetrische Anordnung von Nomen-Erweiterungen schafft eine Analogie zu den symmetrischen Blattstellungen von Pflanzen, wie sie z.B. Wolfgang Goethe Anfang des 19. Jh.s als Urtypus (Urpflanze) beschrieben hat und verweist auf natürliche Wachstumsprozesse und Verzweigungen (vgl. Wildgen, 1983). Die Links-Erweiterungen des Nomens: Baum können sein: der, große, alte
4
Es gibt weitere Symmetrie-Eigenschaften des Quadrats, so bildet TENET („hält“) ein Kreuz im Zentrum.
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… Rechts-Erweiterungen sind etwa: mit knorrigen Ästen oder Relativsätze: der vielen Stürmen widerstanden hat.5 Die Erzählstruktur im Text und Film zeigt ebenfalls symmetrische Züge, so entsprechen sich häufig Anfang und Schluss und der Höhe- oder Wendepunkt liegt annähernd in der Mitte der Episode oder des Textes. Manche stark ritualisierte Texte, etwa die von Propp untersuchten russischen Zaubermärchen oder die Grimmschen Märchen (vgl. Wildgen, 1999a: 247-251 für eine morphodynamische Analyse des Märchens Rumpelstilzchen) sind durch Symmetrieeigenschaften und Wiederholungs-Zyklen (meist im Dreierschritt) gekennzeichnet. Es gibt aber eine große Variation von Formen, welche diese regulären Muster überdecken. Als erstes Fazit dieser Analyse kann man sagen, dass ähnlich wie in der natürlichen unbelebten und belebten Welt Symmetrien in der Sprache zwar vorkommen, aber nicht die allgemeine Regel darstellen. Auffallend ist die Bedeutung gebrochener Symmetrien. Dies legt nahe, dass Symmetrie ein Gestaltungsmerkmal von Sprache unter mehreren ist.6 Zwischen visueller Kunst und Poesie sind Gebilde angesiedelt, die einen Text in eine geometrische oder bildhafte Form bringen. Die ägyptischen Grabinschriften verbinden Bild und Text in dekorativer Weise, was auch dadurch nahegelegt wird, dass die Hieroglyphen die bildhaften Ursprünge der Schrift besonders gut bewahrt, deren visuellen Ursprung quasi konserviert haben. Bildhafte Schrift und Bilder sind in ein Wandformat eingepasst und ergänzen sich gegenseitig; die Leserichtung der Schrift wird dabei der Bildordnung angepasst. Im Falle des kretischen Textes (in Linear B) können wir die Schrift zwar nicht entziffern, aber die grafische Anordnung auf dem in Kreta gefundenen Diskos von Phaistos ist klar zu erkennen, denn der Text (um 1650 v. Chr.) ist spiralförmig auf einer Scheibe angebracht. Von der Antike bis zur Moderne finden wir Texte in grafisch gestalteter oder in Bildform (vgl. Adler und Ernst, 1988). Weniger auffällig und deshalb häufiger sind in Bilder eingefügte Texte. Programmatisch wurde die Collage von Text und Bild im Surrealismus und in der Dada-Bewegung fortgeführt, wobei besonders wider-
5
In ihrer Dynamik ist die Sprache, und dies zeigt die Valenzproblematik deutlich, eher nicht symmetrisch aufgebaut. Lediglich reflexive Verben wie sich lieben sind symmetrisch. Dies hängt mit der Nichtlinearität der Ereignisschemata zusammen, die der Verbsemantik zu Grunde liegen (vgl. Wildgen, 1982 und 1994).
6
Die Symmetrie ist nur in den syntaktischen Beispielen streng linear. Sowohl die Phonologie als auch die Semantik betrifft höherdimensionale Räume, so dass mit zwei- oder drei-dimensionalen Symmetrien und deren Brechung zu rechnen ist. Zur Thematik der Dimensionalität von Sprache siehe Wildgen (2006b).
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sprüchliche Beziehungen faszinierten, so wenn Margritte in dem Bild: La trahison des images (der Verrat der Bilder; 1928-29) unter das Abbild einer Pfeife schreibt: Ceci n’est pas une pipe (Dies ist keine Pfeife). Für eine Vielzahl von Beispielen siehe Judi Freeman (1990). Im Theater und Film ist die Verbindung von Wort und Bild zwar selbstverständlich, beinhaltet aber auch Konflikte und Redundanzen (vgl. Kap. 7.3).7 In der Sprachkunst, der Literatur ist die Wiederherstellung der Bildhaftigkeit, die in der Grammatik quasi verloren gegangen ist, eine immer wieder aufgenommene Zielsetzung (siehe den Begriff des Natursymbols, den Goethe in einen Brief an Schiller im August 1797 erwähnt).8 Der visuelle Aspekt literarischer Formen verbirgt sich aber meist hinter der vorherrschenden Diskursivität der Literatur. Ich will dennoch versuchen, an ausgewählten Beispielen die Existenz und die Relevanz visueller oder visuell motivierter Gestaltungen herauszuarbeiten.
10.3 B ILD
UND
B ILDLICHKEIT
IN DER
L ITERATUR
Die Frage nach den grundlegenden Unterschieden zwischen einer piktorialen und einer sprachlichen Repräsentation wurde in Kap. 1.2.2 erörtert.9 Jenseits kognitiver Unterschiede gibt es aber auch eine Konkurrenz zwischen den Kunstdisziplinen Li-
7
Eine Besonderheit stellen Kunstbücher mit reichen Illustrationen dar. Im Kunstbuch wirken häufig die Kommentare wie Zierrat. Krause und Niehr (2007: 16) führen die Tradition stark illustrierter Sachbücher auf die Enyclopédie zurück, deren Aufbau D’Alembert in seinem Vorwort von 1751 begründete. Sie enthielt über 600 Kupferstiche. In der Tendenz konnte alles zum Bild werden; die modernen Hypertexte sind nur eine Konsequenz davon.
8
In der mündlichen Sprache sind Körpersprache und Gestik in natürlicher Weise „zeichnend“ (vgl. die Forschungen zum gestischen Erzählen bei McNeill, 1992), die Stimmqualität kann die Botschaft quasi-musikalisch akzentuieren und das gleichzeitig im Gesichtsfeld von Sprecher und Hörer Befindliche kann in die Kommunikation durch ein Zeigen mit der Hand oder dem Blick mit einbezogen werden. In seiner Sprachtheorie erwähnt der Psychologe Bühler neben den Symbolfeld und Zeigfeld auch ein Malfeld, denkt aber primär an eine Lautmalerei, die lediglich „ein Präludium zur Lehre vom Symbolfeld“ sei (Bühler, 1965: 153).
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Aus der Perspektive der Linguistik wurden die Interaktionen zwischen Text und Bild in zahlreichen Arbeiten thematisiert; vgl. etwa die Arbeiten zu einer Bildlinguistik in Große (2009) und Diekmannshenke, Klemm und Stöckl (2011) oder zum Bild- und Zeichenbegriff in Schlaberg (2011).
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teratur versus Malerei, wobei die Vorherrschaft der Literatur und der Literaturkritik klassisch ist. Schließlich konnte der Künstler, der mit dem Wort hantierte, die öffentlichen Interessen seiner Gilde effektvoller vertreten. Der bildende Künstler war viel stärker von seinen Auftraggebern abhängig und später von der Akademie oder den Malschulen bevormundet. Im 17. und 18. Jh. orientierte sich die Malerei noch weitgehend an der Literatur und wurde dadurch gehemmt. Die Musik dagegen konnte sich frei von einer solchen Bevormundung prächtig entwickeln. Im 19. Jh. durchbrach die Malerei diese Beschränkung und es entstand die moderne MalKunst (vgl. die Bemerkungen von Clement Greenberg, wiedergegeben in: Harrison und Wood, 1993: 557). Das Ideal des freien Künstlers wurde später zugespitzt zu einer „Kunst für die Kunst“ (l’art pour l’art). Damit einher ging ein neuer Lebensstil, der sich in der „bohême“, der Ablehnung des bürgerlichen Lebensstils und der vom Geld dominierten Gesellschaft ausdrückte und die Figur des verdammten Künstlers hervorbrachte. Für die Malerei hat Manet (mit anderen abgelehnten Künstlern) diesen Kampf ausgefochten. Zola unterstützte diese Befreiungsbewegung und er ging sogar weiter, indem er die Literatur aus der bürgerlichen Beschaulichkeit der feinen Salons emanzipierte und aus ihr ein Instrument der Gesellschaftskritik machte, sie zu einer Art Sozialwissenschaft emporhob (denn nach 1850 wurde die Wissenschaft zur Leitkultur; vgl. die kunstsoziologische Analyse in Bourdieu, 1992: Kap. 2). Diese gemeinsame Emanzipationsbewegung von Literatur und bildender Kunst begünstigte parallele Semiotisierungen, die im Folgenden untersucht werden. Ich werde mich damit begnügen auf der phänomenalen Ebene Unterschiede festzustellen und diese am Werk eines befreundeten Paares von Maler (Manet) und Dichter (Zola), in einem Roman von Theodor Fontane sowie an den Arbeiten und Äußerungen des Dichter-Malers, Hermann Hesse, untersuchen. Auf die alte und grundlegende Beziehung zwischen Text und Illustration (Illumination) im Heldenepos gehe ich im letzten Abschnitt ein. 10.3.1 „Nana“ als Bildsujet von Manet und als Romansujet bei Zola Das Thema der „femme fatale“, die eine starke Macht auf die Phantasie und das Leben der Männer in der feinen Gesellschaft ausübt, hat sowohl Manet als auch Zola fasziniert. Es ist im malerischen Werk von Manet und den Romanen von Zola zentral vertreten. Im Jahre 1879 veröffentlichte die Zeitung „Voltaire“ den Text der „Nana“ von Zola als Fortsetzungsroman, 1880 erschien der Roman als Buch. Bereits zwei Jahre zuvor, im Jahr, als Zola den Roman „L’Assommoir“ veröffentlichte, hatte Manet das Bild mit dem gleichen Namen „Nana“ gemalt.
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Abbildung 60: Edouard Manet, Nana 1877, Kunsthalle Hamburg Es zeigt eine Schöne, die gerade ihre Toilette beendet, beobachtet von einem Herrn im Gehrock und Zylinder. Das Gemälde wurde von der Jury im Jahr 1877 zurückgewiesen und dem Publikum in den Auslagen des Hauses Giroux gezeigt. Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob Szenen im Roman „L’Assommoir“ von Zola (publiziert 1877), die bereits die Figur der „Nana“ beschreiben, das Gemälde motiviert haben oder Manets Gemälde Zolas späteren Roman „Nana“. Aber die Atmosphäre von Manets Gemälde ist in einer Szene von Zolas „Nana“ (Kapitel V) wiedergegeben, wo Nana, während einer Pause zwischen den Akten, den Prinzen, den Marquis und ihr wichtigstes Opfer, den Grafen Muffat in ihr Boudoir eintreten lässt. Die Szene im Gemälde entspricht recht gut der des Romans (vgl. Zola, 1968: 155f. oder in der Übersetzung Zola, 1975: 185). Nachdem sie sich mit der Hand Coldcream auf Arme und Gesicht gestrichen hatte, verrieb sie die weiße Fettschminke mit Hilfe eines Handtuchzipfels. Einen Augenblick hörte sie auf, sich im Spiegel zu betrachten; sie lächelte und ließ einen Blick zum Prinzen hinübergleiten, ohne von der weißen Fettschminke abzulassen. „Eure Hoheit verwöhnen mich“, murmelte sie. Es war eine umständliche Verrichtung, der der Marquis mit dem Ausdruck seligen Genießens zuschaute. „Könnte das Orchester Sie nicht gedämpfter begleiten?“ meinte er. „Es übertönt Ihre Stimme. Das ist ein unverzeihliches Verbrechen.“
292 | P IKTORIALE ASPEKTE Diesmal drehte sich Nana gar nicht um. Sie hatte die Hasenpfote genommen und fuhr ganz aufmerksam leicht mit ihr hin und her, so über den Toilettentisch gebeugt, dass die weiße Rundung ihrer Hose mit dem weißen Hemdzipfel hervortrat und sich spannte. Doch sie wollte sich für das Kompliment des Greises empfänglich zeigen und bewegte sich, in den Hüften wiegend, hin und her.
Ein weiteres Gemälde von Manet (1878) zeigt das Modell Marguerite, das Manet in einem sehr „impressionistischen“ Stil, d.h. als eine schnelle Skizze des momentanen Eindrucks malte. Das Gemälde zeigt die starkbusige Blondine, nackt, in einer naiven Haltung. Es erinnert uns an eine anderen Stelle bei Zola: Dann knöpfte sie in gelassener Schamlosigket ihr kleines Perkalleibchen auf … Der Prinz folgte mit halbgeschlossenen Augen als Kenner den schwellenden Linien ihrer Brust, während der Marquis de Chouard unwillkürlich den Kopf schüttelte. (ibidem: 190)
Der Unterschied zwischen dem „Sprachbild“ und dem gemalten Bild ist offensichtlich. Manets Gemälde ist eine Komposition, die man mit einem Blick erfassen kann. Der Roman ist dagegen eine riesige Lesestrecke (ca. 400 Seiten bei 40 Zeilen). Die Zitate, welche die Szene beschreiben, bilden nur einen winzigen Bruchteil dessen, was die Kapitel über den zentralen Charakter der „Nana“ enthalten. Der Roman endet übrigens mit der Beschreibung der sterbenden Nana. Das Bild zeigt sie dagegen lediglich in ihrer vollen Blüte und Gesundheit; d.h. das Bild ist ein eingefrorener Augenblick, der Roman die Darstellung einer Entwicklung, welche (leicht moralisierend) die Schönheit der Kurtisane zerstört. Der Roman schließt mit der Beschreibung ihres Gesichtes: Es war ein Beinhaus, ein Haufen von Säften und Blut, eine Schaufel verdorbenen Fleisches, das dort auf einem Kissen hingeworfen war. Die Blattern hatten das ganze Gesicht überschwemmt, und eine Pustel berührt die andere; und welk, verfallen, von schmutziggrauem Aussehen, ähnelten sie bereits dem Schimmel der Erde auf diesem unförmigen Brei, auf dem die Gesichtszüge nicht mehr wiederzufinden waren.(ibidem: 606)
Die politische und gesellschaftliche Botschaft ist im Roman mindestens ebenso wichtig wie die Schilderung von Personen und Situationen. Für den Maler scheint diese Dimension zumindest Ende des 19. Jh. unerreichbar; wir haben aber im Kapitel zu Beuys gesehen, dass auch die Bildende Kunst in die politische Debatte eingreifen kann. Der Tod, ja die Verwesung Nanas am Ende des Romans ist nicht Zolas letztes Wort. Der Roman endet mit dem Aufruf: „Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!“. Die sterbende, ja verwesende Nana kann für das 1870 sterbende Kaiserreich Napoleon des III und die Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg stehen, wie Zola in einem Brief später eingesteht (vgl. Schober, 1975: 627).
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Der Text hat eine thematische Struktur, die viel tiefer und gleichzeitig einfacher ist als das Bild. Er verfügt quasi über ein organisatorisches Schema, das alle Details integriert, die der Autor in der Lage ist anzuhäufen. Wir wissen, dass Zola mit der Akribie eines Forschers Aufzeichnungen gemacht hat und dass diese Aufzeichnungen, zu denen auch andere Personen beigetragen haben, dann in die Struktur der literarischen Arbeit umgewandelt wurden. Eine der thematischen Tiefen-Strukturen beinhaltet, dass Nana „eine Art von glühender Kapelle“ ist. Im Zentrum eines „Tabernakels“ liegt die „weibliche Sexualität“, und „um sie herum eine Masse von Männern, unterworfen, ruiniert, ausgeleert, verblödet“ (nach: Guillemin, 1960: 15). In seinen Arbeitsnotizen konstatiert Zola: „Eine ganze Gesellschaft stürzt sich auf c.“; „Ein Rudel hinter einer Hündin her“ (ebd.). Manets Gemälde könnten dieses zentrale Thema des Romans darstellen, d.h. es beschreibt eher eine Archi-Thematik als bestimmte Szenen des Romans. Man kann also einerseits das Bild als die Illustration einer Szene des Romans begreifen; andererseits kann das Bild die Gesamtintention des Romans zusammenfassen, ihr einen pointierten Ausdruck verleihen. 10.3.2 Die Romanfigur als Spiegel ihrer Umwelt Zola konfrontiert in dem Roman Le ventre de Paris (Der Bauch von Paris) die Figur des aufmüpfigen, revoltierenden, verfolgten, mageren Florent mit der zufriedenen, fetten Metzgersfrau Lisa. In einer Passage beschreibt er Lisa in ihrem Metzgerladen, inmitten der Waren. In den Spiegeln des Ladens scheint die Frau mit ihren Wurst- und Fleischwaren zu verschmelzen. Der Mensch ist das Produkt seiner Umwelt, seiner Arbeit würde Marx sagen. Ich möchte zeigen, wie Zola die beiden Bildwelten, die Beschreibung der Person und die Beschreibung des Metzgerladens zusammen komponiert (vgl. Wildgen, 1999a: 232 - 238 für eine ausführlichere Analyse in Französisch). Da erschien sie ihm [Florent, W.W.] über den Fleischwaren auf dem Ladentisch. Vor ihm waren auf weißen Porzellanschalen angeschnittene Arleser und Lyoneser Würste zur Schau gestellt, Zunge und Stücke gekochtes Pökelfleisch, Schweinekopfsülze in Gelee […] ; das Weiß ihrer [Lisas, W.W.] Schürze und ihrer Ärmel bildete die Fortsetzung vom Weiß der Platten bis zu ihrem üppigen Hals, ihren rosigen Wangen, wo die zarten Farbtöne der Schinken und die Blässe der durchscheinenden Fette wieder auflebten. […] beunruhigt durch diese untadelige Selbstsicherheit, musterte Florent sie schließlich verstohlen in den Spiegeln rings im Laden. […] Er verweilte und fand Gefallen besonders bei einem ihrer Profile, das er neben sich in einem Spiegel zwischen zwei halben Schweinen sah [… ] und Lisas Profil mit seinem starken Hals, seinen runden Linien, dem vorstehenden Busen stand wie das Bildnis einer genudelten Königin inmitten dieses Specks und dieses rohen Fleischs. (Zola, 1965: 113-115, deutsche Fassung Zola, 1974:108f)
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Die beiden zentralen Figuren des Romans befinden sich im gleichen Raum und der von der Gefangeneninsel geflohene Florent betrachtet Lisa in ihrer kleinen Welt. Nachdem das Bild der Frau und ihres Ladens in wenigen Zügen dargestellt wurde, fallen Florent die nahtlosen Übergänge zwischen Fett und Fleisch im Laden und Lisas Körperformen und -farben auf. In den Spiegeln vervielfältigt sich Lisas Bild und wie in den Kompositbildern Arcimboldos (vgl. Kap. 3.4) verbinden sich Schweinehälften und Lisas Körperformen. Man kann sagen, der Autor lässt vor den Augen des Lesers (aus der Perspektive von Florent) die Allegorie einer in sich ruhenden Frau des Kleinbürgertums erscheinen, die zum Abbild ihrer kleinen Welt, des Metzgerladens; des Milieus der Pariser Markthallen (des Bauches von Paris) wird.10 Die einzelnen Substantive und Adjektive zeichnen zwar kein Bild im Zweidimensionalen, aber durch das Nebeneinander und das Spiegeln wird doch ein visueller Effekt erzielt, der einprägsam ist. 10.3.3 Symbolische Raumstrukturen in Theodor Fontanes Roman Effi Briest Theodor Fontane (1819-1898) war, bis er nach 1892 begann Romane zu schreiben, als Journalist, Kriegsberichterstatter und Reiseschriftsteller hervorgetreten. Diese Vorgeschichte sowie die Tradition des Realismus im Französischen Roman (seit Stendhal, 1783-1842) und die des Naturalismus bei Zola mögen erklären, weshalb Fontane seinen Romanen eine präzise Planung von Orten (Ortsnamen), Reisen, räumlichen Beziehungsmustern zugrunde legt. Im Roman Effi Briest (1896 publiziert) können sowohl Handlungsorte als auch Personen geografisch und historisch identifiziert werden. Der Leser kann also für ihn sichtbare, erfahrbare Orte seinem Textverständnis zugrunde legen, sich darauf beziehen (er muss es aber nicht). Allerdings bemüht sich Fontane gleichzeitig diese Bezüge zu verfremden und dadurch einen allzu direkten, ja trivialen Bezug zu verhindern. Er hebt die Orte und Personen ins Allgemeine, ohne aber eine (lose) Verankerung in der Realität aufzugeben. Diese Strategie wird uns bei Hermann Hesse erneut begegnen, insbesondere im Übergang vom autobiographisch inspirierten Roman Unterm Rad zu den späteren Romanen Narziss und Goldmund und Glasperlenspiel (siehe den nächsten Abschnitt). •
Für das Schloss Hohen-Cremmen, wo Effi Briest ihre Kindheit verbringt und auch stirbt, scheint das Schloss Zerben (Gemeinde Elbe-Parey) als Vorbild ge-
10 Siehe zum Thema „Bilder in Texten“ Hess-Lüttich und Rellstab (2012, anhand von Flaubert, Proust und Melville).
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dient zu haben. Entsprechend hat sich dort inzwischen ein Fontane-Tourismus entwickelt. 11 Vorbild für den Ort Kessin, wo Effi die ersten Ehejahre verbringt, ist wohl Swinemünde. Die Ortsnamen Kremmen und Kessin gibt es außerdem wirklich, sie stimmen aber nicht mit den Romanorten überein. Fontane hat also die im Roman beschriebenen Orte und deren Namen dissoziiert, obwohl beide eine Verankerung in der Realität besitzen. Die Hauptfigur und ihr Schicksal hat Fontane auch zu großen Teilen einer realen Begebenheit entnommen. Die reale Figur hieß Elisabeth von Plotho und der Name Briest kommt ebenfalls als Adelsname in der Region vor. Die reale Figur stirbt aber nicht tragisch; sie wird vielmehr 98 Jahre alt (Effi Briest nur 28).
Zusätzlich zu diesen der Realität entnommenen Versatzstücken ist aber eine gezielte Gestaltung der Räume, ihrer Architektur und Ausstattung in Hinblick auf die Romanhandlung und die Hauptinhalte zu beobachten. Dabei spielt die Ortsbeschreibung besonders zu Beginn und am Ende des Romans eine große Rolle. Ich werde die Analyse auf diese beiden Passagen beschränken. Beginn des Romans: In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz in kleinblättrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen weißgestrichenen Eisentür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angekettetem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing – die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar mächtige alte Platanen.
11 Allerdings wurde auch das Schloss Nennhausen in Brandenburg vorgeschlagen, das der Wohnsitz der realen Familie von Briest war. Auf beide Vorschläge treffen allerdings nicht alle Charakterisierungen Fontanes zu.
296 | P IKTORIALE ASPEKTE Auch die Front des Herrenhauses – eine mit Aloekübeln und ein paar Gartenstühlen besetzte Rampe – gewährte bei bewölktem Himmel einen angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem Rücken ein paar offene, von wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren vier Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenflügels hinaufführten. Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/4446/1
Die Schilderung des Ortes ist so genau, dass eine Skizze des Anwesens angefertigt werden kann.12 Viele Details laden aber zu einer weitergehenden Interpretation ein: Die Schaukel zwischen Teich und Park ist ein Hinweis (unter anderen) auf Effis Lebenslust und Unbeschwertheit, die sich auch in ihrer Liebe zum Tanz ausdrückt. Das Rondell mit der Sonnenuhr und dem Heliotrop mag für Effis Streben zum Licht, zu Sonne, ihre Angst vor der Dunkelheit stehen. Der geborgene Innenraum, von drei Seiten durch Gebäude, eine Mauer und ein Tor umgeben und nur zum Teich hin (in gefährlicher Weise) offen, ist der Ort der glücklichen Jugend, den sie zur Hochzeit mit dem Major Innstetten verlassen muss und ist später der Ort ihrer Rückkehr zum Tode. Die Platanen mögen, wie dies andere Abschnitte des Romans andeuten, für das Gewicht der Tradition stehen. Damit sind die Grundthemen des Romans schon in der Ortsbeschreibung angelegt (als Keime für spätere thematische Entwicklungen).13 Am Ende des Romans wird auch die Ortbeschreibung wieder aufgenommen; jetzt liegt eine Marmorplatte neben dem Heliotrop. Es war einen Monat später, und der September ging auf die Neige. Das Wetter war schön, aber das Laub im Park zeigte schon viel Rot und Gelb, und seit den Äquinoktien, die die drei Sturmtage gebracht hatten, lagen die Blätter überallhin ausgestreut. Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit gestern eine weiße Marmorplatte, darauf stand nichts als „Effi Briest“ und darunter ein Kreuz. Das war Effis letzte Bitte gewesen: „Ich möchte auf meinem Stein meinen alten Namen wiederhaben; ich habe dem andern keine Ehre gemacht. „ Und es war ihr versprochen worden. Ja, gestern war die Marmorplatte gekommen und aufgelegt worden, und angesichts der Stelle saßen nun wieder Briest und Frau und sahen
12 Im Internet gibt es mehrere grafische Rekonstruktionen anhand der Textpassage. Siehe etwa: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hohen-Cremmen_4334a.JPG 13 Erst nachträglich stieß ich auf eine viel ausführlichere Interpretation dieser Passage in Wanieck (1982). Dort werden auch andere Romaneröffnungen zum Vergleich herangezogen.
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darauf hin und auf den Heliotrop, den man geschont und der den Stein jetzt einrahmte. Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/4446/36
Fontane konstruiert den Raum des Romans wie ein Dramaturg, ein Filmregisseur. Er verwendet dazu Versatzstücke der Realität, womit er dem Erfahrungsraum des Lesers entgegenkommt und gleichzeitig eine Kohärenz der Raumstruktur garantiert. Diese Technik hatte bereits Emil Zola zur Perfektion gebracht und damit einen sozialwissenschaftlichen Anspruch verbunden (Literatur als Sozialwissenschaft). Dies liegt Fontane fern; er bevorzugt eine distanzierte, quasi-neutrale Position als Erzähler, hält sich sowohl politisch als auch moralisch bedeckt. Dies mag an seinem Alter, dem im Deutschland entwickelten bürgerlichen Realismus in der Literatur oder an den politischen Verhältnissen in Deutschland, die Fontane als Journalist und Berichterstatter bestens kannte, liegen. Auffällig ist jedenfalls, dass diese Teilverankerung und die geschickte Raumarchitektur nicht unwesentlich zum Erfolg dieses Romans, der auch mehrfach verfilmt wurde, beigetragen haben.14 Fontane selbst äußerte sich zum Wert einer realistischen Beschreibung: Eine Sonne auf- oder untergehen, ein Mühlwasser über das Wehr fallen, einen Baum rauschen zu lassen, ist die billigste literarische Beschäftigung, die gedacht werden kann […] Die Landschaftsschilderung hat nur noch Wert, wenn sie als künstlerische Folie für einen Stein auftritt, der dadurch doppelt leuchtend wird, wenn sie den Zweck verfolgt, Stimmungen vorzubereiten oder zu steigern. Fontane (1963: 206f)
Diese Strategie ist durchaus auch für den im folgenden Abschnitt behandelten Autor, Hermann Hesse charakteristisch.15 Bei ihm kommt noch hinzu, dass er selbst gemalt hat und sein Malen und Schreiben reflektiert hat. Ich werde deshalb auf seine Arbeiten etwas detaillierter eingehen als auf Theodor Fontanes.
14 Es gibt fünf Verfilmungen. Besonders bekannt ist die Schwarz-weiß-Verfilmung durch Rainer Fassbinder. Der vollständige Titel des Films lautet: „Fontane Effi Briest oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen“. Erscheinungsjahr 1974. 15 Natürlich sind einprägsame Verbildlichungen in der Literatur Tradition, ebenso wie deren symbolische Aufladung (Waniek, 1982 spricht von „disguised symbolism“). Siehe die Analyse von Brunos Irrwanderung in London in seinem Dialog Das Aschermittwochsmahl (1584) in: Wildgen (1998a: 29-34) und (2011: 32-39).
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10.3.4 Bild und Text in einigen Werken von Hermann Hesse Außer intertextuellen Bezügen zwischen Bildern (visuell wiedergegebenen Weltausschnitten) und Texten, wie sie oben exemplarisch dargestellt wurden, gibt es aber auch relativ häufig Maler, die dichten und Dichter, die malen, d.h. Doppelbegabungen, bei denen sich selbstverständlich die Frage stellt, wie sich ihre dichterische Kreativität und Kunst zu der malerischen verhält und wie sie selbst diese Konkurrenz, diesen Konflikt erleben. Ich will exemplarisch für eine große Anzahl solcher Fälle die Problematik anhand von Hermann Hesse (1877–1962) untersuchen. Zuerst betrachte ich, wie Hesse zentrale Orte (seines Lebens und seiner Romane) anschaulich, d.h. visuell nachvollziehbar, beschreibt. Seine literarische Technik ist durchaus mit der von Fontane praktizierten vergleichbar. Das Korpus von Texten Hermann Hesses enthält drei Romane, die als zentralen Ort eine (Art) Klosterschule haben: •
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„Unterm Rad“ (1903–1904 geschrieben, 1906 veröffentlicht). Diese Erzählung ist rekonstruierbar biographisch und der Ort ist identifiziert, das Kloster Maulbronn. Selbstmord beging allerdings Hermann Hesses Bruder Hans Hesse (die Figur im Roman heißt auch Hans). „Narziss und Goldmund“ (1930). Der Roman spielt vor der Reformation und hat als zentralen Ort das Kloster Mariabronn. Da die Klosterkirche in Maulbronn vor der Reformation der Jungfrau Maria geweiht war, ist der Hinweis des Namens ebenso deutlich wie die Analogien in der Beschreibung des Klosters. „Das Glasperlenspiel“ (ab 1930/31 begonnen, 1943 veröffentlicht). Wichtige Orte des Protagonisten Josef Knecht sind die Ordensschulen Eschholz und Waldzell („ein einstiges Zisterzienserkloster“). Knecht wird schließlich zum katholischen Kloster Mariafels (evtl. Sils Maria im Oberengadin) geschickt. Außerdem gibt es Beschreibungen des Klosters Maulbronn in: Schweizerland (1920, erneut: Beschreibung einer Landschaft; Hesse, 1990); Gedichte (1914: „Maulbronn“), in: Hesse (1977); Geheimnisse. Letzte Erzählungen (Hesse 1964): 1954. Ein Maulbronner Seminarist.
Ich will jene Aspekte des Werkes, bei denen ein Designat, direkt oder indirekt, mit ausreichender Sicherheit festzustellen ist, von den Metamorphosen, den Mischungen, den symbolischen „Aufladungen“ unterscheiden. In diesen Umwandlungen, Ausarbeitungen wird auch die piktoriale Basis, die bildhafte Konkretheit aufgelöst. Besonders aufschlussreich scheint mir der Übergang vom Designat zur Rekombination von einzeln noch designierenden Elementen zu einem Ganzen, dem diese
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Eigenschaft nicht mehr zukommt, zu sein.16 Exemplarisch mögen dafür die Eigennamen sein: Maulbronn designiert eine raumzeitliche Entität, Mariabronn teilt zwar Eigenschaften mit Maulbronn (wie die Namensanalogie andeutet), könnte aber in der langen Kette der Zisterzienserklöster ein x-beliebiges sein; außerdem hat Hesse die Zeit um ca. 500 Jahre zurückgesetzt. „Eschholz“ hat weder Namensbestandteile mit Maulbronn gemeinsam noch architektonische Einzelheiten. Dennoch bleibt die Analogie: Klosterschule – Ordensschule als Invariante erhalten und ist bedeutsam.17 Ich will im Folgenden hauptsächlich die Übergänge untersuchen. Ansetzen möchte ich bei der Beschreibung des Klosters am Kapitelbeginn im Roman: Unterm Rad (die Nummerierung stammt vom Autor und dient dem Verweis im Text unten): 1. Im Nordwesten des Landes liegt zwischen waldigen Hügeln und kleinen stillen Seen das große Zisterzienserkloster Maulbronn. 2. Weitläufig, fest und wohl erhalten stehen die schönen alten Bauten und wären ein verlockender Wohnsitz, denn sie sind prächtig, von innen und außen, und sie sind in den Jahrhunderten mit ihrer ruhig schönen, grünen Umgebung edel und innig zusammengewachsen. 3. Wer das Kloster besuchen will, tritt durch ein malerisches, die hohe Mauer öffnendes Tor auf einen weiten und sehr stillen Platz. 4. Ein Brunnen läuft dort, und es stehen alte ernste Bäume da und zu beiden Seiten alte steinerne und feste Häuser und im Hintergrunde die Stirnseite der Hauptkirche mit einer spätromanischen Vorhalle, Paradies genannt, von einer graziösen, entzückenden Schönheit ohnegleichen. 5. Auf dem mächtigen Dach der Kirche reitet ein nadelspitzes, humoristisches Türmchen, von dem man nicht begreift, wie es eine Glocke tragen soll. 6. Der unversehrte Kreuzgang, selber ein schönes Werk, enthält ein Kleinod, eine köstliche Brunnenkapelle; das Herrenrefektorium mit kräftig edlem Kreuzgewölbe, Oratorium, Parlatorium, Laienrefektorium, Abtwohnung und zwei Kirchen schließen sich massig aneinander. 7. Malerische Mauern, Erker, Tore, Gärtchen, eine Mühle, Wohnhäuser umkränzen behaglich und heiter die wuchtigen alten Bauwerke. 8. Der weite Vorplatz liegt still und leer und spielt im Schlaf mit dem Schatten seiner Bäume; nur in der Stunde nach Mittag kommt ein flüchtiges Scheinleben über ihn.
16 Vgl. die Analysen zu den Kompositbildern Arcimboldos in Kap. 3.4.2. 17 Man könnte den Vergleich auf das See-/Fluss-Motiv oder auf Personen (Figuren und Figuren-Paarungen) ausdehnen (vgl. Curtius, 1950: 210 ff.).
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9. Dann tritt eine Schar junger Leute aus dem Kloster, verliert sich über die weite Fläche, bringt ein wenig Bewegung, Rufen, Gespräch und Gelächter mit, spielt etwa auch ein Ballspiel und verschwindet nach Ablauf der Stunde rasch und spurlos hinter den Mauern. 10. Auf diesem Platz hat schon mancher gedacht, hier wäre der Ort für ein tüchtiges Stück Leben und Freude, hier müßte etwas Lebendiges, Beglückendes wachsen können, hier müßten reife und gute Menschen ihre freudigen Gedanken denken und schöne und heitere Werke schaffen.
Abbildung 61: Kloster Maulbronn vom Hof aus gesehen mit Kirche, Reiter, Dormitorium und Paradies (Foto: der Autor) und Lageplan Aus einer piktorialen Perspektive wird zuerst ein Bild von oben (aus der Vogelperspektive) gezeigt; diese Perspektive kann man leicht bei einem kurzen Spaziergang in Maulbronn nachvollziehen, da sich das Kloster in einer Senke befindet. Als Nächstes wird ein Besuchsweg durch das Kloster beschrieben, der allerdings ab der Aufzählung (Satz 6) unbestimmt wird. Auch Satz 7 ist nicht eindeutig wegspezifisch; immerhin könnte man aus der Abtwohnung ins Freie treten und die Umgebung betrachten. Die Sätze 8/9 verlassen deutlich die Besucher-Perspektive; mit den Schülern wird ein kurzes narratives Moment eingeführt und der Irrealis in Satz 10 verankert die Text-Passage in der Stimmung des Gesamttextes. Obwohl also ein Bezug zum Designat und zur (biografischen) Zeit gegeben ist, wird die Darstellung durch den Perspektivenwechsel, die Übergänge zur narrativen Sequenz (8/9) und das Coda vom objektiven Designat, dem Kloster Maulbronn, ab-
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gelöst und sie verweist auf ein implizit vorhandenes Designat, den Betrachter, den Schreiber, d.h. die Romanfigur Hans (indirekt den Autor, Hermann Hesse). Die Funktion des Repräsentierens, Wieder-Präsent-Machens ist nur noch ein Aspekt, eventuell aber ein für die Dynamik des Werkes zentraler Aspekt, wie Hesse 1951 (Idem, 2008: 352 f.) selbst hervorhebt: … ob geglückt oder nicht, das Buch enthielt doch ein Stück wirklich erlebten und erlittenen Lebens, und solch ein lebendiger Kern vermag zuweilen nach erstaunlich langer Zeit und unter völlig anderen, neuen Umständen wieder wirksam zu werden und etwas von seinen Energien auszustrahlen.
Daraus kann man folgern, dass der Übergang vom einer objektiven Designat (das etwas Spezifisches, Reales präsent macht) zu dessen subjektiver Umgestaltung, der Organisation als fiktive Wirklichkeit nicht ohne ein gewisses Risiko, einen Verlust an lebensweltlicher Verankerung, an leiblicher Vergegenwärtigung vor sich geht. Bedeutungen sind grundlegend verleiblicht, wie die phänomenologische Semantik und die kognitiven Grammatik (vgl. Wildgen, 2008: Kap. 3) inzwischen vielfältig nachgewiesen hat. Sie können sich aber über metonymische und metaphorische Prozesse davon lösen. Das Kloster „Mariabronn“ ist Ausgangs- und Endpunkt des Schicksals von Goldmund, der aus dem Kloster flieht und alt und gebrochen zurückkehrt; für Narziß ist es der Ort des beständigen Daseins. Der Eingang des Klosters wird zuerst sehr knapp beschrieben: Vor dem von Doppelsäulchen getragenen Rundbogen des Klostereingangs von Mariabronn
Mehr Bedeutung erhält der Kastanienbaum im Hof, der als Sinnbild für den „Fremdling“ Goldmund steht: … in geheimer Verwandtschaft mit dem schlanken sandsteinernen Schmuckwerk der Fensterbögen, Gesimse und Pfeiler, geliebt von den Welschen und Lateinern, von den Einheimischen als Fremdling begafft. (S. 7)
Beide Motive, das Klostertor und die Bäume, sind auch in Unterm Rad (vgl. Satz 3 und 4) genannt worden. Richtig thematisiert wird das Kloster erst vom zurückkehrenden Goldmund: Aber es kannten ihn die Bäume des Hofs, es kannten ihn die Portale und Fenster, die Mühle und das Wasserrad, die Fliesen der Gänge, die welken Rosenbüsche im Kreuzgang, die Storchennester auf Kornhaus und Refektorium. Es duftete aus jeder Ecke der Vergangenheit seine Jugendzeit ihm süß und rührend entgegen … (S. 278)
und zwar aus der Perspektive der Erinnerung und des künstlerischen Sachverstandes.
302 | P IKTORIALE ASPEKTE Er sah und fühlte die Maße dieser Bauten, die Gewölbe der Kirche, die alten Malereien, die steinernen und hölzernen Figuren auf den Altären, in den Portalen, und obwohl er nichts sah, was nicht auch damals an seinem Ort gewesen wäre, sah er doch jetzt erst die Schönheit dieser Dinge und den Geist, der sie geschaffen hatte. (S. 279)
Das Dargestellte wird zum Gedächtnisort, d.h. Inhalte, Werte, Gefühle werden, wie in der antiken und neuzeitlichen „ars memoriae“, den Orten und Dingen angeheftet. Die so konstruierten Entitäten werden zur Organisationsstruktur des Gedachten, Gefühlten. Sie konstituieren Gedächtnisorte, an denen Subjektives, Gedachtes, Imaginiertes festgemacht werden. Dieses kann, selbst bei einer weitgehenden Dekonkretisierung, als schematische Konstruktion für Inhalte nicht-räumlicher oder zeitlicher Natur benützt werden.18 Diese Art der Kombinatorik führt uns direkt zu Hesses „Glasperlenspiel“. Es gibt drei Klosterschulen in diesem Roman, in denen Josef Knecht seine Bildung erfährt („Josef Knecht“ ist ein Gegensatz-Name zu Goethes „Wilhelm Meister“): • •
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„Waldzell“, ein altes Zisterzienserkloster, das Knecht – ähnlich wie Hesse Maulbronn – durch das Südportal betritt. „Eschholz“ ist die eigentliche Ausbildungsstätte des utopischen Ordens der Glasperlenspieler und damit ein Gegenentwurf zu Maulbronn (mit vielen Ähnlichkeiten, wie meine Analyse zeigen wird). „Mariafels“ ist ein Benediktinerkloster, in dem Josef Knecht als Botschafter seines Ordens verweilt.
Ich gehe nur auf „Eschholz“ näher ein, um die Metamorphose des Motivs in der Utopie zu analysieren (die Nummerierung stammt vom Autor und dient der Analyse). (1)
Eschholz war die größte und die jüngste Schulsiedlung von Kastalien, die Bauten alle
aus neuerer Zeit, keine Stadt in der Nähe, nur eine dorfähnliche kleine Niederlassung, eng von Bäumen umstanden. (2)
Dahinter entfaltete sich weit, eben und heiter die Anstalt, um ein großes freies Rechteck
angelegt, in dessen Mitte, geordnet wie die Fünf auf einem Würfel, fünf stattliche Mammutbäume ihre dunklen Kegel in die Höhe trieben.
18 Dass die Inhalte der Gedächtnisstruktur wandern und selbstorganisiert neue Effekte hervorheben können, hat bereits Giordano Bruno in seiner Schrift „De imaginum, signorum et idearum compositione“ 1591 klar gemacht (vgl. Wildgen, 1998a: 179-190).
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Der riesige Platz war teils mit Rasen, teils mit Sand bedeckt und nur von zwei großen
Schwimmbassins mit fließendem Wasser unterbrochen, zu welchen breite flache Stufen hinabführten. (4)
Beim Eingang zu diesem sonnigen Platz stand das Schulhaus, das einzig hohe Gebäude
der Anlage, zweiflügelig mit je einer fünfsäuligen Vorhalle an jedem Flügel. Alles übrige Bauwerk, das den ganzen Platz ohne Lücke von drei Seiten umschloß, war ganz niedrig, flach und schmucklos, in lauter gleichgroße Glieder geteilt, deren jedes mit einer Laube und einer Treppe von wenigen Stufen auf den Platz mündete, und in den meisten Laubenöffnungen standen Blumentöpfe.
Die Anlage ist modern, streng geometrisch. Dennoch stellt sie eine Art Metamorphose des Klosters Maulbronn dar. Ausgehend von Versatzstücken der Schulerinnerung wird ein Idealort konstruiert: • • •
die „alte(n) ernste(n) Bäume“ werden zu „fünf stattliche(n) Mammutbäume(n)“ der „weite Platz“ wird zum „riesigen Platz“ die „spätromanische Vorhalle“ wird zu „je einer fünfsäuligen Vorhalle“
Die Verwandlung hat eine Tendenz: Vergrößerung, Regularisierung, perfekte Ordnung, die der Gesamttendenz der Utopie entspricht.19 Außerdem ist diese Ordnung der Proportionen, die Harmonie der Formen, Bestandteil des Glasperlenspiels, das nach dem Prinzip einer (universalen) musikalischen Sprache organisiert ist (vgl. Solbach, 2012: 243f). Die Motivverwandlungen bilden außerdem einen biographischen Zyklus. Er beginnt 1891, als Hesse am 4. Oktober in einem Brief schreibt: Auch bietet das ehrwürdige Kloster mit seinen alten Kreuzgängen einen schönen Anblick. Besonders schön ist die alte Kirche.
Er endet eventuell 1954, als Hesse (in Hesse, 1964) rückblickend eine Begebenheit schildert, die sich wohl 1910 in Maulbronn zutrug. Ein Schüler, begeisterter Leser von Unterm Rad, das in Maulbronn zur verbotenen Lektüre zählte, entdeckt Hesses Signatur in seinem Lesepult. Er verlässt (wie damals Hesse) die Schule und wird 1939 von den Nationalsozialisten in eine Nervenanstalt geschickt, wo er auch stirbt. Die Länge des Motivzyklus beträgt somit 63 Jahre. Die Beständigkeit des Motivs
19 Der utopische Bau mag eine Vorahnung der Gigantomanie des 20.Jh. sein, die sich sowohl in den Bauten der großen „Führer/Duces“ wie Hitler und Mussolini, als auch in vielen neuen Metropolen zeigt. Man sollte allerdings bedenken, dass der Roman 1943 verzögert publiziert wurde und vor der Hitler-Herrschaft konzipiert worden war.
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hängt wohl mit der Natur des episodalen (und biographischen) Gedächtnisses zusammen. Intensiv erlebte, folgenreiche und frühe Ereignisse bilden besonders energiereiche Gedächtnisorte. Als solche werden sie auch zum Sammelpunkt vieler, neuer Inhalte und reorganisieren diese. Sie können sogar zur allegorischen Figur werden, welche in abstrakter Weise der geistigen Orientierung dient (vgl. zur Allegorie die Kap. 3.3, 3.4 und 10.3.6). Der Dichter wird dann zum Mystiker, siehe Solbach (2012: 295). Im Folgenden will ich weiter am Beispiel Hermann Hesses das Verhältnis von Bild und Sprache analysieren. Ich mache mir dabei die Tatsache zu Nutze, dass Hesse nicht wenig Mühe in die Herstellung von Aquarellen verwandt und sich auch als Malender beschrieben hat.20 10.3.5 Hermann Hesse als Dichter und Maler Hermann Hesse begann im Ersten Weltkrieg mit dem Malen und Zeichnen. In den Jahren 1916-1917 war er noch ein Übender. Nach 1919 bemalte er im Tessin Hunderte von Blättern „mit kleinen, expressionistischen Aquarellen, hell und farbig, sehr frei der Natur gegenüber, aber in den Formen genau studiert“ (notiert nach Hesse in Michels, 1982: 77). Der Malstil ist durch die Arbeiten besonders von Macke inspiriert, den Hesse, vermittelt durch Louis Maillet, kennen gelernt hatte.21 Diese Tätigkeit wird Hesses schriftstellerische Arbeit fortan begleiten und er reflektiert in einigen Texten sein Malen und Zeichnen. Dabei thematisiert er die Differenz und Ähnlichkeit von piktorialen und sprachlichen Repräsentationen. Ich möchte zwei Passagen der Text- und Bildersammlung „Magie der Farben“ analysieren. Der erste Text heißt Ohne Krapplack; Ich habe den Text in drei Abschnitte: A, B und (weiter unten) C zur Verdeutlichung meiner Analyse unterteilt. A: Kaum bin ich in einen kleinen Wiesenfußweg eingebogen, wo im Schatten eines Rebenhügels das Gras noch triefend naß vom Tau steht, da ruft mich schon ein Bild an, das unbedingt gemalt werden muß, so schön und geheimnisvoll strahlend blickt es mich an: ein alter Baumgarten, der mit Eiben, Palmen, Zypressen, Magnolien und vielem Gebüsch steil den
20 Im ersten Weltkrieg waren es eher kleine Illustrationen zu eigenen Texten, die teilweise seinen Lebensunterhalt sicherten; später wurde daraus ein zweites Zentrum seines Schaffens. 21 In Montagnola lebte längere Zeit auch der Maler Hans Purrmann (1880-1966), der sein Ölgemälde: Blick auf den Luganer See vom Balkon der Casa Camuzzi aus gemalt hat. Nahebei lag das Zimmer von Hesse. Dieser war mit Purrmann befreundet und widmete ihm das Gedicht: Alter Maler in der Werkstatt; vgl. Netzer, Bd. VI: 228f.
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Berg hinan strebt, wie Flammen steigen, mit leicht gebogenen, nadelspitzen Wipfeln, die Zypressen in den Himmel, und unten brennt in dem Meer von dunklem Grün ein grellrotes Hohlziegeldach mit entzückenden, zackigen Schatten, und hoch oben aus dem schlafenden Garten- und Baumparadies blickt zart und kokett ein helles Landhaus mit scharfen Schattenkanten. Eigentlich passt es mir gar nicht, mich schon hier, beinahe noch im Dorf, aufzuhalten, und mir im hohen Grase nasse Füße zu holen, aber da ist nun nichts zu machen, das rote Dach, und der Schatten unterm Kamin, und die paar tiefen, mysteriösen Blau im Laubmeer der Terrasse lassen mich nicht los, das muß ich malen.
B: Und ich lege den Rucksack ins Gras und packe aus, die Malschachtel, den Bleistift, das Papier, ich lege den Karton auf meine Knie und fange an aufzuzeichnen, das Dach, den Kamin mit dem Schatten, die Hügellinie, die hohe, strahlende Villa, die dunklen Raketen der Zypressen, den besonnten, lichten Kastanienstamm, der so wunderbar im tiefen Blauschatten des Gehölzes schimmert. Bald bin ich fertig, es kommt mir heute nicht auf Kleinigkeiten an, bloß auf die Farbflächen. Andere Male wieder kann ich mich auch ins Kleine und Einzelne verlieren und die Blätter am Baum abzählen, aber heute nicht! Heute kommt es mir bloß auf die Farbe an, auf dies satte, schwere Rot des Daches, auf alle die Blaurot und Violett darin, auf das Herausleuchten des lichten Hauses aus dem Baumdunkel. (ibid., 32-36)
Hesse beschreibt das „Bild, das unbedingt gemalt werden muß“ und das ihn „anblickt“, d.h. seine visuelle Aufmerksamkeit wird gefangen, sein Geist will sich des Bildes bemächtigen. Im Text beschreibt er das Bild, das er gleich malen sollte (zum Zeitpunkt des Schreibens aber schon gemalt hat). Die Farben sind wie in einem Farbkasten durch das sprachliche Lexikon vorgegeben: dunkles Grün
grellrot
(Schatten)
hell
rot
blau
Die sprachliche Palette ist, im Vergleich zu einer realen, dürftig und das Spiel der Kontraste, der Farbtönungen muss durch Attribute und Bestimmungswörter wiedergegeben werden: dunkles Grün, grellrot. Aber es wird ja nur der erste Eindruck beschrieben, es fällt immerhin auf, dass die nominalen Gruppen in der Beschreibung des Sujets überwiegen und viel spezifischer sind, als später die Farbflächen des Bildes: Die Abbildung 62 zeigt ein Aquarell, das annähernd der obigen Beschreibung entspricht, sowie ein Foto von Hesse beim Aquarellieren.
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Abbildung 62: Aquarell von Hermann Hesse (1919; decourtenay.blogspot.com) und Hesse beim Aquarellieren (http://www.hhesse.de/werk.php?load=klingsor) • • • • • •
alter Baumgarten mit Eiben, Palmen, Zypressen, Magnolien viel Gebüsch (Zypressen) mit leicht gebogenen, nadelspitzigen Wipfeln Hohlziegeldach Landhaus, Kamin, Laubmeer, Terrasse
Fast scheint es, als müsse die Sprache die Unterlegenheit im Farbbereich durch Objektbezeichnungen kompensieren. Betrachtet man jedoch Hesses Bilder, sieht man gleich, dass die Vielfalt unterschiedener, allerdings nicht genau charakterisierter Objekte in den Bildern größer ist. Der Prozess des Malens wird im zweiten Absatz beschrieben. In der Beschreibung tauchen zusätzlich die Hügellinie, der Kastanienstamm, das Gehölz auf. In Absatz C kämpft Hesse mit der Vervollständigung des Bildes, wobei er den fehlenden Krapplack kompensieren muss. C: Und machte mich daran, den Krapplack zu ersetzen. Ich nahm Zinnober und mischte ein wenig von einem Blaurot hinein, und als das mit allem Mischen nicht die ersehnte Farbe geben wollte, tönte ich die Umgebung des Daches aus dem Blauen mehr ins Gelbgrüne, um wenigstens den Kontrast herauszukriegen. Und ich mischte, verbiß mich, strengte mich an und vergaß den Lack, vergaß die Fremden, die Literatur, die Welt, es gab nichts mehr als den Kampf mit diesen paar Farbflächen, die miteinander eine ganze bestimmte Musik ergeben mussten. Und schließlich war mein Blatt vollgemalt, eine Stunde war vergangen.
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Die piktoriale Repräsentation ist zuerst eine scheinbar von der Landschaft ausgehende Aufforderung an den Betrachter (in A), bevor eine skizzenhafte, interne Repräsentation entsteht. Um diese zu sichern, sich ihrer zu bemächtigen, wird in einem von der Palette, der Maltechnik, dem Können (insgesamt dem piktorialen Kode) bestimmten Malprozess eine externe Repräsentation erzeugt. Dabei arbeitet nicht nur die Hand, sondern auch das Auge, das beides, die Landschaft und das entstehende Bild, betrachtet, vergleicht, memoriert usw. Die piktoriale Repräsentation entfaltet sich in der Auseinandersetzung mit dem Malprozess (und der wiederholten visuellen Analyse der Landschaft). Dem ganzen Prozess liegt eine intentionale Präferenz zu Grunde: Heute kommt es mir bloß auf die Farbe an. … Andere Male kann ich mich auch ins Kleine und Einzelne verlieren. (B)
Wir können in dieser Selbstreflexion Hesses deutlich verschiedene Schichten der piktorialen Repräsentation erkennen. • • • •
Die (evtl.) vorgefasste Intention, Malen oder Zeichnen, Farbflächen oder Details. Die skizzenhafte, erste Repräsentation, die zum Malen und Betrachten „auffordert“.22 Die Elaborationsphase, in der Betrachten (Auge) und Malen (Hand) koordiniert werden. Die Abhängigkeit der zeichenhaften (externen) Realisierung der piktorialen Repräsentation von einem System von Bedingungen (am Fehlen des Krapplacks verdeutlicht).
Den Ablauf kann man sich ähnlich bei der verbalen Repräsentation vorstellen, insbesondere beim Schreiben, wo die Hand an die artifiziellen Bedingungen (z.B. der Orthographie) gebunden ist. Beim Sprechen ist diese Instrumentalität nur scheinbar aufgehoben, da die Sprache erlernt werden muss und (besonders in der Fremdsprache) ebenso unterschiedlich gut beherrscht wird wie das Malen und Zeichnen. In einem weiteren Text, den ich nur kurz kommentieren will, zeigt Hesse die prinzipielle Instabilität der piktorialen Repräsentation, insbesondere in ihrer zeitraubenden Ausführung „denn plötzlich war das Bild verändert“. Während Hesse den
22 Wie wichtig gerade das erste Stadium ist, zeigt sich in der Fotografie. Nádas (2012: 19) schreibt: „Die Komposition dürfe nichts anderes sein als erhöhte, bis zum Äußersten ausgekostete Wahrnehmung.“ Worauf es ankommt ist: „Was dazwischen liegt, d.h. nach der Wahrnehmung und vor der Kenntnisnahme“.
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Kellereingang zeichnet, wird die Tür geöffnet und eine Person tritt ins Freie. Die piktoriale Darstellung müsste jetzt zur Bilderserie, zum Film erweitert werden und das sprengt den technischen Repräsentationsrahmen des Zeichners. Der wesentlich schnellere und dynamischere Wahrnehmungsprozess hat damit natürlich kein Problem, im Gegenteil, er spricht auf Bewegtes besonders gut an und ignoriert eher das Unbewegte. Hier trennen sich deutlich die originäre, perzeptuelle, piktoriale Repräsentation und deren künstlerische Ausarbeitung. Dasselbe könnte wohl auch für den (literarischen) Text gelten, der eine Zeit absorbierende Sorgfalt erfordert, die ihn aus der realen Zeit herausschneidet. Die Unterschiede zwischen dem visuellen und dem verbalen Modus liegen nicht so sehr in den grundlegenden, perzeptuellen Prozessen, sondern in den Elaborationstechniken, die in den Bereichen der zeichnerisch/malerischen Gestaltung und der Textgestaltung grundlegend verschieden sind. 10.3.6 Hesses Versuch einer Synthese von Bild und Text Im Jahre 1922 schickte Hesse Romain Rolland ein illustriertes Manuskript mit dem Titel „Piktors Verwandlungen“. Die Fassung, die Hesse seiner späteren Ehefrau Ruth Wenger geschenkt hat, wurde schließlich veröffentlicht (Hesse, 1982). Hesse selbst sagt, dass Bild und Text nicht zu trennen sind und keines den Vorrang hat. Er schreibt an Rolland: Ich möchte Ihnen hier etwas zeigen … ein neues Märchen, wobei Text und Bilder nicht zu trennen sind … Sie sehen aus diesem Ding …, was meine Malversuche meinen, und wie Malerei und Poesie für mich zusammenhängt.
Das erste Aquarell steht in Zusammenhang mit dem ersten Abschnitt. Kaum hatte Piktor das Paradies betreten, so stand er vor einem Baume, der war zugleich Mann und Frau. Piktor grüßte den Baum mit Ehrfurcht und fragte: „Bist du der Baum des Lebens?“ Als aber statt des Baumes die Schlange ihm Antwort geben wollte, wandte er sich ab und ging weiter. Er war ganz Auge, alles gefiel ihm so sehr. Deutlich spürte er, dass er in der Heimat und am Quell des Lebens sei.
Wenn wir uns das Aquarell aus „Piktors Verwandlungen” (Hesse, 1982: Faksimile III) ansehen, wird deutlich, dass hier das Bild nicht die Realisierung eines Gesehenen, Betrachteten, visuell Analysierten mit den Mitteln (im Kode des Malens) ist, sondern dass eine abstrakte Konzeptualität verbildlicht wird. Das Emblem, die Allegorie sind klassische Formen gemalter Konzeptualisierungen. Generell gilt, dass die Illustrationen der Texte zur visuellen Semiotik gehören, die literarischen Texte dagegen zur Literatursemiotik. Heute sind literarische Texte für Erwachsene meist nicht illustriert (aber Kinderliteratur); sekundär kann aber jede literarische Vorlage im visuellen Medium als Foto, Bild oder Film neu gestaltet werden. Die in Kap. 7.3 und Kap. 7.4 untersuchten Filme verweisen auch auf literarische Vorlagen. Be-
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vor die breite Bevölkerung lesen konnte, wurden die mündlich weiter gegebenen religiösen Texte durch Bilder und Skulpturen (auch Mysterienspiele) verstärkt, die häufig den Hauptbezugspunkt des Glaubens bildeten. Alle Religionen vor den Schriftreligionen waren auf Bilder, Skulpturen und rituelle Inszenierungen angewiesen.
10.4 D IE I LLUSTRATION (I LLUMINATION ) MYTHISCHER H ELDENFIGUREN Das Thema des Helden, der Heldin durchzieht die ganze kulturelle Tradition von der mündlichen Überlieferung, zur literarischen Gestaltung bis in die Welt der Bilder und des Films. Dabei wird die Thematik an unterschiedliche machtpolitische Kontexte angepasst. Dieser Prozess fand schon vor 3000 Jahren statt und hat seine Aktualität bis heute nicht eingebüßt. Heldenfiguren, Heldenepen, Nationalhelden gibt es im Okzident (Abendland, Europa) und Orient (Asien, Arabien) und natürlich auch auf den anderen Kontinenten, sofern es zu einer Herausbildung großer Volksganzen (meist in harten Auseinandersetzung) kam. Stellvertretend mögen die folgenden genannt werden (vgl. Wikipedia: Nationalepos für eine größere Liste): Tabelle 9: Einige bekannte Nationalepen Europa
Asien / Amerika
Ilias (Griechenland) Chanson de Roland (Frankreich)23 Cantar del Mio Cid (Spanien)24 Nibelungenlied (Deutschland)
Mahâbhârata (Indien) ŠƗhnƗmeh-Epos (Iran)25 Manas-Epos (Kirgistan) Martín Fierro (Argentinien)26
23 Es gibt ein zum Rolandslied komplementäres mittelalterliches spanisches Vers-Epos: Bernardo o La victoria de Roncesvalles. In ihm wird der Sieger der Schlacht von Roncevalles, also der Gegner Rolands als Held (gegen die französischen Eindringlinge) gefeiert. Die historische Figur Alfons des Keuschen, asturischer König von 791-842, dient dem Epos als Hintergrund. 24 Die berichteten historischen Begebenheiten fanden in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts statt und mündeten in der Eroberung von Valencia (1094). Es geht also um die Wiedergewinnung eines Territoriums, die so genannte Reconquista, die erst 1492 abgeschlossen war. Vgl. Grossmann (1968). 25 SchƗhnƗme auch ŠƗhnƗmeh, das Buch der Könige, ist das Lebenswerk des persischen Dichters FirdausƯ (940/41-1020). Im persischen Nationalepos werden viele Generationen von Helden beschrieben. Wie bei der Siegfried-Saga gibt einen unverwundbaren Helden, der durch einen Schuss in das offene Auge (der einzigen verwundbaren Stelle, da die Augen beim Bad geschlossen waren) getötet wird.
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Viele dieser Epen sind nicht nur als Text tradiert, es gibt auch bildhafte Gestaltungen. Die Ereignisse der Ilias sind in zahllosen Variationen verbildlicht worden. Eine besonders vollständige Wiedergabe eines griechischen Heldenepos enthält das Telephosfries in Pergamon (jetzt im Pergamon-Museum, Berlin). Auf den einzelnen Friesplatten (ursprünglich 75 Platten) sind jeweils Szenen aus dem Leben des Helden geschildert (Kindheit, Jugend, Heldentaten, Gründung des Kultus). Erst durch Heranziehung von Schriften der griechischen und römischen Tradition wurden die einzelnen Szenen deutbar und konnten in eine narrative Reihenfolge gebracht werden. In der deutschen Tradition entstehen im Mittelalter zuerst Kodices mit illuminierten Anfangsbuchstaben. Ab Anfang des 14. Jh. werden aufwändige Kodices mit reichen Illustrationen in Auftrag gegeben, so etwa das frühe Willehalm Epos mit 117 in Deckfarben auf Goldgrund ausgeführten Miniaturen (1320) und die Willehalm-Trilogie für Kaiser Wenzel IV von Luxemburg (1387), die 254 Miniaturen enthält. Anhand von Texthinweisen kann man davon ausgehen, dass das Epos vorgelesen und an festgelegten Stellen die passende Illustration gezeigt wurde. Es entsteht damit ein Modus der abwechselnden sprachlich-textuellen und visuellen Präsentation und Rezeption (vgl. Theisen, 2012: 261-284). Auf die bildhafte Wiedergabe einer Heldenfigur bin ich bereits in Kap. 9.2.2 anhand der Rolandsfigur eingegangen und die Verfilmung der Siegfried-Saga wurde in Kap. 7.3 behandelt. In der indischen Tradition ist besonders das Nationalepos Ramuyana, im Kern eine Liebesgeschichte, in der Zeit vom 16. bis 19. Jh. reich illustriert worden. Eine Auswahl von 87 Miniaturen zeigt der Katalog der Ausstellung „Rama und Sita − Indiens schönste Liebesgeschichte“ des Museums Rietberg, Zürich (Britschgi und Fischer, 2008). Das Manas-Epos konnte 1995 auf eine tausendjährige Geschichte zurückblicken. Es wurde gegen 1850 das erste Mal wissenschaftlich erfasst und 1885 von Radloff basierend auf einer von ihm aufgenommenen kirgisischen Fassung auch ins Deutsche übersetzt. Die heute verfügbaren Fassungen basieren direkt auf dem mündlichen Vortrag bekannter Manas-Sänger im 20. Jh. Im Gegensatz zu den klassischen europäischen Heldenepen liegt also keine literarische Umgestaltung vor. Das Epos ist noch als mündliche Leistung erkennbar, die im Kontext der öffentlichen Vorführung durch einen Manasi entstanden ist. Diese lebendige Verwurzelung in der Volksepik entspricht auch die bildnerische Gestaltung durch den DeutschKirgisen Herzen, die ich unter dem Aspekt der visuellen Narrativik untersuchen
26 Das Epos wurde 1879 von José Hernández verfasst und thematisiert wie der Cid Grenzprobleme, in diesem Fall zwischen Indios und Spaniern; vgl. Grossmann (1968: XVII).
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möchte. Die Visualisierung ist mehr als die Illustration eines schriftlichen Textes, sie ist eine Art visueller Erzählung auf dem Hintergrund des verbreiteten Wissens über das Epos in der Bevölkerung. Durch die Drucke und ihre Reproduktionen hat die visuelle Fassung des Epos eine eigenständige Tradition ausgebildet, die stellvertretend neben der mündlichen Fassung existiert, diese ergänzt oder gar ersetzt. Die schriftliche Fassung bleibt dabei zweitrangig.27 Wie schon Radloff (1895) bemerkt, lebt das Manas-Epos im Vortrag eines Sängers und wird von jedem Sänger (auch in Bezug auf sein Publikum) neu gestaltet. Die „Einheit“ des Werkes wird erst in der schriftlichen Fixierung künstlich geschaffen. In Wirklichkeit gibt es gar keine Einheit des Textes, sondern nur eine der Szenen, Themen, Bilder, Charaktere. Insofern kommt die Wiedergabe durch Bilder dieser variablen Realität näher als der anhand des Vortrags eines Sängers zu einem Zeitpunkt aufgezeichnete Text.28 Das Epos wurde von Generation zu Generation variiert und weiter entwickelt (und tut dies noch heute). Die Bedeutungsschichten der verschiedenen Heldenepen verweisen in einer ersten Schicht auf besonders kritische Zeiten in der kirgisischen (Manas), französischen (Roland), spanischen (El Cid) und deutschen Geschichte (Siegfried). In einer zweiten Bedeutungsschicht beziehen sie sich auf Ereignisse und Problemzonen in der Zeit der Fixierung des Epos. Eine dritte Schicht kann bei der Neuentdeckung und Revitalisierung des Epos zum Tragen kommen. Die erste Schicht (Urspungsszenario): 1. Nibelungen: Zerschlagung des Burgunderreiches bei Worms durch hunnische Hilfstruppen der Römer (um 436), genereller die politische Reorganisation
27 Im Mongolenreich kam es zu einer Vermischung von fernöstlichen Kulturtechniken mit islamischen Traditionen. Insbesondere wurde im 13. Jh eine illustrierte Weltchronik verfasst, an der Mongolen, Uiguren, Perser und Türken mitwirkten und bei der Buddhisten, Schamanisten, Muslime und Ostchristen beteiligt waren (vgl. Ipúiroglu 1984: 23). Auch über den in der Region lange wirksamen Manichäismus ist eine Tendenz zur Bildsprache naheliegend. Insofern steht die moderne Illustration nicht im Widerspruch zu den geographisch-kulturellen Traditionen. 28 Radloff bemerkt außerdem, dass er durch die Langsamkeit seiner Transkription und durch seine häufigen Nachfragen den Sänger/Sprecher aus dem Konzept brachte. Er ließ sich deshalb zuerst eine Episode vortragen und begann dann mit der systematischen Notierung in Gegenwart und im Kontakt mit dem Sänger.
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Europas nach dem Ende des Römischen Reiches und die Bedrohung durch einfallende Reitervölker aus dem Osten. 2. Roland: Kampf Karl des Großen mit den Basken (später den Mauren) in Nordspanien (778 Schlacht in Roncevalles). Vorbereitung von Kreuzzügen gegen die Mauren und andere islamisch dominierte Länder und Städte (Jerusalem). 3. El Cid. Die Wiedereroberung des maurisch besetzten Spaniens; die Herausbildung eines großen Königreiches (Spanien). 4. Manas: Kampf der Kirgisen gegen die Uiguren im 9. Jahrhundert; später gegen die Kalmücken und andere Völker. Da die Entstehungszeit historisch fixierbar ist, können wir auch die jeweilige politische Situation als Motivation heranziehen. Dies ergibt: Die zweite Schicht (Fixierungsszenario): 1. In der Zeit der Abfassung des Nibelungenliedes dominiert der Streit zwischen Papst und Kaiser die Politik (mit Gegenpäpsten und dem Kaiser im päpstlichen Bann). Die staufische Monarchie erreicht mit Heinrich VI. (1190-1197) ihren Höhepunkt. 2. Das zwischen 1075 und 1100 verfasste Rolandslied geht mit der Konsolidierung des französischen Königtums unter den Kapetingern (987-1328) einher. Es ist wiederholt von „la douce France“ die Rede, d. h. Frankreich beginnt sich als eigene Nation zu verstehen. Die Thematik des Kreuzzuges gegen die Mauren lag nahe, da bereits um 1065 ein allerdings erfolgloser Vorstoß nach Saragossa erfolgt war und danach der erste Kreuzzug nach Jerusalem (1096-1099) vorbereitet wurde. 3. Als um 1207 das Versepos El Cid nieder geschrieben wurde, war die Reconquista schon einige Jahrhunderte im Gang, hatte aber entscheidende Fortschritte gemacht. Auch die Kreuzzugsidee schwingt mit, obwohl für den historischen Cid (Rodrigo Díaz de Vivar, um 1043 - 1099) ein solcher Bezug nicht belegbar ist. 4. Das mündlich überlieferte Manas-Epos hat wahrscheinlich viele unterschiedliche Perioden integriert. So kommen dort auch Musketen und Kanonen vor. Ein direkter Bezug zu einem politischen Kontext bei der Entstehung des Epos
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ist deshalb nicht auszumachen bzw. es ist anzunehmen, dass das Epos immer wieder angepasst und aktualisiert wurde.29 Zumindest in den beiden ersten Fällen sind politische Motivationen im Kontext einer nationalen Konsolidierung im Text erkennbar. Beim spanischen Epos wurden solche Tendenzen später hineingelesen (und auf die Eroberungen in Amerika ausgedehnt). Da die Kirgisen immer wieder von Nachbarvölkern oder Eroberern bedrängt wurden, ist wahrscheinlich diese ständige Bedrohung ihrer Identität und ihres Stammlandes auch eine Motivation für die Fortsetzung und den Ausbau der Erzähltradition gewesen.30 Interessanter erscheint jedoch die Geschichte des erneuerten Interesses am Epos zu sein. Dies trifft besonders auf das Nibelungenlied und das Manas-Epos zu. Dritte Schicht (Wiederentdeckung bzw. Revitalisierung): 1. Das Nibelungenlied, dessen Handschrift C 1755 entdeckt wurde, entfachte erst durch die Übersetzung ins Hochdeutsche im Jahre 1806 eine politische Wirkung, denn in diesem Jahr besiegt Napoleon die preußischen Truppen in Jena und Auerstedt. In besonderer Weise hat sich der Pädagoge Johann August Zeune hervorgetan, der ab 1812/13 Vorlesungen zum Nibelungenlied hielt und dessen Einführung in den Schulunterricht forderte. Der Drache des Nibelungenliedes wird 1815 mit dem Kopf Napoleons abgebildet (siehe Glasner, 2006: 174) und Zeune ließ Texte des Nibelungenliedes in handlicher Form für den Tornister der Soldaten drucken (1815; vgl. ibidem: 176, Abb. 8). Diese Euphorie dauerte einige Jahrzehnte; aber als Wagner sich des Stoffes annahm, war sie (seit etwa 1840) schon wieder abgeebbt und er griff auf ältere germanische Mythen zurück, um den dramatischen Stoff neu zu gestalten. Die filmische Bearbeitung durch Fritz Lang in der Weimarer Republik fiel wieder in eine Zeit des nationalen Neubeginns (1922-1924). 2. In Kirgistan war es die Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 und damit die Lösung aus dem kommunistischen Ideologiekomplex, die eine Welle der Manas-Begeisterung auslöste. Das Epos ist jetzt bei der jungen Generation sehr
29 Die Version des Epos, die Radloff als Beamter des russischen Zaren aufzeichnete, verbindet die Taten von Manas mit dem Zaren, als dessen Verbündeter er dargestellt wird. 30 Selbst heute gibt es Landstreitigkeiten im Gebiete von Osh, an der Grenze zu Usbekistan. 2010 meldeten die Agenturen mehr als 100 Tote und tausende Verletzte bei ethnischen Unruhen. Die Grenze zu Usbekistan liegt in Sichtweite des Stadtzentrums von Osh.
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präsent und Manas wird durch öffentliche Monumente, z. B. auf dem zentralen Platz in Bischkek, vor dem Konzertsaal (Harmonie) der Öffentlichkeit als Identifikationsfigur angeboten. Die kirgisische Literatur hat mit Tschingiz Aitmatov (1928-2008) jemanden, der die Dorfkultur im Talas-Tal, seiner Heimat, literarisch aufgearbeitet hat. Er hat selbstredend auch den dort noch lebendigen Manas-Kult gekannt, ihn aber nicht zum Nationalismus verengt, sondern nach der Perestroika eher ins Kosmopolitische erweitert (vgl. Djagalov, 2010). In seinen Romanen zeigt er auch den Konflikt zwischen Modernisierung (im sowjetischen Stil, d.h. Kolchosen und Sesshaftigkeit für die Nomaden) und Tradition auf. Insofern kann er wichtige Ideen des Manas-Epos in die Moderne retten, bzw. mit den Anforderungen der Moderne in Verbindung bringen. In gewissen Sinn kann das Werk Aitmatovs unter aktuellen Bedingungen Funktionen des alten Epos übernehmen, d.h. eine Orientierung für die menschliche und soziale Groborientierung liefern. Dieser Effekt wird bereits dadurch sichtbar, dass eine Statue Aitmatovs in Bischkek auf dem zentralen Ala-Too-Platz in Sichtweite des Manas-Denkmals steht. Wie diese vergleichende Studie andeutet, die uns in Gebiete Zentralasiens geführt hat, ist die Bildlichkeit nicht auf das objekthaft Realisierte beschränkt. Es gibt eine Bildlichkeit der Wünsche, Sehnsüchte, Träume, die schließlich in konkreten Bildern oder in Gesängen und Texten Gestalt annimmt. In dieser Hinsicht hatte de Saussure recht, wenn er auch bei der Sprache von mentalen Bildern (images mentales) sprach als dem Signifikat, dem Gemeinten. Dieses ist zwar nicht bildhaft im konkreten Sinn; es gibt aber sozial geteilte Vorstellungen (représentations collectives im Sinne Durkheims), welche die Welt der Bedeutungen, das Weltbild im Sinne Heideggers ausmachen. Ihre Existenz über die Jahrtausende und bis heute wird durch die Mythen und Heldensagen attestiert. Mit dieser letzten Detailstudie habe ich den Reigen der exemplarischen Analysen abgeschlossen und wende mich zum Schluss der Frage zu, ob und in welcher Hinsicht eine visuelle Semiotik den Anspruch vertreten kann, allgemein, d.h. eine Wissenschaft zu sein, und was der Kern des facettenreichen Phänomens visueller Anschauungen und Produkte ist. Semiotische Kernpunkte (Kap. 10) 1. Sprache und Bild haben als gemeinsame Basis die Symbolfähigkeit des Menschen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer (partiellen) Transformation / Übersetzung vom Bild zum Text und umgekehrt. 2. Die Symmetrie ist eine geometrische, d.h. vorwiegend visuell kontrollierte Eigenschaft. Sie zeigt sich auch in der Sprache, dort aber in eingeschränkter Form.
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3. Manche Künstler können ihre Inhalte sowohl visuell (als Bild) als auch sprachlich (als Text) gestalten. Dabei werden ihnen Analogien und Unterschiede bewusst. Letztere betreffen besonders die Elaboration innerhalb eines der beiden Medien. 4. Allegorische und mythische Texte enthalten eine abstrakte Bildlichkeit; Text und Bild beziehen sich dabei auf eine autonome Vorstellungswelt, die unabhängig von einer Verschriftung ist und auf ein Gemeinsames der beiden Medien verweist.
11. Die Globalität einer visuellen Semiotik und der visuelle Zeichenraum
Im Rahmen der Globalisierungsdebatte ist eine Diskussion zur Relativität westlicher Wissenschaft, aber auch westlicher Kunstkritik aufgekommen. Damit wird eine Diskussion fortgeführt, die seit den provokativen Thesen von Benjamin Whorf (1897-1941) zum sprachlichen Relativismus in der Linguistik geführt wird und deren Anfang bei Jean-Jacques Rousseau (1712-1787) und dessen Kulturkritik zu suchen ist. Die Frage nach der kulturellen Relativität in der visuellen Semiotik betrifft sowohl die visuellen Objekte und Aktionen, die Gegenstand der visuellen Semiotik sind, als auch die Methoden und Theoriebildungen in dieser Wissenschaftsdisziplin (und deren philosophische Voraussetzungen). In Bezug auf die Gegenstände und Themen der visuellen Semiotik ist dieses Buch nicht global repräsentativ, da z.B. die bildende Kunst im Westen (Europa und USA) dominiert; andere Weltregionen wie Amerika, Asien, Afrika und Australien sind zumindest durch visuelle Kunst oder Artefakte vertreten. Die Frage, ob auf dieser Basis Verallgemeinerungen auf die Weltkunst insgesamt möglich sind, wurde bis zu diesem Kapitel nicht gestellt, bzw. implizit bejaht. Da wir im Prinzip visuelle Gestaltungen und Verstehensprozesse seit der Menschwerdung, zumindest seit den erhaltenen Manifestationen im späten Paläolitikum betrachtet haben, kann die Frage nach der Globalität auch historisch gestellt werden: Sind die Begriffe, Methoden und Gesetzmäßigkeiten ebenso für die frühe Menschheit, die ersten Hochkulturen, die großen Welt-Kulturen, gestern, heute und morgen gültig? In diesem Buch konnten nur exemplarische Phasen der historischen Entwicklung genauer betrachtet werden, so dass es unsicher ist, ob insbesondere weit zurückliegende Phasen mit dem angebotenen Instrumentarium erfassbar sind. Da die bildende Kunst nicht für das Ganze der visuellen Objektwelt und deren Produktion stehen kann, ergibt sich ein weiteres Problem der Verallgemeinerung. Man könnte einwenden, dass die elitäre Kunstproduktion und -rezeption nur ein gesamtgesellschaftlich marginales Phänomen darstellt. Gemeinhin geht die Kunstwissenschaft aber davon aus, dass das künstlerische Schaffen sich vom allgemeinen
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Schaffen und Erleben nur in der Qualität (Professionalität) unterscheidet und somit für das Ganze stehen kann. Durch die Erweiterung des Kunstbegriffs könnten Divergenzen und Konflikte zwischen einer Akademiekunst oder der am Markt erfolgreichen Kunst und dem Mehrheitsgeschmack der Bevölkerungen zumindest ansatzweise beseitigt werden. Eine solche Nivellierung kann aber auch aus der Sicht der Kunstwissenschaft mit dem Argument abgelehnt werden, dass Kunst prinzipiell eine Innovationszone sei und die Mehrheitsmeinung wenig innovative Reproduktionen oder die Wiederaufnahme von Bekanntem bevorzuge. Insgesamt hat die Globalitätsproblematik mindestens drei Schichten: • • •
Die geographische Globalität in Anbetracht der kulturellen Diversität innerhalb der Menschheit. Die historische Globalität, bezogen auf dokumentierte Objekte einer visuellen Gestaltung von 40.000 J.v.h. bis in die Moderne und die nähere Zukunft. Die ästhetische Globalität von der „hohen Kunst“ im Visuellen bis zur visuellen Alltagskultur.
Da die Visuelle Semiotik sich als Wissenschaft versteht, stellt sich darüber hinaus die Frage nach der Gültigkeit der vorhandenen Analysen und Hypothesen und deren sowohl empirischen als auch deduktiven, prinzipienbezogenen Rechtfertigung. Ich werde mich im Folgenden nur mit den ersten beiden Fragen nach der Globalität einer visuellen Semiotik beschäftigen. Die dritte Problematik berührt Fragen einer allgemeinen Ästhetik oder Theorie des Ästhetischen. Die wissenschaftstheoretische Rechtfertigung der Kunstwissenschaft geht über unseren Rahmen hinaus; wir nehmen aber an, dass der Wissenschaftsbegriff an die erfolgreich betriebenen intellektuellen Disziplinen anzupassen ist und keine externe, absolute Norm darstellt.
11.1 G EOGRAPHISCHE
UND HISTORISCHE EINER VISUELLEN S EMIOTIK
G LOBALITÄT
Auf der Ebene der ausgewählten und besprochenen Analyseobjekte ergibt sich eine doppelte Einschränkung: 1. Nicht alle geographischen Regionen der Erde wurden gleichermaßen erfasst. Dies gilt auch für die historischen Epochen, denn es überwiegen die Renaissance und die Moderne. 2. Nicht alle visuellen Medien wurden in gleicher Weise berücksichtigt. Diejenigen, welche dem Kunstkanon nahe stehen, wurden in den Kap. 3 bis 5 bevorzugt behandelt. In den anderen Kapiteln (zur Kleidung, zum Foto und Film, zur
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Architektur und Stadtstruktur) ist die Trennung nicht so ausgeprägt, die Differenz zwischen (hoher) Kunst und visuell relevanten Artefakten ist geringer. In Bezug auf die erste Einschränkung hat Elkins (2007b: 56-61) für die Kunstgeschichte und deren Globalitätsanspruch eine Skala möglicher Positionen vorgeschlagen, die sich auf die visuelle Semiotik übertragen lässt: (a) Die visuelle Semiotik wird nicht wesentlich verändert, wenn sie statt im westlichen im Weltmaßstab betrieben wird. Es werden lediglich neue Aspekte hinzugefügt. (b) Die visuelle Semiotik kann ihre Konzepte und Begriffe anpassen, um weitere Bereiche zu integrieren (geographisch und historisch). (c) Die visuelle Semiotik muss indigene Begriffe und Anschauungen bei der Analyse nicht-westlicher Kunst benützen. Dasselbe gilt für historische Epochen, wo man auf historische Analysetechniken und -begriffe zurückgreifen muss. Es entstehen im dritten Fall (Position c) viele unvergleichbare Analysen. Problematisch ist dabei auch das vorauszusetzende geographische, historische und kulturelle Raster. Es droht die vollständige Fragmentierung und das Fehlen jeder Vergleichbarkeit und damit auch jeder Verallgemeinerung. Die Analysen entbehren einer allgemeinen Grundlage, die Vergleich und Verallgemeinerung erst möglich macht. Dies widerspricht aber einer Grundforderung der Wissenschaft und die visuelle Semiotik wäre lediglich eine Praxis der Beschreibung und Kommentierung. In diesem Buch habe ich mich im Wesentlichen der zweiten Position angeschlossen. Die grundlegende Problematik ist aber allen Wissenschaften gemeinsam und besteht in der Konstruktion einer angemessenen, übergreifenden Beschreibungssprache, welche Vergleiche und Verallgemeinerungen ermöglicht. Diese kann nicht aus dem Beschreibungsobjekt selbst gewonnen werden, ist diesem nicht immanent, sondern geht prinzipiell (wie jede Sprache) über seinen jeweiligen Anwendungsfall hinaus. Da die Theorien, die philosophischen Grundlagen und die daraus folgenden Methoden zu einem kleinen „Topf“ philosophischer Positionen gehören, die hauptsächlich im Westen entwickelt wurden (Plato, Aristoteles, Kant, Freud, Jakobson, Foucault, Barthes, Derrida, Bourdieu um nur einige zu nennen) ist der Eurozentrismus der Theorien wesentlich folgenreicher als die geographische oder historische Begrenzung der Analysebeispiele. Wir müssen deshalb nach einem möglichen allgemeinen Hintergrund, bzw. einem tertium comparationis, das Vergleich und Verallgemeinerung möglich macht, fragen. Die in Kap. 1 diskutierten Theorien und Methoden gehen davon aus, dass die visuellen Fähigkeiten aus allgemeinen gattungsspezifischen Eigenschaften folgen, d.h. es gibt genetische und epigenetische Prozesse, die gattungsspezifisch universal sind. Insofern sie auch bei unseren Vorfahren und teilweise bei Säugetieren oder
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Tieren nach der kambrischen Revolution, welche die Sehfähigkeit begründete, vorkommen, erlauben diese Grundlagen auch den evolutionären Vergleich der menschlichen Artefakte und Kunstobjekte mit denen von Neandertalern und vielleicht mit den Gestaltungs- und Verstehensfähigkeiten von Säugetieren (siehe den Werkzeuggebrauch) und sogar von Vögeln (siehe Vogelgesang, Balztanz, Nestbau, usw.). In der Ontogenese der einzelnen Menschen und dann verstärkt beim sozialen Lernen (der Sozialisation) ist mit einer starken Variation und Divergenz zu rechnen, d.h. es entwickeln sich verschiedenartige Sehgewohnheiten und Gestaltungspotentiale. Diese sind zuerst individuell, können aber durch soziale Koordination auch gruppenspezifisch werden, wobei die unmittelbaren Sozialisationsgruppen zuerst die Familie (Betreuer) und dann die Gruppe der Geschwister oder Gleichaltrigen sind. In der Globalisierungsdebatte und in der Kulturwissenschaft generell geht man aber allzu schnell davon aus, dass die Variation primär eine zwischen Kulturen und nicht zwischen Klein-Gruppen oder Individuen ist. Man konstruiert also eine Größe „Kultur“ in Analogie zu politischen Gesamtheiten wie Nationen oder stabilen linguistischen Gruppierungen, etwa Standard- und Nationalsprachen.1 Die Sozialisationsund Lernkontexte sind aber unermesslich verschieden; jeder Einzelne, ja selbst eine Person in verschiedenen Lebensphasen kann unterschiedlich auf seine kulturelle und seine visuelle Umwelt reagieren, diese anders wahrnehmen, repräsentieren und verstehen.2 Die Hypothese, dass es einheitliche Seh- und Verstehensmodi für Nationen oder gar Riesenreiche wie China und Epochen, die Jahrhunderte und Jahrtausende übergreifen, gibt, ist eine empirisch nicht gesicherte Hypothese. Wenig deutet auf solche eine Konstante hin (vgl. dazu auch Kesner, 2007: 92-102). Immerhin gibt es den Sachverhalt, dass durch in den Institutionen fixierte Inhalte, Lehrmethoden oder Vorbilder eine Art Einheit erzwungen werden kann. Dies zeigt sich am klarsten im Kampf einer neuen Generation gegen akademische oder religiöse, ideologische Beschränkungen, also ex negativo. In einer Gemeinschaft, die nicht durch Institutionen (Akademien, Universitäten), Einheitsparteien oder einen Markt reguliert wird, entsteht keine Einheitskultur und selbst in modernen, weitgehend von Schule und Markt regierten Gesellschaften bleiben visuelle und künstlerische Standards sehr umstritten und stehen ständig zur Disposition.
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In ähnlicher Weise wird häufig von Religion gesprochen, da man deren institutionelle Zersplitterung und die unüberschaubare Vielfalt individueller Glaubenswelten vergisst. Wenn der moderne Staat die Religion schützt, protegiert er meist nur deren Institutionen. Vgl. Dawkins (2007: Kap. 8).
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Vgl. im Roman „Narziss und Goldmund“ die Wahrnehmung des Klosters durch den alten, zurückkehrenden Goldmund; siehe Kap. 10.3.4.
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UND S TABILITÄT DES VISUELLEN ÄSTHETISCHEN
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R AUMS
Als Quellen einer mögliche Stabilität und damit einer Allgemeinheit jenseits der gattungsspezifischen Ausstattung kommen hauptsächlich drei Faktoren in Frage: 1. Objektive Beschaffenheiten und Gestaltungsmöglichkeiten, die in der Physik und Chemie der Materialien begründet sind. Dies wird an den Malmitteln, der Struktur von Stein und Holz in der Bildhauerei, an Techniken des Drucks von Grafiken oder des Gießens von Bronzeplastiken besonders deutlich. In der Architektur sind dies technische Innovationen wie der Stahlbau oder Betonkonstruktionen. 2. Das soziale Feld der Kunst (vgl. Bourdieu, 1999) und der Kunstmarkt bedingen und bewerten das Kunstwerk. Bourdieu hat dies anhand des Werkes von Flaubert (19. Jh.) gezeigt. Derrida (1994) spricht von der Signatur des Künstlers als Vertrag des Künstlers mit seinem Publikum. Da der Kunstmarkt inzwischen global ist, der Künstler sich als global player verstehen muss, gibt es Rahmungen, Bedingtheiten besonders der visuellen Kunst (die keine deutlichen Sprachbarrieren kennt). Deren Gesetzmäßigkeiten können allgemeine Trends und Wertmaßstäbe erzeugen. 3. Eine dritte Bestimmungsgröße ist weniger materiell oder politisch. Sie spielte in unseren Analysen eine wichtige Rolle. Ich spreche von den Kategorien Raum und Zeit und deren Wahrnehmung. Ich will diesen Faktor näher betrachten. Seit Benjamin Whorf wird die Relativität von Raum- und Zeitbegriffen in der Sprache diskutiert und es werden philosophische Konsequenzen für den allgemeinen Wissenschaftsbegriff gezogen (vgl. Wildgen, 2008: 11-14). Der Newtonsche „absolute Raum“, der noch Kant als Folie seines Apriori der Anschauung diente, wird in Frage gestellt. In gewisser Weise ist durch die Relativitätstheorie Einsteins und die Quantenphysik der Newtonsche Raum nur noch eingeschränkt gültig. Allerdings gelten die physikalischen Beschränkungen für das sehr Große (den Weltraum) und das sehr Kleine (den subatomaren Bereich). Die visuellen Fakten und die Wahrnehmung des Menschen spielen sich aber im mittleren Skalenbereich ab, für den diese Einschränkungen nicht wesentlich sind. Eine weitere Kritik betrifft den euklidischen Raum, der durch die nicht-euklidischen Geometrien als wichtiger Fall, aber eben nicht als universal voraussetzbar erwiesen wurde. Wie Helmholz bereits in einem Vortrag (1870) aufbauend auf Riemann gezeigt hat, sind auch nichteuklidische (konstant gekrümmte) Räume vorstellbar. Er stellte aber auch in seiner Rektoratsrede von 1876 klar, dass die euklidische Geometrie eine ausreichend gute Annäherung für die Anschauung darstellt. Sollte man es wegen dieser oder ähnli-
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cher Bedenken ganz aufgeben, in einer Raumkonzeption eine Verallgemeinerungsbasis für die visuelle Semiotik zu suchen? Ich glaube nicht; man muss vielmehr eine flexiblere Konzeption von Raum und Zeit verwenden. In Bezug auf den mathematischen Raum kann man auf die im Verlauf des 19. Jh. (besonders gegen Ende) entwickelte Topologie zurückgreifen. Einer allgemein definierten Topologie können im naturwissenschaftlichen oder technischen Kontext spezielle Eigenschaften, z.B. die eines metrischen Raumes aufgeprägt werden, man kann aber ebenso mit schwächer geordneten (qualitativen) Räumen arbeiten. Was die Bewegung im Raum und damit die Zeit angeht, kann man auf die Differentialtopologie, die Katastrophen- und Bifurkationstheorie, genereller auf eine qualitative Mathematik zurückgreifen. Es gibt somit einen Bereich verfügbarer mathematischer Konstrukte, mit deren Hilfe ein wissenschaftlicher Diskurs zu Fragen des Raums und der Zeit (des Werdens, Geschehens) auch jenseits naturwissenschaftlicher Kontexte organisiert werden kann. Wie schon Cassirer 1931 in einem Vortrag erläutert hat, gehört der physikalische und mathematische Raum zur symbolischen Form der kausalrationalen Erkenntnis. Für die anderen symbolischen Formen kann ein eigener Raumbegriff angenommen werden, der allerdings mit ersterem nicht unverbunden ist. Einen geeigneten Ausgangspunkt bilden die Vorschläge von Leibniz in seiner Analysis situs (vgl. dazu Heuser, 2007: 186-189). Er setzt im Gegensatz zu Descartes kein allgemeines, externes Koordinatensystem voraus, sondern lokale Relationen und Bewegungen (Transformationen), durch die geometrische Objekte definiert werden. Wie er bereits in seiner Mathesis universalis andeutet, führt dieses Konzept zu einer qualitativen Raumanalyse, die sich auch jenseits einer kausalrationalen Raumkonstruktion verwenden lässt.3 Der Raum ist nach Leibniz (auf den auch Cassirer verweist) eine Art des Nebeneinanders, „der Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in denen sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt erschließt“ (Cassirer, 1931: 422). Die Ordnungen, die sich einstellen, sind im Detail spezifisch für die einzelnen symbolischen Formen und Cassirer spricht von einem „ästhetischen Raum“ und einem „mythischen Raum“. So wird die Vielfalt der Kräfte und Dämonen in mythischen Systemen und schließlich in Religionen geordnet, einer bestimmten Anordnung unterworfen, die z.B. bei manchen polytheistischen Religionen zu Familien oder gar Gesellschaften von Göttern und bei den monotheisti-
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Den Ansatz von Leibniz nahm erst Günther Grassman (1809-1877) in seiner Ausdehnungslehre von 1844 wieder auf, die den Ausgangspunkt der moderen Topologie bildet. Die Differentialtopologie, zu der auch Thoms Katastrophentheorie gehört, ist in dieser Entwicklungslinie die Basis für eine qualitative Mathematik mit Anwendungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften.
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schen Religionen auf einen Gott hin ausgerichtet wird (manchmal mit nebengeordneten Engeln und Heiligen). Im Kontext moderner politischer Strömungen werden auch wissenschaftliche Theorien auf eine neue Art mythisch geordnet und damit aus dem kausal-rationalen in den mythischen Raum transferiert. Dies trifft in charakteristischer Weise auf die Hitlerschen und Stalinschen Ideologien oder „politischen Religionen“ zu (vgl. Gentile, 2001). Der ästhetische Raum wird einerseits durch die verschiedenen Sinne und durch die Materialien, in denen künstlerische Formen realisiert werden, bestimmt. Darauf beziehen sich mindestens seit Lessing und Herder die Arten der Kunst (Malerei, Poesie, Musik). Cassirer benennt diesen Aspekt mit Husserl als hyletisch (sensual). Dieser Raum kann aber in vielfältiger Weise erweitert bzw. komplex gestaltet werden. Einerseits können innerhalb der visuellen Domäne die Malerei, Skulptur, Theater/Oper/Film in verschiedener Weise verbunden werden, andererseits können auch Musik und Malerei, Sprachkunst und Malerei usw. zu neuen Komplexen zusammengefasst werden, so dass Varianten eines Gesamtkunstwerks entstehen. Auch die klassischen fünf Sinne sind durch andere Wahrnehmungs– und Kommunikationsnetze erweiterbar, so das Gefühl für Gewicht, für Bewegungsmomente, vegetative Empfindungen bei der Wahrnehmung von Farben und Formen, wie Geschmack/Appetit, sexuelle Begierde u. A. Dem steht die intentionale, formende Gestaltung und Strukturierung des ästhetischen Raumes gegenüber, welche diesen sowohl von mythischen als auch kausalrationalen trennt. Insbesondere setzt sie Ziele, gibt Werte vor; dazu muss sie aber die Existenz eines Bezugsraumes nicht negieren, im Gegenteil sie benützt diesen. Das Erzählen von Geschichten setzt z.B. die „Bewegung von Figuren durch konkret situierte Räume“ voraus (vgl. Gansel, 2012: 11). Wird der Raum gestört, perturbiert, sind die möglichen Folgen typischerweise von der Struktur des Raumes abhängig bzw. ergeben sich aus ihr. Der Raum eines Romans oder eines Films sollte so konstruiert sein, dass die Folgen der Perturbation nicht trivial oder leicht vorhersehbar sind, d.h. der Raum muss ausreichend komplex sein, damit der Leser oder Zuschauer überrascht werden kann. Der Erfolgsautor Ken Follet erwähnte in einem Interview (Süddeutsche Zeitung; 24. November 2012), dass mindestens alle fünf bis sechs Seiten eine kleine Störung, eine Wende einzubauen sei, um die Spannung beim Leser aufrecht zu erhalten. Die Störung des narrativen Raums und dessen Konsequenzen bzw. Lösung sind also die Triebfeder der Dynamik. Dies gilt in noch stärkerem Ausmaß für den Film, besonders den Action-Film (vgl. Kap. 7.4.3).4 In-
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Mit Bezug auf den Film wurde die Raumproblematik ausfürlich im Kapitel: Filmraum Handlungsraum - sozialer Raum in Wulf (1999) besprochen. Wie in der Sprache, aber mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Einschränkungen, wird der alltägliche Wahr-
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sofern die visuelle Kunst auch narrative Funktionen ausfüllt, sind diese Aspekte auch auf die nichtsprachlichen, visuellen Darstellungsformen übertragbar. Es kommen aber Intentionen hinzu, welche direkt den Formen (der regulären Gestalt, der Turbulenz), den Farben, der ausgewählten Perspektive, den Bewegungsmustern und Komplexfiguren zugeordnet sind. Die visuelle Überraschung ebenso wie das Wiedererkennen von Bekanntem (z.B. dem visuellen Zitat) hat eigene Intentionen und vermittelt spezifische Botschaften. In der Architektur und Stadtplanung konkurrieren verschiedene Intentionen, die der Bauherren oder Planer, die der Bewohner oder Benützer und die der Besucher oder Touristen. Der Raum der visuellen Kommunikation hat zwar eine Basis im allgemeinen Erfahrungs- und Handlungsraum, ist aber erweiterbar, komprimierbar, transferierbar und damit nicht abgeschlossen. In der Architektur und Stadtplanung spielt zudem der soziale Raum eine wichtige Rolle und indirekt trifft dies auch für den ästhetischen Raum zu, insofern er einer sozialen Bewertung unterliegt, in Gebrauchskontexten ausgeformt wird. Da die visuelle Wahrnehmung wesentlich dynamisch ist und sich auf Ereignisse, Handlungen bezieht, genügt ein statischer Raumbegriff nicht. Wesentlich sind Entstehungsszenarien (Morphogenesen), Veränderungen (Transformationen), plötzliche Übergänge (Katastrophen) und deren kategoriale Wahrnehmung. Im gemalten Bild, in der Skulptur, im Foto, im Gebäude bleibt die Dynamik implizit, sie ist aber nicht abwesend, denn das eingefrorene Bild (die „stills“ der Filmwerbung) verweist auf ein Geschehen vorher und nachher. Es ist also bewegungs- und handlungsbezogen. Dagegen enthalten Tanz, Theater, Film, Computeranimation die Dynamik explizit. Auch die Entwicklung oder Zerstörung einer Stadt kann im Film oder in der Computeranimation in ihrer Dynamik erfasst werden (selbst die biographische Erinnerung der Bewohner kann diese Dynamik erzeugen bzw. nachvollziehen). Der Text kann vorgelesen oder szenisch dargestellt werden. Im Kontext der evolutionären Fragestellungen wurde auch auf die dramatischen Veränderungen des Lebensraumes des Menschen hingewiesen und auf die Konsequenzen, welche diese Veränderung für sein symbolisches Verhalten und für die visuelle Kunst hatten. Eine Tendenz ist durchgehend: Der Mensch gestaltet immer mehr seine Umwelt, zuerst in seinem unmittelbaren Lebensbereich (Höhle, tempo-
nehmungs- und Handlungsraum in der Zeichenorganisation selektiv fokussiert und kategorisiert. Der alltägliche Raum ist aber auch schon semiotisiert, so dass sich ein komplizierter Regress ergibt, der deskriptiv und explanativ nur schwer zu beherrschen ist. Wir ziehen es deshalb vor, als Bezugsgröße eher den objektiv (rational, mathematisch) erfassbaren Raum zu betrachten, wohl wissend, dass es ein ganzes Universum sozialer und individueller Zwischenebenen gibt.
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räre Behausung), dann in Gebäuden und Städten und schließlich global. Diese globalen Veränderungen durch Menschenhand werden neuerdings im Begriff des Anthropozäns fokussiert, d.h. wir leben in einer Welt, die weitgehend vom Menschen (griech.: anthropos) gestaltet ist. Wie diese kurzen Ausführungen gezeigt haben, ist in allen Bereichen ein Begriff des Raumes und des Werdens/Geschehens notwendige Voraussetzung der Analyse. Die erforderliche feinere Begrifflichkeit kann zuerst phänomenologisch konzipiert werden, muss aber um der Konsistenz willen sukzessiv in einer einheitlichen Beschreibungssprache abgesichert werden. Die Universalität (Globalität) einer visuellen Semiotik ist in Anbetracht der angeführten Argumente von drei Bedingungen abhängig: 1. Die Analyse muss von einem allgemeinen und konsistenten Konstrukt des Raumes und der Bewegung im Raum ausgehen. Dies bedeutet konkret, sie muss ein geometrisch-topologisches und ein dynamisches Fundament haben. Für komplexe Zusammenhänge sind Konzepte wie: raumzeitliche Musterbildung (Morphogenese), Selbstorganisation (kooperative Verstärkung und Selektion) erforderlich. Diese erste Bedingung sollte in diesem Buch in besonderer Weise (und mehr als anderswo) erfüllt werden. 2. Es müssen Beispiele in der ganzen Breite der visuell vermittelten Gestaltungen und Wahrnehmungen analysiert werden. Dieses Ziel wurde in den Kapiteln dieser Arbeit angestrebt und auch mehr als üblich erreicht. Es bleibt aber eine Menge zu ergänzen oder detaillierter auszuführen. 3. Die geographische und historische Repräsentativität soll gewährleistet sein. Dieses Ziel konnte nur eingeschränkt realisiert werden. Historisch wurden immerhin prägende Epochen: Vorgeschichte – Renaissance – Moderne erfasst (Antike und Mittelalter kommen gelegentlich zur Sprache). Geographisch liegt der Schwerpunkt in Europa, was bei einer in deutscher Sprache publizierten Arbeit praktisch gerechtfertigt ist. Es gibt aber zahlreiche Hinweise auf amerikanische, asiatische, afrikanische und australische visuelle Formen und Traditionen. 4. Fragen der Evolution und der historischen Entwicklung (der Ikonografie) müssen wieder ihren gebührenden Platz in einer explanativen visuellen Semiotik erhalten. Damit wird die ahistorische Betrachtung im Rahmen des Strukturalismus überwunden, ohne dass einem Historismus gehuldigt wird. In den Kapiteln dieses Buches wird ein nahezu vollständiger Überblick zur visuellen Semiotik mit repräsentativen Detailstudien geboten. Die methodischen und begrifflichen Grundlagen dazu sind im ersten Kapitel enthalten. Die exemplarischen Studien stellen eine Abfolge möglichst vollständiger Analysen von Teilfeldern der visuellen Semiotik dar und geben damit praktische Anleitungen für diejenigen, die
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in diesem Wissenschaftsfeld kreativ arbeiten möchten. Jede dieser einzelnen Analysen kann und soll vertieft werden. Unser zentrales Ziel war es aber, die Globalität des semiotischen Ansatzes in der visuellen Analyse nachzuweisen, wobei sowohl die theoretische Fundierung als auch die konkrete Methode der Analyse verdeutlicht wurde. Damit sollte ein wichtiges Desiderat der Bildwissenschaft (Wissenschaft der visuellen Medien), die sich noch im Aufbau befindet, erfüllt werden. Ein Nebenziel bestand darin, immer wieder den Bezug zur Sprache als dem am besten untersuchten semiotischen System herauszustellen, ohne deshalb die Autonomie der visuellen Semiotik und allgemeiner der Bildwissenschaft zu gefährden oder gar aufzugeben.
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Zehnpfenning, Marianne, 1985. Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150-1650. Ein Kurzführer zur Ausstellung, Braunschweigisches Landesmuseum, Braunschweig. Zola, Emile, 1965. Le ventre de Paris, Fasquelle, Paris. Zola, Emile, 1968. Nana, Flammarion, Paris. Zola, Emile, 1974. Der Bauch von Paris, Winkler, München. Zola, Emile, 1975. Nana, Winkler, München. Zola, Emile, 1985. L’oeuvre, Fasquelle, Paris. Zöllner, Frank (Hg.), 2011. Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde, Taschen, Köln (Erstauflage 2003). Zöllner, Frank und Johannes Nathan (Hg.), 2011. Leonardo da Vinci. Das zeichnerische Werk, Taschen, Köln (Erstauflage 2003).
Image Katharina Eck, Astrid Silvia Schönhagen (Hg.) Interieur und Bildtapete Narrative des Wohnens um 1800 März 2014, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2418-2
Fabian Goppelsröder, Toni Hildebrandt, Ulrich Richtmeyer (Hg.) Bild und Geste Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst Dezember 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2474-8
Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur Dezember 2013, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1711-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Image Guido Isekenmeier (Hg.) Interpiktorialität Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge September 2013, ca. 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2189-1
Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur September 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0
Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus (Hg.) Wohnen zeigen Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2455-7
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Image Anne Becker 9/11 als Bildereignis Zur visuellen Bewältigung des Anschlags
Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11
Juli 2013, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2443-4
April 2013, 502 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7
Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen
Birgit Hopfener Installationskunst in China Transkulturelle Reflexionsräume einer Genealogie des Performativen
November 2013, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2
Burcu Dogramaci (Hg.) Migration und künstlerische Produktion Aktuelle Perspektiven August 2013, 388 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2365-9
Patricia Stella Edema Bilder des Wandels in Schwarz und Weiß Afro-amerikanische Identität im Medium der frühen Fotografie (1880-1930) April 2013, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2203-4
März 2013, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2201-0
Lill-Ann Körber Badende Männer Der nackte männliche Körper in der skandinavischen Malerei und Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts April 2013, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2093-1
Rahel Puffert Die Kunst und ihre Folgen Zur Genealogie der Kunstvermittlung März 2013, 292 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2337-6
Silke Feldhoff Partizipative Kunst Genese, Typologie und Kritik einer Kunstform zwischen Spiel und Politik
Thomas Strässle, Christoph Kleinschmidt, Johanne Mohs (Hg.) Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten Theorien – Praktiken – Perspektiven
November 2013, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2301-7
Juni 2013, 286 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2264-5
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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