Die Dechiffrierung von Helden: Aspekte einer Semiotik des Heroischen vom Mittelalter bis zur Gegenwart 9783839449271

The contributors to the volume develop a semiotic model for understanding a broad spectrum of heroic figures, from giant

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German Pages 286 Year 2020

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Table of contents :
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Editorial
Inhalt
Danksagung
Einleitung
I. Helden-Zeichen
Heldengeschrei
Ecke am Zeichenpool – oder: Wie man kein Held wird
Batmans Zeichen
II. Irritierende Heldenfiguren
Die Dekonstruktion eines Heldenbildes?
Riesen und Helden
III. Lesbarkeit als (Figuren-)Konzept
WHOever I feel like
Zum Umgang mit einem ungebetenen Gast
IV. Held, Kunst und Kanon
Leonidas als gezeichneter Held
così heroico – Michelangelos David im Zeichen des Heroischen
V. Helden als Element (pop-)kultureller Reflexion
»Computerspieler« gegen »Terroristen«
Die Doppelidentität des Helden
Autorinnen und Autoren
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Die Dechiffrierung von Helden: Aspekte einer Semiotik des Heroischen vom Mittelalter bis zur Gegenwart
 9783839449271

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Florian Nieser (Hg.) Die Dechiffrierung von Helden

Populäres Mittelalter  | Band 1

Editorial Unsere Vorstellungen und Bilder vom Mittelalter sind nicht einheitlich; sie werden in unterschiedlichen Diskursen für jeweils eigene Rezeptionszusammenhänge geschaffen. Den über institutionalisierte Kanäle (Universitäten, Akademien, Fachverlage, Museen) verbreiteten wissenschaftlichen Einsichten über das Mittelalter steht ein weites und heterogenes Feld populärer Diskurse und Praktiken (historische Romane, Fantasy, Film, Serien, Graphic Novels, populäre Zeitschriften, Rollenspiele/LARP, Mittelalterfeste etc.) gegenüber, deren Publikumswirkung und gesellschaftliche Beachtung tatsächlich um ein Vielfaches höher ist. Es ist Zeit, dass die eminente Bedeutung von populären Mittelalterdiskursen auch von wissenschaftlicher Seite stärker wahrgenommen wird. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: (1) Die Anfälligkeit populärer Diskurse für ideologische Indienstnahmen: Im Wechselspiel der Historisierung von fiktionalen Figuren und der Fiktionalisierung von historischen Persönlichkeiten und Ereignissen können über populäre Diskursfelder politische Botschaften mit großer Streukraft und Subtilität transportiert werden. (2) Die Rolle populärer Diskurse als Medium kultureller Selbstverständigung: Aneignung und Transformation mittelalterlicher Mythen, Figuren und Artefakte (›Mittelalterlichkeit‹) werden in ihrer Konstruktion alternativer Welt- und Identitätsentwürfe bedeutsam, weil sie kritische und ästhetische Perspektivierungen der Gegenwart bieten. Die Erschließung von populären Mittelalterdiskursen verspricht nicht nur die Partizipation der Mediävistik an aktuellen zeitgeschichtlichen Fragestellungen, sondern auch eine enge Kooperation mit anderen Disziplinen. Die Reihe Populäres Mittelalter bietet der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den populären Mittelalterbildern aller Epochen eine feste Heimat. Die Reihe wird herausgegeben von Robert Schöller und Hans Rudolf Velten (geschäftsführend), Michael Dallapiazza, Judith Klinger und Matthias Däumer.

Florian Nieser (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt AMAD (»Archivum Medi Aevii Digitale«) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er schloss sein erstes Staatsexamen in den Fächern Theologie und Germanistik an der Eberhard-Karls Universität in Tübingen ab und wurde dort 2018 in Germanistischer Mediävistik promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind semiotische Codierungen von Heldenfiguren (Heldenepik, höfischer Roman), Dingsemiotik, Game Studies sowie Inter- und Transmedialität.

Florian Nieser (Hg.)

Die Dechiffrierung von Helden Aspekte einer Semiotik des Heroischen vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Gefördert durch den Universitätsbund Tübingen e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: pixabay.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4927-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4927-1 https://doi.org/10.14361/9783839449271 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Danksagung | 7

Einleitung

Ann-Kathrin Olbert und Daria Jansen | 9

I.

HELDEN-ZEICHEN

Heldengeschrei Zur Poetik des Schalls im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach

Heike Sahm | 25 Ecke am Zeichenpool – oder: Wie man kein Held wird Eine semiotische Analyse des ›Eckenliedes‹

Anne-Katrin Federow | 49 Batmans Zeichen Zur Metonymie als semiotischem Verfahren in Superheldennarrativen

Stefan Tetzlaff | 79

II. IRRITIERENDE HELDENFIGUREN Die Dekonstruktion eines Heldenbildes? Ein unzuverlässiger Erzähler und ein changierender Held. Der unglaubwürdige Gasoein

Svenja Fahr | 105 Riesen und Helden Erklärungsmodelle für eine unfeste Dichotomie

Lena van Beek | 123

III. LESBARKEIT ALS (FIGUREN-)KONZEPT WHOever I feel like Überlegungen zur Flexibilität von Serienhelden am Beispiel höfischer Artusromane und der BBC-Serie ›Doctor Who‹

Matthias Däumer | 143 Zum Umgang mit einem ungebetenen Gast Der Held am französischen Königshof in der ›Bataille d’Aliscans‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach‹

Florian Nieser | 171

IV. HELD, KUNST UND KANON Leonidas als gezeichneter Held Ästhetik der Selbst- und Fremdgewalt in Frank Millers ›300‹

Anna Pawlak | 191 così heroico – Michelangelos David im Zeichen des Heroischen

Jennifer Trauschke | 209

V. HELDEN ALS ELEMENT (POP-)KULTURELLER REFLEXION »Computerspieler« gegen »Terroristen« Drohnenpiloten und Jihadisten als post- und retroheroische Kriegerhelden

Bernd Zywietz | 229 Die Doppelidentität des Helden Ein Konzept zwischen höfischer Epik und modernen Superhelden

Thalia Vollstedt | 249

Autorinnen und Autoren | 281

Danksagung

Der vorliegende Band versammelt zu einem Großteil die Ergebnisse eines interdisziplinären Workshops, der vom Zukunftskonzept der Eberhard Karls Universität Tübingen in Kooperation mit dem DAAD und dem Universitätsbund Tübingen e.V. ermöglicht wurde. Der Workshop zum Thema ›Die Lesbarkeit von Helden. Fragen zur Existenz einer ›Helden-Semiotik‹‹ fand am 04./05.08.2017 an der Universität Tübingen statt. Für die intellektuell anregenden Diskussionen möchte ich mich auch bei den Moderator*innen Reinhold Boschki, Andreas Hammer, Stephan Jolie, Sophie Marshall und Justin Vollmann bedanken. Finanziell hat der Universitätsbund Tübingen e.V. diesen Band ermöglicht. Inhaltlich haben zum Entstehen und Gelingen dieses Bandes die engagierten Autor*innen maßgeblich beigetragen. Ebenso ist der vorliegende Band dem Innovationswillen der Reihenherausgeber*innen von ›Populäres Mittelalter‹ zu verdanken, die die Eröffnung der Reihe mit diesem Band ermöglichten. Anna Mühlherr hat einen zentralen Beitrag für den Workshop wie auch den Band geleistet, da sie die Konzeptidee von Beginn an aktiv unterstützt und begleitet hat. Frau Sauerland und Frau Niediek vom ›transcript‹-Verlag waren eine kompetente Begleitung bis zur Drucklegung des Bandes. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Gesondert hervorheben möchte ich Ann-Kathrin Olbert und Daria Jansen, die nicht nur einen hervorragenden Tagungsbericht verfasst haben, sondern auch die anschließende Einleitung in das interdisziplinäre Themengebiet dieses Bandes und seiner einzelnen Beiträge übernommen haben. Tübingen, September 2019 Florian Nieser

Einleitung1 Ann-Kathrin Olbert und Daria Jansen

Die »sehr einfache Frage […], wie und woran man einander identifiziert und erkennt«2, stellt sich bei näherem Betrachten als nicht ganz so trivial heraus – zumindest dann nicht, wenn man sie an mittelalterliche Texte richtet, wie Armin Schulz dies in seiner Habilitationsschrift ›Schwieriges Erkennen‹ (2008) tut. Dort begegnet man Figuren, die enge Bekannte nicht anhand ihrer Physiognomie wiedererkennen, sondern zur Identifikation auf Zeichen zurückgreifen müssen, während sich völlig Fremde auf den ersten Blick problemlos erkennen können, ohne sich jemals zuvor gesehen zu haben.3 Man erfährt, dass im Mittelalter, anders als in der Moderne, Kleidung als zuverlässiges Erkennungsmerkmal gilt, wohingegen Körper und Haut nur dann als Gnorisma taugen, wenn sie dauerhaft versehrt sind.4 Nicht zuletzt beobachtet man, wie mittelalterliche Texte einen zeitlichen Aufschub zwischen Wahrnehmen und Erkennen inszenieren 5 und die Figuren sich an isolierten Einzelzeichen orientieren, wo wir uns heute auf einen Gesamteindruck stützen.

1

Die Beiträge dieses Bandes sind aus dem Workshop ›Die Lesbarkeit von Helden‹ hervorgegangen. Der zweite Teil dieser Einleitung greift auf den Bericht zum Workshop zurück: Daria Jansen und Ann-Kathrin Olbert, Bericht des Workshops »Die Lesbarkeit von Helden« in Tübingen, 04.-05. August 2017, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 13. Oktober 2017, https://mittelalter.hypo theses.org/11329.

2

Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008, S. 4.

3 4

Schulz [Anm. 2], S. 16f. Ebd., S. 3, 11 u.ö., mit Verweis auf Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen und Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 50).

5

Schulz [Anm. 2], S. 27.

10 | Ann-Kathrin Olbert und Daria Jansen

Armin Schulz geht dem Phänomen der ›Personenidentifizierung‹ als erster in systematischer Absicht und im Hinblick auf ein größeres Textcorpus 6 auf den Grund. Ausgehend von der Prämisse, dass die »Wahrnehmung von Wahrnehmung«7 historisch-kulturellem Wandel unterliege, arbeitet Schulz die grundsätzliche Alterität mittelalterlicher Erkenntnismuster heraus. Anhand von Heldenepik und höfischem Roman8 des 12. bis 14. Jahrhunderts erstellt er eine »soziale Epistemik der feudalen Gesellschaft«9, worunter er »die Muster des Erkennens und Identifizierens von Personen und ihrer identitätsrelevanten Merkmale, als Grundlage dessen, wie man mit ihnen umzugehen hat«10, versteht. Schulz operiert bewusst mit einem weit gefassten Begriff von ›Personenerkenntnis‹, der »das gesamte Feld des Erkennens identitätsrelevanter Merkmale«11 bezeichnet.

6

Einige wenige grundlegende überblickshafte Darstellungen liegen vor, die Schulz in seinem instruktiven Forschungsüberblick auf den Seiten 8-14 aufarbeitet: Ingrid Hahn: Zur Theorie der Personenerkenntnis in der deutschen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts, PBB (1977), S. 395-444; Dieter Kartschoke: Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter, in: Johannes Janota [u.a.] (Hgg.): Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. I, Tübingen 1992, S. 1-24; Jan-Dirk Müller: Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs ›Willehalm‹, dem ›Nibelungenlied‹, dem ›Wormser Rosengarten A‹ und dem ›Eckenlied‹, in: Gertrud Blaschitz, Helmut Hundsbichler, Gerhard Jaritz und Elisabeth Vavra (Hgg.): Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Fs. Harry Kühnel, Graz 1992, S. 87-111; Wolfgang Haubrichs: Habitus Corporis. Leiblichkeit als Problem einer historischen Semantik des Mittelalters. Ein Beispiel physiognomischer Körperdarstellung in der ›Limburger Chronik‹, in: Otto Langer und Klaus Ridder (Hgg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999), Berlin 2002 (Körper – Zeichen – Kultur 11), S. 15-43 sowie der interdisziplinäre Sammelband von Peter von Moos (Hg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln, Weimar/Wien 2004 (Norm und Struktur 23) und die historische Studie von Valentin Groebner: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004.

7

Schulz [Anm. 2], S. 3.

8

Ebd., S. 355-497, Kapitel V über Konrad von Würzburg; dort finden sich zudem Seitenblicke auf die höfische Legende und die Kleinepik.

9

Ebd., S. 8.

10 Ebd. 11 Ebd., S. 16.

Einleitung | 11

Als ›epistemisch‹ begreift er alles, »was mit menschlichem Erkennen und menschlicher Erkenntnis zu tun hat, unabhängig davon, wie derlei gewonnen wird (und unabhängig von der Komplexität des Erkennens und der Erkenntnis).«12 Nicht nur Wahrnehmung, sondern auch »die Schwellen desjenigen, was für die jeweilige Kultur ein Zeichen ist und was nicht«13, seien kulturell und historisch bedingt, so Schulz. Die Frage nach Erkennen und Wiedererkennen habe daher auch Anteil an einer weiter gefassten Forschungsdiskussion über den Status von Zeichen überhaupt im Mittelalter, die sich zwischen den beiden Polen ›Zeichen‹ und ›Präsenz‹ bewege.14 Wie Schulz zeigt, kennen mittelalterliche Texte sowohl semiotische Muster des Erkennens, so beispielsweise, wenn sie darstellen, wie Figuren auf der Basis von Zeichen »semiotisch-rationale Schlußfolgerungen«15 vollziehen, als auch asemiotische Erkenntnisvorgänge, bei denen sich die Körper »gewissermaßen unvermittelt ›von selbst‹ und ›als sie selbst‹ mitteilen.«16 Schulz veranschlagt für seine Theorie der Personenerkenntnis ein metonymisches Zeichenverständnis17, das auf einem Verhältnis der Teilhabe oder Berührung sowie der räumlich-zeitlichen Nähe von Zeichen und Bezeichnetem beruhe. Da metonymische Zeichen nicht arbiträr, sondern motiviert seien,

12 Schulz [Anm. 2], S. 16. 13 Ebd., Anm. 66; Schulz verweist an dieser Stelle auf Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, 2. Auflage, Stuttgart und Weimar 2000, S. 133-135, sowie Aleida Assmann: Probleme der Erfassung von Zeichenkonzeptionen im Abendland, in: Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (Hgg.): Semiotik/Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. A handbook on the signtheoretic foundations of nature and culture, 3 Bde., Berlin/New York 1997-2003 (HSK 13/1-3), Bd. I (1997), S. 710-719. 14 Die entsprechenden Forschungspositionen diskutiert Schulz [Anm. 2] auf S. 20f. 15 Schulz [Anm. 2], S. 19. 16 Ebd. 17 Schulz verweist für eine das Mittelalter grundsätzlich prägende metonymische Weltauffassung auf Harald Haferland: Das Mittelalter als Gegenstand der kognitiven Anthropologie, sowie auf dens.: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion; vgl. Schulz [Anm. 2], S. 24f. u. Anm. 97. Zu ergänzen wären hier neuere Arbeiten Haferlands, insbesondere ders.: Verschiebung, Verdichtung, Vertretung. Kultur und Kognition im Mittelalter, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33.2 (2008), S. 52-101, sowie ders.: Kontiguität. Die Unterscheidung vormodernen und modernen Denkens, in: Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009), S. 61-104.

12 | Ann-Kathrin Olbert und Daria Jansen

können sie die binäre Opposition zwischen Zeichen und Präsenz unterlaufen und eine Skalierbarkeit ermöglichen.18 Das metonymische Zeichenverständnis bedinge zudem die für uns heute befremdliche Privilegierung von Einzelzeichen gegenüber einer auf die Gestalt gerichteten Wahrnehmung in mittelalterlichen Epen. Will man etwas über Personenerkenntnis im Mittelalter erfahren, lohnt ein Blick auf Literatur nicht allein deshalb, weil das Phänomen laut Schulz nicht »theoretisch kodifiziert«19 worden sei, sondern auch, weil in den Texten »diese Muster nicht bloß fraglos vorausgesetzt, sondern in ihrem Gelingen und ihrem Scheitern ausgestellt, in ihren Routinen gebrochen, verkompliziert, paradoxiert, als Alternativen gegeneinander ausgespielt werden.«20 So zeigt Schulz beispielsweise, dass die vielfach in den Texten inszenierte Asemiotizität – im Kontrast zur Arbitrarität und damit potentiellen Manipulierbarkeit von semiotischen Systemen – als bewusste Strategie fungiere, Authentizität und Aufrichtigkeit auszustellen.21 Ein weiteres Ergebnis seiner Arbeit ist, dass sowohl Heldenepik als auch höfischer Roman jeweils mit beiden Zeichentypen arbeiten, dass aber gewisse gattungsspezifische Tendenzen bestehen: Das Semiotische komme im höfischen Roman häufiger vor und unterliege einer komplexeren Inszenierungsstrategie. Asemiotische Muster setze die Heldenepik in Form von spontanem Erkennen völlig Fremder um, während der höfische Roman Körper als ›Realabstraktionen‹22 höfischer Tugenden darstelle. Ausgangspunkt sei für den höfischen Roman die Annahme einer grundsätzlichen ›Lesbarkeit‹23 von Körpern, hier sei man »auf den schönen Schein des Sichtbaren angewiesen, der nie nur bloßer Schein sein darf«24, während »die Heldenepik von einem tiefen Mißtrauen gegenüber dem schönen Schein der sichtbaren Körperflächen geprägt«25 sei.

18 Schulz [Anm. 2], S. 24-27. 19 Ebd., S. 24. 20 Ebd., S. 4. Vgl. auch S. 29, wo Schulz mit Rainer Warnings Konzept der ›Konterdiskursivität‹ arbeitet. Vgl. Rainer Warning: Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault, in: Rainer Warning: Phantasie der Realisten, München 1999, S. 313-345. 21 Schulz [Anm. 2], S. 17-19. 22 Schulz verweist an dieser Stelle auf Peter Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung I, Frankfurt/New York 1989, S. 39-43. 23 Schulz setzt den Begriff durchgehend in einfache Anführungszeichen. 24 Schulz [Anm. 2], S. 37f. 25 Ebd., S. 38.

Einleitung | 13

Schulz’ Überlegungen, die hier nicht einmal annähernd vollständig dargestellt werden konnten, sind ›state of the art‹. Er selbst versteht seinen Beitrag als einen Versuch, sich vom »Standpunkt der Germanistischen Mediävistik aus an einer interdisziplinären Debatte zu beteiligen«26, der dezidiert »weder inter- noch transdisziplinär«27 sein möchte, sich aber »von kulturwissenschaftlichen Fragestellungen anregen lässt.«28 Bezieht sich die Frage nach der Dechiffrierbarkeit des Helden aus literaturwissenschaftlicher Sicht zunächst einmal auf textinterne (intradiegetische) Beobachter, so kann sie dann aber auch auf den textexternen Rezipienten und damit auf die außerliterarische Wirklichkeit hin geöffnet werden. Wie produktiv dies sein kann, zeigte der Workshop ›Die Lesbarkeit von Helden – Fragen zur Existenz einer ›Helden-Semiotik‹‹, der am 4. und 5. August 2017 an der Eberhard Karls Universität Tübingen stattfand. Schulz wurde zum Ausgangspunkt genommen, sein Untersuchungsgegenstand aber in diachroner und interdisziplinärer Perspektive erweitert sowie mit einem spezifischen Fokus auf ›Helden‹ versehen: Die Frage lautete: »Wie und woran identifiziert und erkennt man Helden?« Der Band versammelt auf der Grundlage des Workshops Beiträge aus Älterer und Neuerer germanistischer Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Ethnologie. Heldenbilder und -konzepte sind ein signifikanter Forschungsgegenstand jeder dieser Disziplinen. Der Frage aber, was ein Held sei, muss in den einzelnen Fachrichtungen gänzlich verschieden begegnet werden, was das ›Reden über Helden‹ im interdisziplinären Austausch erschweren kann. Verlagert man aber den Fokus von der Konstitution von Helden auf die Lesbarkeit von Helden, wie Schulz dies tut, ergibt sich eine gemeinsame Gesprächsgrundlage. In diesem Sinne setzte auch der Workshop bei der ›Dechiffrierung von Helden‹ an und diskutierte die Mechanismen der Darstellung, Einbettung und Tradierung heroischer Zeichen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes lassen die Vielschichtigkeit dieser Debatte sichtbar werden. Heldenfiguren mittelalterlicher Literatur (Nieser, Federow, Sahm, Fahr, van Beek) werden ebenso untersucht wie die Lesbarkeit »gezeichneter« Helden (Pawlak) und Erscheinungsformen popkultureller Helden in Film und Comic (Vollstedt, Tetzlaff, Däumer). Zudem wird die Kanonisierung einer Helden-Vita (Trauschke) und die Inszenierung des Heroischen als Mittel der Kriegsführung (Zywietz) in den Blick genommen. So vielfältig wie die betrachteten Helden sind auch die jeweiligen Analysezugänge. Von Semiotik

26 Schulz [Anm. 2], S. 5. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 4.

14 | Ann-Kathrin Olbert und Daria Jansen

und Linguistik über sprach- und kunsthistorische Perspektiven hin zu Narratologie und Kulturwissenschaft wird die Mikroebene singulärer Helden-Zeichen ebenso in den Blick genommen wie der diachrone Wandel, auch mit Blick auf verschiedene Gattungen, Medien und Weltentwürfe.

BEITRÄGE Heike Sahm, Anne-Katrin Federow und Stefan Tetzlaff beschäftigen sich in Teil 1 (»Helden-Zeichen«) mit der Entstehung, der Stabilisierung und den strukturierenden Eigenschaften heldischer Zeichen sowie den Voraussetzungen eines gelungenen Semioseprozesses. Während Sahm die Funktion von ›Heldengeschrei‹ im ›Willehalm‹ mit Blick auf Figurenverbände untersucht, geraten mit dem mittelalterlichen Helden Ecke und dem modernen Superhelden Batman Figuren in den Blick, die den Versuch unternehmen, sich aktiv in einem heroischen Zeichensystem zu verorten. Federow zeigt am Beispiel von Eckes Inkompetenz ex negativo, dass über Zeichenkompetenz heldische fama verhandelt werden kann. Für Tetzlaff wird die Demonstration von Zeichenkompetenz im Hinblick auf die singuläre Ausnahmeposition des Helden funktionalisiert. Heike Sahm widmet sich auditiven Signalen als einem elementaren Baustein der Performanz von Helden(-verbänden) im Schlachtgeschehen. Sie zeigt auf, dass in Wolframs von Eschenbach ›Willehalm‹ beide Schlachten über eine Klangregie aus Instrumenten und Schreien derart organisiert sind, dass der Verlauf der Schlacht in der Wahrnehmung des sounds ablesbar ist. Dabei arbeitet sie heraus, dass die gegnerischen Parteien jeweils über unterschiedliche klangliche Hilfsmittel (Instrumente und/oder Stimmen) verfügen, deren Perzeption aber (anders als im ›Rolandslied‹) grundsätzlich gleich ist. Anne-Katrin Federow wählt einen dezidiert semiotischen Zugriff auf das Eckenlied. Mit Charles S. Peirces relationalem Zeichenkonzept analysiert sie das Zusammenspiel von Zeichenmittel, Objekt und Interpretant und kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund von Eckes fehlender Einsicht in die Kontextgebundenheit heroischer Zeichenmittel ein Missverhältnis zwischen Zeichen und Träger bestehe. Dieses Primat der Passung von Helden-Zeichen und Trägerfigur verbindet sie mit der Annahme eines adlig-heldischen ›Habitus‹ (Pierre Bourdieu). Diese Passung ist dabei keine statische Setzung, sondern kann auf der Makroebene der Erzählung aktiv verhandelt und dadurch verifiziert bzw. falsifiziert werden. Damit Zeichen als Verweis auf einen heroischen Status verstanden werden können, müssen diese »situationsadäquat« (S. 70) eingesetzt und zudem in ihrer »Kontextgebundenheit« (S. 78) erkannt und verstanden werden. Hierdurch

Einleitung | 15

gerät die zentrale Rolle des Rezipienten in den Blick, der ebenso wie der Held dem heroischen Zeichensystem kompetent oder inkompetent gegenüberstehen kann. Ecke scheitere bei dem Versuch, Dietrich zu kopieren, da er dessen Zeichen nur übernehme, ohne jedoch einen vollständigen Semioseprozess zu durchlaufen. Um Dietrichs Vormachtstellung noch weiter zu konsolidieren, macht der Text Ecke schließlich über Kopf, Rüstung und Schwert selbst zum Zeichenmittel für Dietrich. Stefan Tetzlaff geht mit Bezug auf Roman Jakobson davon aus, dass heroische Zeichen ihre Bedeutung »paradigmatisch-metaphorisch« (S. 84) in einem Verweis-Gefüge gewinnen oder aber »metonymisch, über Benachbarung und Sequenzialität Bedeutung«29 erzeugen können. Er identifiziert Batman und Superman als Pole zweier komplementärer Superheldentypen des 20. Jahrhunderts. Dazu kombiniert Tetzlaff Jakobsons strukturale Semiotik mit seinem Modell vom ›Wirkraum‹ respektive ›passiv geprägtem Raum‹. Batman inszeniert sich innerhalb eines passiv ›geprägten Raums‹, den Tetzlaff dem Weltmodell des Realismus zuordnet, in einem Gebäude metonymischer Verweise (Bat-Mobil, BatZeichen etc.). Superman hingegen wird durch einen belebten, handelnden ›Wirkraum‹, den Tetzlaff dem Weltmodell der Romantik zuordnet, zur Personifikation von Stärke und Moral und somit zum Idealtyp eines metaphorischen Helden. Tetzlaff vertritt die These, dass Batmans Gegenspieler paradigmatische Zeichenfunktionen verkörpern. In dieser antagonistischen Anlage über Äquivalenz spiegele sich symptomatisch die »Gefährdung des Metonymischen durch das Metaphorische« (S. 100). Tetzlaff arbeitet mit diesem Fokus auf die Logik von Sprachformen dominante Verfahren heraus, betont aber, dass es durch mediale Übergänge immer wieder zu Neuverhandlungen heroischer Systeme kommen könne. In Teil 2 (»Irritierende Heldenfiguren«) steht die Entstehung und Auflösung irritierender Heldenbilder im Fokus. Die Irritationen entstehen dabei über die Inszenierung von Brüchen an unterschiedlichen Stellen des Dechiffrierungsprozesses: narrative Brüche durch ›unzuverlässiges Erzählen‹ (Svenja Fahr) versus Bruch mit historisch geprägten Erwartungshaltungen (Lena van Beek). Das

29 S. 86 in diesem Band. Tetzlaff begreift Metonymie im Sinne Roman Jakobsons in einer Polarität zur Metapher (vgl. S. 53) und verweist hierzu auf Roman Jakobson: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen [1956], in: ders.: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hg. v. Wolfgang Raible, Frankfurt a.M. u.a. 1979, S. 117141 sowie ders.: Linguistik und Poetik [1960], in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M. 1979, S. 84-121.

16 | Ann-Kathrin Olbert und Daria Jansen

Erkennen von Helden wird in dieser Sektion auf verschiedenen narrativen Ebenen erschlossen (Figurenkonzeption, Handlungs-, Darstellungs- und Rezeptionsebene) und im Spiegel literarischer Gattungsnormen betrachtet. Svenja Fahr beleuchtet die brüchige Figurenzeichnung des (Anti-) Helden Gasoein in der ›Crône‹. Die positiven Zuschreibungen eines außergewöhnlichen Ritters, die Gasoein in Figurenrede und Erzählerkommentar gewinnt, stehen im Widerspruch zur dargestellten versuchten Vergewaltigung. Die fehlende Kohärenz zwischen der Bewertung des Helden und der Figurenhandlung auf der Ebene der histoire wird als Ursprung eines Bruchs in der Erkennbarkeit des Heroischen behandelt. Dieser Darstellungsmodus wird mit Berufung auf Wayne C. Booth als »unzuverlässiges Erzählen«30 charakterisiert. Diese Entproblematisierung eines problematischen Helden evoziere Zweifel am Werte- und Rechtssystem des Artushofs und verweise auf die Brüchigkeit der Diegese, die insbesondere für moderne Rezipienten Irritationsmomente bereithalte. Lena van Beek nimmt eine historisch-semantische Perspektive ein, um die unklare Dichotomie zwischen den Begriffen ›Riese‹ und ›Held‹ im Mittelalter zu beleuchten. Dem Begriff helt hafte in seiner historischen Semantik eine Ambiguität an, die eine trennscharfe Abgrenzung zum Ausdruck ryse erschwere. Van Beek demonstriert die historische Nähe der Begriffe am Wort heliđos in der ›Altsächsischen Genesis‹ aus dem 9. Jahrhundert und gibt einen Einblick in die unfesten vormodernen Implikationen von Helden- und Riesenkonzepten. Diese fluide Diskurstradition bedinge Varianz und unscharfe Grenzen, die für uns heute irritierend wirken können. Van Beek konkretisiert ihre Argumentation an ausgewählten Beispielen aus Heldenbüchern (›Laurin‹, ›Rosengarten‹ und der ›Heldenbuchprosa‹) und betont dabei, dass die Erkennbarkeit von Helden letztlich immer auch eine Frage nach der Dominanz »wirkungsmächtige[r] Texte und Diskurse« (S. 124) sei. Matthias Däumer und Florian Nieser demonstrieren in Teil 3 (»Lesbarkeit als (Figuren-)Konzept«), wie die Lesbarkeit von Helden als handlungstragendes und sinnstiftendes Element des Erzählens in Erscheinung treten kann. Dabei nehmen sie mit Wolframs ›Willehalm‹ und der Titelfigur der britischen Kultserie ›Dr. Who‹ Heldenfiguren in den Blick, deren Lesbarkeit durch unklare und wechselnde Zeichenkodierungen erschwert ist.

30 Fahr bezieht sich hier auf Booths Verständnis des unreliable narrators: »For a lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say the implied author’s norms), unreliable when he does not.« (Wayne Clayson Booth: Rhetoric of Fiction. Chicago [u.a.] 1961, S. 158f., Hervorhebungen im Original), vgl. S. 108 in diesem Band.

Einleitung | 17

Matthias Däumer fragt am Beispiel höfischer Artusromane und der britischen TV-Serie ›Doctor Who‹ nach »Festigkeit oder Flexibilität heroischer Signale« (S. 144) von seriellen Helden. Für die mittelalterlichen Helden stelle sich die Kontinuitätsfrage zum einen aufgrund der seriellen Distribution in Vortragseinheiten und zum anderen deshalb, weil sie in den Werken verschiedener Autoren auftreten. Der Serienheld ›Doctor Who‹ wurde seit 1963 von dreizehn verschiedenen Darstellern verkörpert und hat entsprechend viele Charakterregister durchlaufen. Däumer betrachtet die Selbstreflexivität der TV-Serie an einer der bedeutendsten Bruchstellen, dem Übergang vom vierten zum fünften Doctor; hier überwindet der Held die Brüchigkeit seiner Identität, indem er die Konstruiertheit des ›Pseudo-Mittelalter‹-Settings in ›Castrovalva‹ erkennt. Er kann zeigen, dass ›Doctor Who‹ sich hier vom vorherrschenden ›Ding-Fetischismus‹ der Serie löse. Analog zum arthurischen Helden Gawein bestätige sich das Kontinuitätsnarrativ des Doctors nicht durch das Aufrufen von »Dingen, Charaktereigenschaften und Vorgeschichten« (S. 169), sondern werde vielmehr über dessen Funktion hergestellt. Däumer formuliert damit eine Gegenposition zu der verbreiteten Vorstellung, das Mittelalter basiere auf einem »einfache[n] Umgang mit Heldensignalen [in] ihre[r] Minimierung auf das Allernötigste« (ebd.). Diese Vorstellung sei eventuell dem »Wunsch nach einem alteritären Mittelalter als Gegengewicht zu einer als kompliziert empfundenen Gegenwart« (ebd.) geschuldet. Florian Nieser zeigt anhand eines Vergleichs der ›Bataille d’Aliscans‹ und des ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach die Abhängigkeit der Heldenfigur von ihrem Publikum. Die (intradiegetischen) Rezipienten können das Erkennen des Heros durch eine intentional gefärbte Lektüre verfälschen oder aber zur Gänze verweigern. Nieser konzentriert sich auf die erzählten Figuren, die Helden lesen, wobei sich die externen Rezipienten wiederum als Beobachter in diesen spiegeln. Betrachtet wird der Einzug des Helden am französischen Königshof in der altfranzösischen Vorlage und in Wolframs Text. In der ›Bataille d’Aliscans‹ trete Guillelme als bedrohlicher Heros auf, dessen Schrecken durch König Loois depotenziert werde, indem dieser das Zeichensystem wechsle und in seinem Spott eine alternative Lesart des Helden eröffne, der damit der Lächerlichkeit preisgegeben werde. Im ›Willehalm‹ werde der Markgraf in einer »im Grunde eindeutigen Lesart« (S. 173) gezeichnet. Der Hof verweigere ihm aber – expliziert durch Kontakt- und Grußverweigerung – das Lesen dieser Zeichen. Der Beitrag nimmt den (intradiegetischen) Rezipienten in seinem aktiven Wirkungsgrad in den Blick und zeigt, wie dieser das Generieren von Bedeutung aktiv beeinflussen, umlenken und sogar verweigern kann. In Analogie zu dieser kommu-

18 | Ann-Kathrin Olbert und Daria Jansen

nikativen Spannung kann Bedeutungsgenerierung dabei als Inszenierung der Verhandlung von Macht genutzt werden. Die Beiträge in Teil 4 fragen nach der Beziehung von »Held, Kunst und Kanon« und nehmen damit die Erkennbarkeit des Heroischen als Teil von Kunst- und Künstlergeschichte in den Blick. Anna Pawlak stellt die Bedingungen der Konstitution von Ambiguität einerseits und Disambiguierungstendenzen andererseits in eine diachrone und intermediale Perspektive, um den Zugang zu einer hochgradig wandelbaren und polarisierenden Heldenfigur zu ermöglichen. Jennifer Trauschke betrachtet Selbst- und Fremdzuschreibungen des Heroischen sowie Selektionsprozesse als Eckpunkte einer Helden-Vita. Mit der ›Strahlkraft‹ des Helden adressiert sie eine Kategorie der Präsenz und betritt dadurch, mit Schulz gesprochen, den Raum ›asemiotischen‹ Erkennens. Anna Pawlak arbeitet in intermedialer Perspektive auf den spartanischen Helden Leonidas eine produktive Dynamik zwischen Tendenzen des Vereindeutigens und Bestrebungen der Ambiguisierung heraus. Am Beispiel von Frank Millers ›300‹ (1998) fragt sie danach, wie die Gattung der Graphic Novel mittels künstlerischer Verfahren das epistemische Potential des wirkmächtigen, jahrhundertelang tradierten Leonidas-Mythos auslotet. Leonidas, der bis heute Vorbildfunktion für die modernen Superhelden bildkünstlerischer Medien des 20. und 21. Jahrhunderts hat, ist Träger eines ambivalenten Heldentums. Zum einen sei er Sinnbild der Kriegerehre und eines patriotischen Opfertods, zum anderen sei er in seiner Unmenschlichkeit und seinem destruktiven Streben nach einem ruhmreichen Tod Antiheld. Diese Ambivalenz konstituiere Frank Miller visuell mittels einer Ästhetik von Selbst- und Fremdgewalt. Pawlak demonstriert, wie die Ambiguität der Graphic Novel in der Filmversion von Zack Snyder (2007) »fast vollständig nivelliert und die moralische Unschärfe der Figuren durch klare Konturen ersetzt« (S. 207) werde. Die Gewalt gerate im Film zum Selbstzweck und löse das Heroische aus seiner ambigen Tradition heraus. Jennifer Trauschke betrachtet die Zuschreibung ›heroischer Attribute‹ in den Künstlerheroisierungen italienischer Vitentexten des 16. Jahrhunderts. Sie untersucht »das Heroische als ›kulturelles Konstrukt‹ von Phänomenen der Fremd- und Selbstzuschreibungen.«31 Am Beispiel der Lebensbeschreibung Mi-

31 S. 209 in diesem Band. Mit dem Begriff des ›kulturellen Konstrukts‹ wird ihre Einbettung in die Systematik des Heroischen, die im DFG-Sonderforschungsbereichs 948 ›Helden – Heroisierungen – Heroismen‹ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg erarbeitet wird, deutlich. (Bericht von Ralf von den Hoff [u. a.]: Das Heroische in der neueren kulturhistorischen Forschung: Ein kritischer Bericht, H-Soz-Kult (2015),

Einleitung | 19

chelangelos durch Giorgio Vasari (1550/68) zeigt sie, wie die ›Strahlkraft‹ herausragender Künstlerpersönlichkeiten auf deren Werke übertragen werde und von diesen wiederum auf den Künstlerhelden zurückwirke. Davids unmögliche Aufgabe im Kampf gegen Goliath erscheine in diesem Blickwinkel als Analogie für den künstlerischen Schaffensprozess Michelangelos. Die Konstruiertheit heroischer Attribute wie »Exzeptionalität« (S. 218) und »übermenschliche[ ] Wundertätigkeit« (S. 219) mache die Zuschreibung als eine der Mechanismen der Etablierung einer Heroen-Vita deutlich. Als weiteren Mechanismus der Kanonisierung eines Heldenbildes nimmt Trauschke Selektionsprozesse in den Blick. Die ›Nicht-Aufnahme‹ von Kunstwerken und Künstlern in einen bestimmten Kanon bilde ein »agonale[s] Moment« (S. 225), das zu einer indirekten, aber wirkmächtigen Zuschreibung heroischer Qualitäten führen könne. In Teil 5 (»Helden als Element (pop-)kultureller Reflexion«) stellen Bernd Zywietz und Thalia Vollstedt Helden als Knotenpunkte sich wandelnder gesellschaftlicher Ideen im Wechselspiel von Tradition und Innovation in den Fokus. Heroische Rollenmuster werden im Spannungsfeld von Selbst- und Fremderkenntnis verortet und mit der Frage nach den Eckpfeilern von Identität verknüpft, wobei insbesondere die Möglichkeit einer Trennung von privater und heroischer Identität behandelt wird. Bernd Zywietz macht die Darstellung von Drohnenpiloten als »Computerspieler« in Karikaturen32 zum Ausgangspunkt für die Frage, welche orientierende Funktion der Erkennbarkeit des Heroisch-Militärischen in einer Gesellschaft zukomme. Die sich in den westlichen Industrienationen seit den 1990er Jahren vollziehende Militärprivatisierung, Entideologisierung und Technisierung bringe die Abkehr von einem soldatischen Heldenbild mit sich, das sich durch die Ideale der Ehre und der Opferbereitschaft auszeichne. Durch die »raum-zeitlich distanzierende[ ] Militärentwicklung« (S. 235) hin zu Drohnenkriegen komme es zu einem »Kollaps der Distanz-Intimität-Polarität, was die erlebte Nähe zu den menschlichen ›Zielobjekten‹ anbelangt« (S. 239). Die »Auflösung der identitätsformenden Achse von Heimat (home) und Gefecht (combat)« (ebd.), die das ›postheroische‹ Bild des Soldaten bestimme, habe ihren Widerpart im (Stereo-)Typ der »[j]ihadistische[n] Körper- und Bilderguerilla« (S. 241). Im Kontext kulturhistorischer Problemkonstellationen zeigt Zywietz am Beispiel US-amerikanischer Spielfilme und Fernsehsendungen Entwicklungslinien auf,

URL: http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-2216 (Aufrufdatum: 02.03.2019). 32 S. 229f. in diesem Band. Zywietz verweist auf Karikaturen von Nate Beeler (2019) und Andy Singer (2016).

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die als eine Art kollektive Bedürfnisbefriedigung die Einordnungs-, Wert- und Imaginationslücke schließen, die das Phänomen des ›Postheroismus‹ hinterlasse. Thalia Vollstedt untersucht die Doppelidentität von Helden zwischen heroischer und privater Identität. Dazu arbeitet sie im Vergleich mittelalterlicher Heldenfiguren (Iwein, Parzival, Tristan) mit modernen Superhelden (Captain America) Bedingungen für die literarische, graphische und filmische Inszenierung einer solchen Doppelidentität bzw. des Übergangs zwischen identitätsstiftenden Rollenmustern heraus. Während der Löwe als Haupterkennungsmerkmal für die Ersatzidentität Iweins fungiere und auch Parzival seine Identität als ›Roter Ritter‹ über die Dominanz äußerer Zeichen gewinne und somit mit der »Option zum Ablegen und Umbesetzen« (S. 251) der Zeichen gleichsam das ›Ablegen und Umbesetzen‹ der Identität präsent gehalten werde, gestalte sich dieser Übergang zwischen Tristan und seinem ›alter Ego‹, dem Spielmann Tantris, weniger geradlinig. In Tantris werde keine rein äußerlich fixierte Doppelidentität erkennbar; Vollstedt sieht hier vielmehr eine Verlagerung der Identitätskonstitution in den Bereich der Innerlichkeit. All diese genannten Facetten der Figuren aus dem höfischen Roman finden eine Entsprechung in der Art und Weise, wie das ›Marvel Cinematic Universe‹ von Steve Rogers und seiner Doppelidentität als Captain America erzähle.

*** Die Dechiffrierung von Helden ist ein umfassender Semioseprozess mit dynamischem Potential, wie eine Zusammenschau der Beiträge dieses Bandes zeigt. Insbesondere wird deutlich, dass die Frage, wie Helden als Helden erkennbar werden, im Grunde eine doppelte ist: Wodurch werden Helden erkennbar? Und wie wird dieses Erkennen medial inszeniert? Die Beispiele, die in diesem Band analysiert werden, eröffnen ein Spannungsfeld zwischen gelungener (Selbst-)Inszenierung von Helden mit eindeutiger Wirkabsicht einerseits und andererseits Beispielen, in denen das Heroische ein irritierendes und bisweilen ambiges Profil gewinnt. Dabei liegt der Schwerpunkt der Beiträge des Bandes ganz entschieden darauf, dass implizite semiotische Prozesse des Erkennens mit Blick auf die Stationen eines Dechiffrierungsprozesses explizit gemacht werden. Aus den thematisch wie methodisch vielfältigen Beiträgen seien insbesondere zwei Grundeinsichten herausgehoben:

Einleitung | 21

1) Held ist, wer als solcher erkannt wird. Erkennen ist konstitutiver Bestandteil des Heroischen. Die Zeichen des Helden müssen wahrgenommen und erkannt werden; gescheitertes Erkennen wird problematisiert – sei es als Unvermögen des Betrachters oder in Form einer Infragestellung des Helden. 2) Mit Helden-Zeichen kann man arbeiten. Setzt man den Fokus auf Zeichen, wird ihre Intentionalität erkennbar. Das ambige Potential von Zeichen kann entweder zugespitzt oder depotenziert werden. Die diachrone Perspektive des Bandes hat den Blick dafür geschärft, dass die Sichtbarkeit äußerlicher Einzelzeichen, wie sie Schulz für das Mittelalter herausgearbeitet hat, nicht nur für die Helden des Mittelalters konstitutiv ist. Es hat sich als ein Konzept erwiesen, mit dem auch die Moderne vertraut ist.

I. Helden-Zeichen

Heldengeschrei Zur Poetik des Schalls im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach Heike Sahm

Die Protagonisten der mittelhochdeutschen Heldenepik müssen sich im Kampf bewähren. In der schonungslosen Ausübung von Gewalt erweist sich ihr exorbitanter Status, der in der ausführlichen Schilderung der glänzenden Ausstattung, der Schönheit des Heldenkörpers und der Stärke seines Gefolges angekündigt wird.1 Auch die Waffen des Helden, seine Rüstung und sein Schwert, sind stereotyper Gegenstand der Darstellung und in der Forschung vielfach diskutiert. 2

1

Klaus von See: Held und Kollektiv. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1991), S. 1-35; zur Diskussion Elisabeth Lienert: Exorbitante Helden? Figurendarstellung im mittelhochdeutschen Heldenepos. In: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 38-63.

2

Vgl. Monika Schausten: Der Körper des Helden und das ›Leben‹ der Königin: Geschlechter- und Machtkonstellationen im Nibelungenlied, Zeitschrift für deutsche Philologie 118 (1999), S. 27-49; Heiko Wandhoff: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Epik, Berlin 1996 (Philologische Studien und Quellen 141); Sönke Jaek: Ich gelêrte si Durndarten. Schwerter in der höfischen Erinnerung. In: Adlige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Werner Rösener, Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung 8), S. 57-78; Lydia Miklautsch: Glänzende Rüstung – rostige Haut. Körper- und Kleiderkontraste in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach. In: Kontraste im Alltag des Mittelalters. Internationaler Kongress Krems an der Donau 1998, hg. v. Gerhard Jaritz, Wien 2000, S. 61-74; Elisabeth Lienert: Der Körper des Kriegers. Erzählen vom Helden in der ›Klage‹. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 130 (2001), S. 127142; Kathryn Starkey: Die Androhung der Unordnung. Inszenierung, Macht und Ver-

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Ein Hilfsmittel des Helden freilich findet selten Beachtung: der Schrei. Krieger schreien in der Schlacht, der Schrei ist Teil ihrer Performanz im Kampf und wird in der mittelhochdeutschen Heldendichtung in dieser Funktion oft eingesetzt: In der Dietrichepik schreien die Krieger Dietrichs den Schlachtruf Ahtschavelir Berne (3.295).3 Als die Saalschlacht im Nibelungenlied beginnt, hört man nicht nur Waffen klirren, sondern die Kämpfe werden von Geschrei begleitet: dô hôrte man allenthalben von wuofe groezlîchen schal (1972,4),4 und die Riesen, die die Flucht Ymelots im ›König Rother‹ verhindern wollen, rufen erst laut und tragen dann zum Kampflärm von Rothers Truppen bei (v. 4.247-4.250).5 An diesen Beispielen wird deutlich, dass Lärm und Geschrei stereotyper Bestandteil von Kampfhandlungen sind. In Wolframs von Eschenbach ›Willehalm‹ ist das Gebrüll der Helden in eine spezifische Klangästhetik eingebunden, deren Grundzüge in der folgenden Skizze vorgestellt werden sollen.6 Dazu kann an eine Reihe von Arbeiten zu historischen Klangwelten angeknüpft werden,7 vor allem an die

handlung in Wolframs ›Willehalm‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002). S. 321-341; vgl. auch den Sammelband: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009, hg. v. Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon und Martin H. Jones, Berlin 2011; Mareike Klein: Die Farben der Herrschaft. Imagination, Semantik und Poetologie in heldenepischen Texten des deutschen Mittelalters, Berlin 2014 (LTG 5); Fridtjof Bigalke: Der Klang der Dinge. Über heldische Exorbitanz im Rolandslied des Pfaffen Konrad. In: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne, hg. v. Anna Mühlherr u.a., Berlin/Boston 2016 (LTG 9), S. 185-207. 3

Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe. Hg. v. Elisabeth Lienert und Gertrud Beck. Tübingen 2003 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1).

4

Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch und Helmut de Boor. Revidierte und von Roswitha Wisniewski ergänzte Auflage. Wiesbaden 1979.

5 6

König Rother. Hg. u. übers. v. Peter K. Stein, Stuttgart 2000 (RUB 18047). Unter helden werden hier, darin der Verwendung im ›Willehalm‹ folgend, ›Krieger‹ verstanden.

7

R. Murray Schafer: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt am Main 1988; jetzt in neuer Übersetzung unter dem Titel: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz 2010; englische Originalausgabe: The Tuning of the World. Toronto/New York 1977; Sabine Žak: Luter schal und süeze doene. Die Rolle der Musik in der Repräsentation, in: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. Hedda Ragotzky, Horst Wenzel, Tübingen 1990, S. 133-148; Jürgen Müller: The Sound of Silence. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens. In: Historische Zeitschrift 292 (2011), S. 1-29;

Heldengeschrei | 27

Untersuchung John Greenfields zum ›Willehalm‹: Greenfield konzentriert sich freilich auf den Klang der Waffen und Instrumente und geht auf Schreie nur im Ausnahmefall ein.8 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Instrumente und Schreie im Lärm der beiden Schlachten von Alischanz strukturell miteinander verknüpft sind.

I.

SCHALLQUELLEN

I.1 Waffen Wie Greenfield festgehalten hat, dominiert im ›Willehalm‹ das Geräusch des Schlachtenlärms.9 Das Heer ist schon ohne den Einsatz der Waffen laut; Lärm ist eine natürliche Begleiterscheinung, wenn sich eine große Menschenmenge in Bewegung setzt, so auch beim Aufbruch des Heeres nach Oransche: Des morgens, do ez begunde tagen,/ hie die karrune, dort der wagen,/ der hort man vil da krachen./ regen und uf machen/ sich daz her begunde (209,1-5 Am nächsten Morgen, als der Tag heraufzog, hörte man überall viele Karren und Wagen

Holger Schulze (Hg.): Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008; William Layher: Hörbarkeit im Mittelalter. Ein auditiver Überblick, in: der âventiuren dôn. Klang, Hören und Hörgemeinschaften in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Ingrid Bennewitz, William Layher, Wiesbaden 2013 (Imagines medii aevi. 31), S. 9-29; vgl. auch John Greenfield: waz hân ich vernomnς (Pz 120,17). Überlegungen zur Wahrnehmung von Schall im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, in: ebd., S 163-174; Christiane Ackermann/Hartmut Bleumer: Gestimmte Texte – Anmerkungen zur einer Basismetapher historischer Medialität, in: Gestimmte Texte. Unter Mitarbeit von Mareike von Müller hg. v. Christiane Ackermann, Hartmut Bleumer, Stuttgart/Weimar 2013 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 43), S. 1–12. 8

John Greenfield: Die Wahrnehmung von Schall im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach, in: Von Mythen und Mären. Mittelalterliche Kulturgeschichte im Spiegel einer Wissenschaftler-Biographie. FS Otfrid Ehrismann, hg. v. Gudrun Marci Boehncke, Jörg Riecke, Hildesheim 2006, S. 49-60, behandelt nur die Schreie des Heeres von Gorhant. Zur Bedeutung des Lärms in der Schlacht vgl. Karl-Heinz Göttert: Geschichte der Stimme, München 1998, S. 124.

9

Greenfield [Anm. 8], S. 51: »Der Tonraum in vier von den neun Büchern des Werkes wird ganz eindeutig vom Kampflärm dominiert.«

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knarren. Das Heer kam in Bewegung und machte sich auf den Marsch). 10 Wenn die feindlichen Heere dann in der zweiten Schlacht von Alischanz aufeinanderprallen, kracht es gewaltig: man horte da manegen kraches don,/ swa der groze puneiz ergienc (384,12f. Da hörte man viele Klänge von Krach, wo der große Zusammenstoß erfolgte, H.S.). Die Lautstärke wird zunächst durch die Waffen erzeugt, deren Klangregister aufgrund ihres Materials konsequent unterschieden werden. Die Speere aus Holz krachen,11 und die Schwerter aus Metall klingen auf Helmen und Schilden und wenn sie gegeneinander geführt werden.12 Doch die durch die Waffen erzeugten Geräusche bilden nicht nur die Kampfhandlungen gewissermaßen naturalistisch ab, sie zeigen zugleich die Intensität des Kampfes an: Owe nu des mordes, der da geschach ze beder sit, do der vane kom in den strit, der brahte den grozen swertklanc

(401,30-402,3)

10 Der ›Willehalm‹ wird im Folgenden zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Willehalm. 3., durchgesehene Auflage. Text nach der Ausgabe von Werner Schröder. Übers., Vorwort und Register von Dieter Kartschoke, Berlin/New York 2003. Auch die Übersetzungen sind, wo nicht anders vermerkt, dieser Ausgabe entnommen. Ferner wurde berücksichtigt: Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Hs. 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mhd. Text, Übers., Komm. Hg. v. Joachim Heinzle. Mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Hs. und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Wiemer, Frankfurt am Main 2003 (Bibliothek des Mittelalters 9). Zur o.g. Textstelle vgl. auch: Andreas Lötscher: Semantische Strukturen der alt- und mittelhochdeutschen Schallwörter, Berlin/New York 1973 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 53), S. 82. 11 Zum Beispiel: 57, 10 diu sper mit krache waren hel; 372,12f. allerste nu donrete der walt/ von lanzen krache und der sper; 427,28-30 er was mit stichen und mit slegen/ uz der jugende unz in sin alter komen:/ sperkrache het er vil vernomen. 12 Zum Beispiel: 73, 1f. Willehalm holt mit dem Schwert zu manchem Streich aus, der durh künege helme erklanc; 346,30 beim Angriff der Heiden auf die Franzosen, so erklärt Terramer, sollen die swert durh helm erklingen; 380, 24f. des war erklenget manec swert/ von ir zweier massenie; 383,8f. manec helm [wart] also gerüeret/ daz diu swert derdurh klungen; 396,7 da von diu swert erklungen; 424,30 da swert uf im erklungen; 441,20 […] da vil swerte erklungen. – Vollständig verzeichnet sind die entsprechenden Textstellen bei Greenfield [Anm. 8], S. 54.

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(Ojeh, welch Totschlag nun auf beiden Seiten einsetzte, als die Fahne in den Kampf getragen wurde, der brachte lauten Schwertklang hervor, H.S.). Und sie lassen das Ausmaß der Gegenwehr erkennen: mit den ecken wart verzwicket/ des selben küneges zuokomen./ da wart groz swerte klanc vernomen (407,28-30 Mit den Klingen wurde jedoch dieser König aufgehalten, so dass man dort den lauten Klang von Schwertern hören konnte, H.S.). Der Klang ist also nicht nur selbstverständliches Nebengeräusch des Kampfes, sondern er wird gezielt erzeugt, um Freund und Feind die eigene Kampfbereitschaft zu signalisieren. Entsprechend formuliert Heimrich seinen Anspruch für die folgende Schlacht: waz swerte drumbe erklingen sol! (150,13 Wie viele Schwerter werden dafür erklingen!), und genauso feuert der Erzähler die Krieger an: Laza klingen! (413,1 lass klingen!, HS). Mit dem lauten Klang der Schwerter ist also bereits eine ›tönende Botschaft‹ verbunden.13 I.2 Instrumente Genau dies, die Erzeugung von Lärm, ist der primäre Zweck der auf dem Schlachtfeld eingesetzten Instrumente. Die Christen nutzen Instrumente allein, um vor der Schlacht Ordnung herzustellen.14 In den Schlachten werden die Instrumente dann ausschließlich durch die Heiden eingesetzt, sie verfügen über Pauken und Trompeten (34, 8), über Trommeln (187,25) und Posaunen (316,18). Dabei geht es keinesfalls darum, Kampf-›Musik‹ zu erzeugen, sondern Krach. Kaum einmal ist vom Klang der Instrumente die Rede – vor Aropatin von Ganfassashe erklingen Trompeten (382,13 waz busine vor im erklanc!), schellenbesetzte Trommeln (382,15 manec rotumbes mit zunel), und auch Pfeifenspieler tönen laut (382,16 da waren ouch floytierre hel). Doch der hier angedeutete Zusammenklang verschiedener Instrumente bleibt die Ausnahme, in erster Linie soll Lärm hervorgebracht werden: man moht da wunder hœren/ von pusinen und von anderm schalle (316,16f. da konnte man Unglaubliches hören, von Trompeten und anderem Lärm, H.S.). Der von dieser Masse an Instrumenten erzeugte Lärm ist kaum zu überbieten. Die Instrumente in der Schlacht von Alischanz unterstützen nicht Ordnung und Orientierung, und sie bringen erst recht keine Musik hervor, sondern dienen dazu, das militärische Handeln mit einer kommunikativen Botschaft zu begleiten, nämlich dass man mit der Herrschaft im Klangraum eine Übermacht beansprucht.

13 Der Ausdruck der ›tönenden Botschaften‹ nach Göttert [Anm. 8], Kap. VII. 14 Dieser Hinweis schon bei Greenfield [Anm. 8], S. 53.

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Der mit den Instrumenten produzierte Lärm soll als akustisches Zeichen die militärische Überwindung des Gegners forcieren. Dies gelingt den Heiden in der ersten Schlacht, denn der instrumental erzeugten Botschaft, dass man die Vormacht im Klangraum schon gewonnen habe und demnächst auch die Schlacht, können die Christen nicht ausweichen.15 Bei dieser mit dem Radau auch auf Inszenierung setzenden Kriegführung ist es umso wichtiger, sich vom Lärm des Gegners möglichst wenig nicht beeindrucken zu lassen, sondern die ›tönende Botschaft‹ als zunächst nur vorgetragene Behauptung zu durchschauen. Entsprechend hebt Terramer bei der Charakterisierung der ihn unterstützenden Könige hervor, dass Haropin und Cliboris über genau diese Fähigkeit verfügten: ir neweder nie gevloch: swa man poynders hurte vernam, da was ir wilde wol so zam, daz si ir biten ime schalle (359,24-27) (Beide flohen niemals. Wo immer man Kampflärm hörte, da waren sie so diszipliniert, dass sie mitten im Kampflärm auf die Feinde warteten, H.S.). I.3 Schreie Zur Geräuschkulisse der Schlacht gehören drittens die Schreie. Dabei handelt es sich, anders als man es bei einer naturalistischen Abbildung erwarten würde, nicht um Schmerzensschreie. Helden in der Schlacht empfinden zwar die Wunde, aber keinen Schmerz. Das ist kein Spezifikum des ›Willehalm‹, sondern ein Befund, den Sonja Kerth für die Dietrich-Epen und Stefan Buntrock für die is-

15 Vgl. Layher [Anm. 7], S. 23, zur Wirkung von Klang: »Das Hörbare bleibt jedoch auf keinen Fall ›da draußen‹, sondern erlangt im Augenblick der Wahrnehmung eine unangenehme Innerlichkeit. Der Klang bleibt nicht, wo er war. […] Das Hörbare drängt in das Ohr und damit in den Körper ein. Und weil Klänge nicht nur hörbar, sondern auch spürbar sind, hat jedes Geräusch eine materielle Präsenz inne, die den Zuhörer berührt, ja sogar penetriert. […] Wir sind unfähig, gegen die Macht der Klänge Widerstand zu leisten. Ein Zuhörer kann nicht ›weghören‹, er ist nicht imstande, die Ohren abzuwenden (außer im metaphorischen Sinne). Das Hörvermögen ist im wahrsten Sinne des Wortes jederzeit aufgeschlossen – zum Nachteil des Zuhörers. Etwas zu hören heißt: der Macht der Klänge ausgeliefert sein.«

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ländischen Sagas ebenfalls herausgearbeitet haben16 und der sich auf das ›Nibelungenlied‹ ausweiten lässt. Das heißt natürlich nicht, dass die Krieger völlig schmerzfrei wären. Sie empfinden Schmerzen aber fast ausschließlich dann, 17 wenn sie die Verwundung eines vriunt, eines Verbündeten, wahrnehmen. Entsprechend wissen die Könige Burgunds nach all den Kämpfen nicht mehr, wem sie ihre ›großen Schmerzen‹ nach den neuerlichen Verlusten noch mitteilen sollen (2.088); wie die Burgunden leiden auch die Verwandten von Etzels Kriegern große Schmerzen, weil diese alle getötet werden (2.134). Diese Art von Schmerz und Klage gibt es auch im ›Willehalm‹, doch scheint der Rahmen dafür eng gesteckt. Jedenfalls kritisiert Irmschart die Schmerzensschreie in Reaktion auf Willehalms Bericht von der Niederlage: »wie ist iuwer ellen sus bewart? ir tragt doch manlichen lip: sult ir nu weinen so diu wip oder als ein kint nach dem ei? waz touc helden sölh geschrei?«

(152,12-16)

(So äußert sich euer Mut? Ihr seid doch Männer! Müßt ihr wie Weiber heulen oder wie ein Kind um ein zerbrochenes Ei? Ziemt Helden solch Geschrei?) Heldengeschrei aus physischem oder empathischem Schmerz ist also nur bedingt akzeptiert, doch begleiten Schreie fortdauernd die Schlacht. Dabei gibt es einerseits unartikulierte Schreie, mit denen die Performanz des Helden im Kampf unterstützt werden soll: Die maximal laute Stimme soll den maximal starken Schlag ankündigen und den Gegner in seiner Gegenwehr einschüchtern. Deshalb hört man Schreie und Schwerter gleichzeitig: manges swertes klinge/ erklanc so man die krie schrei (437,16f.). Nicht nur aggressive, sondern auch warnende Schreie werden in der Schlacht ausgestoßen:

16 Sonja Kerth: Versehrte Körper – vernarbte Seelen. Konstruktionen kriegerischer Männlichkeit in der späten Heldendichtung, in: Zeitschrift für Germanistik 12 (2002), S. 262-274; Stefan Buntrock: ›Und es schrie aus den Wunden.‹ Untersuchung zum Schmerzphänomen und der Sprache des Schmerzes in den Íslendiga-, Konunga-, Byskupasögur sowie der Sturlunga saga, München 2009 (Münchner Nordistische Studien 2). 17 Ausnahmen sind die durch die Strapazen der Reise zu Etzel ausgelösten Schmerzen oder die Schmerzen wegen der Rauch- und Hitzeentwicklung in der angezündeten Halle.

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iuwer iegeslichen hat diu heher an geschriet ime walde: also wart ouch dort der alde durh sinen strit beruofen (407, 10-14) (Jeder von euch wurde im Wald schon von Eichelhähern angeschrien: genauso wurden dort Warnrufe vor dem Alten [Heimrich] wegen seiner Kampfkraft ausgestoßen, H.S.). Doch sehr viel öfter als unartikuliertes Geschrei sind im ›Willehalm‹ die Crie zu hören, die Schlachtrufe. Sie dienen beiden Parteien zur Ordnung in der Schlacht und haben nach Joachim Bumke die gleiche Funktion wie die Fahnen: »Diese optischen und akustischen Signale haben die Funktion, den einzelnen Rittern und Ritterverbänden die Orientierung zu erleichtern und den Zusammenhalt der Abteilungen zu gewährleisten.«18 Dass sie als Erkennungszeichen, als herzeichen (389,2) funktionieren, wird im Handlungsverlauf wiederholt bestätigt: So berichtet Willehalm, dass die Crie ihm Orientierung im Kampf geboten haben: von dem maneger slahte wuof, ir sunder herzeichens ruof, und daz ich heidnisch wol verstuont, da von was mir rehte kunt, wer si waren, dirre unt der, do si mit poynder komen her (207,1-6) (Durch das vielfältige Geschrei, ihren jeweiligen Schlachtruf und dadurch, daß ich das Heidnische gut verstand, wußte ich genau, wen ich jeweils vor mir hatte, als sie auf mich eindrangen.) Dass man einander an den Schlachtrufen erkennt, kommt den Gefangenen zustatten: Am draußen gerufenen Crie Monschoye erkennen die gefangenen Christen das Zudringen der eigenen Krieger (414,21; 414,29), und als sie in den Ruf einstimmen, können sie ihrerseits als die seit der ersten Schlacht vermissten Christen erkannt und befreit werden: Munschoye schriren dise ehte:/ er marcte ir stimme rehte,/ daz si schriten nach der franze (415,13f. ›Monschoye‹ schrien die acht. Er [Rennewart] erkannte an ihren Rufen, daß sie Französisch sprachen).

18 Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/ Weimar 2004, S. 323.

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Doch die Crie haben nicht nur die Funktion, als akustische Zeichen die Identifikation von Freund und Feind zu ermöglichen, sondern sie sind in die aggressive Performanz der kriegerischen Parteien genauso eingebunden wie Waffenklirren und Tromptetenstoß. Man kämpft gleichzeitig mit Schwert und Schrei, mit den ecken und mit dem done (374,17), und man verteidigt sich gegen die Schreie: die sine reswungen wol diu lide/ gein maneger krie die man schrei (385,24f. Die Seinen schwangen kräftig die Arme gegen die vielen Schlachtrufe, die dort ausgestoßen wurden), ja die Gegner sollen sich vor den Schreien fürchten: Heimrichs krie was Narbon,/ den vienden angestlicher don (329,7f. Der Schlachtruf Heimrichs war Narbonne, für die Feinde ein angsteinflößender Klang). Ziel des Kampfes ist, den Gegner mit der militärischen Überwindung zugleich zum Schweigen zu bringen. So trifft der Heidenkönig Cernubile auf erbitterte Gegenwehr durch die Christen, die manec houbet spielten,/ daz die zungen in den munden/ deheine krie enkunden (408,12-14 die viele Köpfe spalteten, so daß die Zungen in den Mündern keine Schlachtrufe mehr ausstoßen konnten). Das Schlachtfeld ist zugleich ein Klangraum, auf dem die Heere mit Schreien und Instrumenten um die akustische Überlegenheit kämpfen.

II. LÄRMEN UND VERSTUMMEN Die erste Schlacht von Alischanz endet mit der Niederlage der Christen. Diese Niederlage wird mit Instrumenten und Schreien klanglich vorbereitet und begleitet.19 Der Beginn der Schlacht wird durch Instrumente markiert: der marchgrave Willalm/ und die getouften horten galm/ von maneger businen (17,23-25 Der Markgraf Willehalm und die Getauften hörten den Schall vieler Posaunen). Als es den Heiden nicht gelingt, die Oberhand über die Christen zu gewinnen, ja die Christen sogar einen leichten Vorteil erreichen, da führen die Heiden die Wende nicht zuletzt durch die Instrumente herbei. Denn man grozte (34,4 vergrößerte) das Heer nicht nur durch viele Fürsten, sondern auch durch vil puken, vil tamburen,/ businen und floytieren (34,6-7 viele Pauken und Trommeln, Posaunen und Pfeifen). Diese Instrumente will Terramer nutzen, um mit krache (34,9) und den getoufen zungemache (34,10 zum Schrecken der Christen) einen neuen Angriff zu starten. Dabei setzen die Heiden nicht nur Instrumente ein. Doch anders als der christliche Schlachtruf Monschoye ist der Name des heidnischen Gottes Tervigant, auf den sich die Heiden zu Beginn der Schlacht als Ruf ver-

19 Greenfield [Anm. 8], S. 52, hält fest, dass in der zweiten Schlacht weniger Kampflärm zu hören sei; wenn man die Schreie mitberücksichtigt, gilt das nicht.

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ständigen (18,26-28), dann in der Schlacht gar nicht zu hören. Trotzdem behalten die Heiden auch stimmlich die Oberhand, denn sie werden unterstützt durch das Geschrei des Heeres von Gorhant. Dessen Krieger haben eine Haut aus Horn und keine menschliche Stimme: der don von ir munde/ gal sam die leithunde/ oder als ein kelber muoter lüet (35,15-17 der Laut aus ihren Kehlen tönte wie Gebell von Jagdhunden oder das Gebrüll einer Kuh). Diese Krieger bringen die Christen in Bedrängnis (vgl. 35,18f.), nicht nur durch ihre Eisenstangen, ihre Schnelligkeit und ihre Hornhaut, sondern auch mit ihrem Gebrüll. Auf dem Höhepunkt der Schlacht erreicht auch der Krach die höchste Lautstärke: Von manger hurte stoze und von businen doze, puken, tamburen schal, und der heiden ruof so lut erhal

(40,1-4)

(Vom wiederholten Aufeinanderprallen der Heere und von den Trompetenstößen, vom Klang der Pauken und Trommeln und dem Geschrei der Heiden war so großer Lärm). Diese allmählich gesteigerte Behauptung des Klangraums durch die Heiden ist mit dem Verstummen der Christen korreliert. Als ihr Ruf wird zu Beginn der Schlacht (wie in der Tradition der Chanson-de-geste seit der ›Chanson de Roland‹ üblich)20 das Wort Monschoy ausgegeben (vgl. 19,1). Doch dieser Ruf kann sich gegen den Lärm der Heiden nicht durchsetzen. Dass die Schlacht verloren ist, erkennt Willehalm zuerst nicht an den vielen Gefallenen, sondern daran, dass der eigene Schlachtruf nicht mehr zu hören ist: riuweclîche er do sprach: »miner mage kraft nu siget, sit sus ist geswiget Monschoy unser krie.« (39, 9-11) (Traurig sprach er: »Die Kraft der Meinen versiegt, da so zum Schweigen gebracht wurde unser Schlachtruf Monschoye.«)

20 Vgl. Heinzle [Anm. 10], S. 844f.: »Es ist bezeugt, daß er im französischen Heer tatsächlich verwendet wurde.«

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Vivianz stemmt sich dem brüllenden Heer, das er hört, bevor er es sieht, noch einmal entgegen: Vivians hort einen doz und sach daz her Gorhandes komen, von den sölh stimme wart vernomen, es möhte biben des meres wac (41,4-7) (Vivianz hörte einen Lärm und sah Gorhants Heer herankommen, das ein derartiges Geschrei hören ließ, daß das Meer davon hätte in Aufruhr geraten können). Er hält dagegen und schreit den christlichen Schlachtruf Monschoye weiter, worüber die Krieger Gorhants in Wut geraten. Ganz offensichtlich brüllen sie weiter, so dass einer der letzten überlebenden Christen, Pfalzgraf Bertram, vor diesem suwern don (41,22),21 vor diesem Missklang, am liebsten fliehen möchte. Dann aber hört er Vivianz Monschoye rufen (41,27 Munschoy kreiieren) und sieht ihn kämpfen. Der Erzähler überlässt seinem Publikum die Entscheidung, ob Bertram sich wegen des christlichen Kampfrufs von Vivianz wieder in den Kampf stürzt: seht ob in des mande Munschoy diu krie, oder twangs in amie? oder müet in Vivianses not? oder ob sin manheit gebot daz er pris hat bejaget? (42,2-7) (Seht selber, ob ihn dazu der Kampfruf Monschoy brachte. Oder zwang ihn seine Minneherrin dazu? Oder quälte ihn die Kampfesnot des Vivianz? Oder trieb ihn seine Tapferkeit, ruhmvoll zu kämpfen?) Die Niederlage ist am Verstummen des Schlachtrufs hörbar: der strit was so ergangen: Munschoy der krie was geswigen;

21 An dieser Stelle übersetzt Kartschoke sûren dôn mit ›Schmerzensschrei‹. Dies passt meines Erachtens nicht zur im Text vorgetragenen Linie, wonach die Krieger Gorhants Angriffsschreie ausstoßen. Schmerzensschreie kommen im Text selten vor.

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siniu zweinzec tusent waren gedigen unz an vierzehen der sine (50,11-13) (So also endete der Kampf: Der Ruf Monschoye war verstummt, seine [Willehalms] zwanzigtausend Mann waren auf die vierzehn zusammengeschrumpft). Auf den Rat seiner wenigen verbliebenen Gefolgsmänner hin beschließt Willehalm, nach Orange zurückzukehren, um dort wenigstens Gyburc beizustehen. Als sie schon hoffen, ohne Verfolgung durchzukommen, werden sie von einem weiteren Heer der Heiden angegriffen: die getouften riefen san/ Monschoy und kerten dar (53,30f.). Die Christen rufen sogleich Monschoye und stellen sich dem Kampf, in dem dann seine restlichen Krieger fallen. Willehalm allein bleibt übrig, der nun als einziger weiterhin kampfbereit Monschoy ruft (56,30f. der dennoch schrei/ Monschoy werlich).22 So wie die Heiden den Klangraum stimmlich und instrumental beherrschen, so wird in einer Antiklimax herausgestellt, wie die Niederlage der Christen sich in ihrem allmählichen Verstummen abzeichnet. Als die Christen nicht mehr rufen können, wandelt sich das Klangzeichen der Heiden: Die aggressive, den Angriff unterstützende Lautgebärde geht in den Ausdruck von Triumpf über, worauf im Text wiederholt hingewiesen wird. Unter dem Eindruck der eigenen Übermacht erhebt Terramer noch auf dem Höhepunkt der Schlacht Prahlgeschrei (44,1 gelpfe). Als Willehalm dann seinen getöteten Neffen Vivianz aus praktischen Gründen zurücklassen muss, um noch kampffähig zu sein, spielt in seinen Erwägungen auch eine Rolle, dass er eine erneute Triumphgebärde der Heiden verhindern will: so wære der heiden schallen und ir spottes deste mer. diz bekande herzeser twanc in ane maze (71,10-13) (Darüber [wenn Vivianz ihm etwa entglitte] aber würde das Geschrei der Heiden und ihr Hohn noch lauter werden. Diese schmerzliche Einsicht bedrückte ihn unmäßig).

22 So auch Heinzle [Anm. 10], S. 877: »er schrie nicht nur werlich, sondern handelte auch so.«

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Später erwächst Willehalm aus dem Radau der Heiden nach dem Sieg ein strategischer Vorteil. Als man ihn weinend und leise aus dem Stadttor von Oransche entlässt, nehmen die triumphierend lärmenden Heiden Willehalm kaum wahr, den sie obendrein aufgrund seiner Rüstung und seiner Sprachkenntnisse für Arofel halten (105,17-21). Klang und Schlacht sind mit einander korreliert: Die Heiden gewinnen die Schlacht, auch weil ihnen mit Instrumenten und Geschrei eine beeindruckende Performanz gelingt. Die militärische Niederlage der Christen zeichnet sich darin ab, dass der Ruf Moschoye an keiner Stelle in der Schlacht einen Angriff eröffnet, sondern im Regelfall als Antwort auf eine gegnerische Aggression erklingt. Und die Zahl der Rufe nimmt kontinuierlich ab. Die Stille der Niederlage verkehrt sich, wie bereits gesehen, am Hof in Laon in lautes Klagen. Doch hier begrenzt der Erzähler die Durchsetzungsmacht der lautstarken Klage, wenn er sie um die leise Trauergebärde von Willehalms Bruder Bertram ergänzt: sin ougen warn entlochen,/ daz ieslich zaher den anderen dranc:/ ir vallen im uf der wæte klanc (171,18-20 Die Schleusen seiner Augen hatten sich geöffnet, so daß eine Träne der anderen folgte: sie tropften hörbar auf sein Gewand).

III.

GESCHREI UND RUFE

Auch in der zweiten Schlacht von Alischanz versuchen die Heiden, durch ihre Instrumente zu beeindrucken: Terramer fordert von Cernubile die klangliche Eröffnung der Schlacht. Er solle tausend Trommeln (360,5) schlagen lassen, und dieser bläst mit 800 Trompeten (360,8) zum Angriff, einem Instrument, das in seinem Land erfunden worden wäre (360,10-12). Auf dem Höhepunkt der Schlacht wird maximaler Krach erzeugt: da wart geworfen und geslagen, als ir mich e hortet sagen, tusent rotumbes sleht, ir neheiniu krumbes; und aht hundert pusinen snar man horte da mit krache gar (400,15-20) (Da schlug und rührte man, wie ich schon erzählt habe, tausend Trommeln mit straff gespanntem Fell; und das Schmettern der achthundert Trompeten hörte man in großer Stärke).

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Und der Erzähler wiederholt den Vergleich, mit dem er den Lärm des Heeres von Gorhant kommentiert hatte: Die Durchschlagskraft der Instrumente war so groß, dass selbst das tiefe Meer von dem Krach der Trommeln und Trompeten in Aufruhr geraten könnte (400,21f. von dem biben und von dem schallen/ möhte daz tiefe mer erwallen). Indem der Lautstärketopos der ersten Schlacht hier für den Lärm der Heiden nochmals wiederholt wird, deutet der Erzähler einen ähnlichen Ausgang der Schlacht an. Doch es kommt anders: Gegenüber den Instrumenten sind die Crie für die Heiden von untergeordneter Bedeutung. Zwar kündigt der Erzähler an, die von Terramer an seine zehn Heeresverbände ausgegebenen Schlachtrufe benennen zu wollen: ich wil iu nennen, ob ich kan,/ wen Terramer zuo zim do schuof,/ vil maneger krie sunder ruof (344,4-6 Ich will euch, so weit ich es weiß, aufzählen, wen Terramer ihm zuordnete und den jeweiligen Klang vieler Schlachtrufe, H.S.), 23 aber die folgende Ansprache enthält gar keine Schlachtrufe. Das ändert sich auch mit dem Beginn der Schlacht nicht. Zwar werden noch einmal maneger slahte crie (359,6 viele Arten von Rufen) aus dem Heer des Königs Crohier von Oupatrie angesagt, dann aber verweist der Erzähler mit einem Unsagbarkeitstopos allein auf die Vielzahl der heidnischen Rufe: Ine mac niht wol benennen gar allen den ruof der heiden sunder schar, waz si kreiierten so si pungierten (372,1-4) (Ich kann nicht alle Schlachtrufe der einzelnen Heidenscharen wiedergeben, was sie schrien, wenn sie zum Angriff ritten). Kaum einmal wird deren Lautgestalt präzisiert: Der Ruf der ersten Schlacht (18,28 Tervigant) wird nicht wiederaufgenommen; an einer Textstelle wird erklärt, dass die Leute Arofels den Namen ihrer Hauptstadt Samarkant rufen (374,18 ir krie Samargone/ in manegem poynder wart geschrit); schließlich heißt es auf dem Höhepunkt der Schlacht noch einmal, dass Ektor, der König von Salernie, Terramers Schlachtruf Cordes ausstoße (401,28f. Terramers krie/ begunder rüefen Cordes). Ein Wiedererkennen der heidnischen Schlachtrufe wird also nicht angezeigt, doch ist klar, dass die Christen weiterhin auch gegen Schlachtrufe kämpfen (vgl. die oben bereits zitierte Textstelle 385,24f.). Das Heer des Königs Gorhant, das in der ersten Schlacht durch schiere Lautstärke al-

23 Anders versteht Heinzle [Anm. 10], S. 1041, diese Textstelle metonymisch.

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les übertönt hat, wird nun durch eine Vielzahl von Rufen in verschiedenen Sprachen charakterisiert: vil krie uz manegen donen/ si schriten uz maneger sprache (396,20f. Viele verschieden klingende Schlachtrufe stießen sie in allerlei Sprachen aus).24 Und ein weiteres Mal wird betont, dass die Heiden ihren Angriff auch durch Rufe unterstützen: Maneger slahte kreiieren/ si brahten mit in in den sturm (401,2f. Mit unterschiedlichen Schlachtrufen stürmten sie zum Angriff heran). Diese fehlende Prägnanz der heidnischen Schlachtrufe in der zweiten Schlacht lässt sich mit dem Aufwand kontrastieren, den der Erzähler der Bestimmung der christlichen Schlachtrufe widmet. Zunächst erinnert Ludwig nach der Ankunft in Orleans an die Geschichte des wichtigsten christlichen Rufs Monschoye: der künic gap selbe sriches vanen dem marcraven und hiez in manen daz her um Munschoy den ruf: »der minen vater Karel schuof in strite manec koberen. die nideren und die oberen, ir stritet berge oder tal, sit gemant um des ruofes schal«. (212,17-24) (Der König übergab eigenhändig die Reichsfahne dem Markgrafen und gebot ihm, das Heer an den Schlachtruf Monschoye zu erinnern, »der meinen Vater Karl im Kampf immer wieder zum Sieg führte. Ob ihr unten oder oben seid, auf Bergen oder in Tälern kämpft, vergeßt den Schlachtruf nicht.«)25

24 Vgl. zu dieser Textstelle auch Heinzle [Anm. 10], S. 1061f.: »Die Richtungskonstruktionen sind merkwürdig: die erste (ûz manegen dônen) beschreibt die Qualität des Schreiens (»in mancherlei Tonarten«), die zweite (ûz maneger sprache) führt das näher aus und steht damit in einem Kausalitätsverhältnis zur ersten: »der klang der rufe war ein verschiedener, da die rufe verschiedensprachigen völkern angehörten« (Wiessner, Richtungsconstructionen I, S. 543).« 25 Der besondere Stellenwert des Rufs Monschoye wird auch von Ernalt herausgehoben, als er dessen Gebrauch durch den ihm zunächst unbekannten Ritter (Willehalm) zunächst für eine List hält: Ernalt sprach ‚herre, wer daz si,/ dem wont des küneges krie bi,/ da mit der keiser Karel vaht,/ der si hat geerbt und braht/ uf sinen sun, derz riche hat/ und noch die krie niemen lat/ wan den die siner marke war/ nement gein ander künege schar. (»Ihr Herren,« sprach Ernalt, »wer es auch sei, auf jeden Fall führt er den königlichen Kampfruf, mit dem schon Kaiser Karl in den Krieg zog, der ihn als

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Dem Ruf Monschoy kommt dabei aufgrund seiner Geschichte als bewährtes Hilfsmittel im Kampf gegen die Heiden einerseits und aufgrund seines Inhalts andererseits ein besonderer Status zu: Sieht man von dem Götternamen Tervigant ab, den die Heiden in der ersten Schlacht als Ruf verwenden, handelt es sich bei den Schlachtrufen vor allem um Herkunftsnamen: Samarkant ist die persische Hauptstadt, Cordes ein Land Terramers, Narbonne das Lehen Heimrichs usw. ›Monschoye‹ als ›meine Freude‹ drückt dagegen die Erwartung der Christen auf die Belohnung mit dem ewigen Leben aus und soll in der Schlacht entsprechend größte Opferbereitschaft signalisieren. In der Schlacht dann dienen die Rufe, wie bei Signalzeichen nicht anders zu erwarten, der Identifikation der einzelnen Heeresverbände, und so werden den sechs Abteilungen sechs verschiedene Rufe zugeteilt, die meisten Landesnamen. Willehalms eigene Schar soll Monschoye rufen; Heinrichs Gruppe wird Narbonne zugewiesen, Bernards Ruf ist Brubant, die vierte Schar schreit Berbester, die fünfte Schar Tandarnas. Die sechste Gruppe schließlich ist die des zeitweilig geflohenen Reichsheers. Dessen Krieger sollen Rennewarts Namen in der Schlacht rufen. An den Rufen können sich die Christen in der Schlacht gegenseitig erkennen, sie helfen aber auch den Gegnern bei der Orientierung. Denn diese befragen vor der Schlacht ihren Späher, ob König Ludwig sich Willehalm angeschlossen hat: »wære du den Franzosen so nahen bi daz du ir krie hortes sunder? kumt Loys dar under, des houbet rœmisch krone tregt?« (337,14-16) (»Warst du den Franzosen so nahe, daß du ihre einzelnen Schlachtrufe hören konntest? Kommt Ludwig mit ihnen, dessen Haupt die Römische Krone trägt?«) Doch die Rufe dienen nicht nur der Identifizierung von Freund und Feind – wie die Instrumente und Waffen werden sie mit einem Überbietungsgestus vorgetragen und vom Feind auch nicht unterschätzt. Willehalms eigene Schar soll gegen die feindliche Übermacht (329,5 gein starker viende überkraft) Monschoye rufen; Bernards Ruf Brubant soll gein überlast in strite (329,14 gegen die Übermacht im Kampf, H.S.) geschrien werden. Die Krieger der sechsten Gruppe

Erbteil auf seinen Sohn brachte, der nun regiert und bis heute keinem diesen Ruf zugestanden hat außer denen, die seine Grenzen gegen Kriegsscharen fremder Könige verteidigen.«).

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schließlich sollen sich gegenseitig anspornen (333,6 ir sult ein ander ellens machen), indem sie Rennewarts Namen in der Schlacht rufen, und genau tun sie dann auch, als sie in Bedrängnis geraten (388,30-389,1 si begunden schrien Rennewart,/ si wolden vristen gerne ir leben). Der Ruf soll ihr Leben retten helfen. Und andererseits warnt der Späher, der Zeuge der Verteilung der christlichen Rufe ist, Terramer mit dem Hinweis auf diese Crie dringend davor, den zahlenmäßig unterlegenen Gegner geringzuschätzen: Schließlich habe man erst drei Tage zuvor gegen Christen verloren, die den Schlachtruf Tandarnas ausstießen (334,30 die selben schriten Tandarnas). Die Rufe sind als stimulierende Hilfsmittel also anerkannt. Die ordnende Funktion wird auf dem Höhepunkt der Schlacht deutlich erkennbar: Über die Crie finden die versprengten Christen zueinander: […] nu wart vernomen/ von den kristen liuten über al/ sehs herzeichen lut erschal (397,6-8 Da hörte man nun von den Christen überall die sechs Schlachtrufe laut erschallen). Es folgt eine erneute Auflistung der sechs Rufe,26 und die bedrängten Christen können sich Raum verschaffen und sich erneut sammeln (398, 1 die kristen sint zuo ein ander komen). Dies wird ausdrücklich auf die Rufe zurückgeführt: die krie zesamene si brahten (398,8). Nachdem die Christen sich vereinigt haben (vgl. auch 403, 11-13), werden sie nun durch den Angriff und den Krach der Instrumente wieder getrennt: der groze puneiz si doch schiet,/ und der starke krach der pusin;/ und daz der tusent muosen sin,/ rotumbes, die man da sluoc (403,14-17 Der gewaltige Angriff trennte sie doch wieder und der Lärm der Trompeten; und daß man tausend Trommeln rührte). Die Heeresteile werden zersprengt, eine Zuordnung zum eigenen Trupp ist nicht mehr möglich, und die christlichen Ritter kämpfen jetzt unter irgendeiner der sechs Fahnen. Ihre Schreie aber klingen zunächst weiterhin gemeinsam (405,19 ir krie ouch waren gemeine), als Kollektiv sind sie durch ihre Rufe zunächst weiterhin zu erkennen. Diese klangliche Einheit der Christen geht dann im nochmaligen Ansturm der Heiden

26 Von den kristen über al/ sehs herzeichen lut erschal./ ein ir ruof was Narbon;/ sus hal da der ander don/ durh koverunge, Brubant;/ do was der dritte ruof benant/ den Franzoysen, Rennewart/ (harte kleine was der zart/ der gein in da begangen was);/ der vierde ruof was Tandarnas;/ Berbester was der vümfte/ gein Marlanzes kümfte;/ done mohte diu schar des markys/ vermiden niht deheinen wis,/ sine schrieten Munschoye (397,7-21 Ein Ruf lautete: ›Narbonne‹; der zweite rief zur Sammlung ›Brubant‹; der dritte Ruf galt den Franzosen: ›Rennewart‹ (es war wahrlich keine zarte Behandlung, die sie dort erfuhren); der vierte Ruf war: ›Tandarnas‹; ›Berbester‹ erklang als fünfter dem anreitenden Marlanz entgegen; da konnten auch die Ritter des Markgrafen durchaus nicht an sich halten, sondern riefen ›Monschoye‹).

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verloren: Man hort da manege krie./ Da ergienc ein temperie,/ als wir gemischet nennen (420,1-3 Viele Schlachtrufe hörte man. Nun breitete sich ein Chaos aus, [wie wir es nennen würden, H.S.:] ›ein Durcheinander‹). Das Fehlen jedweder Ordnung im Entscheidungsmoment der Schlacht wird über die fehlende Möglichkeit der Zuordnung der Rufe, einen Klangbrei, wenn man so will, angezeigt.27 Als die Heiden nun nochmals einen Heerführer aufbieten können, dessen Angriff durch zahllose Instrumente unterstützt wird, sind die Christen demoralisiert: Sus kom der künec Purrel mit maneger pusinen hel: über al daz her schal der doz. die getouften durh not verdroz so maneger niuwen starken schar

(427,1-5)

(So kam König Purrel mit vielen lauten Trompeten; über das ganze Schlachtfeld hin breitete sich ihr Lärm aus, die Christen waren über die vielen neuen Kriegerscharen bestürzt, H.S.). Doch Purrell trifft auf Rennewart, der ihn mit einem einzigen Schlag seiner Stange (die dabei zu Bruch geht) tötet. Der letzte Laut, der vom schwer verletzten Purrel ausgeht, ist das Krachen seiner Glieder: Purrele erkracheten gar diu lit (429,17). Als die Schlacht entschieden ist und man im Wesentlichen noch den Fliehenden nachsetzt, braucht man auch die aggressiven Crie nicht mehr. Sie werden ausdrücklich aufgegeben: Der sehs herzeichen ruof, die man smorgens den getouften schuof, wart etswa nu vergezzen. do mit swerten was gemezzen diu schunpfentiure so wit, so groz man hort da mangen niuwen doz: swannen ie der man was benant, also schrei er al zehant in vürten und uf plane. (437,1-9)

27 Vgl. Starkey [Anm. 2], S. 327, die »den Lärm bzw. die Kakophonie der zahlreichen Trompeten und der unterschiedlichen Stimmen« auf dem Schlachtfeld betont.

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(Die sechs Schlachtrufe, die am Morgen den Christen zugeteilt worden waren, wurden [hier und da, H.S.] nun vergessen, als mit den Schwertern der Sieg in seiner ganzen Größe ausgemessen wurde. Manch neuen Ruf konnte man hören. Seinen Herkunftsnamen schrie jeder ganz spontan in Furten und Feld.) Nachdem sich das christliche Heer während der Schlacht durch seine Rufe vereint und angespornt hatte, löst sich diese Einheit zum Ende der Schlacht in die regionalen Identitäten (Nancy, Ypern, Arraz) auf: Diese abschließenden Jubelschreie kommentieren das Ereignis und versuchen nicht mehr wie die zuvor gerufenen Crie, den Verlauf der Schlacht zu manipulieren. Auch wenn die Christen – wie gesagt – in den Schlachten keine Instrumente verwenden, bleibt ihnen die letzte instrumentale Triumphgeste im ›Willehalm‹ vorbehalten: Am Ende, als die zweite Schlacht siegreich geschlagen ist, da nun setzen die Christen abschließend noch einmal das Klanginstrument ein, das im Rolandslied wiederholt entscheidend Einfluss auf den Kampfverlauf nimmt: das Horn: Bernart von Brubant blies ein horn, daz Olifant an Ruolandes munde nie ze keiner stunde an deheiner stat so lute erhal. (447,1-5) (Bernart von Brabant blies ein Horn, dass selbst der Olifant am Munde Rolands niemals und nirgends so laut erklungen war.) Der Hornstoß nach der Schlacht ist als späte, nun aber die Macht im Klangraum final beanspruchende Triumphgeste zu lesen. Doch auch die zweite Schlacht endet nicht monoton. Während das Instrument den Sieg verkündet, wird stimmlich an dessen Preis erinnert, denn der letzte im ›Willehalm‹ angesprochene menschliche Laut ist leiser: da heten siuftebæren schal/ die minren und die merren (445,22f. do hörte man von allen, den Hoch- und den Niedriggestellten, nichts als den Klang von Seufzern, H.S.).

IV.

FAZIT

Die vorgestellte Lektüre hat gezeigt, dass im ›Willehalm‹ einerseits der durch Instrumente erzeugte Ton und die stimmlich produzierten Schreie strukturell

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miteinander verknüpft sind und andererseits die ›locker aneinander gefügten Momentbilder vom Gewoge der Schlacht‹28 durch die immer wieder neu aufgegriffene Schilderung einer klanglichen Entwicklung miteinander verbunden werden. Während die Kämpfe selbst durch enormen Lärm gekennzeichnet sind, moderiert der Erzähler auch die Stille nach der Schlacht: Dass das Tropfen der Tränen und das Seufzen der Verwundeten jeweils als späte Kommentierungen des Verlaufs eigens ausgeführt werden, ist keinesfalls typisch für die Heldendichtung und kann als Kommentar des Erzählers zum Diskurs der Gewalt gelesen werden. Die Klangregister der gegnerischen Parteien sind zunächst durch die Instrumente unterschieden, die ausschließlich von den Heiden in die Schlacht mitgenommen werden. Zusätzlich verfügen die Heiden in der ersten Schlacht über das unartikulierte Gebrüll der Krieger von Gorhant. Die Christen setzen stimmlich den einen Ruf Monschoye dagegen, dessen allmähliches Verklingen die Niederlage anzeigt. In der zweiten Schlacht setzen wiederum allein die Heiden Instrumente ein. Nun werden beiden Heeren Schlachtrufe zugeordnet, doch sind die christlichen Schlachtrufe privilegiert: Die ›siegreiche‹ Geschichte des Rufs Monschoye, die wiederholte Benennung von sechs verschiedenen Schlachtrufen für die Christen und deren formierende Funktion in der Schlacht werden deutlich herausgestellt. Die heidnischen Rufe werden dagegen zwar angekündigt, dann aber gar nicht benannt. Der Erzähler hält wiederholt summarisch fest, dass sie ›viele verschiedene Schreie‹ ausstoßen, die ganz offensichtlich nicht – wie die der Christen – gemeine (zusammen) klingen, sondern als Gewirr von Stimmen in unterschiedlichen Sprachen wahrgenommen werden. 29 Zwar führt schließlich Rennewart die Entscheidung gegen den klangstarken heidnischen König Purrell herbei, aber die Schreie der christlichen Krieger sind durch ihren orientierenden Klang wesentliches Hilfsmittel in der Schlacht. In seiner Differenzierung eines heidnischem von einem christlichen Klangregister schließt Wolfram an das Rolandslied an, das er nachweislich gekannt hat. Im mittelhochdeutschen Rolandslied ist der »Signalcharakter ganz überlagert vom Ausdruckswert der Lautstärke als Herausforderung, Machtdemonstration, als eitles Selbstvertrauen der Heiden besonders wirkungsvoll im Kontrast zu den demütigen Anrufungen Gottes in Gebeten und Gesängen der Christen.«

28 Vgl. Bumke [Anm. 18], S. 281; vgl. auch die Darstellung bei Heiko Hartmann: Einführung in das Werk Wolframs von Eschenbach, Darmstadt 2015, S. 84 und S. 94. 29 Göttert [Anm. 8], S. 119, weist daraufhin, dass Polybios in seiner Schilderung der Punischen Kriege die römischen Gegner wegen ihres Sprachengemischs als »uneinheitlich und verworren wahrnimmt.«

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Zwar seien, so Žak, Kriegsgeschrei und Olifant auch auf Seiten der Christen laut, doch trete dies »weit zurück hinter dem Lärm als Charakteristikum für die Überheblichkeit der Heiden.«30 Diese klangliche Kontrastierung setzt sich in der Wahrnehmung fort: Während der Olifant für die Christen süß erklingt, verbreitet sein Klang unter den Heiden Angst und Schrecken. »Die quasi-konfessionelle Klangdifferenzierung und -perzeption Olifants durch die Heiden (übel) und die Christen (süeze), also die spezifische Klangästhetik, darf wohl als Zugabe Konrads gelten.«31 Auch im ›Willehalm‹ wird, wie gesehen, grundsätzlich, wenn auch ohne die Polemik des Rolandsliedes, an einer klanglichen Differenzierung der gegnerischen Verbände festgehalten. Während die Heiden in der ersten Schlacht auch dadurch gewinnen, dass sie mit Instrumenten und unartikuliertem Geschrei maximalen Lärm erzeugen, kann der in der zweiten Schlacht erzeugte Lärm von tausenden von Instrumenten und ungezählten Schreien in vielen verschiedenen Sprachen sich gegen die klar artikulierten und in ihrer Ordnungsfunktion bewährten Rufe der Christen nicht durchsetzen. Doch Wolfram geht nicht so weit, die klangliche Polarität der Parteien bis zur Frage der Wahrnehmung fortzusetzen. Die Schreie der Heiden erklingen für die Christen suwer (bitter), die der Christen den Heiden angestlich (angsteinflößend). Auch wenn Wolfram mit seiner Klangpoetik im ›Willehalm‹ zwischen den Kontrahenten vielleicht stärker polarisiert, als man dies vom epischen Blick her erwarten würde, 32 eröffnet er in Bezug auf die Wirkungsästhetik keine prinzipielle Differenz zwischen Christen und Heiden. Neben dem Rolandslied soll abschließend ein weiterer Text zum Vergleich herangezogen werden, J.R.R. Tolkiens ›Herr der Ringe‹. Dass Tolkiens Text als Rezeptionszeugnis auch der mittelalterlichen Heldendichtung gelten kann, ist bekannt,33 und die Übereinstimmungen in der Klangästhetik sind, wie am Bei-

30 Žak [Anm. 7], S. 136. 31 Bigalke [Anm. 2], S. 199. 32 Vgl. Klein [Anm. 2], S. 230: »Die Sarazenen [werden] als ›die Anderen‹ weder in moralischer noch in ästhetischer Hinsicht als die Nicht-Idealen diffamiert, sondern im Gegenteil aufgewertet, wie die Glanz- und Farbattribuierungen verdeutlichen.« Zur Diskussion von Wolframs ›Willehalm‹ als Toleranzschrift: Christoph Fasbender: ›Willehalm‹ als Programmschrift gegen die ›Kreuzzugsideologie‹ und ›Dokumente der Menschlichkeit‹, in: ZfdPh 116 (1997), S. 16-31; 33 Zur Adaptation der mittelalterlichen Heldendichtung durch Tolkien vgl. Arnulf Krause: Die wirkliche Mittelerde. Tolkiens Mythologie und ihre Wurzeln im Mittelalter, Stuttgart 2012, S. 167-190; vgl. auch: Hans-Heino Ewers: Fantasy – Heldendichtung

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spiel der Schlacht von Helm’s Deep im Folgenden skizziert werden soll, überraschend zahlreich. In dieser Schlacht müssen sich die Reiter von Rohan mit einem Teil der sog. Gefährten gegen Gegner (Orks und Menschen) aus Isengart wehren. Der Angriff der Gegner erfolgt mit Trompeten (»Brazen trumpets sounded«).34 Während die Verteidiger Schlachtrufe ausstoßen, die die Namen ihrer Schwerter oder Vorfahren zum Gegenstand haben,35 sind die Schreie der Gegner unartikuliert: Sie werden von Eomer als Kreischen von Vögeln oder Bellen von Monstern wahrgenommen,36 ja das Brüllen der Gegner vergleicht der Erzähler mit dem bekannten Lautstärketopos des brüllenden Meeres: »Against the Deeping Wall the hosts of Isengard roared like a sea.« (ebd., S. 548). Als die Morgendämmerung naht, besinnen sich die Verteidiger der Burganlage auf ihre wichtigste Waffe, das im Turm angebrachte Horn, nach dem die ganze Burganlage benannt ist: Hornburg. Das einzige in dieser Schlacht von den Verteidigern geblasene Horn hat auf den Feind die erwünschte einschüchternde Wirkung: »And then, sudden and terrible, from the tower above, the sound of the great horn of Helm rang out. All that heard that sound trembled. Many of the Orcs cast themselves on their faces and covered their ears with their claws.« (S. 554)

Anders als die Orks schöpfen die Verteidiger durch den Klang, dessen Echo fortdauert, neuen Mut und fegen unter sich wechselseitig anfeuernden Rufen durch das feindliche Heer hindurch ›wie Wind durchs Gras‹ (ebd.). Die Gegner fliehen unter Schreien und Heulen. (»they cried and wailed«, ebd.). Als nun auch noch Hörnerklang durch neu hinzukommende Kampfverbände ertönt, brüllen die Feinde und wenden sich erneut zur Flucht, und wieder ertönt das Horn (»Again the horn sounded from the tower.«, S. 555). Die Gegner taumeln und schreien und werfen die Waffen weg. Jaulend fliehen sie unter die Schatten von Baumwesen, von denen sie vernichtet werden.

unserer Zeit: Versuch einer Gattungsdifferenzierung, in: Zeitschrift für Fantastikforschung 1 (2011), S. 5-23. 34 Zitiert wird nach der folgenden Ausgabe: J.R.R. Tolkien: The Lord of the Rings, London 2005, hier: S. 546 und 550. 35 »The two swords flashed from the sheath as one. »Gúthwinë!«, cried Éomer. »Gúthwinë for the Mark!« »Andúril!« cried Aragorn. »Andúril for the Dúnedain!«« (ebd., S. 547). 36 Ebd., S. 550: »›I hear them,‹ said Eomer, ›bur they are only the screams of birds and the bellowing of beasts to my ears.‹«

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Die Schlacht-Schilderung wird bei Tolkien also, wie bei Wolfram, durch Klangereignisse strukturiert und die gegnerischen Parteien wie bei Wolfram und Konrad durch unterschiedliche Klangregister voneinander abgegrenzt. Ob Tolkien einen der Texte kannte, soll hier nicht zur Diskussion stehen. Erkennbar ist jedenfalls der Versuch, die in den mhd. Texten mehr (Rolandslied) oder weniger (Willehalm) herausgestellte Polarität der Parteien krass zu verstärken: Der nicht aufhörende Klang von Helms Horn ist als Steigerung des Olifanten und das Geheul (wailing), Gebrüll (roaring) und Geschrei (screaming) der Orks als Steigerung der unartikulierten oder stimmlich disparaten Schreie der Heiden im ›Willehalm‹ zu lesen. Das Othering der mittelalterlichen Vorgängertexte wird in

der Klangästhetik Tolkiens noch einmal zugespitzt und deren Semantik von einer konfessionellen auf eine rassistische Ebene verlagert.37 Der ›Willehalm‹ erscheint als spröder, schwer vermittelbarer Text, und man könnte meinen, dass dies an den dominierenden Schlachtschilderungen liegt. Mit einer solchen Annahme gerät jedoch außer Acht, dass Tolkiens ›Herr der Ringe‹ und dessen Verfilmung mit den identischen Wirkungsmechanismen in den zeitgenössischen Erzählwelten der fantasy enorm erfolgreich ist.

37 Niels Werber: Der Nomos von Mittelerde. Popularisierungen von Tolkiens Romanwelt. In: Die Literatur des Mittelalters im Fantasyroman, hg. v. Nathanael Busch und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2018, S. 97-129.

Ecke am Zeichenpool – oder: Wie man kein Held wird Eine semiotische Analyse des ›Eckenliedes‹ Anne-Katrin Federow

I.

HELDEN-SEMIOTIK IM ›ECKENLIED‹

Dietrich von Bern zählt zweifelsohne zu den berühmtesten Helden mittelhochdeutscher Heldenepik. Aber auch sein Widerpart Ecke im ›Eckenlied‹ bindet einige Aufmerksamkeit an sich, weil er – so meine These – Dietrich wegen dessen heldenhafter Berühmtheit mit dem Ziel kopieren will, ein neuer Dietrich zu werden und diesen zu ersetzen. Der Text illustriert diesen Ersetzungsprozess entlang mehrerer Zeichenketten, die Ecke äußerlich Dietrich annähern. Doch dem Prozess ist sein Scheitern inhärent: Die Zeichen funktionieren bei Ecke nicht friktionslos, er ist nicht eindeutig lesbar und das äußert sich im Nicht-Gelingen von Kommunikation, die Zeichen ja gerade sicherstellen sollen. Ein Held durch Mimesis oder besser: aggressive Mimikry zu werden, kostet Ecke schließlich den Kopf. Das ›Eckenlied‹ drängt sich damit für semiotische Analysen geradezu auf. Die Sukzessionslogik des Ecke’schen Kopiervorgangs prädestiniert die Untersuchung im Besonderen für die prozessual gedachte Semiotik von Charles Sanders Peirce, von der im Prinzip nur die bekannte Unterscheidung in Ikon, Index und Symbol Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden hat. Die Mediävistik hat von ihr bisher kaum Notiz genommen. Allein Kay Malcher testet die Semiotik an der Eingangspassage des ›Eckenliedes‹ in Hinblick auf die darin formulierten

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Emotionszeichen und bildet damit den unmittelbaren Anknüpfungspunkt für meinen Beitrag.1 Peirces Verdienst besteht nun, neben dem Dreiklang von Ikon, Index und Symbol, in der Erweiterung der Zeichendyade zur -triade: Ein Zeichen ist für Peirce gegeben, wenn etwas (ein Zeichenmittel oder Repräsentamen)2 für etwas anderes (ein Objekt)3 steht und durch einen Interpretanten 4 interpretiert wird. Die Relation von Zeichenmittel und Objekt beansprucht also allein mit Blick auf den Interpretanten Relevanz, der sie allererst herstellt und ihr Bedeutung zumisst.

1

Vgl. Kay Malcher: Emotionszeichen à la Peirce. Zur semiotischen Fundierung einer literarturwissenschaftlichen Emotionsforschung, in: 11. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelalterliche Heldenepik – Literatur der Leidenschaften, hg. v. Johannes Keller u. Florian Kragl, Wien 2011, S. 107-136. Die neuere diagrammatische Forschung vermag der Semiotik womöglich neuen Auftrieb in literaturwissenschaftlicher Hinsicht zu geben, wobei die Anbindung an Peirce mehr oder weniger streng gehandhabt wird. Vgl. für einen Einstieg in den Umgang mit der Theorie aus Sicht der Philosophie die gut lesbare Arbeit von Gerhard Schönrich: Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce, Frankfurt a.M. 1990.

2

Das Zeichenmittel stellt die materielle Beschaffenheit eines Zeichens dar, in der es realisiert wird. Vgl. Hans Vilmar Geppert: Der realistische Weg: Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994, S. 124; Schönrich [Anm. 1], S. 106.

3

Mit dem Objekt ist ein Ding/ Sachverhalt gemeint, auf das/ den durch das Zeichenmittel Bezug genommen wird. Damit sind durchaus nicht nur Einzeldinge gemeint, sondern alles, was Gegenstand des Denkens, Meinens, Wollens und Wünschens sein kann. Das Objekt bleibt stets dasselbe, es ist aber gegenüber unendlich vielen interpretierenden Bezugnahmen offen. Vgl. Schönrich [Anm. 1], S. 105, 109 und 128.

4

Der Interpretant konstruiert das Zeichen überhaupt, weil er dem Objekt, welches durch das Zeichenmittel repräsentiert wird, Bedeutung verleiht. An der Stelle des Interpretanten kann sich jeweils eine neue Triade anschließen und damit Zeichen zur Erklärung von Zeichen produzieren. Vgl. Schönrich [Anm. 1], S. 150-158. Die diversen Varianten der Zeichendefinition finden sich in Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, hg. u. übers. v. Helmut Pape, Frankfurt a.M. 1983 [amerikan. Orig. 1903], S. 64 sowie Charles S. Peirce: Semiotische Schriften, 3 Bde., hg. u. übers. v. Christian J. W. Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt a.M. 2000 [amerikan. Orig. 1865-1913], Bd. I, S. 204, 375, 390, Bd. II, S. 164.

Ecke am Zeichenpool | 51

Die Elemente sind hierbei nicht auf einen »bestimmten ontologischen, empirischen oder epistemischen Status«5 festgelegt, sodass jede Position durch reale oder fiktive Dinge, Menschen, Begriffe, Konzepte, Gefühle, Wirkungen etc. besetzt sein kann. Weder müssen Zeichenmittel und Objekt Dingcharakter im physikalischen Sinne haben noch muss der Interpretant eine Entität mit Bewusstsein und Geist, kurz ein menschlicher oder wenigstens tierischer Interpret, sein. 6 Im Gegenteil kann jede beliebige Entität, die in die entsprechende triadische Zeichenrelation eingebunden ist, als Interpretant fungieren. Dieser rein relationale Zeichenbegriff von Peirce ermöglicht es dem Literaturwissenschaftler, prinzipiell jedes literarische Phänomen auf allen sprachlichen Ebenen, der Mikro- oder Makroebene der Erzählung, der inner- oder außertextuellen Realität usw. in den Blick zu nehmen. Mit Blick auf die Anwendung der Theorie auf literarische, zumal erzählende Texte ist Peirces Ansatz einer prozessualen Semiotik am fruchtbarsten, die darauf basiert, dass die Bedeutung eines Zeichens ein anderes Zeichen ist. Diese Dynamisierung impliziert eine nachgerade »epische Auffassung des Zeichens« 7, wie das der Neugermanist Geppert nennt. Dies kann verstehen helfen, wie narra-

5

Malcher [Anm. 1], S. 119. Die ontologische Unbestimmtheit der Zeichen bei Peirce macht seine Semiotik gegenüber den bisherigen mediävistischen Ansätzen zu Zeichen, die auf reine Dinganalyse abzielen, überaus attraktiv, weil sie weitere Felder bearbeitbar macht, ohne die von Anna Mühlherr: Eigen-Sinn von Dingen in älterer Erzählliteratur, in: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. internationalen Germanistenkongresses, Bd. 5., hg. v. Franciszek Grucza u. Jianhua Zhu, Frankfurt a.M. 2012, S. 235-239, hier: S. 238 geforderte »kategoriale Aufwertung der Dinge« als Basiselemente der Textanalyse zu vernachlässigen.

6

Das stellt ein häufig anzutreffendes Missverständnis in der Auslegung und Anwendung von Peirces Theorie dar. Vgl. etwa diesen Kurzschluss bei Matthias Bauer u. Christoph Ernst: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010, S. 338. Mit der notwendigen Klarheit liest man dazu bei Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, übers. v. Günter Memmert, München 1987 [engl. Orig. 1976], S. 101: »Der Interpretant ist nicht der Interpret (auch wenn das bei Peirce selbst nicht immer sauber unterschieden wird). Der Interpretant ist das, was die Gültigkeit eines Zeichens garantiert, auch wenn kein Interpret da ist.« [Herv. im Orig.], vgl. Peirce [Anm. 4], Bd. III, S. 145.

7

Hans Vilmar Geppert: Von einem einfachen Mann wird hier erzählt. Dreistellige Erzählsemiotik in ›Berlin Alexanderplatz‹ – Roman, Hörspiel, Film und Fernsehserie, in: ders.: Literatur im Mediendialog: Semiotik, Rhetorik, Narrativik. Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung, München 2006, S. 75-105, hier: S. 88.

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tive Bedeutung entsteht und sich verändert. Zeichen erhalten ihre Bedeutung nicht (wie bei de Saussure) durch ihre funktionale Differenz zu anderen Zeichen, sondern konstruieren diese durch unendliche Semiose, also einen Interpretationsprozess, bei dem weitere Zeichen produziert werden, um die vorherigen zu interpretieren.8 Darüber hinaus eröffnet die Universalität und Prozessualität von Peirces Ansatz die Integration weiterer interpretatorischer Theorien verschiedenster Provenienz, wovon ich auch Gebrauch machen werde.9 Den folgenden Fragen will der Beitrag v. a. anhand der Versionen E 2 und E7 des ›Eckenliedes‹ und im Rückgriff auf die Semiotik von Peirce nachgehen: Welche Zeichen werden wie von Ecke kopiert? Worin liegt das Scheitern Eckes begründet? Liegt es an den Zeichenmitteln, den Objekten oder den Interpretanten? Oder liegt es am Komplexionsgrad der Zeichen bzw. der Kompetenz von Träger und Interpretant? Wie geht Dietrich mit seiner Kopie bzw. den Zeichen seiner Kopie um? Und nicht zuletzt: Warum sieht eigentlich niemand Eckes Kopf an Dietrichs Sattelbogen hängen, bis er zu den Damen nach Jochgrimm kommt, die Ecke seinerzeit für den Kampf gegen Dietrich ausgestattet hatten? Da Peirces Semiotik zwar Fragerichtung und Suchfeld absteckt, allerdings nicht genügt, um alle Fragen hinreichend zu beantworten, werde ich zum Schluss auf die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu zurückgreifen. Nachdem mit Peirce die Probleme von Eckes Zeichenhandeln begrifflich präzise herausgearbeitet sind, soll mit theoretischen Anleihen bei Bourdieu ein Ansatz erprobt werden, wie man die eklatanten Wahrnehmungsschwächen Eckes u. a. erklären kann, ohne in den von der Forschung im Kontext der Dietrichepik durchaus häufiger frequentierten Modus ästhetisch abschätziger Werturteile verfallen, aber auch ohne eine kausallogisch konsistent geordnete Erzählwelt präsupponieren zu müssen. Das sind zwei Vorteile, die vom interpretativen Vermögen der Habitus-Theorie

8

Vgl. Schönrich [Anm. 1], S. 121. De Saussure grenzt den Zuständigkeitsbereich der Semiotik mittels des Kriteriums der Arbitrarität wesentlich auf den Bereich ein, den Peirce mit Symbolen bezeichnet. Da es mir im Folgenden aber nicht nur um einen Zeichenmittel-Objekt-Bezug und auch dort nicht nur um die symbolische Ebene geht, sondern auch die Interpretantenperspektive für meine Argumentation entscheidend ist, benötige ich einen erweiterten Zeichenbegriff. Hierfür bietet sich der Rückgriff auf Peirce an, der die Semiotik nicht auf eine Theorie kommunikativer Akte einschränkt. Vgl. Eco [Anm. 6], S. 38.

9

Sehr erhellend sind dazu die Ansätze Gepperts [Anm. 7], S. 88-104, die Theorien Barthes, Bachtins, Genettes, Isers, Lotmans und Ricœurs mit Peirce zu verschalten.

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überzeugen dürften, die bislang ebenfalls nur zögerlich den Weg in den Fachdiskurs germanistischer Mediävistik gefunden hat.10

II. TRIADEN ÜBER TRIADEN: SEMIOTISCHE ANALYSE DER MAKROEBENE Um einen ersten Überblick über die Semiotisierung von Eckes Kopiervorgang zu erhalten, will ich zunächst die Zeichentriaden der Makroebene verfolgen, bevor ich in die Feinanalysen gehe und mich der weiteren Subzeichen der drei Zeichenrelationen bei Peirce bediene. Um Dietrich nachzueifern und ihn zu kopieren, muss dieser zunächst selbst zum Zeichen bzw. Teil eines Zeichens gemacht werden. Wie wird das im Text umgesetztς Das ›Eckenlied‹ startet hierfür in für die Dietrichepik höchst untypischer Weise nicht bei Dietrich, sondern bei seinem Herausforderer Ecke, der so zum »Scheinprotagonisten«11 stilisiert wird. Der Anfang des Textes hat Signalwirkung, weil Ecke im Gespräch mit Vasolt und Ebenrot über Dietrich, dessen fama und damit im weitesten Sinne über das zugrundliegende Heldenkonzept spricht (E2 2-16).12 Es geht darum, ob das im Gespräch geradezu leitwortartig verhandelte lop (E2 3,13; 4,12; 5,5; 6,5; 6,7; 6,11; 7,6; 9,2; 10,2; 11,12; 13,6) Dietrichs gerechtfertigt ist, da alle Anwesenden dies nur vom Hörensagen und

10 Wie vielseitig Bourdieus Überlegungen sind, zeigen aber die Beiträge von Bent Gebert: Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, hg. v. Elke Brüggen u. a., Berlin 2012, S. 143-168 und Gerhard Wolf: Verborgene Kalküle. Pierre Bourdieus ›Reflexive Anthropologie‹, Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten, in: Text und Kultur: Mittelalterliche Literatur, 1150-1450, hg. v. Ursula Peters, Stuttgart 2001, S. 215-244, die sehr offensiv mit ihnen operieren. Vgl. dort auch die Hinweise zu den wenigen weiteren Beispielen der insgesamt zurückhaltenden Bourdieu-Rezeption innerhalb der germanistischen Mediävistik. 11 Florian Kragl: Höfische Bösewichte? Antagonisten als produktive Systemfehler im mittelalterlichen Roman, ZfdA 141 (2012), S. 37-60, hier: S. 55. 12 Zitiert nach der Ausgabe: Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen, 3 Bde., hg. v. Francis B. Brévart, Tübingen 1999 (ATB 111). Ich füge potenziell unverständlichen Stellen in den Fußnoten eine Übersetzung Brévarts hinzu, die ich folgender Ausgabe entnehme: Das Eckenlied. Mhd./ Nhd., hg., übers. und kommentiert v. Francis B. Brévart, Stuttgart 1986 (RUB 8339).

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damit entsprechend verschieden zu deuten wissen. Ecke will schließlich den Kampf gegen Dietrich suchen, um über dessen lop Gewissheit zu erlangen und selbst entsprechenden Heldenruhm auszubauen (E2 3,13; 14,5-13). Befeuert wird dieser Entschluss durch Seburg, die Herrin von Jochgrimm, die Dietrich aufgrund seines Heldenstatus’ unbedingt sehen will und Ecke den Konzepten von Frauen- und Minnedienst folgend entsprechend beauftragt. Semiotisch gefasst wird Dietrich durch das Sprechen über ihn zum Objekt, seine fama ist das Zeichenmittel, welches auf ihn als Objekt verweist, und in den Blick gerät das durch den primären Interpretanten Ecke, durch den die Semiose also perspektiviert ist.13 Als mittelbare Interpretanten treten im Eingangstableau noch Vasolt, Ebenrot und Seburg auf, insofern auch sie Dietrichs fama verhandeln. Diese erste Zeichentriade wird mit Folgetriaden verknüpft, indem die nachfolgende Triade jeweils die vorhergehende interpretiert, also indem die Interpretation des aktualen Interpretanten die Position als Zeichenmittel der nächsten Triade besetzt und nun seinerseits einen neuen Interpretanten auf das Objekt beziehen muss. Im Vorfeld des Kampfes wird Ecke, mittlerweile auf der Mikroebene durch Rüstung, visuelle und akustische Beschreibung an Dietrich angenähert und zugleich durch seine Ablehnung eines Pferdes auf Distanz gehalten, zum Zeichenmittel, das trotz oder gerade wegen dessen ambivalenten Zustandes auf das Heldenkonzept samt fama als Objekt verweist. Bevor Dietrich als Interpretant Ecke im Wald begegnet und sich ein längerer Dialog vor dem Kampf entspinnt, in dem Dietrich versucht, Ecke als Zeichen zu lesen, wird Dietrichs Haltung bzw. Interpretation durch mehrere Stationen vorweggenommen: Die Interpretationsschwierigkeiten, die Dietrich im Umgang mit Ecke hat und die ihn den Kampf zunächst verweigern lassen, werden noch in Jochgrimm von einem Fahrenden,14 sodann im Wald von einem Einsiedler,15 in Bern von Hildebrant,16

13 Bei dieser Triade folge ich der Analyse Malchers [Anm. 1], S. 124f., der die Eingangspartie des ›Eckenliedes‹ auch mit dieser Triade starten sieht. Da Malchers Analyse sehr detailliert ›nur‹ das Heldengespräch betrachtet, während ich hier vergröbern möchte, um den gesamten Text im Blick zu behalten, dehne ich die Reichweite dieser initialen Triade weiter aus. 14 Der Fahrende hypostasiert, ohne Ecke weiter zu kennen, dessen ›úbermůt‹ (E2 28,4) und warnt ihn erfolglos vor einer Niederlage gegen Dietrich. 15 Die Szene beim Einsiedler zeigt Eckes Handeln als ad hoc-Entscheidung, weil er überstürzt nach Bern aufbricht, obwohl er eine Nacht beim Einsiedler bleiben wollte (E2 38-40). 16 Nicht nur wird der Glanz der Rüstung mit Feuer verwechselt und die Berner fürchten, er zünde die Stadt an (E2 42), sondern Hildebrant nimmt exakt Dietrichs Problem mit

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von dem vorherigen Gegner Dietrichs namens Helferich 17 und selbst im Kampf gegen einen Kentauren18 direkt oder in übertragenem Sinne kommuniziert. Die dritte Triade, die den Kampf Eckes und Dietrichs semiotisch fasst, bildet den Höhe- und Wendepunkt des ›Eckenliedes‹, das somit in zwei Teile zerfällt und entsprechend auch von der Forschung – unter Privilegierung des ersten Teils – wahrgenommen wird. Dietrich rückt, wenn man die Gültigkeit der Peirce’schen Triade voraussetzt, in die Position des Zeichenmittels auf, während Ecke als dessen Kopie durch seine Niederlage mit Dietrich zusammen- und damit gleichzeitig aus der Semiose hinausfällt. In Szene gesetzt wird das eindrücklich durch die Übernahme von Eckes Schwert und Rüstung, die Dietrich bezeichnenderweise noch auf seine Größe zurechtschneiden muss. Der Kampf selbst findet so als neues Objekt Eingang in die Triade. Für meine Argumentation ist nun wesentlich, dass Peirce den Interpretanten nicht als Interpret eng fasst. Als Interpretant rückt nun – durchaus kontraintuitiv – das Heldenkonzept nach und perspektiviert somit Dietrich/Ecke und ihren Kampf. Zum zweiten Teil des ›Eckenliedes‹ schweigt sich die Forschung zumeist aus und betrachtet ihn als mehr oder weniger elaboriertes Anhängsel, aber das Problem um Dietrichs fama und damit um ein adäquates Heldenkonzept ist noch nicht gelöst, was von Dietrich in der Klage um Eckes Tod ja selbst thematisiert wird: Jeder Kampf befeuere negative Gerüchte und gefährde somit seine fama (E2 143,9-13). Gleichzeitig ermöglicht natürlich nur der Kampf die eigene Bewährung als Held. Die Kämpfe gegen Vasolt, Eckenot und weitere Verwandte Eckes (je nach Version) fungieren also als Interpretanten, die Dietrich als Objekt vermittels fama und Heldenkonzept als Zeichenmittel interpretieren. Parallel dazu und insbesondere, da E2 abbricht, im Schlusstableau auf Jochgrimm in der

den sich widersprechenden Zeichen vorweg: Er lobt zwar die Rüstung, aber erklärt auch, dass dieser Berittenheit gemäß wäre (E2 44,5-13). 17 Helferich spricht Ecke – wie schon Hildebrant – auf das fehlende Pferd an und offeriert ihm seines (E2 64,9). Zudem spiegelt Helferich zwei Ecke-Facetten wider, nämlich seinen Frauendienst und den Dietrich-Kampf, und kann deswegen als Vorausdeutung gelesen werden. 18 Francis B. Brévart: won mich hant vrouwan usgesant (L 43,4). Des Helden Ausfahrt im ›Eckenlied‹, ASNS 220 (1983), S. 268-284, hier: S. 272 sieht im Kampf gegen den Kentauren (E2 52-54) die Möglichkeit, die Rüstung und Ecke selbst zu erproben. Zugleich invertiert und prononciert der Kentaure die maßgebliche Unlesbarkeit Eckes – diesem mangelt es am Pferd, während jener als Pferdemann mit seinem Pferd verwachsen ist. Vgl. Kay Malcher: Faszination von Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zu aventiurehafter Dietrichepik, Berlin 2009, S. 79.

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Version E7 wird jedoch deutlich, dass die Perspektive seit dem Ecke-Kampf auf Dietrich übergegangen ist, der somit Interpretant seiner eigenen fama als Objekt über das Zeichenmittel des Kampfes ist. Die fama wird in den Rang des Objekts gehoben und verhandelt durch Dietrichs Klagemonolog auf Ecke, 19 die Weissagung Babehilds, die Rettung der wilden Frau sowie durch die bereits angesprochenen Kämpfe und mündet in der Szene auf Jochgrimm, in der Dietrich Eckes Kopf den Damen vor die Füße wirft.20 Diese Doppelperspektive aus Sicht des Interpretanten Kampf und des Interpretanten Dietrich braucht es im zweiten Teil, um das Problem gerechtfertigten lops für Dietrich zu klären, weil der Kampf im Wald gegen Ecke ohne Zeugen verlief.

III. ECKE AM ZEICHENPOOL: SEMIOTISCHE ANALYSE DER MIKROEBENE Es gäbe noch Vieles zu diesem sehr skizzenhaften Entwurf einer semiotischen Analyse des groben Handlungsverlaufs zu sagen. Mir ging es in diesem ersten Schritt zunächst aber nur darum, zu zeigen, dass Ecke sich insbesondere im Kampf soweit an Dietrich annähert, dass er schließlich in ihm aufgeht. Darüber hinaus sollte herausgestellt werden, dass der Text darauf hinausläuft, Dietrich als Interpretanten der eigenen fama zu installieren und ihn entsprechend seines Heldentums, das dessen Normen mitdenkt, handeln zu lassen. Das erklärt aber Eckes Scheitern noch nicht, da er rein formal gesehen wie Dietrich alle Positionen der Zeichentriade ausfüllt. Der Verdacht liegt nahe, dass der Grund des Scheiterns also in der inhaltlichen Ausgestaltung der semiotischen Positionen zu suchen ist, denen ich jetzt ganz summarisch mit einigen wenigen Detailbetrachtungen nachgehen will.

19 In seiner Klage (E2 142-146) äußert Dietrich den Wunsch, den eigenen Namen abzulegen (E2 143), und die Befürchtung, man werde ihm unterstellen, er habe Ecke im Schlaf getötet (E2 148). Seine Sorgen drehen sich um sein ›lop‹ (E2 144,9; 145,2), er zieht seinen Ruhm selbst in Zweifel.

20 Babehild bedeutet Dietrich, er stehe unter dem Schutz von ›vro Saͤlde‹ (E2 160,11). Die Rettung der wilden Frau (E2 169f.) bestätigt, was weithin Bestandteil von Dietrichs fama ist, nämlich den Schutz Bedürftiger. Schon der Fahrende hatte in Jochgrimm darauf abgehoben, dass sich Dietrich um die Armen kümmert (E 2 28). Bei den Kämpfen gegen die Verwandten Eckes bekennt sich Dietrich jeweils zu seiner Tat und steht dafür ein.

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Zur Orientierung seien ein paar Worte zur Peirce’schen Systematik angeführt: Peirce unterscheidet innerhalb der Zeichentriade für jede Position jeweils drei Subzeichen, die sich z. T. noch weiter verzweigen. Die jeweiligen Subzeichen sind nach aufsteigendem Komplexionsgrad gestaffelt. Beim Zeichenmittel bzw. Repräsentamen unterscheidet er Quali-, Sin- und Legi-Zeichen; beim Verweiszusammenhang von Zeichenmittel und Objekt erfolgt die berühmte Unterscheidung in Ikon, Index und Symbol und die Position des Interpretanten kann rhematisch, dikentisch oder argumentisch besetzt sein. Der gelegentliche Gebrauch der etwas sperrigen Begriffe von Peirce lässt sich in der nachfolgenden Analyse nicht gänzlich vermeiden. Mir kommt es dabei aber weniger auf die Applikation des ausladenden terminologischen Apparates an, sondern vielmehr auf die darin angelegte Perspektivierung und Logik zunehmender Komplexion und Abstraktion im Zeichenhandeln. Ich beginne mit Ecke in der Rolle des Interpretanten, die er – anders als die Analyse der Makroebene suggerieren mag – in der Mikroebene des Textes natürlich wiederholt durchläuft. Der Interpretantenbezug gibt nach Peirce den erwarteten Wahrheitsmodus im Zeichengebrauch an und insofern passt es, dass Ecke im Heldengespräch auf Jochgrimm als Interpretant auftritt und dort der Wahrheitsgehalt von Dietrichs fama verhandelt wird. Die Diskussion startet auf der Ebene rhematischer Zeichen, die als Zeichen qualitativer Möglichkeit weder wahr noch falsch, sondern offen interpretierbar bzw. ergänzungsbedürftig sind. Rhemata können Einzelzeichen bzw. ungeordnete Zeichenmengen sein, z. B. Begriffe wie Held und Ehre.21 Dietrichs fama ist unvollständig, weil sie der Augenzeugenschaft für die Anwesenden entbehrt. Im Heldengespräch weiß man nicht, ob Dietrichs fama gerechtfertigt ist oder nicht – wie Ebenrots Hinweis auf mögliche Heimtücke bei der Tötung Hiltes und Grins suggeriert. 22 Ecke selbst schwankt mehrfach in seinem Urteil während des Gesprächs, legt sich aber schließlich auf Legitimität der fama fest, da auch er ja nur im Kampf gegen einen ruhmreichen Gegner selbst Ruhm erwerben kann.

21 Vgl. für weitere Ausführungen zum Rhema Geppert [Anm. 2], S. 155; Schönrich [Anm. 1], S. 19, 62 und 159f. Rhemata schlagen eine mögliche Bedeutung nur vor. 22 Ecke meint etwa, dass ›vil menger in nach waͤne lobt‹ (E2 6,12; ›Viele preisen ihn auf bloße Vermutung hin‹). Ebenrot erhebt in Str. 7 seinen Vorwurf der ehrenrührigen Tötung Hiltes und Grins, woraufhin Vasolt Dietrich verteidigt (E 2 8-10), der ihn allerdings auch nur vom Hörensagen her einschätzen kann. Genau diesen Mangel thematisiert Ebenrot in Str. 11. Ecke schwenkt dann in Str. 13 auf die Position Vasolts ein und lobt Dietrich ebenfalls.

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Mit seinem Kampfentschluss und Auszug erreicht Ecke die komplexere Ebene der dikentischen Zeichen,23 die zwar noch nicht vollständig geordnet, aber überprüfbar und geschlossen interpretierbar sind, wobei der Interpretant bzw. Kontext über den Wahrheitswert entscheidet. Der Kampf dient nun genau dazu, Dietrichs Ruhm zu verifizieren bzw. falsifizieren. Nie jedoch erreicht Ecke als Interpretant die argumentische Zeichenqualität, die vollständig geordnete Zeichenzusammenhänge, in der alle Teilzeichen von einer Regel beherrscht werden, deutet und also notwendige Wahrheiten aufgrund von formaler Widerspruchsfreiheit zutage fördert.24 Eckes Verharren auf einem mittleren Level als Interpretant kündigt sich schon in der Helferich-Episode an, dessen Wunden er nicht auf Dietrich, sondern einen Blitzeinschlag zurückführt (E2 56,11-13). Das mutet witzig an, setzt aber deutlich Eckes mangelnde Interpretationskünste ins Bild. Diese werden nachdrücklich im Zusammentreffen mit Dietrich unterstrichen. Ecke redet inhaltlich und förmlich an Dietrich vorbei, wenn er sich als Fußgänger dem Ranghöheren und Berittenen nicht vorstellt und auf die Frage nach seiner Identität, die für Dietrich schwer kategorisierbar ist, die Beschaffenheit seiner Rüstung anpreist.25 Ecke bietet Dietrich eben jene Rüstung als Trophäe an, um ihn zum Kampf zu animieren (E2 75,10-13, erste ausführliche Beschreibung 77-83). Aber Dietrich kämpft nicht um Zeichen, sondern für Gott (E2 99,12f.). Ecke vermag nicht, die Kampfablehnung Dietrichs abduktiv zu deuten und eine Regel für diese unerwartete Situation zu finden, stattdessen missinterpretiert er Dietrich als zagen, als Feigling (E2 87,5 und 12; vgl. auch 85,5-13; 90,1-10 und 96,9-97,3), bietet

23 Vgl. für weitere Ausführungen zum Dikent Geppert [Anm. 2], S. 171; Schönrich [Anm. 1], S. 19, 161-165. Dikentische Zeichen zeigen im Gegensatz zu Rhemata nicht nur bloße Möglichkeiten, sondern aktual (inkl. fiktional) Existierendes an. 24 Vgl. für weitere Ausführungen zum Argument Geppert [Anm. 2], S. 178; Schönrich [Anm. 1], S. 19, 159f. Argumentisch interpretierbare Zeichen führen zu apodiktischen Wahrheiten. Es kann sich dabei um Schlussfiguren der Logik oder um anderweitig vollständig geordnete Zeichenrepertoires handeln wie etwa bei einer geregelten poetischen Figur. 25 Hartmut Bleumer: Narrative Historizität und historische Narration. Überlegungen am Gattungsproblem der Dietrichepik. Mit einer Interpretation des ›Eckenliedes‹, ZfdA 129 (2000), S. 125-153, hier: S. 146f. stellt in seiner Analyse heraus, dass Ecke gegenüber Dietrich genauso wenig die Kommunikationsregeln beherrscht wie in Jochgrimm gegenüber Seburg. Ecke schildert zwar, wer ihn geschickt hat, sagt er aber nichts zu seiner Identität und fragt stattdessen, ob es sich bei seinem Gegenüber um Dietrich von Bern handle (E2 73).

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aber gleichzeitig unbeirrt seine Rüstung weiter lobpreisend an (insgesamt drei Rüstungsbeschreibungen E2 77-83; 91,7-13; 93-95). Als seine Niederlage unausweichlich ist, lehnt er es ab aufzugeben, obwohl ihm Dietrich mehrfach ehrenrettende Angebote macht. Dietrich versucht mit seinen geselleschafts-Offerten die bedingte Gleichheit mit Ecke produktiv zu machen.26 Ecke erkennt Dietrichs in der Forschung als pragmatisch beschriebenes Heldentum nicht,27 das Kampf lediglich zu Schutzzwecken vorsieht, aber nicht um Damen oder Rüstungen willen und wenn schon, dann nicht mit tödlichem Ausgang. Nach einer solchen Maxime zu handeln, versteht Ecke erst recht nicht, wie die Ablehnung der Aufgabe bezeugt. Im gesamten ersten Teil steht Ecke in erzähltheoretischer Hinsicht im Zentrum, semiotisch hat das zweierlei Bedeutung: Dass das ›Eckenlied‹ bei Ecke startet, setzt dessen soeben erläuterten mangelnden Interpretantenbezug zum einen in Szene und durchzieht den gesamten ersten Teil. Der Text kann so untypisch beim Widerpart Dietrichs beginnen, weil Dietrichs Status als Symbol eines viel gerühmten Helden für außertextuelle Interpretanten gesichert ist. Zum anderen ist Dietrich als Objekt in der Perspektive Eckes stets zwingend mitzudenken, weil eine Kopie sein Original nun einmal voraussetzt. Der Text konstruiert im ersten Teil einen abwesend-anwesenden Dietrich,28 wobei sich Ecke als Handlungssubjekt missversteht, das eigentlich Dietrich ist.29 Mit dem Aufeinandertreffen der beiden Kontrahenten wechselt die Perspektive zu Dietrich, der sie im gesamten zweiten Teil auch behält. Der Kopierversuch ist damit selbst in die Textstruktur eingesickert. Ich komme nun zur Relation von Zeichenmittel und Objekt in Peirces Zeichenmodell: Ecke hat vermittels der Rede über Dietrich einen höchst problematischen Ehr- und Heldenbegriff vor Augen. Er begreift heldische Bewährung auf rein ikonischer Basis, bei der Zeichenmittel und Objekt über Similarität ver-

26 Zuerst will Dietrich Ecke wegen dessen ›manhait‹ (E2 129,12; ›Tapferkeit‹) das Leben lassen (E2 129,6-13), dann bietet er ihm an, sein Geselle oder Gefolgsmann zu werden (E2 131,4) und zum Schluss offeriert er, er könne mit zu den Damen nach Jochgrimm kommen, wenn Ecke das Schwert aushändigte (E2 135,4-13). 27 Die Bezeichnung geht zurück auf Kurt Ruh: Verständnisperspektiven von Heldendichtung im Spätmittelalter und heute, in: Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstituts, hg. v. Egon Kühlebacher, Bozen 1979, S. 15-31, hier: S. 24 u. ö. 28 Vgl. Malcher [Anm. 18], S. 54. 29 Vgl. Bleumer [Anm. 25], S. 143.

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knüpft sind, also einen abbildenden Charakter haben wie etwa bei Mustern, Diagrammen oder verbalen Bildern wie Metaphern.30 Diese Ikonifizierung31 des Kampfes führt dazu, dass Ecke die durchaus verschiedenen Möglichkeiten der Ausgestaltung eines Kampfes verengt auf die Formel ›Kampf um jeden Preis‹ – auch den des eigenen Todes.32 Durch diesen simplifizierenden und zugleich verabsolutierenden Zeichengebrauch macht sich Ecke selbst zum Ikon Dietrichs im engsten Sinne, also zu einer ›einfachen‹ Kopie. Ikonisches Verweisen funktioniert zwar vermittels Similarität, sie benötigt aber ebenso Differenz.33 »Für ihn [Peirce, A.-K. F.] ist Ikonizität keine Frage eines Identitätsverhältnisses zwischen Zeichen[mittel] und Objekt, sondern eine Frage der Skalierung des Differenzverhältnisses zwischen Zeichen[mittel] und Objekt. Zeichen[mittel] basieren auf einem Spielraum zum Objekt, sonst wären sie keine Zeichen[mittel] von einem Objekt.«34

Wo diese Differenzen fehlen, ist ein Verweisen vom Zeichenmittel auf das Objekt nicht mehr möglich, weil das Zeichenmittel schlicht mit dem Objekt zusammenfällt, es zum Objekt wird. Die potenziell unendliche Semiose kommt zu einem jähen Ende, Sinn zirkuliert nicht mehr. Genau dies scheint mir das Grundproblem von Eckes Versuch, ein neuer Dietrich zu werden, zu sein: Er zielt auf reine Abbildhaftigkeit statt auf einen qualifizierten Umgang mit Helden-Zeichen.

30 Vgl. weiterführend Geppert [Anm. 2], S. 136f. Zwischen Zeichenmittel und Objekt besteht ein abbildendes Verhältnis, sie stimmen in mindestens einem erkennbaren Merkmal überein. 31 Man kann umgekehrt auch sagen, dass Ecke es nicht schafft, eine konventionelle, also symbolische Regel – hier: die Regeln heldischen Kampfes – in eine adäquate konkrete Handlung – hier: der geplante und aktuelle Kampf gegen Dietrich – zu übersetzen. 32 Vgl. E2 14, wo Ecke nicht nur den eigenen Tod, sondern auch den Dietrichs explizit einkalkuliert. Gegen Ende des Kampfes bekräftigt Ecke mehrfach, er wolle lieber sterben, als in Jochgrimm zum Gespött zu werden (E2 136,11-13; 138,3-5). Zur Problematisierung von Eckes Kampfeinstellung vgl. Cordula Kropik: Reflexionen des Geschichtlichen. Zur literarischen Konstituierung mittelhochdeutscher Heldenepik, Heidelberg 2008, S. 352 und Malcher [Anm. 18], S. 103. 33 Peirce ging es, das ist ein häufiges Missverständnis in der Rezeption, bei Ikonizität nicht um abbildende Ähnlichkeit, aber er »hat diese Zeichenfunktion durch die mißverständliche Redeweise von einer ›Ähnlichkeit‹ zwischen Objekt und Zeichen schwer belastet« – so Schönrich [Anm. 1], S. 136. 34 Bauer/ Ernst [Anm. 6], S. 42 [Herv. im Orig.].

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So gesehen, ist es auch gar nicht verwunderlich, dass Ecke Rüstung und Schwert, die er von Seburg erhält, rein äußerliche Attribute bleiben. 35 Ecke kann gerade nicht am Heldentum der vorherigen Träger der Rüstung, nämlich Kaiser Ortnit und Wolfdietrich, partizipieren. »Ecke wird durch die Rüstungsübergabe nicht zum Helden […]. […] Die Rüstung erscheint als ›geliehener‹ Gegenstand, der eigentlich einem Helden zugehörig ist – die ihr eingeschriebene heldische Vorgeschichte wird dem jetzigen Träger nicht gerecht.«36

Wie wesenhaft Dietrichs Ausrüstung ihn auszeichnet und in Kontrast zu Eckes aufgepfropften Attributen steht, zeigt die Tatsache, dass der Helm Hiltegrin bereits zu Beginn der Geschichte Symbol (im Peirce’schen Sinne) für Dietrich ist (E2 8; 12), und die laudatio Dietrichs auf seinen Helm im Wald, in welcher dieser selbst auratischen Subjektstatus erhält (E2 71). Zieht man zu Version E2 noch den ›Jüngeren Sigenot‹ hinzu, wobei die Sigenot- und Ecke-Geschichte zumindest vermittels des ›Älteren Sigenot‹ und der gemeinsamen Überlieferung mit dem ›Eckenlied‹ zusammenzudenken ist, dann wird auch dort diese geradezu topische Verbindung Dietrichs mit seiner Ausrüstung unterstrichen. Der Riese Sigenot erkennt Dietrich an seinem Helm Hiltegrin und fordert ihn zum Kampf heraus. Dietrich versucht daraufhin vergebens, die Evidenz der Zeichen grund-

35 Der Bedeutung der Ausrüstung Eckes und Dietrichs widmen sich mehrere Arbeiten. Ich verweise v. a. auf Udo Friedrich: Transformationen mythischer Gehalte im ›Eckenlied‹, in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. dems., Berlin u. a. 2004 (Trends in medieval philology 2), S. 275-297; Pia Selmayr: Die Rüstung des Helden. Gattungsinterferenzen zwischen aventürehafter Dietrichepik und spätem Artusroman, in: Gattungsinterferenzen. Der Artusroman im Dialog, hg. v. Cora Dietl u. a., Berlin 2016, S. 57-78 und Lydia Miklautsch: Zuerst die Rüstung, dann der Held. Männlichkeit und Maskerade am Beispiel des ›Eckenlieds‹, in: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer, hg. v. Johannes Keller u. Florian Kragl, Göttingen 2009, S. 299-310. Kropik [Anm. 32], S. 371 macht mit aller Deutlichkeit auf die Inkompatibilität von Rüstung und Träger aufmerksam, insofern »Ecke hinter (oder in) der Brünne verschwindet und damit gleichsam diese selbst zur zentralen Aktrice macht. […] So entsteht der Eindruck, daß nicht Ecke die berühmte Brünne trage und sich ihrer bediene, sondern daß umgekehrt sie es sei, die ihn zum Träger ihrer selbst macht - und zu einem unpassenden noch dazu: Wenn er überhaupt einmal unter ihr sichtbar wird, dann als Störfaktor, der ihrem Anspruch in keiner Weise gerecht wird.« 36 Selmayr [Anm. 35], S. 68.

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sätzlich in Frage zu stellen und antwortet: ›Ain zaichen ist dick dem andern glich,/ du machst mich nit erkennen.‹ (JS 64,2f.)37 Sigenot kontert, er könne ihn nicht hinters Licht führen, immerhin sei Dietrich zusätzlich noch am Löwenwappen identifizierbar. Was in diesem kurzen Dialog im ›Jüngeren Sigenot‹ geradezu metadiskursiv verhandelt wird, nämlich die Frage nach dem Aussagewert, nach der Oberflächlichkeit von oder der identitätsstiftenden Auszeichnung durch Zeichen, wird im ›Eckenlied‹ auf breiter Basis narrativ verhandelt. Rüstung und Schwert Eckes erhalten gemäß der Symbiose Dietrichs mit seinen Rüstungsgegenständen folgerichtig erst im Besitz Dietrichs symbolische Qualität. 38 Deswegen ist es auch wenig verwunderlich, wenn Dietrich nach dem Kampf gegen Eggenot nun auch sein neues Schwert emphatisch lobpreist (E2 222). Weil Ecke zu keinem Zeitpunkt den symbolischen Gehalt heldischer Attribute, also deren Konventionalität und Arbitrarität,39 erkennt, lehnt er zur Bestürzung Seburgs das von ihr angebotene Pferd ab (E 2 34). Das wiederum begründet er in der für ihn bezeichnenden Weise damit, dass er zur Fortbewegung keines benötige. Dass das Pferd Satisfaktionsfähigkeit symbolisch vergegenwärtigt, geht ihm dagegen völlig ab.40 Auf Eckes Weg zu Dietrich und in unübersehbarer Weise im Kampf selbst wird er visuell und akustisch Dietrich angeglichen, doch auch hier bleibt die Distanz zum Original markiert. Während Helferich etwa Dietrichs gewaltige Körpergröße bewundert, hindert Eckes Größe ihn u. a. daran, Seburgs Pferd anzu-

37 Zitiert nach der Ausgabe: Sigenot, hg. v. Elisabeth Lienert, Elisa Pontini u. Stephanie Baumgarten, Berlin 2020 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 12). Ich danke den Herausgeberinnen, die mir vor der Publikation Einblick in die Neuausgabe gewährten. 38 Das wird deutlich unterstrichen durch die Parallelität der Erwerbsgeschichten der Rüstungsgegenstände: Hiltegrin hat Dietrich im Kampf gegen das Riesenpaar Hilte und Grin erworben, Schwert und Rüstung im Kampf gegen den ebenfalls, wenn auch nur gelegentlich als Riesen dargestellten Ecke. In beiden Fällen ist der ehrenhafte Sieg wegen mangelnder Augenzeugen fraglich und in beiden Fällen sind die vorherigen Besitzer die Namensspender: der Helm Hiltegrin und das Schwert Eckesachs. 39 Zwischen Zeichenmittel und Objekt herrscht beim Symbol ein völlig frei gewählter Bezug. Symbole funktionieren konventionell nach einer Regel, sind also situationsabstrakt und wiederholt verwendbar. Vgl. Schönrich [Anm. 1], S. 148-150. 40 Vgl. zur Ablehnung des Pferdes durch Ecke Bleumer [Anm. 25], S. 141f. und Malcher [Anm. 18], S. 62, Fußnote 71 sowie S. 106.

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nehmen.41 Ecke glänzt aufgrund der Rüstung im Wald (E2 70) und als er vor Bern auftaucht, aber es ist kein herrschaftlich-adliger splendor, sondern verstört die Berner regelrecht, die fürchten, Ecke werde ihre Stadt in Brand setzen (E2 42).42 Beim Aufeinandertreffen mit Dietrich im Wald wird das Defizit anders vergegenwärtigt, da Dietrich den von Ecke ausgehenden Glanz für den eigenen hält und ihn also übersieht (E2 71). Der Erzähler vergleicht das Leuchten der beiden Helme – ohne jegliche Hierarchisierung – mit zwei Vollmonden (E2 70,11-13). Damit wird die Annäherung beider Figuren ins Irreale getrieben, dass nach einer Entscheidung fordert. Es zeigt sich aber auch, dass selbst eine gute Brünne am falschen Träger nutzlos ist oder gar negativ wahrgenommen wird. Dass wird im Kontrast an der Beschreibung Dietrichs durch Helferich deutlich, der Dietrichs überaus glänzende Rüstung lobt (E2 61). Bei aller Parallelisierung wird hier die Passung von richtigem Zeichen und richtigem Träger einer Mésalliance von richtigem Zeichen und falschem Träger gegenübergestellt. Man kann Ecke durch die Rüstung auch hören, aber ritterlich klingt der Krach, den Ecke im Wald verbreitet und dafür von den verstummten Tieren regelrecht angeglotzt wird (E2 36f.), nicht und zwar schon deswegen nicht, weil der halsperg bei Eckes Hetzerei ohne Pferd ständig mit dem mit tausend Glöckchen besetzten Schild (E2 33,4) kollidiert (E2 72,5). Am ›Geschepper‹ nimmt ihn Dietrich schließlich auch wahr (E2 72,7). Ecke schafft es im Laufe der Geschichte – soweit ich sehe – nur einmal, über diese ganz formal-äußerliche Ebene des Heldenkonzepts hinauszugelangen, nämlich als er versucht, Dietrich seine Rüstung und sein Schwert als Kampfpreis schmackhaft zu machen (E2 74,10-13; 77-83; 91; 93-95). Er versucht, Herkunft und Genealogie der Rüstungsgegenstände als Indizes für Kampfkraft und Geeig-

41 Markus Greulich: zaghait dich fliehen leret. Zur Konstruktion und Funktion von Dietrichs zagheit im ›Eckenlied‹ (E2), Études médiévales 6 (2004), S. 66-75, hier: S. 69 weist darauf hin, dass durch die Relativierung von Dietrichs Ansehen schon im Heldengespräch dieser Ecke angenähert wird. Nachdem der Erzähler Ecke unmittelbar vor der Helferich-Episode als degen (E2 54,1) mit grimmen můt (E2 54,2) und zorne (E2 54,12) beschreibt, beschreibt Helferich sprachlich analog Dietrich als ›degen‹ (E2 63,1) mit ›grim‹ (E2 63,2) und ›zorn‹ (E2 63,3). 42 Carola L. Gottzmann: Das ›Eckenlied‹. Diskussion der Dietrichbilder, in: dies.: Heldendichtung des 13. Jahrhunderts. Siegfried – Dietrich – Ortnit, Frankfurt a.M. u. a. 1987 (Information und Interpretation 4), S. 137-168, hier: S. 151 kommentiert: »Die prachtvolle Rüstung ruft nicht Bewunderung hervor, sondern Schrecken. Die Hülle, die Ecke zum Ritter machen sollte, kann das ungeschlachte Wesen nicht verbergen.«

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netheit zu präsentieren. Indexikalische Zeichen bestimmen das durch Kontiguität ausgezeichnete Verhältnis von Zeichenmittel und Objekt als ein hinweisendes, wobei der verweisende Nexus natürlicher, artifizieller oder auch nur mentaler Art (Assoziationen) sein kann.43 Die Rüstung – so Ecke – käme Kaiserkindern zu (E2 74,12f.) und sei unzerstörbar (E2 77), das Schwert sei von Zwergen für König Ruodlieb gefertigt worden, dessen Sohn Herbort damit den Riesen Hugbold getötet habe (E2 79-83). Dieser indexikalische Vorstoß Eckes findet aber unter denkbar schlechten Voraussetzungen statt. Ecke sollte sich eigentlich gegenüber Dietrich vorstellen und Dietrichs Frage nach dem Namen des Schwerts zielte auf Eckes Identität. Dieser aber lenkt die Aufmerksamkeit sogleich auf die ›oberflächliche‹ Machart seiner nach wie vor rein äußerlichen Attribute und missversteht damit die Frage.44 Der Nexus der Tradentenkette, durch den die Rüstungsteile auf Ecke verweisen sollen, arbeitet gegen ihn und so unterstreicht Ecke selbst nur, dass keine Äquivalenz mit Dietrich herrscht. Eine kaiserliche Rüstung steht einer Heldenkopie nicht an; das Schwert, das einst den Riesen Hugbold tötete, wird auch ihn, der zuweilen als Riese bezeichnet wird, richten.45 Zudem scheitert Eckes Bemühung grandios, denn als Dietrich die Herausforderung ironisch ablehnt (E2 84), gegen jemanden mit einem Riesentöterschwert und einer unzerstörbaren Rüstung zu kämpfen, versteht Ecke diese Ironie als eigentliches Sprechen46 und zieht seine gesamte Darstellung als Fiktion zurück: Her Egge sprach: ›ich han gelogen! mit dem swert bin ich betrogen; ich wais niht, wie es snidet. ich sait dirs durch din manhait.‹

(E2 85,1-4)47

43 Vgl. Geppert [Anm. 2], S. 137. 44 Vgl. Malcher [Anm. 18], S. 96. 45 Vgl. Florian Kragl: Heldenzeit. Interpretationen zur Dietrichepik des 13. bis 16. Jahrhunderts, Heidelberg 2013, S. 279. Die wohl durch Ecke fingierte Schwertgeschichte und ihr subversiver Sinn, der gegen ihn arbeitet, unterstreichen nochmals deutlich den wenig kompetenten Zeichengebrauch Eckes. 46 Vgl. Malcher [Anm. 18], S. 98. 47 Herr Ecke entgegnete: ›Ich habe gelogen!/ Mit diesem Schwert bin ich (selber) hintergangen worden,/ ich weiß nicht einmal, wie es schneidet./ Deiner Tapferkeit wegen habe ich es dir so geschildert.‹

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Ob die Geschichte um das Schwert nun eine Lüge ist oder nicht, ist im Grunde unerheblich, weil Ecke in beiden Fällen die Zeichen manipuliert hätte. 48 Ecke hat keinen Namen und keine Geschichte, die Waffenbeschreibung ist demnach der Versuch, über Namen und Geschichte der Waffe Gleichrangigkeit mit Dietrich zu suggerieren.49 Erst später unterrichtet er Dietrich zwar wahrheitsgemäß, dass die Rüstung einst Ortnit gehörte (91,9-13), aber das ist einerseits nur die halbe Wahrheit, andererseits zeigt auch diese Analogie wieder Eckes fatales Ende an. Seburg hatte Ecke nämlich erläutert, dass Ortnit u n d Wolfdietrich zu den Vorbesitzern der Rüstung zählen (E2 21f.). Dass Ecke in seinem Bericht gegenüber Dietrich nur Ortnit herausstellt, ordnet ihn diesem deutlich zu, dessen Ende wohl das spektakulärste und zugleich unheroischste der mittelhochdeutschen Heldenepik ist: Ortnit wird nämlich schlafend von Jungdrachen aus seiner Rüstung gesogen. Dietrich wird insofern mit Wolfdietrich, der erfolgreich die Drachen überwindet und Ortnits Herrschaft übernimmt, parallelisiert. 50

48 Sebastian Holtzhauer: wer hat dich schelten also glert? Untersuchungen zu Dialogstruktur und Performanz in den Fassungen E2, E7 und e1 des ›Eckenliedes‹, ZfdA 146 (2017), S. 295-327, hier: S. 306 kommt aus gesprächsanalytischer Perspektive zu demselben Ergebnis: »Aber er [Ecke, A.-K. F.] merkt auch, dass er mit seiner momentanen Taktik in eine Sackgasse geraten ist ̶ insofern spielt die Frage, ob er sich ernsthaft der Selbstlüge bezichtigt, keine Rolle. Er gibt seine bisherige Vorgehensweise metakommunikativ preis und wechselt zur Reizrede.« 49 Vgl. Friedrich [Anm. 35], S. 290. Jan-Dirk Müller: Woran erkennt man einander im Heldeneposς Beobachtungen an Wolframs ›Willehalm‹, dem ›Nibelungenlied‹, dem ›Wormser Rosengarten A‹ und dem ›Eckenlied‹, in: Symbole des Alltags - Alltag der Symbole. FS für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, hg. v. Gertrud Blaschitz, Graz 1992, S. 87-111, hier: S. 107 stellt heraus, dass Dietrich Ecke erst dann nach seinem Namen frage, nachdem er dessen Glanz im Kampf eliminiert hat. Ich würde ergänzen, dass Dietrich nicht unbedingt auf Eckes Namen zielt, sondern die Frage eher Ausdruck der Unlesbarkeit Eckes ist: er [Dietrich, A.-K. F.] fragt da den helt [Ecke, A.-K. F.] vil gůt,/ wannan er komen waͤre./ er sprach: ›bistu jung oder alt?/ ald buwest du ze allen ziten den walt?‹ (E2 115,2-5; Er fragte den tapferen Helden,/ woher er gekommen sei./ Er sagte: ›Bist du jung oder alt?/ Wohnst du ständig in dem Wald?‹). 50 Vgl. Miklautsch [Anm. 35], S. 310 und Björn Reich: Helden und ihre Bilder. Zum narrativen Bildgebungsverfahren in der Heldenepik am Beispiel von ›Sigenot‹ und ›Eckenlied‹, ZfdA 141 (2012), S. 61-90, hier: S. 82. Holtzhauer [Anm. 48], S. 309, Fußnote 54 bleibt Eckes Einlassung jedoch unverständlich: »Warum Ecke hier wie auch in allen anderen Fassungen genau solch eine Station hervorhebt und nicht etwa

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Während Ortnit und Ecke die Rüstung von Alberich bzw. Seburg geschenkt bekommen, die vorher einer heldenepisch adäquaten Form der Weitergabe durch die Verwahrung in Alberichs Höhle bzw. im Kloster entzogen war, erringen sie Wolfdietrich und Dietrich im Modus des Kampfes. Die mittelhochdeutsche Literatur des 13. Jahrhunderts kennt verschiedene Verknüpfungsoptionen von Ortnit und Dietrich: ›Dietrichs Flucht‹ (DF ab v. 2441),51 aber auch der ›Ortnit/ Wolfdietrich‹-Komplex (etwa Ort. A 597,3)52 operieren in unterschiedlichen Ausprägungen mit Amts- und Blutssukzession, das ›Eckenlied‹ arbeitet demgegenüber mit der Möglichkeit einer tableauartigen Zuordnung über das Dingsymbol der Rüstung als Kontinuitätsmarker.53 Dies erlaubt in viel stärkerem Maße, Ortnit und Ecke einerseits, Wolfdietrich und Dietrich andererseits zusammenzudenken. Insofern erfüllt Ecke die Funktion, dass die Rüstung qua Kampf zu Dietrich gelangt. Das ›Eckenlied‹ stellt damit ein Funktionsäquivalent zu den Geschichten in ›Dietrichs Flucht‹ und im ›Ortnit/ Wolfdietrich‹-Komplex dar, indem es gera-

Wolfdietrichs Geschichte anzitiert, bleibt offen.« Die dreimalige Rüstungsbeschreibung durch Ecke schätzt er als »ein Zeichen für eine äußerst geschickte, kalkulierende Gesprächsführung« ein, da er Dietrich Informationen nur »sukzessive zu seinem eigenen Vorteil« gibt. Ich halte sie vielmehr für entlarvend hinsichtlich Eckes unterkomplexem Zeichengebrauch. 51 Zitiert nach der Ausgabe: Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe, hg. v. Elisabeth Lienert u. Gertrud Beck, Tübingen 2003 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1). 52 Etwa ›Ortnit‹ A 597,3; zitiert nach der Ausgabe: Otnit/ Wolf Dietrich. Fnhd./ Nhd., hg. u. übers. v. Stephan Fuchs-Jolie u. a., Stuttgart 2013 (RUB 19139). 53 Wolfdietrich ist in allen Versionen des ›Ortnit/ Wolfdietrich‹ ein Ahnherr Dietrichs, ihre Verwandtschaft rangiert damit auf dem Niveau heldenepischer ›Wissensstandards‹. Interessant ist, dass die Verknüpfung des ›Ortnit/ Wolfdietrich‹-Komplexes mit Dietrich v. a. im Dresdner Heldenbuch forciert wird. In der dort überlieferten Version des ›Wolfdietrich‹ wird in Str. 331,1 berichtet, dass drei Damen aus Jochgrimm die Brünne Ortnits bzw. Wolfdietrichs von dem Kloster, in das sich Wolfdietrich zurückgezogen hat und in dem er gestorben ist, abkaufen und verweist damit unmittelbar auf die Handlung des ›Eckenliedes‹, welches ebenfalls im Dresdner Heldenbuch (Version E7) überliefert ist. Dazu passt die Einlassung der in demselben Codex überlieferten ›Laurin‹-Version zum Ende Ortnits (L11 65f.). Zitiert nach der Ausgabe: Laurin. 2 Bde., hg. v. Elisabeth Lienert u. a., Berlin 2011 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 6,1-2).

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de nicht auf genealogische Argumentationsmuster, sondern auf die Zeichenqualität der Objekte rekurriert.54 Nach dem geschilderten indexikalischen Desaster um Schwert und Brünne fällt Ecke zurück auf die ikonische Ebene. Original und Kopie werden am engsten im Ringkampf geführt. Die ineinander verschlungenen Körper lassen Ähnlichkeit auf ikonischer Ebene in Identität übergehen – Ecke und Dietrich fallen buchstäblich zusammen und zwar so, dass sie selbst in pronominaler Hinsicht ununterscheidbar werden und sich gar mit dem blutgetränkten Boden vermischen.55 Dieser Entdifferenzierung wurde bereits im Gespräch vor dem Kampf Vorschub geleistet, wenn beide ihre Identität zu Beginn des Gesprächs nicht preisgeben, wenn Ecke Dietrich abspricht, Dietrich zu sein, und wenn Dietrich auf die Frage, ob er d e r Dietrich sei, ironisch antwortet, es gebe viele Dietriche in Bern: ›maͤnik Dietherich mag ze Berne sin; maͤnt ir den Dietheriche, dem Diethmar da Berne lie und aͤndrú sinú aigen, den fint ir an mir hie.‹

(E2 73,9-13)56

54 Wenn man diese semiotische Verknüpfungsoption für die vergleichende Lektüre weiter forciert, dann verwundert auch der gleichermaßen bei Ortnit und Ecke anzutreffende Mangel bei der Zeichendecodierung nicht. So wie Ortnit etwa den 500-jährigen Zwerg Alberich (Ort. A 241,4) für ein vierjähriges Kleinkind hält (Ort. A 96,1), vermag auch Ecke Dietrich nicht zu erkennen. 55 Es lassen sich mehrere Momente der Angleichung von Ecke und Dietrich ausmachen: Beide sprechen gewissermaßen mit einer Stimme (E2 103,5f.) und der Kampf wird mitunter ohne genauere Zuordnung der Handlungen zu einem der beiden Gegner geschildert (E2 106; 126). Die jeweilige Rüstung verliert ihren Glanz (E 2 103), Eckes Brünne und Dietrichs Hiltegrin lärmen im Kampf (E2 104), beiden attestiert der Erzähler die gleiche Stärke und beide baden im Blut (E2 121; 126; 134). 56 ›In Bern mag es viele namens Dietrich geben:/ meint Ihr aber den Dietrich,/ dem Dietmar Bern (als Erbreich)/ und seinen übrigen Besitz hinterließ,/ den findet ihr hier in mir.‹ In E7 wird die Annäherung im Gespräch noch dadurch zugespitzt, dass Dietrich (E7 141) von einem berühmten Helden namens Ecke gehört haben will und sich bei Ecke erkundigt, ob es sich dabei um ihn handele. Das spiegelt die Frage Eckes nach der Identität Dietrichs. Später im Kampf erklärt Ecke in E7 Dietrich, dass er ihm das Haupt abschlage und dieses nach Jochgrimm trage, wenn er sich nicht ergebe

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Wenn Dietrich schließlich vom Pferd absteigt (E2 101,1), nivelliert er ihre topologische Statusdifferenz. Die Entdifferenzierung, die im Kampf zweifellos ihren Höhepunkt erreicht hat, schlägt um: Dietrich tötet seine Kopie, indem er mit dem Schwert durch die angehobenen Rüstungsteile sticht (E2 140), und stellt so seine Unvergleichlichkeit wieder her. Semiotisch gesprochen ereilt Ecke das Schicksal eines vollständigen Ikons bzw. einer Kopie, das Peirce so formuliert, dass es bzw. sie »sich, auf die Spitze getrieben, selbst zerstörte, indem sie in Identität überginge.« 57 Einerseits übermitteln reine Ähnlichkeiten keinerlei Informationen und so kann Ecke aus der Geschichte ausscheiden. Andererseits kann sich Dietrich – streng semiotisch betrachtet – seiner Kopie nicht schlicht wie eines beliebigen Gegners entledigen, weil er ja erst durch sein Ikon in den Blick der Geschichte geraten ist und weil er dann selbst aufgrund der Ähnlichkeitsrelation gewissermaßen ›verschwinden‹ würde. Eckes Kopierversuch zeitigt gewissermaßen einen destruktiven Verstärkereffekt. Das hilft den langen Klagemonolog Dietrichs auf Ecke verstehen, in welchem er äußert, auch nicht länger Dietrich von Bern sein zu wollen: ›und waͤr ich nuwan von dem namen – ich růchte, wie ich hiesse –, das ich eht anders waͤr genant ald waͤr vermuret in ain stainwant, das mich der name liesse das ich von Bern niht waͤr geboren.‹

(E2 143,2-7)58

(E7 165), was Dietrich ja dann später mit Eckes Kopf exakt so durchführt. Entweder ist damit die Aktion in den Worten Eckes schon vorweggenommen, wie vorher bereits bei der Geschichte um die Herkunft seines Schwertes, oder die direkten Reden von Dietrich und Ecke sind an dieser Stelle durcheinandergeraten, wie Kragl [Anm. 45], S. 284 zu Bedenken gibt. Kragls Überlegungen passen m. E. aber nicht recht zum Text, denn unmittelbar vorher (E7 164) bietet Dietrich Ecke geselleschaft an, sodass es mir nicht sehr plausibel erscheint, dass Dietrich in der darauffolgenden Strophe mit Enthauptung droht. Das Ineinanderfallen der beiden Figuren wäre ungeachtet dessen so oder so vorangetrieben. 57 Peirce [Anm. 4], Bd. I, S. 97. 58 ›Und hätte ich nur nicht diesen Namen/ – es wäre mir gleichgültig, welchen Namen ich sonst hätte –,/ wenn ich bloß anders genannt werden könnte/ oder nur in einer Steinwand eingemauert wäre,/ damit mich mein Name nicht verfolgte,/ wenn ich nur nicht als Dietrich von Bern geboren wäre.‹

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Dietrich beschuldigt sich, für den Tod Eckes verantwortlich zu sein und will in Folge dessen seinen Namen ablegen. Der Text zeigt so zeichenhaft, wie Dietrich selbst zum neuen Dietrich wird und damit an Eckes statt dessen Zielsetzung übernimmt und erfüllt, aber im Gegensatz zu Ecke selbst in durchaus qualifizierender Hinsicht. Das macht auch die anschließende Rüstungsnahme verständlich (E2 147), die außerhalb einer semiotische Perspektive und sogar Dietrich selbst lediglich als ›rerop‹ (E2 146,11), als Leichenfledderei, erscheint.59 Denn mit Rüstung und Schwert kann sich Dietrich sein Ikon attribuieren und sich zeichenhaft komplettieren, ohne gänzlich in ihm aufzugehen. Dietrich wahrt auf ikonischer Ebene die für die Bedeutungsgenerierung so wesentliche Differenz. Eckes Attribute werden erst nach seinem Tod zum symbolischen Zeichenfundus für Dietrich. Das zeigt sich z. B. daran, dass Eckes Schwert erst dann einen Eigennamen erhält und dass dieser Eckes Tod symbolisch vergegenwärtigt – es heißt nämlich Eckesachs (E2 185,5). Die skizzierte Spannung zwischen Aneignung und Distanz zum eigenen Ikon durch Dietrich, zwischen Attribuierung und Fragmentierung wird besonders sinnfällig im Kürzen der eigentlich unkaputtbaren Rüstung Eckes (E2 147) und in dessen Enthauptung, wobei dem Kopf anschließend zeichenhafte Qualität zukommt. Erst mit Dietrich hat die Rüstung ihren passenden Träger gefunden. Treffend ins Bild gesetzt ist das darüber hinaus in E 7 in zwei zusätzlichen Details. Zum einen begräbt Dietrich dort Ecke mit seiner, also Dietrichs alten Rüs-

59 Die Forschung deutet den rerop ganz verschieden, hat aber offenbar ihre Probleme damit, weil die Ansätze oftmals versuchen, Dietrich zu rehabilitieren. So meint Gottzmann [Anm. 42], S. 157, Dietrich sehe sich selbst negativ und vernichte mit der Rüstungsnahme seine Bewährung, sodass die Folgekämpfe notwendig werden. Bleumer [Anm. 25], S. 148 versteht die Rüstungsnahme als dauerhaften und öffentlichen Marker Dietrichs für die Tötung Eckes, da seine Klage ungehört im Wald verhallt. Ähnlich lesen dies auch Kropik [Anm. 32], S. 364 und Malcher [Anm. 18], S. 123 mit einem Akzent auf der Anerkennung der fama als urteilender Instanz durch Dietrich bzw. auf der makellosen Rüstung als Zeichen der Schmach, die einen unehrenhaften Sieg Dietrichs suggeriere. Abstrakt könnte man das so formulieren, dass dem Kampf der höfische oder wie auch immer geartete Schauraum fehlt und Dietrich deswegen die Rüstung als Zeichen mitnimmt. Die semiotische Perspektive lässt abseits axiologischer Bestimmungen zudem deutlich sehen, dass es hier um eine Aneignung der Dietrich-Kopie durch Dietrich geht. E7 und e1 plausibilisieren den rerop kausallogisch: Dietrichs Brünne ist im Kampf zerstört worden, er nimmt deshalb Eckes als Ersatz (E7 143 und 178; e1 119,12f.). Außerdem will er vermeiden, dass sie irgendein ›Dahergelaufener‹ ohne jede Mühe mitnimmt (E7 180,9-13; e1 120).

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tung (E7 183; 187). Zum anderen erneuert Dietrich dort auch Hiltegrin, seinen berühmten Helm, in dem er den Karfunkel seines kaputten Helms herausbricht und in den Helm Eckes einsetzt (E7 185). Im Text ist dann von einem alten (E7 186,5) und einem neuen Hiltegrin (E7 186,13) die Rede, womit die Transformation explizit verbalisiert und von Dietrich selbst zweimal als ›wechsel‹ (E7 178,5; 179,13) eingeschätzt wird. Diese, von Dietrich gewählte Umcodierung seiner Selbst macht zudem deutlich, wie sein Zeichengebrauch im Gegensatz zu dem Eckes situationsadäquat und mit Blick auf das ›Umschneidern‹ der Rüstung im Wortsinne auf ihn zugeschnitten ist.60 Auch im Klagemonolog wird das reflektierte Zeichenhandeln Dietrichs herausgestellt, weil er vor der Rüstungsnahme überlegt, welche negativen Auswirkungen das auf seinen Ruf haben könnte, insofern man ihm unterstellen werde, er habe Ecke schlafend getötet (E2 146). Damit ist bei Dietrich die Selbstrepräsentationsfähigkeit von Zeichen mitgedacht, während dies bei Ecke nicht der Fall ist. Darum ist auf der Makroebene klar, warum nach der vierten Triade (s. Kap. II.), die beide Figuren rein strukturell symmetrisch machen würde, nicht Schluss sein kann. Zur Auszeichnung Dietrichs als Held braucht es eine Folgetriade, die die Selbstbezüglichkeit des Zeichens fama einfängt. Ecke formt als Antagonist bestimmte Facetten Dietrichs aus, die sich jener selbstreflexiv attribuiert. Das beginnt mit Dietrichs Klagemonolog und durchzieht den zweiten Teil des ›Eckenliedes‹. Da die Dietrich-Kopie Ecke in ihren Ähnlichkeiten rein äußerlich bleibt und sich spannungsreiche Differenzen abzeichnen, sind die sonst untrüglichen Helden-Zeichen ihrer Selbstrepräsentationsfähigkeiten bei Ecke beraubt und können so die Kommunikation, die Zeichen leisten sollen, nicht mehr reibungslos sichern. Das führt wiederum dazu, dass die Figuren im Text permanent über Bedeutung und Status der Zeichen kommunizieren müssen, um dieses Defizit zu beheben. Ex negativo werden so natürlich die regelhaften Zusammenhänge auf Objektebene in Form von Symbolen aufgezeigt. Das beginnt im Prinzip schon beim Heldengespräch über Dietrichs fama, deren Legitimität außertextuell feststeht, während das Gespräch sie zu Zwecken der

60 Kragl [Anm. 45], S. 297 stellt das Kürzen der Rüstung als eine der Inkonsequenzen des Textes heraus. Er legt damit eine moderne Erwartungshaltung an den Text an, auf die man sich nicht zurückziehen muss, wenn man die Stelle von semiotischer Warte aus liest. Während das Umschneidern in E2 147 und E7 184 nur erwähnt wird, wird es in e1 123-128 breit auserzählt.

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Klärung erst einmal verunklart. 61 Auch der zagheits-Vorwurf Eckes verfestigt ja ex negativo eher das Heldenbild Dietrichs. Das geht damit weiter, dass Eckes außerordentliche Rüstung nichts zu seiner Identität beiträgt. Weder Hildebrant noch Dietrich, die als Helden solche Zeichen zuordnen könnten, erkennen Ecke. Das hängt nicht unwesentlich damit zusammen, dass ihm die Rüstung geschenkt wurde und er sie nicht errungen hat. Ohne einen solchen Nexus ist ein indexikalischer Verweiszusammenhang offenbar nicht herstellbar. Eigentlich sollte Ecke die Rüstung unter die ritterliche Logik ›zwingen‹, aber da sie ihm nicht wesenhaft zukommt, macht sie ihn disponibel für verschiedene Bedeutungszuschreibungen. Dietrich etwa vermeidet zunächst jede Statuszuweisung in der Anrede, adressiert ihn dann aber im Gespräch als Ritter und zugleich als Knappen/Boten.62 Der Verlust zeichenhafter Kommunikation kulminiert in der Ablehnung des Pferdes durch Ecke, was Gegenstand ununterbrochener verbaler Kommunikation ist, um abzuklären, wer Ecke ist, und dass die üblichen Kampfmodalitäten Berittenheit voraussetzen.63 Man kann das auch an der changierenden Bezeichnungspraxis von Ecke ausmachen, der einmal her und einmal rise ist und zwar nicht nur bei den Figuren, sondern auch beim Erzähler, der ja auktorial Eindeutigkeit herstellen könnte. Wenn man bedenkt, dass alle sprachlichen Zeichen aufgrund

61 Das wurde in der Forschung längst erkannt. Kropik [Anm. 32], S. 348 spitzt das zu einer innertextuellen Diskussion um die Spielregeln der Ruhmvergabe mit Blick auf die Sage zu, insofern die Glaubwürdigkeit mündlicher Überlieferung im Heldengespräch generell in Zweifel gezogen werde. 62 Dietrich nimmt Ecke zunächst als Boten wahr (E2 72,12), wendet sich mit seiner Bitte um genauere Informationen zur Rüstung und zu ihrem Erwerb sozusagen dem ›Ritter‹ Ecke zu (E2 75) und spricht ihm diese Qualität nach dem zagheits-Vorwurf implizit wieder ab (E2 88,1-3). Explizit bezeichnet Dietrich ihn als ›helt‹ (E2 86,2f.; 142,7; 145,7), als ›regge‹ (E2 137,6; 139,6) oder ›degen‹ (E2 129,7; 135,6; 142,5). Gleichzeitig arbeitet der Erzähler diesem Bild entgegen, wenn er Ecke mehrfach vor und während des Kampfes als Riese bezeichnet (E2 72,1; 103,8; 108,7; 113,7f.; 140,8; 144,1). 63 Die lange Reihe der verbalen Verhandlungen um Eckes Pferdelosigkeit beginnt in Jochgrimm durch Seburg (E2 35), wird von Hildebrant als großer Mangel und Kampfhindernis hervorgehoben (E2 44-46), kehrt bei Helferichs Pferdeangebot implizit wieder (E2 64f.), wird im Vorfeld des Kampfes von Ecke selbst (E2 74) sowie im Kampf von Dietrich (E2 101) benannt und nicht zuletzt vom Erzähler mehrfach bekräftigt (E2 69; 116).

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ihrer Konventionalität Symbole sind, so wird Ecke selbst auf lexikalischer Ebene Symbolizität verweigert.64

IV. WER LIEST WAS/ WEN FALSCH UND WARUM? HABITUS, DER UNSICHTBARE KOPF UND DER VERWECHSELTE DIETRICH Mit Semiotik kann man unterm Strich sehen, wie Ecke Dietrich kopiert und wie er scheitert. Was sie nicht vollständig erklärt, ist das ›Warum‹ dieses Scheiterns. Es zeigt sich zwar, dass der unterkomplexe Gebrauch der drei Peirce’schen Zeichenpositionen mitverantwortlich ist, aber das rangiert eher auf der Ebene der Symptome, nicht der Ursache. Warum bleibt Ecke sowohl als Interpretant wie beim Zeichenmittel- und Objektbezug auf einer niedrigen Komplexionsstufe stehen? Wieso verfehlt er konsequent den Gehalt der Zeichen? In Bourdieus Terminologie ließe sich die Antwort thesenhaft so umreißen, dass Ecke – im Gegensatz zu Dietrich – ein adlig-heldischer Habitus fehlt. Der Habitus ist ein wissenschaftliches Konstrukt, um die Vermittlung von Strukturen und Praxis zu analysieren und deren systematische Zusammenhänge aufzuzeigen.65 Es ist ein System dauerhafter Dispositionen einer Person und

64 Eckes Riesenhaftigkeit wird gelegentlich behauptet, aber vereindeutigt wird sie nicht – auch nicht in der Ablehnung des Pferdes gegenüber Seburg mit der Begründung, er sei ungefůge (E2 34,6). Christoph Fasbender: Eckes Pferd, JOWG 14 (2004), S. 41-53, hier: S. 47 argumentiert überzeugend, dass ungefůge ein weites Bedeutungsspektrum hat: unartig, unhöfisch, unfreundlich, unbeholfen, ungestüm, groß, schwer, riesig, plump, stark, heftig. Nicht anschließen kann ich mich aber seiner Interpretation, wonach die Pferdelosigkeit im Kampf gegen Dietrich ein blindes Motiv sei (S. 49). Immerhin produziert die Unberittenheit jede Menge selbstreflexive Kommunikation zum Helden- und Ritterdasein, ist also keineswegs funktionslos. Kragl [Anm. 45], S. 269-271 argumentiert dahingehend, dass Ecke sukzessive ›riesenhafter‹ und damit rüpelhafter gestaltet werde. Ich enthalte mich solchen Quantifizierungen, weil mir das Entscheidende zu sein scheint, dass es in der Annäherung an Dietrich Brüche gibt, die man mit dem Riesenstatus verschränkt sehen kann, aber nicht zwingend muss. 65 Erstmals umfassend legt Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übers. v. Cordula Pialoux u. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1979 [frz. Orig. 1972] seine Habitus-Theorie an einer Gesellschaft im vormodernen Zustand dar. Ihre universelle Anwendbarkeit auf vormoderne wie (post-)moderne Gesellschaftsformen hat Bourdieu zwar nie explizit pos-

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funktioniert als Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmatrix, die das praktische Tun leitet und gemäß den objektiven Strukturen eines spezifischen Standes die Weltsicht organisiert. Der Vorzug des Habitus-Begriffs gegenüber der spezifisch mittelalterlichen Vorstellung von ordo liegt im speziellen Fall darin, dass Ecke von nicht näher definiertem Adel zu sein scheint, allerdings des entsprechenden Habitus entbehrt.66 Diese Diskordanz zeitigt einen »gespaltenen, ja zerrissenen Habitus«.67 Was Ecke nämlich mit der fama Dietrichs kopieren will, wäre mit Bourdieu als adlig-heldischer Habitus zu reformulieren. Einen Habitus kann man aber schlechterdings nicht kopieren, weil man ihn zweitaufwändig erwerben und inkorporieren, also hier konkret dem Heldenkörper einschreiben, muss. Dann ist auch klar, dass man diesen nicht ersatzweise durch materiellen Aufwand wie die Rüstung wettmachen kann. Der unterkomplexe Zeichengebrauch ist insofern selbst Ikon für einen defizitären Habitus. Der nicht-heldische bzw. gespaltene Habitus Eckes geht einher mit dem bereits dargelegten mangelnden Interpretantenbezug und dieser setzt sich über Eckes Tod hinaus an dessen Verwandten fort. Das bringt mich zu meiner letzten, eingangs gestellten Frage, warum Eckes Haupt auf dem Weg nach Jochgrimm scheinbar unsichtbar bleibt. Dietrich hatte Ecke auf eigenen Wunsch hin enthauptet und den Kopf an den Sattelbogen gehängt (E 2 149f.),68 um ihn den Da-

tuliert, aber in seinen Untersuchungen unter Beweis gestellt, sodass eine Übertragung auf Texte, die die mittelalterliche Gesellschaft verhandeln, möglich ist. 66 Ecke wird zwar unspezifisch als held (E2 2,1) eingeführt, aber er sitzt mit Vasolt und Ebenrot in einem Saal, also einem höfischen Setting, und drei Königinnen sind zugegen. Ein weiteres, wenn auch nicht schwer belastbares Indiz findet sich in der Helferich-Strophe von E2, in der Ecke und Dietrich als ›zwene fúrsten‹ (E2 69,2) bezeichnet werden, allerdings ist die Bezeichnung in den anderen Textzeugen abweichend. Vasolt hingegen, Eckes Bruder, wird explizit als Landesherr und König, dem selbst Könige dienen, eingeführt (E2 162; 165; 171). Birkhilt, Eckes und Vasolts Mutter, besitzt eine prächtige Burg, wenngleich sie selbst ungestalt ist (E 2 229-231). In e1 wird die Herkunft Eckes und Vasolts Dietrich durch einen Zwerg berichtet. Demnach seien Ecke und Vasolt die Kinder eines Ritters namens Nettinger und einer ›wilde[n] meyd‹ (e1 187,11). Dieser Ritter habe sie auch erzogen und Ecke die Krone gegeben (e1 187f.). 67 Pierre Bourdieu u. Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie, aus dem Franz. v. Hella Beister, Frankfurt a.M. 2006 [frz. Orig. 1992], S. 161. 68 Die Enthauptung wird in E7 nicht geschildert, obwohl Dietrich später auch in dieser Version mit Eckes Haupt auf dem Weg nach Jochgrimm ist (E7 191,4-6).

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men von Jochgrimm vor die Füße zu werfen, dass Blut und Hirn sich im ganzen Saal verteilen (E7 301). Bezeichnenderweise wird Ecke, der sich zu seinen Lebzeiten nicht durch besonders elaborierte Semiose hervortat, mit seinem Tod zu einem Symbol.69 Allerdings ist es kein konventionelles, sondern ein von Peirce sog. ›singuläres Symbol‹, also eine Regel, zu der es nur einen Anwendungsfall gibt. Dabei ist der Kopf nicht nur Symbol eines schlichten Aventiure- bzw. Kampfverständnisses, sondern auch für eine gescheiterte Semiose auf Seiten Eckes wie der Damen von Jochgrimm. 70 Nach dem Kampf gegen Ecke muss Dietrich noch gegen weitere Verwandte Eckes kämpfen, die den Kopf sehen und als Eckes identifizieren können müssten, aber es wird das genaue Gegenteil vorgeführt. In E2 sehen weder Vasolt noch Eggenot oder Birkhilt das Haupt. In Version E 7 muss Dietrich Vasolt sogar sagen, dass der Kopf am Sattelbogen hängt (E7 234), sodass dieser für Vasolt nur durch Verbalisierung überhaupt sichtbar zu werden scheint. Erst in Jochgrimm wird der Kopf sichtbar.71 Man unterstellt mit der aufgeworfenen Frage implizit

69 Kragl [Anm. 45], S. 285 findet es »[s]kurril […], dass Dietrich erst jetzt Eckes Bitte nachkommt, ihn (oder nun: sein Haupt) zu den drei Königinnen zu begleiten. Das pervertiert Eckes Ausfahrt – ganz im Wortsinne. Die Protagonistenposition ist umgekehrt […].« Befremdlich mutet es nur an, wenn man die Zeichenhaftigkeit des Hauptes unterschlägt. Dietrich muss sich produktiv mit seiner Kopie auseinandersetzen und kann sich ihrer nicht einfach entledigen. Mehr als deutlich wird das, wenn Dietrich mit dem Kopf spricht (E2 105,6-13), wie er zuvor mit seinem Helm und später mit seinem neu erworbenen Schwert spricht. In E7 berichtet der nach Bern zurückgekehrte Dietrich seine maere und benennt dabei alle Gegner namentlich bis auf Ecke, der lediglich zum Schluss mit Verweis auf das zum Zeichen geronnene Haupt in Jochgrimm in der Darstellung Dietrichs vorkommt (E7 308-311). 70 Eckes Kampfentschluss stand zwar schon vor der Indienstnahme durch Seburg fest, aber das Kopfschleudern suggeriert zumindest eine Teilschuld der Damen. Die Forschung hat das bisher mit dem übersteigerten Begehren der Frauen zu erklären versucht. Vgl. Brévart [Anm. 18], S. 282 und Kragl [Anm. 45], S. 263 sowie S. 295. Auch das lässt sich in semiotischer Perspektive prinzipieller deuten. Die Damen sind wie Ecke auch schwache Interpretanten. Die Fehleinschätzung Eckes durch Seburg wird in dessen Ablehnung des Pferdes offenbar. Da ist Ecke aber schon nicht mehr zu stoppen. Seburg hat sich den falschen Repräsentanten herausgesucht. 71 Zunächst ist Eckes Kopf für einen Boten sichtbar (E7 298,11-13), für den qua höfischem Umfeld auch ein entsprechender Habitus gilt, der Zeichen zu sehen imstande ist. Da es sich aber eben ›nur‹ um einen Boten handelt, geht er aufgrund der Rüstung davon aus, dass Ecke einreitet (E7 298,6). Für die Königinnen, die neben dem außer-

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so etwas wie eine logisch geordnete epische Welt. Mir ist freilich klar, dass man gerade an die Dietrichepik keine modernen Konsistenzmaßstäbe anlegen darf, aber die Antworten der Forschung, so sie die Frage überhaupt aufwirft, sind wenig reizvoll: Einerseits ist ästhetischer Mangel schnell herbeizitiert, andererseits erklärt Störmer-Caysa das Nicht-Erkennen mit dem zertrümmerten Gesicht Eckes, auf das Dietrich unmittelbar vor dem Todesstoß mit dem Schwertknauf ein- und Ecke so bewusstlos schlägt.72 Dieser Plausibilisierungsversuch, der von kausallogischen Wahrscheinlichkeiten ausgeht, ist von Kragl überzeugend widerlegt worden, allerdings ohne eine eigene, alternative Antwort zu formulieren: »Vor dem Hintergrund des wilden Kampfes nimmt sich der Knaufstoß aber eher harmlos aus, und in der ›Rabenschlacht‹ küsst und erkennt Dietrich immerhin gespaltene Häupter und Leibe (der Etzelsöhne und seines Bruders).«73 Das Nicht-Erkennen lässt sich m. E. zum einen über den nicht-adligen Habitus der Ecke-Sippe erklären. Der Habitus formt als kognitives und evaluatives System eben nicht nur die Art zu denken, zu fühlen, zu gehen und zu sprechen, er modelliert und selegiert auch eine bestimmte Art der Wahrnehmung. 74 Da sich die Ecke-Sippe in der Konfrontation mit Dietrich auf ein Feld der Macht begibt, für das ihr Habitus nicht ausgelegt ist, verfügen sie nur über eine im wörtlichen Sinne eingeschränkte Sicht der Dinge. Damit einhergeht, was man von semiotischer Warte aus als mangelnden Interpretantenbezug identifizieren kann, denn

textuellen Publikum die Hauptadressaten des Kopfwerfens sind, ist der Kopf unübersehbar, schließlich verunstaltet er ihren Saal (E7 301,4-8). 72 Vgl. Uta Störmer-Caysa: Kleine Riesen und große Zwerge? Ecke, Laurin und der literarische Diskurs über kurz oder lang, in: 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. ›Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik‹, hg. v. Klaus Zatloukal, Wien, S. 157-175, hier: S. 166. 73 Kragl [Anm. 45], S. 284, Fußnote 83. Kragl scheint sich später selbst auf die Inkonsistenzposition zurückzuziehen, wenn er im Zusammenhang mit dem Nicht-Erkennen des Hauptes durch Eggenot meint: »Aber dies [das Haupt, A.-K. F.] scheint der Text längst vergessen zu haben.« Dem kann man entgegenhalten, dass einmal in einen Text eingeführte Dinge nicht permanent präsent gehalten werden müssen. Die Voraussetzungen für die hier vertretene These, dass das Haupt nur bestimmten Interpretanten zugedacht ist, formuliert Malcher [Anm. 18], S. 124: »Das spektakuläre Bild des Kopfes am Sattel, so wird der Text wohl voraussetzen, besitzt einen großen Grad an Intensität und damit die Fähigkeit zur Verstetigung seiner Verfügbarkeit über die Erzählzeit hinweg, sodass seine demonstrative Ausblendung sinnstiftend funktionalisiert werden kann.« 74 Vgl. Bourdieu [Anm. 65], S. 208.

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das Haupt Eckes ist als Symbol ja nur an die Damen von Jochgrimm und den außertextuellen Interpretanten gerichtet. Hält man sich an Peirce, so ist klar, dass ein Zeichen nur bei Vorhandensein aller drei relationalen Bezüge von Interpretant, Objekt und Zeichenmittel gegeben ist. Da Vasolt und die anderen als kompetente Interpretanten ausfallen, ist der Kopf für sie auch kein Zeichen und folglich im wörtlichen Sinne unsichtbar. Ganz genauso gelagert ist der Fall auch beim Erkennen bzw. Nicht-Erkennen Dietrichs in Eckes Rüstung nach dem Kampf. Babehild, auf die Dietrich unmittelbar nach dem Kampf trifft und die ihn heilt und stets siegreiche Kämpfe vorhersagt, weiß sofort, um wen es sich handelt (E2 153). Für meine Argumentation, dass der jeweilige Interpretant über einen passenden Habitus verfügen muss, ist es nicht ganz unerheblich, dass im Text herausgehoben wird, dass es sich bei Babehild um eine mächtige Herrscherin über ein Land im Meer (E 2 158) handelt. Hildebrant und Wolfhart, denen Dietrich nach der Einkehr in Jochgrimm entgegenreitet, sind sich auf die Entfernung zunächst nicht sicher, aber aus der Nähe besehen erinnert sich Hildebrant an die Rüstung, die er an dem unberittenen Ecke in Bern gesehen hat und weiß unzweifelhaft, dass sich darunter nun Dietrich befinden muss (E7 302f.). Sie identifizieren Dietrich anhand der Rüstung, die für sie schon mit seinem Heldsein verschmolzen ist bzw. weil sich Dietrich der Rüstung bereits eingeschrieben hat – auch ganz materialiter, wenn man das Abschneiden der Rüstung ins Kalkül zieht. Auch hier verfügen die intendierten Adressaten als kompetente Interpretanten über den angemessenen Habitus und sehen folglich die Zeichen richtig, während Dietrich umgekehrt für die wilde Frau (E2 163), Eggenot (E2 214f.), Birkhilt (E2 234), Vasolt und Uodelgart zunächst als nicht identifizierbar oder eben als Ecke erscheint.75

75 Dietrich muss sich Vasolt erst vorstellen (E2 189), der später meint, Eggenot werde ihn wegen der Rüstung für Ecke halten (E2 211,4f.). Vasolt ist es dann wiederum, der Uodelgart über Dietrichs Identität aufklärt (E2 243). E2 bricht noch vor Dietrichs Ankunft in Jochgrimm ab, aber in E7 kündigt ein Bote der Damen die Ankunft Eckes an (E7 298,6). Die Leute in Jochgrimm rätseln in e1 in Bezug auf den Ankömmling, scheinen aber zumindest stark anzunehmen, dass es sich nicht um Ecke handelt: yettlicher fraget: ›wer ist der?/ er fürt Ecken brinn daher.‹ (e1 242,4f.) Königin Seburg hingegen weiß in dieser Version ohne jeden Zweifel, dass es sich um Dietrich handeln muss: ›gelaubent mir der mere,/ mein hercz das saget mir also,/ es seye der Bernere.‹ (e1 242,8-10). In e1 wird darüber hinaus der Habitus als Voraussetzung gelingender Zeichenkommunikation nochmals deutlich herausgehoben, wenn Dietrich nach der Einkehr in Jochgrimm auf einen Bauern trifft, der Dietrichs Pferd, nicht jedoch den Reiter erkennt und seinen Herren Dietrich daraufhin für tot hält. In seiner Beschrei-

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V. FAZIT: KOPIERFEHLER Insofern literarische Texte stets mehr als mimesis der Wirklichkeit sind, entwerfen sie ihre eigenen Zeichensysteme und -dynamiken, die zu erfassen die Semiotik behilflich sein kann. Sich in dieser Hinsicht der Semiotik als Analyseschlüssel zu bedienen, bedeutet keineswegs, moderne Terminologie anachronistisch auf vormoderne Texte zu übertragen, sondern die textuelle Funktionsweise eines Zeichens aufzudecken. Für das Verhältnis von Theorie und Text heißt dies am konkreten Beispiel des ›Eckenliedes‹, dass es implizit seine eigene Semiotik prozessiert, die durch die Theorie der Semiotik allererst explizit lesbar wird. Wird auch unabhängig vom theoretischen Setting ein Versuch der Verähnlichung Eckes und Dietrichs klar, so leuchtet die semiotische Theorie deren Ursachen, Entfaltung und Konsequenzen präzise aus. Ecke dringt, egal welche Position des semiotischen Dreiecks er besetzt, nicht zum regelhaften Zusammenhang vor. Er nutzt die gleichen Zeichenmittel wie Dietrich, sie rangieren bei ihm aber durchweg auf einer niedrigeren Komplexi-

bung hebt er auf die typischen Dietrichzeichen (Hiltegrin, Löwe als Wappentier) ab. Dietrich muss sich erst den Helm absetzen, um vom Bauern erkannt zu werden (e1 268-270). Müller [Anm. 49], S. 108 erklärt sich das Nicht-Erkennen hingegen so, dass Dietrich hinter der Rüstung verschwinde und sich in die Reihe der berühmten Vorbesitzer einreihe und daher eigens identifiziert werden müsse. Das Problem des Erkennens bzw. Verkennens stellt sich in Wolframs ›Willehalm‹ bzw. seiner altfranzösischen Vorlage der ›Bataille d’Aliscans‹ ebenfalls, wie Florian Nieser: Die Lesbarkeit von Helden. Uneindeutige Zeichen in der ›Bataille d’Aliscans‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach, Berlin 2018, S. 65-71 und 163-167 eingehend anhand der beiden Szenen des Eintreffens von Willehalm vor Orange ausführt. Der Fall im ›Willehalm‹ ist zwar dem im ›Eckenlied‹ vergleichbar, insofern Willehalm auch eine fremde Rüstung trägt und damit ebenfalls einige Identifikationsschwierigkeiten bereitet, allerdings wird dort – wie Nieser herausstellt – eine komplexere Erkenntnisfolge und -hierarchie durchgespielt, während das ›Eckenlied‹ die Frage nach dem Gelingen des Erkennens binär codiert. Meine These von der Verquickung von Habitus- und Interpretantenbezug wäre entsprechend zu modifizieren: Zwar kann Gyburc Willehalm nicht sofort identifizieren, aber sie wird in den Szenen als einzige Figur profiliert, die Willehalm überhaupt erkennen kann. Das wird u. a. im Kontrast zu dem alten Kaplan in der ersten Orange-Szene deutlich, der diese Aufgabe nicht lösen kann und sie daher umstandslos an Gyburc weitergibt. Der parallel gelagerte Fall macht deutlich, dass die in den Texten entworfene (Helden-)Semiotik je spezifisch zu eruieren wäre.

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onsstufe als der symbolischen Bestimmung, die Dietrich auszeichnet. Während Ecke Zeichen absolut setzt und versteht, ist Dietrichs Zeichenverwendung situationsadäquat und mit Blick auf die Brünne im Wortsinne ›auf ihn zugeschnitten‹. Auch wenn Zeichen wie die Brünne arbiträr erscheinen, so müssen sie doch zum Träger bzw. Objekt passen. Um dieses Missverhältnis zwischen Zeichen und Träger auf Seiten Eckes zu beschreiben, habe ich auf den Habitus-Begriff von Bourdieu zurückgegriffen. Dieses Passungsproblem gilt auch für den Interpretanten und erklärt die Unsichtbarkeit von Eckes Kopf genauso wie die Verwechslung Dietrichs mit Ecke aufgrund der Rüstungstranslatio. Eckes Kopierversuch ist aus rein semiotischer Sicht schon von seinen Voraussetzungen her zum Scheitern verurteilt. Man kann Zeichen nicht schlicht kopieren, weil es das Anhalten des unendlichen und sich permanent wandelnden Semioseprozesses bedeuten würde, was schlechterdings unmöglich ist. Ganz davon zu schweigen, dass es die Kontextgebundenheit jeden Zeichengebrauchs missachtet. Gerade weil ein Zeichen nie mit sich selbst identisch ist, ist die Bedingung für Sinn geschaffen. Eine Kopie ist demzufolge nicht nur nicht machbar, sondern nachgerade sinnlos. Die Rüstung stemmt sich als Bezugspunkt immer neuer Semiotisierungen dem Kopiervorgang denn auch deutlich entgegen. Wenngleich das Vorhaben einer Dietrich-Kopie sinnlos ist, die Erzählung hiervon ist es keineswegs, weil sie den Heldenstatus Dietrichs ausbuchstabiert: Hinsichtlich der Dietrich-fama startet der Text mit einer höchst problematischen Situation offener Interpretierbarkeit. Sukzessive wird sodann Dietrichs fama über das Vehikel der Dietrich-Kopie und der nachfolgenden Kämpfe festgelegt und über den Einzeltext hinaus bekräftigt, was im Paradox vom jungen, unerfahrenen und zugleich weithin berühmten Dietrich in der Dietrichepik eingefasst ist. Im ›Eckenlied‹ wird der Rezeptions- somit zum Erkenntnisprozess. Dietrich und Ecke werden im ersten Teil des ›Eckenliedes‹ immer enger geführt, sodass sie im Kampf zusammenfallen und damit den ersten Tod Eckes durch den Schwertstich besiegeln. Mit dem zweiten Tod Eckes, seinem Wunsch nach Enthauptung, wird er – über Kopf, Rüstung, Schwert – zum Zeichenfundus für Dietrich, um ihm im zweiten Teil des ›Eckenliedes‹ als Zeichenmittel zu dienen. Entgegen Dietrichs oben zitierter Behauptung im Gespräch mit Ecke, es gebe mehrere Dietriche in Bern, führt das ›Eckenlied‹ damit semiotisch ausgefeilt vor, dass es nur genau einen Dietrich von Bern geben kann.76

76 Wenngleich Dietrich durch seine ironische Antwort versucht, die – je nach Betrachtungsweise – indexikalische oder symbolische Zeichenfunktion von Eigennamen zu unterwandern, so ist doch ein Name als Zeichenmittel (mehrere Dietriche) nicht mit seinem Objekt (Dietrich von Bern) zu verwechseln.

Batmans Zeichen Zur Metonymie als semiotischem Verfahren in Superheldennarrativen Stefan Tetzlaff

‒ yes, it is actually labeled »Bat Ladder«. Brian Cronin: Why Does Batman Carry Shark Repellent? And Other Amazing Comic Book Trivia! 1

EINLEITUNG Die TV-Serie BATMAN (1966–1968) ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Neben der eingängigen Titelmusik (Ba-ba-ba-ba-ba-ba-ba-ba Bat-Man!) und dem längst popikonisch archivierten ›Batusi‹, Batmans eigenem Diskotanz,2 fällt eine erstaunliche Etikettierungswut ins Auge. Während Batman (Adam West) und Robin (Burt Ward) in Kulissen agieren, die dem Zeitgeist geschuldet ohnehin vor allem bunt und ›campy‹ 3 anmuten, wiederholt sich das Verfahren,

1

Brian Cronin: Why Does Batman Carry Shark Repellent? And Other Amazing Comic Book Trivia!, London 2012, S. 5.

2

Der von Adam West improvisierte Tanz bildet eine eher versteckte Grundlage für John Travoltas Tanzeinlage in Quentin Tarantinos PULP FICTION (USA 1994), vgl. Joseph McCabe: 100 Things Batman Fans Should Know & Do Before They Die, Chicago 2017, S. 295.

3

Zum Begriff des ›Camp‹ und Kitsch als bewusstem ästhetischem Verfahren vgl. Susan Sontag: Anmerkungen zu ›Camp‹, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen [1964], Reinbek bei Hamburg 1968, S. 269-284. Zum Batman der 1960er

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Gegenstände plakativ mit Namensschildern zu versehen. Der elektronische Kalender ist ein ›Bat-Calendar‹, der Ausrüstungskoffer mit Mikroskop und Utensilien zur Spurensicherung ist das ›Portable Batlab‹ und neben einem Apparat zur Wiederherstellung verlorener Erinnerungen (›Recollection Cycle Batrestorer‹) finden sich der ›Interdigital Batsorter‹, der ›Batcopter‹ und der ›Bat-Computer‹.4 Im Rahmen dieses exzessiven Labellings fällt allerdings auf, dass der determinative Teil der meisten Komposita semantisch leer bleibt. Den Unterschied zwischen einem Computer und einem Bat-Computer zu bestimmen, scheint ähnlich schwierig wie im Fall des Bat-Calendars. Neben der Besitzanzeige darf man für ersteren vermuten, dass es sich um einen besonders hochwertigen und wirksamen Rechner handelt. Damit wäre die Vorsilbe ›Bat‹ doch nicht ganz leer. Was das Präfix aber beim Bat-Calendar anzeigt, bleibt eher vage. Seine Hauptfunktion scheint eine Art Verweis zu sein, der das symbolische Feld des Helden auf sein Zubehör und den Aktionsraum der Figur projiziert. Damit handelt es sich zwar durchaus um eine Zugehörigkeitsanzeige, allerdings nicht im Sinne von Besitz, sondern einer Integration in die Sphäre Batmans. Diese Beobachtung setzt sich an der Figur des ›dunklen Ritters‹ 5 insgesamt fort, findet außerhalb der populären Serie allerdings meist auf weniger grotesken

Jahre als Camp vgl. Will Brooker: Batman Unmasked. Analyzing a Cultural Icon, London 2001, S. 220-227 sowie zentral zur Verbindung von Batman, Camp und Homosexualität Andy Medhurst: Batman, Deviance and Camp, in: The Superhero Reader, hg. v. Charles Hatfield, Jeet Heer und Kent Worcester, Mississippi 2014, S. 237251 und Lauren Levitt: Batman and the Aesthetics of Camp, in: Sontag and the Camp Aesthetic: Advancing New Perspectives, hg. v. Bruce E. Drushel und Brian M. Peters, Lanham u.a. 2017, S. 171-187. 4

Die Liste ist dem selbsterklärenden Algorithmus entsprechend fortsetzbar. Als Highlights seien die ›Oceanic Repellent Bat Sprays‹ genannt, unter denen sich das berühmte ›Shark Repellent‹ befindet. Dieses trägt Batman glücklicherweise bei sich, als er auf einer Strickleiter unter einem Helikopter von einem Hai angegriffen wird (die Szene findet sich im die Serie ergänzenden Kinofilm BATMAN [R.: Leslie H. Martinson, USA 1966]). Ähnlich originell ist der ›Emergency Bat-Turn Lever‹, ein Hebel, der es dem Batmobil erlaubt, mittels Bremsschirmen und anschließender Rotation auf der Stelle eine 180°-Wende in voller Fahrt zu vollziehen. – Eine spätere Anspielung auf das Verfahren solcher Benennungen bildet die ›Bat-Credit-Card‹ in Joel Schumachers BATMAN & ROBIN (USA 1997). Eine informative Top Ten allein der Hilfsmittel in Batmans Allzweckgürtel bietet Cronin [Anm. 1], S. 3-6.

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Die Bezeichnung Batmans als ›Dunklem Ritter‹ wird erst mit Christopher Nolans DARK KNIGHT-Trilogie (2005, 2008, 2012) populär und bezeichnet damit eigentlich

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und überzeichneten Ebenen statt. Der Kern des Verfahrens aber besteht durchgehend darin, Batmans Territorium über die beschriebenen Label und Insignien konsequent metonymisch zu organisieren. Inwiefern sich dieser Bezug bis in die Entfaltung des Sujets fortschreibt und sowohl Figurenzeichnung als auch die Struktur der Antagonisten prägt, wird im Folgenden veranschaulicht.

I.

METAPHER UND METONYMIE

Die begriffsgeschichtlich diverse Metonymie ist hier konkret im Sinne Roman Jakobsons und damit in einer Polarität zur Metapher gedacht. 6 Jakobson geht dabei von der Beobachtung aus, dass Sprachverwendung, also die Logik kommunikativer Zeichen, grundsätzlich aus zwei Operationen besteht: 1) der Auswahl eines Elements aus einem Fundus möglicher Zeichen sowie 2) der anschließenden Verkettung der ausgesuchten Zeichen miteinander. Genau wie einzelne Wörter sich durch Auswahl von Lauten und Kombination mit darauf folgenden zusammensetzen, sind Sätze und ganze Texte als Wechselspiel dieser beiden Vorgänge lesbar. Aus verschiedenen möglichen Wörtern wird eines realisiert und mit dem nächsten, ebenso ausgewählten zum Satz verkettet. Aus möglichen Sätzen wiederum wird ein bestimmter realisiert, um im Anschluss den nächsten folgen zu lassen. Die Verbindung dieser beiden Operationen lässt sich als ZweiAchsen-Modell darstellen (Abb. 1).

eine spezifische, an Frank Millers düstere Graphic Novels angelehnte Ausformung des Stoffes. Hier ist für den Moment die Figur als Gesamtphänomen gemeint. 6

Zentral sind diesbezüglich die Darstellungen in: Roman Jakobson: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen [1956], in: ders.: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hg. v. Wolfgang Raible, Frankfurt a.M. u.a. 1979, S. 117-141 sowie ders.: Linguistik und Poetik [1960], in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 19211971, hg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M. 1979, S. 84121. Forschungsgeschichtlich steht die Metonymie klar im Schatten der Metapher (vgl. Sebastian Matzner: Die Poesie der Metonymie, Heidelberg 2016, S. 21-26). Obwohl insbesondere im Zuge linguistischer Zugänge Kognitionsmodelle wie die FrameSemantik inzwischen einen umfangreichen Forschungszweig ausbilden, wird der Fundus an Metapherntheorien gegenüber solchen der Metonymie umfänglich zunächst uneinholbar bleiben.

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Abbildung 1: Paradigma und Syntagma als Zwei-Achsen-Modell

Die Achse der Auswahlmöglichkeiten (Paradigma) enthält dabei Elemente, die über die Ähnlichkeit organisiert sind, alle an der anvisierten Stelle stehen zu können. Zugleich liegen die Elemente des Paradigmas nur virtuell als Möglichkeit, das heißt in absentia vor. Der Bezug zwischen paradigmatischen Elementen zeigt sich nach Jakobson besonders deutlich im verkürzten Vergleich der Metapher. Ein klassisches Beispiel wie ›Achilles ist ein Löwe‹ funktioniert dementsprechend, indem die beiden Elemente ›Achilles‹ und ›Löwe‹ als Teile eines Paradigmas und damit als ähnlich und vergleichbar behauptet werden. Die Achse der Verknüpfung (Syntagma) dagegen verbindet ihre Elemente über Kontiguität, das heißt beispielsweise über einen kausalen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, logischer Abfolge oder komplementärem Bezug; letzterer ist im Satz allein schon durch syntaktische Abhängigkeit gegeben.7 Das Syntagma stellt der paradigmatisch funktionierenden Metapher damit die Metonymie entgegen. Diese nämlich verbindet zwei Elemente nicht, um über deren Ähnlichkeit auf eine Bedeutung in absentia zu schließen (nämlich die Stärke des Löwen und damit auch diejenige des Achilles). Sondern die Metonymie bezeichnet ein Element unter Zuhilfenahme eines benachbarten, kontigen Elementes. Vom Eintrittsgeld metonymisch als einem Betrag ›pro Nase‹ zu sprechen,

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Matzner kritisiert hier zu Recht: »Bei näherem Nachdenken wird schnell deutlich, dass ›Kontiguität‹ nicht mehr ist als ein Sammel- und Überbegriff für die zahlreichen verschiedenen Begriffe der römischen Rhetoriker (consequens, propinquus, finitimus), allerdings ausgestattet mit dem beruhigenden Klang akademischer Abstraktion.« (Matzner [Anm. 6], S. 45, Hervorh. i. Orig.). An der Ähnlichkeit als Kandidaten für dieselbe Systemstelle orientiert spricht Matzner von ›Kollokabilität‹ als Möglichkeit für Elemente, kohärent nebeneinanderstehen zu können, ohne einen Zusammenhang explizit machen zu müssen (vgl. Matzner [Anm. 6]. S, 46-51). Zur Varianz des Begriffs und der Verschiedenheit möglicher Applikationen vgl. auch Florian Nieser: Die Lesbarkeit von Helden. Uneindeutige Zeichen in der ›Bataille dʼAliscans‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach, Berlin 2018, S. 14-18.

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setzt Person und Körperteil gerade nicht in ein Verhältnis, das auf eine metaphorische Bedeutung zielt und aus den Eigenschaften von Nasen und Menschen einen Sinnüberschuss generiert. Sondern der Bezug besteht in einem Teil-GanzesVerhältnis beziehungsweise in einer Nachbarschaft von Körperteil, Gesicht und ganzem Körper innerhalb des semantischen Feldes ›Person‹. Dementsprechend bezeichnet die Nase ein anderes, ebenfalls in praesentia vorliegendes Element, nämlich eine ganze Person. Im Gegensatz zum Paradigma handelt es sich beim Syntagma um die tatsächlich realisierten Zeichen, also im Falle von Literatur den materialiter vorliegenden Text.8 Die eigentliche Karriere besonders im Bereich von Literatur- und Kultursemiotik haben dabei die grundsätzlichen Eigenschaften gemacht, die Jakobson den beiden Achsen des Modells zuschreibt. Ob Bezüge über Äquivalenz und einen Verweis ins virtuelle, in absentia gespeicherte kulturelle Archiv angelegt sind – oder ob Zeichen auf andere im konkreten Text vorliegende Zeichen verweisen, denen sie nicht ähneln, sondern an die sie komplementär anschließen, differenziert zwei grundlegende Zeichenrelationen für Text und Kultur insgesamt. Im kulturellen Konzept ›Behausung‹ beispielsweise stehen die Elemente ›Schloss‹, ›Haus‹ und ›Hütte‹ paradigmatisch zueinander, weil sie einander darin ähneln, austauschbare Varianten für die Besetzung derselben Systemstelle zu sein. ›Hütte‹, ›Stroh‹ und ›Fenster‹ hingegen sind syntagmatisch verkettet, weil sie sich nicht ähnlich und austauschbar verhalten, sondern einander komplementär zum Gesamtkonzept ›Behausung‹ ergänzen.9 Im Kern wird damit die Polarität sichtbar von einerseits a) paradigmatischen, ähnlichen, vergleichbaren Elementen, die Austauschbarkeit suggerieren, sowie andererseits b) aufeinander aufbauenden, kontigen Elementen, die zum Syntagma verkettet werden (Abb. 2).

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Die hier gegebene Darstellung der Theorie folgt bewusst denjenigen Aspekten, die für die Fragestellung zielführend sind. Sprachwissenschaftlich kann eine solche Pointierung nur Rudiment bleiben (aber deswegen freilich nicht falsch). Für weitergehende Implikationen vgl. Cognitive Explorations Into Metaphor and Metonymy, hg. v. Frank Polzenhagen, Zoltán Kövecses, Stefanie Vogelbacher und Sonja Kleinke, Frankfurt a.M. 2014 sowie Metaphor and Metonymy in Comparison and Contrast, hg. v. René Dirven und Ralf Pörings, Berlin/New York 2003.

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Vgl. für ein ähnliches Beispiel im Zusammenhang mit verschiedenen, auf Paradigma und Syntagma bezogenen Formen von Aphasie: Jakobson [Anm. 6], S. 134.

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Abbildung 2: Paradigma und Syntagma auf semantisch-konzeptueller Ebene Daran anschließend sind wiederum Abweichungsphänomene interessant, die beispielsweise paradigmatische Beziehungen im Syntagma ausbilden. Diese Abweichung vom unmarkierten Sprechen ist die Grundlage für Jakobsons ›Poetische Funktion‹, um die es hier allerdings nicht geht. Es bleibt zunächst vielmehr grundlegend festzustellen, dass mit paradigmatischen und syntagmatischen Relationen zwei heuristische Grundformen von Zeichenbeziehungen erfasst werden, die als Analyseinstrument weit über Sprachforschung hinaus produktiv sind. Die Frage, wie einzelne Texte, ganze Literatursysteme oder kulturelle Formationen mit paradigmatischen und syntagmatischen Bezügen umgehen, diese manipulieren, vermischen oder gegeneinander ausspielen, bildet eines der Kernmodelle semiotischer Literatur- und Kulturwissenschaft.10 Denn für die Literaturwissenschaft – und damit auch für Heldenerzählungen – bieten diese Relationen einen Zugang, mit dem sich Weltmodelle insgesamt beschreiben lassen. So tendiert romantisches Erzählen Jakobson zufolge dazu, seine Zeichen paradigmatisch-metaphorisch anzulegen und Bedeutung über Verweise beispielsweise auf die Mythologie zu stiften. Dies sei an einem Bei-

10 Strukturale und kultursemiotische Zugänge, die an das Zwei-Achsen-Modell anschließen, finden sich bei Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 122-300; Roland Barthes: Elemente der Semiologie [1964], Frankfurt a.M. 1983, S. 49-59; Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 1977, S. 79f. sowie Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse, München 1977, S. 61-64. Ein aktueller Ansatz findet sich bei Moritz Baßler, der auf die Achsen von Paradigma und Syntagma für ein Modell realistischen Erzählens zurückgreift (Moritz Baßler: Zeichen auf der Kippe. Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne, in: Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne, hg. v. dems., Berlin/Boston 2013, S. 3-22 sowie ders.: Deutsche Erzählprosa 1850-1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin 2015; im Anschluss daran Stefan Tetzlaff: Heterotopie als Textverfahren. Erzählter Raum in Romantik und Realismus, Berlin/Boston 2016).

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spiel verdeutlicht: Wenn in Ludwig Tiecks ›Der Runenberg‹ [1804] eine Frau von überirdische[r] Schönheit11 sich in einer Bergruine langsam entkleidet und dem gebannt zusehenden Protagonisten Christian eine Steintafel mit den Worten »Nimm dieses zu meinem Angedenken!«12 überreicht, werden verschiedene Ebenen solcher metaphorischen Bezüge eröffnet. Zunächst verweisen beinahe alle genannten Attribute auf die christliche Mythologie: Ähnlich Moses empfängt die nicht umsonst ›Christian‹ genannte Figur auf einem Berg Schrift, die in Stein gemeißelt ist. Der Ausspruch der geheimnisvollen Frau ist an die Worte Jesu beim letzten Abendmahl angelehnt. Zudem nimmt die Frau jene Tafel aus einem goldenen Schranke,13 das heißt einem Tabernakel. Der romantischen Poetik von Paradoxie und Vermischung des Heterogenen entsprechend findet sich allerdings zugleich eine der Frömmigkeit liturgischer Handhabungen entgegengesetzte Ebene, und zwar in Form ausgestellter Erotik. Die als Striptease erkennbare Performance der Frau auf dem Berg ist dabei nicht umsonst überirdisch[ ]14 schön, schließlich geht es bewusst um eine Vermengung der Sphären von Religiosität und Sinnlichkeit. An dieser Mischung wird der Protagonist in gut romantischer Tradition wahnsinnig. Was an diesem kurzen Auszug deutlich wird, ist aber, wie Bedeutungskonstitution in diesem Weltmodell insgesamt funktioniert. Sämtliche Zuschreibungen der christlichen Mythologie finden sich nicht im Text, sondern werden als Wissen in absentia, das heißt im kulturellen Archiv aufgerufen. Das, was geschieht, steht in einer Ähnlichkeitsrelation und verhält sich metaphorisch, äquivalent, paradigmatisch zu dem, worauf es verweist (Moses, die Eucharistie, kirchliche Liturgie). Weder Tabernakel noch Moses oder der Berg Sinai tauchen konkret und materialiter im Text auf. Inwiefern realistische Erzählverfahren nach Jakobson dagegen metonymisch angelegt sind, lässt sich ebenso leicht verdeutlichen. So finden sich in Theodor Storms ›Angelica‹ [1855] die titelgebende Figur und ein Mann namens Ehrhard in einem Ruderboot, mit dem die beiden auf einen See hinausgefahren sind: Angelica und Ehrhard saßen nebeneinander an der Bordseite, aber sie waren nur für sich. Um sie her war es so still, das Wasser ohne Wind und ohne Welle; nur bisweilen von un-

11 Ludwig Tieck: Der Runenberg, in: Ludwig Tieck. Schriften in zwölf Bänden. Band 6. Phantasus, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1985, S. 184–209, hier: S. 192. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd.

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ten herauf stieg ein Bläschen an die Oberfläche und blinkte und verschwand. Angelica zeigte mit der Hand danach, als fragte sie, was das bedeute. »Geheimnis!« sagte Ehrhard. »Geheimnis?« »Es blüht etwas im Grunde!« Und ihre Augen hielten ihm stand, daß er bis in die allerdunkelsten Tiefen sehen konnte. Sie lächelte, ihre Lippen waren rot, ihr Atem ging schwer wie Sommerluft. Er ließ seine Hand über Bord ins Wasser gleite, die ihre folgte ihm, und während die Flut durch ihre Finger quoll, hielten sie sich gefaßt und fühlten das geheimste Klopfen ihres Lebens. […] Er pflückte einen Immortellenstengel, wie deren viele auf dem Rasen waren, und gab ihn ihr. Sie nahm ihn, ohne hinzusehen, und drehte ihn langsam zwischen den Fingern. So gingen sie nebeneinander her, vom Rasen auf die Kiesel und auf den Sand hinunter, und standen erst still, als schon das Wasser ihre Schuh benetzte. Da sie so weit gekommen waren, sagte Ehrhard, und sie mußte es fühlen, wie mühsam er es sagte: »Angelica, war das ein Abschied gestern?« Sie antwortete nicht; sie sah ins Wasser zu ihren Füßen und bohrte mit der Spitze ihres Sonnenschirms in dem feuchten Sande. »Antworte mir, Angelica!« Sie öffnete, ohne aufzusehen, ihre Hand und ließ die Blume, die er ihr gegeben, in den See fallen.15

Während auch diese Szene deutlich mehrfachkodiert und nicht weniger dicht ist als der Auszug aus dem romantischen ›Runenberg‹, funktioniert die Bedeutungszuschreibung hier anders. Der überwiegende Anteil der Bezüge besteht innerhalb der im Text vorhandenen Elemente und wird aus sich heraus lesbar, sozusagen eigenstrukturell. Die Verbindung von Geheimnis und Tiefe unter der Oberfläche wird nicht an eine mythologische Figur oder andere Intertexte gebunden, sondern durch die Handlung selbst angereichert. Die Kodierung von Tabu und Verheimlichung ist ohnehin evident und wird ihrerseits zum Bedeutungsschlüssel für die Geste, sich unter Wasser an den Händen zu halten. – Dass Angelica zuletzt die Blume nicht nur fallenlässt, sondern geradezu im See versenkt, verdeutlich einmal mehr das Verfahren, metonymisch, über Benachbarung und Sequenzialität Bedeutung zu erzeugen. Die poetische Kodierung des Textes ergibt sich in realistischem Erzählen nicht durch Bezüge auf Elemente

15 Theodor Storm: Angelica, in: Theodor Storm. Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1. Gedichte. Novellen. 1848–1867, hg. v. Dieter Lohmeier, Frankfurt a.M. 1987, S. 363-385, hier S. 366 und 373.

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in absentia, sondern bildet ein Verweisnetz innerhalb des tatsächlich vorliegenden Syntagmas.16 Im Lichte dieses Verständnisses von metonymischen Bezügen geraten Batman und die Manie des Etiketts wieder in den Blick. Denn die Umprägung aller möglichen Gegenstände in Bat-Gegenstände artikuliert ebendiesen beschriebenen metonymischen Zusammenhang. Zwischen Batman und einem Computer besteht zunächst keine per se gegebene Beziehung, zumindest keine, die über das Besitz- und Gebrauchsverhältnis jedes beliebigen Rechners und seines Nutzers hinausgeht. Die Vorsilbe ›Bat-‹ allerdings setzt ein metonymisches Verhältnis dominant, indem ausdrücklich behautet wird, der Apparat – und zwar genau dieser Apparat – und sein Held gehörten komplementär zusammen. Ähnliches lässt sich für das Batmobil feststellen, das funktional nicht an eine Fledermaus angelehnt, dafür aber vielfach mit den Insignien des Dunklen Ritters bestückt ist (noch deutlicher gilt dies für die Bat-Leiter und das Bat-Phone; letzteres wiederum hat immerhin in der außerliterarischen Wirklichkeit eine metaphorische Bedeutung entwickelt – als ›Batphone‹ gilt in Unternehmerkreisen eine private Telefonnummer, die höhere Priorität als öffentliche Nummern hat). Für den Computer, den Einsatzwagen und andere Gerätschaften jedenfalls wird damit ein semiotischer Überschuss produziert, der semantisch nahezu leer ist und in erster Linie die Funktion hat, einen Kontiguitätszusammenhang zu betonen.17 Das beschriebene Verfahren soll nicht die paradigmatische Achse bedienen, sondern die metonymische, auf der Jakobsons Beispiele ›Hütte‹, ›Stroh‹ und ›Fenster‹ liegen. Mit entsprechenden Etikettierungen der Heldenaccessoires wird bis in die Überzeichnung hinein betont, dass die so gekennzeichneten Gegenstände sich zu Batman ebenso kontig verhalten wie Stroh und Fenster zur Hütte. Batmans Affinität zur Kontiguität und metonymischen Zusammenhängen liegt dabei auf der Hand, denn die Figur ist von Anfang an als Detektiv entwor-

16 Dass mit der Immortelle ein Symbol für Treue und ewige (über den Tod hinausgehende) Liebe auftritt, ist dabei sehr wohl metaphorisch. Solche Einbrüche des Metaphorisch-Paradigmatischen in das dennoch dominant metonymische Erzählen beschreibt das Modell Moritz Baßlers, das von realistischem Erzählen als Kippfigur zwischen den beiden Achsen ausgeht (s. Anm. 10; eine Erweiterung der Überlegungen findet sich bei Stefan Tetzlaff: Entsagung im Poetischen Realismus. Motiv, Verfahren, Variation, in: Baßler [Anm. 10], S. 70-114). 17 Folgerichtig bezieht Cronin ausdrücklich Batmans Gadgets auf die Kontinuität und den syntagmatischen Zusammenhang der Handlung: »[W]henever a writer has needed a particular plot device, Batman’s utility belt has magically held the answer.« (Cronin [Anm. 1], S. 3.)

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fen. Sherlock Holmes schwingt als Folie stets mit, auch bevor Robin als Watsonähnlicher Sidekick hinzukommt. Denn Batman recherchiert und kombiniert. Und selbst in den Geschichten, in denen seine Physis und körperliche Gewalt im Mittelpunkt stehen, bilden Nachforschen und logischer Schluss noch immer das Alleinstellungsmerkmal des Helden, der gerade im Kontrast zu Superman im Grunde ein Privatermittler ist. Superman bietet sich auch deswegen als Folie an, weil sich die angedeutete Dialektik aus der Entstehungsgeschichte der Figuren begründet. Nachdem der Mann vom Planeten Krypton 1938 erfolgreich in Serie geht, wird 1939 kalkuliert mit Batman nachgelegt, um das Superheldensujet breiter zu bedienen.18 Dementsprechend soll hier davon ausgegangen werden, dass Superman und Batman durchaus zwei Urtypen und Pole eines Funktionskontinuums von Heldencharakteren bilden. Dass Paradigmatisches und Metonymisches genauso wie Mischund Wechselformen auch bei darauffolgenden Superhelden strukturbildend sind, beispielsweise bei der Palette an Akteuren im Marvel-Universum, steht außer Frage. Man darf aber davon ausgehen, dass Batman und Superman gewisse Vektoren ausloten, die sich in der Folge nicht signifikant verändern, sondern eher kombiniert und variiert werden.19 In diesem Sinne steht Batman als Figur der Metonymie Superman als Figur der paradigmatischen Zusammenhänge gegenüber. Während Batman aus Indizien schlussfolgert und kombiniert, ist Superman nicht ausdrücklich unintelligent, zeichnet sich aber in erster Linie durch Kraft und durch moralische Integrität aus. Die Frage in Sujets um Superman richtet sich darauf, wofür Dinge stehen. Ein kleines Mädchen zu retten kodiert Komplexe wie ›Unschuld‹, ›Zukunft‹

18 Interessanterweise werden die Popularitäts-Rankings der beiden großen Comichäuser DC und Marvel mit Batman und Spider-Man jeweils von eher detektivisch ausgerichteten Helden angeführt, deren psychologische Tiefe und innere Konflikte sujetbildend sind. Die zweiten Plätze belegen mit Superman und Captain America zwei charakterlich eher flache, dafür aber mit hohem symbolischen Kapital bezüglich überindividueller patriotischer und moralischer Werte ausgestattete Figuren. Die Beliebtheitsskala tendiert, wenn man so will, sowohl bei DC als auch bei Marvel zur Metonymie (zu den vollständigen Ergebnissen des Rankings vgl. Cronin [Anm. 1], S. 20-22). 19 Batman und Superman als Proto- oder Urtypen zu lesen, ist ein gängiger Ansatz, vgl. pars pro toto Martin Hennig, der neben der »freundliche[n] Spinne aus der Nachbarschaft« Superman und Batman als »good guy« und »bad guy« kontrastiert (Martin Hennig: Warum die Welt Superman nicht braucht. Die Konzeption des Superhelden und ihre Funktion für den Gesellschaftsentwurf in US-amerikanischen Produktionen, Stuttgart 2010, S. 3).

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(Kind) sowie Güte und Selbstlosigkeit. Der Text vollzieht Bedeutungsaufladungen durch metaphorische Verweise in das Paradigma, das heißt Motive und Konzepte in absentia. – Bei Batman hingegen wird ausgestellt, wie Dinge zusammenhängen; die Entführung des Fabrikanten A und die vergiftete Lieferung B sollen von C ablenken, das Muster verweist dabei auf den Schurken D. Damit wird deutlich, dass das Hauptanliegen der Figur Batman darin besteht, den metonymischen Zusammenhang der Welt zu konsolidieren.

II. BATMAN UND DER RAUM Diese Strategie, das Metonymische so umfänglich wie möglich zu installieren, betrifft nachdrücklich den Raum, in dem Batman agiert. Um dies zu zeigen, stützt sich der folgende Abschnitt auf die Ergebnisse einer Studie zu metonymischem respektive metaphorischem Erzählen am Beispiel des deutschsprachigen Realismus im Kontrast zur Romantik. 20 Es wird dabei deutlich, dass erzählte Welten, die zu paradigmatischen Zeichenrelationen neigen, andere Raumkonzepte anbringen als Welten, die überwiegend metonymisch funktionieren. Für erstere – und damit für im weiteren Sinne romantisches Erzählen21 – zeigt sich, dass der Raum zum eigenmächtigen Aktanten wird und auf die Figur einwirkt. Der Gang in einen Wald oder einen Berg führt mit Sicherheit zu Bewusstseinsverän-

20 Vgl. Tetzlaff [Anm. 10]. Eine Übertragbarkeit der Ergebnisse wird hier nicht unkritisch im Vorhinein angenommen (immerhin scheint der Vergleich deutschsprachiger Literatur des 19. Jahrhunderts einerseits und amerikanischer Superheldencomics andererseits relativ disparat) – vielmehr soll schlicht eine tatsächlich zu beobachtende Ähnlichkeit beschrieben und angeboten werden, diese mit Jakobsons Sicht auf Metapher und Metonymie als allgemeine Makrostruktur von kulturellen Bedeutungsprozessen und mithin Erzählen zu erklären. Es wäre damit eben von der anderen Seite her zu argumentieren: Nicht ein irgendgearteter Einfluss deutschsprachiger Literatur auf Superhelden steht zur Disposition, sondern umgekehrt wird in den Analogien deutlich, inwiefern es sich bei metaphorischen und metonymischen Beziehungen um transmediale semiotische Organisationsformen handelt. 21 Es sei betont, dass Jakobson weniger die (zumal nicht deutschsprachige) Romantik im Blick hat, sondern eine Grundform beschreibt, die er allgemein ›romantisch‹ nennt und genauso auch am frz. Symbolismus ausführt. Die deutschsprachige Romantik um 1800 fällt damit als eine Ausformung unter das Konzept ›Romantik‹, wie es Jakobson als Agieren mit der Metapher und dem Paradigma versteht.

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derungen, die in der Regel den Wahnsinn bedeuten.22 Der romantische Raum erscheint damit als Teil des Figurenensembles und ist eingerichtet wie ein Diorama, dessen Requisiten häufig sogar beweglich, mindestens aber bedeutungsstiftende Elemente des Sujets sind.23 Der realistische Raum dagegen funktioniert wie eine Vitrine, indem er als funktionales Behältnis möglichst zurücktritt und transparent auf seinen Inhalt bleibt. Dies bedeutet zwar nicht, dass sich in realistischem Erzählen keine Korrespondenz zwischen Landschaft oder Wetter und Figurenpsyche fände. Qualität und Quantität sind aber eine andere. Während die romantische Landschaft auf den Protagonisten wirkt, verdeutlichen oder kontrastieren im Realismus Raum und Außen das Innere der Figuren, allerdings ohne sie maßgeblich zu beeinflussen.24 Der (deutschsprachige) Realismus zeigt im Gegensatz zum romantischen Wirkraum nicht umsonst fortwährend Figuren, die ihrerseits den Raum prägen. Dies geschieht einerseits am Objekt des Privatraums; die Szenen und Gespräche über Einrichtung im Realismus sind in ihrer Menge kaum resümierbar 25 und Walter Benjamin nennt das 19. Jahrhundert nicht umsonst »wohnsüchtig«. 26 Andererseits wird auch der Raum der Landschaft zum formbaren Projekt und wandelt sich vom romantischen unendlichen Raum des teils bedrohlichen, teils beglückenden Allzusammenhangs zum handhabbaren Utensil. Als pointierter Ge-

22 Vgl. für den Gang in den Berg Ludwig Tiecks ›Der Runenberg‹ und E.T.A. Hoffmanns ›Die Bergwerke zu Falun‹ sowie Novalisʼ ›Heinrich von Ofterdingen‹ (kanonisch dazu Theodore Ziolkowski: Mines of the Soul. An Institutional Approach to Romanticism, in: English and German Romanticism. Cross-Currents and Controversies, hg. v. James Pipkin, Heidelberg 1985, S. 365-390). Der Wald als Wirkraum findet sich ähnlich ubiquitär, man denke an Ludwig Tiecks ›Der blonde Eckbert‹ oder E.T.A. Hoffmanns ›Die Elixiere des Teufels‹ und ›Das fremde Kind‹. 23 Zum romantischen Raum als Diorama und der folgenden Darstellung des realistischen Raums als Vitrine vgl. Tetzlaff [Anm. 10], S. 73-85 sowie 143-149. 24 Ein möglicher Einfluss, der dennoch wiederholt auftaucht, ist bezeichnenderweise wiederum ein metonymischer, nämlich der Luftkurort, wie er bei Theodor Fontane (›Cecile‹ [1886]) oder Ernst Eckstein (›Nervös‹ [1888]) beschrieben wird. Bei letzterem stellt sich die Wirkung aber nicht umsonst als eine von den Figuren placebohaft selbst initiierte heraus. 25 Es ist nicht übertrieben festzustellen, dass Fontanes Romane beinahe vollständig über Fragen des Interieurs organisiert sind; als weitere Beispiele bieten sich Theodor Storms ›Viola Tricolor‹ [1874] und Wilhelm Raabes ›Zum Wilden Mann‹ [1874] an. 26 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Erster Band, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1982,S. 292.

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gensatz mögen hier Friedrich de la Motte Fouqués ›Undine‹ und Theodor Storms ›Im Schloss‹ dienen. In der romantischen Erzählung werden ein als Meerjungfrau personifiziertes räumliches Element (Wasser) und ein Mensch zum Liebespaar. Bei Storm dagegen unterziehen die Figuren das leblose Wasser als Gegenstand einer rein praktischen Kulturtechnik, indem sie eine Gutswiese trockenlegen.27 Während der romantische Raum also belebt handelt, wird der realistische Raum als passiver durch die Figur geprägt. Und für diese Dichotomie erweisen sich Superman und Batman tatsächlich als anschlussfähig. Denn an Batman als Figur, die hier im Fokus steht, wird in Bezug auf den Raum ein klarer Zweck des Metonymischen deutlich. Der dunkle Ritter nämlich wehrt sich gegen eine Semiotik des Paradigmatischen, des Metaphorischen und der Äquivalenz, wie sie im Falle von Superman ganz selbstverständlich das gesamte Erzählmodell bestimmt. Der Raum der Abenteuer von Superman ist ein wirkender Raum im besten romantischen Sinne, denn er bringt seinen Helden selbst hervor. Superman als Figur entsteht schließlich nur durch den Raumwechsel von seinem Heimatplaneten Krypton zur Erde. Deren Sonne und ihre Strahlen verändern Kal-El, so Supermans eigentlicher Name, und verleihen ihm Superkräfte. Der Heimatplanet Krypton bleibt seine Achillesverse, denn in Form von Bruchstücken (das berühmte Kryptonit) halten Supermans Gegner wiederum Teile eines Wirkraums in den Händen, der Superman in seine normalsterblichen Schranken weist. Superman ist eine Figur, die der Wirkung des Raums ausgeliefert ist und deren Kräfte vom Raum der Erde hervorgebracht und vom Raum und Material seines Heimatplaneten getilgt werden. Die metaphorisch-paradigmatische Anlage der Sujets um den Stählernen28 wird besonders in der Ikonographie deutlich.29 Vom Comic über das Graphic Novel und verschiedene Verfilmungen wird Superman transmedial als JesusPostfiguration inszeniert, indem speziell Szenen wie das lichtumflutete Herab-

27 Vgl. zur Figur der Undine als personifiziertem romantischen Wirkraum Tetzlaff [Anm. 10], S. 84-85; zu Storms ›Im Schloss‹ ebd., S. 257. 28 Ähnlich dem ›Dunklen Ritter‹ (›Dark Knight‹) verfügt auch Superman über eine metaphorische Bezeichnung, nämlich ›der Stählerne‹ (›Man of Steel‹). Interessanter ist vielmehr, dass sich mit ›Dark Knight‹ und ›Bat-Man‹ überhaupt eine Form von Metaphorizität in Batman einschreibt. 29 Vgl. Stefan Tetzlaff: Why so serious, Snow White? – Superheldencomics im Spiegel der Märchenform, in: Moderne Märchen. Innovationen zwischen Mut und Mainstream in Literatur und Medien für Kinder- und Jugendliche, hg. v. Maren Conrad, Würzburg 2019 (Focus: Gegenwart, Band 5), S. 17-39, hier: S. 20f.

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steigen vom Himmel mit ausgebreiteten Armen oder die gebückte Haltung auf dem Kreuzweg beim Vollbringen von Kraftakten regelmäßig wiederkehren. Bereits das ikonische Cover des ersten Superman-Heftes (›Action Comics‹ #1, Juni 1938) zeigt den Helden ein Auto auf eine Weise hochstemmen, die Jesu Körperhaltung beim Tragen seines Kreuzes zitiert. Damit sind die Heldentaten der Figur von deren Entstehung an mit einem Verweis auf den heiländischen Märtyrertod verbunden. Und diese Verbindung überrascht nicht, wenn man sich vor Augen hält, dass Superman bewusst als moderner Gegenmythos zur Bedrohung durch die Nazis in die Popkultur eingebracht wurde. Einmal auf der Fährte dieses Bezuges, erscheinen die Verweise auf die jüdisch-christliche Mythologie als endlose Reihe. So ähnelt Supermans Ankunft als Säugling in einer Raumkapsel deutlich der Reise des Neugeborenen Moses, zumal beide Sujets zentral vom Aspekt der Diaspora geprägt sind. Dass ›Kal-El‹ zudem (grammatisch annähernd korrekt) mit ›Gefäß‹, ›Werkzeug‹ oder ›Stimme Gottes‹ übersetzbar ist, betont das angesprochene Verfahren, Bedeutung durch paradigmatische Verweise auf Elemente und Kodes in absentia herzustellen. Mehrfachkodierung in Geschichten um Superman besteht hauptsächlich in Verweisen auf andere Sujets, Mythen und Sphären, die nicht im Text präsent sind, sondern durch Ähnlichkeit vergleichbare Kontexte bilden. Das Weltmodell um Batman herum ist dagegen semiotisch betrachtet dominant metonymisch-realistisch angelegt. Denn Batman ist nicht das Produkt eines Wirkraumes, sondern steht in Beziehung zum Handeln anderer Figuren. Anna Stemmann verweist bereits bezüglich der eingangs geschilderten Etikettierungen in der TV-Serie auf zwei Aspekte, die unmittelbar mit einem solchen passiv geprägten Raum realistischen Erzählens zusammenhängen. Erstens stellt mit den schrifttextuellen Bezeichnungen das filmische Medium einen Verweis auf den Comic her (auf denselben Effekt zielen die berühmten soundwords ›zack‹, ›pow‹ etc.). Zweitens aber zeichnet sich eine Handhabung des Raums und damit eine Hierarchie von Figur und Raum ab: »Der Raum wird beständig durch Benennungen und Betitelungen ausgestaltet«.30 Auch die Initiationsgeschichte des jungen Bruce Wayne, dessen Eltern bei einem Raubüberfall getötet werden, geht nicht auf wirkenden Raum, sondern auf handelnde Figuren zurück und motiviert den Waisenjungen, sich die düstere Rache am Verbrechen zur Lebensaufgabe zu

30 Anna Stemmann: Der Held und sein Raum. Batmans Metamorphosen im Spiegel von Gotham City, in: Weltentwürfe des Fantastischen. Erzählen – Schreiben – Spielen, hg. v. Laura Muth und Annette Simonis, Essen 2013, S. 148-157, hier S. 150. Es sei erwähnt, dass auch das Versteck der Schurken vereinzelte Namensschilder aufweist. Im Vergleich sind diese allerdings in Anzahl und Prominenz eher marginal.

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machen. Wenn Victoria Tedeschi Batman als »a signifier of this decaying dystopian space«31 sieht – gemeint ist Gotham City –, dann wird genau diese metonymische Teil-Ganzes-Beziehung deutlich. Damit tritt bereits der Ursprungsraum des Helden als Vitrine (im Sinne realistischen Erzählens) auf, die das Agieren von Figuren ausstellt und selbst passiv bleibt.

III. GADGETS UND GEGENSPIELER Dennoch taucht das Metaphorische und Paradigmatische immer wieder auf in diesem ansonsten grundsätzlich metonymischen Weltmodell, sodass Batmans Handeln als Zeichenproduktion und als metonymische Gegenbewegung lesbar wird. Evident wird diese Strategie einmal mehr am Inventar von Gerätschaften, das Batman verwendet. Deren bereits beschriebener metonymischer Benennung steht eine klare Funktion innerhalb der Handlung zur Seite. Denn ganz im Gegensatz zur geheimnisvoll bedrohlichen Mischung aus Inkognito und scheinbar übermenschlichen Fähigkeiten, erfahren Leser und Zuschauer sehr genau, wie dieses Können zustande kommt. Wenn Seile, Widerhaken und Nachtsichtbrillen eingesetzt werden, tragen diese nicht nur metonymisch die Vorsilbe ›Bat-‹, sondern erklären auch pseudorealistisch jede der Fähigkeiten, die dem überraschten Schurken unnatürlich erscheint. Dass Batman nicht von jeher göttlich begabt ist, sondern sich sämtliche seiner Fähigkeiten hart erarbeitet, ist fester Bestandteil der Erzählungen um ihn. Immer wieder erfährt man von der spirituellen Selbstfindung, dem Studium zahlreicher kriminologisch relevanter Wissenschaften wie Psychologie und Forensik sowie hartem körperlichen Training zur perfekten Beherrschung verschiedenster Nahkampfsysteme. – Dass eine zentrale Superkraft des Helden ohne Superkräfte seine finanzielle Potenz ist, schließt an diesen Aspekt unmittelbar an. Die zunehmend selbstironische (und selbstreflexive) Anlage aktueller Umsetzungen des Batman-Stoffes greift diesen Aspekt wiederholt auf, beispielsweise in einem Dialog der jüngsten Verfilmung der JUSTICE LEAGUE:

31 Victoria Tedeschi: Poison Ivy, Red in Tooth and Claw. Ecocentrism and Ecofeminism in the DC Universe, in: Superhero Bodies. Identity, Materiality, Transformation, hg. v. Wendy Haslem, Elizabeth MacFarlane und Sarah Richardson, New York 2019, S. 37-46, hier: S. 38.

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Barry Allen: What are your superpowers again? Bruce Wayne: I’m rich.32

Die Herleitung und Aneignung seiner mentalen und physischen Fähigkeiten, die unzähligen hilfreichen Apparaturen sowie der unermessliche Reichtum seines Erbes, das die Entwicklung dieser Gadgets überhaupt möglich macht, sind Elemente, die jede noch so leicht über das Normalmenschliche hinausgehende Aktion erklären. Jedes Charakteristikum der Heldenfigur Batman steht damit in einem Kontiguitätszusammenhang zu Elementen innerhalb der Erzählung, die es plausibilisieren. Gotham tritt nicht nur motivisch als »hermetisch geschlossenes System«33 auf, sondern bildet auch semiotisch einen Raum, über den Bedeutungsbildung nicht paradigmatisch hinausgeht. Wo Superman als metaphorische, beinahe märchenhafte Feenfigur das Gute an sich verkörpert, steht die vielschichtig pathologisierte Psyche Batmans und Bruce Waynes in Bezug zu seiner im Narrativ selbst ausgestellten Entwicklungsgeschichte.34 Als eine gemeinsame Eigenschaft von Superhelden bringen Änne Söll und Friedrich Weltzien deren »Initiationsereignis«35 an; betreffs Spider-Man den »Spinnenbiss, bei Batman das traumatische Erlebnis des Mordes an seinen Eltern, bei Superman die Landung des außerirdischen Kindes auf der Erde.«36 Diese Reihung scheint jedoch homogener als sie tatsächlich ist, denn im Gegensatz zu Batman und Spider-Man besteht die Initiation Supermans schlicht im Erscheinen des Helden. Und genau dort liegt ja der Unterschied (auf dessen Grundlage man den viel interessanteren Aspekt in den Blick nehmen könnte, dass Superman gar keine eigentliche Initiationsgeschichte hat) – während Batmans Genese sich aus psychologischen, kontigen Zusammenhängen der Erzählwelt herleitet, ist Superman einfach da. Die Reise des jungen Kal-El auf die Erde wird motiviert, Konzept und Genese seiner Rolle als Superman dagegen nicht. Möglicherweise aufgerufene mythogene Kodes werden grundsätzlich in Kontiguitätszusammenhänge aufgelöst. Batmans Erscheinung beispielsweise, die

32 JUSTICE LEAGUE (R.: Zack Snyder und Joss Whedon, USA 2017, 00:38:58-00:39:02) 33 Stemmann [Anm. 30], S. 141. 34 Jakobson selbst zieht bereits die Verbindung von Metapher/Paradigma zum lyrischen Lied sowie der Metonymie zur Heldenepik (vgl. Jakobson [Anm. 6], S. 135). 35 Änne Söll und Friedrich Weltzien: Spider-Mans Heldenmaske. Kampf um Männlichkeit im Superhelden-Genre, in: Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Claudia Benthien und Inge Stephan, Köln 2003, S. 297-315, hier: S. 301. 36 Ebd., Fußnote 9.

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vom Vampir bis zum Dämon an ein breites Spektrum von Bedeutungskomplexen aus dem kulturellen Archiv anknüpft, wird differenziert als bewusstes Konstrukt ihres Trägers aufgeschlüsselt. Indem Bruce Wayne genau diesen Facettenreichtum an bedrohlichen Bezügen zielgerichtet zusammenstellt, wird deutlich, dass Motivierungen und Erklärungen von Mehrfachkodierung stets im Text mitgeliefert werden. Es macht immerhin einen Unterschied, ob eine Figur Nosferatu ähnelt, oder ob sie dies tut und man zugleich erfährt, dass sie diesen Effekt bewusst inszeniert und ihren eigenen Subtext kennt und herstellt. Warum Superman charakterlich so gut ist, erfährt der Leser dagegen nicht. Die beinahe parodistische Integrität von Clark Kent und Superman ist eine schlichte Tatsache, die den Helden zur symbolischen Figur macht; denn die einzig mögliche Erklärung liegt eben im Paradigma und Ähnlichkeitsbezügen zu Jesus, Samson und anderen Heiligen und Heroen sowie der Lesart als Personifikation mentaler Konzepte wie Güte, Altruismus und Gerechtigkeit. Diese Personifikation des Guten kontrastiert vor allem der ursprünglichen Version von Batman, die zunächst noch mit einer Pistole bewaffnet war und Gesetzesbrecher erschoss, ihnen das Genick brach oder sie in Säure versenkte.37 Supermans Verkörperung des extrinsisch grundsätzlich Guten steht mit dem frühen Batman noch deutlicher als gegenwärtig die intrinsisch motivierte persönliche Rache gegenüber. Batmans Charakter erweist sich vielmehr als komplex und widersprüchlich. Permanent variierte und wiedererzählte Vorgeschichten um Lehr- und Wanderjahre nach dem traumatischen Tod der Eltern konstruieren ein Gebäude aus metonymischen Verweisen, von dem sich Bruce Wayne als gebrochene Figur herleitet. Und auch innerhalb der Figur selbst wird dieser Konflikt verhandelt. In verschiedenen Ausformungen des Stoffes geht es darum, dass Bruce Waynes Doppelidentität als Geisteskrankheit diskutiert und damit ein tatsächlich realistischer Blick auf das geworfen wird, was er tut.38 Gemeint ist hier einerseits der offensichtliche Vigilantismus und der Rechtsbruch der Selbstjustiz, genauso aber auch die neurotische Spaltung in eine phantastische zweite Identität der Nacht. So lehnt Bruces Freundin Rachel in Christopher Nolans BATMAN BEGINS (2005)

37 Vgl. Brian Cronin: Was Superman a Spy?, London 2009, S. 37. 38 Mit dem Playboy Bruce Wayne, dem tiefsinnigen Solitär und dem Dunklen Ritter kann im Grunde sogar von einer Dreifachidentität gesprochen werden (vgl. Anna Stemmann: Gebrochene Helden, starke Männer. Geschlechtlich codierte Mythosstrukturen im Superheldengenre, in: Immer Trouble mit Gender? Genderperspektiven in Kinder- und Jugendliteratur und -medien(forschung), hg. v. Petra Josting, Caroline Roeder und Ute Dettmar, München 2016, S. 119-129, hier: S. 122).

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eine Beziehung mit dem Hinweis ab, nicht Batman sei die Maske, sondern dessen zivile Identität als Bruce Wayne.39 Söll und Weltzien sprechen diesbezüglich von Wayne als dem »zivilen Alter ego Batmans«. 40 In solchen Situationen betont Wayne regelmäßig, Batman sei keine zweite Identität, sondern ein anderer, eine Rolle, die Wayne zum Wohle der Stadt spielen will oder muss. Genau darin bildet sich erneut die beschriebene Polarität von Metapher und Metonymie ab. Denn wenn Batman und Bruce Wayne Ergebnis einer gespaltenen Persönlichkeit sind, verhalten sie sich zueinander als Varianten, das heißt paradigmatisch. Dem widerspricht Wayne, um eben dem Metaphorischen keinen Raum zu geben. Aus seiner Sicht ist Batman keine (paradigmatische) Variante seiner selbst, sondern ein (metonymisches) Komplement und eine Funktion – und zwar außerhalb seiner selbst –, der er seinen Körper leiht. Aus Bruce Waynes Sicht handelt es sich bei Batman dementsprechend um ein benachbartes, metonymisches Element. Am deutlichsten allerdings zeigt sich der Kampf gegen das ParadigmatischMetaphorische an den Objekten dieses Kampfes selbst, den Gegenspielern. Deren Beziehung zu Batman ist eine durchaus spezielle, indem sie als genau die Doppelgänger auftreten, als die Bruce Wayne und Batman selbst immer wieder behauptet werden. Dabei lauert die Gefahr von Ähnlichkeit und paradigmatischen Bezügen bereits im Konzept des ›Batman‹. Als Vollzugsfigur einer Ethik der Selbstjustiz kommt der dunkle Rächer in die prekäre Nähe einer Vergleichbarkeit mit seinen Gegnern, indem er »sein außerhalb des geltenden Rechtes stehendes Vigilantentum nicht prinzipiell vom Handeln der Verbrecher unterscheiden kann, die er doch […] zu fassen bemüht ist«.41 Die klassischen BatmanGegenspieler erscheinen tatsächlich als Facetten von dessen Persönlichkeit und entsprechen damit als »antithetische Doppelgänger« 42 ebenso klar der psychologischen Ebene des Doppelgängermotivs in seiner romantischen Blütezeit. Die Struktur, für die Jean Paul im ›Siebenkäs‹ [1796] den Terminus ›Doppeltgänger‹ prägt, bildet Entäußerungen von Ich-Anteilen ab. Problematisches und Verdrängtes tritt als Kopie der Figur selbst in Erscheinung, um es dem Betroffenen gegenüberstellen zu können. Dieser Vorgang geht (topisch bei E.T.A. Hoffmann) in der Regel nicht gut aus, zeigt aber, wie das Motiv funktional angelegt ist: Die Dopplung betont an der Variante einen bestimmten Aspekt des Originals. So verfügen auch Batmans Gegner über Gadgets und abenteuerliche Appa-

39 Vgl. BATMAN BEGINS (R.: Christopher Nolan, USA/GB 2005), 02:07:25-02:07:32. 40 Söll/Weltzien [Anm. 35], 297. 41 Ebd. 42 Lars Banhold: Batman. Re-Konstruktion eines Helden, Berlin 2017, S. 62 (speziell zum Joker als Widerpart Batmans: S. 65-70).

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raturen (man denke an Mr. Freezeʼ Kältekanone oder den Allzweckschirm des Pinguin). Und die Kombinationsgabe des Riddlers, die gespaltene Persönlichkeit von Two-Face, der Wahnsinn des Jokers und die an Robin Hood angelehnte Persönlichkeit von Catwoman spiegeln jeweils einzelne Aspekte der Figur Batman und projizieren sie ins Extreme. Dass diese Projektion auf die Seite der Kriminalität führt, ist zudem eine klare Einordnung solcher Analogien in der problematischen Heldenfigur. Dabei fungieren diese Bezüge als hervorragende Beispiele ausgerechnet für eine Semiotik des Paradigmatischen. Indem die Dominanz eines Ähnlichkeitsbezuges modelliert wird, tritt prekärerweise eben auch derjenige einer Austauschbarkeit hervor. So erscheinen Batman und Two-Face eben nicht kontig und sind nicht über einen syntagmatischen Zusammenhang verbunden. Sondern es bildet sich das Gegenteil der Metonymie ab, nämlich die Figuration als ein weiteres von vielen austauschbaren Elementen aus dem Paradigma. Batman, Two-Face und die meisten anderen Schurken erscheinen damit zunächst als Varianten, die um eine Systemstelle kämpfen. Oder mit den Worten Lars Banholds: »Im Konflikt mit seinen Gegnern steht Batman immer auch sich selbst gegenüber«.43 Als Nebeneffekt sozusagen erklärt diese Doppelgängerstruktur übrigens auch, warum die Batman-Comics in den 1940ern so verhältnismäßig unpolitisch waren. Während Superman ausgiebig gegen Nazis kämpft, findet sich diese Instrumentalisierung bei Batman fast gar nicht.44 Fragt man im Anschluss an Will Brooker nach den Gründen dieses Unterschiedes, dann liegt die Antwort in der Doppelgängerstruktur. Denn wenn Batmans Gegner überzeichnete Doppelgänger sind, bedeutet jeder von deren Charakterzügen zugleich eine Zuschreibung zurück an Batman selbst. Dies wollte man mit Sicherheit in Bezug auf dem Nationalsozialismus vermeiden. Ahnte man zeitgenössisch also zu Recht, dass diese Konfrontation nicht stimmig erscheint, so lässt sich dies anhand des hier beschriebenen semiotischen Modells erklären. Eine Kombination von Batman und Nazis hätte eine prekäre, die Figur beschädigende paradigmatische Semiose bedeutet. Die wenigen Geschichten immerhin, die ein entsprechendes Zusammentreffen wagen, finden kreative Wege, den semiotischen Effekt zu mindern. So kämpfen Batman und Robin in ›Atlantis Goes To War‹45 zwar gegen die Nazis, nachdem diese Atlantis besetzt haben. Der junge Herrscher der Unterwasserwelt allerdings ähnelt Robin so sehr, dass die beiden Helden durch Rollentausch und

43 Ebd., S. 71. 44 Brooker hält fest: »Batman remained unique during the early 1940s in terms of his relative immunity to wartime propaganda discourses«. (Brooker [Anm. 3], S. 86). 45 In: Batman #19, Okt/Nov 1943.

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andere Täuschung zuletzt die Oberhand erlangen. Vermeintliche Ähnlichkeit wird damit bewusst inszeniert, um diese Art der Verbindung semiotisch auszulagern und an einer anderen Figur abzugelten. Auch hier wird also deutlich, warum Batman wo immer möglich metonymische Zeichen anbringt. Nachdem die Erzählwelten um Batman herum hauptsächlich auf metonymische Zusammenhänge aufbauen, treten metaphorische, paradigmatische Bezüge als Gefahr auf. Dass beispielsweise das mehrfache wundersame Überleben Catwomans in BATMAN RETURNS (1992) bewusst nicht erklärt und damit nicht in einen metonymischen Zusammenhang gestellt wird, eröffnet eine paradigmatische Bedeutungsebene. Über das Katzenhafte wird der mythische Bezug auf die sprichwörtlichen sieben oder neun Leben möglich, die als metaphorische Elemente in absentia im Text selbst gar nicht vorkommen. – Batman dagegen kann sich noch so sehr mit seinem Bildspender der Fledermaus identifizieren, zum Fliegen benötigt er dennoch eine Apparatur aus Stangen und einen Gleitschirm.46 Für Catwoman reicht die Figurenanlage als ›Cat-Woman‹ aus, um genau die paradigmatischen, mythischen Kontexte abzurufen, die nirgends im Weltmodell gedeckt sind und denen Batman als Verfechter des Metonymischen entgegenwirkt. Catwoman gefährdet wie sämtliche Gegner Batmans dessen semiotische Logik durch paradigmatisch-metaphorische Aufladungen. Schließlich ist auch der Joker eine Figur, die den Dunklen Ritter ins Metaphorische locken will. So besteht beispielsweise ein zentrales Motiv in THE DARK KNIGHT (2008) darin, dass der Joker Batman wiederholt vor moralische Dilemmata stellt. Bei zeitgleicher Bedrohung muss dieser sich entscheiden, ob er seine Freundin Rachel oder den hoffnungsvollen Anwalt Harvey Dent rettet. Dass diese Wahl das persönliche gegen das Allgemeinwohl ausspielt, betont zudem einmal mehr die Lesart von Batmans Doppelidentität als Spaltung. Denn nur wenn es sich bei beiden Interessen um Facetten desselben Ichs handelt, lässt sich von einem Interessenskonflikt ausgehen. Auch die Konstellation zweier vollbesetzter Boote, die sich jeweils gegenseitig in die Luft sprengen und damit das eigene Leben retten können, zielt auf die Ebene von Moral und Ethik. Die Feststellung von Bruce Waynes treuem Butler und Batmans Vertrautem Alfred bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt: »Some Men just want to watch the World burn.«47 Damit wird genau die metonymische Erklärbarkeit abgelehnt, die Batman sucht. Ein kontiger, metonymisch herleitbarer Grund wird sich nicht finden lassen; das Ziel ist schlicht Chaos um des Chaos willen. Ein Detektiv wie

46 So zu sehen in BATMAN RETURNS (R.: Tim Burton, USA 1992, 01:20:15-01:22:34). 47 THE DARK KNIGHT (R.: Christopher Nolan, USA/GB 2008, 00:53:12).

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Batman wird diese Motivation nicht nachvollziehen können und erhält mit einem entsprechenden Gegner einen umso gefährlicheren Gegenspieler.

IV. AUSBLICK Einerseits stellt die hier vorgeschlagene Abbildung von Metapher und Metonymie auf Superman und Batman eine Polarität heraus, die auch andere Blickwinkel bestätigen. So schließt James Kakalios seine Studie zur Physik der Superhelden mit der Rubrik »Fragen Sie Dr. K.« und erörtert, wer der realistischste Superheld sei: Das ist einfach. Batman natürlich. Stets gelingt es ihm, sich allein aufgrund seines messerscharfen Verstandes und seines durchtrainierten Körpers aus hoffnungslosen Situationen zu retten und zu siegen. Wenn man allerdings bedenkt, wie oft er in seiner mehr als sechzigjährigen Karriere als Verbrechensbekämpfer bewusstlos geschlagen wurde, besitzt er ja vielleicht doch irgendeine verborgene Superkraft, die ihn vor einem bleibenden Gehirnschaden bewahrt.48

Die Frage nach dem unrealistischsten Superheld schließt sich direkt an und kann ebenso pointiert beantwortet werden, denn: Auch das ist einfach. Wer zeichnet sich durch Superkraft, Supergeschwindigkeit, die Fähigkeit des Fliegens, Unverletzbarkeit, Supergehör, Röntgen- und Hitzeblick, Teleskopund Mikroskopblick, Superatem, Superbauchreden und Superhypnotismus aus? Wer hält sich stets an alle Regeln und hat niemals versucht, die Weltherrschaft zu erlangen? Richtig – Superman. Er ist völlig unrealistisch – und das ist auch gut so!49

Damit scheint die kategoriale Verschiedenheit der Figuren, die sich semiotisch in den Verfahren ihrer Sujetbildung fortsetzt, einmal mehr bestätigt. Die Heldenfigur Batman erweist sich damit bei aller Variation als über eine semiotische Invariante konstruiert. Das entsprechende Verfahren besteht darin, metonymische Zeichenrelationen zu etablieren und zu stabilisieren. Im Kontrast zu Superman als Parallelfigur tritt wiederum dessen stark paradigmatisch-metaphorische Anlage hervor. Dies betrifft verstärkt den Raum der beiden Helden. Während Superman sich in einem Wirkraum bewegt, wie ihn romantische Erzählverfahren

48 James Kakalios: Physik der Superhelden, Berlin 2006, S. 396. 49 Ebd., S. 396f.

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hervorbringen, stellen die Weltmodelle um Batman den Raum als metonymisch und als passives Material aus. Diese passive Prägbarkeit nutzt Batman, um metonymische Beziehungen und damit Kontiguität zu stiften. Seine Gegenspieler sind dabei vor allem deshalb gefährlich, weil sie paradigmatische Zeichenfunktionen verkörpern und beispielsweise selbst als paradigmatisch und damit äquivalent zu Batman auftreten. Gegen diese Gefährdung des Metonymischen durch das Metaphorische wendet sich Batman in einem Konflikt, der wie zuletzt gezeigt bis in die Figur Bruce Wayne selbst projiziert wird. Und doch richtet sich diese Beschreibung an dominante Verfahren, ohne aber deren Ausschließlichkeit zu behaupten. Denn vieles, was heute zu den Kerneigenschaften der betrachteten Helden gehört, ist erst aus der medialen Übertragung von Stoffen entstanden. Für einen kurzen Moment nämlich war Superman zur Zeit seiner Entstehung ein geradezu metonymisch konstruierter Held. Seinem ersten Auftritt ist eine akribische Skalierung und Herleitung seiner Fähigkeiten beigegeben, die mit der höheren Entwicklungsstufe der Bewohner seines Heimatplaneten und einer daraus resultierenden hypertrophen Körperkraft zusammenhängen. Ähnlich einer Ameise kann Superman das Vielfache seines eigenen Gewichts tragen und ist anstatt zu fliegen in der Lage, sehr weit zu springen.50 Da Kniebeugen und Schwungholen für die bald folgende TVAnimationsserie allerdings zeichnerisch – und damit ökonomisch – zu aufwendig war, fand sich ein Weg, Superman einfach aus dem Stand heraus in die Luft zu bewegen: Er konnte fliegen.51 Genauso wären die zahlreichen Weltmodelle einen Blick wert, in denen Batman und Superman (respektive weitere Superhelden) gemeinsam auftreten. Denn auch dieser Umstand ist ein vom Medium angestoßener. Nachdem die Reihe ›The World’s Finest‹ zunächst sowohl Batman- als auch Superman-Stories enthielt, wurde die inflationsbedingte Verkürzung des Heftumfangs von 100 auf 36 Seiten der Grund, dass beide Helden gemeinsam in einer Geschichte auftraten, weil für jeweils eigene Abenteuer schlicht kein Platz war.52 Im Format des Radiohörspiels wiederum begegnen sich Batman, Robin und Superman bereits

50 Um wie im ersten Superman-Abenteuer geschildert über ein Hochhaus springen zu können, ist eine Absprunggeschwindigkeit von 230 km/h nötig; die entsprechende Sprungkraft wiederum wäre plausibel, wenn man von der 15fachen Schwerkraft auf Krypton und für Superman von einer davon geprägten Physis ausgeht (vgl. Kakalios [Anm. 45], S. 51-62). 51 Vgl. Cronin [Anm. 37], S. 22. 52 Vgl. ebd. S. 38f.

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am 10. Sept. 1945. Für jeden dieser Medienwechsel ist ein modifizierender Umgang mit den hier beschriebenen Relationen von Metapher und Metonymie zu erwarten, dem einzeln nachzugehen wäre. Denn nicht zuletzt bleibt auch die Frage, warum im Vergleich der beiden Ur-Superhelden ausgerechnet Batman ein über Ähnlichkeit funktionierendes Emblem trägt, das tatsächlich auf die Weise eine Fledermaus andeutet, die sämtliche Prägungen mit der Vorsilbe ›Bat-‹ vermeiden.

II. Irritierende Heldenfiguren

Die Dekonstruktion eines Heldenbildes? Ein unzuverlässiger Erzähler und ein changierender Held. Der unglaubwürdige Gasoein

Svenja Fahr

I.

UNZUVERLÄSSIGKEITEN IN DER ›CRÔNE‹

Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin 1 ist um 1230 entstanden und damit ein später Artusroman, der Konventionen aufgreift, mit diesen bricht oder sie ins Extreme führt. Unter dieser Prämisse setzt der Autor Erzählstrategien ein, um gerade das Erzählen selbst in den Fokus zu rücken. Dieser Beitrag befasst sich mit dem ›unzuverlässigen Erzählen‹, das in der ›Crône‹ (Cr) eingesetzt wird, um ein Heldenbild aufzurufen und dieses zu dekonstruieren. Es ist Winter am Artushof, was den König jedoch nicht davon abhält, auf eine Jagd zu gehen. Frierend kehrt er zurück und setzt sich ans wärmende Feuer. Was als plausible Handlung erscheint, wird von der Königin Ginover gänzlich anders wahrgenommen. Sie nutzt die Schwäche ihres Mannes aus, um zu einer Schelte auszuholen: wer lêrt iuch diese hovezuht, her künic, daz ir iuwern lîp sô eisieret als ein wîp? […] Och sît ir zwâr niht sô heiz sam ein ritter, den ich weiz,

1

Heinrich von dem Türlin: ›Diu Crône‹. Kritische mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen, hg. v. Gudrun Felder, Berlin/Boston 2012.

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den ich niht nennen wil. er ist aber bekant vil, wan in îs und der snê niht mêr enwelt dann der klê deheiner sîner reise. […] sô ist sîn leben gestalt: ez sî warm oder kalt, sô er meist an leit er vüert dehein ander kleit nuor ein wîzez hemde. (Cr 3373–3409)2 Ginover entwirft in ihren Ausführungen ein Gegenbild zu ihrem Ehemann. Denn der Ritter, den sie beschreibt, trägt nicht nur ein Hemd und trotzt somit in besonderem Maße der Kälte, gegen die sich Artus nicht zu erwehren vermag. Darüber hinaus scheint er diese auch nicht wahrzunehmen, was auf eine ausgeprägte Minnepotenz verweist.3 Damit ist Ginovers Darlegung auch der Vorwurf einer fehlenden Liebesfähigkeit Artusʼ inhärent. Schließlich lässt sie auch das Kampfeskönnen des bis dahin Namenlosen nicht unerwähnt und zeichnet damit das Bild eines absolut vorbildlichen Ritters, der im Kontrast zu Artus zu stehen scheint. Dieser Ritter aus der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, der von Ginover als Held gezeichnet und deren Bewertung auch vom Erzähler aufgegriffen wird, erweist sich im weiteren Textverlauf jedoch nicht als so vorbildlich, wie es zunächst scheint. Dieser Beitrag soll aufzeigen, wie stark Figurenhandeln und ihre Bewertung auseinanderfallen können und auf diese Weise der Held als Antiheld entlarvt wird. Denn literarische Helden formieren sich aus einem Bild, das Eigenwahrnehmung und Fremdzuschreibungen kombiniert, wobei sich diese zumeist decken,

2

Übers.: Herr König, wer hat Euch diese höfische Verhaltensweise beigebracht, dass Ihr Euren Körper in der Art und Weise einer Frau erkalten lasstς […] Zudem seid Ihr längst nicht so heiß wie ein Ritter, den ich kenne, aber nicht beim Namen nennen möchte. Er ist aber sehr bekannt, denn auf seiner Reise beeinträchtigen ihn weder Eis noch Schnee mehr als der Klee. […] Seine Lebensweise sieht folgendermaßen aus: Sei es warm oder kalt – er trägt keine weitere Kleidung, nur ein weißes Hemd.

3

Vgl. zur Tradition der Schwankerzählung, welche hier aufscheint und damit Gasoein in die Tradition der Minneritter stellt: Thomas Gutwald: Schwank und Artushof. Komik unter den Bedingungen höfischer Interaktion in der ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin, Frankfurt a.M. 2000 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 55), S. 99.

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sodass stets eine vermeintlich ideale Figur gezeichnet wird. Helden generieren sich stets vor einem Normsystem, das sie in exzeptioneller Weise vertreten. Im arthurischen Roman bilden dabei die Normen und Werte, die sich durch die Verortung im höfischen Rittertum manifestieren, eine entscheidende Folie, um Figurenbewertungen vorzunehmen. Nur derjenige, der den Prämissen des Königs folgt, kann einen Platz in der Gesellschaft erhalten, wobei äußere und innere Zeichen der Vorbildlichkeit fest miteinander verbunden sind.4 Heinrichs von dem Türlin Roman ist um 1230 entstanden und damit ein später Artusroman, der versucht, die gängigen Konventionen zu unterlaufen und bereits in der Tradition angelegte Tendenzen zusammenzuführen und auszugestalten.5 Vor dem Hintergrund der Artusromankonventionen führt er nun eine Figur ein, die von Ginover als absolut vorbildlich und damit zu den dort verhandelten Normen und Werten passend erscheint. Am Beispiel des Ritters im Hemde, Gasoein, zeigt Heinrich auf, wie Heldenhaftigkeit aufgerufen, diese Konstruktion jedoch auch wieder destruiert und somit zu einem Problem für den Hof werden kann. So muss dieser nun beweisen, dass er Möglichkeiten findet, mit dem Antihelden umzugehen, der erst einmal als solcher erkannt werden muss. Die Besonderheit in der Ginover-Gasoein-Episode liegt darin, dass Gasoein einerseits sehr positiv beschrieben wird, seine Handlungen jedoch gänzlich im

4

Vgl. zum Modell eines arthurischen Heldenbildes: Katalin Horn: [Art.] Held, Heldin, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 6, 1990, Sp. 721-745, die einen Überblick über generelle Heldenkonzepte bietet; Karl Otto Brogsitter: Der Held im Zwiespalt und der Held als strahlender Musterritter. Anmerkungen zum Verlust der Konfliktträgerfunktion des Helden im deutschen Artusroman, Beiträge zur deutschen Philologie, 57 (1984), S. 16-27, der die arthurischen Helden zwischen Problemen und Idealen verortet. Dies wird in Hinblick auf die Hybridität weitergeführt von Stephan Fuchs: Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31), insb. S. 47-81 und 122-137.

5

Vgl. zur Positionierung des Textes zwischen Traditionseinschreibung und abgrenzung Peter Kern: Bewußtmachen von Artusromankonventionen in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, in: Erzählstrukturen in der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. v. Friedrich Wolfzetttel. Unter Mitwirkung von Peter Ihring, Tübingen 1999, S. 199-218, hier insb. S. 213–216. Zusammenfassend zuletzt Gudrun Felder: Kommentar zur ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, Berlin [u.a.] 2006, S. 1. Mit Bezug auf die Ehebruchstradition verbunden mit Entführung und Gefahr: Neil Thomas: ›Diu Crône‹ and the Medieval Arthurian Cycle, Cambridge 2002 (Arthurian Studies 50), S. 23-42.

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Kontrast zu den Normen und Werten des Artushofes stehen. Diese Bewertungsdivergenz wird durch ein Auseinanderfallen der intradiegetischen Handlung und der extradiegetischen Kommentierung erzeugt. Eine solche Textstrategie lässt sich als ›unzuverlässiges Erzählen‹ beschreiben. Die Terminologie stammt von Wayne C. Booth, der die Definition für moderne Erzähltexte erstellt hat:6 »For a lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say the implied author’s norms), unreliable when he does not.«7

Sie wurde nachfolgend modifiziert, denn bereits Booth erschien sie defizitär. So lässt sich schließlich mit Kindt zwischen axiologischer und mimetischer Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit unterscheiden. Axiologisch unzuverlässig ist ein Erzähler dann, wenn ein Werk einer bestimmten Werteordnung folgt, die durch den Erzähler nicht verfolgt wird und ihn dementsprechend ethisch einordnet. Dafür müssen jedoch, wie Kindt betont, die Normen und Werte des Textes klar umrissen sein, wobei der Artusroman hier recht klare Prämissen aufweist. Mimetische Unzuverlässigkeit umfasst damit die Korrektheit der Erzähleraussagen: »Der Erzähler in einem literarischen Werk ist genau dann mimetisch zuverlässig, wenn es als Teil der Kompositionsstrategie des literarischen Werkes zu verstehen ist, dass die Äußerungen des Erzählers in Hinblick auf die fiktive Welt des literarischen Werkes ausschließlich korrekte und relevante Informationen enthalten; der Erzähler ist genau dann mimetisch unzuverlässig, wenn es als Teil der Kompositionsstrategie des literarischen Werkes zu verstehen ist, dass die Äußerungen des Erzählers in Hinblick auf die fiktive Welt des literarischen Werks nicht ausschließlich korrekte oder nicht alle relevanten Informationen enthalten.«8

6

Ich beziehe mich hier nicht auf den Diskurs der Wolfram-Forschung sondern auf den Ansatz von Booth.

7

Wayne Clayson Booth: Rhetoric of Fiction. Chicago [u.a.] 1961, S. 158f., Hervorhebungen im Original. Dt. als: Rhetorik der Erzählkunst. Übersetzt von Alexander Polzin. Heidelberg 1974. 2 Bde.

8

Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen 2008 (Studien zur deutschen Literatur 185), Zitat: S. 51.

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Der Erzähler in der ›Crône‹ stellt sich in der Ginover-Gasoein-Episode recht bald als axiologisch und mimetisch unzuverlässig heraus, da die zuvor vorgenommene positive Bewertung des Ritters im Hemde in ihr Gegenteil kippt. Ich werde im Folgenden, um Intradiegese und Extradiegese klar zu markieren, zwischen (Un-)Zuverlässigkeit (Extradiegese) und (Un-)Glaubwürdigkeit (Intradiegese) unterscheiden.

II. DER UNHELDENHAFTE KÖNIG ARTUS Ginover beurteilt ihren Ehemann vor dem Normhorizont des Artushofes und stellt ihm Gasoein gegenüber, der scheinbar ein mustergültiger Vertreter dieser am Hof geltenden Prämissen ist. Für Artus ist ihre Aussage problematisch, er geht davon aus, dass seine Frau eine glaubwürdige Berichtende ist und befürchtet aufgrund der positiven Beschreibung in dem namenlosen Ritter einen Rivalen, den er suchen und stellen möchte. Der Vorwurf seiner Frau verletzt seine êre. Zudem sieht er seine Stellung am Hof gefährdet, kann doch davon ausgegangen werden, dass es einen herausragenderen Ritter als ihn gibt – was nicht mit den Prämissen des Artushofes als Ort der Vorbildlichkeit einhergehen kann. 9 Gemeinsam mit seinen Rittern reitet Artus also aus, um den Fremden aufzuspüren. Anders als sonst häufig in der Tradition wird der König hier nicht passiv gezeigt; er reagiert auf die Vorwürfe Ginovers und möchte beweisen, dass er seiner Position am Hof gerecht wird, diese auch verteidigen kann.10 Alle Ritter legen sich einzeln auf die Lauer, sodass Artus seinem Rivalen schließlich alleine gegenübersteht.11 Er erkennt ihn sofort – die Beschreibung Ginovers und die Zuverlässigkeit ihrer Rede, von der auch Artus ausgegangen ist, ist also bestätigt und damit Artusʼ Position noch stärker gefährdet. Artus möchte von dem bis da-

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Natürlich ist dies eine Prämisse, die immer wieder anzitiert, aber nie gänzlich eingelöst wird. Die Vorbildlichkeit des Artushofes steht immer in Diskussion.

10 Grubmüller betont, dass Artus nun aufgrund seiner persönlichen Betroffenheit zu einer »Figur seiner Romane geworden [sei], er steht nicht mehr jenseits von ihnen«: Grubmüller: Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung, in: Positionen des Romans im späten Mittelalter, hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea 1), S. 1-20, hier: S. 13. 11 Auffällig ist, dass Gasoein niemals sein Ritterkönnen gänzlich unter Beweis stellt, stets erscheinen seine Gegner gehemmt, sodass seine proklamierte Vorbildlichkeit nicht vollends bestätigt werden kann: vgl. Felder [Anm. 5], S. 154f.

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hin namenlosen Ritter im Hemd den Namen erfahren, doch der Rivale verweigert ihm dies. Als Grund dafür führt er an, dass er seinen Namen ausschließlich König Artus mitteilen werde. Der Herrscher scheint demnach nicht erkennbar zu sein und auch als er sich zu erkennen gibt, reicht das Gasoein nicht aus. Er bezichtigt ihn der Lüge. Die Exponiertheit Artus’ wird an dieser Stelle somit zum zweiten Mal infrage gestellt, denn der Herrscher müsste sofort als solcher erkannt werden. Auf diese Weise wird nun noch ein weiteres Mal der Vorwurf Ginovers bekräftigt: Wenn Artus nicht mehr als König erkannt werden kann, darf er auch seine Stellung nicht mehr innehaben und das gesamte Machtgefüge gerät ins Wanken. Artusʼ Glaubwürdigkeit wird von den Figuren infrage gestellt, der Erzähler bietet jedoch keinen Anhaltspunkt für eine solche Skepsis. Damit fallen bereits zweimal zu Beginn der Episode Intradiegese und Extradiegese auseinander und verweisen darauf, dass es keinerlei Verlässlichkeit gibt und der Rezipient alle Aussagen und Urteile mehrfach überprüfen muss. Demnach wird eine Parallelität von Erzählen und Erzähltem erzeugt: Über die Validierbarkeit des Erzählens kann ebenso wenig eine sichere Aussage getroffen werden, wie die Sicherheit des Artushofes in Hinblick auf sein Fortbestehen garantiert ist. Schließlich gelingt es Artus doch noch, Gasoein davon zu überzeugen, dass er der König ist. Er wählt ein sichtbares Zeichen, das seine Behauptung stützt, das demnach zuverlässig sein muss und von Gasoein akzeptiert werden kann. Eine Narbe an seiner Stirn weist ihn als den König aus, den Gasoein sucht, sodass der Ritter im Hemd nun auch seinen Namen nennt. Gleichzeitig fordert er aber Ginover als seine rechtmäßige Ehefrau ein und stellt damit erneut die wiedererlangte Verlässlichkeit der Handlung infrage. In Anbetracht dessen, dass Gasoein bisher genau der Beschreibung Ginovers entsprochen hat,12 scheint seine Forderung ebenfalls auf legitimen Ansprüchen zu fußen und stellt somit das gesamte Artushofgefüge bezüglich seines Fortbestehens und seiner Integrität erneut zur Diskussion. Artus ruft nach diesem Gespräch seine Ritter zusammen und erzählt ihnen von Gasoeins Erläuterung, daz sie gevriund wæren, / ê ich sie ie genæme13 (Cr 10312f.). Der Anspruch auf Ginover sei also der ältere und damit rechtmäßige. Die gesamte Artusgesellschaft hält den Ritter im Hemde für glaubwürdig und sieht sich im Handlungszwang,

12 In den Begegnungen mit den anderen Artusrittern hat er sich als hervorragender – stets siegreicher – Kämpfer gezeigt. Auch hier hat Ginover demnach die Wahrheit gesprochen. 13 Übers.: dass sie befreundet (oder: Geliebte) gewesen wären, bevor ich sie zur Frau genommen habe.

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denn auch sie erkennt, dass das Fortbestehen des Hofes durch die Ansprüche des Antagonisten von Artus in Gefahr geraten ist. Damit handeln die Figuren durchaus ›artusromankonform‹, projizieren sie doch die eigenen Normen und Werte auf den als glaubwürdig inszenierten Gasoein. Der Rezipient wird in der gesamten Episode hinsichtlich seines Wissens mit Artus parallel geführt – ebenso wie der König weiß er nicht, ob die Ansprüche des fremden Ritters gerechtfertigt sind und kann somit auch nur auf die im Text gegebenen Zeichen vertrauen. Es ist unklar, ob Gasoein der Held ist, als der er vorgestellt wurde und ob seine Ansprüche tatsächlich gerechtfertigt sind.

III. GINOVERS ENTSCHEIDUNG Schließlich soll ein Kampf über die Zukunft der Königin entscheiden. 14 Einerseits wird so über Stärke die Wahrheit der Aussagen verhandelt und erneut – wie zuvor die Narbe – wird ein sichtbares Zeichen zur Legitimation und Bestätigung eingefordert. Andererseits wird durch die Einsetzung des Kampfes aber auch deutlich, dass beide Ansprüche als glaubwürdig bewertet werden.15 Anstatt nun jedoch die Aussagen noch einmal hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes zu überprüfen, wird die Ebene des sprachlichen Ausdrucks verlassen und eine körperliche Aktivität zur Herbeiführung einer Lösung eingefordert. Auf diese Weise

14 Dieser Kampf resultiert aus einem Gerichtsurteil, somit erhält der gesamte Entscheidungsprozess die Dimension eines Gottesurteils, das damit jedoch gleichzeitig unterlaufen wird. Zur Bedeutung von Gottesurteil in Praxis und Literatur zusammenfassend vgl. Felder [Anm. 5], S. 272. Durch die Anspielung wird deutlich, dass der Konflikt ein menschlich erzeugter ist, der das weltliche Machtgefüge thematisiert. Damit kann er nicht von Gott mithilfe eines Gottesurteils gelöst werden, denn es wird offensichtlich – wenn auch nicht explizit formuliert –, dass Gott sich nicht instrumentalisieren lässt. Hier wird bereits auf die Episode mit Frau Saelde, der Gawein später begegnet angespielt: Denn der reine Zufall ist – anders als Gott – berechenbar. Bei Gawein bleibt das Glücksrad beim völligen Glück stehen, Gawein wird somit als Glücksritter par excellence vorgestellt. Damit scheint auch Gott beständig auf der Seite Gaweins zu stehen und ihm dieses Glück zuzusprechen, denn nach der Vorstellung des Christentums ist auch das Glück von Gott gelenkt. 15 Dies betont auch Stein, der hervorhebt, dass es keine Eindeutigkeit gibt, gerade weil Gasoein nicht direkt als Lügner entlarvt werden kann: vgl. Peter Stein: Integration – Variation – Destruktion. Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin. Frankfurt a.M. [u.a.] 2000 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, Bd. 32), S. 224-232.

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wird implizit der Artushof kritisiert, der eine gänzlich unangemessene Lösungsoption wählt und damit vielleicht auch darauf verwiesen, dass Herrschende zu schnell eine gewaltvolle Konfliktlösung anstreben.16 Als Gasoein am Hof erscheint, geht er zunächst auf den Zweikampf ein, spricht sich nachfolgend allerdings gegen diese Art der Konfliktlösung aus. Auf diese Weise können beide Ritter noch einmal herausstellen, dass sie heldenhafte Kämpfer und damit adäquate Partner für Ginover sind. Aufgrund dieser Äquivalenz muss erneut die Herangehensweise an die Konfliktlösung gewechselt werden.17 Letztlich wird gefordert, dass die Königin eine Entscheidung herbeiführt, sie soll also Wahrheit garantieren und damit den Konflikt, den sie initiiert hat, beenden. Damit scheint eine passende Lösung gefunden zu sein, die eine eindeutige Entscheidung herbeiführen kann. Genau an dieser Stelle wird aber keine Eindeutigkeit erzeugt: Von der Königin wird eine körperliche Aktivität gefordert, sie soll ihren anfänglichen Vorwurf nicht durch einen Sprechakt revidieren und auch Gasoein nichts entgegnen. Als man sie dazu anweist, daz sie gienge dâ hin, / dâ ir allr liebest wære18 (Cr 10999), schweigt sie und wird bleich.19 Die Entscheidung scheint sie körperlich zu überfordern, den Kampf, den Gasoein und Artus öffentlich führen, trägt sie innerlich aus. Schließlich entscheidet sie sich jedoch dazu, weiterhin bei Artus zu bleiben, und betont, dass sie nicht mit

16 Mit dem Kampf wird noch deutlicher, dass es sich bei einem Ehebruch nicht um einen privaten Konflikt handelt, sondern dass dieser die Öffentlichkeit betrifft und für die gesamte Artusgesellschaft Konsequenzen hat: vgl. Felder [Anm. 5], S. 276. 17 Es wird offensichtlich gemacht, dass beide Ritter die gleiche Ausstattung haben und identisches Kampfeskönnen aufweisen. Bleumer verweist darauf, dass durch das Zurückweichen Gasoeins und seinen Vorschlag, von dem Kampf abzusehen, eine Ungleichheit entsteht, da dies als Feigheit gewertet werden kann – damit sind die beiden Ritter doch nicht äquivalent und Artus kann seine Stellung somit indirekt rechtfertigen: Hartmut Bleumer: Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, Tübingen 1997 (MTU 112), S. 36f. 18 Übers.: dass sie dorthin gehen solle, wo es ihr am besten gefalle. 19 Das Zögern Ginovers, so Bleumer, »verleih[t] der Forderung Gasozeins ein gewisses Maß an Plausibilität, das notwendig sein mag, damit die Forderungen dieses Ritters nicht von vornherein am Idealbild der Königin abprallen, sondern zu einer ernstzunehmenden Möglichkeit und damit zu einer Bedrohung werden«: Bleumer [Anm. 17], S. 37. Dazu auch Matthias Meyer: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretation und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (GRM-Beiheft 12), S. 105.

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einem Mann gehen wolle, des ich nie künd gewan20 (Cr 11019), den sie also gar nicht kenne. »Die Frage, ob Ginover Gasoein wirklich kennt und womöglich sogar Ehebruch mit ihm begangen hat, bleibt den ganzen Roman hindurch offen; es gibt Indizien dafür wie dagegen«,21 konstatiert Felder. Letztlich wird mit Ginovers Entscheidung ausschließlich die Zukunft behandelt, die Frage nach der Vergangenheit bleibt offen. Ihre unpräzise Aussage, dass sie von Gasoein nie künd gewan (Cr 11019), entspricht dabei zumindest teilweise nicht der Wahrheit. Versteht man darunter eine persönliche Kenntnis Gasoeins, wäre der Anspruch des Ritters im Hemd widerlegt – diese eindeutige Beurteilung wird jedoch von der Erzählung gerade nicht ermöglicht. Denn Ginovers Formulierung impliziert nicht unbedingt die persönliche Kenntnis, sondern kann auch schlichtweg bedeuten, dass ihr die Geschichte von Gasoein nicht bekannt ist. Liest man Ginovers Aussage auf diese Weise, hat sie eindeutig gelogen: In der Kaminepisode hat die Königin gezeigt, dass sie von dem Minneritter gehört hat, der nur mit einem Hemd bekleidet durch das Land zieht. An einer der beiden Stellen kann Ginover somit nicht die Wahrheit gesagt haben, sodass das Vertrauen in ihre Glaubwürdigkeit hier hinterfragt werden muss. Damit wird aber auch eine eindeutige Antwort auf die Frage nach einem Ehebruch verstellt.

20 Übers.: den ich nie kennengelernt habe. 21 Felder [Anm. 5], S. 131; sie führt zudem die bisherigen Überlegungen zu der Schuld oder Unschuld Ginovers an, die je nach Lesart divergieren. Während de Boor hier eine Schuld Ginovers sieht, insofern als dass sie sich weigert, der Öffentlichkeit Informationen zu geben: Helmut de Boor: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang, 1170-1250, 10. Aufl. bearb. v. Ursula Hennig, München 1979 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2 [2,5]), S. 187, sieht hier Ruberg eher eine narratologische Funktion. Er betont mit Verweis auf diese Stelle: »Der Erzähler gibt sich alle Mühe, den eigentlichen Sachverhalt im dunkeln (sic!) zu lassen« und macht – ebenso wie Felder später – genau dieses Changieren zwischen Schuld und Unschuld deutlich, das die unterschiedlichen Bewertungen überhaupt erst ermöglicht: Uwe Ruberg: Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters. Mit kommentierter Erstedition spätmittelalterlicher Lehrtexte über das Schweigen, München 1978 (MMS 32), S. 232. Auch Gutwald verweist erneut darauf, dass es in der gesamten Episode ausgesprochen schwer ist, Wahrheit herauszufiltern: Gutwald [Anm. 2], S. 119. Ringeler betont, dass es Heinrichs Absicht war, aufzuzeigen, dass niemand mit Gewissheit etwas über die Treue der Königin sagen kann: Frank Ringeler: Zur Konzeption der Protagonistenidentität im deutschen Artusroman um 1200: Aspekte einer Gattungspoetik, Frankfurt a.M. [u.a.] 2000 (Europäische Hochschulschriften 1,1752), S. 238f.

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Denn die Aussage lässt sich zudem als Sexualchiffre lesen, das Erkennen als biblisches Erkennen verstehen (vgl. dazu 1 Mose 4,1). Damit würde Ginover betonen, niemals mit Gasoein geschlafen zu haben, was ihre Treue belegen würde. Ginovers Aussage eröffnet damit differierende Deutungsperspektiven, die eine eindeutige Figurenbewertung Gasoeins und ihrer selbst verweigern und aufzeigen, dass das Wissen über Figuren und ihre Intentionen begrenzt ist. Indem Heinrich hier keine eindeutige Zuverlässigkeit oder Glaubwürdigkeit vergibt, kann der Konflikt am Artushof bestehen bleiben und ein generelles Hinterfragen der dortigen Normen und Werte erfolgen. Auf diese Weise wird aber auch ein außerliterarischer Verweis eingefügt, der grundsätzlich die Problematik einer untreuen Königin verhandelt. Ein solcher Konflikt lässt sich auch außerliterarisch nicht frei jeglichen Schadens lösen, denn die Treue der Königin ist für den König entscheidend. Innereheliche Schwäche ist stets ein Politikum, das auf fehlende Herrschermöglichkeiten verweist. Gasoein verlässt nach Ginovers Entscheidung den Hof (vgl. Cr 11009– 11028). Während er also die Wahl der Königin akzeptiert und seine Ansprüche fallen lässt, ist der Bruder Ginovers erzürnt, er entführt sie, um sie zu töten – ihre Ehre ist aufgrund ihres Zögerns seiner Meinung nach befleckt, sodass keine andere Option als ihr Tod für ihn infrage kommt. Ginover gerät nun also ernsthaft in Lebensgefahr. In dieser prekären Situation stößt erneut Gasoein hinzu und kann die Königin vor dem gewissen Tod retten. Doch genau an dieser Stelle werden erneut monokausale Deutungsangebote verhindert, indem nun der Erzähler das Geschehen beurteilt. Im Vorfeld der Begegnung hat er immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich bei Gasoein um einen vorbildlichen Ritter handelt, was sich dann auch bei der Begegnung mit Artus zu bestätigen scheint und letztlich auch dem entspricht, was Ginover betont. Er kämpft ebenso gut wie der König und seine Ansprüche auf Ginover werden von allen Beteiligten ernst genommen. Schließlich zieht er sich auch nach der Entscheidung Ginovers zurück und agiert damit als vorbildlicher Verlierer. Einzig die von ihm formulierten Ansprüche auf Ginover stellen ein Problem dar, das eine gänzlich positive Bewertung der Figur verbietet. Nach seiner Niederlage wird Gasoein schließlich entproblematisiert, der gesamte Konflikt wird vergessen und der Artushof verhält sich den üblichen Konventionen entsprechend. Vor diesem Hintergrund kommentiert der Erzähler nun das Auftauchen seines ehemaligen Antagonisten Artusʼ während der Ginoverentführung durch Gotegrin. Die Ehre Gasoeins scheint wiederhergestellt zu sein, 22 obwohl es keine

22 Geht man davon aus, dass seine Lüge, wenn sie denn eine ist, als Ehrverletzung gewertet werden kann. Festzuhalten ist jedoch definitiv, dass jegliches Changieren der

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Rücknahme der Ansprüche oder eine Entschuldigung gab. Dennoch wird deutlich gemacht, dass von dem Ritter im Hemd keine Gefahr mehr für den Artushof ausgeht, sodass der Erzähler sein Auftauchen lapidar kommentiert: Got het ir gesendet trôst. / sust wart Ginovêr erlôst (Cr 11285f.).23 Die Positivierung der Gasoein-Figur durch den Erzähler erreicht an dieser Stelle ihren bisherigen Höhepunkt, wird er hier doch als Gottgesandter vorgestellt, der die einzig mögliche Rettung darstellt. Auffällig ist, dass es gerade nicht die Artusritter sind, die diese Funktion übernehmen können. Erneut ist eine Intervention von außen notwendig, die hier jedoch positiv bewertet wird. Damit wird aber auch erneut auf die Missstände innerhalb der Artusgesellschaft hingewiesen. Die Ritter, die stets innerhalb christlicher Traditionszusammenhänge agieren und damit als milites christiani verstanden werden können, benötigen einen Ritter, der scheinbar tatsächlich von Gott geschickt wird. Auf diese Weise wird deutlich, dass der vermeintlich vorbildlichste aller Höfe eine Option von außerhalb benötigt; erneut wird also die Unglaubwürdigkeit des Hofes exponiert. Der Artushof kann seiner eigens proklamierten Vorbildlichkeit wieder einmal nicht gerecht werden. An genau dieser Stelle wird nun jedoch auch gezeigt, dass der Erzähler mimetisch unzuverlässig ist, denn seine Bewertung und das Handeln der Figur stehen nachfolgend in starkem Kontrast zueinander. Denn nicht nur das Vertrauen in den Artushof und die dortigen Normen und Werte werden an dieser Stelle in-

Figur zwischen Antagonist und Held an dieser Stelle ignoriert wird, die Intervention für ihn – ebenso wie für den Artushof bis zum Eingreifen Gotegrins – ohne Konsequenzen bleibt. 23 Mit diesem Kommentar wird zudem ein Bezug zu Hartmanns ›Erec‹ hergestellt, denn dort rettet Oringles Enite ebenfalls aus unmittelbarer Lebensgefahr (hier allerdings geht die Gefahr von ihr selbst aus, da sie sich umbringen möchte). Er möchte sie dann jedoch gegen ihren Willen heiraten: vgl. Felder [Anm. 5], S. 287. Der Kommentar des Erzählers ist dabei ähnlich gestaltet: Nu kam geriten ein man, / der sis erwande, / den got dar gesande. / ditz was ein edler herre / […] / den het got dartzuͦ erkorn, / daz er si solt bewarn. (Da kam ein Mann geritten, der sie davon abhielt, den Gott dorthin geschickt hatte. Es handelte sich um einen Adligen, […]. Diesen hatte Gott dazu auserwählt, sie zu schützen.) Dieses Textzitat und die Übersetzung sind entnommen aus: Hartmann von Aue: ›Ereck‹. Textgeschichtliche Ausgabe mit Abdruck sämtlicher Fragmente und der Bruchstücke des mitteldeutschen ›Erek‹, hg. v. Andreas Hammer [u.a.] unter Mitarbeit v. Lydia Merten [u.a.]., Berlin/Boston 2017, V. 7100–7109. Auch hier führt die ›Crône‹ das in der Tradition verankerte Geschehen durch die drohende Vergewaltigung wieder einmal ins Extreme, schreibt sich aber gleichzeitig in die Tradition des Artusromans ein.

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frage gestellt, sondern auch die Zuschreibungen des Erzählers, der Sinnhorizonte erschließt. Ich möchte im Folgenden aufzeigen, wie durch die Fehlbewertung des Erzählers das Vertrauen in eine Figur aufrechterhalten wird, dies jedoch nicht mit dem Geschehen in Übereinstimmung zu bringen ist, sodass die zuvor vorgenommene positive Bewertung Gasoeins in ihr Gegenteil umschlägt. Um diese Divergenz zu erreichen, nutzt Heinrich von dem Türlin die Erzählstrategie des ›unzuverlässigen Erzählens‹, wobei hier nun ein deutlicher Kontrast zwischen Bewertung und Geschehen erzeugt wird, nicht wie bisher ein Offenhalten der tatsächlichen Bewertung des Geschehens bestehen bleibt.

IV. DIE DEKONSTRUKTION DES HELDENBILDES Der gottgesandte Gasoein rettet Ginover zunächst aus der Gefahr, die durch Gotegrin ausgeht und bestätigt damit die Zuschreibung durch den Erzähler. Dies wird jedoch sofort ins Gegenteil gekehrt, als Ginover nicht den Erwartungen Gasoeins entspricht. Gasoein bittet die Königin, ihm zu folgen und seine Frau zu werden, was jedoch von Ginover ignoriert wird. des listes er im sâ erdâht, / dâ mit er sie vil snelle brâht / gar an sîn gewarheit24 (Cr 11305–11307), erläutert daraufhin der Erzähler, ohne dies zu bewerten. Gasoeins weiteres Handeln ist listig und entspricht nicht den üblichen Verhaltensmustern eines Ritters. Angesichts seiner beständigen Bitten weigert sich die Königin und tituliert diese als Unsinn. Zudem wolle sie nicht dem Ansehen aller Frauen durch ihr unbeständiges Verhalten schaden, indem sie ihren Mann verlässt, damit ihre soziale Stellung verliert und ausschließlich als Ehebrecherin die Beischläferin Gasoeins wird. Nach der offenen Weigerung Ginovers ist Gasoein erzürnt, der vormals durch den Erzähler als vorbildlich vorgestellte, heldenhafte Ritter wandelt sich und fordert eine Entlohnung für die Rettung ihres Lebens ein – auch wenn dieser Lohn nicht ihrem Willen entsprechen sollte (vgl. Cr 11399–11410).25 Die nun

24 Übers.: Da dachte er sich eine List aus, mit der er sie sich schnell gänzlich sichern könnte. 25 Auch an dieser Stelle wird offensichtlich, dass Gasoeins Vorbildlichkeit brüchig ist, er hilft Ginover nicht uneingennützig. Damit wird er als Kontrast zu Gawein gestaltet, der stets der Idealritter ist: vgl. Felder [Anm. 5], S. 287. Kaminski kann herausarbeiten, dass Gasoein als intertextuelle Dopplung von Gawein gezeichnet ist und es deshalb nicht erstaunlich ist, dass ausgerechnet Gawein letztlich Ginover retten muss.

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nötige Beurteilung des Erzählers bleibt aus, stattdessen wird Ginover zur fokalen Figur, deren Ängste angesichts der Stärke Gasoeins hervorgehoben werden: si vorht, daz er ê / in dem walde bî ir læge / und ir über maht pflæge 26 (Cr 11430– 11432). Die Angst der Königin vor einer Vergewaltigung kommentiert der Erzähler lapidar damit, dass die Natur eben fordere, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalte – der Mensch sei dagegen machtlos (Cr 11442–11455).27 Das Verhalten Gasoeins wird vom Erzähler somit entschuldigt, auch wenn er nun gerade nicht mehr den arthurischen Grundsätzen folgt und eine Bedrohung für die Königin – und damit auch für den gesamten Hof – darstellt. Der Gottgesandte wird erneut zum Antagonisten. Anders als in der ersten Episode enthält sich der Erzähler nicht der Kommentare und überlässt der Königin Erzählerfunktionen, sondern steht mit seiner Beurteilung in direktem Kontrast zu Ginovers Wahrnehmung der Situation. Damit nimmt er indirekt Bezug auf Ginovers fehlerhafter Kommentierung des sich am Feuer wärmenden Königs – auch seine Situationsbewertung ist hier als fehlerhafte Anwendung von Allgemeinwissen zu verstehen. Der Ausgangskonflikt zwischen dem Königspaar wird damit erneut aufgegriffen und es wird aufgezeigt, dass er noch nicht gelöst ist, sondern sich verschärft hat. Unter den geschilderten Voraussetzungen gelangen Ginover und Gasoein nun an einen locus amoenus. Dieser Ort, der in der mittelalterlichen Literatur eigentlich stets dann beschrieben wird, wenn zwei Liebende in der Natur einver-

Somit kämpft Gawein in der ›Crône‹ zweimal gegen sich selbst – noch offensichtlicher ist es bei Aamanz, der ihm optisch entspricht: Nicola Kaminski: Wâ ez sich êrste ane vienc, Daz ist ein teil unkunt. Abgründiges Erzählen in der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin, Heidelberg 2005, S. 151-161, insb. S. 161: »Gawein ›ist‹ Gasoein«. Bleumer nimmt in der gesamten Episode Ginover in den Blick, er sieht hier eine Probe der Königin, sie könne durch ihre beständige Weigerung somit ihre Unschuld und damit ihre Treue zu Artus beweisen: vgl. Bleumer [Anm. 17], S. 38f. Allerdings wird hier eine ganz neue Situation erschaffen, sodass dies gerade nicht gesagt werden kann. Denn Ginovers nun zur Debatte stehendes Mitgehen mit Gasoein würde sie gänzlich als Ehebrecherin festlegen, sodass sie ihre Entscheidung noch einmal vor einem neuen Hintergrund fällt. 26 Übers.: Sie fürchtete, dass er lieber in dem Wald bei ihr liegen und seine Macht über sie auskosten würde. 27 Vgl. auch die widersprüchliche Argumentation der huote – Frauen wollen der huote entkommen, das verlange die Natur, allerdings steht demgegenüber die Furcht vor den Konsequenzen eines huote-Verlustes: Felder [Anm. 5], S. 289.

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nehmlich aufeinandertreffen, steht in starkem Kontrast 28 zu dem folgenden Geschehen. Denn unter der Linde bringt Gasoein Ginover gänzlich in seine Gewalt, der Erzähler umschreibt das Geschehen metaphorisch, wird dabei aber auch sehr explizit. Ginover setzt sich zur Wehr, Dô im alsô niht gelanc, / under ir bein er sich swanc / und wolt sie sô betwungen hân 29 (Cr 11744–11746). Der Erzähler betont, dass Gasoein mit sô grôzem gewalte, / […] als ez diu gelust reizet30 (Cr 11729–11731), an Ginover handelt. Er setzt seine gesamte Kraft ein, um Ginover zu vergewaltigen. Damit entfernt sich die Figur vom anfangs gezeichneten Idealbild. Auch jetzt weicht der Erzähler von seiner Einschätzung Gasoeins nicht ab: Er bleibt für ihn vorbildlich. Obwohl es sich bei Gasoeins Bemühungen schlichtweg um den Versuch einer Vergewaltigung handelt, gibt es keinerlei negative Figurenbewertung durch den Erzähler. Er weist zwar auf die Kraft hin, die Gasoein anwendet, doch seine Umschreibungen sind mit so starken Metaphern durchsetzt, dass Knapp sich dazu verleiten lässt, das Geschehen »einen einsamen Höhepunkt erotischer Metaphorik im Höfischen Roman«31 zu nennen. Die Positivierung der Figur durch den Erzähler steht damit im Kontrast zu dem Geschehen und somit erweist sie sich angesichts ihrer bisherigen Integrität als brüchig. Allerdings wird dies auch durch den Erzähler plausibilisiert, indem er den Einfluss der Natur auf Gasoein hervorhebt. Es wird suggeriert, dass für sein unhöfisches Verhalten nicht der Ritter im Hemd verantwortlich ist, sondern eine Macht, die sich des Einflusses durch den Menschen entzieht. Angesichts des gewaltvollen Vorgehens Gasoeins ist diese einfache Erklärung des Geschehens jedoch nicht nachzu-

28 Dazu passt auch die Verortung des Geschehens in den Winter, sodass die Kälte die Lieblosigkeit widerspiegeln kann: vgl. Felder [Anm. 5], S. 304. 29 Übers.: Als ihm dies nicht gelang, schwang er sein Bein unter ihres und wollte sie auf diese Weise bezwingen. 30 Übers.: Mit so großer Kraft […], wie sein Verlangen ihn dazu reizte. 31 Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273. Bd. 1. Graz 1994 (Geschichte der Literatur in Osterreich von den Anfingen bis zur Gegenwart), S. 556. Gutwald hebt indes hervor, dass gerade diese Vergewaltigungsepisode Grund für die Forschung war, ein vernichtendes Gesamturteil über den Text zu fällen: vgl. Gutwald [Anm.2], S. 62f. Dabei wurde selten narratologisch untersucht, sondern vielmehr die Handlung selbst beurteilt, sodass schon Ehrismann zu dem Schluss kommt, dass es sich um eine »eine empörend plumpe, handgreifliche Schilderung«: Gustav Ehrismann: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, Bd. 2,2, München 1935, S. 13, handle.

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vollziehen, die ›Entschuldigungsstrategie‹ wirkt zu willkürlich und vereinfachend. An dieser Stelle wird demnach extradiegetisch anders beurteilt, als es diegetisch möglich ist, die beiden Ebenen fallen auseinander, sodass der Erzähler mimetisch unzuverlässig bewertet. Während zuvor durch unzuverlässige Kommentare stets ein Changieren der Figuren zwischen positiver und negativer Bewertung evoziert wurde, fallen die beiden Ebenen nun so stark auseinander, dass der Fokus nicht mehr auf den Figuren liegt – denn Gasoeins Handeln kann nur negativ beurteilt werden –, sondern auf dem Erzähler und seiner nicht zutreffenden Beurteilung. Damit rückt also auch das Erzählen in den Vordergrund und es wird deutlich, dass eine Überprüfung der Erzähleraussagen notwendig ist.

V. DIE RÜCKKEHR AN DEN HOF Dass der Verbindung von der Bewertung des Erzählers und der Figurenhandlung an dieser Stelle Kohärenz fehlt, wird vom Erzähler gänzlich ignoriert, und auch die Figuren der histoire verzeihen Gasoeins gewaltvolles Handeln Ginover gegenüber, blenden es sogar aus. Denn gerade als Gasoein sein Bein unter Ginovers schiebt, erscheint Gawein, der Musterritter der Artusgesellschaft, sodass die drohende Vergewaltigung letztlich verhindert werden kann und alle drei an den Hof zurückkehren. Damit ist die Ordnung in gewisser Weise wieder restituiert, hat doch nun ein Artusritter zur Rettung Ginovers beigetragen und die Gefahr, die durch den Antagonisten ausging, abgewendet. Auffällig ist, dass Gawein die Vergewaltigung verhindern kann, Gasoein ihm dann jedoch im Zweikampf ebenbürtig ist. Auf diese Weise kann erneut aufgezeigt werden, dass die Gefahr, die von dem Ritter im Hemd ausging, eklatant war, sodass auch das Versagen der Artusritter am Anfang relativiert werden kann. Wenn sogar der kampferprobteste der Tafelrunde32 nichts gegen Gasoein auszurichten vermag, ist dieser ein ernstzunehmender Gegner. Nur dieser Kampf ermöglicht es auch, das Geschehen an ein Ende zu bringen. Denn anders als es zu erwarten ist, findet nach der Rückkehr der drei Figuren an den Artushof kein Gerichtsverfahren statt, Gasoein wird nicht für seine Gewalttat zur Rechenschaft gezogen:

32 Zusammenfassend zur Bedeutung Gaweins für den Artushof: Rudolf Simek: ArtusLexikon. Mythos und Geschichte, Werke und Personen der europäischen Artusdichtung, Stuttgart 2012, Sp. 132-134.

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Artûs nâch sîner gesellen rât vergap ime die missetât. daz selb ouch diu künigîn tet durch ine und durch der ritter bet und lêch im hoves genôzschaft.33

(Cr 12584–12588)

Gasoein wird also nicht nur die Tat verziehen, er erhält sogar ein Platz am Hof – was nur möglich ist, weil er sich als außergewöhnlicher Ritter profiliert hat. Diese Integration, die das Vergangene auf das Positive der Gasoeinfigur reduziert, wird noch gesteigert, als er kurz darauf die Prinzessin Sgoydamur heiratet, die zudem betont, sie wolle ihn gern heiraten, da er für seine Tugendhaftigkeit bekannt sei und Gasoein deshalb ihre Ehre niemals verletzen werde (vgl. Cr 13850–13856). Vor dem Hintergrund des vorangegangen gewaltvollen und entehrenden Verhaltens des Ritters entbehrt die Einschätzung Sgoydamurs nicht einer gewissen Komik. Gleichzeitig zeigt die nonchalante Integration Gasoeins in die Gesellschaft, die stets versucht, sich durch ihre Vorbildlichkeit zu profilieren, und die beständig durch den Erzähler proklamiert wird, die dortigen Defizite auf. Das Konzept wird ad absurdum geführt, Gasoein kann als ›vollwertiger‹ Ritter neben den anderen eine Frau heiraten und Herrschaft übernehmen. Die Bewertung des Artushofes ist damit dem Geschehen entgegengesetzt, die Diegese brüchig. Durch die beständige Positivierung der Figur durch den Erzähler wird diese Spaltung noch offensichtlicher – eine zusätzliche Differenz zwischen der diegetischen Erzählung und der extradiegetischen Bewertung forciert. Somit kann letztlich einerseits der Artushof das unhöfische Verhalten Gasoeins ignorieren und ihn in die Gesellschaft integrieren und andererseits der Erzähler an seinen Bewertungen festhalten. Beide Ebenen der Diegese und der Extradiegese werden parallel geführt. Die Figuren übernehmen das Erzählerurteil, was zuvor unpassend erschien – das unzuverlässige Erzählen der Extradiegese wird durch ein fehlerhaftes Verhalten in der Diegese gespiegelt. Gasoein entspricht mit seinem Verhalten gerade nicht den Normen und Werten des Artushofes, ist demnach kein arthurischer Held, der sich durch Vorbildlichkeit auszeichnet. Durch sein Verhalten wird er vielmehr zur Gefahr für den Artushof, sozusagen zu einem Antihelden. Durch die mimetisch unzuverlässigen Bewertungen des Erzählers wird auf diese Diskrepanz hingewiesen. Gleichzeitig wird auf diese Weise

33 Übers.: Artus vergab ihm, wie es auch dem Rat seiner Gefolgsleute entsprach, das Vergehen. Dasselbe tat seinetwegen und aufgrund der Bitte der Ritter auch die Königin und sprach ihm die Zugehörigkeit zum Hof zu.

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aber auch Kritik am Artushof geübt, auf eine axiologische Unzuverlässigkeit verwiesen. Denn die Normen und Werte des Artushofes sind keinesfalls so fest und verlässlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Durch die Integration des Antihelden wird deutlich, dass hier eine Diskrepanz zwischen der Erwartung bzw. dem Ruf des Hofes und der tatsächlichen Praxis vorliegt. Damit wird Kritik an einem scheinbar willkürlichen Werte- und Rechtssystem geübt und lässt Zweifel an der Zuverlässigkeit der Zeichen, die einen Helden als solchen erkennen lassen, entstehen. Vielleicht lässt sich diese Integration des Antihelden aber gleichsam anders lesen: Denn der Erzähler weist den Rezipienten durch seine Unzuverlässigkeit auch darauf hin, dass die Vorbildlichkeit des Artushofes in ihrem Willen zum Verzeihen34 offensichtlich wird. Gasoein hat seine Fehler überwunden,35 äußere

34 Dies würde der Tugend der milte zugeordnet werden und wäre somit ein entscheidender Wert, der den Artushof konstituiert. 35 Auch Mentzel-Reuters geht davon aus, dass die Heilung der Wunden, die Gasoein im Kampf mit Gawein zugefügt wurden, eine Gesamtheilung des Ritters bewirkt: Arno Mentzel-Reuters: Vröude. Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin als Verteidigung des höfischen Lebensideals, Frankfurt a.M. [u.a] 1989 (Europäische Hochschulschriften 1134), S.166f. Gasoein nimmt seine Ansprüche auf Ginover zurück, was zusätzlich ein Grund für seine Aufnahme am Hof darstellt. Während Jillings dies als ernstzunehmende Entschuldigung des Ritters im Hemde liest: vgl. Lewis Jillings: ›Diu Crone‹ of Heinrich von dem Türlein. The Attempted Emancipation of Secular Narrative, Göppingen 1980 (GAG 258), S. 44, lässt sich diese Revocatio meiner Meinung nach jedoch nicht ganz glatt einfügen und plausibilisieren. Es scheint vielmehr, als füge sich Gasoein den Konventionen des Hofes und resigniert, denn zuvor ist von ihm an keiner Stelle eine Rücknahme seiner Ansprüche auch nur angedeutet. Die Integration Gasoeins an den Hof liest dann auch Jillings als »vigorous satirical undermining of Arthur and his court« (ebd., S. 45). Samples verurteilt diese Integration gerade vor dem Hintergrund der Tradition im Umgang mit Vergewaltigern scharf, sieht sie als Signum für die fehlenden Werte am Artushof, denn am Schluss »[all] reassume their courtly roles, but these roles are empty, lacking substance«: Susann Samples: The Rape of Ginover in Heinrich von dem Türlin's ›Diu Crône‹, in: Arthurian Romance and Gender. Masculin / Féminin dans le roman arthurien médiéval. Geschlechterrollen im mittelalterlichen Artusroman, hg. v. Friedrich Wolfzettel, Amsterdam/Atlanta 1995 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 10), S. 196-205, Zitat: S. 205. Thomas sieht die gesamte Episode als Probe für Artus und Ginover, beide müssen mit ihren Auszeichnungsmerkmalen den Artushof bestätigen – Ginover mit ihrer Ehe und Artus

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Schönheit und innere Vorbildlichkeit korrespondieren wieder miteinander – der Eindruck, der durch den Erzähler und Ginover von Anfang an forciert wurde, ist wiederhergestellt. Indem er die Werte und Normen des Hofes nun gänzlich verkörpert, ist Gasoein von einem Antihelden zu einem arthurischen Helden avanciert. Damit kaschiert der Artushof jedoch auch die Gewalt, die ein fester Bestandteil dieser Wertegemeinschaft ist36 und hier in ihrer Extremform gezeigt wird. Der Erzähler entlarvt diese Doppelmoral des Artushofes durch seine Unzuverlässigkeit und übt damit Kritik an einem gewaltgeprägten Hof. Schließlich lässt sich Gasoein auch als Heldentypus lesen, der einem anderen Heldensystem verpflichtet ist, sodass die Heldensymbole miteinander in Konkurrenz treten.37 Die Erzählwelt ist damit in ihrer Unsicherheit gezeigt und die Integration an den Artushof kann luzide machen, dass genau dieser Hof dazu in der Lage ist, jegliche Heldentypen zu integrieren, indem fremden Heldentypen die eigenen Werte aufoktroyiert werden, die sich dann vor dieser Folie als herausragend beweisen können. Damit kann durch die Integration Gasoeins aber auch die Besonderheit des Artushofes und seine exponierte Stellung betont werden.

mit seinem Kampfeskönnen: vgl. Thomas [Anm. 5], S. 23-42. Diese Interpretation verkennt aber, dass letztlich keine Bestätigung erfolgt, denn es gibt weder eine eindeutige Ehebestätigung noch eine Verhandlung der Werte am Artushof, vielmehr bleibt in beiden Fällen ein Überhang, der nicht aufgelöst werden kann. 36 Die Bedeutung von Gewalt wird beispielsweise auch im ›Parzival‹ verhandelt, als explizit darauf hingewiesen wird, dass die Gralsritter keine sicherheit nehmen dürfen, sondern bis zum Tod kämpfen müssen (vgl. Wolfram von Eschenbach: ›Parzival‹. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn.Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8/1), V. 492,8-10). Damit wird ersichtlich, dass Gewalt fest an das Rittertum gebunden ist und damit auch zum Artushof gehört. 37 Vgl. hierzu Meyer [Anm. 19]: Verfügbarkeit der Fiktion S. 111. Bereits bei der Entscheidung Ginovers wird dies deutlich, da dort Gasoein wieder als Minnesänger agiert und deshalb – gattungskonform – Ginover als Minnedame zur Entscheidung auffordert: vgl. Bleumer [Anm. 17], S. 36 und ebenso Cornelia Schu: Intertextualität und Bedeutung: Zur Frage der Kohärenz der Gasozein-Handlung in der ›Crône‹, ZfdPh 118 (1999), S. 336-353, hier: S. 342 und 346, Anm. 37.

Riesen und Helden Erklärungsmodelle für eine unfeste Dichotomie Lena van Beek

EINLEITUNG Was Riesen und Helden ausmacht, erscheint auf den ersten Blick trügerisch klar. Riesen sind größer als Helden, Riesen sind keine Helden sondern irgendwie anders, Riesen sind böse und in Kämpfen unterliegen sie immer den Helden. So kennt es zumindest das typische Erzählschema der mittelhochdeutschen Artusund Heldenepik. Diese neuzeitlich inspirierte, vermeintlich klare Trennung der beiden Daseinsformen Held und Riese gestaltet sich für das Mittelalter jedoch ungleich komplizierter. Dieser Beitrag untersucht, in welchen Diskursordnungen und auf welche Art und Weise Helden als Riesen oder Riesen als Helden in der mittelalterlichen Literatur dargestellt werden können und ihre Varianz in verschiedenen Werken und Gattungen. Unterschiedliche Diskurse über Riesen und Helden und ihre Erklärungsmodelle vermischen sich. Vor allem im Spätmittelalter, so ist der Forschung aufgefallen, beginnen die semantischen Abgrenzungen zwischen Helden bzw. Recken und Riesen zu verwischen.1 Der folgende Beitrag stellt die Thesen auf, dass es erstens in bestimmten Diskursordnungen keine sol-

1

Vgl. Hans Fromm: Riesen und Recken, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60 (1986), S. 42-59. Vgl. William Layher: Siegfried the Giant. Heroic Representation and the Amplified Body in the Heldenbuch of 1479, in: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der Georg-Universität Göttingen 2002, hg. v. Art Groos u. HansJochen Schiewer, Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), S. 181-207. Vgl. auch William Layher: Starkaðr’s Teeth, The Journal of English and Germanic Philology 108 (2009), S. 1-26.

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che Grenze gibt, und dass zweitens die semantische Überschneidung von rise und helt davon ausgehend schon wesentlich früher beobachtet werden kann. Dieses Phänomen soll in Anlehnung an einen Begriff der Textkritik als unfeste 2 Dichotomie beschrieben werden. Die Unfestigkeit eines Textes bezieht sich auf Phänomene der Varianz und den Zusammenhang von schriftlicher Überlieferung und oraler bzw. performativer Tradition.3 Dieser Beitrag konzentriert sich auf drei Aspekte. Zuerst wird überlegt, ob rise und helt sprachhistorisch gesehen so exklusiv voneinander getrennt benutzt werden, dass überhaupt eine Dichotomie zwischen ihnen besteht, die aufbrechen kann. Zu diesem Zweck wird eine historisch-semantische Perspektive auf das Wort helt eröffnet. Als zweite Frage wird verhandelt, welche wirkungsmächtigen4 Texte und Diskurse mögliche Aussagen über Riesen und Helden im Mittelalter dominieren. Der Fokus liegt dabei auf Vorzeiterzählungen der antiken und der biblischen Tradition. Da auch die Heldenepik von der Vorzeit erzählt, sind hier Vermischungen und Parallelführungen möglich. 5 In der Analyse werden die Auswirkungen dieser Diskurse und Wissensordnungen anhand von Werken im Kontext der Heldenbücher, vor allem ›Laurin‹, ›Rosengarten‹ und der ›Heldenbuchprosa‹ untersucht.

2

»Tatsächlich müssen wir für die mittelalterliche Literatur, insbesondere für die volkssprachliche, von einem anderen Textbegriff ausgehen als für die Neuzeit. Wir müssen mit unfesten beweglichen Texten rechnen, ohne daß die Veränderungen als Störungen zu begreifen wären. Mittelalterliche Texte sind nicht zuerst fixiert und dann nachträglich verändert worden, sondern der Text ist von Anfang an eine veränderliche Größe.«: Joachim Bumke: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, in: »Aufführung« und »Schrift« in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Jan-Dirk Müller. Stuttgart [u.a.] 1996, S. 108118, hier: S. 125.

3

Vgl. Mireille Schnyder: Der unfeste Text. Mittelalterliche ›Audiovisualität‹, in: Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff, hg. v. Barbara Sabel u. André Bucher, Würzburg 2001, S. 132-153, hier: S. 139.

4

Vgl. Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2009, S. 31.

5

Vgl. Fromm [Anm. 1], S. 44.

Riesen und Helden | 125

I.

HELT IST NICHT HELD

Einleitend lohnt es sich zunächst anhand des aventiurehaften Dietrichepos ›Eckenlied‹, Probleme zu beschreiben, die entstehen können, wenn man ein neuzeitliches Wort wie ›Held‹ als Analysekriterium für mittelalterliche Texte verwendet. Für die Analyse mittelalterlicher Texte ist es fundamental, sich diese diachrone Semantik von helt zu noch einmal zu vergegenwärtigen, vor allem, da einige Forscher*innen die neuzeitliche Semantik in ihren Analysen unreflektiert implizieren. Als »ehrende Worte über kämpfende Männer«6 will beispielsweise Uta Störmer-Caysa die gegenseitige Anrede Dietrichs und Eckes als Held im ›Eckenlied‹ sehen, durch welche wechselseitige Anerkennung erfolge. An das Wort Held seien positive Verhaltensmuster geknüpft: »Ein Held zu sein erhält im Streben des Ecke den Sinn einer positiven Utopie: nämlich unter den ungleichen Voraussetzungen, die man sich nicht selbst wählen kann, bewußt egalisierende Kampfbedingungen herzustellen, damit die Besten sich als die Besten beweisen können.«7 Im Kampf Dietrich gegen Ecke mögen durchaus Egalisierungsimpulse erfolgen,8 aber auf der semantischen Ebene erfolgt an dieser Stelle keine Angleichung der Kontrahenten durch die gegenseitige Ansprache als helt. Wenn Störmer-Caysa und andere argumentieren,9 dass der Riese in seinem Bestreben Held zu werden sein Verhalten an menschliche bzw. höfische Normen anpasst, dann agieren sie implizit mit einem neuzeitlich gefärbten Begriff. Mit dieser neuzeitlichen Semantik von Held,10 die moralische Vorbildlichkeit impliziert, erfolgt leicht eine Überinterpretation, die dem mittelhochdeutschen Wort

6

Uta Störmer-Caysa: Kleine Riesen und große Zwerge? – Ecke, Laurin und der literarische Diskurs über kurz oder lang, in: Aventiure – märchenhafte Dietrichepik. 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. v. Klaus Zatloukal, Wien 2000, S. 157-175, hier: S. 167.

7

Störmer-Caysa, [Anm. 6], S. 169.

8

Vgl dazu Anne-Katrin Federows Beitrag ›Ecke am Zeichenpool‹ im selben Band.

9

Vgl. Tina Boyer: The Giant Hero in Medieval Literature, Brill 2016 (Explorations in Medieval Culture 2), S. 46.

10 Herbert Kolb differenziert für die Gegenwartssprache zwischen dem moralischen und dem literarischen Helden, wobei der literarische Held die Merkmale des moralischen Helden nicht erfüllen muss und auch ein Anti-Held sein kann: vgl. Herbert Kolb: Der Name des Helden. Betrachtungen zur Geltung und Geschichte eines Wortes, in: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Festschrift für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag, hg. v. Karl-Heinz Schirmer u. Bernhard Sowinski, Köln 1972. S. 384-406, hier: S. 384.

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helt jedoch nicht gerecht wird. Im Mittelhochdeutschen ist helt übersetzbar mit »Held, Kämpfer, freier Mann«11 und nicht automatisch »Träger kurialer Ideologie oder positiver Werte wie rit(t)er, wenn es auch die Ritter im Sinne kriegerisch ausgebildeter Männer bedeuten konnte.«12 Es besteht zwar eine partielle Synonymie und Konkurrenz zum ständisch real gebundenen Wort riter,13 der Verhaltenscodex, an den der Ritterbegriff im Kontext der höfischen Literatur gebunden ist,14 wird jedoch mit helt nicht abgerufen. Auch sprachhistorisch gesehen ist helt ein neutraleres und viel ambivalenteres Wort als riter. Auf ein Etymon von helt konnte sich die Forschung nicht einigen.15 Im Althochdeutschen ist helidos singulär im ›Hildebrandslied‹ belegt.16 Erst im Mittelhochdeutschen ist helt mit der Semantik »›Mann, (hervorragender) Krieger‹«17 wieder umfassend belegt.18 Es handelt sich wohl um ein mittelniederländisches Lehnwort.19 Ein Blick ins Altsächsische gibt Aufschluss über ältere Sprachstufen des Wortes:20 Die Bedeutung von heliđ ist dort »›Mann‹, bisweilen auch generell ›Mensch‹«. 21 Es sei Vorsicht geboten bei der Übersetzung des altsächsischen heliđ und mittelhochdeutschen helt mit dem neuhochdeutschen ›Held‹, warnt Tiefenbach. »Bedeutungskomponenten, die (wie bei nhd. Held) auf außergewöhnliche Eigenschaften (Kampfkraft, Mut, Tapferkeit) und hervorragende Leistungen weisen würden, sind nicht nachweisbar, so daß die Bedeutungsangabe ›Held‹ vieler Wörterbücher nicht zu rechtfertigen ist. Erst für die mhd. Zeit liegen Belege dafür vor, daß allein durch das Wort helt […] der heroische Ausnahmemensch bezeichnet wird, sei es auf kriegerischem Gebiet

11 Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München 1995, S. 177. 12 Ehrismann [Anm. 11], S. 177. 13 Vgl. Kolb [Anm. 10], S. 401. 14 Vgl. Joachim Bumke: Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert, Heidelberg 1977, S. 88f., S. 100. 15 Vgl. Heinrich Tiefenbach: [Art.] Held, Heldensage, Heldendichtung, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 14, S. 260-282, hier: S. 261. 16 Vgl. Rosemarie Lühr: Studien zur Sprache des Hildebrandliedes, Bd. 2: Kommentar, Frankfurt a.M. [u.a.] 1982 (Europäische Hochschulschriften 568), S. 413. 17 Tiefenbach [Anm. 15], S. 260. 18 Vgl. Tiefenbach [Anm. 15], S. 260. 19 Vgl. Lühr [Anm. 16], S. 414. 20 Vgl. Kolb [Anm. 10], S. 398. 21 Tiefenbach [Anm. 15], S. 260.

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[…] oder im vorbildlichen Verhalten vor Gott. […] Doch können weiterhin wenig musterhafte Menschen so bezeichnet werden […]. In der großen Mehrzahl ist mhd. helt wie auch später einfach epische Bezeichnung des Kriegers, die mit anderen Kriegerbezeichnungen ohne erkennbare Bedeutungsveränderung wechseln kann und wechselt […].«22

Erst der Gesamtzusammenhang bestimmt, ob die Bedeutung ›Mann, Krieger, Mensch‹ oder ›Mann mit hervorragenden Eigenschaften‹ aufgerufen wird. 23 Dabei ist sowohl ein positiv wie ein negativ wertender Kontext möglich: So werden beispielsweise in der altenglischen Literatur Jesus Christus beim mutigen Gang zum Kreuz ebenso als haeleð bezeichnet wie auch die Christus ablehnenden Juden.24 Mittelhochdeutsch helt kann also einen positiv wie negativ handelnden Krieger beschreiben und dem Wort haftet per se keine implizite Wertung an. Im Gegensatz zu riter ist es ein wertneutrales Wort und nicht an eine vorbildliche Verhaltensweise geknüpft. Diese diachrone Semantik von helt muss bei der Interpretation mittelalterlicher Texte berücksichtigt werden, bevor über die in diesen auftretenden Riesen und Helden gesprochen werden kann. Im Folgenden wird ›Held‹ im Sinne der mittelhochdeutschen Semantik gebraucht.

II. RIESIGE HELDEN DER VORZEIT Nachdem diese historisch-semantische Perspektive auf Helden eröffnet wurde, geht es nun um die Helden der Vorzeit, die in der biblischen Tradition riesig waren. Die prominentesten Diskurse über Riesen im Mittelalter sind christlichtheologisch und auch antik geprägt. Die Genesis berichtet von der Verbindung der Söhne Seths mit den Töchtern Kains, aus denen ein Geschlecht hervorgeht, welches im Mittelalter Riesen genannt wird. In der ›Altsächsischen Genesis‹ aus dem 9. Jahrhundert werden die Riesen als heliđos bezeichnet:25 Than quâmun von eft fan Kaina kraftaga liudi, heliđos hardmuoda, […] uuohsun im uuirisilîco: that uuas thiu uuirsa giburd, kuman fan Kaina. / (»Von Kain aber kamen wiederum kräftige Leute, Kühne hartgemute Helden; […] sie schlugen nach Rie-

22 Tiefenbach [Anm. 15], S. 260. 23 Vgl. ebd., S. 261. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. auch Katja Schulz: Überlegungen zur Figur des Riesen in den altnordischen Fornaldarsögur und den mittelhochdeutschen Spielmannsepen, in: Arbeiten zur Skandinavistik. 13. Arbeitstagung der deutschsprachigen Skandinavistik 29.7.-3.8. 1997 in Lysebu (Oslo), hg. v. Fritz Paul, Frankfurt 2000, S. 228-236, hier: S. 228.

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senart. Das war das schlimmere Geschlecht: die von Kain gekommen […].«). 26 Die von Kain abstammenden, starken Männer wachsen und sündigen über alle Maßen,27 weswegen sie durch die Sintflut vernichtet werden. Im Altsächsischen ist die Bezeichnung der vorsintflutlichen Riesen also nahe an den lateinisch als viri famosi bezeichneten, starken Männern der Genesis 6,4 angelehnt: gigantes autem erant super terram in diebus illis […] isti sunt potentes a saeculo viri famosi.28 (»In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen, […] Das sind die Helden der Vorzeit, die berühmten Männer.«)29 Helden bzw. Männer und Riesenhaftigkeit, heliđos und das Adjektiv uuirisilîco, widersprechen sich in dieser wirkungsmächtigen Passage also nicht. Dies hängt auch mit der Übersetzungsgeschichte der Genesis zusammen. Bereits im Hebräischen sind die Wörter, welche für diese vorsintflutlichen und auch nachsintflutlichen Wesen gebraucht werden, uneindeutig und bieten wenn, dann Riesenhaftigkeit aus dem Kontext. 30 Erst die Übersetzungen der ›Septuaginta‹ ins Griechische und der ›Vulgata‹ ins Lateinische vereindeutigen an vielen Stellen mit gigas oder gigantes: »LXX bietet nun 31mal γίγα für fünf verschiedene hebräische Bezeichnungen, Vulgata 12mal gigas für großenteils wieder andere hebräische Wörter.«31 Die ›Septuaginta‹ könnte mit ihrer »Uniformierung der hebräischen Ausdrücke auf jene Paraphrasen nicht weniger als auf die neue Forschung auch sachlich eingewirkt haben«,32 bemerkt Perlitt. Mittelhochdeutsche Texte wählen an der entsprechenden Stelle häufiger ›Riese‹, die Vorzeitwesen heißen in der ›Millstätter Genesis‹ Gigant33 oder in der ›Weltchronik‹

26 Heliand und die Bruchstücke der Genesis, übers. v. Felix Genzmer, Stuttgart 1964, S. 240. 27 Vgl. dazu Andy Orchard: Pride and prodigies. Studies in the monsters of the Beowulfmanuscript, Cambridge 1995. 28 Biblia sacra. Iuxta Vulgatam versionem, 5. Auflage, hg. v. Roger Gryson [u.a.], Stuttgart 2007. 29 Die Bibel. Einheitsübersetzung, Freiburg i. Br. 1980. 30 Neunzig Jahre philologische Forschung hat nicht klären können, was nephilim sind: Diverse unklare Bezeichnungen wie »die Gefallenen« und andere Deutungen bilden sich heraus: vgl. Lothar Perlitt: Riesen im Alten Testament. Ein literarisches Motiv im Wirkungsfeld des Deuteronomismus, Göttingen 1990, S. 39f. 31 Ebd., S. 6. 32 Ebd., S. 45. 33 Akihiro Hamano: Die frühmittelhochdeutsche Genesis. Synoptische Ausgabe nach der Wiener, Millstätter und Vorauer Handschrift, Berlin [u.a.] 2016, Vv. 1438-1451.

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Rudolfs von Ems risin.34 Auf die Vorstellung von Riesen im Mittelalter und Früher Neuzeit hat die Vereindeutigung der Ausdrücke im Alten Testament eine große Strahlkraft entwickelt. Schon im Hebräischen, und nicht erst im ausgehenden Mittelalter, wie Fromm und Layher meinen,35 ist der semantische Rahmen so gesteckt, dass diese Wesen überdurchschnittlich starke und riesige Krieger sind. Dies ist auch bei den nachsintflutlichen Riesen wie beispielsweise Nimrod der Fall. Die Thesen Layhers und Fromms können also noch erheblich ergänzt werden: Ob es sich bei den jeweiligen Figuren um Riesen handelt oder nicht, ist bereits im Hebräischen uneindeutig. Diese Uneindeutigkeit erzeugt in der mittelalterlichen Rezeption fließende Grenzen zwischen Riesen und Kriegern. Mit den Wurzeln dieser Vorstellung von riesigen Vorzeithelden in der Genesisexegese verzahnt sich der antike Topos der Degeneration.36 Dass alle Lebewesen über Generationen hinweg geringer oder kleiner werden, galt als allgemein akzeptiertes Wissen in der Antike. 37 Das unter anderem von Plinius und später auch von Augustinus tradierte und dadurch auch im Mittelalter rezipierte Dekadenzmodell besagt, dass die Energie der Erde stetig geringer wird und im Laufe der Zeit weniger große Wesen produzieren kann (mundus senescens).38 Augustinus kommt in ›De civitate dei‹ auf die Körpergröße vor der Sintflut zu sprechen: Um diese zu begründen, zitiert er Vergils ›Aeneis‹ und überträgt das Dekadenzmodell der Antike auf die biblische, vorsintflutliche Zeit.39 Diese Verbindung von Genesiskommentar, riesenhaften Helden und der Dekadenztheorie der Antike ist in ihrer Auswirkung für das Mittelalter von höchster Bedeutung.

34 Rudolf von Ems: Weltchronik aus der Wernigeroder Handschrift, hg. v. Gustav Ehrismann. Dublin, Zürich 1915 (Texte des Mittelalters XX), S. 26f., Vv. 654-661. 35 Vgl. Anm. 1. 36 Vgl. Layher [Anm. 1], S. 192. 37 Vgl. Adrienne Mayor: The first fossil hunters. Paleontology in Greek and Roman times, Princeton 2001, S. 199. 38 Vgl. Mathias Kruse: Literatur als Spektakel. Hyperbolische und komische Inszenierung des Körpers in isländischen Ritter- und Abenteuersagas, München 2017 (Münchner Nordistische Studien 30), S. 420. Vgl. Fromm [Anm. 1], S. 57.

39 Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat. De civitate dei, Bd. 2: Buch XV-XXII. Übers. v. Carl Johann Perl, Paderborn 1979. S. 27f. Er unterscheidet zwischen echten Giganten, die zu »Völkern der Riesen gehören« und riesenhaften Menschen: vgl. Kruse [Anm. 38], S. 428.

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III. RIESEN UND HELDEN IN MITTELALTERLICHEN HELDENBÜCHERN Wie sich diese Vorzeitdiskurse auf die Heldenepik auswirken, wird nun hauptsächlich anhand des spätmittelalterlichen ›Straßburger Heldenbuchs‹ und anderer Heldenepen gezeigt. Die Vorzeit der Heldenepik fällt mit der biblischen Vorzeit zusammen.40 Im Mittelalter ist es eine »verbreitete Zeitanschauung, dass es zwischen den Riesen und den Helden der Heldenzeit keinen substantiellen Unterschied gegeben habe.«41 Ausgehend von der ›Thidrekssaga‹ hat Fromm die antik inspirierte Vorstellung einer degenerativen physischen Reduktion des Menschengeschlechtes untersucht.42 Die Riesen bzw. die viri famosi der biblischen bzw. heroischen Vorzeit behalten ihre exorbitante Größe, während der Rest der Menschheit immer kleiner wird. Die Vorstellung dieses Schrumpfungsprozesses findet sich punktuell in der Heldenepik wieder, z.B. im aventiurehaften Dietrichepos ›Laurin‹ in der Version des ›Dresdner Heldenbuchs‹. Über Dietrich von Bern und sein Gefolge wird berichtet: Er het an seyner purge so manchen dinste man. Der waren funf recken, als ich vernumen han. Die andern waren cleine, als intzunt sein die leut. Sie waren rider, grafen, als ich euch hie bedawt.43

Die fünf Recken Hildebrand, Wolfhart, Wolfdietrich, Witege und Dietleib zeichnen sich gegenüber den heutzutage kleinen Menschen durch ihre Größe aus. Dies impliziert, dass die Menschen bzw. die Helden im Vergleich zu intzunt, der erzählten Zeit, früher größer gewesen sein müssen. Die Vorstellung, dass die Riesenhaftigkeit zur Vorzeit gehört, ist verknüpft mit dem antiken Dekadenzmodell. Das Modell ist im Mittelalter vor allem in theologischen, chronikalischen und enzyklopädischen Diskursen wirksam. 44 An einigen Stellen bricht es als Erklärungsmodell in die Heldenepik ein, in der die Opposition und somit

40 Vgl. Fromm [Anm. 1], S. 44. 41 Fromm [Anm. 1], S. 44. Vgl. Jan-Dirk Müller: Wandel von Geschichtserfahrung in spätmittelalterlicher Heldenepik, in: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Christoph Gerhardt [u.a.], Tübingen 1985, S. 72-87, hier: S. 83. 42 Vgl. Fromm [Anm. 1], S. 50. 43 Laurin, hg. v. Elisabeth Lienert [u.a.], Berlin [u.a.] 2011 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 6), Str. 7. 44 Vgl. Fromm [Anm. 1], S. 57.

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die Dichotomie von Riesen und Menschen sonst nicht in Frage gestellt wird. Je nachdem, über wieviel Hintergrundwissen die Verfasser der jeweiligen Texte verfügen, weben sich biblisch und antik geprägte Diskurse in die Erklärungsmodelle der Riesen, z.B. im ›Straßburger Heldenbuch‹ oder in der ›Thidrekssaga‹. Zumindest aus neuzeitlicher Perspektive sorgen sie dort für Inkongruenzen, wenn sie in diesem Kontext auf das heldenepische Modell der Dichotomie zwischen Held und Riese treffen. III.1 Rysen im ›Rosengarten‹ Die folgende Analyse zeigt anhand des spätmittelalterlichen ›Straßburger Heldenbuchs‹ am Beispiel der Figuren Volker und Siegfried im ›Rosengarten‹, wie sich die unfeste Dichotomie der Helden und Riesen manifestieren kann. Im ›Rosengarten‹ kämpfen die Amelungen in Reihenkämpfen gegen die Nibelungen. William Layher zeigt anhand des ›Rosengarten‹ r1 im ›Straßburger Heldenbuch‹ Diskontinuitäten im Text- und Bilddiskurs auf, die das Problem der Semantik von rise und helt im Spätmittelalter beleuchten. Im Druck des ›Straßburger Heldenbuchs‹ von 1479 haftet ryse im Gegensatz zu den Handschriften eine Ambiguität an: Das Wort kann sowohl für Riesen als auch Helden verwendet werden.45 Merkmale für die Darstellung der Riesenfiguren in den Holzschnitten sind für Layher die Größe, grobe Gesichtszüge und eine üppige Gesichtsbehaarung.46 In der Typologie der Holzschnitte werden die Riesen größer, aber körperlich deformiert und behaart, die Menschen hingegen mit eleganten Gesichtszügen und glatter Haut gezeichnet. Die auf der Seite der Amelungen kämpfenden Riesen Pusolt, Ortwin, Schrutan und Asprian werden in den Holzschnitten im Vergleich zu den menschlichen Figuren größer dargestellt. Im Druck werden die vier Riesen auch als solche benannt, sie erhalten sowohl im Text als auch in den Bildtituli die Bezeichnung ryse.47 Doch auch die Burgunden werden sowohl als Riesen dargestellt wie auch explizit als solche bezeichnet.48 So werden Volker und Hagen im Text ryse genannt und auf den Holzschnitten mit den entsprechenden Kriterien dargestellt. Hie streit der iung Ortwein der recke mit dem rysen

45 Vgl. Layher [Anm. 1], S. 200. 46 Vgl. ebd., S. 198f. 47 Vgl. ›Straßburger Heldenbuch‹, zitiert nach: Heldenbuch. Nach dem ältesten Druck in Abbildung, Bd. 1: Abbildungsband, hg. v. Joachim Heinzle, Göppingen 1981 (Litterae Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 75), Wolfhart vs. Pusolt 237v, Sigestap vs. Ortwin 238v, Heime vs. Schrutan 239v, Witege vs. Asprian 241r. 48 Vgl. Layher [Anm. 1], S. 199.

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Foͤlcker von Alczen, genannt fideler, und wúrt der ryse flichtig.49 (Hier kämpft der junge Ortwin mit dem Riesen Volker von Alzey, genannt der Fiedler, und sodann floh der Riese.) Der so betitelte Holzschnitt zeigt Ortwin mit zum Schlag erhobenen Schwert. Mit der linken Hand wehrt er Volkers Stange ab. Die Darstellung Volkers im Holschnitt erfüllt die von Layher genannten Kriterien: Er ist größer als Ortwin, trägt einen Bart und hat grobe Gesichtszüge. Außer im Bildtitulus nennt ihn der Text ansonsten aber nicht Riese.50 Hier sind Titulus und Bilddiskurs im Druck also in Bezeichnung und Darstellung kongruent. An anderen Stellen sind die Übereinstimmungen zwischen Titulus und Bild nicht eindeutig, es treten Schwankungen auf. Siegfried wird bildlich als Riese dargestellt. Die relationale Größe kann aufgrund der Abwesenheit einer anderen Figur im Bild nicht bestimmt werden, jedoch trägt er einen Bart, hat gröbere Gesichtszüge51 und trägt vor allem (auch gegen den Text) die riesentypischste aller Waffen, eine Stange. 52 Hie sprang der húrnen Seifrit in den Rosengarten,53 sagt der Titulus; dort erfolgt also keine Riesenbezeichnung. Während er den Kampf gegen Dietrich verliert, wird Siegfried im Druck im Gegensatz zu den Manuskripten des ›Rosengarten‹ A 54 aber expli-

49 ›Straßburger Heldenbuch‹ 245r. 50 Vgl. Heldenbuch. Nach dem ältesten Druck in Abbildung, Bd. 2: Kommentarband, hg. v. Joachim Heinzle, Göppingen 1981 (Litterae Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 75), S. 127. 51 Die Darstellung Siegfrieds auf diesem Holzschnitt als »bärtiger, grimmig dreinblickender Recke mit überdimensionaler Hakennase« ist in der Forschung gemeinhin als hässlich empfunden worden: Ghislaine Grimm: Heldendichtung im Spätmittelalter. Überlieferungsgeschichtliche Studien zu den skriptographischen, typographischen und ikonographischen Erscheinungsformen des ›Rosengarten zu Worms‹, Wiesbaden 2009 (Imagines medii aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung 22), S. 407. 52 Hildebrand preist hingegen Siegfrieds Schwert Menung (›Rosengarten‹ A-JF 420,1f.). Zitiert nach: Rosengarten, Bd. 1: Rosengarten A, hg. v. Elisabeth Lienert [u.a.], Berlin [u.a.] 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 8,1). Ältere und Jüngere Vulgatfassung werden nach der Ausgabe mit den Siglen A-ÄF und A-JF zitiert. Für die Bildtituli wird in der Ausgabe jeweils die Seite angeführt. 53 Vgl. Straßburger Heldenbuch‹, 249r, vgl. ›Rosengarten‹ A-JF, S. 149. 54 Layher [Anm. 1], S. 190f. zitiert Georg Holz: Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms, Halle 1893. ›Rosengarten A‹ 365-366; vgl. in der aktuelleren Edition ›Rosengarten‹ A-ÄF Str. 401-402; ›Rosengarten‹ A-JF Str. 456-458. Hier wird Siegfried von Kriemhilt nicht ryse, sondern recke genannt: »Wurd du ye ein biderb man, des solt ir

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zit zweimal als ryse bezeichnet. Hier sind beide Kämpfer auf dem Höhepunkt der Exorbitanz ihrer topischen heldenepischen Eigenschaften angekommen: Dietrich ist in Zorn entflammt und schlägt Siegfried durch seine schützende Hornhaut durch harnsch und durch horn55 blutig, sodass dieser die Flucht ergreift und sich von Kriemhilt retten lassen muss:56 Dieterich mit ferwegem sinne schlůg auff den rysen gros das er der kúniginne ward fliehen in ir schos […] da sprach die kunigein berner bist ein frummer man so soltu den rysen húrnein mein heút geniessen lan57

Im Moment seiner Niederlage gegen Dietrich wird Siegfried als rysen gros bezeichnet, und Kriemhild bittet Dietrich um die Schonung des rysen húrnein. Im Text und durch die Darstellung im Holzschnitt wird Siegfried als Riese markiert, allerdings nicht im Titulus. Hagen und Volker werden durch Titulus und Bild als Riesen markiert, aber nicht durch den Text. Wie ist diese Oszillation zu erklären? Die Bezeichnung Siegfrieds als Riese im ›Rosengarten‹-Druck hat keine nachvollziehbaren textlichen Vorfahren, sondern ist eine von heroischen oralen Diskursen beeinflusste Innovation.58 Zusätzliches Wissen über heldenepische Figu-

disen recken min genisen lon« (›Rosengarten‹ A-ÄF 402,2f.); vgl. auch die Anmerkungen Lienerts 364,3 zum Titulus ›Rosengarten‹ A-JF mache gegenüber ›Rosengarten‹ A-ÄF Volker, Hagen und Siegfried zu Riesen: vgl. ebd., S. 135. 55 ›Straßburger Heldenbuch‹, 252ra. 56 Eine Parallele zu den sonstigen als Riesen bezeichneten Figuren ist Siegfrieds Niederlage bzw. die Flucht zu Kriemhilt, die ihn mit ihrem Schleier verbirgt. Die Riesen werden sonst erschlagen (vgl. ›Straßburger Heldenbuch‹ 237v, 238v, 239v) oder fliehen, so z.B. Asprian vnd wart der ryse Asperian flichtig mit zweyen schwerten (›Straßburger Heldenbuch‹ 241r) und Volker vnd wúrt der rise flichtig (›Straßburger Heldenbuch‹ 245r). 57 ›Straßburger Heldenbuch‹, 252ra; vgl. ›Rosengarten‹ A-JF 456,3-457,4; vgl. auch Layher [Anm. 1], S. 192. Übers.: Dietrich schlug entschlossen auf den großen Riesen ein, so dass er sich unter Kriemhilts Rock versteckte. […] Darauf sagte die Königin: »Berner, du bist ein ehrenhafter Mann, so sollst du meinen hörnernen Riesen heute leben lassen.« 58 Vgl. Layher [Anm. 1], S. 190.

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ren wird interpoliert, Siegfried hat ein Leben jenseits des Textes. 59 Die Holzschnitte, die entsprechenden Tituli und auch der Text werden gegenüber den Handschriften ›Rosengarten‹ A-JF verändert, um den oralen Traditionen, die sich um den Hürnen Siegfried und sein Grab in Worms bilden, zu entsprechen. 60 In der Heldenepik sind keine konsistenten Figuren zu erwarten, 61 und gerade diese Oszillation der Helden als Riesen könnte als brüchig62 gesehen werden, weil etwa in anderen Gattungen wie dem Artusroman eine klare Dichotomie Held und Riese besteht. Das oben beschriebene Phänomen erscheint im Kontext der germanischen Heldenepen oder in biblischen und historischen Texten, nicht aber etwa im frühen Artusroman oder im höfischen Roman.63 Dort ist die Dichotomie zwischen Riese und Held bzw. Ritter eindeutig, die Begriffe werden dort nicht polysemantisch eingesetzt. In einigen anderen Werken des ›Straßburger Heldenbuchs‹, also beispielsweise im ›Laurin‹ und ›Ortnit‹/›Wolfdietrich‹, wird die Di-

59 Dazu Lienert: »das Publikum weiß aus (für uns nur in Reflexen fassbarer) mündlicher Überlieferung, zunehmend auch aus anderen schriftlichen (wohl in der Regel mündlich vorgetragenen) Vertretern der Gattung mehr über sie, als der Einzeltext aussagt; insofern haben heldenepische Figuren durchaus ein ›Leben‹ jenseits ihres Texts.«: Elisabeth Lienert: Aspekte der Figurenkonstitution in mittelhochdeutscher Heldenepik, PBB 138,1 (2016), S. 51-75. 60 »Is it possible that the redactor of r1 made a small but profitable alteration in the text of the epic – interpolating an element of history (the giant-sized Siegfried of Worms) into the heroic narrative – and changed Siegfried from a recke to a ryse gros in order to make the literary text conform to the popular image of the hero at the time? In other words, was the epic rewritten to corroborate the accuracy of the legend of Siegfried's gigantic bones? I would suggest that this is plausible, and even likely.«: Layher Layher [Anm. 1], S. 207; vgl. Monumenta Wormatiensia: Annalen und Chroniken, Bd. 3, hg. v. Heinrich Boos, Berlin 1893 (Quellen zur Geschichte der Stadt Worms), S. 563; vgl. Eugen Kranzbühler: Worms und die Heldensage: mit Beiträgen zur Siegel- und Wappenkunde, Münz- und Baugeschichte der Stadt. Worms 1930, S. 85; vgl. Christopher S. Wood: Maximilian als Archäologe, in: Maximilians Ruhmeswerk. Künste und Wissenschaften im Umkreis Kaiser Maximilians I, hg. v. Jan-Dirk Müller und Hans-Joachim Ziegeler, Berlin [u.a.] 2015 (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 190), S. 131-184. 61 Lienert [Anm. 59], S. 75. 62 Vgl. Brüchige Helden – brüchiges Erzählen. Mittelhochdeutsche Heldenepik aus narratologischer Sicht, hg. v. Anne-Katrin Federow [u.a.], Berlin [u.a.] 2017 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 11). 63 Vgl. Layher [Anm. 1], S. 193.

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chotomie zwischen Held und Riese beibehalten. Dort erscheint die antagonistische Funktion der teilweise anthropophagen Gegner ungebrochen: Sie heißen risz (97r), man (96r) herr (96v) und auch folant (117v), die Helden (Dietrich, Wolfdietrich, Ortnit usw.) werden kontrastiv mit helt/d (90v, 118r) fürst (91r, 96r) und tegen (146v) bedacht und eliminieren die Riesen. Insofern ist die Abhängigkeit der Semantik von Wissensreferenzen auf textexterne und orale Diskurse in ihrer Varianz in Analogie zur Textkritik als unfeste Dichotomie denkbar. III.2 Rysen in der ›Heldenbuchprosa‹ Ein weiteres eindrückliches Beispiel für diese unfeste Dichotomie im selben Text ist die sogenannte ›Heldenbuchprosa‹. Im Druck des ›Straßburger Heldenbuchs‹ von 1479 ist die ›Heldenbuchprosa‹ dem Heldenbuch als Vorrede vorgeschaltet. Sie bietet eine umfassende Darstellung des Heldenzeitalters und entwickelt eine genealogische und geographische Einteilung seines Personals. Die ›Heldenbuchprosa‹ im Vor- bzw. Nachsatz der Heldenbücher64 beschreibt die Entstehung der Zwerge, Riesen und Helden in einer einzigartigen Herogonie. 65 Und da nu got die rysen liesz werden · das was darumm das sie solten die wilden tier und die grossen wurm erschlagen / das die zwerg dest sicherer werent / vnd das lant gebawen mecht werden · Dar nach úber lúzel iar da wurden die rysen den zwergen gar vil zů leid thůn . und wurden die risen gar boesz und vngetrú · Darnach beschůff got die starcken held das was da czůmal ein mittel volck under der treier hant volck · Und ist zů wissen das die helden gar vil iar gar getrúw und byderbe warent · Und darumb soltent sie den zwergen zů hilff kumen wyder die ungetrúwen risen und wider die wilden tier und wúrm.66

64 »Sie erscheint in der Handschrift des Diebolt von Hanowe und im Druck von 1590 als Vorrede, in den ersten fünf Drucken als Schlußstück [...].«: Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin [u.a] 1999, S. 46. 65 Vgl. dazu Kurt Ruh: Verständnisperspektiven von Heldendichtung im Spätmittelalter und heute, in: Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters, hg. v. Egon Kühebacher, Bozen 1979, S. 15-131; vgl. Julia Zimmermann: Anderwelt – mythischer Raum – Heterotopie. Zum Raum des Zwerges in der mittelhochdeutschen Heldenepik, in: Heldenzeiten – Helden-räume. Wann und wo spielen Heldendichtung und Heldensage? 9. Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. v. Johannes Keller, Wien 2007, S. 195-220, hier: S. 195. 66 ›Straßburger Heldenbuch‹, 1va. Es wurde grafisch leicht normalisiert: Kürzel, Schafts, geschwänztes z wurden aufgelöst. Inhaltliche Differenzen zur Hand- bzw. Abschrift

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Hier wird eine explizite, vor allem moralische Differenz zwischen den drei sukzessiv erschaffenen Völkern (volck) deutlich. Ruh vermutet als Anregung für die Herogonie Genesis 6,4.67 Die Schöpfungsmacht Gottes wird ins Spiel gebracht, wobei aber »ein sachlich fundamental anderer Schöpfungsbericht« 68 als in Genesis erfolgt. Dieses Modell der separat erschaffenen völcker steht jedoch in Konkurrenz zu dem oben vorgestellten Zusammenfall der Wörter helt und rise. In der ›Heldenbuchprosa‹ wird nach heilsgeschichtlichem Muster eine klare Differenz zwischen Riesen und Helden als volck markiert. Trotzdem wird das oben erarbeitete Phänomen virulent. In der folgenden Passage, in der es eigentlich um die Helden geht, wechselt die Bezeichnung zu rysen: Ist auch zů wissen das die rysen allwegen waren keiser / kúnig / herczogen / grafen / und herren / dienstleút ritter und knecht und wanren alle edel leút . Unn was kein held nie kein paur . und da von seind all herren und edel leút kumen. 69 Hier wird der Zusammenhang zwischen Helden und Adel erörtert. Im Heldenzeitalter ist der gegenwärtige Gesellschaftszustand begründet: »von den Riesen (gemeint: Helden?), wird uns versichert, seien alle Herren und Adligen gekommen und nie sei ein Held ein Bauer gewesen.«70 Die das Chaos bekämpfenden und Kultur schaffenden Helden dienen in dieser Erzählung der Heldenzeit als »Projektionsfläche adligen Selbstverständnisses.«71 Für Irritation hat in der Forschung allerdings gesorgt, dass an

gibt keine. Zitiert wird die Edition von Kofler: Das Straßburger Heldenbuch. Rekonstruktion der Textfassung des Diebolt von Hanowe, Bd. 1, hg. v. Walter Kofler. Göppingen 1999 (GAG 667). Bl. 2r, Z. 54-66. Übers.: Und als nun Gott die Riesen erschuf, war das darum, weil sie die wilden Tiere und die großen Drachen erschlagen sollten, so dass die Zwerge sicher waren und das Land bewohnbar gemacht werden konnte. Binnen sehr kurzer Zeit wurden die Riesen sehr böse und treulos und sie fügten den Zwergen viel Schaden zu. Danach erschuf Gott die starken Helden, diese waren ein mittleres Volk unter diesen drei Völkern. Und man weiß, das die Helden über sehr lange Zeit hinweg treu und tapfer waren. Darum sollten sie den Zwergen gegen die untreuen Riesen und die wilden Tiere und Drachen helfen. 67 Vgl. Ruh [Anm. 65], S. 19. 68 Sarah Leuzinger: Heroische Anfänge. Narrative Anfangskonstruktionen in ›Dietrichs Flucht‹ und der ›Heldenbuchprosa‹, Würzburg 2015 (Philologie der Kultur 10). S. 175. 69 ›Straßburger Heldenbuch‹, 1vb. Minimal weicht die Handschrift ab: vnd do von sind all heren vnd aller adel komen (Kofler [Anm. 66], Bl. 2v). 70 Heinzle [Anm. 64], S. 50. 71 Jan-Dirk Müller: Sammeln, Zusammenschreiben, Verknüpfen. Zur Heldenbuchprosa, in: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mit-

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der entscheidenden Stelle sowohl im Druck als auch in der Handschrift eben nicht held steht, sondern risen72 bzw. rysen. Müller konjiziert risen in heild, da er hier ein Versehen des Schreibers sieht, »selbst wenn die gedruckte Prosa das Wort übernimmt.«73 Diese Einschätzung übernimmt auch Leuzinger: »Mittlerweile besteht Konsens darüber, dass es sich beim Wort rysen an dieser Stelle um ein Versehen handelt (ebenso in der handschriftlichen Fassung), zumal im weiteren Satzzusammenhang das Prädikatsnomen held erscheint.«74 Denn, so Müller: »Wenn rise gemeint sein sollte, brächte das den Argumentationsgang durcheinander […].«75 M. E. manifestiert sich an dieser Stelle jedoch das Phänomen der unfesten Dichotomie, denn verschiedene Diskurse von Riesen überlagern sich in den Heldenbüchern. Mit rysen sind hier durchaus auch Helden gemeint, die man sich im Spätmittelalter und auch vorher schon in biblischen und antiken Diskursordnungen groß vorstellt. Müller räumt ein, dass Helden riesenhafte Körper zugeschrieben wurden,76 hält aber trotzdem an seiner These fest. Denn wenn die Riesen auch adlig wären, ginge die legitimatorische Abgrenzung zu

telalterlichen Überlieferung, Freiburger Colloquium 2010, hg. v. Eckart Conrad Lutz, Berlin 2012 (Wolfram-Studien 22), S. 541–561, hier: S. 549. 72 »Es ist ouch zŭ wissen daz die risen allesamen woren keiser vnd kinge vnd herzogen vnd grofen«: Kofler [Anm. 66], Bl. 2v. 73 Müller [Anm. 71], S. 549f. 74 Leuzinger [Anm. 68], S. 178. 75 Müller [Anm. 71], S. 549f. Müllers Argument, die Bezeichnung der held als risen sei ein Versehen und brächte den Argumentationszusammenhang durcheinander, ist zweischneidig, da ›Zusammenhang‹ in der ›Heldenbuchprosa‹ eher als prekär zu bewerten ist, vgl. Leuzinger [Anm. 68], S. 153. 76 »Inkonsistenzen sind in solchen Handschriften häufig, aber hier scheinen mir besondere Bedingungen vorzuliegen, die solch einen Lapsus geradezu herausfordern: Der Heldenbuchprosa fehlt eine schlüssige argumentative Durchformung. Sie verdankt sich einem kompilatorischen Verfahren, das zunächst einmal Informationen aller Art sammelt und nebeneinander stellt. Das fördert passagenweise Unaufmerksamkeit. […] In der Diskussion wurde zurecht darauf hingewiesen, daß auch den Helden riesenhafte Körper zugeschrieben werden (Siegfried, Heime u.a.) und die Vorstellungen von Helden und Riesen nicht säuberlich abgrenzbar sind, die Helden z.B. gelegentlich gigantes genannt werden. Trotzdem scheint mir in diesem Text die Abgrenzung notwendig, weil die soziale Funktion von Heiden und Riesen so klar einander entgegengesetzt wird. Immerhin mögen die Unschärfen unter anderem der Grund dafür sein, daß rise an die Stelle von held gesetzt und auch im Druck beibehalten wurde.« Müller [Anm. 71], S. 549f.

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den Bauern ins Leere, »denn welchen Vorteil sollte der Adel davon haben, daß er von den bösen Riesen abstammt?«,77 fragt Müller.78 Wenn man die ›Heldenbuchprosa‹ losgelöst vom Kontext der Werke liest, die sie ein- bzw. ausleitet, kann die Nennung der rysen an dieser Stelle irritieren. Doch sogar in der Modellhaftigkeit, mit der Zwerge, Riesen und Helden zuvor als jeweils einzelnes volck mit markanten ethischen Differenzen voneinander abgegrenzt werden,79 bietet sich hier die Gelegenheit, den Begriff ryse polysemantisch für helt zu lesen. Dies ist nicht als Versehen oder Fehler zu werten, sondern eine Weiterverwendung der Semantik, wie sie beispielsweise im ›Rosengarten‹ in der Kompilation des ›Straßburger Heldenbuchs‹ auftritt. Dieses Phänomen koinzidiert mit der hier erarbeiteten These, dass sich im ›Straßburger Heldenbuch‹ mehrere Riesendiskurse überlappen, und in der ›Heldenbuchprosa‹ manifestiert sich dies an dieser Schlüsselstelle in der Herogonie ein weiteres Mal.80 Damit lässt sich ein weiterer Punkt ausmachen, an dem sich die verschiedenen Diskurstraditionen übereinander schieben und zeitgleich im selben Text existieren können.

77 Müller [Anm. 71], S. 550. 78 »Nicht mehr die Helden allein, sondern all die überdimensionalen Gestalten dieser Vorzeit sind von Adel und Vorfahren adliger Geschlechter heutzutage. Damit werden selbstverständliche Identifikationsmöglichkeiten aufgrund der Standesrolle zum Teil blockiert. Die Riesen bleiben monströs auch als Vorzeitadel.«: Müller [Anm. 41], S. 84. Zudem seien Riesen, so meint Müller, keine legitimen Vorfahren, um adlige Herkunft zu bekunden. Es ergebe sich mit den bösen Riesen kein wünschenswertes Abstammungsmodell. Im Kontext der Genesis und der Heldenepik, in dem die Riesen typischerweise als sündhafter Fehler bzw. als Antagonisten auftreten, ist diese Interpretation zunächst nachzuvollziehen. Doch wie ich im Kapitel über Riesen, Herkunft und Herrschaft in meiner 2019 abgeschlossenen Dissertation »Riesen in der Literatur des Mittelalters« zeige, sind auch Riesen wie Nimrod oder Theuton als Spitzenahnen im Mittelalter im Bereich des Möglichen und durchaus auch positiv zu werten. 79 Vgl. dazu auch die Position Grimms: »Dem Hinweis, dass Helden und Riesen in der zeitgenössischen Terminologie nicht unterschieden wurden […], ist mit dem Gegenargument zu begegnen, dass im Konzept der Prosa (in der Schöpfungsgeschichte) ausdrücklich zwischen beiden als zwei Geschlechtern unterschieden wird.«: Grimm [Anm. 51], S. 327, Anm. 44. 80 Störmer-Caysas Aussage (»Unter den Begriff Held fallen also, anders als im Verständnis der ›Heldenbuchprosa‹, sowohl Riesen als auch Menschen von außergewöhnlichem Wuchs und außergewöhnlichen Fähigkeiten.«: Störmer-Caysa [Anm. 6], S. 159, ist also zu relativieren; beide Verständnisperspektiven manifestieren sich in der Herogonie der ›Heldenbuchprosa‹.

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IV. FAZIT Mit der historisch-semantischen Perspektive auf helt wurde anfangs betont, dass es sich auch in früheren Sprachstufen um ein wertneutrales Wort handelt, das Krieger bezeichnet und im Gegensatz zur neuzeitlichen Semantik nicht an moralisches Verhalten gebunden ist. Die Übersetzung des Alten Testaments in Bezug auf riesenhafte Kriegerfiguren vor und nach der Sintflut vereindeutigt im Lateinischen und im Griechischen die ungenauen hebräischen Bezeichnungen hin zu gigas und rise, für die auch helt bzw. helidos verwendet werden kann. Das Dekadenzmodell der Antike wird im Mittelalter in autoritativen Diskursordnungen weiter tradiert, mit der Genesisexegese verbunden und auf die biblische Vorzeit übertragen. Die Erzählung von der Vorzeit fällt mit dem heroic age zusammen. Siegfried, Hygelac und andere Figuren der Heldenepik werden nicht immer, aber oft im Mittelalter als riesig wahrgenommen, während der Rest der Menschen im Laufe der Zeit immer kleiner wird. Diese Vorstellung findet sich vor allem in biblischen, chronikalischen und enzyklopädischen Kontexten, schlägt aber auch punktuell in die Heldenepik ein und verursacht dort gewisse Interferenzen, weil sich in dieser, so wie in anderen Gattungen wie dem Artusroman, die Handlung oft auf die Agonalität zwischen Helden und Riesen als other konzentriert.81 In diesem Zusammenhang besteht eine Dichotomie zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen bzw. dem Höfischen und dem Unhöfischen. In der Heldenepik ist diese Dichotomie jedoch unfest. Genauso wie sich die Mediävistik von der Idee eines fixen, statischen Textes gelöst hat,82 um Phänomene der Varianz und den Zusammenhang von schriftlicher Überlieferung und oraler bzw. performativer Tradition zu beschreiben, muss man sich von der Erwartungshaltung lösen, dass die verschiedenen Diskurstraditionen in Bezug auf Riesen und Helden säuberlich voneinander getrennt stattfinden. Ihre Konvergenz oder Divergenz variiert in jedem einzelnen Werk. Analog zu diesem respektvollen Umgang mit dem Phänomen der Varianz auf textkritischer und analytischer Ebene kann man dies auf den Umgang mit Diskursen übertragen. Verschiedene Diskur-

81 Entgegen Thomas Kleins Thesen, der sich sich eine osmotische Beziehung zwischen dem Held und seinen Opponenten denkt: »Die Vorzeitsage tendiert außerdem dazu, Attribute der bezwungenen übernatürlichen Gegner auch auf den Helden zu übertragen.«: Thomas Klein: Vorzeitsage und Heldensage, in: Heldensage und Heldendichtung im Germanischen, hg. v. Heinrich Beck, Berlin/New York 1988 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 2), S. 115-147, hier: S. 136. 82 Vgl. Schnyder [Anm. 3], S. 139.

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se über Riesen und Helden und verschiedene Erklärungsmodelle überlagern sich und sorgen aber nur aus neuzeitlicher Perspektive gesehen für vermeintliche Inkongruenzen.83 Für die mittelalterliche Literatur ist mit jedoch unfesten und dynamischen Riesen- und Heldendiskursen zu rechnen.

83 Besonders polemisch hat Florian Kragl dieses Phänomen als unauflösbaren Widerspruch in einem »Trümmerhaufen« der Heldenepik bezeichnet: Vgl. Florian Kragl: Die Geschichtlichkeit der Heldendichtung, Wien 2010, S. 138f., hier: S. 139.

III. Lesbarkeit als (Figuren-)Konzept

WHOever I feel like Überlegungen zur Flexibilität von Serienhelden am Beispiel höfischer Artusromane und der BBC-Serie ›Doctor Who‹ Matthias Däumer

Ex nihilo in nihilum: Das ist der Zyklus des Nichts. Dies ist auch – gegen alles Ursprungs-, End-, Evolutions- und Kontinuitätsdenken – ein Denken der Diskontinuität. Nur die Erwägung eines Ziels oder Endes erlaubt es, eine Kontinuität zu erfassen, und unsere Wissenschaften und Techniken haben uns daran gewöhnt, alles unter dem Blickwinkel einer kontinuierlichen Evolution zu sehen [...]. Die wesentliche Form aber ist die Diskontinuität. Jean Baudrillard, ›Der unmögliche Tausch‹1

I.

DIE ARTHURISCHE SERIE

Die Helden der mittelalterlichen Artusromane sind in doppelter Hinsicht seriell: Einerseits wurden die Romane, die sie erzählen, im Mittelalter in Vortragseinheiten vorgetragen; sie waren also Objekte einer seriellen Distribution.2 Protagonisten wie Erec oder Iwein mussten über eine längere Spanne und über mehrere Episoden hinweg die Aufmerksamkeit eines Publikums auf sich ziehen und Identität herstellen, um den Zusammenhalt des Texts zu garantieren. Dafür ist

1

Jean Baudrillard: Der unmögliche Tausch, übers. von Markus Sedlaczek, Berlin 2000, S. 17.

2

Vgl. Matthias Däumer: Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane, Bielefeld 2013, S. 450-464.

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die Kontinuität heroischer Zeichen ebenso wichtig, wie diese Kontinuität selbst schon Zeichen der Heldenhaftigkeit ist. Diese Binnenserialität scheint im Spannungsfeld zwischen der ›Festigkeit von Heldenzeichen‹ und der ›Festigkeit als Heldenzeichen‹ hinsichtlich der Identitätsthematik nicht weiter problematisch, da die Spanne zwischen den Vortragseinheiten im Regelfall nicht groß war 3 und man einen Text-realisierenden Rezitator als Fixpunkt der Zeichenproduktion und ein mehr oder weniger gleichbleibendes Publikum als Zeichenempfänger annehmen kann. Der zweite serielle Aspekt des Artusromans ist vergleichsweise komplizierter. Denn andererseits sind die jeweiligen Romane (mit Ausnahme des final erzählenden ›Prosa-Lancelots‹ bzw. des französischsprachigen Vulgata-Zyklus) als Episoden einer Großserie zu betrachten. In ihr wird die arthurische Welt mit jedem weiteren Roman kontinuierlich und damit potenziell unendlich erweitert. Diese Serialität negiert den Werk-Charakter des einzelnen Texts und impliziert stattdessen ein großes Kontinuum der arthurischen Welt und Literatur, für deren Erhalt die Heldenkonzeption über Roman-, Autoren/Erzähler-, Rezitatoren- und Publikumswechsel hinweg eine relative Stabilität der sie bestimmenden Zeichen aufweisen muss. An den Umbrüchen zwischen den Romanen wird deshalb die Frage nach der Festigkeit oder Flexibilität heroischer Signale besonders interessant. Das Verhältnis der Binnenserialiät des einzelnen Romans zu seiner Einbindung in die Großserie entspricht im Groben dem Verhältnis von ›Episode‹ zu ›Staffel‹ bei heutigen TV-Serien. Davon, dass es sich bei dieser doppelten Serialität um keine anachronistische Rückprojektion handelt, zeugt, dass die mittelalterlichen Autoren sie selbst betonen. Die auffälligste Verbindung ist dabei zwischen Wolfram von Eschenbach und seinem Vorgänger Hartmann von Aue zu

3

Vgl. Hansjürgen Linke: Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue. Untersuchungen zur Formkritik, Werkstruktur und Vortragsgliederung, München 1968. Durch das Aufzeigen von Erzähleinsätzen bestimmt Linke für Chrétiens de Troyes und Hartmanns von Aue Artusromanen die »Optimalgröße einer idealen Erzähleinheit« (ebd., S. 79), die vom Dichter im Wissen um die durchschnittliche Leistungsfähigkeit eines Rezitators und die Aufmerksamkeitsspanne seines Publikums eingehalten wurde. Laut Linke hatten die Teillesungen eines Romans relativ regelmäßige Längen von ungefähr 45 Minuten. Die Bemühung um eine Nachkonstruktion dieser gleichförmigen Taktung führt bei Linke jedoch oft zur Etablierung von Vortragsgrenzen, die aus performativer Sicht nicht nachvollziehbar sind; vgl. Däumer [Anm. 2], S. 450-476.

WHOever I feel like | 145

finden, wenn der Erzähler des ›Parzival‹ vor Ankunft des Protagonisten am Artushof äußert: mîn hêr Hartman von Ouwe, frou Ginovêr iwer frouwe und iwer hêrre der künc Artûs, den kumt ein mîn gast ze hûs. bitet hüeten sîn vor spotte.4

Für Wolfram ist im Sinne des seriellen Fortsetzers der Artushof wie ihn Hartmann erzählte vorexistent. ›Sein‹ Parzival ist der Episodenheld, der das feststehende Setting nun aufsucht, durchläuft und den Artushof mehr oder minder unverändert als Fixpunkt für nachkommende Episoden hinterlässt. Damit solch ein serielles Durchlaufen gelingen kann, muss der Hof eine gewisse Festigkeit aufweisen; dies tut er vor allem hinsichtlich seines Personals. Zu diesem Zweck gibt es in den französisch- und deutschsprachigen Artusromanen vier Gestalten, die im besonderen Maße die Kontinuität des Hofs tragen. Wolfram nennt die beiden prominentesten: Artus selbst und seine Gattin Ginover; als weitere figurale Fixpunkte treten Artus’ Truchsess Keie und sein Neffe Gawein hinzu, die in keinem der Romane fehlen dürfen, damit der Artushof eben Artushof ist. 5 Bei Protago-

4

Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe, mhd. Text nach der 6. Ausg. von Karl Lachmann, übers. von Peter Knecht, Einf. von Bernd Schirok, Berlin/New York 1998, V. 143,21-25; Übers [M.D.].: Verehrter Herr Hartmann von Aue, Frau Ginover, Eurer Dame, und Eurem Herrn, dem König Artus, kommt von mir ein Gast ins Haus. Gebietet, dass man ihn vor Spott bewahre.

5

Die gesonderte Betrachtung dieses »Stammpersonal[s]« (Andreas Daiber: Bekannte Helden in neuen Gewändernς Intertextuelles Erzählen im ›Biterolf und Dietlieb‹ sowie am Beispiel Keies und Gaweins im ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹ und der ›Crone‹, Frankfurt a.M. 1999, S. 115) als Identitätsgeber ist natürlich nicht neu. Bereits Christoph Cormeau sah in diesen »vier Akteure[n] […] die Identität des Hofes als Gesellschaft« begründet; Christoph Cormeau: ›Wigalois‹ und ›Diu Crone‹. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans, München 1977, S. 11. Beinahe ein Vierteljahrhundert später sieht Peter Stein durch sie die »Identität der fiktionalen Welt« gefestigt; Peter Stein: Integration – Variation – Destruktion. Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin innerhalb der Gattungsgeschichte des deutschen Artusromans, Bern 2000. S. 12. Auch wenn diese Beobachtungen sich mit obigen decken, möchte ich doch graduell Abstand von den Formulierungen bzw. Herleitungen dieser Konstanz nehmen. Denn in den Bestimmungen, welche Identität hier generiert

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nisten wie Erec, Iwein oder Parzival ist es kein Problem, dass sie nach dem Durchlaufen ihrer eigenen Episode maximal im Hintergrund der folgenden Handlungen auftauchen und aus diesem heraus nur auf ein Minimum ihrer angestammten Zeichen verweisen müssen, um erkannt zu werden. Hingegen kommen in den mittelhochdeutschen Romanen Artus (dem statischen König), Ginover (der problematischen Gattin),6 Keie (dem missgünstigen Verlierer) und Gawein (dem Idealritter) die Funktion von überepisodischen Konstanten, von archetypischen Säulenheiligen zu. Diese Archetypie rührt teilweise daher, dass die vier Figuren vor Beginn der kontinentalen Romanerzählungen Vorprägung in walisischen Sagen hatten. 7 Dort jedoch waren die Heldenzeichen grundlegend anders verteilt. So war Keie ein Superheld, der erst ab Chrétiens Konzeption der arthurischen Serie zum ewigen Verlierer wird; Gawein hingegen, dem in den walisischen Sagen nur eine marginale Rolle zukommt, wird im kontinentalen Erzählen zum Idealritter. 8 Im Ver-

wird, schlummert eine Implikation der Vorexistenz des Fiktionalen: Weder ist der Artushof eine »Gesellschaft« (Cormeau) mit autonomen Dynamiken, deren Identität gesichert werden müsste, noch ist die fiktionale Welt aus sich selbst heraus zur Identität fähig (Stein). Sowohl an Cormeaus wie auch Steins Bestimmung müsste man ein ›in den Augen der Rezipierenden‹ anhängen, damit sie richtig wären. Es scheint mir deshalb nüchterner, Artus, Ginover, Keie und Gawein nicht als Garanten der Identität einer fiktionalen Gesellschaft zu sehen, sondern ihre Funktion aus dem Distributionsmodus der Serialität heraus zu erklären, der bestimmte Ansprüche an das Erzählen stellt, denen die mittelalterlichen Texte nachkommen. 6

Problematisch ist Ginover vor allem in der ›Crône‹; in anderen Artuserzählungen ist sie jedoch ebenfalls eine Schwachstelle, nicht durch ein mögliches eigenes Verschulden oder eben Untreue, sondern weil der Anspruch auf den ›Schoß der Königin‹ bzw. Ginovers Entführung immer wieder als Sollbruchstelle der arthurischen Herrschaft ausgestellt wird – auch wenn der Bruch in den Versromanen nie erfolgt; vgl. Armin Schulz: Der Schoß der Königin. Metonymische Verhandlungen über Macht und Herrschaft im Artusroman, in: ›Artusliteratur und Artushof‹ (SIA 7), hg. von Matthias Däumer u. a., Berlin 2010, S. 119-135. Für die Verarbeitung dieses arthurischen Narrativs siehe auch die Analyse der ›Doctor Who‹-Episode The Christmas Invasion in Kapitel II.3.

7

Vgl. Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur, 2 Bde., hg. und übers. von Helmut

8

Zu diesem Funktionswechsel vgl. Matthias Däumer: Truchsess Keie. Vom Mythos ei-

Birkhan, Kettwig 1989. nes Lästermauls, in: ›Artusliteratur und Artushof‹ (SIA 8), hg. von Matthias Däumer [u.a.], Berlin 2011, S. 69-108.

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gleich mit den walisischen Erzählungen wird also klar, dass es ohne die Festigkeit der heroischen Zeichen auch keinen fortlaufenden seriellen Zusammenhang gibt: Die heute noch populäre Serie ›Artusroman‹ setzt erst mit Chrétiens Erzählungen ein, weil dieser die personalen Fixpunkte des Artushofs radikal änderte. So markierte er den Beginn einer neuen Serie, die das ursprünglich in Wales Erzählte von sich weist.9 I.1 Idealritter Gawein: ein Minimalset heroischer Identität Unter den personalen Fixpunkten des Artushofs nimmt Gawein eine Sonderstellung ein, da er im Gegensatz zu den anderen drei Säulenheiligen mehrmals in die Protagonistenrolle schlüpft. Als einzige arthurische Figur vermag er zwischen Kontinuitätsmarker und episodenhafter Flüchtigkeit zu wechseln. 10 Anhand von Gawein stellt sich deshalb im besonderen Maße die Frage, welche heroischen Signale dazu führen, dass ein Publikum ihn als Kontinuum wahrnehmen kann, dass also (formuliert für den Kernbestand der mittelhochdeutschen Artusliteratur des 12./13. Jahrhunderts) der Hartmann’sche Protagonisten-Freund,11 der Wolf-

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Hartmann von Aue scheint dieses radikale Neuanheben des Seriellen zu explizieren, wenn er den frischen Idealritter Gawein und seinen Vorgänger Keie bei ihrem ersten Auftritt in der mittelhochdeutschen Literatur Hand in Hand auftreten lässt; vgl. Hartmann von Aue: Erec. Mhd. Text und Übertragung, hg. und übers. von Thomas Cramer, Frankfurt a.M. 1972, V. 1152-57.

10 Keie agiert vorübergehend im niederländischen ›Walewein ende Keie‹ als Protagonist; dies jedoch lediglich als Schatten seines Komplementärs Walewein (= Gawein); Artus wiederum ist es aufgrund seiner Funktion als Ruhepol des mittelhochdeutschen Erzählens kaum möglich, jenseits von kürzeren Sequenzen Protagonist zu sein; und ein Ginover-Roman ist für das Mittelalter kaum denkbar und wird erst in der Postmoderne im Rahmen emanzipatorischer Umdeutungen des Artusstoffs nachgetragen; Ausgabe: Walewein ende Keye, in: Dutch Romances. Volume III: Five Interpolated Romances from the ›Lancelot Compilation‹, hg. von David F. Johnson u. Geert H. M. Claassens, Cambridge 2003 (Arthurian Archives), S. 368-523; vgl. zum dortigen Protagonistenbzw. Antihelden-Status Keies Marjolein Hogenbirk: Avontuur en Anti-avontuur. Een onderzoek naar Walewein ende Keye, een Arturroman uit de Lancelotcompilatie, Culemborg 2004; für einen postmodernen Ginover-Roman vgl. Marion Zimmer Bradley, The Mists of Avalon, New York 1982. 11 Vgl. Erec [Anm. 9], V. 4846-5084 (Begrüßung Erecs durch Gawein und seine diplomatische List, um ihn zur Zwischeneinkehr am Artushof zu bringen); vgl. Hartmann von Aue: Iwein. Mhd. Text und Übertragung, mhd. Text nach der 7. Ausg. von G. F.

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ram’sche Vize-Protagonist,12 Wirnts von Grafenberg Vatergestalt,13 der Vertreter eines überholten Ideals beim Stricker 14 oder eben auch der vollwertige Protagonist der ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin 15 ein und dieselbe Heldenfigur sind? Es gibt textübergreifende, jedoch vereinzelte Spuren einer problematischen Krisen-Erzählung, die in der Vorgeschichte des Helden schlummert. Explizit erfährt man im ›Wigalois‹,16 dass sich Gawein irgendwann gegenüber einer Frau falsch verhalten habe. Auch wenn bei Wirnt die Umstände der Tat auf einen Verstoß gegen das höfische Protokoll herabgespielt werden, ist es wahrscheinlich, dass es sich (zumindest in der Anklage) um eine Nötigung oder Vergewaltigung handelte, weswegen Gawein das Motiv sowohl in Wolframs ›Parzival‹ 17

Benecke/K. Lachmann/L. Wolff, übers. von Thomas Cramer, 4., überarb. Aufl., Berlin/New York 2001, V. 2697-2912 (Gaweins Freundschaft mit Iwein und der Ratschlag, nicht den gleichen Fehler wie Erec zu begehen), V. 4288-4307 und 4510-4726 (Gaweins Ausritt nach der entführten Ginover), V. 6870-7674 (Kampf Iwein/Gawein). 12 Vgl. Parzival [Anm. 4], VII.-VIII. und X.-XII. der Lachmann’schen Bücher. 13 Vgl. Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text, Übers., Stellenkomm., hg. und übers. von Sabine Seelbach/Ulrich Seelbach, Berlin/New York 2005, V. 145-12301 (Vorgeschichte der Zeugung des Protagonisten durch Gawein und Florie), V. 1564-1620 (Wigalios’ Ausbildung durch Gawein), V. 9561-9770 (Gawein auf Wigalois’ Hochzeit), V. 11368-11394 (Gaweins Trauer um Florie). 14 Vgl. Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal, hg. von Michael Resler, 2., überarb. Aufl., Tübingen 1995, V. 231-354 (Gaweins, Iweins und Parzivals vergeblicher Versuch, Daniel aus dem Sattel zu stechen), V. 796-986 (Gaweins diplomatisches Geschick bei den Verhandlungen mit dem Riesen-Boten Maturs), V. 2845-2991 (Gaweins, Iweins und Parzivals vergeblicher Versuch, mit der Wunderkraft von Daniels Schwert mitzuhalten). 15 Vgl. Heinrich von dem Türlin: Diu Crône. Kritische mhd. Leseausgabe mit Erläuterungen, hg. von Gudrun Felder, Berlin/Boston 2012. 16 her Gâwein der reichte dar [an den Tugendstein, M.D.] / mit der hant, und niht baz; / ich sagiu wie er verworhte daz / er zem steine niht moht komen, / als ichz ofte hân vernomen: / eine maget wol getân / die greif er über ir willen an, / so daz si weinde unde schrê; Wigalois [Anm. 13], V. 1506-1513. Gerade an dem Erzählereinschub ich sagiu […], / als ichz ofte hân vernomen wird deutlich, dass die sexuelle Verfehlung Gaweins wohl ein Topos gewesen sein muss. 17 Vgl. Parzival [Anm. 4], 398,1-410,12 (fälschlicher Vorwurf der Vergewaltigung von Antikonie), 525,11-529,2 (Externalisierung des Vergewaltigung-Motivs auf den Pferdedieb Urjans).

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als auch in Heinrichs ›Crône‹18 umgibt. In der Blutstropfenepisode erfahren wir zusätzlich, dass Gawein einst unglücklich verliebt war; 19 ob das Objekt dieses Liebesbegehrens die gleiche Dame ist, an der sich Gawein verging, bleibt unklar. Wir wissen, dass Gaweins Vater König Lot ist und im ›Wigalois‹ ist er der Vater des Protagonisten. Außerdem ist er, und dies scheint das Allerwichtigste, Artus’ Neffe. Mehr Vor- und Familiengeschichte gibt es nicht. Auch die Verwendung von Prä-Narrativen in dem Sinne, dass ein späterer Roman auf Handlungen früherer verweist, ist eher selten; bei Gawein hat man ganz im Gegenteil eher Brüche zu konstatieren, v.a. zwischen dem ›Parzival‹ und der ›Crône‹. 20 Des Weiteren gibt es eine basale Charakterstruktur, die relativ konstant bleibt; dazu gehört beispielsweise Gaweins diplomatisches Geschick, das er am deutlichsten ebenfalls in der Blutstropfenepisode beweist,21 das aber auch zuvor in Hartmanns ›Erec‹ und ›Iwein‹22 auftaucht oder später in Strickers ›Daniel‹. 23 Dieser Charakterzug ist aber im engsten Sinn keiner, da er unter dem Status des Idealrittertums subsumiert ist; ebenso wie Gaweins Heraldik, das einzige, was wir von seinem Äußeren erfahren: Er führt laut dem ›Wigalois‹ die Tafelrunde im Schild.24 Gawein ist der Archetyp des Idealritters, ergo muss er ein guter Diplomat sein, ergo führt er die Tafelrunde im Schilde. Auf der Innenseite des Schilds ist mit Kreide ein weißer Hirsch auf einem goldenen Berg gemalt. Warum dieses Privat-Wappen dort steht, wird nicht erklärt. Man findet also jenseits seiner Funktion am Artushof keine herleitenden Elemente, weder genealogische noch psychologisierende. Bedeutender als charakterliche oder heraldische Kon-

18 Crône [Anm. 15], V. 11242-11821 (Externalisierung von Gaweins Fehler in Gasoeins Fehlverhalten); siehe dazu auch den Beitrag ›Die Dekonstruktion eines Heldenbildes‹ von Svenja Fahr in diesem Band; Crône [Anm. 15], V. 19447-19464 (der Pferdedieb Lohenîs, der für das gleiche Fehlverhalten bestraft wurde, das im ›Wigalois‹ Gawein zugeschrieben wird). 19 Vgl. Parzival [Anm. 4], V. 301,8-20. 20 Am deutlichsten wird dieser Bruch wohl daran, dass Heinrich trotz völliger Abweichung von Chrétiens oder Wolframs Handlungsführungen kein Problem damit hat, Episoden aus den Prätexten nach seinem Konzept einzubauen; vgl. die so genannte Chrétien-Sequenz (Crône [Anm. 15], V. 17500-22501). 21 Vgl. Parzival [Anm. 4], V. 300,6-305,6. 22 Vgl. Erec [Anm. 9], V. 4984-5084 (Gaweins diplomatische List, Erec gegen dessen Willen zur Zwischeneinkehr am Artushof zu bringen); vgl. Iwein [Anm. 11], V. 27582968 (Gaweins Ratschlag an Iwein, sich nicht zu verligen). 23 Vgl. Daniel [Anm. 14], V. 796-986 (Verhandlungen mit dem Riesen-Boten Maturs). 24 Vgl. Wigalois [Anm. 13], V. 5612-5619.

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tinuitätsmarker scheint da noch, dass Gawein mehr als jedem anderen Artusritter sein Pferd wichtig ist: Im ›Erec‹ trägt es den Namen Wintwalite,25 im ›Parzival‹ Gringulete.26 Damit ist es das einzige namenhafte Reittier des Artusromans und kann bei Wolfram sogar das zentrale Begehrensobjekt eines Handlungsbogens sein.27 Anscheinend hat Gawein also weder eine Charakterprägung noch einen narrativen Hintergrund nötig, um als Gawein wahrgenommen zu werden; und das sowohl über Vortrags- bzw. Episodengrenzen, die Roman- bzw. Staffelgrenzen, als auch über heuristisch-literaturgeschichtliche Zäsuren wie beispielsweise die zwischen dem so genannten ›klassischen‹ und dem ›nachklassischen‹ Roman hinweg.28 Gaweins heroische Festigkeit, seine kontinuitätsstiftende Identität beruht also beinahe einzig auf seinen Funktionen: Artus’ Neffe, Diplomat, Idealritter mit einem Minimum an Ecken und Kanten: ungeschickt im Umgang mit Frauen, dafür aber vernarrt in sein Pferd – fertig ist der Serienheld. Ist es also eine Eigenschaft des mittelalterlichen arthurischen Erzählens, dass eine Identität über ein Minimalset heroischer Konstanten herzustellen ist? Es mag so scheinen – vor allem im Vergleich mit anderen Texten bspw. der Chanson de Geste, die unter Umständen viel problematischere Identitätskonstellationen aufweisen.29 Ist dieser Zug der arthurischen Heldenidentität also ein weiterer Marker der allzu häufig (über-)betonten Alterität mittelalterlichen Erzählens?

25 Vgl. Erec [Anm. 9], V. 462920. 26 Vgl. Parzival [Anm, 4], 339,28-30 (erste ausdrückliche Nennung und Beschreibung des Pferds). 27 Vgl. Parzival [Anm. 4], 521,18-529,21 (Pferdraub durch Urjans). 28 Für diese literaturgeschichtliche Zäsurierung vgl. u.a. Walter Haug: Paradigmatische Poesie. Der spätere Artusroman auf dem Weg zu einer ›nachklassischen‹ Ästhetik, ZVLG 54 (1980), S. 204-231; und heldenspezifisch vgl. Stephan Fuchs [Fuchs-Jolie, Jolie], Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997. 29 Ich denke hier beispielsweise an das Spannungsfeld zwischen dem problematischen Identifizieren Willehalms durch seine Gattin Gyburg (vgl. Willehalm 91,18-92,19, in Variation: 227,12-229,19) und dem dagegen gespannten Erkennen eines inneren ›Wesens‹ (art) bei Rennewart (vgl. Willehalm, 187,1-191,30), anhand dessen Wolfram zwei komplementäre Arten der Identitäts-Emanation vorzuführt; vgl. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text und Übersetzung, mhd. Text nach der Ausgabe von Werner Schröder, hg. und übers. von Dieter Kartschoke, Berlin/New York 2003. Zur problematischen Identitätskonstruktion in dieser Sequenz vgl. Florian Nieser, Die

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II. DOCTOR WHO? ZUR DISKONTINUITÄT EINES POSTMODERNEN HELDEN Einerseits, um der Dialektik von Festigkeit und Flexibilität beim seriellen Helden näherzukommen, und andererseits, um dem allzuleicht von der Hand gehenden Argument der Alterität mittelalterlichen Erzählens entgegenzuwirken, möchte ich einen Vergleich mit einem postmodernen Serienhelden erproben. Dazu soll eine TV-Serie dienen, die erstens ein vergleichbares Problem der HeldenUnfestigkeit aufweist und zweitens häufig und in wandelnden Funktionen mittelalterliche Motive und Narrative nutzt. ›Doctor Who‹ ist die weltweit am längsten laufende Fernsehserie.30 Sie handelt von einem außerirdischen Zeitreisenden, einem Timelord, der in seiner Raum/Zeit-Maschine, der TARDIS (ein Akronym für Time and Relative Dimension[s] in Space), und mit wechselnden menschlichen Begleitern diverse Abenteuer erlebt. Anfangs war ›Doctor Who‹ für das Jugendprogramm der BBC konzipiert und konnte dem damals eher Science Fiction-feindlichen Sender mit dem Argument verkauft werden, dass man Kindern über Zeitreiseplots verschiedene historische Epochen nahebringen wolle. Relativ schnell jedoch entwickelte sich eine eigene Mythologie um den Doctor, die bis heute noch nicht zu Ende geschrieben ist. Seit 1963 hat der Protagonist vierzehn verschiedene Gestalten angenommen; seit der laufenden Staffel ist es erstmals eine weibliche Darstellerin, die den Zeitreisenden verkörpert.31 Trotz der Darsteller*innen-Wechsel ist es der

Lesbarkeit von Helden Uneindeutige Zeichen in der ›Bataille d’Aliscans‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach, Stuttgart 2018, S. 65-71. 30 ›Doctor Who‹ ist zwar primär eine TV-Serie der BBC, das Erzählen vom Doctor ist aber nicht auf dieses Format beschränkt. Neben der Serie existieren Kinofilme, Romane, Comics und vor allem Hörspiele, die gerade in den 1990ern, als die Serie vorübergehend eingestellt wurde, dazu beitrugen, dass der Mythos des Doctors weiterwirken konnte. 31 Im Gegensatz zum War Doctor exkludiere ich den von Peter Cushing dargestellten Doctor der so genannten Dalek-Movies aus den 1960er Jahren, da diese Filme generell nicht in das serielle Kontinuum eingerechnet werden. Die Zählung für die Doctoren der ›Old Series‹ ist somit: Erster Doctor (Willian Hartnell, 1963-1966), Zweiter Doctor (Partick Troughton, 1966-1999), Dritter Doctor (John Pertwee, 1970-1974), Vierter Doctor (Tom Baker 1974-1981), Fünfter Doctor (Peter Davison, 1981-1984), Sechster Doctor (Colin Baker, 1984-1986), Siebter Doctor (Sylvester McCoy, 19871989) und Achter Doctor (Paul McGann, 1996). Für die ›Revived Series‹ ergibt sich die Handlungschronologie: War Doctor (William Hurt, 2013), Neunter Doctor (Chris-

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Serie gelungen, dass der Doctor über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg eben immer der Doctor bleibt. Intradiegetisch wird dies durch die Fähigkeit der Timelords ermöglicht, zu regenerieren, also im Falle des biologischen Todes einen neuen Körper zu entwickeln. Der Tod selbst wird damit ebenso seines existentiellen Charakters beraubt und in die Ambiguität entrückt, wie alle anderen körperlichen Determinanten, die bei jeder Regeneration komplett andere sind. Figurenkonzeptuell bleiben nur wenige Konstanten bei allen Doctoren erhalten; es handelt sich hier also ebenfalls um ein äußerst geringes Minimalset heroischer Signale, das Kontinuität herstellt, da eigentlich jede*r Darsteller*in bisher einen eigenen Doctor spielte. Die Logik, durch die diese Diversität aufgefangen wird, ist eine akkumulative: Die Prägung durch die/den individuellen Darsteller*in macht eben nur eine Nuance dessen aus, was im Gesamten das Wesen des Doctors ist. Die Paradoxie daran ist, dass dieses Gesamte, das Original sozusagen, immer nur in der ständig anwachsenden Zahl der Kopien bzw. Fragmente erahnt werden kann. Erfahrbar kann das Gesamte erst in einer hypothetischen Zukunft werden, in der die potenziell unendliche Serie geendet haben wird. Im Vergleich zum Doctor ist Gawein also der unterdeterminierte Singulär, während den Doctor die Behauptung konstituiert, dass sich aus der Diversität der Züge (physiognomischer wie charakterlicher), die ein bodenloses Loch (hole) anfüllen, irgendwann ein Heiles-Ganzes (whole) bzw. ein Heiliges (holy) ergeben könnte.32 Und heilig ist der Doctor (spätestens ab der ›Revived Series‹): ein mehrfach wiederauferstandenes, deshalb potenziell unsterbliches und der Menschheit wohlgesonnenes Überwesen. Er ist – im Sinne der großer Narrative − ein paradigmatisches Stand-In33 für den (abwesenden) christlichen Gott, die Einheit aus Vater (Timelord), Sohn (Beschützer der Erde) und Heiliger Geist (TARDIS). Zugleich jedoch fungiert er in seinen menschlichen Prägungen als In-

topher Eccleston, 2005), Zehnter Doctor (David Tennant, 2005-2010), Elfter Doctor (Matt Smith, 2010-2013), Zwölfter Doctor (Peter Capaldi, 2013-2017) und Dreizehnter Doctor (Jodie Whittaker 2017 bis heute). 32 Das Wortspiel von hole/whole/holy erweitert eine Bemerkung aus Jacques Derridas Religionsgesprächen mit Gianni Vattimo zum Wesen des Heiligen; vgl. Jacques Derrida: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft, übers. von Alexander García Düttmann, in: ders./Giovanni Vattimo: Die Religion, Frankfurt a.M. 2001, S. 9-106, hier: S. 76. 33 Für die Unterscheidung von paradigmatischen und syntagmatischen Heldenbildern vgl. den Beitrag ›Batmans Zeichen‹ von Stefan Tezlaff in diesem Band.

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begriff des postmodernen ›fraktalen Subjekts‹, 34 ohne dass die eine allegorische Funktion die andere negieren würde. Das Wesen des Doctors ist paradoxal: ganz im Sinne des Seriellen unabschließbar und frei von allen körperlichen Determinanten, seit der letztjährigen Staffel auch des biologischen Geschlechts – und dennoch stets ›eine Identität‹. Die Unfassbarkeit dieses unabschließbaren Wesens, das sich gegen alle materiellen, körperlichen und darstellerischen Wandel als konstant behauptet, wird durch den Titel der Serie als programmatisch angelegt ausgewiesen: ›Doctor Who‹ ist kein determinierender Name, sondern eine Frage: Doctor Who? Diese wird dem Protagonisten im Laufe der Serie wohl hunderte von Malen gestellt, nachdem der er/sie sich lediglich mit I am the Doctor vorstellt hat. Dies ist mehr als ein Running Gag der Serie, denn in der Frage findet das Erstaunen über die Kontinuität des Diskontinuierlichen Ausdruck – und gleichzeitig wird die Bedeutung der Unterdeterminierung dieses Zentrums als konstituierend ausgewiesen. Denn schließlich muss der Protagonist seinen Namen sowohl Freunden wie Gegnern vielfach verweigern, eben, damit sein Wesen weiterhin unbestimmt und damit unendlich erweiterbar bleibt.35 Beinahe scheint es so, als wenn nur noch die Frage als solche dieses Wesen zu bezeichnen vermag bzw. das Wesen selbst lediglich ein Fragezeichen ist: als Zeichen existent, jedoch nicht als Bezeichnetes. Diese Identitätslosigkeit unterscheidet den Doctor sowohl von Gawein, hinter dessen Kontinuitäts-Signum ›Idealritter‹ wohl eher ein Ausrufezeichen zu stehen hätte, als auch generell vom mittelalterlichen Helden, bei dem fama/mære als zentrales ›heroisches Produkt‹ gelten kann, das sowohl intradiegetisch als auch in der mittelalterlichen Literaturlandschaft seinen Status konstituiert. Auch die einzelnen Signale der heroischen Identität sind in der TV-Serie auf einen ersten Blick andere: Die Funktion der den Artushof konstituierenden Säu-

34 »Im letzten Stadium seiner ›Befreiung‹, seiner Emanzipation im Gefolge der Netze, Bildschirme und neuer Technologien, wird das moderne Individuum zu einem fraktalen Subjekt, das zugleich unendlich unterteilbar und unteilbar, in sich abgeschlossen und zu einer unbegrenzten Identität fähig ist. [...] Es ist die Übersetzung des Masseneffekts in jede Individualparzelle hinein – wobei jede einzelne in sich die Serialität, die sternförmig zersprungene und metonymische Struktur der Masse resümiert«, Baudrillard [Anm. 1], S. 70f. 35 Diese Bewegung der erkämpften Namenlosigkeit steht dem Suchen arthurischer Episodenhelden (und ihrer Rezipierenden) nach Namen und Identität, wie sie vor allem Ulrich von Zatzikhoven in seinem ›Lanzelet‹ vorführt, diametral entgegen; vgl. Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Text – Übersetzung – Kommentar, hg. von Florian Kragl, Berlin/New York 2013.

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lenheiligen ist in ›Doctor Who‹ ersetzt durch einen starken Ding-Fetischismus: die blaue policebox, als die sich die TARDIS tarnt, vorübergehend der Roboterhund K-9 (englisch auszusprechen als ›canine‹, der Roboter als Inbegriff des hündischen Begleiters)36 oder der so genannte sonic screwdriver, der als Waffensubstitut ein Signum dieses (im Regelfall) 37 pazifistischen Helden ist. Vor allem die Geschichte der policebox verdeutlicht, wie der Dingfetischismus funktioniert: Eigentlich beherrscht es die TARDIS, ihr Wesen eines schier endlos großen Raumschiffs zu verschleiern, indem sie sich auf jedem Planeten und zu jeder Zeit als unauffälliger Gegenstand tarnt. 1963 war eine blaue policebox an fast jeder Straßenecke Englands zu finden, weswegen sie in den ersten Folgen auch als solche erscheint. Doch der Tarnmechanismus des Raumschiffs geht schon gleich zu Anfang der Serie in die Brüche, sodass das Gefährt des Doctors auch 2019 noch als diese policebox erscheint. In der Rezeption stellt die TARDIS mittlerweile noch stärker als jede*r einzelne Darsteller*in ein popkulturelles Icon und den Inbegriff der die Plots bestimmenden spielerischen Anachronismen dar. Auf diese Weise kompensiert die blaue Telefonzelle als unwandelbarer Fetisch die Fluidität der Heldenidentität und setzt der wesentlichen Diskontinuität die defektive Kontinuität des Dings entgegen. II.1 Das Mittelalter in ›Doctor Who‹, ›Old Series‹ In einer langlaufenden Zeitreise-Serie ist es wohl eher unvermeidlich, dass auch irgendwann mittelalterliche Szenerien auftauchen. Wie aber bereits Dave Rolinson feststellte, hat die als Mittelalter bezeichnete ›Epoche‹ in ›Doctor Who‹ einen besonderen Stellenwert. Unter Rückgriff auf Begriffsprägungen von Daniel O’Mahony unterscheidet Rolinson zwischen ›rein historischen‹ (»pure historical«) und ›pseudo-historischen‹ (»pseudo-historical«) mittelalterlichen Hand-

36 Wobei auffällt, dass diese beiden Fetische sich kontinuierlich vom Ding- oder TierStatus befreien: Die Tardis erhält ein Innenleben, das sie zu einer Art von Geliebten des Doctors werden lässt, und K-9 bekommt eine erzählerische Eigendynamik, die den 1977 eingeführten Roboter zum Lassie-artigen Vize-Helden der Serie werden lässt, was u.a. 1981 zur Spinoff-Serie K-9 and Company führt. 37 Ausnahme ist hier der besagte War Doctor, dessen kriegerisches Wirken im Film The Day of the Doctor (2013) retrospektiv in die Handlungslücken zwischen den ›Old Series‹ (1963-1996) und den ›Revived Series‹ (2005-heute) gesetzt wird; vgl. The Day of the Doctor, Regie: Nick Hurran, Drehbuch: Steven Moffat, Ausstrahlung: 23.11.2013, DVD: BBC Worldwide Ltd 2013.

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lungsbögen.38 In den ersten Jahrgängen der Serie herrscht generell ein bildungsvermittelnder Ansatz. Deshalb wird in Handlungsbögen wie Marco Polo (1964, Erster Doctor)39 oder The Crusade (1965, Erster Doctor)40 das Mittelalter als historiographisch unverrückbares Anschauungsmaterial präsentiert. An diesem konnte das damals jugendliche Zielpublikum etwas über Marco Polos Reisen oder das militärische Patt zwischen Richard I. und Saladin lernen. In dieser Funktion unterscheidet sich das Mittelalter nicht von den anderen historiographisch dargestellten Epochen der ersten zwei Jahrgänge. Doch schon im gleichen Jahr wie The Crusade kommt es zum ersten Plot, der die monolithische Unveränderlichkeit von Geschichte in Frage stellt und damit die Weichen für den weiteren Verlauf der gesamten Serie setzt: Im programmatisch betitelten Handlungsbogen The Time Meddler (1965, Erster Doctor) 41 will ein anderer Zeiteisender aus seinem Wissen über die Zukunft Kapital schlagen und begibt sich dafür als Mönch verkleidet ins mittelalterliche England. Der Plot spielt im Jahr 1066, kurz vor dem Battle of Stamford Bridge, bei dem

38 Vgl. Dave Rolinson: ›You are still living in the middle ages!‹. Time Travel in ›Doctor Who‹ and Pseudo-Historical, Neomedieval, Alternate Realities, in: Neomedievalism in the Media. Essays on Film, Television, and Electronic Games, hg. v. Carol L. Robinson u. Pamela Clements, New York 2012, S. 103-118, hier: S. 103f.; vgl. für die von Rolinson verwendeten Begriffe auch: Daniel O’Mahony: »Now How Is That Wolf Able to Impersonate a Grandmother?«: History, pseudo-history and genre in Doctor Who, in: Time and Relative Dissertations in Space. Critical Perspectives on Doctor Who, hg. v. David Butler, Manchester 2007, S. 86-104. 39 Dieser Handlungsbogen wird von Rolinson nicht erwähnt, wahrscheinlich, weil es sich bei den sieben Episoden um ›verlorene‹ (›missing episodes‹) handelt, deren Videomaterial aufgrund von Sparmaßnahmen der BBC vernichtet wurde. Der Rekonstruktion, die im Bonusmaterial der DVD zu The Edge of Distruction zu finden ist, ist aber recht eindeutig abzulesen, dass es sich um einen wissensvermittelnden Plot handelt; vgl. Marco Polo, Regie: Waris Hussein/John Crockett, Drehbuch: John Lucarotti, Ausstrahlung (in 7 Episoden): 22. Februar bis 04. April 1964, Rekonstruktion auf der DVD The Edge of Distruction, BBC Worldwide Ltd 2006. 40 Vgl. The Crusade, Regie: Douglas Camfield, Drehbuch: David Whitaker, Ausstrahlung (in 4 Episoden): 27.03. bis 17.04. 1965, erhaltene Episoden und Audiorekonstruktionen in der DVD-Box: Doctor Who: Lost in Time. Collection of Rare Episodes. The William Hartnell Years and the Patrick Troughton Years, BBC Worldwide Ltd 2004. 41 Vgl. The Time Meddler, Regie: Douglas Camfield, Drehbuch: Dennis Spooner, Ausstrahlung (in 4 Episoden): 03.-24.07. 1965, DVD: BBC Worldwide Ltd 2008.

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der angelsächsische König Harold Godwinson Wikingerüberfälle verhindern wird, nur um geschwächt durch diese Schlacht im selben Jahr den Battle of Hastings gegen den Normannen William the Conqueror zu verlieren. Der Plan des Mönches ist es (motiviert durch eine äußerst krude und anachronistische Form des Nationalismus), die Wikinger durch eine Neutronenbombe zu vernichten, damit Harold Godwinson durch die Überfälle nicht geschwächt wird, den Battle of Hastings gewinnt und so die Insel ein ›wahres‹ angelsächsisches England bleiben könne. Der Doctor muss hier das erste Mal den festgeschriebenen Geschichtsverlauf gegen eine äußere Gefahr verteidigen – die jedoch als ›angelsächsischer Nationalismus‹ auf Rezeptionsebene gar nicht so extern ist, wie es einem lieb sein könnte. Durch das Verhindern eines Eingreifens des zeitreisenden Mönchs und damit durch die Re-Etablierung der kulturellen Zäsur, die William the Conqueror für die englische Geschichte bedeutet, entwickelt sich der Doctor vom bloßen Vermittler zum Bewahrer historischer Abläufe. Eine vergleichbare Funktion als historiographischer Bewahrer hat der Doctor in seiner dritten und fünften Inkarnation in The Time Warrior (1973/74) 42 und The King’s Demons (1983).43 Im ersten Handlungsbogen verteidigt der Doctor den Geschichtsverlauf gegen Sontaraner, Außerirdische, die mit ihrem militaristischen Ehrenkodex selbst stark dem mittelalterlichen Rittertum nachempfunden sind – und deshalb bewusst mittels eines mittelalterlichen Plots in die DoctorMythologie eingeführt werden. Die Sontaraner mussten (schon vor dem Erzähleinsatz) im mittelalterlichen England notlanden und gefährden den Geschichtsverlauf dadurch, dass sie verbündete Ritter mit futuristischen Waffen ausstatten, um die Materialien für ihre Schiffsreparatur zu erbeuten. Während hier das Mittelalter recht unspezifisch als technologisch rückständige Epoche behandelt wird und die Änderung des Geschichtsverlaufs ein intentionsloser Nebeneffekt ist, erscheint der Plot von The King’s Demons wieder weitaus spezifischer – und damit politischer. Dort ist es des Doctors Nemesis, der ihm feindlich gesinnte Timelord ›The Master‹, der im Jahr 1215 einen Roboter auf den Thron bringt, der John of England imitiert. Der John-Roboter soll es dem Master ermöglichen, die Unterzeichnung der Magna Carta zu verhindern. Ähnlich wie der Doctor in The Time Meddler die Änderung der Geschichte durch einen AngloNationalisten verhinderte, vermag er es hier zu unterbinden, dass der Master die

42 Vgl. The Time Warrior, Regie: Alan Bromly, Drehbuch: Robert Holmes, Ausstrahlung (in 4 Episoden): 15.12.1973 bis 04.01.1974, DVD: BBC Worldwide Ltd 2007. 43 Vgl. The King’s Demons, Regie: Tony Virgo, Drehbuch: Terence Dudley, Ausstrahlung (in 2 Episoden): 15. und 16.03.1983, DVD: BBC Worldwide Ltd 2010.

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Einführung der parlamentarischen Demokratie annihiliert, um England und die gesamte zukünftige Welt in eine leichter beherrschbare Form zu bringen . II.2 Mediävale Identitätsstiftung I: Castrovalva (1982) 44 Zu den beiden sich bislang abzeichnenden Helden-Funktionen des Doctors – einerseits die Veranschaulichung von Geschichte (die nach Rolinson zu ›rein historischen‹ Plots führt) und andererseits die Bewahrung von Geschichte (die ein Abweisen des ›Pseudo-Historischen‹ bedeutet) – gesellt sich eine dritte Funktion, die jedoch nicht nach dem Nutzen (oder Unnütz)45 des Helden für die Geschichte, sondern umgekehrt nach dem Nutzen des Mittelalters für den Helden fragt. Zur Veranschaulichung dieser Funktion ist es nötig, die Produktionsbedingungen der Serie mitzubedenken: 1982 trat einer der risikoreichsten Darstellerwechsel und somit schwerwiegendsten Bruchstellen der Serie auf, als der äußerst populäre Darsteller des Vierten Doctors, Tom Baker, die Serie verließ. Aufgrund des starken Fantums, das sich um Tom Bakers Vierten Doctor entwickelt hatte, musste die BBC sich überlegen, wie eine Regeneration bzw. ein Darstellerwechsel zu vollziehen wäre, ohne dass die Quoten sinken. Der neue Doctor-Darsteller, Peter Davison, war sehr jung und wies eine gänzlich andere Schauspieler- und Rollentypik auf als der sarkastische Grantler Tom Baker. Das Vorgaukeln von Kontinuität war also keine Option; stattdessen entscheid man sich, den zu erwartenden Rezipierenden-›Chock‹ gleich zu explizieren. Die Regeneration des Vierten zum Fünften Doctor scheint anfangs zu scheitern. Der neue Protagonist ist sich selbst fremd und weiß nicht mehr, dass er der Doctor ist. Um seinen Identitätskonflikt zu überwinden, wird der ›Neue‹ in seiner TARDIS in einen sogenannten Zero-Room gebracht, der nur ein Minimum von äußeren Reizen zulässt. Doch dieser geht aufgrund eines Angriffs des Masters verloren. Die Begleiterinnen des Doctors müssen daraufhin eine Alternative finden. Hier ist der Punkt, an dem der Drehbuchschreiber Christopher H. Bidmead auf ein mittelalterliches Setting zurückgreift. In der Datenbank der TARDIS ent-

44 Castrovalva, Regie: Fiona Cumming, Drehbuch: Christopher H. Bidmead, Ausstrahlung (in 3 Episoden): 4. bis 12.01. 1982, DVD: BBC Worldwide Ltd 2007. 45 »Weder ›befreit‹ der Held die historischen Ereignisse oder Kräfte noch konstruiert er eine Geschichte. Er kettet mythische und legendäre Figuren aneinander; deshalb haben weder die Revolution noch die Demokratie Bedarf an Helden«; Baudrillard [Anm. 1], S. 79.

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decken die Begleiterinnen den Hinweis auf einen Ort, der eine ähnliche Erdung garantiere wie der Zero Room: Castrovalva, eine Burg auf einem abgelegenen Planeten. Das Mittelalter wird hier als dwelling of simplicity (Ep. 2, 12:00-12:10) eingeführt, als ein Goldenes Zeitalter der Technologielosigkeit, das es dem Doctor garantieren soll, durch Ausschluss aller modernen Reize seine Identität wiederzuerlangen. Nach mehreren Abenteuern gelingt es am Ende der zweiten von insgesamt vier Episoden, den bewusst- und identitätslosen Doctor in einem sargähnlichen Transportmittel zu dieser Burg zu bringen. Castrovalva wird als eine idealisierte mittelalterliche (oder zumindest frühneuzeitliche) Gesellschaft dargestellt. Was den allmählich genesenden Doctor verwundert, ist, dass es sich beim Castrovalva-Ingesinde um eine lesende Gesellschaft handelt und eines der höchsten Ämter das des Bibliothekars ist. Dem Doctor ist dies recht, denn seine Gesundung wird vorangetrieben, indem er sich in die Stille des Papiers zurückziehen kann, um die Chroniken Castrovalvas zu studieren. Noch ein zweites Mal setzt den Doctor die Chronikalität dieser Gesellschaft in Verwunderung, als er im Zimmer des religiösen Führers von Castrovalva, dem Portreeves, einen Wandteppich entdeckt, der das Zentrum der Macht zu sein scheint und in dessen gewebten Bildern unter anderem auch die jüngsten Ereignisse wie sein Transport zur Burg auftauchen. Die Gesellschaft Castrovalvas scheint darauf versessen, sowohl in Schrift wie im Bild akribisch historische Verläufe zu dokumentieren und allmählich begreift der Doctor, dass diese Akribie Symptom eines ontologischen Mangels ist: Der erhoffte Erholungsurlaub in mittelalterlichem Ambiente ist eine weitere Falle des Masters. Die Geschichte Castrovalvas stellt sich als invented tradition46 heraus und hinter dem vom Portreeve geschützten Wandteppich47 entdeckt der Doctor eine Konstruktion des Masters; schließlich enthüllt sich der Portreeve selbst als eben dieser. Zuvor erscheint Castrovalva als Variante der Gralsburg: eine abgelegene Burg, eine religiös motivierte Gesellschaft um den Fischerkönig Portreeve und die Kommunikation mit einer göttlichen und heilsgeschichtsschreibenden Instanz über den Wandteppich. Doch dieser Trug fällt nun in sich zusammen. Der Doctor und seine Begleiterinnen treten die Flucht an, was sich dadurch verkompliziert, dass sich Castrovalva als recursive occlusion (Ep. 3, 22:10-22:20), also in einer rekursiven Schleife eingeschlossen erweist. Die Burgbewohner sind nur allmählich dazu bereit, die zirkuläre Abgeschlossenheit ihrer Existenz zu erken-

46 Vgl. Eric Hobsbawm u. Terence Ranger: The Invention of Tradition, Cambridge 1992. 47 Wahrscheinlich ist es die hinter dem Wandteppich enthüllte ›Öffnung‹ (engl. port), der der Portreeve (›Hafen-‹ oder ›Öffnungsvogt‹) seinen Titel verdankt.

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nen, und die aufklärerischen Bemühungen des Doctors führen zu vielen anachronistischen Sarkasmen: Als der Doctor beispielsweise die Waschfrauen nach einem Ausweg fragt und alle in eine andere Richtung deuten, kommentiert er lakonisch: Well, that’s democracy for you. (Ep. 3, 20:35-20:40 und Ep. 4, 0:350:40). Im Laufe der weiteren Flucht zerfällt der Raum von Castrovalva und bildet unendliche Irrwege, was sowohl durch inkonsistente Schnitte als auch Splitscreens und Animationen verdeutlicht wird, die an Möbiusbänder erinnern. Spätestens an den verwendeten Special Effects wird dann auch ersichtlich, woher die Folge sowohl ihren Titel als auch ihr Raum/Zeit-Konzept hat.

Abbildung 1: links, oben: Screenshot aus Castrovalva (Ep. 3, 22:20); rechts: M. C. Escher, ›Castrovalva‹ (Lithographie, 1930); links, unten: M. C. Escher, ›Relativity‹ (Lithographie, 1953) ›Castrovalva‹ ist der Titel einer Lithographie M.C. Eschers aus den 1930er Jahren. Escher bildete ein kleines italienisches Dorf namens Castrovalva in den Abruzzen ab. Diese eher realistische Darstellung assoziieren die ›Doctor Who‹Produzenten intertextuell mit den populären Raumexperimenten Eschers aus den

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1950er Jahren und verweisen so auf den berühmtesten Konstrukteur rekursiver Okklusionen. Der Doctor und seine Begleiterinnen können der Escher’schen RaumSchleife schließlich entkommen − im letzten Moment, bevor die Mittelalterwelt kollabiert und die Burgbewohner, erbost über ihre Erschaffung durch den bösartigen Master, diesen mit sich ins Nichts reißen. Am Ende kehrt der neue Doctor Peter Davison gesundet zu seiner Tardis zurück und strahlt in die Kamera mit den Worten: Well, whoever I feel like, it is absolutely splendid (Ep. 4, 22:5022:60). Das Durchlaufen der rekursiven Schleife Mittelalter hat die Behebung seiner Identitätslosigkeit zur Folge und der Doctor darf nun für weitere drei Jahre mit dem Gesicht Davisons eben der Doctor sein. II.3 Das Mittelalter in ›Doctor Who‹, ›Revived Series‹ Die Elemente des Castrovalva-Handlungsbogens etablieren für die folgenden Jahrzehnte erzählerische Standards von ›Doctor Who‹. Alle weiteren Darsteller*innen werden bei ihrer Einführung erst einen traumatisierten Doctor spielen, bis sich ihre jeweilige Charakterisierung herauskristallisiert. Aber auch die Erzählung vom konstruierten Mittelalter in Castrovalva kann als Ausgangspunkt dafür gesehen werden, wie nach dem Relaunch der Serie ab 2005 mit dieser ›Epoche‹ umgegangen wird. Einerseits merkt man, dass die Serie nun generell mehr Interesse an einem literarischen Mittelalter und seinen Motiven denn an einem historischen Mittelalter hat. Deutlich wird dies teilweise an erzählerischen Details. So in der Episode Christmas Invasion (2005, Zehnter Doctor),48 in der eine Raumsonde von Aliens entführt wird. Diese enthält eine Blutprobe, mittels der es den Invasoren möglich ist, Menschen mit der gleichen Blutgruppe zu kontrollieren. Der Name dieser Raumsonde ist Ginover. Diese Anspielung auf die Entführung der arthurischen Königin ist mehr als ein narratives Ornament: Sie spielt im Rahmen eines Invasionsplots gezielt auf die Funktion dieses Motivs an, da ein externer Anspruch auf den ›Schoß der Königin‹ 49 in den Artusromanen eine Gefährdung der Blutlinie bzw. insgesamt der arthurischen Herrschaft bedeutet. Bildlich wird hier das Artusreich auf die gesamte Erde ausgeweitet. Der Umstand, dass dieses Motiv zudem in einer Weihnachtsfolge auftaucht, erweckt sogar spezifischere Assoziationen mit der winterlichen Entführung Ginovers, wie sie Heinrich von dem Türlin in seiner ›Crône‹ vorführt.

48 Vgl. Christmas Invasion, Regie: James Hawes, Drehbuch: Russel T. Davies, Ausstrahlung: 25.12.2005, DVD: BBC Worldwide Ltd 2006. 49 Vgl. Schulz [Anm. 6]; siehe Kapitel I. dieses Beitrags.

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Neben solchen postmodernen Zitaten wird auch die Thematik der recursive occlusion, des fälschlich endlos erschaffenen Mittelalters aufgegriffen.50 Diese Handlung umfasst mehrere Episoden der neunten Staffel um den Zwölften Doctor. Die Doppelepisode The Girl Who Died/The Woman Who Lived (2015, Zwölfter Doctor)51 aktualisiert das aus den ›Old Series‹ bekannte Muster, nach dem der Doctor das ›Pseudo-Historische‹ abweisen muss: Ein Odin-Imitator, eigentlich natürlich ein feindlicher Außerirdischer, bringt ein Wikingerdorf unter seine Kontrolle. Es wird erzählt, wie sich die Wikinger von diesem vermeintlich göttlichen Tyrannen befreien. Bei der Befreiung jedoch stirbt das Mädchen Ashildr. Dies ist ein Verlust, den der Doctor nicht hinnehmen kann. Entgegen besseren Wissens, dass er damit die Geschichte ändern wird, setzt er Ashildr einen Chip ein, der sie unsterblich macht. Indem er ihren Tod aufhebt, ›mythisiert‹ der Doctor Ashildr, lässt sie gar zum Inbegriff des Mythos werden,52 einer zeitlosen Abkapselung vom histori-

50 Dieses Motiv findet seine Fortführung nicht nur bei ›Doctor Who‹. Auch die 1984/85 ausgestrahlte BBC-Produktion Tripods (im deutschen Fernsehen als Die Dreibeinigen Herrscher bekannt) arbeitet mit einem gefälschten Mittelalter, in das die Menschheit von Außerirdischen versetzt wurde. Auch in dieser Serie (deren Plot jedoch auf Romanen beruht, die schon in den 1960ern geschrieben wurden) geht es darum, das Mittelalter als rekursive Schleife zu überwinden, um die Menschheit wieder in ihre verlorene Identität zurückzuversetzen; vgl. Tripods, Buchvorlage: John Christopher, Drehbuch (1. Staffel): Aleck Rowe, Drehbuch (2. Staffel): Christopher Penfold, BBV 1984/1985, DVD: Die Dreibeinigen Herrscher. Staffel 1 und Staffel 2, Koch Media 2009/2010; zum Mittelalterbild in Tripods vgl. Matthias Däumer: Eine Trilogie auf zwei Beinen. Vom ›chockierenden‹ Ende der ›Dreibeinigen Herrscher‹ (›The Tripods‹, BBC 1984-1985), in: Serienfragmente, hg. von Vincent Fröhlich/Maren Scheuer [ersch. Frühjahr 2020]. 51 Vgl. The Girl Who Died/The Woman Who Lived, Regie: Ed Bazalgette, Drehbuch: Jamie Mathieson, Catherine Tregennaund Steven Moffat, Ausstrahlung: 17. und 24. 10.2015, DVD: BBC Worldwide Ltd 2015. 52 Der Mythos als »eine der frühesten menschlichen Erfindungen wider die ungeheure Wirklichkeit und ihre angstauslösende Bedrängnis« (Blumenberg) bietet die Möglichkeit, Elemente der Realität in ein benennbares symbolisches System zu überführen und so dem Menschen als »animal symbolicum« (Cassirer) intellektuell handhabbar zu machen. Aus dieser existenzbewältigenden Funktion ergibt sich die Dichotomie einer ›mythischen‹ und einer ›historischen‹ Denkweise bzw. einer ›mythischen‹ und ›historischen‹ Zeitvorstellung, die auch in Texten zu entsprechenden ›Zeittypen‹ führen. Auf der einen Seite steht der Mythos, erzählend ohne zeitliche Beschränkung,

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schen Mittelalter. Damit erschafft er sich für folgende Handlungen eine Gegenspielerin, durch die letztendlich seine Begleiterin Clara Oswald den Tod finden wird.53 Hier ist also der Doctor selbst der Schuldige, der aus dem linearen Zeitverlauf einen künstlichen ›Splitter‹ des Mittelalters herauslöst, der durch die Zeiten und sogar noch am Ende aller Zeiten 54 widernatürlich waltet. Interessant in Hinblick auf die Mittelalterrezeption ist dabei vor allem, welche Falle der vom Doctor selbst erschaffene Mythos für ihn aufbaut: Ashildr sperrt den Doctor in eine so genannte Beichtscheibe, ein virtueller Ort, an dem der Doctor sich seinen Sünden stellen soll. Die Form, wie dieser Ort dem Doctor und dem Serien-Publikum erscheint, ist ein direktes Zitat des CastrovalvaSettings: In Heaven Sent (2015)55 durchirrt der Zwölfte Doctor eine Burg von kreisförmiger Architektur, umgeben von einer endlos wirkenden Wasserfläche, stets auf der Flucht vor einem monsterhaften Wesen, dessen Eigenperspektive er auf Fernsehbildschirmen sieht, die anachronistisch in den mittelalterlichen

immerwährend, endlos, seriell akkumulierend, zeitlich-zirkular. Diesem entgegengesetzt ist das chronikale Erzählen der Historia, entstehend aus der Finalität (bzw. Werkhaftigkeit) heilsgeschichtlichen Denkens. Diese Polarität wird u. a. mythentheoretisch von Kurt Hübner als Unterscheidung von zirkulär-unendlichen und linearendlichen Zeitverläufen beschrieben, wobei »der mythische Mensch in zwei Zeitdimensionen, nämlich einmal in der heiligen Zeit […] und in der profanen […] [lebte]. […] Als Sterblicher erfährt er zwangsläufig die mythischen Zyklen im Rahmen der profanen Zeit, die mythische Zeit wird in die profane und irreversible eingebettet.« (Hübner). Mittels dieses Bildes einer ins Geschichtlich-Lineare eingebetteten Zirkularität der Zeit ist es auch möglich, den aktionalen Begriff ›Mythisierung‹ zu definieren als ein Hinausheben vergänglicher Dinge oder Menschen aus dem Strom der Zeit, als die kulturelle Produktion von Zirkulär-Unendlichem – beispielsweise durch einen der temporalen Linearität ohnehin enthobenen, zeitreisenden Serienhelden. Vgl. Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 1993, Zitat: S. 88; Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt a.M. 1990, Zitat: S. 51; Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 143f. 53 Vgl. Face the Raven, Regie: Justin Molotnikov, Drehbuch: Sarah Dollard, Ausstrahlung: 21.11.2015, DVD: BBC Worldwide Ltd 2015. 54 Vgl. Hell Bent, Regie: Rachel Talalay, Drehbuch: Steven Moffat, Ausstrahlung: 05.12.2015, DVD: BBC Worldwide Ltd 2015. 55 Vgl. Heaven Sent, Regie: Rachel Talalay, Drehbuch: Steven Moffat, Ausstrahlung: 28.11.2015, DVD: BBC Worldwide Ltd 2015.

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Gängen prangen. Wenn ihn das Monster erwischt, kann der Doctor ihm nur entkommen, indem er eine seiner Sünden gesteht. Das Setting ermöglicht mehrere Assoziationen: als erstes natürlich die des antiken Labyrinths inklusive Minotaurus. Durch die Beicht- und Bußthematik bietet sich aber vielleicht noch stärker die Bedeutung des labyrinthos in christlichen circumambulatio-Ritualen an, beispielsweise bei der sakralen Raumstruktur des Bodenlabyrinths der Kathedrale von Chartres, bei der das Labyrinth − aufbauend auf Isidor von Sevilla − in Verbindungen mit Gebetspraktiken und dem Finden des eigenen Zentrums steht.56 Der Doctor jedoch findet heraus, dass es für ihn keinen Ariadnefaden und keinen besinnlichen Weg aus diesem Buß-Mantra gibt. Die einzige Möglichkeit, die Burg zu verlassen ist der Durchbruch einer meterdicken kristallenen Wand von schier unermesslicher Härte, hinter der sich seine TARDIS befindet. Die Burg ist also bis auf diesen einen Ausgang ebenfalls eine recursive occlusion, die droht, den Doctor für alle Ewigkeit gefangen zu halten und ihm das Beichten all seiner Sünden abzuverlangen. Dennoch durchbricht der Doctor die mythische Zeitschleife: Statt sich umzuwenden, um dem Monster eine seiner Sünden zu beichten, tätigt er zwei, drei Faustschläge gegen die Kristallwand und wird sodann vom Monster getötet. Jedoch: Die recursive occlusion umfasst auch seine Existenz, sodass er stets wiedergeboren wird, abermals die zwei, drei Faustschläge tätigt, abermals stirbt und abermals wiederaufersteht. Der Vorgang wiederholt sich über Millionen von Jahren und im Burggraben häufen sich die Gebeine seiner alten Reinkarnationen.

56 »Auf kultische Rundtänze gehen die ursprünglich runden Labyrinthbauten […] zurück, die später als Tanzplätze u. -schemata ihren eigentlichen Sinn, die Befreiung aus einem unentrinnbaren Gefängnis, nie ganz verleugnet haben. […] Direkt an die Antike lehnen sich aber die bis ins späte Mittelalter vorkommenden, als Boden-, Wand- u. Pfeilerverzierungen dienenden rechtwinkligen u. kreisförmigen Labyrinthe an.« (Art. Circumambulatio, in: Reallexikon für Antike und Christentum, hg. Theodor Klauser, Bd. 3, Stuttgart 1957, Sp. 143-152.) Dabei stehen sich im Christentum zwei Bedeutungen gegenüber, die sich aus der Bewegung vom Inneren des Labyrinths nach außen oder von außen nach innen ergeben: einerseits das Entkommen aus den Irrwegen des Lebens, andererseits das Finden des eigenen Zentrums. Vgl. Eveline Weiss, Das Labyrinth. Ein Hoffnungssymbol, Diplomarbeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Wien, Wien 2002. Vgl. http://labyrinth-weg-zur-mitte.at/ site/index.php/info/das-labyrinth/theologie (zuletzt abgerufen am 15.10.2019). Ich danke Florian Nieser und Benedikt Rupp für die argumentative Einbringung dieses Kontexts.

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So wenig die einzelnen Faustschläge ausrichten, höhlt doch der stete Tropfen des dauerhaften Sterbens die Kristallwand, die schließlich ein Tunnel durchzieht, durch den der Doctor dem Zwang zur Beichte und der wiederkehrenden Schleife seiner Tode entrinnt. Was hier stattfindet, ist eine Gegenüberstellung des endlosen bzw. zirkulären Mythos (in mittelalterlicher Gestalt) und der Endlichkeit bzw. Linearität des Lebens. Letzteres überwindet die Zeitschleife, jedoch nur dadurch, dass ein zigfacher Tod in Kauf genommen wird. Hatte der Tod des christlichen Messias zur Folge, dass man die Geschichte der Menschheit als lineare Heilsgeschichte erzählen konnte, so muss sich der Doctor als Substitut-Messias mehr als nur einmal, eben: in beinahe endloser Serie opfern. Diese exponierte Selbstopferung findet dabei nicht ohne Grund in der Beichtscheibe des Doctors statt, reflektiert sie doch die reinigenden Strafen, wie sie das Christentum spätestens ab dem 12. Jahrhundert ins Fegefeuer verlagert. Mit dem Unterschied, dass der Doctor das Fegefeuer nicht durchleidet, sondern überwindet: Er verweigert unter Aufbringung des größtmöglichen Widerstands die Beichte und damit die Reinigung durch das Feuer und kann so − durch eine allen Selbstopferungen zum Trotz sich selbst erhaltende Figurenkonzeption − ›ewiger‹ sein als die Ewigkeit. Hat in dieser Episode das Pseudo-Mittelalter schon den Charakter einer Nachwelt, beweisen die ›Revived Series‹ schließlich, dass es ihnen generell an einer Ausstellung des Konstruktionscharakters der (für das mittelalterliche Leben bedeutsamen) Orte gelegen ist. Schon in Heaven Sent ist es bezeichnend, dass keine vergebende göttliche Macht den Doctor aus seinen Qualen befreit, sondern ihn sein eigener Wille unter Verweigerung der conversio aus der recursive occlusion befreit. Die Handlung der Doppelfolge Dark Waters/Death in Heaven (2014, Zwölfter Doctor)57 setzt dieser Tendenz die sarkastische Krone auf. Schon über die gesamte achte Staffel der ›Revived Series‹ hinweg schließen Episoden damit, dass Figuren, die im jeweiligen Handlungsverlauf gestorben sind, in einem weißen Raum erwachen, in dem sie Missy (wie sich später herausstellen wird: die weibliche Reinkarnation des Masters) in einem Leben nach dem Tode willkommen heißt. Im Finale der Staffel erfährt man, dass alle Toten, die jemals starben, in dieser künstlichen Nachwelt erwachten. In ihr formt Missy sie zu Kampfmaschinen (so genannten Cybermen), um mit dieser untoten Armee die Erde und sodann das Universum zu erobern. Der Sarkasmus liegt darin begründet, dass der Glaube der Menschheit an ein Leben nach dem Tode Teil die-

57 Vgl. Dark Waters/Death in Heaven, Regie: Rachel Talalay, Drehbuch: Steven Moffat, Ausstrahlung: 01. und 08.11.2014, DVD: BBC Worldwide Ltd 2014.

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ses Masterplans war. So erweist sich der (unter anderen mittelalterlichchristliche) Glaube an eine Nachwelt als intrigante PR-Strategie. Zusammenfassend lässt sich zu den Mittelalterbildern der ›Revived Series‹ sagen, dass, abseits von postmodernen Zitatspielen (Christmas Invasion), ihre Verwendung sich als Fortführung des Castrovalva-Handlungsbogens erweist. Der Doctor selbst kann Teile des Mittelalters als recursive occlusion aus dem linearen Zeitverlauf reißen (The Girl Who Died/ The Woman Who Lived) oder in einen solchen zeitlosen Mittelaltersplitter gesperrt werden (Heaven Sent). Die Unendlichkeit des Mythos erweist sich aber genauso wie die Burg Castrovalva als intrigante Konstruktion, die es mit großen Mühen zu durchbrechen gilt (Heaven Sent), wobei der dekonstruktivistische Eifer von ›Doctor Who‹ selbst vor dem bedeutendsten Mythos, dem von einem Leben nach dem Tode, nicht haltmacht (Dark Waters/Death in Heaven). II.4 Mediävale Identitätsstiftung II: Robot of Sherwood (2014)58 Schon in Heaven Sent ist das mittelalterliche, doch anachronistisch durchkreuzte Setting so angelegt, dass nach dem Castrovalva-Muster mit seiner Überwindung die Identität des Helden wieder hergestellt ist, in diesem Falle eine Identität, die sich in der Verweigerung der Selbstentäußerung selbst gebiert. Jedoch reflektiert die Episode das Heldenbild eher implizit, indem seine Wiederherstellung an das Ende einer quasi-transzendenten Aufgabe gesetzt wird. Weitaus expliziter findet eine Diskussion des Heldenbilds in einer Episode um ebenfalls den Zwölften Doctor statt. Dieser wird unvermutet von seiner Begleiterin Clara Oswald gefragt, ob man nicht Robin Hood treffen könnte. Der Doctor erklärt Clara im Ton der ihm in seiner aktuellen Regeration eigenen Überheblichkeit, dass es sich bei Robin Hood um eine rein literarische Konstruktion handle; er hingegen bewege sich als ernsthafter Zeitreisender ausschließlich in den Bahnen der Realhistorie. Als Clara ihm dies nicht glauben will, befördert der Doctor die TARDIS zum Beweis in den Sherwood Forest des 12. Jahrhunderts. Als der Doctor die Raum/ZeitMaschine verlässt, schlägt neben ihm ein Pfeil ein und eine grün gekleidete und enervierend gutgelaunte Gestalt stellt sich ihm und der selbstzufrieden grinsenden Clara als Robin Hood vor (vgl. 00:00-02:25). Der Timelord sieht sich so unerwartet einem anderen Helden gegenüber, dessen Bild wie sein eigenes sowohl zwischen Outlaw und Erlöser als auch zwischen Fakt und Fake oszilliert.

58 Vgl. Robot of Sherwood, Regie: Paul Murphy, Drehbuch: Mark Gatiss, Ausstrahlung: 06.07.2014, DVD: BBC Worldwide Ltd 2014.

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Doch wie immer behält der Doctor mit seiner Skepsis recht, denn auch in dieser Episode entpuppt sich das Mittealter als zumindest partielle Fälschung: Ein außerirdisches Roboterschiff war schon vor Ankunft der TARDIS in Nottingham gelandet, um Reserven aufzutanken. Die Datenbank des Schiffes enthielt Informationen über das englische 12. Jahrhundert, mit deren Hilfe sich die außerirdischen Roboter tarnten. Diese Daten aber waren historisch nicht korrekt, sondern beinhalteten die Legende um Robin Hood als historisches Faktum. Die Roboter begaben sich daraufhin in die Rolle des ebenfalls literarischen Sheriffs und seiner Männer. Nachdem der Doctor diesen Vorgang herausgefunden hat, vermutet er natürlich, dass dementsprechend auch Robin Hood ein Roboter sei – doch hier wartet eine weitere Überraschung auf ihn und das Publikum: Robin ist echt; er reagierte auf die an sich ahistorische Gefahr des Sheriffs und begab sich so als realer Mensch in die Rolle der literarischen Figur. Am Ende der Episode, als alle Gefahren überwunden sind, teilt der Doctor Robin mit, dass die Menschen der Zukunft ihn weiterhin als Legende erinnern würden. Robin tut dies schulterzuckend ab: Der Doctor selbst sei ja eine Heldengestalt, die lediglich Legende sein dürfte. Helden wie ihnen könne es nie darum gehen, echt zu sein – ihre Aufgabe sei es, aus dem ontologischen Status der Fiktion heraus andere zum Vollbringen wahrer Heldentaten zu inspirieren (vgl. 42:20-44:30).59 Vergleicht man die beiden Identitätsstiftungen, die in Castrovalva und Robot of Sherwood über mittelalterliche Settings vollzogen werden, so wird klar, dass beide das Mittelalter und die Heldenidentität als Konstrukte engführen. Im Falle von Castrovalva herrscht eine gefälschte, teilweise asynchrone Geschichtsschreibung. In Robot of Sherwood ist es der Glaube an fiktionale Gestalten, der

59 Ein Blick auf die britische TV-Landschaft erweitert die hier formulierte Ähnlichkeit im Heldenstatus von Doctor Who und Robin Hood noch um eine weitere Komponente. Denn gerade Robin Hood ist es, der in der 1984 bis 1986 von Showtime/PBS ausgestrahlten Serie Robin of Sherwood eine ähnlich inkonsistente Festigkeit der heroischen Zeichen aufweist wie der Doctor. Am Ende der zweiten Staffel stirbt der von Michael Praed dargestellte Robin; jedoch stellt sich heraus, dass der (in dieser Serie pagan-religiös aufgeladene) Status, Robin Hood zu sein, unabhängig vom jeweiligem Menschen (bzw. Darsteller) ist. Mit diesem bei Doctor Who erlernten Trick war es dem Produzenten Richard Carpenter möglich, mit dem zweiten, von Jason Connery dargestellten Robin Hood eine weitere, jedoch weitaus weniger erfolgreiche Staffel zu drehen; vgl. Robin of Sherwood, Prod./Drehbuch: Richard Carpenter, Darst. (1. und 2. Staffel): Michael Pread, Darst. (3. Staffel): Jason Connery, Showtime/PBS, 1984-1986, DVD: Koch Media 2006/2006/2007.

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sich als wahrer entpuppt als das Beharren auf einer faktualen historia. In beiden Fällen erweist sich das Mittelalter als Fälschung mit enormer realitätsprägender Kraft, die analog läuft zur konstruierten heroischen Identität und ihrer Prägung der Realität. Die Pilgerfahrt des Doctors nach Castrovalva gleicht aufgrund des sargähnlichen Transportmittels der Überführung eines Toten, mit der der alte Doctor zu Grabe getragen wird. Das erhoffte dwelling of simplicity erweist sich als Totenreich und Geburtsort zugleich – jedoch als ein künstlich geschaffener Ort, der der echten linearen Geschichte enthoben ist. Am Ende festigt der Doctor durch die Überwindung der Simulation (und die Durchquerung von Tod und Neugeburt) seine heroische Identität und begibt sich zurück in den NormGeschichtsverlauf. Sein Gegenspieler, der Master, welcher der Erschaffer der recursive occlusion war, wird von seiner eigenen Konstruktion verzehrt. So wie das mittelalterliche Setting Simulation war, herrscht auch in Robot of Sherwood ein Nebeneinander, beinahe schon eine Ununterscheidbarkeit von Fiktion und Fakt. Das raum-zeitliche Paradoxon wird hier noch deutlicher als ontologisches ausgestellt – und natürlich lässt sich dies auch als ein typisches Phänomen des Erzählens im postfaktischen Zeitalter deuten. Der Unterschied zwischen den Mittelalterbildern in Castrovalva und Robot of Sherwood ist aber letztendlich nur in den Details zu finden: Funktional erzählen beide Handlungsbögen am Beispiel der Heldenidentität von der identitätsstiftenden Kraft des Mittelalters. Diese Heldenidentität ist analog zu der ›Identität‹ einer invented tradition60: Sie ist vom Wesen her ein Konstrukt, das sich mittels eines gefälschten Mittelalters identitäre Herleitungen erfindet; im Fall von Doctor Who wird diese Fälschung jedoch anders als bei sonstigen ideologischen Konstrukten ausgestellt. So ist es auch als engagierte Aussage zu sehen, wenn am Ende von Castrovalva der intrigante Mittelalterkonstrukteur mitsamt seinem Konstrukt dem Vergessen preisgegeben wird. In Robot of Sherwood hingegen inspiriert das als mittelalterlich inszenierte Heldentum – mag es noch so simuliert und diskontinuierlich sein – die Nachgeborenen zu wahren Taten. In diesem Sinn scheint dann der Doctor selbst als pseudo-mittelalterlicher oder zumindest ahistorisch-mythischer Held, dessen Auftrag sich von der Bildung hin zum Engagement verschoben hat.

60 Vgl. Hobsbawm u. Ranger [Anm. 46]; siehe Kapitel II.2 dieses Beitrags.

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III. GAWEIN WHO? Vergleicht man anhand dieser kursorischen Beispiele die beiden seriell diskontinuierlichen Helden Gawein und den Doctor, so ist vor allem erstaunlich, was das arthurische Erzählen alles nicht benötigt, um heroische Identität herzustellen. Die Dinge, welche die verschiedenen Gestalten des Doctors zusammenhalten (also u.a. die policebox oder der sonic screwdriver) sind bei Gawein nicht zu finden. Einzig sein Schild könnte als Dingsymbol gelten, schwach ausgeprägt als Tiersymbol noch sein Pferd Gringulete, das in etwa der Funktion von K-9 nahekommt. Jedoch sind sowohl das Ding wie das Tier nur in wenigen arthurischen Texten und dort nur am Rande erwähnt. Zumal der Tafelrunden-Schild abermals lediglich in der Funktion der Idealverbildlichung aufgeht, weshalb Gringulete eigentlich der stärkste Kontinuitätsmarker des seriellen Gawein ist. Durchgängige Charaktereigenschaften haben die verschiedenen Doctoren trotz der Unterschiede in ihrer Darstellung, jedoch ist die Schnittmenge relativ klein: Alle Doctoren sind im Sinne der ursprünglich didaktischen Intension des Programms wissbegierig, meistens menschenliebend und lösen ihre Konflikte nur selten mit Waffengewalt. Doch beim mittelalterlichen Helden sind die charakterisierenden Züge noch geringer: Gawein ist zur Diplomatie fähig; diese Charakterisierung ist gering und zudem abermals unter der Funktion des Idealrittertums zu subsumieren. Es bleiben also die Vorgeschichten. Bei Gawein finden sich Anspielungen auf ein nie vollständig auserzähltes Vergehen gegen eine Frau. Die Geschichte bleibt im Dunkeln und scheint nicht zwingend nötig, um seine heroische Identität herzustellen. Der Doctor hingegen hat (spätestens seit dem Start der ›Revived Series‹) ein dunkles Geheimnis in seiner Vergangenheit, das allmählich und über die Staffeln wie Darsteller hinweg aufgelöst wird: Er musste, um die Eskalation eines Kriegs abzuwenden, sein eigenes Volk der Timelords auslöschen. Dazu wurde er zum War Doctor, zur besagten dreizehnten Inkarnation, die aus der offiziellen Liste ebenso wie aus der Selbstwahrnehmung des Doctors verdrängt wurde. Hier ist das Kontinuität stiftende Narrativ also paradoxerweise eine (zu überwindende) Diskontinuität. Vergleichbar, aber noch weniger finalisierbar ist das alle Inkarnationen umfassende Namensnarrativ. Im Laufe der Serienhandlung hat sich schon eine ganze Religion um den geheimen Namen des Doctors gegründet. 61 Doch es ist wohl

61 In der siebten Staffel der ›Revived Series‹ (2013, Elfter Doctor) geht es um eine religiöse Bewegung namens ›The Silence‹, die dafür Sorge trägt, dass Stille herrschen wird, wenn die finale Frage gestellt wird. In der letzten Episode mit dem Titel The

WHOever I feel like | 169

recht sicher, dass auch in Zukunft die titelgebende Frage Doctor Who? unbeantwortet und damit ein Kontinuitätsnarrativ bleiben wird. So stellt die Geheimhaltung einer singulären Identität die serielle Identität her. Lediglich an diesen drei narrativen Aspekten (den Dingen, Charaktereigenschaften und Vorgeschichten) sieht man, was das mittelalterliche arthurische Erzählen alles nicht braucht, um dennoch heroische Identität zu generieren. Der TARDIS-Computer in Castrovalva behält also hinsichtlich des Erzählens recht, wenn er das Mittelalter als dwelling of simplicity beschreibt. Es ist eben diese Einfachheit der Identität, die dem verwandelten Doctor seine weitaus kompliziertere zurückgeben soll. Dabei sind sich die Schreiber der Serie stets bewusst, dass dieses simple Mittelalter nicht das Historisch-Wahre, sondern ein Konstrukt ahistorischer Einflüsse ist, seien es die Intrigen des Masters, die Pläne außerirdischer Roboter – oder eben die Projektion eines Bedürfnisses nach einem dwelling of simplicity, das bis heute die populäre, aber unter Umständen auch die wissenschaftliche Mittelalterwahrnehmung beherrscht. Der einfache Umgang mit Heldensignalen, ihre Minimierung auf das Allernötigste bei Beibehaltung der Identität, ist also auch nichts, was ein Echtes meint, sondern ebenfalls ein rekursiv abgeschlossenes Konstrukt, das der Wunsch nach einem alteritären Mittelalter als Gegengewicht zu einer als kompliziert empfundenen Gegenwart generiert.

Name of the Doctor wird klar, dass »Doctor Who?« eben diese finale Frage ist und ihre Beantwortung, also die Bekanntgabe des wirklichen Namens des Doctors, die gesamte Existenz gefährden würde; vgl. The Name oft he Doctor, Regie: Saul Metzstein, Drehbuch: Steven Moffat, Ausstrahlung: 18.05.2013, DVD: BBC Worldwide Ltd 2013.

Zum Umgang mit einem ungebetenen Gast 1 Der Held am französischen Königshof in der ›Bataille d’Aliscans‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach Florian Nieser

Wenn ein ungebetener Gast vor der eigenen Haustür steht, ist der erste Reflex – sofern möglich – die Tür verschlossen zu halten, vor allem wenn es sich dabei um einen bedrohlich aussehenden Hünen handelt. Irritierend muss es aber wirken, wenn er zunächst vom Fenster aus aufgrund seines Äußeren zuerst verspottet und anschließend mit dem Rat verabschiedet wird, er solle sich waschen und es am nächsten Tag wieder versuchen. Genau das geschieht jedoch, wenn der Markgraf Guillelme in der ›Bataille d’Aliscans‹ (BdA)2 – einem altfranzösischen Text aus der chansons-de-geste Tradition – am französischen Königshof einreitet. Zunächst erstarrt die Hofge-

1

Bei diesem Beitrag handelt es um eine komprimierte Darstellung der beiden Figuren Guillelme und Willehalm, die eine auf die Lesbarkeit dieser Figuren ausgerichtete Analyse exemplarisch nachzeichnen soll. Ausführlich wurde dieses Fallbeispiel sowie das zugrundeliegende Theoriegerüst zur ›Lesbarkeit von Helden‹ bereits hier diskutiert: Nieser, Florian: Die Lesbarkeit von Helden. Uneindeutige Zeichen in der ›Bataille d’Aliscans‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach, Berlin 2018.

2

Zitate aus dem altfranzösischen Text der ›Bataille d’Aliscans‹ werden aus der Handschrift M entnommen: La versione franco-italiana della »Bataille d’Aliscans«: Codex Marcianus fr. VIII [=252], hg. v. Günter Holtus, Tübingen 1985 (Beihefte zur ZfrPh 205). Die deutsche Übersetzung der Version M von Fritz Peter Knapp wird im Beitrag verwendet: Aliscans. Das altfranzösische Heldenepos nach der venezianischen Fassung M, eingel. u. übers. v. Fritz Peter Knapp, Berlin 2013. Im Haupttext wird diese Übersetzung mit dem Sigle ›BdA‹ verwendet und parallel dazu wird der altfranzösische Text in den Anmerkungen mitgeführt.

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sellschaft angesichts seiner imposanten Erscheinung vor Schrecken. Der offenbar gewaltige und einschüchternde Anblick des archaischen Helden auf Volatil – einem großen Pferd, das er einem getöteten Sarazenen abgenommen hat – wird mit Aussprüchen wie ›Teufel haben ihn so hoch hinaufgesetzt‹ (BdA 2521)3 in Worte zu fassen versucht. Niemand wagt es, ihn auf seinem Weg zum Thronsaal aufzuhalten. Dort angekommen findet der bisher ungestörte Einzug des hünenhaften Guillelme jedoch ein unerwartetes Ende. Von einem Fenster über dem Thronsaal aus empfängt ihn ein offenbar völlig unbeeindruckter französischer König – Loois – der ihn seine Ablehnung auch deutlich spüren lässt: ›Herr Guilleleme, sucht Euch eine Herberge! […] Gar zu ärmlich kommt Ihr, um am Hofleben teilzunehmen.‹ (BdA 2693; 2696)4 Der gewaltige Heros, vor dessen Anblick die Hofgesellschaft bisher den Blick senkte, wird nun von Loois der Lächerlichkeit preisgegeben, ausgerechnet in dem Moment, als Guillelme sein Schwert als Geste der Empörung über das ihm entgegengebrachte Verhalten und als Herrscherkritik auf seine Knie legt. 5 Für Loois ist er in diesem Moment kein ernstzunehmender Aggressor, sondern ein ärmlicher Reiter in Lumpen. Wie diese – wenn auch nur kurzzeitige – Degradierung des Heros zum Gespött des Hofs funktionieren kann, soll im ersten Teil dieses Beitrags untersucht werden. Der zweite Teil wird sich mit der Einzugsszene und Begrüßung Willehalms am französischen Königshof in Wolframs von Eschenbach ›Willehalm‹ befassen. Eine Version der BdA – sehr wahrscheinlich Version M, die im Folgenden als textliche Grundlage herangezogen wird – diente zusammen mit weiteren Texten des Guillaume-Zyklus Wolfram von Eschenbach als Vorlage für seinen ›Willehalm‹ (Wh).6 Im Vergleich beider Texte sind Abweichungen in einzelnen Handlungssequenzen, Ding- und Raumarrangements festzustellen, die in Wolframs Adaption des altfranzösischen Stoffs sinntragend sind. Daher wird solchen Abweichungen in den beiden Einzugsszenen des Markgrafen am Hof wie auch der jeweiligen semiotischen Codierung der Heldenfigur Bedeutung zugeschrieben werden.

3 4

BdA [Anm. 2] Dïable l’ont si aut fait encruchier. BdA [Anm. 2] Sirre Guillelmes, aleç vos auberger! / […] / trop pobrement veneç a cortïer.

5

Vgl. Knapp [Anm. 2], S. 131 Anm. 38.

6

Vgl. dazu Nieser [Anm. 1], S. 6 Anm. 32.

Zum Umgang mit einem ungebetenen Gast | 173

Ziel dieses Beitrags ist es, aufzuzeigen, dass die äußere Erscheinung Willehalms – als Ritter in fremder Rüstung auf einem unbekannten Pferd – in Wolframs Text eine sehr viel stärkere Rolle spielt als in der BdA, wobei Willehalms Einzug ebenso wie der Einzug Guillelmes vor den verschlossenen Toren des Thronsaals endet. Wolfram trägt Sorge dafür, dass seinem Protagonisten nicht dasselbe widerfährt wie dem Heros der Vorlage, wenn er seinen Willehalm in einer äußerst wertvollen Rüstung in Munleûn einziehen lässt, deren äußere Einzelzeichen keinerlei Zweifel am sozialen Rang des Unbekannten lassen. War der französische König Loois aus der BdA noch in der Lage, eine alternative Lesart des Heros Guillelme zu seinem Vorteil anzubieten und ihn auf der Basis dieser Lesart zurückzuweisen, so ist es im Kontrast dazu in Wolframs Text die Hofgesellschaft, die sich einer im Grunde eindeutigen Lesart Willehalms verweigert. Er wird als Fremdkörper am Hof isoliert und – wie zu zeigen sein wird – damit gleich mehrfach beleidigt. Während Guillelme offen zum Gespött gemacht und damit ins Lächerliche gezogen wird, erfährt Willehalm in Munleûn vor allem Missachtung. Diese soziale Ächtung im Wh muss dabei als ebenso große Schmach verstanden werden und kommt in der Wahrnehmung zeitgenössischer Rezipienten einer moralischen und sozialen Disqualifizierung der Hofgesellschaft gleich.

I.

DER RITTER IN LUMPEN

Guillelmes Ankunft am französischen Königshof in Laon weist zunächst Züge der Deeskalation auf. Der Markgraf trägt weder seinen Schild noch Ariofles doppellagige Halsberge – ein wichtiger Teil der Rüstung, der vor allem den Hals schützt. Ariofle war ein beinahe ebenbürtiger Kontrahent Guillelmes, den er erschlug und dessen Rüstung er sich aneignete. Diese hat Guillelme zuvor auf sein Pferd aufgeladen (BdA 2510). Guillelmes Gesicht ist klar erkennbar und wäre ein eindeutiges Identifikationsmerkmal, doch der erste Eindruck der Hofgesellschaft gilt dem gewaltigen Anblick der Gesamterscheinung des Reiters auf seinem Pferd. Mit Armin Schulz und der in seiner Erzähltheorie festgehaltenen »metonymische[n] Stellvertreterfunktion« des Reittiers für seinen Reiter, wird an dieser Stelle die Verbindung der animalischen Kraft mit der Stärke des heroischen Reiters im Sinne der »Mensch-Tier-Maschine«7 dem Rezipienten vor Augen gestellt, was direkt im Anschluss auch im Text bestätigt wird.

7

Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin 2012, S. 339.

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Die Größe des Pferds steht in unmittelbarer Verbindung mit der Größe seines Reiters (BdA 2520-2522).8 Guillelme bietet auf Ariofles Pferd Volatil eine bedrohliche Kulisse und so kann er unbehelligt vor den Thronsaal ziehen (BdA 2523-2525). Bis zu dessen Ankunft vor den verschlossenen Toren spielt die semiotische Codierung Guillelmes eine zentrale Rolle, da sie einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass der Einzug des beinahe Ungerüsteten in Laon zur (Selbst-)Inszenierung des überlegenen Heros wird. Guillelme benötigt angesichts eines derart in Schockstarre verfallenen Hofs keinerlei Verteidigungsmittel, wenn bereits sein bloßer Anblick die Hofgesellschaft dazu veranlasst, still den Blick zu senken (BdA 2572f.). Die ›Lesbarkeit‹ Guillelmes deklassiert den Hof als unterlegenen Kontrahenten und inszeniert ihn selbst bis zur Ankunft am Thronsaal in einer eindeutig überlegenen Position. Dort angekommen steigt er von Volatil ab (BdA 2525f.). Während der gesamten Einzugsszene spricht Guillelme dabei kein Wort, was im Wh in Verbindung mit der verweigerten Begrüßung des Markgrafen noch eine wichtige Rolle spielen wird. In der BdA verstärkt sein Schweigen seine bedrohliche Erscheinung zusätzlich (BdA 2523); offenbar gibt es für ihn keinen Grund, den Schrecken, den er bei der Hofgesellschaft hervorruft, mit Worten aufzulösen. Niemand wagt sich näher an den Heros heran (BdA 2548). Guillelmes archaische Erscheinung beherrscht die Hofgesellschaft und selbst der König bekreuzigt sich – mit Verena Barthel kann ihm Angst attestiert werden9 –, als er von einem Boten über den gewaltigen Helden vor seinem Thronsaal unterrichtet wird (BdA 2539). Dieser Botenbericht weist jedoch eine Besonderheit auf: Bislang war in der BdA eine individuelle Identifikation über äußere Einzelzeichen nicht von Relevanz, Erkennen gelingt bis zu diesem Zeitpunkt im Text primär über körpereigene Zeichen heroischer Exorbitanz.10 Im Botenbericht aber wird ein Einzelmerkmal gesondert hervorgehoben, ›ein schäbige[r] Mantel‹ (BdA 2566)11, den Guillelme trägt. Inmitten der Schilderungen zur Körperbeschaffenheit (starke Arme, mächtige Fäuste, weite Nasenflügel [vgl. BdA 2569f.]) wirkt die Beschreibung des zerschlissenen Mantels deplatziert – jedoch ist sie für den weiteren Textverlauf entscheidend.

8

Vgl. Verena Barthel: Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte am Beispiel des Willehalm-Stoffs, Berlin 2008 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 50 [284]), S. 153.

9

Ebd., S. 202: Die Zuschreibung von Angst stellt eine deutliche Abwertung einer Königsfigur dar.

10 Vgl. dazu Nieser [Anm. 1], S. 53f. 11 BdA [Anm.2] Si a vestu un malvés cinglaton.

Zum Umgang mit einem ungebetenen Gast | 175

König Loois schickt seinen Boten Sanson vor, um genauer in Erfahrung zu bringen, wer vor seinen Toren steht, welchen Namen er trägt und aus welchem Land er kommt (BdA 2574-2581). Eine asemiotische – gewissermaßen intuitive und von äußeren Einzelzeichen weitgehend gelöste – Identifikation des Heros Guillelme gelingt am Königshof offenbar nicht und die nun dominierende semiotisch ausgerichtete Erkennensmechanik verrät dem König noch zu wenig über den Krieger vor seinen Toren. Dabei muss an einem Königshof nicht zwangsläufig ein Wechsel des Erkennensmodus von asemiotisch zu semiotisch stattfinden. So kann im ›Nibelungenlied‹12 (NL) Siegfried am Wormser Hof wegen der Anwesenheit eines weiteren Heros (Hagen), der derselben heroischen Sphäre wie Siegfried zugeordnet ist, ohne Hilfe der äußeren Einzelzeichen mit Namen und Biographie identifiziert werden (NL 86). 13 In Laon jedoch ist Guillelme der einzige Heros am Hof und der Hofgesellschaft inklusive des Königs scheint eine derartige asemiotische Art der Identifikation unzugänglich zu sein. Aus diesem Grund wird der Bote Sanson vorgeschickt. Er begibt sich zu Guillelme und fragt ihn nach seiner Identität und der Absicht seines Erscheinens am Hof. Guillelme antwortet: ›Ich heiße Guillelme Kurznase, komme aus Orange und bin völlig erschöpft.‹ (BdA 2593f.)14 Über sein Anliegen schweigt er gegenüber Sanson, fügt jedoch hinzu: ›Sagt dem König – es wäre ein Übel, wolltet ihr es ihm verheimlichen –, daß ich arm und hilflos hierhergekommen bin. […] Zu mir möge seine mächtige Ritterschaft herauskommen. Dann werde ich erfahren, wie ich geliebt werde. In der Not wird der Freund erprobt.‹ (BdA 2604-2609)15

12 Angaben aus dem Text sind entnommen aus: Das Nibelungenlied. Übers. u. komm. v. Siegfried Grosse, hg. v. Karl Bartsch u. Helmut de Boor, Stuttgart 2007 (Reclams Universal-Bibliothek 644). 13 Vgl. dazu Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (MTU 135), S. 65. 14 BdA [Anm. 2] Je ai nom Guillelmes au cort neç / Si veing d’Orence, durement sui lassez.

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Der Markgraf nennt seinen Namen öffentlich und ab diesem Moment ist am Hof grundsätzlich bekannt, wer vor dem Thronsaal steht. Die Betonung seiner geringen materiellen Mittel stellt dabei eine indirekte Aufforderung zur Pflichterfüllung des Lehnsherrn dar, seinen Vasallen zu stützen. Da ein Großteil der Rolands- und Königsgesten (des Guillelme-Zyklus) von Herrschaftskritik durchzogen sind und von der Vernachlässigung feudaler Rechte sowie Undankbarkeit des Lehnsherrn gegenüber seinen Vasallen handeln,16 ist hier bereits zu erwarten, dass der Aufforderung des Grafen nicht ohne Widerstand nachgegeben wird. Doch wie verweigert man einem derart bedrohlichen Heros die Unterstützung ohne das Ende der eigenen Herrschaft zu riskieren? Die Bedingung, die erfüllt sein muss, damit der französische König dem Heros den Zutritt verweigern – ihn sogar verspotten kann – ist eine ›Depotenzierung‹ der Bedrohlichkeit Guillelmes. Daher soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass die Schwächung des Heros durch einen Wechsel der Identifikationsmechanismen erreicht wird, mit dem die äußeren Einzelzeichen ein weit höheres Gewicht erhalten als die einschüchternde körperliche Gesamterscheinung des Markgrafen. Der Bote Sanson berichtet Loois, dass er dem Markgrafen entgegengehen solle, was den König erzürnt (BdA 2616-2624). Um diese Reaktion einordnen zu können, muss Guillelmes Forderung als Forderung eines überlegenen Heros erkannt werden, der zudem die Hofgesellschaft als nicht ebenbürtige Kontrahenten deklassiert und den König ebenso behandelt. Würde Loois der Forderung nachkommen, käme das einer Bestätigung der von Guillelme inszenierten Überlegenheit gleich. Aus höfischer Perspektive wiederum ist Loois’ Verweigerungshaltung jedoch ein Verstoß gegen dessen Herrschaftspflichten, also der Verpflichtung eines Lehnsherrn gegenüber seinem Vasallen. Zur Entschärfung der Situation steigen Edeldamen und Ritter, die sich im Umfeld Guillelmes befinden, die Stufen vom Thronsaal hinab, um den Markgrafen zu begrüßen (BdA 2626f.).17 Noch bevor sie ihn erreichen, berichtet der Er-

15 BdA [Anm. 2] »Dites li roy, ja mel en dotereç, / qe je ving ci paubres et esgareç. / […] / Contre moy isent e ses riches berneç, / Lor(e) (je) saura je coment je sui ameç. / A la bisogne est amis esproveç.« 16 Vgl. Alfred Raucheisen: Orient und Abendland. Ethisch-moralische Aspekte in Wolframs Epen ›Parzival‹ und ›Willehalm‹, Frankfurt a.M. 1997 (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte 17), S. 46. 17 Diese Szene erinnert ebenfalls an die Begrüßung Siegfrieds durch Gunther als friedensstiftende Maßnahme, nachdem seine Identität von Hagen offengelegt wurde (NL 101-103.2f.): vgl. hierzu auch Corinna Dörrich: Poetik des Rituals. Konstruktion

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zähler, dass sie ihr Hab und Gut vor allem Guillelme zu verdanken haben (BdA 2628-33). Dabei hebt der Erzählerkommentar den materiellen Wert verschiedenster Einzelzeichen wie Pelze, Gewänder, Schwerter und Schilde hervor. Dieser Fokus auf Materialität wird im selben Moment auch zum dominierenden Aspekt in der Wahrnehmung der Hofgesellschaft: Waren es zuvor die heroische Kraft und bedrohliche Erscheinung, die den Hof vor Furcht zu Boden blicken ließen (BdA 2573), so richten sich die Blicke jetzt umso fester auf den Markgrafen und seiner auffälligen Kleidung (beschädigte Rüstung und schäbiger Mantel). Die Wirkung Guillelmes auf die ihn umgebenden Figuren verändert sich mit diesem veränderten Blickwinkel erheblich. Das Bild des gewaltigen Heros weicht dem des ärmlichen Markgrafen, der im materiell fokussierten Blick des Hofs nun als völlig unpassend gekleidet erscheint. Der Wandel des Betrachtungsmodus von archaisch-asemiotisch18 zu höfisch-semiotisch ermöglicht im weiteren Verlauf offenbar ein ›Ausblenden‹ der bisherigen Bedrohlichkeit des Helden bis hin zu dessen Verspottung. Fast angewidert weicht die ihm entgegenkommende Gesellschaft vor ihm zurück und verweigert ihm die Begrüßung (BdA 2634f.). Diese offen gezeigte Abwehrhaltung gegenüber Guillelme wirkt überraschend unverhältnismäßig und wird vom Erzähler dementsprechend verurteilt (BdA 2636-2639). Dieser von der Semiotik der Figur ausgehende Bruch mit ihrer heroischen Überlegenheit greift auf die Figurenkonstitution des Markgrafen über – er wirkt passiv und bricht in Klagen aus. Während seiner Klagerede legt er den erlittenen verwandtschaftlichen Verlust offen und berichtet, dass auch er starke Verwundungen aus der vergangenen Schlacht gegen die Sarazenen davongetragen habe (BdA 2645-2649). Er gibt einen detaillierten Bericht über die Situation in Orange, berichtet, dass seine Frau Guiborc um Hilfe bittet und fleht um das Erbarmen der Hofgesellschaft (BdA 2650-2659). Jedoch bleiben ihm die Anwesenden eine Antwort schuldig und kehren in den Thronsaal zurück (BdA 2661f.). Weder der erwähnte Verlust noch die Bedrohung des Grenzlandes oder gar die Bedrängnis Guiborcs scheinen von Interesse zu sein, sondern ausschließlich die Lesbarkeit Guillelmes als ›Ritter in Lumpen‹. Mit dieser an Materialität orien-

und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur, Darmstadt 2002, S. 57. 18 Damit ist die Asemiotik des heldenepischen Erkennens, so z.B. das Erkennen qua Körperhabitus oder die Zugehörigkeit zur selben heroischen Sphäre wie bei Hagen und Siegfried gemeint. Archaisch-heldenepisches Erkennen gelingt meist intuitiv und identifiziert den Träger anhand körperbezogener Zeichen individuell: vgl. dazu Schulz [Anm. 13], S. 181-203; 209-212; 217-219; 223-230.

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tierten Verurteilung des Markgrafen rückt der Erzähler den Hof in ein fragwürdiges Licht (BdA 2665-2669). Doch der Spott findet noch kein Ende. Erzürnt über die erfahrene Schmach verleiht Guillelme seiner Konfliktbereitschaft gestisch Ausdruck: Er setzt sich unter einen Baum und legt sein Schwert über seine Knie; eine typische Droh- und Empörergeste der chanson-de-gesteTradition,19 die seinen Zorn gegen die ihm zuteilgewordene Behandlung klar demonstriert.20 Dieser anklagende und auch bedrohliche Charakter ist jedoch primär nur dem Rezipienten zugänglich, denn am Hof bleibt die Geste nicht nur unberücksichtigt, sondern wird von weiterem Spott des Königs beantwortet. Kein Anzeichen der vorherigen Furcht (BdA 2617) vor dem Heros, der weiterhin bedrohlich und jetzt auch zornig vor den Toren sitzt, findet sich in den Worten, die Loois von oben herab an den Markgrafen richtet: ›Herr Guilleleme, sucht Euch eine Herberge! […] Gar zu ärmlich kommt Ihr, um am Hofleben teilzunehmen.‹

(BdA 2693.96)21

Guillelme reagiert auf diese Rangverletzung – schließlich solle er jetzt auch noch die Arbeit eines Pferdeknechts verrichten – endgültig im Modus des erzürnten Heros. Er droht dem König mit dem Tod durch sein Schwert, rollt die Augen, knirscht mit den Zähnen (BdA 2705f.; 2712-14) und indem er gestisch und verbal vom (an-)klagenden in den heroischen Modus ›zurückfindet‹, gewinnt er offenbar auch seine damit assoziierte bedrohliche Wirkung zurück (BdA 2720).

19 Knapp [Anm. 2], S.131 Anm. 38. 20 Anna Mühlherr hat die Möglichkeit, dass sich sein Schwert Joiose, das in der Karlstradition verankert ist, gegen den Karlsnachfolger Loois wenden kann, bereits näher untersucht. Die Verbindung von Joiose und Guillelme liegt darin, dass in dem Maße, in dem er an Souveränität einbüßt, das Schwert an Erhabenheit verliert, weswegen es auch im Moment der geringen Souveränität seines Trägers vor dem Thronsaal selbst zum Drohinstrument gegen den Karlsnachfolger werden kann: vgl. Anna Mühlherr: Helden und Schwerter. Durchschlagkraft und agency in heldenepischem Zusammenhang, in: narration and hero, hg. v. Heike Sahm u. Victor Millet, Berlin/Boston 2014 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 87), S. 272. Die ›Kraftlosigkeit‹ der Geste selbst ist wiederum verbunden mit dem materiell ausgerichteten Blick der Hofgesellschaft, in dem archaische Gesten offenbar ihr Wirkpotential einbüßen. 21 BdA [Anm. 2] Sirre Guillelmes, aleç vos auberger! / […] / trop pobrement veneç a cortïer.

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Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass zu keinem Moment der Eindruck entsteht, dass dieser Zorn angesichts der vorangegangenen Verspottung ungerechtfertigt sein könnte. Im Gegensatz dazu sind es die Hofgesellschaft und vor allem der König selbst, die wegen des Spotts in der Kritik stehen. Es kann bis hierhin festgehalten werden: Die Depotenzierung des Heros, die den Spott überhaupt erst ermöglichte, gelang mithilfe eines kurzzeitigen Wechsels im Bezugs- und Geltungssystem der Helden-Zeichen Guillelmes. Dieser Wechsel erzeugte eine Spannung zwischen körperlicher Präsenz des Heros und der materiellen Qualität seiner Kleidung. Die an Materialität orientierte alternative Lesart des Heros stellt also zumindest in der BdA eine stärkere Bedrohung für den Markgrafen dar als die Vielzahl an Wellen der angreifenden Sarazenen, die es im gesamten Text nicht schaffen, Guillelme derart in Bedrängnis zu bringen.

II. DER RITTER, DEN NIEMAND SEHEN MÖCHTE Im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach22 finden sich ebenfalls derartige Zusammenhänge und -spiele mit der Lesbarkeit des Markgrafen. Im Rahmen dieses Beitrags wird vor allem ein äußeres Merkmal näher betrachtet: Arofels Rüstung, in der Willehalm an den Hof reitet. Auf diese Weise können die Lesarten der äußeren Erscheinung Willehalms mit den zuvor aufgezeigten Lesarten Guillelmes in Bezug gesetzt werden. Im Wh sind die Ausgangsbedingungen für den Einritt Willehalms bereits modifiziert. Willehalm reitet an den Hof, um ein sieben Jahre lang nicht geleistetes Hilfsversprechen des Königs persönlich einzufordern (146,8ff.). Zudem findet am französischen Königshof in Munleûn eine große hôchgezîte (126,11) statt. Durch dieses neu eingeführte Hoffest ändern sich noch vor der Ankunft des Markgrafen die Bedingungen für eine Analyse der Lesbarkeit des einreitenden Willehalm, denn höfische Festakte sind von rituellen Verhaltenscodes und ritualisierter Kommunikation geprägt. Mit dem Erscheinen am Hof zu einer Festzeit bringt man den Konsens mit dem ranghöheren Gastgeber (in diesem Fall König Loys) zum Ausdruck und so ist umgekehrt die Abwesenheit ein Zeichen für

22 Wolframs Text wird nach Joachim Heinzles Edition zitiert: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt a.M. 2009 (Deutscher Klassiker Verlag TB 39).

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Spannungen im Verhältnis des Vasallen zu seinem Lehnsherren. 23 Auf diese Weise sollten Konflikte von diesen Festakten ferngehalten und Eskalationen weitestgehend vermieden werden.24 Vor diesem Kontext ist das Signal zu deuten, dass sich Willehalm trotz bereits bestehender Zerwürfnisse ›gerüstet‹ auf den Weg nach Munleûn macht. Zudem wurde der Markgraf nicht von Loys zur Feier an seinen Hof eingeladen. Er erfährt erst von seinem Bruder Ernalt, dass al die Franzoyser (121,18), damit auch vier seiner Brüder und seine Eltern (121,21.24) zum Hoffest geladen sind. Offenbar ist es dem französischen König daran gelegen, Willehalm aufgrund bereits bestehender Spannungen vom Hof fernzuhalten.25 Wolfram schafft mit dem Hoffest ein von Ritualen dominiertes Geschehen 26 am Königshof, das vor allem zur Konfliktvermeidung dient und Gewalt durch geregelte Abläufe zu »domestizieren« sucht.27 Basis der höfischen Freude während der hôchgezîte am Hof ist die »Identität der äußeren Zeichen mit der von ihnen repräsentierten inneren Haltung.«28 Sofern der Markgraf sich also nicht von vornherein um die Aussicht auf militärische Unterstützung bringen möchte, stehen ihm ausschließlich nichtkämpferische Mittel zur Verfügung. Er muss sich den rituellen Regeln zumindest in gewissem Maß beugen, um trotz des schwelenden Konflikts mit dem Herrscherhaus sein Anliegen überhaupt vorbringen zu können. Mit Blick auf die Einzugsszene ist festzuhalten, dass Willehalm zwar in Rüstung, aber ohne Arofels Schild am französischen Königshof ankommt. Das Rei-

23 Vgl. Gerd Althoff: Ungeschriebene Gesetze. Wie funktioniert Herrschaft ohne schriftlich fixierte Normen, in: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, hg. v. dems., Darmstadt 1997, S. 292. 24 Ebd., S. 296. 25 Kulturtheoretisch betrachtet sind die An- bzw. Abwesenheit bei derart strukturierten und ritualisierten Versammlungen stark bedeutungsgeladen: Vgl. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, mit einem Vorw. v. Edward E. Evans-Pitchard, aus d. Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1968 (Suhrkamp Theorie 1), S. 37: »Sich weigern, etwas zu geben, es versäumen, jemand einzuladen […] kommt einer Kriegserklärung gleich; es bedeutet die Freundschaft und die Gemeinschaft verweigern.« 26 Vgl. Dörrich [Anm. 17], S. 37. 27 Stephan Fuchs-Jolie: Gewalt – Text – Ritual. Performativität und Literarizität im ›König Rother‹, PBB 127 (2005), S. 188. 28 Dörrich [Anm. 17], S. 83.

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ten ohne Schild in Kombination mit dem Tragen der Rüstung besitzt eine für die Lesbarkeit des Markgrafen zentrale semiotische Aussagekraft: Ohne Schild kann Willehalm anhand des darauf befindlichen Wappens, das Herkunft und verwandtschaftliche Beziehungen offenlegen könnte, 29 nicht näher identifiziert werden. Er bleibt mit der Rüstung und dem unbekannten Pferd auch ein Unbekannter für den Hof. Er ist ausgehend von seiner Lesbarkeit bei seiner Ankunft klar abgetrennt vom Sozialverband des Hofs. Das Nichtführen eines mit dem eigenen Wappen versehenen Schilds hebt die äußere und damit für die Gesellschaft in Munleûn lesbare Markierung seines Exilstatus am Königshof hervor, den der Markgraf nach der nicht erfolgten Einladung zum Hoffest und der ausgebliebenen Hilfeleistungen innehat. Willehalms Einzug ohne Schild fasst diesen Sachverhalt für den Rezipienten klar ins Bild. Das Tragen einer Rüstung während eines Festtags entspricht keinesfalls der vorgeschriebenen Kleiderordnung und ist mit der vorherigen Weigerung Willehalms gegenüber seinem Bruder Ernalt, seine Kleidung zu wechseln (122,3-5), als eine bewusste Entscheidung zu werten. Willehalm trägt eine zerbeulte und beschädigte Rüstung – Zeichen einer geschlagenen Schlacht, die von der Hofgesellschaft als Hinweise auf ein Kriegsgeschehen wahrgenommen werden müssen.30 Für das Publikum am Hof muss nicht nur das Tragen der Rüstung, sondern auch ihre zimierde irritierend und fremdartig sein, denn ausgehend vom pazifizierten Zustand dieser Gesellschaft dürfte nichts irritierender sein als ein Zeichen »kriegerische[r] Bewährung«.31 Existierte in der BdA ein Spannungsverhältnis zwischen körperlicher Präsenz und Materialität, so öffnet Wolframs Text über die Materialität einen zweiten Spannungsbogen zwischen Ritualität/Ordnung und an der Rüstung ablesbarer Gewalt, die einen Ordnungsbruch ankündigt. Über den skizzierten Wahrnehmungshorizont der Hofgesellschaft hinaus weiß jedoch der Rezipient um die Entstehung des Großteils dieser Rüstungskerben. Die Rüs-

29 Wappenzeichen können genealogische Verbindungen sichtbar machen und vererbt werden: vgl. Heiko Hartmann: Heraldische Motive und ihre narrative Funktion in den Werken Wolframs von Eschenbach, Wolfram-Studien 17 (2002), S. 165. 30 Vgl. Christoph A. Kleppel: vremder bluomen underscheit. Erzählen von Fremdem in Wolframs ›Willehalm‹, Frankfurt a.M. 1996 (Mikrokosmos 45), S. 178 sowie Mareike Klein: Die Farben der Herrschaft. Imagination, Semantik und Poetologie in heldenepischen Texten des Mittelalters, Berlin 2014 (Literatur-Theorie-Geschichte 5), S. 170. 31 Jörn Reichel: Willehalm und die höfische Welt, Euphorion 69 (1975), S. 391. Vgl. dazu auch Peter Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt a.M./New York 1989, S. 26.

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tung steht in engem Zusammenhang mit ihrem Träger; selbst ihre Beschaffenheit ändert sich mit seiner ›Textbiographie‹ kontinuierlich:32 Seit der Inbesitznahme der Rüstung stammen ihre Beschädigungen aus unterschiedlichen Kämpfen, die alle aus dem missachteten sozialen Rang Willehalms als Ritter oder misslungener Identitätsübernahme (84,20-30) resultieren.33 Die Rüstung wird für den Rezipienten zum Distanzmarker zwischen Markgraf und Königshof:34 Willehalm reitet nicht nur im ›unpassenden‹ Kleidungsstil an den Hof, sondern er reitet in dem Schutzmantel nach Munleûn, der es ihm zuvor bereits ermöglichte, seinen sozialen Rang gegen Ignoranz seines Sozialstatus zu verteidigen – Willehalm rechnet offenbar mit weiteren Konflikten. Demzufolge sind das Zurücklassen des Schilds und das Tragen der Rüstung für die Rezipienten weit mehr als nur Merkmale von Fremdheit; sie sind klare Anzeichen

32 Vgl. dazu Klein [Anm. 30], S. 177. 33 Auf die einzelnen Episoden seiner Enttarnung in fremder Rüstung oder seiner respektlosen Behandlung als Kaufmann in Orléans kann hier nicht näher eingegangen werden, jedoch sei auf Matthias Herweg: Rois Lôîs in Wolframs ›Willehalm‹. Freispruch für einen epischen Antihelden, in: Vom Verstehen deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur, hg. v. Dorothea Klein, Würzburg 2011, S. 285-313, S. 287; Schulz [Anm. 13], S. 131f. sowie Nieser [Anm. 1], S. 60-65 und 79-89 hingewiesen. 34 Mit Mary Douglas’ Auffassung des lesbaren Körpers als eines sozialen Gebildes können die Rezipienten die Kerbung der Rüstung als Zeichen des Verkanntwordenseins nicht nur als Abgrenzung von der Hofgesellschaft, sondern auch als Kritik an ihr verstehen: »Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest«: Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, übers. v. Eberhard Bubser, Frankfurt a.M. 1974, S. 99. – Mark Chinca: Willehalm at Laon, in: Wolfram’s »Willehalm«. Fifteen essays, hg. v. Martin H. Jones u. Timothy Macfarland, Rochester/Woodbridge 2002, S. 84, sieht in der Rüstung den Aspekt mangelnder Bindung an den Hof und vice versa versinnbildlicht. Kathryn Starkey sieht in der Verletzung des Kleidungscodes Konfliktpotential: Fügt sich der Vasall beim Hoffest nicht dem vestimentären Code, so ist das gleichbedeutend mit einem Ablehnen der höfischen Ordnung, die damit verbunden ist: vgl. Kathryn Starkey: Androhung der Unordnung, ZfdPh 121 (2002), S. 331.

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der Abgrenzung35 zur Hofgesellschaft, die als intendierte Störung ihre irritierende wie auch provozierende Wirkung nicht verfehlen werden. Am Hof angekommen grüßt Willehalm die Hofgesellschaft nicht, wird aber auch von ihr nicht willkommen geheißen. Willehalms Zurückhaltung wird dabei wenig Beachtung geschenkt – wohingegen die Kontaktverweigerung der Hofgesellschaft vom Erzähler umso stärker hervorgehoben wirkt. Er betont, dass sich niemand anbiete, um sich um Volatin oder Willehalm zu kümmern: nâch sîme zoume niemen streit, daz er daz ors enpfienge. er rîte oder gienge, si waren zu orse od ze vuoz, dâ bôt im niemen keinen gruoz.

(126, 22-26)

Mit Blick auf die Lesbarkeit Willehalms zeugen seine äußere Zeichen – so müssen dies die zeitgenössischen Rezipienten jedenfalls lesen – stärker von einer selbstgewählten Abgrenzung zur Hofgesellschaft, als dass diese ihm Fremdartigkeit per Grußverweigerung aufzwinge.36 Selbstverständlich bleibt die verweigerte Begrüßung eine Schmähung des sozialen Rangs Willehalms, denn zumindest sein Status als Ritter ist schließlich anhand seiner – wenn auch unbekannten – Rüstung unzweifelhaft zu erkennen. Der Pferdedienst wird ihm verweigert, obwohl das Erscheinen in Rüstung zu einer Festzeit kein zwingendes Hindernis ist, den Gerüsteten seines Standes gemäß zu empfangen.37

35 Bumke sieht bereits in Arofels Rüstung den Beginn einer Selbstinszenierung und Isolation: vgl. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach, Stuttgart 2004, S. 341. Diese setzt sich mit dem Zurücklassen des Schilds als eines potentiellen Identifikationsmarkers fort. 36 So Reichel [Anm. 31], S. 389f. 37 Dies hat bereits Corinna Dörrich [Anm. 17], S. 80, mit ihrem Vergleich zum Empfang Kingrimursels am Artushof im Parzival aufgezeigt (Pz 320,5-13). Ohne Anstoß an der Rüstung zu nehmen, begrüßt ihn die Hofgesellschaft, als er die Kampfansage an Gawan überbringt. Wie Willehalm trägt er seinen Helm. Seinen Schild trägt er ebenfalls, jedoch sind die Wappen darauf wie er selbst unbekannt. Sein Empfang wird dadurch aber nicht verhindert. Dass er für die Hofgesellschaft ein gerüsteter Unbekannter ist, weist sich im Gegensatz zum Wh nicht als Grund für dessen Verkennen aus. Raucheisen zufolge erinnert Munleûn mit seiner weltfremden Feierstimmung an ein höfisches Versatzstück – ähnlich dem Artushof – innerhalb der epischen Realität des Wh; den

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Eine zentrale Rolle für das Scheitern der Begrüßung spielt Arofels Rüstung. Sie ist gleichzeitig lesbarer Repräsentant innerer Konflikte mit den Franzosen sowie Symbol für die äußere Bedrohung Frankreichs. Auf discours-Ebene38 ist sie ein klares Signal der Warnung an den frz. Königshof vor der Konfliktbereitschaft des Gerüsteten. Vom Tragen der Festkleidung – als integrierter Teil der Hofgesellschaft – und der damit verbundenen symbolischen Bestätigung des Königs ist der Markgraf in diesem Moment also weit entfernt. Eine gescheiterte Begrüßung bleibt aufgrund ihrer zentralen rituellkommunikativen Bedeutung am Hof nicht ohne Folgen. Begrüßungsrituale erfüllen mehrere, meist deeskalierende Funktionen: »Begrüßungen stehen im Dienst von Friedenssicherung, sie konstituieren soziale Beziehungen, sie bezeugen vriundschaft, […] sie bringen den spezifischen Werte- und Verhaltenskodex einer adligen Gemeinschaft zum Ausdruck […].«39 Ein ›gelingender‹ Gruß versichert auf beiden Seiten friedvolle Absichten, denn der reziproke Gruß ist ein zentrales Friedenszeichen, das potentielle Gewalt ausschließen soll. Ein Schweigen wiederum kann insbesondere dann als Kampfdrohung verstanden werden, wenn zudem Rüstung und Bewaffnung getragen werden, da der Gruß im Regelfall die von der Rüstung ausgesandte Botschaft dementiert. 40 Als »dezidiert höfisches Ritual« ist die Begrüßung Indikator kultivierter Form; und ein Scheitern markiert einen Makel der Hofgesellschaft, da ihr Verhalten als nicht der zuht und hövescheit des von ihr vertretenen sozialen Rangs angemessen erscheint.41 Begrüßungsrituale bestätigen über den eigenen Rang hinaus auch den des Ankommenden, weshalb ein misslingender Ablauf Konsequenzen für den Rang und das Ansehen der Hofgesellschaft und den Markgrafen mit sich bringt.42

Bogen vom Artushof zu Munleûn unter diesen Aspekten zu spannen, ist also möglich: vgl. Raucheisen [Anm. 16], S. 40. 38 Darunter wird hier die Ebene der Textoberfläche aufgefasst, die Handlungen mit teils »komplexe[r] Bedeutung« auflädt. Die histoire-Ebene bezeichnet diejenige der »bloße[n] Abstraktion des Interpreten« von der »Textoberfläche« und damit die Ebene der Figurenhandlungen und der »dargestellten Welt«: Schulz [Anm. 7], S. 17 u. S. 159161. 39 Vgl. Dörrich [Anm. 17], S. 63. 40 Ebd., S. 55. 41 Der Bezug zur zuht und hövescheit könnte einen Bezug zum NL besitzen, in dem bei Begrüßungsritualen diese Eigenschaften im Vordergrund stehen und als Standesmerkmal gelten (NL 1185,4; 1186,1): vgl. Dörrich [Anm. 17], S. 60f. 42 Ebd., S. 57.

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Der Erzähler nimmt im Kontext dieser gescheiterten Begrüßung auch Bezug auf die prekäre Lesart Guillelmes in der BdA und bringt sie mit dem mangelhaften Verhalten der Hofgesellschaft in Verbindung, wenn er von der wichtigen Verbindung semiotischer Zeichen der Rüstung und des an ihnen ablesbaren sozialen Status berichtet: Kristjâns43 einen alten timît im hât ze Munleûn an geleget: dâ mit er sîne tumpheit reget, swer sprichet sô nâch wâne.

(125,20-23)

In diesem Beitrag kann nicht näher auf die wohl gezielt falsche Angabe Chrétiens als Verfasser der BdA eingegangen werden, doch ruft dieser Kommentar mit Bezug auf den altfranzösischen Text die Degradierung Guillelmes in Erinnerung. Eine derartige Lesart des Markgrafen wie in der BdA steht der Hofgesellschaft in Munleûn nicht mehr zu Verfügung, denn Arofels Rüstung wird als äußerst prachtvoll beschrieben. Die Hofgesellschaft benötigt also einen neuen Reaktionsmodus – Ignoranz statt Spott. Willehalm wird von Beginn ein auffallend geringes Maß an (Be-)Achtung am Hof geschenkt. Die prachtvolle Rüstung Willehalms stellt dabei in Abgrenzung zur BdA sicher, dass der soziale Rang des Grafen prinzipiell erkennbar bleibt; somit könnte die Standesebenbürtigkeit Willehalms festgestellt werden und einem Gruß wie dem Entgegenkommen der Hofgesellschaft stünde nichts mehr im Wege. Die Anspielung auf den Mantel Guillelmes aus der BdA stellt mit Blick auf die Rüstung den wesentlichen Unterschied beider Einzugsszenen an dieser Stelle noch einmal klar heraus: Wurde Guillelme wegen eines schäbigen Mantels kurzerhand zu einem ›Reiter in Lumpen‹ herabgewürdigt, so wird Willehalm als überaus reich ausgestatteter Ritter schlichtweg ignoriert. Die Hofgesellschaft fürchtet den Markgrafen nicht, wie es in der BdA der Fall war, sondern sie meidet, missachtet und ignoriert ihn. Mit dem Erzählerkommentar dringt Kritik an der Hofgesellschaft an die Oberfläche, die sich im Umgang mit der Lesbarkeit Willehalms selbst disqualifiziert. Die Begegnung mit der Hofgesellschaft in

43 Der Erzähler verweist hier sehr wahrscheinlich auf Chrétien de Troyes als vermeintlichen Verfasser der BdA, wobei nicht davon ausgegangen wird, dass diese sachlich falsche Anspielung ein Irrtum Wolframs ist. Sie scheint nach Heinzle vor allem eine »Mystifikation […], wie sie ihm [Wolfram, F.N.], der im Pz ein groteskes Spiel der Berufung auf fingierte Quellen betreibt, wohl zuzutrauen ist.« Heinzle 2009, Stellenkommentar zu 125,20-23, S. 927f.

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Munleûn ist mehr als ein bloßes Misslingen eines Begrüßungsrituals – sie ist die bewusste Inszenierung des Gegenteils einer gelungenen Begrüßung: Es wird keine Gemeinschaft hergestellt oder konfliktvermeidend agiert; im Gegenteil endet Willehalms Einritt mit dessen Isolation vor dem Thronsaal.44 Willehalm erwidert mit seiner Grußverweigerung also die ablehnende Haltung des Hofs. Er ist somit nicht alleiniger Initiator der Spannungen, sondern reagiert auf die Ablehnung der Hofgesellschaft. Er lässt sich vor dem Thronsaal nieder (127,2). Der König erhält daraufhin Kunde von einem Mann vor seinen Toren: Er sei von einem schoenen kastelan abgestiegen und habe sich vor dem Saal niedergelassen (128,1-5). Trotz der erkennbaren Gesichtszüge wird im Botenbericht festgehalten, dass niemand den Markgrafen identifizieren könne (128,6f.). Wie in der BdA nimmt der weitere Verlauf des Botenberichts eine zentrale Rolle ein, wenn es um die entscheidende Lesart des Markgrafen geht. Der Bote spricht von einem rîter (128,27), dessen Herkunft unbekannt sei, der aber offenbar direkt aus einer Schlacht komme (128,23-29). Mit Armin Schulz ist der Status Willehalms damit grundsätzlich bekannt, da »Wahrnehmung als Voraussetzung des Erkennens bereits a priori durch soziale Vorannahmen restringiert«45 wird. Mit anderen Worten hat der Bote an Willehalms Rüstung erfolgreich abgelesen, dass dieser ein Ritter sein muss. Das bestätigt, was sich aus den bisherigen Feststellungen bereits schließen ließ: Die Rüstung ermöglicht ungeachtet ihrer Fremdheit grundsätzlich die Lesart Willehalms als Ritter – die ablehnende Haltung angesichts seiner Präsenz am Hof ist also nicht das notwendige Ergebnis einer ›fremden‹ Rüstung, die es den Betrachtern unmöglich machen würde, den Ankommenden gebührend zu empfangen oder dessen Standesebenbürtigkeit zu erkennen.46 Nach dem Botenbericht begibt sich das Königspaar selbst zum Fenster, um sich ein Bild von dem Unbekannten vor den Toren machen zu können.47 Als die

44 Dörrich [Anm. 17], S. 85. 45 Vgl. Schulz [Anm. 13], S. 218. 46 Entgegen Dörrichs Ansicht, dass er aufgrund seiner Rüstung und seines Saumzeugs nicht erkannt wird und sein Aussehen nicht auf einen Adligen schließen lässt: Dörrich [Anm. 17], S. 86. Christian Kiening: Reflexion – Narration. Wege zum »Willehalm« Wolframs von Eschenbach, Tübingen 1991, S. 104, geht davon aus, dass bereits das ursprüngliche Anlegen der Rüstung Arofels beim rêroup ein Akt der Selbstentfremdung sei, aufgrund dessen er schon zuvor in Orange nicht erkannt werde. 47 Vgl. Schulz [Anm. 13], S. 135. Die Begegnung Willehalms mit dem Boten Sanson bleibt aus, weswegen es keine Gelegenheit für den Markgrafen gibt, sein Anliegen

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Königin Willehalm erblickt, erkennt sie sofort ihren Bruder. Dabei werden keine Einzelmerkmale genannt, die zur Identifikation führen (129,20f.). Ihr ist der Grund seines Kommens unmittelbar bekannt: Er will um militärische Hilfe bitten, um seine von Sarazenen bedrohte Ehefrau Gyburg zu schützen (129,25-27). Die Tore bleiben Willehalm jedoch verschlossen und er verharrt – noch immer den Zaum des Pferds haltend – vor den Toren.

III. ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN In diesem Beitrag sollte exemplarisch die Bedeutung der Lesbarkeit von Heldenfiguren anhand der Einzugsszene des Markgrafen am französischen Königshof in der BdA und im Wh aufgezeigt werden. Die Lesbarkeit und vor allem die unterschiedlichen Lesarten des Markgrafen spielen in beiden Texten eine wichtige Rolle. Während der Spott im altfranzösischen Text aktiv herbeigeführt wird und sogar kurzzeitig eine ernstzunehmende Bedrohung für den Heros darstellt, ist im Wh eine nicht weniger beleidigende Passivität des Hofs und eine damit verbundene Verweigerung der Lesbarkeit des Markgrafen festzustellen. In beiden Fällen wird eines sehr deutlich: Der Markgraf ist ein ›ungebetener Gast‹. Die Mechanismen hinter Willehalms Lesbarkeit weisen eine komplexere Struktur auf als diejenigen hinter der Lesbarkeit Guillelmes, doch bleibt in beiden Fällen der Umgang mit deren Lesarten ein zentraler Aspekt. Die Identifikation Willehalms durch seine Schwester unterstreicht seine Rolle als ungebetener Gast, wenn er vom Unbekannten zum bekannten und unbequemen Bittsteller wird, dessen äußere Zeichen dem Hof klar vor Augen halten, dass das eigene Grenzlandland bedroht wird – nicht grundlos will der Markgraf um militärischen Beistand bitten. Aus der Perspektive des Hofs stellt die gewählte Lesart Willehalms als eines Unbekannten die letzte Möglichkeit dar, den friedvollen Status der Festzeit aufrecht zu erhalten, denn wirklich bedrohlich wird erst der identifizierte Bruder, der nur schwerlich ignoriert werden kann und der die ihm zustehende und lang verwehrte Hilfe einfordern will. Abschließend ist festzuhalten, dass Willehalms Körper – mit Christian Kiening gesprochen – in ein »Geflecht von Intentionen, Aktionen, Reaktionen […]«

vorzubringen oder sich öffentlich vorzustellen. So bleibt das ihn umgebende Schweigen und die damit einhergehende Isolation aufrechterhalten. Im Gegensatz zur BdA besteht die Kommunikation am Hof, vor dem Palas, aus rein visueller Interaktion mit non-verbalen und symbolischen Mitteln: vgl. Starkey [Anm. 34], S. 334f.

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eingebunden ist. Mit seiner komplexen Lesbarkeit werden auf Rezipientenebene ganze »Sinngeschichten« entfaltet, die hier exemplarisch anhand der Reaktion des Hofes demonstriert werden sollten.48 Dabei kann abschließend festgehalten werden, dass die Rolle des Hofes, sowohl in der BdA als auch im Wh über den dargestellten Umgang mit der Lesbarkeit des Markgrafen negativ besetzt ist. Diese negative Konnotation des Hofs entsteht dabei nicht über direkte Kritik des Erzählers, sondern indirekt über die vom Hof gewählten Lesarten der heldischen Zeichen, die den defizitären Umgang mit dem unbequemen Markgrafen bestimmen.

48 Vgl. Kiening, Christian: Wolframs politische Anthropologie im ›Willehalm‹, Wolfram-Studien 17 (2002), S. 274.

IV. Held, Kunst und Kanon

Leonidas als gezeichneter Held 1 Ästhetik der Selbst- und Fremdgewalt in Frank Millers ›300‹ Anna Pawlak

Auf dem letzten der fünf Umschläge von Frank Millers preisgekrönter ComicSerie ›300‹ erscheint 1998 eine auf den ersten Blick abstrakte Struktur, deren gestalterische Unbestimmbarkeit und sinnbildliche Ambiguität dem Rezipienten einen breiten Imaginationsraum eröffnet (Abb. 1).

Abbildung 1: Frank Miller, 300, Milwaukie 1998, Cover (5 of 5) 1

Der vorliegende Beitrag ist eine leicht überarbeitete und aktualisierte Fassung meines 2011 erschienenen Artikels: Leonidas zwischen Heldentod und medialer Auferstehung. Zur (De-) Konstruktion eines antiken Heroen in Film und Comic der Gegenwart, Kritische Berichte 1 (2011), S. 34-50.

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Die geradezu haptische Qualität der Farbmaterie, die mit schnellen, scheinbar unkontrollierten Pinselhieben aufgebracht wurde, lässt die dunkelroten Flecken und Spuren wie Verletzungen des Bildträgers wirken. Der Akt des Zeichnens respektive Malens entspricht hier im metaphorischen Sinne dem Traktieren einer lebendigen Hautoberfläche; der künstlerische Gestus transformiert symbolisch Farbe in Blut, dessen programmatische Funktion bei der Betrachtung der Gesamtkomposition sogleich offensichtlich wird. Ein spartanischer Helm aus Bronze schwebt seines Trägers beraubt im dunklen Nirgendwo des Blattes, während sich über ihm der Titel des Werkes aus geronnenem Blut formt. Das an den Thermopylen vergossene Blut der Spartaner, die 480 v. Chr. im Kampf gegen die persische Armee ihr Leben ließen, so die gleichermaßen plakative wie topische Botschaft der Titelseite, fungiert als eigentliches Erzählmittel des Comics und bildet im Verlauf der Serie ein an zentralen Stellen der Geschichte wiederkehrendes Motiv. Bereits in dieser titelbildenden Blutspur manifestiert sich nachdrücklich die Radikalität von Millers künstlerischer Interpretation nicht nur des antiken Schlachtgeschehens selbst als erbarmungslose Konfrontation zweier Kulturen, sondern allen voran der komplexen Hauptfigur seines Werkes Leonidas von Sparta. Während die Rezeptionsgeschichte der Thermopylen-Schlacht innerhalb bestimmter historischer Konstellationen bereits von der Geschichtsforschung untersucht wurde, blieb die Frage nach den historiographischen Entwürfen der Leonidas-Figur in den bildkünstlerischen Medien weitgehend unbeantwortet. 2 Den vorliegenden Überlegungen liegt die These zugrunde, dass gerade die Kunst und Populärkultur der letzten Jahrzehnte ein differenziertes Bild von Leonidas hervorbrachten, in dem nicht nur die Apotheose des Spartaners, sondern zugleich seine markant düstere und von heroischer Todessehnsucht erfüllte Weltanschauung thematisiert wird. Insbesondere die Gattung der Graphic Novel lotet dabei mittels genuin künstlerischer Verfahren ihr epistemisches Potenzial aus, um jene an der Antike orientierte moralische Tiefe und Undurchdringlichkeit einer im tragischen Konflikt gefangenen Figur zu reflektieren. Paradoxerweise verkörpert Leonidas in den modernen Interpretationen neben dem patriotischen Helden zugleich einen Antihelden, weil er unmenschlich und in letzter Konsequenz das eigene Wesen dekonstruierend nach dem ruhmreichen Tod strebt. Die bildimplizite Rhetorik von ›300‹ wird somit zum Träger eines ambivalenten Heldentums, das visuell von einer Ästhetik der Selbst- und Fremdgewalt getragen wird. Ausgehend von der historischen Konsolidierung des Leonidas-Mythos in den neu-

2

Anuschka Albertz: Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2006.

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zeitlichen Kunstmedien soll im Folgenden dieses signifikante Phänomen in Millers Werk analysiert und kulturgeschichtlich kontextualisiert werden.

I.

AMBIVALENTES HELDENTUM UND SEINE MEDIALEN CODIERUNGEN

In der Biographie eines Heros gibt es a priori keinen Platz für Unvermögen, doch jede seiner überlieferten Geschichten ist ein Produkt historischer Interpretationen der Nachwelt, ein – wenn man so will – exegetisches Konstrukt, in dem potenzielle Schwächen des Heldenanwärters bewältigt werden können. Im Prozess der Kanonisierung werden Defizite, die mit dem Status des Übermenschen nicht kompatibel sind, gänzlich verschwiegen oder wenigstens marginalisiert. Seltener, bei schwer gravierender Abweichung von der Heldennorm, wird der Schwachpunkt des Protagonisten umgedeutet und gleichsam im Zuge einer semantischen Verschiebung ins Positive verkehrt. 3 Innerhalb der jahrhundertelangen Konstruktion und Tradierung des Leonidas-Mythos scheint die Eloquenz als wichtige Eigenschaft des antiken Heros per se nicht unbedingt im Vordergrund zu stehen.4 Dies ist wenig überraschend, denn es hätte wohl einer enormen Instrumentalisierung der Geschichte bedurft, die üblichen Superlative, mit denen der König als virtutis exemplum stets bedacht wurde, auf seine Redekunst zu erweitern. Als rezeptionsrelevant haben sich dennoch einige prägnante Aussagen des Spartaners erwiesen, deren Wahrheitsgehalt in der historischen Literatur nach wie vor kritisch betrachtet wird. Unter anderem soll Leonidas in der Schicksalsschlacht an den Thermopylen auf die Aufforderung Königs Xerxes, die Hopliten sollten ihre Waffen niederlegen, in bester lakonischer Tradition den

3

Ein derartiges Konzept wäre bereits bei Siegfried im ›Nibelungenlied‹ zu beobachten und charakterisiert viele der modernen Superhelden, u. a. die Comicfigur Bruce Wayne, dessen panische Angst vor Fledermäusen ihn in einem Moment der Katharsis dazu veranlasst, die Gestalt des Ordnungshüters von Gotham City Batman anzunehmen. In diesem Zusammenhang sind ebenso zu nennen: der erblindete Anwalt Matt Murdock, der mit seinem gesteigerten Tast-, Hör- und Gleichgewichtssinn als Daredevil auftritt, sowie Hellboy, ein im Auftrag der Nazis beschworener Dämon, der mit übermenschlichen Fähigkeiten gegen okkulte Kreaturen kämpft.

4

Zur Rezeption eines antiken Heros als Exemplum der Eloquenz vgl. u. a. Wolfger A. Bulst: Hercules Gallicus, der Gott der Beredsamkeit. Lukians Ekphrasis als künstlerische Aufgabe des 16. Jahrhunderts in Deutschland, Frankreich und Italien, in: Visuelle Topoi, hg. v. Ulrich Pfisterer u. Max Seidel, München/Berlin 2003, S. 61-121.

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Persern geantwortet haben: »Molõn labe« (etwa: »Kommt und holt sie euch«). 5 Die antiken Autoren wie Herodot, Diodor oder Plutarch haben derartige Äußerungen des Herrschers, deren Grundtenor eine verbale Überbetonung des eigenen Mutes und die zynische Verspottung des Feindes war, immer wieder thematisiert.6 Leonidas wurde dabei ein Herrscherverständnis attestiert, dessen Grundlage nicht nur dynastische Verbindungen bildeten, sondern gleichermaßen der tiefe Glaube an die eigene Überlegenheit und damit letztlich seine Selbstwahrnehmung und Selbstbestimmung als Übermensch.7 Obschon einige der Berichte zu Teilen oder gar gänzlich der historiographischen Fiktion geschuldet sind, formten sie ein äußerst wirksames und nachhaltiges Bild des Spartaners: Ein schweigsamer, aber begnadeter Krieger, unbeugsam, mutig und den Gesetzen Spartas bis zum Ende treu. Das historische Exemplum der Tapferkeit und der Mythos des Opfertodes für das Vaterland waren kurz nach der ThermopylenSchlacht zwar geboren, doch nicht über jeden Zweifel erhaben. Die Frage, warum Leonidas fern der Heimat in aussichtsloser Lage unerbittlich gegen das gewaltige persische Heer kämpfte und damit sich und seine Soldaten in den sicheren Tod schickte, beschäftigt die Geschichtsforschung bis heute. 8 Herodot, vor genau jenes geschichtliche Rätsel gestellt, nennt drei Hauptmotive für den Verbleib der Spartiaten im Engpass: Erstens die spartanische Kriegerehre, die nicht erlaubte, bezogene Posten zu verlassen, zweitens den Spruch des Orakels von Delphi, das Sparta im Krieg gegen die Perser entweder den Untergang oder den Tod des Königs prophezeite, und drittens: Leonidas soll ganz bewusst im Hinblick auf seinen Nachruhm gehandelt haben. Der König schickte gegen Ende der Schlacht die griechischen Bundesgenossen weg, um den moralischen Sieg sich

5

Plutarch: Apophthegmata Laconica, Sayings of Spartans, in: Moralia, Bd. 3, übersetzt v. Frank Cole Babbitt, Cambridge, Mass./London 1999 (Orig. 1931), S. 349.

6

Vgl. ebd., S. 239-421; Diodorus of Sicily, IV (Books IX-XII), übersetzt v. Charles H. Oldfather, Cambridge, Mass./London 1970; Herodot: Historien, Buch VII. Vgl. Herodot: Historien. Griechisch – Deutsch, hg. v. Josef Feix, München 1964.

7

Unter den überlieferten Sätzen, die von Leonidas’ Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen zeugen, befinden sich ebenfalls einige, die das Verhältnis zu seinen eigenen Untertanen thematisieren. Diese ließ er z.B. laut Plutarch ohne falsche Bescheidenheit wissen: »Wenn ich nicht besser wäre als ihr, so wäre ich nicht König«: vgl. Plutarch [Anm. 5], S. 347.

8

Karl-Wilhelm Welwei schreibt dazu: »Kaum ein Ereignis der Kriegsgeschichte ist so oft und so kontrovers diskutiert worden wie der Kampf an den Thermopylen, der schon in der Antike von Legenden umrankt war.« Karl-Wilhelm Welwei: Sparta. Aufstieg und Untergang einer antiken Großmacht, Stuttgart 2004, S. 147.

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und seinen Kämpfern vorzubehalten.9 Durch die in der Prophezeiung formulierte Alternative zwischen dem Tod des Herrschers und der Vernichtung der Polis stand Leonidas vor einem Dilemma und erscheint vor diesem Hintergrund wie eine Figur der griechischen Tragödie. Eine Analogie bildet hier weniger das handlungsbestimmende Ringen um die richtige Entscheidung, sondern vielmehr ihre fatalen Folgen. Die schicksalhafte Verstrickung des Protagonisten, der nach dem vorgeschriebenen Muster trotz seiner Schuldlosigkeit stets schuldig ist, wird erst im und durch den Tod der Hauptfigur aufgelöst. Der klassische Konflikt führt jedoch im Fall des spartanischen Königs zu keinem inneren wie äußeren Zusammenbruch des Individuums. Denn obwohl die Gewissheit des nahenden Endes innerhalb des Rezeptionssystems zentral für die Konstituierung des Thermopylen-Mythos war, lässt sich anhand der überlieferten Quellen im Handeln des Spartaners kein moralischer Zweifel erkennen. Die bereits angedeutete Schweigsamkeit scheint mit der Undurchsichtigkeit seiner Gedanken einherzugehen und trug Wesentliches zur Stilisierung seiner Persönlichkeit bei. Von Anfang an, so kann an dieser Stelle festgehalten werden, stand deshalb der Apotheose von Leonidas die Ambivalenz seiner Heroentat gegenüber, und zwar deshalb, weil seine Entschlossenheit, mit allen seinen Hopliten zu sterben, eine unmenschliche, ja destruktive Seite des Heldentums offenbarte. In der historischen Rezeption seiner Person greifen somit zwei Konzepte ineinander, die in den visuellen Darstellungen kontinuierlich fokussiert wurden: Die patriotische Opferbereitschaft und die Selbstüberschreitung beziehungsweise Selbstaufgabe im Sinne einer zwanghaften Zerstörung des eigenen Wesens. Nach dem Untergang des weströmischen Reiches waren die Taten der Spartaner an den Thermopylen für mehrere Jahrhunderte in Vergessenheit geraten. Anuschka Albertz, die sich 2006 mit der Rezeptionsgeschichte der Schlacht intensiv auseinandersetzte, führt diese Tatsache in erster Linie auf die äußerst eingeschränkte Überlieferungslage zurück. 10 Erst im 15. Jahrhundert standen die entsprechenden griechischen Werke der antiken Geschichtsschreibung wieder zur Verfügung und obwohl dieser Umstand kein besonderes Interesse an der Schlacht erwecken konnte, sind genau in dieser Zeit die ersten nachantiken Darstellungen von Leonidas entstanden, unter anderem Peruginos um 1500 geschaffenes Fresko, das den nachdenklichen Leonidas in einer antikisierenden Rüstung als Sinnbild der das Vaterland verteidigenden Tugend Fortitudo zeigt.11

9

Herodot [Anm. 6].

10 Albertz [Anm. 2], S. 110-123. 11 In der Mitte der Komposition zwischen Horatius Cocles und Lucius Sicinius dargestellt, zieht der äußerst nachdenklich wirkende Spartiat das Schwert mit einer ge-

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Die geradezu topisch gewordene Opferbereitschaft des spartanischen Königs und die Melancholie der Todesgewissheit sind auch die Themen der wohl berühmtesten frühneuzeitlichen Darstellung Leonidas’ an den Thermopylen von JacquesLouis David (Abb. 2).12

Abbildung 2 : Jacques-Louis David, Léonidas aux Thermopyles, 1814, Öl auf Leinwand, 395 x 531 cm, Paris, Musée du Louvre schmeidigen Bewegung aus der Scheide. Die zu der Darstellung zugehörige Inschrift belehrt den Rezipienten, indem sie ihm eröffnet, dass die dargestellten Männer Exempla dafür seien, dass Fortitudo immer siegreich sei und sich als Verteidigerin des Vaterlandes vor nichts fürchte, auch nicht vor dem Tod. Da jedoch sowohl Cocles als auch Sicinius bewegungslos ihre Waffen halten und in sich zu ruhen scheinen, wird nur Leonidas als derjenige Held der antiken Geschichte geschildert, dessen aktive Geste die kompromisslose patriotische Haltung ganz nachdrücklich visualisiert. Die Inschrift lautet: »CEDERE CVNCTAMEIS PVLSA / ET DISIECTA LACERTIS / MAGNA SATIS FVERINT / TRES DOCVUMENTA VIRI / NILEGO PRO PATRIA TIMEO / CHARISQVE PROPINQVIS. / QVAEQVE ALIOS TERRET / MORS MIHI GRATA VENIT.« Zitiert nach Steffi Roettgen: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien, Bd. 2, München 1997, S. 461. Vgl. auch Albertz [Anm. 2], S. 121. 12 Vgl. u. a. Martin Kemp: J.-L. David and the prelude to a moral victory for Sparta, The Art Bulletin 51 (1969), S. 205-213; Nina Athanassoglou-Kallmyer: Under the Sign of Leonidas. The Political and Ideological Fortune of David’s Leonidas at Thermopylae under Restoration, The Art Bulletin 63,4 (1981), S. 633-649; Thomas Gaehtgens: Jacques-Louis David. Leonidas bei den Thermopylen, in: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert, hg. v. Herbert Beck, Peter Bol u. Eva Maek-Gérard, Berlin 1984, S. 211-251.

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Das 1814 fertiggestellte Gemälde zeigt laut den zeitgenössischen Beschreibungen den Augenblick, in dem die Soldaten zu den Waffen gerufen werden, um gegen die von Xerxes angeführten Perser ein letztes Mal anzutreten. Einige von ihnen formieren sich bereits zu einer Phalanx, andere greifen erst nach den Waffen oder opfern an dem Altar des Herkules. Besitzen diese Elemente der Komposition keine eindeutigen Hinweise auf den baldigen Tod der Hopliten, sind andere umso unmissverständlicher. Ein Blinder wird von links herangeführt, um mit seinen Kameraden im Kampf zu sterben, ein Vater nimmt Abschied von seinem Sohn und einer der Krieger ist den Felsen hinaufgestiegen, um mit dem Griff seines Schwertes das berühmte Epigramm von Simonides in der Überlieferung Herodots in die Felswand zu schlagen.13 Die konzeptuelle Essenz des Bildes verkörpert der im exakten Zentrum der Komposition dargestellte Leonidas. Als Einziger ist er dem Betrachter mit seinem idealisierten Körper vollständig zugewandt. Seine heroische Nacktheit konserviert geradezu das Kriegerideal, dessen Entschlossenheit das blanke Schwert in der Rechten sowie der Schild und Speer in der Linken versinnbildlichen. Die Waffen stehen symbolisch für das kommende Blutvergießen und fungieren damit als Zeichen der Gewalt. Die Pose des Spartiaten zwischen Sitzen und SichErheben ist dabei von einer gewissen Ambiguität gekennzeichnet. Während das gezückte Schwert den Kampf im nächsten Augenblick impliziert, scheint er geistig abwesend zu sein. Seine Augen sind gen Himmel gerichtet und weisen trotz seiner Regungslosigkeit auf starke innere Affekte hin, die mit der Gewissheit des Todes einhergehen. Die bevorstehende Schlacht wird damit zum heroischen Akt der Selbstüberschreitung und einer regelrechten Demontage menschlicher Regungen. Für Angst, Mitleid oder Zweifel – so evoziert es die Darstellung – gibt es im Dienste einer höheren Sache keinen Platz. Das letzte Aufbäumen dieser Gefühle bei ihrer gleichzeitigen Beherrschung und mentalen Auslöschung durch den Helden hat David in der melancholischen Figur des Königs programmatisch zum Ausdruck gebracht, die er selbst mit folgenden Worten beschrieb: »Ich will jenes tiefe, große und religiöse Gefühl charakterisieren, das von der Vaterlandsliebe eingegeben wird. Deshalb muss ich alle Leidenschaften verbannen. Mein Leonidas wird ruhig sein, er wird mit sanfter Freude an den glorreichen Tod denken, der ihn und seine Waffenbrüder erwartet«. 14 Bei Davids Gemälde wird die Modellhaftigkeit der antiken Schlacht im Kontext des neuzeitlichen politischen Totenkultes greifbar, welche als historischer

13 »Fremder, verkünde den Lakedaimoniern, dass wir hier liegen, ihren Befehlen gehorchend«, Abschrift nach Albertz [Anm. 2], S. 127. Vgl. auch Kemp [Anm. 12], S. 179. 14 Antoine Schnapper: J.-L. David und seine Zeit, Würzburg 1981, S. 200.

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Beweis fungierte, dass selbst im Falle einer Niederlage den Gefallenen in der Geschichte gedacht wird.15 Wie wirkmächtig das Thermopylen-Exemplum in der Zeit der Herausbildung der Nationalstaaten war und wie stark es mit den Begriffen der Freiheit und Ehre assoziiert wurde, beweist nachdrücklich der 1821 beginnende griechische Unabhängigkeitskrieg, in dem sich die Hellenen als legitime Erben Leonidas’ bezeichneten.16 Von den politischen Kämpfen zwischen den Liberalen und Royalisten im Frankreich der Revolutionszeit über die Propaganda des Ersten und Zweiten Weltkrieges, welche sowohl das ThermopylenGeschehen selbst als auch seine historische Wahrnehmung bis heute kontaminierte, wurde Leonidas in unterschiedlichen politischen Kontexten bis ins 20. Jahrhundert hinein kontinuierlich instrumentalisiert.17 Der regelrechte ›Missbrauch‹ seiner Person in den Plakaten und Zeitungsillustrationen während des Zweiten Weltkrieges war ein gesamteuropäisches Phänomen und führte nach dessen Ende hauptsächlich in Deutschland zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte der Schlacht, insbesondere zu einer scharfen Ablehnung ihrer nationalistischen und militaristischen Deutung; eine Kritik wie sie in den USA in dieser Form – und das zeigt Frank Millers Umgang mit dem antiken Stoff deutlich – nicht zu beobachten war. Die ununterbrochene mediale Kontinuität der Heldenverehrung belegt u.a. der 1962, inmitten des Kalten Krieges gedrehte Film Rudolph Matés’ ›The 300 Spartans‹, der mit seinem redundant um Freiheit und Einigkeit der westlichen Welt kreisenden Vokabular unübersehbar auf die brisante politische Situation der Zeit anspielt. Matés’, vorsichtig ausgedrückt, etwas eindimensionale, weil rhetorisch minimalistische Figur des Leonidas hat sich jedenfalls nicht nachhaltig in die Kinematographiegeschichte eingeschrieben, der Film ist heutzutage praktisch in Vergessenheit geraten. Vermutlich nicht nur deshalb, weil andere Protagonisten des historischen Monumentalfilms – wie etwa Alexander der Große – dem Betrachter eine attraktivere Identifikationsfläche boten, sondern vor allem, weil mit dem Aufkommen der Superhelden-Comics seit den 1930er Jahren und deren ersten Verfilmungen ab den 1950er Jahren dem breiten Publikum alternative Partizipationsmodelle jenseits historischer Rezeptionszwänge zur Verfügung standen. Vor diesem Hintergrund liegt der anhaltende Erfolg von Frank Millers ›300‹ gerade in der neuarti-

15 Albertz [Anm. 2], S. 124-144. 16 Vgl. Ekaterini Kepetzis: Familien im Krieg – Zum griechischen Freiheitskampf in der französischen Malerei der 1820er Jahre, in: Graecomania. Der europäische Philhellenismus, hg. v. Gilbert Heß, Elena Agazzi u. Elisabeth Décultot, Berlin 2009, S. 133170 und Athanassoglou-Kallmyer [Anm. 12], S. 633-649. 17 Vgl. Albertz [Anm. 2], S. 145-308.

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gen visuellen Subsumierung tradierter Vorstellungen von Leonidas als ambivalenten Helden mit dem in den Superhelden-Comics erprobten Konzept der menschlichen Außerordentlichkeit begründet. Insbesondere im Hinblick auf die seit den 1980er Jahren zunehmende Infragestellung des klassischen Superheldencharakters und dessen makellosen Handlungsethos – an dieser Stelle sei nur auf ›Watchmen‹ oder ›V for Vendetta‹ verwiesen – scheint Miller mit seiner Graphic Novel den Nerv der Zeit getroffen zu haben.

II. LEONIDAS IM ZEICHEN ÄSTHETISCHER DEKONSTRUKTION Die Beschäftigung Frank Millers mit der Figur des spartanischen Königs begann 1991/92, als er an seinem wohl bekanntesten Werk ›Sin City‹ arbeitete.18 Im dritten Band des einflussreichen Comics mit dem Titel ›Das große Sterben‹ taucht die Geschichte der dreihundert Spartaner, obwohl sie mit der eigentlichen Erzählung nicht verbunden ist, zu Beginn des fünften Kapitels als Paradebeispiel für die sorgsame Wahl des Kampfschauplatzes auf (Abb. 3).19

Abbildung 3: Frank Miller, Sin City: The Big Fat Kill, Milwaukie 1994/95.

18 Frank Miller: Sin City, Bd. 1-7, Milwaukie 1991-2000. 19 Frank Miller: Sin City: The Big Fat Kill, Bd. 3, Milwaukie 1995.

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Miller gab erst über ein Jahrzehnt später in einem Interview zu, dass diese Anspielung dafür sorgen sollte, dass sich kein anderer Comickünstler dem Thema widmet, da er mit den Vorbereitungen zu ›300‹ (Abb. 4) bereits begonnen hatte.20

Abbildung 4: Frank Miller, 300, First Hardcover Edition, Milwaukie 1999, Cover. Nicht ohne Pathos betonte der Zeichner mehrmals, dass die antike Überlieferung der Schlacht die beste Geschichte war, mit der er sich kreativ auseinandersetzen durfte, und verwies immer wieder auf Matés’ ›The 300 Spartans‹ als eine der zentralen Inspirationsquellen.21 Bis heute unerwähnt blieb erstaunlicherweise der Hinweis auf die Comicversion des Films, die 1963 erschienen war und deren Kenntnis durch Miller im Zuge seiner umfassenden Recherchen vorausgesetzt werden kann. Im Kontext des Gesamtwerkes des Zeichners, der seine Comics in

20 Vgl. Interview mit UGO: UGO: »There’s a scene in The Big Fat Kill, which you created prior to 300, that was inspired by the Hot Gates as well. FRANK: I put that scene in The Big Fat Kill referencing the Hot Gates the way a dog marks his territory. To make sure nobody else would touch this story. I knew 300 would be my next book and I was just beginning the research.« URL: http://www.ugo.com/ugo/html/article/?id=16424§ionId=106 (Aufrufdatum: 8.4. 2019). 21 Interview mit UGO [Anm. 20].

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Anlehnung an den Film noir im düsteren Schwarzweiß-Stil mit extremen Kontrasten wiedergibt, ist die Faszination für Leonidas wenig überraschend, hatte er doch bereits mit ›Daredevil‹ oder ›Batman‹ bedeutende, markant düstere Neudefinitionen etablierter Superheldenfiguren geschaffen. Die komplexen Handlungen seiner Werke kreisen stets um Protagonisten, deren negative Züge wie Zynismus, Sarkasmus, Schwermut und vor allem Gewalttätigkeit explizit herausgearbeitet werden. An die Stelle strahlender Helden treten bei Miller schwer gezeichnete, oft verbitterte Außenseiter, die sich in erbarmungslosen psychologischen wie physischen Kämpfen behaupten und nicht selten für den Sieg mit dem eigenen Leben bezahlen. Unter solchen Figuren im Werk von Miller kommt dem gealterten Batman aus ›The Dark Knight Returns‹ (1986), der von den Bewohnern Gothams nicht mehr als Ordnungshüter, sondern als gejagter Verbrecher wahrgenommen wird, eine besondere Bedeutung zu. Diese reuelose Gestalt zeigt soziopathische Züge und übt brutale Selbstjustiz aus, um eigene fragwürdige Moralvorstellungen durchzusetzen.22 Bei der Konzeption der Leonidas-Figur in ›300‹ kombinierte Miller die negative Seite des Heldencharakters seines Batman mit dem kompromisslosen Ehrenkodex Ronins, eines seiner ersten Comic-Protagonisten. Diese 1983 entstandene Figur eines namenlosen Samurai, der geschworen hatte, seinen ermordeten Lehnsherren Ozaki zu rächen, strebt nach einem ehrenvollen Tod und wählt letztlich, um seine Pflicht zu erfüllen, den Freitod durch Seppuku; 23 die Analogie zu Leonidas’ tradierter Todesbereitschaft ist hier unübersehbar. Ehre und Ruhm sind auch diejenigen Begriffe, die gleich zu Beginn von ›300‹ fallen, um dem Leser während des Marsches der Hopliten in Richtung Thermopylen-Engpass das spartanische Weltbild eindrücklich zu vermitteln: »We march. From dear Lakonia... From sacred Sparta... We march. For honor’s sake... For glory’s sake... We march.«24 Dieses bereits zu Beginn der Graphic Novel formulierte Streben nach Ruhm in einer schweren politischen Krise sollte, wie Miller sagte, seiner eigenen Vorstellung der komplexen spartanischen Kultur Ausdruck verleihen.25 Der moralische Ausnahmezustand der Hopliten findet dabei seine visuelle Umsetzung in der atmosphärischen Gestaltung der jeweiligen Seiten, die bisweilen an großformatige Historiengemälde erinnern: Dunkle Wolken vor einer stets verdeckten Sonne, Finsternis der Nacht und peitschender Re-

22 Vgl. Lars Banhold: Batman. Konstruktion eines Helden, Bochum 2008. 23 Frank Miller: Ronin, Bd. 1-6, New York 1983-1984. 24 Frank Miller: 300, First Hardcover Edition, Milwaukie 1999, Blatt 2-4, o. P. 25 Vgl. Frank Miller’s Kommentar zum Film von Snyder. Zack Snyder, 300, Film/DVDROM, 112:00, 2007, Disk 2, Specials.

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gen eines heftigen Gewitters, all das wird meist in eigentümlichen Schwarz-, Grau- und Brauntönen gehalten, welche die Natur als fundamentalen Teil des bildlich konfigurierten Untergangspathos erscheinen lässt (Abb. 5).

Abbildung 5: Frank Miller, 300, First Hardcover Edition, Milwaukie 1999, Blatt 56, o. P.

Die Unwirklichkeit der düsteren Atmosphäre markiert zusätzlich die ästhetische Grenze zum Rezipienten, dessen zunehmende Befremdung und Irritation in Anbetracht gnadenloser Rituale der Spartaner und deren stetiger Selbstbestimmung als perfekte Kämpfer eine von Miller bewusst provozierte emotionale Reaktion darstellt. Paradigmatisch ist dabei, dass der Leser seine steigende Fassungslosigkeit angesichts der spartanischen Lebensauffassung nicht nur mit den Persern teilt, sondern auch mit den griechischen Bundesgenossen der Hopliten: Niemand, so impliziert es die Erzählung, ist im Stande, ihre Beweggründe und Entscheidungen nachzuvollziehen, da diese keiner klar erkennbaren politischen oder strategischen Logik folgen. Symptomatisch in diesem Kontext ist die kurze Begegnung von Leonidas mit einem persischen Gesandten im ersten Kapitel: Die Verhandlungen finden ein jähes Ende als der Bote entgegen allen diplomatischen Gepflogenheiten mit dem Tode bedroht wird. Den verzweifelten Worten des Boten, dies sei Blasphemie und Wahnsinn, setzt Leonidas lediglich entgegen: »This is Sparta« und stößt ihn mit einem heftigen Tritt vom Rand eines Brunnens. Es ist auch jener Wahnsinn, mit dem die befremdlicherweise kaum bekleideten Hopliten später drei Tage lang der persischen Übermacht trotzen und am En-

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de nur durch einen Verrat besiegt werden können. Ihre Zuversicht beziehen sie daraus, dass sie nicht nur die beste Kampftechnik beherrschen, sondern vor allem, weil sie keine Angst und, das wichtigste, keinen Zweifel kennen. Spartiaten, so verkündet es stolz der Erzähler, weichen niemals zurück, machen nie Gefangene und haben keine Gnade – sie töten erbarmungslos und tun damit das, wozu sie ausgebildet, gezeugt und geboren wurden.26 Leonidas und seine Elitesoldaten sind in Millers Comic nichts anderes als ein menschliches Produkt einer den Militarismus verherrlichenden Kultur, ein Faktum, mit dem sich der Leser, oszillierend zwischen dem ästhetischen Reiz der Zeichnungen und der moralischen Abneigung, mental auseinandersetzen muss. Am signifikantesten manifestiert sich diese konzeptuelle Eigenart des Werkes in dem die Narration bestimmenden Handlungsparadox: Die griechischen Krieger, die selbst in ihrem geradezu manischen Körperkult und Aberglauben Vertreter einer archaisch brutalen Gesellschaft sind, sollen angesichts der persischen Invasion für Vernunft und Freiheit kämpfen, um Griechenland vor der Sklaverei zu bewahren. Die Grausamkeit, mit der sie den Persern begegnen, unterscheidet sich letztlich nicht von dem erbarmungslosen Umgang untereinander. Der junge Hoplit Stelios wird beispielsweise fast totgeschlagen, weil er am Ende des dreitägigen Marsches kurz ohnmächtig wurde. Seine Errettung verdankt er einzig dem Eingreifen des Königs, der den Hauptmann auffordert, die Schindung des Stelios zu beenden. Als dieser dem Befehl nicht sofort Folge leistet, wird er selbst zum Opfer brutaler Gewalt, indem ihn Leonidas mit einem Schlag niederstreckt. Der einzige Kommentar des Erzählers an dieser Stelle lautet: »He [Leonidas] does not repeat the order.«27 Die ausgeprägten Licht- und Schattenspiele der Zeichnungen, deren Dramatik durch die Kolorierung zusätzlich gesteigert wurde, und die zahlreichen Sprachmetaphern verweisen ebenso auf die Doppeldeutigkeit der Narration. Überdeutlich wird der Zweifel am Spartanismus vor allem in der skrupellosen Figur des Leonidas, dessen Antrieb, die besten Männer in die aussichtslose Schlacht zu führen, von einer grenzenlosen heroischen Todessehnsucht geleitet wird. Im Comic wird Xerxes zu Leonidas’ Bestimmung; auf ihn, so impliziert es das Zusammenspiel von Bild und Text, hat er sein Leben lang gewartet, um als Held zu sterben. So wird bereits während des Marsches der innere Zustand des Königs geschildert, der sich schlaflos nach der blutigen Konfrontation sehnt: »Restless. Frustrated. All his fifty years have been a straight road to this one gleaming moment of destiny... This one radiant clash of shield and spear and

26 Miller [Anm. 24], Blatt 49, o. P. 27 Ebd., Blatt 6-7, o. P.

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sword and bone and flesh and blood. [...] And though he leads his precious three hundred to certain death... His only regret is that he has so few to sacrifice.« 28 Der König weiß natürlich von Beginn an, dass er mit all seinen Soldaten im Kampf sterben wird, seine Entscheidung ist weder widerrufbar noch verhandelbar und wird den Hopliten als Faktum mitgeteilt. Auf die Ansage zum selbstmörderischen Kampf entgegnet Stelios gegen Ende der Geschichte »We’re with you, Sir. To the death« und erntet sogleich den zynischen Spott des Königs, der ihm antwortet, dass dies keine Bitte sei und er die Demokratie den Athenern überlassen würde.29 Von seinen Spartiaten, die ihm bedingungslos gehorsam sind, wird er an einigen Stellen des Comics als großer Krieger verherrlicht, der von den Göttern geschaffen wurde und dessen Bewegungen vollendet seien.30 Der Übermensch Leonidas ist bereits zu Lebzeiten eine Legende, welche mit dem moralischen Sieg an den Thermopylen endgültig begründet werden soll. Er selbst bezeichnet seine Soldaten als junge Narren, die vergeblich glauben, in der aussichtslosen Lage gegen die persische Übermacht bestehen zu können. Vielleicht deshalb sucht der melancholische, von »bitterer Heiterkeit« erfüllte Leonidas, der oft in den sehr dunklen Darstellungen einer Schattenfigur ähnelt (Abb. 6), stets die Einsamkeit und nimmt nur am Rande die Freuden und Hoffnungen seiner Hopliten wahr, ohne sie mit ihnen zu teilen.

Abbildung 6: Frank Miller, 300, First Hardcover Edition, Milwaukie 1999, Blatt 28, o. P.

28 Ebd., Blatt 16, o. P. 29 Ebd., Blatt 64, o. P. 30 Ebd., Blatt 8 u. 9, o. P.

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Das letzte Kapitel von Millers Werk trägt den Titel ›Victory‹, und obwohl die Spartaner von hunderten persischen Pfeilen getroffen leblos zu Boden sinken, freut sich ihr König. Sein verstörendes Verhalten im Augenblick des Todes bestätigt für den Erzähler die göttliche, auf Herkules zurückgehende Abstammung der Spartiaten: »The old ones claim we Spartans descend from Herakles himself. Bold Leonidas gives testament to our bloodline. His roar is long and loud and full of laughter. Staring death square in the eye… He laughs.«31 Die gegensätzlichen Motive, die Leonidas definieren, der zugleich einen patriotischen Helden wie unmenschlichen Antihelden in sich vereint, geben der Figur einen dunklen, zerstörerischen Charakterzug. Gewaltvoll und ohne Rücksicht auf Verluste strebt er nach einem ruhmreichen Sieg, dessen Preis die Vernichtung nicht nur der Gegner, sondern gleichermaßen der eigenen Gefährten ist. Immer wieder denkt er im Laufe der Geschichte über dieses Opfer nach, ohne jedoch auch nur ein einziges Mal an der Richtigkeit seiner Entscheidung zu zweifeln. Die Ästhetik der Selbst- und Fremdgewalt – wobei unter letzterer im übertragenen Sinne auch diejenige gegenüber dem Rezipienten zu verstehen wäre – bildet daher das verbindende Element zwischen den beiden von Miller geschaffenen Perspektiven. Die martialischen Szenen werden dadurch letztlich wie die Figur des Protagonisten zum Träger einer moralischen Kontroverse, innerhalb der die Figuren in ihren Entscheidungen und Taten, weder das Gute noch das Böse repräsentierend, agieren. Hier zeigt sich die motivische Nähe des Werkes zu ›Sin City‹: Nicht nur fordert auch dort jeder Sieg einen hohen Preis, sondern die zweifelhaften Helden in ihrem Gewaltrausch lassen die klassische und die Erzählung konstituierende Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern obsolet werden. Frank Miller betonte in einem Interview mit dem ›Spiegel‹ 2008, dass sich seine Karriere mit der Definition dessen beschäftige, was ein Held ist, und diese Frage die unerschöpfliche Quelle seines Schaffens sei, weshalb er keinen Grund sehe, sich eine andere zu suchen.32 Von einem derartigen konzeptuellen Ringen um das Wesen eines Heros und dem geradezu Cusanischen Zusammenfall der Gegensätze in seiner Person ist

31 Ebd., Blatt 75, o. P. 32 Vgl. Interview mit dem Spiegel vom 13. August 2008: Spiegel, online: »Sie haben mal gesagt, Sie wüssten nichts Anderes zu tun, als sich mit Superhelden zu beschäftigen […] Miller: […] Meine Karriere beschäftigt sich vielmehr mit der Definition dessen, was ein Held ist. Dies ist eine unerschöpfliche Quelle, und ich sehe keinen Grund, eine andere zu suchen.« Spiegel, online, 2008, URL: http://www.spiegel.de/ kultur/literatur/0,1518,571473,00.html (Aufrufdatum: 8.4.2019).

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die im Dezember 2006 auf Leinwand erschienene Verfilmung des Miller’schen Comics durch Zack Snyder weitgehend frei (Abb. 7).

Abbildung 7: Zack Snyder, 300, 2006, Kinoplakat. Das Aufeinandertreffen der zwei Kulturen kann im Kern als manichäisch bezeichnet werden: Die ungeheure persische Streitmacht ist eine von Angst getriebene Sklavenarmee, die Griechenland, eine Insel der Vernunft und Freiheit, vernichten will. Diese Flutwelle der Zerstörung versucht nun eine kleine Elitetruppe zu stoppen, die in jeder Hinsicht aus perfekten und in Freundschaft verbundenen Soldaten besteht. In der Filmversion von ›300‹ wird kein einziges Mal die Grausamkeit der Hopliten unter sich thematisiert, alle Folterszenen, auch diejenige mit Stelios, wurden schlichtweg weggelassen. Stattdessen wurden Dialoge hinzugefügt, die in Millers Werk gar nicht vorkommen. Unter anderem sagt Leonidas zu Xerxes, dass er für jeden seiner Soldaten sterben würde. 33 Sätze, die Miller genauso wenig geschrieben hat, wie die melodramatischen Abschiedsworte Stelios’, der den Tod an der Seite des Leonidas als eine Ehre empfindet und

33 Snyder [Anm. 25], Disk 1, hier: 55:58-56:01.

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das auch noch in Agonie sagen muss.34 Die inhaltliche und visuelle Dämonisierung der persischen Streitmacht ist ebenfalls der Eindimensionalität des Films geschuldet. Die Armee von Xerxes besteht nicht wie im Comic nur aus Soldaten, sondern führt zudem Monster und Kampfbestien mit, die »aus der Finsternis kommen«.35 Dies flüstert ein sterbendes Kind, dessen Familie zusammen mit anderen Dorfbewohnern von den Persern getötet und an einen Baum genagelt wurde, dem spartanischen König zu. Es handelt sich dabei um Szenen und Figuren, die Miller unbekannt sein dürften und die eher an ›Herr der Ringe‹Verfilmungen erinnern, in denen das äußerlich Abnorme und Abstoßende einer negativen Konnotation unterzogen wird, um die schwarz-weiße Welt zu konstruieren. So werden auch die dreihundert Kämpfer am Ende von einem Spartaner verraten, der missgebildet zur Welt kam und nur durch ein Wunder überlebte. Die wichtigste Comicepisode mit Ephialtes, in der er, von Leonidas als kampfuntauglich abgelehnt, sich umzubringen versucht und erst danach zum Verräter wird, hat der Regisseur zwar gedreht, jedoch später mit der Begründung, sie sei zu dramatisch, herausgeschnitten.36 Die Ambiguität der Graphic Novel wurde im Film fast vollständig nivelliert und die moralische Unschärfe der Figuren durch klare Konturen ersetzt. Gewalt wird zum Selbstzweck und beherrscht die fast bis zur Unkenntlichkeit vereinfachte Handlung. Eine Zeichnung mit der Kampfdarstellung von Miller wird zu regelrechten epischen Abschlachtungssequenzen ausgedehnt. Der filmische Auftritt Leonidas’ am Ende des ersten Tages bei den Thermopylen, bei dem er im Alleingang mindestens zwanzig persische Krieger innerhalb einer Minute tötet, ist nur ein Beispiel unter vielen.37 Trotz des spektakulär hohen finanziellen und technischen Aufwands dekonstruiert sich der Mythos vom Opfertod letztlich in der Filmversion von ›300‹ genauso wie die Figur des Protagonisten selbst. Der latent faschistoide Charakter des postmodernen Antikenspektakels für die Massen sorgte nicht nur in Europa für scharfe Kritik: Während die ›New York Times‹ den Film als genauso brutal und doppelt so dumm wie ›Apocalypto‹ von Mel Gibson beschrieb, sprach die deutsche Presse unter anderem von einer »Herrenmenschen-Ästhetik Leni

34 Ebd., hier: 97:51-98:17. 35 Ebd., hier: 28:58-31:54. 36 Ebd., Specials. 37 Ebd., hier: 46:02-47:12.

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Riefenstahls« (›FAZ‹).38 Die Hollywood-Produktion sorgte zudem für diplomatische Spannungen zwischen den USA und dem Iran, da die islamische Republik die fragwürdige Rhetorik des Films zeitbedingt auf sich bezog. 39 Nicht zuletzt zeigt die nationalistische Instrumentalisierung des Streifens durch die 2003 gegründete Identitäre Bewegung die anhaltende propagandistische Indienstnahme des spartanischen Königs durch rechtsradikale Bewegungen. Die andauernden Kontroversen um Snyders Film und seine Rezeption beweisen nicht nur, wie sensibel das Thema Thermopyle als Politikum bis heute tatsächlich ist, sondern auch, welche zentrale Rolle der Kunst und Populärkultur innerhalb der Rezeptionsgeschichte des antiken Geschehens zukommt. Die visuellen Entwürfe Leonidas’ innerhalb des Kunstsystems, die von einem Exemplum der Tugend, so im Fresko Peruginos, über ein Partizipationsmodell wie im Gemälde Davids bis hin zur ambivalenten Denkfigur in Millers Comic reichen, greifen geradezu paradigmatisch auf die bereits in der antiken Historiographie verankerte Vorstellung des unzugänglichen Heros und seines rätselhaften Handelns zurück. Dieses Konzept wurde kontinuierlich tradiert und semantisch aufgeladen, der Held im Zuge dessen, so scheint es, immer melancholischer und fatalistischer. Das ununterbrochene medien- und gattungsübergreifende Interesse an seiner problematischen Figur belegt, dass vor allem in der Gegenwart Leonidas’ Humanität mit Gewalt dekonstruiert wird, um ihn in diesem ästhetischen Prozess erfolgreich als historischen Helden immer wieder neu zu erfinden.

38 Vgl. New York Times, online, 2007, URL: http://movies.nytimes.com/2007/03/09/ movies/09thre.html (Aufrufdatum: 8.4.2019) und Spiegel Online, 2007, URL: http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,475494,00.html (Aufrufdatum: 8.4.2019). 39 Vgl. Time, online, 2007, URL: http://www.time.com/time/world/article/0,8599,159 8886,00.html (Aufrufdatum: 8.4.2019).

così heroico – Michelangelos David im Zeichen des Heroischen Jennifer Trauschke

Held(inn)en erscheinen und existieren nicht einfach, sondern werden mit Hilfe von unterschiedlichsten Darstellungen und Medien geschaffen. Insbesondere geschieht dies innerhalb der Narration – dem Bericht über die vollbrachten Taten, in dem der als Held oder Heldin behaupteten Figur spezifische heroische Qualitäten zugeschrieben werden. So lässt sich das Heroische als ›kulturelles Konstrukt‹ von Phänomenen der Fremd- und Selbstzuschreibungen fassen.1 Aus diesem Grund sind es vor allem die Prozesse der Heroisierung, die eine intensive Betrachtung erfordern, dementsprechend alle kommunikativen Vorgänge, die an diesen Zuschreibungen beteiligt sind und bei denen verschiedenste Akteure eine Figur zum Mittelpunkt einer Gemeinschaft werden lassen – sie also zum Held oder zur Heldin erheben.2

1

Siehe

hierzu

einführend

den

ausführlichen

Forschungsbericht

des

DFG-

Sonderforschungsbereichs 948 ›Helden – Heroisierungen – Heroismen‹ an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Der Bericht skizziert die innerhalb des interdisziplinären Forschungsverbundes erarbeiteten Ergebnisse und konzentriert sich dabei vor allem auf die unterschiedlichen Formen von Heldinnen und Helden, ihre Funktionen und Bedeutungen in einer Zeitspanne, die in der griechischen Antike beginnt und sich bis in die Gegenwart erstreckt: vgl. Ralf von den Hoff [u. a.]: Das Heroische in der neueren kulturhistorischen Forschung: Ein kritischer Bericht, H-Soz-Kult (2015), URL: http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-2216 (Aufrufdatum: 02.03.2019), insbesondere der Abschnitt ›Hereologie‹ als Forschungsfeld. 2

Grundlegend für die Zuschreibungen spezifischer heroischer Qualitäten ist eine ursprüngliche Heldenbehauptung, die sich innerhalb eines diskursiven Prozesses als Heldennarrativ manifestiert. Dieses durchläuft in seiner Tradierung unterschiedliche

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Held(inn)en übernehmen bei der Etablierung kollektiver Ordnungen und der gemeinschaftlich akzeptierten Rangfolge prozessualer Phänomene eine zentrale Rolle. Der medialen Inszenierung, d. h. wie bestimmte Figuren als heroisch präsentiert werden, muss dabei besondere Aufmerksamkeit zukommen, denn zeigen sich diese nicht allein durch die einfache Bezeichnung als ›Held‹ oder ›Heldin‹. Held(inn)en offenbaren sich in ihrer das übliche menschliche Maß übertreffenden Heldentat, ihnen werden Leistungen zugeschrieben, die eindeutig als exzeptionell zu erkennen sind. Hierin und in der außerordentlichen Erscheinung der Helden (oder der Heldengruppe) liegt die besondere Präsenz heroischer Figuren. Nicht selten wird ihnen nachgesagt, dass sie von einer einzigartigen Aura umgeben sind – Held(inn)en besitzen offenbar ›das gewisse Etwas‹, eine besondere Ausstrahlung und ein charismatisches Auftreten, weshalb sie als nahezu göttliche Gestalten für ihre Vorbildlichkeit und Tugend verehrt werden. 3 Als eine

Stadien, wobei die Heroisierung einer Figur nicht zwingend kontinuierlich fortgeführt und aufrechterhalten wird, da die jeweiligen Zuschreibungen mitunter nicht nur positive, sondern auch negative Reaktionen hervorrufen können. Innerhalb einer Phase der Entheroisierung wird das beschriebene Narrativ nicht weiter fortgeführt und kann aus diesem Grund als beendet betrachtet werden. Innerhalb der Heroisierungsprozesse gilt es, die unterschiedlichen Akteure im Blick zu halten: den Helden oder die Heldin selbst, Verehrer und konkurrierende Gegenspieler, das von außen beobachtende Publikum sowie die sogenannten ›Heldenmacher‹, also jene Figuren, die von den exzeptionellen Taten und Qualitäten des Helden oder der Heldin berichten und die konstruierten Erscheinungen medial verbreiten. – Vgl. hierzu Sonderforschungsbereich 948 [Körp.]: [Art.] Heroisierung, in: Compendium heroicum, hg. von Ronald G. Asch, [u.a.], publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 ›Helden – Heroisierungen – Heroismen‹ der Universität Freiburg, 2018, DOI: 10.6094/heroicum/heroisierung. 3

Vgl. Tobias Schlechtriemen: The Hero and a Thousand Actors. On the Constitution of Heroic Agency, helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 4.1 (2016), DOI: 10.6094/helden.heroes.heros./2016/01/03, S. 17-32, hier S. 17-18. Bei den in Bernhard Giesens Typologie charakterisierten aesthetic heroes wird der besonderen Ausstrahlungskraft, die sich vor allem in der Verkörperung von Charisma offenbart, ebenso eine tragende Rolle zugesprochen. Heroische Figuren vermitteln auf einzigartige Weise zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen: »Heroes embody charisma, they fuse the sacred into the profane world, they establish a mediating level between the humans and the gods.«: Bernhard Giesen: Triumph and trauma. London [u.a.] 2004 (The Yale cultural sociology series), S. 16. Für einen theoretischen Zugang zum Begriff des Charismas für den Diskurs des Heroischen siehe Michael N. Ebertz: Charisma und ›das Heroische‹, helden. heroes. héros.

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charakteristische Eigenschaft heroischer Figuren lässt sich eine im Gegensatz zum Alltäglichen deutlich intensivierte Attraktionskraft erkennen, die sowohl in positiver wie auch negativer Weise polarisiert: So bieten heroische Figuren einerseits eine Projektionsfläche für tugendhaftes Verhalten, das zu Bewunderung, Identifikation und nachahmenden Handeln aufruft; andererseits provozieren sie aber auch negative Reaktionen, die sich in ablehnender Haltung wie Furcht oder Gegnerschaft äußern. Durch die Verwendung kunsttheoretischer Schlüsselbegriffe werden Künstler von ihren Biographen vor allem in italienischen Vitentexten des 16. Jahrhunderts auf besondere Weise ausgezeichnet. Beobachten lassen sich heroisierende narrative Konstruktionen in Giorgio Vasaris (1511-1574) erstmals 1550, in einer zweiten erweiterten Auflage 1568 erschienenen ›Vite de’ pì eccellenti pittori scultori e architettori‹, der dadurch seine spezifischen ›Künstlerhelden‹ innerhalb der ›Vite‹ konstruiert und konturiert.4 Dabei fällt auf, dass nicht nur von herausragenden Künstlerpersönlichkeiten mit außergewöhnlicher Ausstrahlung berich-

E-Journal zu Kulturen des Heroischen 4.2 (2016), DOI: 10.6094/helden.heroes.heros./ 2016/02, S. 5-16. Zum besonderen Verhältnis zwischen heroischen Figuren und ihren Bewunderern und Verehrern verweise ich auf die Überlegungen von Veronika Zink, die den Begriff des Charismas als »allgegenwärtiges Passepartout« beschreibt, mit dem der Versuch unternommen wird, die einnehmende und mysteriöse Qualität von Held(inn)en zu fassen. Hierbei betont sie die stark affizierende Wirkung des Heldencharismas: »Das heroisch Charismatische versetzt uns in ehrfürchtiges Staunen, es verwundert, begeistert und fordert bisweilen unseren Tribut.« Zink betont in ihren Ausführungen vor allem das wechselseitige Verhältnis von Held(inn)en und bewundernder Verehrergemeinschaft, da die auratische Wirkung nicht konstant fortbesteht, sondern die heroische Aura immer wieder aufs Neue von den Verehrern gegen Kritik verteidigt und aktiv erhalten werden muss: vgl. Veronika Zink: Das Spiel der Hingabe. Zur Produktion des Idolatrischen, in: Bewunderer, Verehrer, Zuschauer. Die Helden und ihr Publikum, hg. v. Ronald G. Asch u. Michael Butter, Würzburg 2016 (Helden – Heroisierungen – Heroismen, 2), S. 21-41. 4

Für die folgenden Ausführungen beziehe ich mich maßgeblich auf die neu übersetzte und kommentierte Edition der Viten von Alessandro Nova. Giorgio Vasari: Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten, hg. v. Alessandro Nova [u.a.], deutsche Gesamtausgabe in neuer Übersetzung, Berlin 2004-2015 (Vasari-Edition). Für die italienischen Quellenzitate verweise ich auf die von Rosanna Bettarini und Paola Barocchi herausgegebene Ausgabe Giorgio Vasari: Le vite de' più eccellenti pittori scultori e architettori: nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. v. Rosanna Bettarini u. Paola Barocchi, 6 Bde., Florenz 1966-1987.

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tet wird, sondern dass diese besondere Strahlkraft mitunter auch auf ihre Werke übertragen wird. Wie kaum eine andere Publikation übten Vasaris ›Vite‹ einen derart nachhaltigen Einfluss auf die nachfolgende Kunstgeschichtsschreibung aus. In ihnen legte der Aretiner seine grundlegenden Vorstellungen über die Kunst und ihre Entwicklung dar und formte mit ausgewählten Künstlern ›seinen‹ Kanon der Kunstgeschichte. Der Hauptteil der Arbeit umfasst ca. 160 Lebensbeschreibungen von Malern, Bildhauern und Architekten, darunter auch seine eigene Lebensbeschreibung.5 An den Beginn seiner Künstlerviten stellt Vasari den Florentiner Maler Cimabue (um 1240–1302), der den Anfangspunkt einer Entwicklungsgeschichte markiert, die bis in ein Jahrhundert reicht, in dem man es laut Vasari in den bildenden Künsten gewöhnt ist »Tag für Tag die Herrlichkeiten, Wunder und unmöglichen Dinge zu schauen, die die Künstler in dieser Kunst vollbringen, daß sie [unsere Epoche [gemeint ist das 16. Jahrhundert], J.T.] sich nicht mehr im mindesten über die Leistungen der Menschen verwundert, auch wenn sie eher göttlich als menschlich sind.«6 Die herausragende Funktion Vasaris als Biograph macht ihn innerhalb des Prozesses der Heldenerinnerung zu einer unverzichtbaren Figur. 7 Das strategi-

5

Seine eigene Vita fügte Vasari erst in der zweiten Edition der Viten hinzu. Die literarische Selbstdarstellung ist geprägt von einer eher nüchternen Aneinanderreihung von Fakten, die weitestgehend auf hinzugefügte Anekdoten verzichtet. Dies ist sicherlich einem Bescheidenheitsideal Vasaris geschuldet, der zwar mit seiner literarischen Selbstdarstellung unsterblichen Ruhm anstrebte, sich jedoch in der von christlich geprägten Wertvorstellungen der Lebenswelt des 16. Jahrhunderts nicht einer Kritik von selbstgefälligem Lob auf die eigenen Leistungen aussetzen wollte. Giorgio Vasari: Mein Leben, hg. v. Sabine Feser, 2. erw. und aktualisierte Aufl., Berlin 2011 (VasariEdition).

6

Giorgio Vasari: Das Leben des Cimabue, des Giotto und des Pietro Cavallini, hg. v. Fabian Jonietz [u.a.], Berlin 2015 (Vasari-Edition). Il quale avezzo ogni dì a vedere le maraviglie, i miracoli e l'impossibilità degli artefici in questa arte, è condotto oggimai a tale che di cosa che facciano gli uomini, benché più divina che umana sia […]. Vasari [Anm. 4], S. 44.

7

Vgl. hierzu beispielhaft die Ausführungen von Barbara Vinken, die den Einfluss der Viten Vasaris auf den kunsthistorischen Kanon mitunter auf die strategisch geschickt gewählten dramatischen Muster zurückführt: »Vasari, […] hat mit seinen Vite das erste, bis in Foucaults Machtgeschichte hinein maßgebliche Paradigma geschaffen, ein Paradigma, in dem es auf Leben und Tod, um den Kampf des Lebens gegen den Tod geht. Vasaris Viten prägen das abendländische Modell des Künstlers und liefern bis heute einflußreiche Kriterien für den Kanon der Kunst. Sie zeigen eine Reihe göttlich

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sche Vorgehen Vasaris in seinen Künstlerbiographien forciert eine aktive Erinnerung der von ihm bestimmten Heldenfiguren; ausgewählte Persönlichkeiten werden von ihm im Gedächtnis der Gemeinschaft lebendig erhalten. 8 Mit dem

inspirierter Genien, denen es gelingt, göttliche Kunstwerke zu schaffen.«: Barbara Vinken: Auf Leben und Tod: Vasaris Kanon, in: Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, hg. v. Renate von Heydebrand, Stuttgart/Weimar 1998 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 19), S. 201-214.Vasaris Viten als Schlüsseltext der Kunsthistoriographie sind vor allem im Hinblick auf ihre narrativen Muster und literarischen Strategien in der jüngeren Forschungsliteratur untersucht worden. Nachfolgende Autoren der Frühen Neuzeit bis in die Moderne orientieren sich an Vasaris ›Vite‹, indem sie etablierte Referenzmodelle imitieren, also erneut aufgreifen und wiederholen oder sie sich entgegen einer Fortschreibung bewusst von Vasari abgrenzen. Die zentrale Rolle Vasaris für die theoretischen Konzepte nachfolgender Kunstgeschichte(n) sind Thema zahlreicher Untersuchungen. Vgl. hierzu beispielhaft: Vasari als Paradigma. Rezeption Kritik Perspektiven. The Paradigm of Vasari. Reception, Criticism, Perspectives, hg. v. Fabian Jonietz u. Alessandro Nova, Venedig 2016 (Collana del Kunsthistorisches Institut in Florenz Max-Planck-Institut/Kunsthistorisches Institut in Florenz 20). Dort insbesondere S. 22f. für einen Gesamtüberblick der jüngsten Veröffentlichung zur VasariForschung. 8

Patricia Lee Rubin unterstreicht die spezifische Rolle der Biographie in der Renaissance als ›Erinnerungskunst‹ mit dem Ziel, die Namen der Künstler zu bewahren und zu ehren. Die Taten dieser bewundernswürdigen Männer sollten in allererster Linie als Leitbild vermittelt werden. Mithilfe wiedererkennbarer biographischer und rhetorischer Strukturen gelang es Vasari seine Helden zu gestalten: »Renaissance biography was a commemorative art. Its aim was to preserve and to exalt the names and deeds of worthy men in order to provide examples, both of actions and of their rewards. This traditional, classical notion of the form explains its attraction for Vasari. It served his purpose when he undertook to write about his profession in order to preserve the memory of his fellow artists and to glorify their art. By organizing information about the arts into a series of lives, following revered and recognizable biographical and rhetorical structures, he was automatically creating heroes.«: Patricia Rubin: What men saw. Vasari's Life of Leonardo da Vinci and the image of the Renaissance artist, Art History 13 (1) 1990, S. 34-46. Was explizit betont wird, ist die Bestimmung der Gattung Biographie, die in besonderem Maße dazu geeignet erscheint, um die Namen und (künstlerischen) Taten würdiger Männer zu erinnern. Innerhalb der Lebensbeschreibungen ist es möglich, sie als außergewöhnliche Vorbildfiguren herauszustellen und ihre Taten sowie Errungenschaften einem breiten Publikum zu präsentieren.

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Verfassen der Viten versucht Vasari die großen Künstler seiner Zeit vor dem »zweiten Tod« des Vergessens zu bewahren.9 Durch das Festhalten im Medium der Schrift verleiht er nicht nur den Werken, sondern den Künstlern selbst Unsterblichkeit. Mit den Viten setzt ihnen Vasari gewissermaßen ein ewiges Denkmal: Er konstruiert ein literarisches Pantheon, in dem die tugendhaftesten und herausragendsten Künstler verehrt werden. Dem göttlichen Heiligtum gleich, bringt Vasari in seinem Kanon die großen Namen der nie zu vergessenden Künstler an einem Ort zusammen. Durch narrative Muster, die sich an Heldenfiguren orientieren, wird ausgewählten Künstlern eine exzeptionelle Ausstrahlung und ein außergewöhnlicher Status innerhalb der Gesellschaft zugeschrieben. Der Künstlerheld an sich ist, wie bereits zu Beginn dieses Beitrages ausgeführt wurde, ein Konstrukt. Es gibt ihn, wie den traditionellen kämpferischen Helden nicht per se, sondern er muss überhaupt erst erschaffen werden.10 Die spezifischen Eigenschaften der verehrten Künstler Vasaris folgen dabei bestimmten Mustern, die wiederholt angewendet werden und auf diese Weise seine Helden formen und miteinander verbinden. Beispielhaft zu nennen wäre hier die schicksalhafte Geburt unter günstigen Sternen oder das Genie des Künstlers, das sich nicht erst im Erwachsenenalter zeigt, sondern sich bereits im Kindesalter offenbart: Der künstlerische Weg nimmt folglich oftmals mit der Entdeckung als Wunderkind seinen Anfang. Die von Vasari in seine Viten aufgenommenen Künstler dienen zudem als moralischer Appell und tugendhafte Vorbilder, die es nachzuahmen gilt. Sie werden von einem bestimmten Kreis oder Publikum bewundert, verehren sich aber auch oft untereinander. Gleichzeitig werden in den Viten aber auch negative Eigenschaften wie beispielsweise schlechte Charakterzüge der Künstler thematisiert; diese illustrieren als Gegenbild, wie ein nicht vorbildliches Künstlerleben

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In der Vorrede des Gesamtwerks seiner Viten, dem ›Proemio di tutta l’opera‹ (1568) schildert Giorgio Vasari in ausführlicher Weise seine Beweggründe zur Verfassung der Viten und verdeutlicht, dass er sich zum Ziel gesetzt hat, das Andenken der Künstler zu bewahren, um sie somit vor einem ›zweiten Tod‹, dem der Vergessenheit, zu bewahren. Vgl. Giorgio Vasari: Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien. hg. v. Matteo Burioni u. Sabine Feser, dt. Erstausg., 2. Aufl., Berlin 2004 (Vasari-Edition).

10 Katharina Helm, Hans W. Hubert, Christina Posselt-Kuhli und Anna Schreurs-Morét: Der Künstler, eine Heldenfigur? – Vorbemerkungen, in: Künstlerhelden? Heroisierung und mediale Inszenierung von Malern, Bildhauern und Architekten, hg. v. Katharina Helm [u.a.], Merzhausen 2015, S. 9-18.

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verläuft.11 Neben dem Aspekt des aktiven Erinnerns begünstigt Vasari gleichzeitig Prozesse des Vergessens von Künstlerhelden, denn seine Zusammenstellung bietet nur eine bewusste Auswahl (und eben nicht die Gesamtheit) von Persönlichkeiten, die die Kunstgeschichte seiner Zeit prägten. Eine bewusste Auslassung von Künstlern führte aufgrund der bestimmenden Rolle Vasaris unweigerlich zu einem Vergessen eben jener Künstler, die er nicht mit in seinen Kanon einschloss.12 Die Nicht-Aufnahme in den Kanon der Viten löste mitunter heftige Reaktionen aus. Seine Selektion provozierte, dass andere Biographen sich ungenannten Künstlern widmeten oder dass diese aufgrund fälschlicher Aussagen Vasaris Gegendarstellungen von anderen Autoren formulieren ließen oder sie selbst zur Feder griffen, um ihre eigene Vita zu Papier zu bringen.13 Im Folgenden soll ein konkretes Beispiel aus Vasaris ›Vita Michelangelos‹ (1475–1564) herausgegriffen und mithilfe der Folie des Heldennarratives in den Blick genommen werden. Dabei liegt der zentrale Fokus auf der konkreten Inszenierung des Künstlers respektive des Helden, indem insbesondere die narrativen Strategien Vasaris analysiert werden. Das wesentliche Ziel dieser Untersuchung liegt in der Auseinandersetzung mit der Frage nach den spezifischen Auszeichnungen und besonderen Qualitäten des von Vasari beschriebenen Künstlerhelden, mit denen er versehen wird, um ihn als solchen überhaupt erkennbar bzw. lesbar zu machen. Zwar verwendet der Kunstliterat den spezifischen Be-

11 Vgl. Andrew Ladis: Victims and villains in Vasari's lives, Chapel Hill 2008, S. 12. 12 Zur Rolle der damnatio memoriae, der bewussten Tilgung eines Andenkens bestimmter Künstler in Vasaris Viten, siehe Victoria C. Gardner Coates: Rivals with a Common Cause: Vasari, Cellini, and the Literary Formulation of the Ideal Renaissance Artist, in: The Ashgate Research Companion to Giorgio Vasari, hg. v. David Cast, Farnham/Burlington 2014, S. 215-221. 13 Zu den prominentesten Künstlern, die Vasari unerwähnt ließ, gehörte beispielsweise der Bildhauer Benvenuto Cellini (1500–1571). Vasari widmete seinem Konkurrenten am Hofe Cosimos bewusst keine eigene Lebensbeschreibung, was eine wütende Reaktion Cellinis provozierte. Die wohl zu den bekanntesten autobiographischen Schriften des Cinquecento zählende Vita entstand wahrscheinlich zwischen 1558 und 1567: Benvenuto Cellini: Mein Leben. Die Autobiographie eines Künstlers aus der Renaissance, hg. v. Jaques Laager, Zürich 2000. Zu den weiteren Künstlern, die Vasari nicht für würdig erachtete in seine Lebensbeschreibungen aufzunehmen, zählte außerdem der neapolitanische Maler und Architekt Pirro Ligorio (1513/14-1583): vgl. Anna Schreurs: Antikenbild und Kunstanschauungen des neapolitanischen Malers, Architekten and Antiquars Pirro Ligorio, 1513 -1583, Köln 2000 (Atlas: Bonner Beiträge zur Renaissanceforschung 3).

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griff des Helden beziehungsweise des Heroischen14 nicht ein einziges Mal, doch bedient sich der Verfasser der Viten spezifischer Auszeichnungen, mit denen es ihm gelingt, Kategorien des Heroischen aufzurufen, wie es im Folgenden zu zeigen gilt. Vasaris Abfolge der Künstlerviten strukturiert sich in einem dreiteiligen Geschichtsmodell, an dessen Spitze der kunstgeschichtlichen Entwicklung Michelangelo als Inbegriff der vollkommenen Kunstausübung in Form eines divino artista inszeniert wird. Seine Ausführungen in der Michelangelo-Vita kanonisierten über viele Jahrhunderte hinweg die Vorstellung zum Leben und Werk des Künstlers und bilden damit eine wichtige Quelle der Kunsthistoriographie der Frühen Neuzeit. Innerhalb der Viten bildet die Lebensbeschreibung Michelangelos die umfangreichste innerhalb der gesamten Edition. Michelangelo ist für Vasari der Inbegriff einer vollendeten Kunstentwicklung, weshalb er ihn als einzig lebenden Künstler in die erste Fassung seiner Publikation mit aufnahm. Vasaris Beschreibung der Erschaffung Michelangelos wohl berühmtester Skulptur – für viele die berühmteste Skulptur der Kunstgeschichte überhaupt – soll im Mittelpunkt der hier angestellten Überlegungen zu den Zeichen des Heroischen stehen (Abb. 1). Der biblische Held David, jugendlich schön mit einer anmutigen und entspannten Haltung, wird in genau jenem Moment dargestellt, in dem er sich entscheidet, in den Kampf gegen den Riesen Goliath zu ziehen. Die Parallelisierung des Zweikampfes des jungen Helden mit dem Kampf des Künstlers als Herausforderung bei der Anfertigung eines künstlerischen Werkes nutze, so Huber, Michelangelo dabei in geschickter Weise um sich selbst zu heroisieren, indem er die Schaffung der Skulptur konkret auf sich selbst beziehe. 15

14 Hans Hubert bemerkt hierzu, dass der italienische Begriff eroico, ebenso wie semantisch verwandte Bezeichnungen bei Vasari gar nicht genannt werden. Hubert weist darauf hin, dass das Heroische primär in der Gattung der Epik anzutreffen ist und nicht explizit als Element innerhalb der Biographie auftaucht, was jedoch – wie von ihm richtig betont wird – nicht dazu führt, dass es keine heroisierenden Elemente innerhalb der Künstlerviten zu identifizieren gäbe: Hans W. Hubert: Michelangelo – Vom Ausnahmekünstler zum Denkmal, in: Künstlerhelden? Heroisierung und mediale Inszenierung von Malern, Bildhauern und Architekten, hg. v. Katharina Helm [u.a.], Merzhausen 2015, S. 132-178.

15 Vgl. Hubert [Anm. 14], S. 147-151. Hubert hat die Analogien zwischen der schwierigen Ausgangslage im biblischen Zweikampf zwischen David und Goliath und der ebenfalls schier aussichtslosen Situation Michelangelos mit dem bereits schlecht bearbeiteten Marmorblock zu Recht zusammengestellt. Unter anderem sind dies der Gegensatz zwischen Jung und Alt, der Kampf vom Kleinen gegen das Große sowie das

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Abbildung 1: Michelangelo, David, 1501-1504, Marmor, Höhe ca. 5,16 m (mit Felsenbasis), Florenz, Galleria dell’Accademia.

Selbstvertrauen im Angesicht einer kaum zu lösenden Herausforderung. Außerdem bezieht sich Hubert auf eine von Irving Lavin erstmals gedeutete Zeichnung Michelangelos, deren Beschriftung die Selbstheroisierung des Künstlers durch die Parallelisierung zum biblischen David aufzeigt. Auf einer vorbereitenden Zeichnung des Künstlers, auf der er den rechten Arm des Marmordavids skizzierte, vermerkte er die folgenden Zeilen: ›Davicte cholla Fromba / e io collarcho / Michelangniolo […]‹ (›David mit der Schleuder / und ich mit dem Bogen / Michelangniolo […]‹). Die Waffe (Schleuder) des biblischen Helden wird also mit der Waffe des Künstlers (Bogen) in Beziehung gesetzt, wobei mit dem Bogen des Künstlers nicht nur das technische Instrument, sondern vielmehr ein arco dell’ intelletto, (›intellektuelle Spannkraft‹) gemeint ist. Die künstlerische Herausforderung benötigt demnach gleichzeitig eine körperliche wie auch geistige Kraft: vgl. Irving Lavin: David's Sling and Michelangelo's Bow: A Sign of Freedom, in: Irving Lavin: Past - present. Essays on historicism in art from Donatello to Picasso, Berkeley 1993 (Una's lectures, 6), S. 29-62, vor allem S. 29-34.

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Das Original der zwischen 1501 und 1504 entstandenen Marmorskulptur befindet sich heute in der Galleria dell’ Academia in Florenz; ursprünglicher Aufstellungsort war die Piazza della Signoria im Zentrum der Stadt, wo heute noch eine Kopie des Originals aufgestellt ist. Dort stand sie vor dem Eingang des Palazzo Vecchio, dem damaligen Sitz des Stadtparlaments. Verfolgt man nun die Schilderung zur Ausfertigung des Werkes, beginnt Vasaris Episode aus dem Leben Michelangelos mit der Erzählung einer eigentlich unmöglich zu bewältigenden Aufgabe: ›Einige Freunde schrieben ihm aus Florenz, er solle doch zurückkehren, weil sich ihm durchaus die Gelegenheit bieten könne, aus jenem Marmorblock, der verhauen in der Dombauhütte lagerte, eine Figur zu schaffen‹.16

Der Künstlerbiograph steigt nicht gleich mit der Gestaltung der Statue ein, sondern beginnt mit einer Art Vorgeschichte. Michelangelo befindet sich zum beschriebenen Zeitpunkt in Rom, als Freunde des Künstlers seine Rückkehr nach Florenz erbitten, denn viele gestandene Bildhauer seien bisher an dem Auftrag gescheitert. Das Material – so wird es mehr als deutlich gemacht – ist von den vielen vorherigen Bearbeitungen bereits in Mitleidenschaft gezogen worden (male abbozatum). Andere meisterliche Künstler scheiterten in der Ausführung und der bereits stark behauene Marmorblock stand unvollendet in der Werkstatt der Dombauhütte, ohne dass sich jemand um seine Fertigstellung kümmerte. Die Exzeptionalität Michelangelos und seiner künstlerischen Leistungen werden dabei deutlich hervorgehoben, wie das folgende Zitat verdeutlicht: ›So schwierig es war, daraus eine ganze Figur ohne Anstückungen zu gewinnen – was sich keiner außer ihm zutraute –, kam Michelangelo, der schon vor Jahren den Wunsch dazu verspürt hatte, nach Florenz und versuchte, ihn zu erhalten.‹17

Doch allen Widerständen zum Trotz gelingt dem gottgleichen Schöpfer Michelangelo das scheinbar Unmögliche. Aus dem durchlöcherten Marmor-

16 Vasari [Anm. 4], S. 52. Gli fu scritto di Fiorenza d'alcuni amici suoi che venisse, perché non era fuor di proposito che di quel marmo, che era nell'Opera guasto […], Vasari VI [Anm. 4], S. 18. 17 Vasari [Anm. 4], S. 52. e Michelagnolo, quantunque fussi dificile a cavarne una figura intera senza pezzi - al che fare non bastava a quegl'altri l'animo di non finirlo senza pezzi, salvo che aùllui, e ne aveva avuto desiderio molti anni innanzi -, venuto in Fiorenza tentò di averlo. Vasari VI [Anm. 4], S. 18-19.

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block, der von anderen Bildhauern bereits aufgegeben worden war, fertigt er die Figur des David: ›Und sicher war es ein Wunder, wie Michelangelo hier einen Toten wieder zum Leben erweckte.‹18 Beachtenswert ist hier der Vergleich der Skulptur mit einem Körper aus Fleisch und Blut. Er steht in einem deutlichen Gegensatz zur künstlerischen Gabe des Bildhauers, die weit über dem liegt, was der Mensch für gewöhnlich zu vollbringen vermag. Michelangelo wird als Schöpfer beschrieben, der selbst die Toten wiederbeleben kann. Vasari zeichnet Michelangelo explizit mit göttlichen Eigenschaften aus, indem er die Schaffung der Skulptur mit einer Art von übermenschlicher Wundertätigkeit in Beziehung setzt. Ernst Kris und Otto Kurz zeigten bereits 1934 in ihrer Studie ›Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch‹, dass sich die Ergänzungen zu den offiziellen Lebensbeschreibungen in Künstlerbiographien oft in wiederkehrenden Mustern und Anekdoten wiederfinden lassen und dass sich die Gesellschaft durch die Nähe zum alltäglichen Leben besser mit dem Helden identifizieren kann.19 In ihrer Untersuchung weisen sie nach, dass bestimmte Motive innerhalb von Viten dazu dienen, den Lebenslauf des Künstlers zu dramatisieren und ihm damit eine spezielle Stellung einzuräumen. Von zentraler Bedeutung bei Kris und Kurz ist die These, dass die besondere Strahlkraft des Künstlers ihm nicht per se innewohnt, sondern ihm sein Status durch Zuschreibungen verliehen wird. So stellen die beiden Autoren fest, dass »die Heroisierung des Künstlers zum Ziel seiner Biographen geworden [ist].«20 Das Wesen der Anekdote, so Kris und Kurz, gipfele meist in einer Pointe, sie »stellt uns etwa den großen Mann als Menschen unter Menschen dar oder zeigt uns seine Schlagfertigkeit in einem besonderen, unerwarteten Licht; man könnte die Anekdote auch als ein Stück Geheimbiographie des Helden ansprechen.«21 Als Beispiel hierfür dient die eingeschobene Anekdote, die erst in der zweiten Edition von 1568 in die Vita Michelangelos eingefügt wurde und seine außergewöhnlichen Fähigkeiten gegenüber dem Alltäglichen in besonderer Weise hervorhob. Es sei an dieser Stelle der Versuch unternommen, die Geheimbiographie dieser Anekdote zu enträtseln: Vasari berichtet vom Besuch des Auftraggebers

18 Vasari [Anm. 4], S. 53. E certo fu miracolo quello di Michelagnolo, far risucitare uno che era morto. Vasari VI [Anm. 4], S. 20. 19 Ernst Kris u. Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a.M. 1980. 20 Ebd., S. 78. 21 Ebd., S. 31.

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Piero Soderini in der Werkstatt des Künstlers. Beim Anblick der Figur bemängelt er die für seinen Geschmack zu groß geratene Nase Davids (Abb. 2).

Abbildung 2: Michelangelo, David, Detail.

Der Künstler reagiert auf die Kritik wie folgt: ›Geschwind nahm Michelangelo einen Meißel und ein wenig Marmorstaub von den Gerüstplanken in die linke Hand und ließ, während er den Meißel nun leicht zu bewegen begann, nach und nach den Staub herabrieseln, ohne dabei die Nase im geringsten zu verändern. Dann sah er hinunter zum gonfaloniere, der dort stand und zusah und sagte: ›Schaut nun.‹ – ›Mir gefällt er jetzt besser‹, sagte der gonfaloniere, ›Ihr habt ihm das Leben geschenkt‹. Da stieg Michelangelo herab und amüsierte sich insgeheim darüber, wie er diesen Herrn zufriedengestellt hatte, wobei er Mitleid mit denen empfand, die als Kenner erscheinen wollen und dabei keine Ahnung haben, wovon sie reden.‹22

22 Vasari [Anm. 4], S. 55-56. […] e preso Michelagnolo con prestezza uno scarpello nella man manca con un poco di polvere di marmo che era sopra le tavole del ponte, e cominciato a gettare leggieri con gli scarpegli, lasciava cadere a poco a poco la polvere, né toccò il naso da quel che era. Poi guardato a basso al gonfalonieri, che stava a vedere, disse: «Guardatelo ora». «A me mi piace più, - disse il gonfalonieri gli avete dato la vita». Così scese Michelagnolo, e lo avere contento quel signore, che

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An der herausgehobenen Stellung Michelangelos lässt Vasari keinen Zweifel aufkommen. Er unterstreicht mit der Anekdote deutlich das Kunsturteil (giudizio), welches eben nur Kennern zusteht.23 Mehr noch: indem er das künstlerische Urteilsvermögen allein Michelangelo zuspricht, hebt er den Künstler sogar über den Kennerkreis hinaus und unterstreicht somit die Souveränität des Urhebers, er allein bestimmt über die Angemessenheit seines Werks.24 Die Vita Michelangelos ist an vielen Stellen von weiteren Anekdoten durchzogen, in denen Elemente von Kraft und Gewalt wiederholt auftauchen. Als kleines Kind, so berichtet Vasari, wird er von einer Amme versorgt, mit deren Milch er bereits ›Hammer und Meißel aufnahm‹. 25 Sein Interesse für das Zeichnen stieß in seiner Familie auf wenig Zustimmung; er wurde hierfür geschlagen und verprügelt. Als er während des Studiums mit seinem Künstlerkollegen Torrigiani in Streit gerät, schlug dieser mit der Faust so fest auf die Nase Michelan-

se ne rise da sé Michelagnolo, avendo compassione a coloro che, per parere d'intendersi, non sanno quel che si dicano. Vasari VI [Anm. 4], S. 20-21. 23 Mit dem Begriff des giudizio wird in den kunsttheoretischen Schriften des Cinquecento nicht nur die praktische Erfahrung, sondern vor allem die intellektuelle Fähigkeit eines Künstlers beschrieben, die es ihm ermöglicht, sowohl das eigene wie auch Werke anderer Künstler zu beurteilen und einzuordnen. Vielfach im 16. Jahrhundert diskutiert wird die Frage, ob es sich bei der Urteilskraft um eine erlernbare oder angeborene Fähigkeit des Künstlers handelt. Vasari versteht unter dem Begriff giudizio vor allem die Kontrolle des eigenen Werkes und die Beurteilung der Qualität der angefertigten Arbeit, die nicht mit übertriebenen spontanen Einfällen (capricci) als Verstoß gegen die bestehenden Regeln vermindert werden sollte: vgl. Vasari [Anm. 9], S. 296300. 24 Zudem verweist die Anekdote auf ein antikes Vorbild einer ähnlichen Begebenheit, die von Plinius in seiner ›Naturalis historia‹ (XXXV, 85) berichtet wird: Der griechische Maler Apelles hatte einen kritischen Kommentar zur Ausführung eines Gemäldes mit den Worten »Schuster bleib bei deinem Leisten!« abgewehrt: Plinius Secundus, Naturalis historia. hg. u. übers. v. Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, Buch XXXV, Berlin/Boston 2007/2013. 25 ›Deshalb sagte Michelangelo einmal im Scherz zu Vasari: ›Giorgio, wenn mein Talent nur irgendetwas Gutes hat, dann liegt das an meiner Geburt in dem feinen Klima Eurer Heimat Arezzo. Da habe ich mit der Milch meiner Amme auch Meißel und Hammer

eingesogen,

die

Vasari [Anm. 4], S. 33.

mir

bei

der

Ausführung

meiner

Figuren dienen.‹‹

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gelos ein, dass sie brach und ihn sein Leben lang zeichnen sollte. 26 Dass der geschickte Rhetoriker Vasari erneut die Nase in den Mittelpunkt rückt, ist sicherlich nicht dem Zufall geschuldet. Zudem wird Michelangelo erneut als exzeptionell gekennzeichnet; er übertrifft alle anderen Künstler seiner Zeit und auch die großen Meister der Antike mit seinem künstlerischen Schaffen. In seinem abschließenden Kommentar erhebt Vasari den David nicht nur an die Spitze aller bisherigen Kunst, sondern erklärt ihn zum nicht überwindbaren Maßstab für die nachfolgenden Generationen. Er beschreibt die Skulptur mit folgenden Worten: ›Er zeigt wunderschön geformte Beine und einen göttlich schlanken Hüftansatz, und nie sah man weder eine lieblichere Haltung noch eine Anmut, die jenem Werk gleichkam, weder Füße oder Hände, noch einen Kopf, die in allen Teilen mit so qualitätsvoller Kunstfertigkeit, Ausgewogenheit und disegno in Zusammenklang gebracht waren. Wer dieses Werk gesehen hat, hat sicher keinen Bedarf mehr, sich irgendein anderes Werk der Bildhauerkunst unserer oder früherer Tage von welchem Künstler auch immer anzuschauen.‹ 27

Eingangs wurde bereits festgehalten, dass innerhalb der ›Vite‹ nicht nur von herausragenden Künstlerpersönlichkeiten mit außergewöhnlicher Ausstrahlung berichtet wird, sondern dass diese besondere Strahlkraft mitunter auch auf ihre Werke übertragen wird. Dieser Aspekt soll im Folgenden noch eingehender ausgeführt werden, denn es lässt sich anhand des David, so die hier vertretene These, zeigen, dass die Charismatisierung Michelangelos, also die extreme Zuspitzung exzeptioneller Eigenschaften auf eine Person, schlussendlich in gleicher Weise dem künstlerischen Werk zugeschrieben wird.

26 ›Es heißt, Torrigiani, mit dem er Freundschaft geschlossen hatte und herumalberte, habe ihm aus Neid auf seine größere Würdigung und überlegene Begabung in der Kunst mit der Faust derart heftig auf die Nase geschlagen, daß diese brach und ihn durch eine unglückliche Quetschung für immer zeichnen sollte.‹ Vasari [Anm. 4], S. 40. Vgl. außerdem Paul Barolsky: Michelangelo's nose. A myth and its maker, University Park 1990. 27 Vasari [Anm. 4], S. 56. […], perché in essa sono contorni di gambe bellissime et appiccature e sveltezza di fianchi divine, né ma' più s'è veduto un posamento sì dolce né grazia che tal cosa pareggi, né piedi né mani né testa che a ogni suo membro di bontà, d'artificio e di parità né di disegno s'accordi tanto. E certo chi vede questa non dee curarsi di vedere altra opera di scultura fatta nei nostri tempi o negli altri da qualsivoglia artefice. Vasari VI [Anm. 4], S. 21.

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Dazu dient ein kurzer Blick auf eine weitere wichtige Quelle der Florentiner Kunstbetrachtung, die 1591 von Francesco Bocchi (1548-1613/18) verfassten ›Bellezze della città di Fiorenza‹, bei denen es sich um einen der ersten Kunstreiseführer für Florenz handelt.28 Die ›Bellezze‹ (also die ›Schönheiten‹) der Stadt Florenz sind nicht nur wegen der ausführlichen Werkbeschreibungen aufschlussreich, sondern vor allem in ihrer Funktion als Reiseführer. Bocchi teilt seine Beschreibungen nicht in Kapitel auf, sondern gibt vielmehr individuelle Reiserouten vor, die ihren Ausgangspunkt jeweils an einem der fünf Stadttore (Porta San Gallo, Porta San Pier Gattolini, Porta del Prato, Porta San Niccolò, Porta San Miniato) haben. Die Perspektive entspricht in dieser Hinsicht einem Reisenden, der sich ebenfalls von außen über eines der Tore hinein ins Zentrum der Stadt bewegt.29 Bocchis Ausführungen lenken die Aufmerksamkeit der Betrachtenden dabei nicht nur auf herausragende Objekte, sondern er gibt ihnen vor, wie sie wahrgenommen und auf welche Weise über sie gesprochen werden soll.30 So war das Buch als Wegbegleiter gedacht, das der Reisende […] chi non è usato in Fiorenza31 – der es also nicht gewohnt war, sich durch die Stadt zu bewegen – auf seiner Erkundung durch Florenz bei sich tragen sollte, um vor den besprochenen Objekten darin zu lesen.32

28 Francesco Bocchi: Le Bellezze della citta di Fiorenza, dove a pieno di Pittura, di Scultura, di sacri tempij di palazzi i piu notabili artifizij […] si contengono, Florenz 1591, URL: http://data.onb.ac.at/rec/AC09721394 (Abrufdatum: 25.03.2019). 29 Über die tatsächliche Nutzung des Reiseführers ist nichts bekannt, die Seltenheit der ersten Auflage lässt jedoch vermuten, dass die breite Öffentlichkeit nur einen beschränkten Zugang zu Bocchis Beschreibungen hatte und nur wenige darauf zurückgreifen konnten. Erst 1677 werden die ›Bellezze‹ in einer deutlich erweiterten Fassung von Giovanni Cinelli neu aufgelegt. Cinelli gibt dabei Bocchis Text vollständig wieder und hebt die neu hinzugefügten Passagen im Schriftbild deutlich hervor, um die Zusätze zu kennzeichnen. Die Erweiterungen betreffen zumeist Werke, deren Entstehungszeit nach Bocchis Erstausgabe liegen: vgl. Francesco Bocchi: The beauties of the city of Florence. A guidebook of 1591, hg. v. Thomas Frangenberg und Robert Williams, London 2006 (Studies in medieval and early Renaissance art history 37). 30 Vgl. Bocchi [Anm. 29], S. 3. 31 Vgl. Bocchi [Anm. 28], S. 4. 32 Innerhalb der ›Bellezze‹ finden sich keine illustrierenden Abbildungen oder Straßenkarten wie es in einem ›modernen‹ Reiseführer üblich ist. Bocchis Text dient nicht zur Vorbereitung einer Reise, sondern soll bei der Betrachtung vor dem Original die Blicke des Reisenden leiten. Die Beschreibungen sind so ausgeführt, dass sie Abbildun-

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Mit der Beschreibung Vasaris zur Skulptur des Davids im Gedächtnis, sei an dieser Stelle der Reiseführer Bocchis vergleichend hinzugezogen, der die Skulptur auf folgende Weise beschreibt: ›In dieser Statue hat die Skulptur ihr höchstes Potenzial erreicht und ist so hoch aufgestiegen in feinem Kunsthandwerk, dass die klügsten Künstler beim Anblick der außergewöhnlichen Schönheit einer solchen wundervollen Arbeit in ehrfürchtiges Staunen fallen, vor der Perfektion dieses Marmorblocks und diesem seltenen Meister von göttlicher Kraft. Wer hat jemals eine so leichte und zugleich männliche Stellung der Füße gesehen? Eine so natürliche Einheit der Gliedmaßen, und eine Erscheinung, die so lebensnah ist? Solch eine heroische Lebenshaltung? Die Haltung der Arme, Hände und Beine so lebendig, und ein Antlitz, so mild und so göttlich? Selbst die Künstler der Antike sind einer derart hohen Meisterschaft unterlegen, und zeitgenössische Beobachter, alle Experten eingeschlossen, sind sich darüber einig, dass die Kunstfertigkeit dieser Statue derart überlegen ist, dass weder der Nil im Belvedere, noch die Giganten von Monte Cavallo, noch eine andere Statue aus dieser Zeit eine so seltene und höchste Perfektion erreichen kann.‹33

gen unnötig werden lassen. Diese waren generell selten in Texten des 16. Jahrhunderts zu finden. So enthielt die erste Edition von Vasaris Viten (1550) keine Abbildungen, sie wurde erst in der zweiten Edition (1568) mit Holzschnitten ergänzt. Diese zeigen aber nur die Porträts der von Vasari besprochenen Künstler und nicht deren Werke. Abbildungen kommen erst deutlich später (im 17./18. Jh.) häufiger vor. Spätestens mit dem Beginn der Fotografie ab dem 19. Jh. sind sie jedoch nicht mehr wegzudenken. 33 Bocchi [Anm. 28], S. 32-33. Davitte, che è fu la ringhiera, vicino alla porta del Palazzo, è di mano di Michelagnolo Buonarroti: questa è quella statua tanto famosa al mondo, et nobilissima per l’artifizio tanto è per tutto con gran lode ricordata. Era di età di XXIX. anni il Buonarroto, quando fece così raro lavoro, e così pregiato. Ma perche è l’arte della scultura faticosa, e chiede forze preste, svegliate e vigorose, oltra l’ingegno peregrino, annifanno gli huomini intendenti, che nel colmo di sua eccellenza ella fosse con tanta perfezzione lavorata con tutte le vedute, che più fanno le figure maravigliose, e più rare. Dimostrò l’estremo di sua possa la scultura, e tanto andò un alto con sottile industria, che per avventura non è minore lo spavento, che hanno i più accorti artefici, quando mirano l’eccessiva belezza di opera così mirabile, della perfezzione, che in questo marmo anzi in questo raro Campione della legge divina starucchiusa. Chi vidde mai posamento di piedi così leggiadro e sì virile? Unione di membra così naturale, fattezze di persona così vere; portamento di vita così eroico; atti di braccia, di mani, di gambe così vivi e volto di costume sì dolce e sì divino? Cedano pure gli artefici antichi a così alto sapere, poiché confessano i moderni, e tutti gli uomini intendenti sono d’accordo in un volere, cotanto esser sovrano di

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Die von Bocchi beschriebene ›heroische Haltung‹ fällt natürlich sofort ins Auge. Zwar orientiert sich Bocchi augenscheinlich sehr eng an der Beschreibung Vasaris, macht aber an der Stelle, bei der ursprünglich von einer lieblichen Haltung die Rede ist, eine entscheidende Veränderung: Wenn innerhalb des Reiseführers von un portamento di vita così heroico gesprochen wird, ist damit nicht allein die körperliche Haltung der Skulptur gemeint, sondern vielmehr eine ›innere Haltung‹, die sich nicht allein aus der Materialität des Marmors ergeben kann. Vielmehr kann darin eine Bündelung von Eigenschaften zum Begriff heroico gesehen werden. Die zuvor bei Vasari aufgerufenen Kategorien des Heroischen wie Exzeptionalität, übermenschliche Fähigkeiten und das agonale Moment in Bezug auf den Wettstreit der bildenden Künstler, die sich ebenso in der vorher besprochenen Anekdote widerspiegeln, werden nun mit der Verwendung des spezifischen Wortes heroico explizit. Die Charismatisierung Michelangelos, im Sinne von Zuschreibungen außergewöhnlicher Eigenschaften, die sich auf eine einzelne Person konzentriert, geht dabei soweit, dass das geschaffene Werk selbst als Zeichen des Heroischen gelesen werden kann – und selbst noch den zeitgenössischen Betrachter in ein ehrfürchtiges Staunen versetzen kann.

questa statua l’artifizio, che né il Nilo di Belvedere, né i Giganti di Monte Cavallo, né altra statua di questo tempo possono a così rara perfezzione e così suprema arrivare.

V. Helden als Element (pop-)kultureller Reflexion

»Computerspieler« gegen »Terroristen« Drohnenpiloten und Jihadisten als post- und retroheroische Kriegerhelden Bernd Zywietz

EINLEITUNG Hohn und Spott ließen nicht lange auf sich warten, als im Februar 2013 der scheidende US-Verteidigungsminister Leon Panetta die Einführung einer »Distinguished Warfare Medal« ankündigte: ein Orden für besondere Leistungen im Cyberwar und Drohnenkrieg. Veteranen protestierten gegen diese Auszeichnung, die in der Ordenshierarchie höher stünde als das Verwundetenabzeichen Purple Heart1, und in Kommentaren war sarkastisch von einer »Nintendo Medal« 2 die Rede. Karikaturisten setzten das Steuern von Kampfdrohnen und das Bedienen ihrer Sensoren (nicht aber das Operieren im Cyber-Krieg) mit Computerspielen gleich: In einer Zeichnung von Nate Beeler wird einem stolz lächelnden Solda-

1

Vgl. Andrea Ellner: The Ethics of Inclusion. Gender Equality, Equal Opportunity, and Sexual Assault in the Australian, British, Canadian, and U.S. Armed Forces, in: Routledge Handbook of Military Ethics, hg. v. George Lucas, Oxon u. New York 2015, S. 300-318, hier: S. 304.

2

Vgl. Devin Dwyer: ›The Nintendo Medal‹? New Military Award for Drone Pilots Draws Hill Protest, in: ABCnews, 06.03.2013, URL: http://abcnews.go.com/ blogs/politics/2013/03/the-nintendo-medal-new-military-award-for-drone-pilots-draws -hill-protest/ (Aufrufdatum: 01.03.2019); Andrew Tilghman: DoD rejects ›Nintendo medal‹ for drone pilots and cyber warriors, 06.01.2016, URL: https:// www.militarytimes.com/2016/01/06/dod-rejects-nintendo-medal-for-drone-pilots-andcyber-warriors/ (Aufrufdatum: 01.03.2019).

230 | Bernd Zywietz

ten für außergewöhnlichen Heldenmut im Angesicht von Blasen am Daumen das »Distinguished Flying Gamepad« verliehen 3; Karikaturist Andy Singer zeigte als Denkmal für den »Kriegshelden der Zukunft« die monumentale Statue eines übergewichtigen Mannes in T-Shirt, Shorts und Flip-Flops mit dem Controller einer Spielekonsole in der Hand.4 Panetas Amtsnachfolger Chuck Hagel machte die Entscheidung für die neue Auszeichnung zwar schnell rückgängig. 5 Doch die Idee der Ehrung speziell für Soldaten, die aus der Ferne und im digitalen Raum Krieg führen sowie die Kontroverse darum ist zum Paradebeispiel und Aufhänger für diverse analytische und theoretische Texte zum Verhältnis von Männlichkeit, Heldenhaftigkeit, Physis und remote warfare geworden6 – wortspielerischen Assoziationen von »unmanned« (wie in Unmanned Aerial Vehicle – UAV) mit »unmännlich« oder »entmännlicht« inklusive. Die politische, ideologische und mediale Figur des Drohnenpiloten 7 stand und steht mit der des Jihadisten bzw. Mudschaheddin antagonistisch in sicherheitspolitischem und militärischem Bezug. Dies nicht nur, weil besonders während der US-Präsidentschaft Barack Obamas (2009-2017) militante Islamisten in

3

Vgl. NPR: Double Take ‚Toons: Push Button Warriorsς, National Public Radio, 23.02.2019,

URL:

https://www.npr.org/2013/02/23/172715091/double-take-toons-

push-button-warriors (Aufrufdatum: 01.03.2019). 4

Vgl. Lorraine Bayard de Volo: Unmanned? Gender Recalibrations and the Rise of Drone Warfare, Politics & Gender 1 (2016), S. 50-77, http://doi.org/10.1017/S17439 23X15000252, hier: S. 62.

5

Ernesto Londoño: Pentagon cancels divisive Distinguished Warfare Medal for cyber ops, drone strikes, The Washington Post, 15.04.2013, URL: https://www.washington post.com/world/national-security/pentagon-cancels-divisive-distinguished-warfaremedal-for-cyber-ops-drone-strikes/2013/04/15/62335492-a612-11e2-83023c7e0ea97057_story.html (Aufrufdatum: 01.03.2019).

6

Vgl. z.B. Ellner [Anm. 1]; Bayard de Volo [Anm. 4]; Cara Daggett: Drone Disorientations. How »unmanned« weapons queer the experience of killing in war, International Feminist Journal of Politics 3 (2015), S. 361-379, http://doi.org/10.1080/14616742 .2015.1075317; Robert Sparrow: Drones, Courage, and Military Culture, in: Routledge Handbook of Military Ethics, hg. v. George Lucas. Oxon u. New York 2015, S. 380-394.

7

Mit »Drohnenpilot« sind in diesem Beitrag nicht nur auf die Steuerung der UAV, sondern auch andere Arten ihrer Bedienung und Kontrolle der Crew gemeint. Das generische Maskulinum meint hier wie sonst im Text auch weibliche und sonstige geschlechtliche Formen der Bezeichnungen und der Bezeichneten mit.

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Afghanistan, Pakistan und Jemen verstärkt Überwachungs- und Angriffsziel der Predator- und Reaper-Einsätze wurden. Tatsächlich ist vor allem das USKampfdrohnenprogramm ohne den Global War on Terror – der in Folge des 11. September 2001 in erster Linie einer gegen einen »islamistischen« Terrorismus ist – mithin ohne Spezifik der »Zielobjekte« als unkonventionelle Kombattanten nicht denkbar. Doch auch in anderer Hinsicht zeigen sich die beiden Kämpfertypen als kontrastives, gar dialektisches Gegensatzpaar: als Herausforderung tradierter militärischer Heroenkonzepte in westlichen Gesellschaften. Und auch der radikale salafistische »Gotteskrieger« wird mit Vorwürfen einer Art spielerischer Uneigentlichkeit zu kritisieren bzw. zu delegitimieren gesucht – dies aber gerade, weil er sich bzw. seinen Körper dezidiert »aufs Spiel setzt« oder gar gezielt und gesucht Leib und Leben aufgibt. Drohnenpiloten wie Jihadisten als (Anti-)Helden sind – so soll dieser Beitrag skizzieren – Vertreter oder Ausdruck oppositioneller, auch strategischer Regime der Sichtbarkeit (vor allem der individuellen Korporalität 8). Sie sind in jedoch auch, diskursiv konstruiert oder ausgedeutet, Erscheinungs-, Bewältigungs- und Widerstandsformen ein und desselben Postheroismus, den auch die empirischen oder realen »computerspielenden« oder »terroristischen« Militärs und Militanten jenseits ihrer Symbolik mit hervorgebracht haben. 9 Nach kurzer Ausführung zu den Faktoren des Postheroischen, zu deren Signum die militärische Drohne geworden ist, gehe ich dementsprechend darauf ein, wie deren Einsatz Vorstellungen von körperbezogenem Heldentum in Frage stellt, diese aber gleichwohl als äußerst lebendig und relevant zeigt. Anhand von zwei Spielfilmen zu dem Thema lässt sich deutlich machen, welche ethische und ideologisch-epistemologische Desorientierung, gar Krise in Sachen soldatischem Ethos dadurch entsteht sowie welche Ersatzdimensionen des AlternativHeroischen dafür aufgerufen werden. Abschließend betrachte ich die jihadistische, retro-heroische »Antwort«, u.a. auf Basis der Propaganda des IS, wobei auch Jihadisten selbst dem postheroischen Zug Neuer Kriege und deren bellizistisch-ideologischer Herausforderung an das tradierte wie reaktivierte Heroenimage nicht entgehen, gerade wenn dieses als Gegenentwurf in Stellung gebracht werden soll.

8

Vgl. zu diesem Konzept: Ljubinka Petrovic-Ziemer: Mit Leib und Körper. Zur Korporalität in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik, Bielefeld 2011.

9

Vgl. zu diesem Themenfeld u.a. Benjamin R. Barber: Jihad vs. McWorld, New York 1996.

232 | Bernd Zywietz

I.

POSTHEROISMUS

Den Begriff der postheroischen Kriegsführung bzw. Gesellschaften wurde maßgeblich von Edward N. Luttwack Mitte der 1990er Jahre aufgebracht und u.a. von Sybille Scheipers, in Deutschland populär durch Herfried Münkler weiterverfolgt und -entwickelt.10 Als condition post-heroique lässt sich eine geistige und seelische Verfasstheit als Folge interdependenter, einander bedingender oder gar verursachender Entwicklungen und Phänomene verstehen. So fand nach dem Ende des Kalten Kriegs und aufgrund neuer Konfliktweltlagen ein Paradigmenwechsel statt, weg von der zwischenstaatlichen Auseinandersetzung und hin zu »Hybriden«- oder »Neuen Kriegen«.11 Nach Umgestaltung der technologischen und strukturorganisatorischen Sicherheitsarchitektur herrschen neue Einsatzmodelle und Konzepte vor: die der Aufstandsbekämpfung (counter-insurgency) bzw. asymmetrischen Kriegsführung, der Peace-Keeping-Missionen und der humanitäre Kriseninterventionen. Neben der verstärkten Professionalisierung des Soldatenberufs und Privatisierung militärischer Aufgaben erfolgte eine massive Technologisierung, vor allem eine Computerisierung bzw. Digitalisierung, Automatisierung, Informatisierung und Vernetzung der Aufklärungs-, Kommunikations- und Kampfsysteme samt deren Strukturen. Hochauflösende Überwachungssatelliten, intelligente und autonome Gerätschaften (lasergelenkte »smart bombs«; Militärroboter) oder Augmented Reality Displays sind in diesem Zusammenhang je-

10 Vgl. Edward N. Luttwak: Toward Post-Heroic Warfare, Foreign Affairs 3 (1995), S. 109-122; Heroism and the Changing Character of War. Toward Post-heroic Warfare?, hg. v. Sibylle Scheipers, Basingstoke 2014; Herfried Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften, Merkur 700 (2007), S. 742-752; Herfried Münkler: Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015 (E-Book; Teil II: »Die postheroische Gesellschaft und das Kriegerethos«). 11 Deren Kennzeichen sind substaatliche Akteure wie Warlords; unklare Grenzen hinsichtlich auch nicht militärischer Strategien, der Freund-Feind-Dichotomien, der Laufzeit und der einzelnen Phasen oder Aggregatszustände des Konflikts. Beispiele dafür bieten die bewaffneten Konflikte auf dem Balkan, im Kaukasus, in Afghanistan, Irak und Zentralafrika, in den letzten Jahren vor allem in der (Ost-)Ukraine und Syrien. Zu Formen und Wesen der »Neuen Kriege« vgl. Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2004. Zum etwas jüngeren Begriff der Hybriden Kriege bzw. hybriden Kriegsführung: Ina Kraft: Hybrider Krieg – zu Konjunktur, Dynamik und Funktion eines Konzepts, ZFAS - Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 3 (2018), S. 305-323, http://doi.org/10.1007/s12399-018-0705-x.

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doch zunächst wenig bemerkenswert, insofern es stets ein Wettrüsten (und -entwickeln) zur Steigerung der – auch medialen – Reichweite, Effektivität und Präzision der Kriegsmittel gegeben hat. Historisch neu oder eben postheroisch relevant ist dagegen, wie groß bei dieser Technologisierung die argumentative Bedeutung der Sicherheit der Soldaten im Verhältnis zur militärischen Schlagkraft und Überlegenheit geraten ist. Die heroische Disposition einer Gesellschaft, so Münkler, ist nämlich gekennzeichnet durch Opferbereitschaft und Ehrbegier, was auch eine bestimmte Bereitschaft bedeutet, das Leben vor allem der Söhne für das höhere (etwa nationalistische) Kollektivziel zu geben. Individualisierung und sinkende Geburtenraten lassen den »Wert« des Einzelnen enorm steigen.12 Hinzukommt, dass heroische Gesellschaften »eine intrinsische Neigung zur Untergangsstimmung«13 haben und eine gewisse Dekadenzvorstellung pflegen, wohingegen postheroische in der Regel mit sich weitgehend im Reinen sind, sich »auf der Zielgerade«14 der eigenen geschichtlichen Entwicklung sehen. Die Mobilisierung ideologischer, moralischer und emotionaler Reserven (etwa in Form eines Heldenpathos) erscheint daher in diesen Systemen nicht nur nicht nötig, sondern übertrieben, überkommen, gar irrational. Den im Kampf gefallenen oder versehrten Soldaten kennt der Postheroismus folglich auch nicht mehr als dargebotenes oder schicksalhaftes sacrificium, also als eine Art notwendigen Preis, den es zu zahlen gilt, sondern nur mehr als victima, als möglichst zu vermeidenden Verlust oder Schaden. Im Verbund mit gefühlter »Simulation, Virtualisierung und Mediatisierung« 15 sowie einer daraus resultierenden »fortschreitenden Entdifferenzierung zwischen Krieg und Medienkrieg«16 hat dies Auswirkung auf den Berufs- und Heldenethos des Soldaten wie auf seine ethische regulative Funktion.

12 Ein demografischer Überschuss an jungen Männern, so Münkler mit Verweis auf Gunnar Heinsohn, bildet womöglich relativ unabhängig von vorgefundenen Weltanschauungen seine Opfer- und Gewaltbereitschaft aus – vgl. Münkler 2015 [Anm. 10], Kap. 7: »Heroische und postheroische Gesellschaften« (Abschnitt »Demographie und Heroismus«). 13 Münkler 2015 [Anm. 10], Kap. 7: »Heroische und postheroische Gesellschaften« (Abschnitt »Gemeinschaft und Gesellschaft«). 14 Münkler 2015 [Anm. 10], Kap. 7: »Heroische und postheroische Gesellschaften« (Abschnitt »Gemeinschaft und Gesellschaft«). 15 Carsten Schlüter: Information Operations, in: Krieg als Medienereignis II. Krisenkommunikation im 21. Jahrhundert, hg. v. Martin Löffelholz, Wiesbaden 2004, S. 239-254. 16 Schlüter [Anm. 15].

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II. DROHNENPILOTEN ALS STÖRKÖRPER Der in der Einleitung erwähnte Vergleich von Drohnenpiloten mit Computerspielern liegt nahe, insbesondere nach der Operation Desert Storm im Frühjahr 1991. Sie »markierte ein neues Zeitalter technischer Kriegsführung. In der als Infowar bezeichneten Schlacht offenbarten sich neue Qualitäten der Kriegswahrnehmung […]«.17 Markant waren hierbei »Bildfolgen, die von Bordkameras der Kampfflugzeuge aufgenommen wurden, und Sequenzen, die von elektrooptischen Sensoren in Raketen aufgezeichnet und übermittelt worden« sind (ebd.). Solche abstrakten Operationsbilder haben das Image vom Krieg als aseptischer, chirurgischer, kühlrationaler und zugleich irrealer Unternehmung genährt und prägen heute noch das visuelle Framing des Militärischen, aber auch die Anmutung entsprechender Computergames. 18 Kampfflugspiele etwa gleichen in ihrer Spieloberfläche der von Trainingsflugsimulatoren; Ziel-, Navigations-, Waffensystem- und Statusanzeigen werden über die virtuellen Szenarien geblendet.19 »Diese immersive Sicht korrespondiert mit derjenigen der Cockpit- und Raketenbilder. Typisch ist sie auch für die First-Person-Shooter«.20 Diese Annäherung ist jedoch nicht nur eine erlebnishafte oder stilistische: Im Auftrag der U.S. Army wurde ein Taktik-Shooter als Online-Spiel entwickelt und in der ersten Version 2002 zu PR- und Rekrutierungszwecken veröffentlicht.21 Das Parallelisieren von Drohnenoperator und Computerspiele hebt aber nicht so sehr auf Ähnlichkeit bei der Steuerung und der medialen Augmented-RealityElemente ab. Es zielt auch nicht auf trainierendes Military Gaming, CyberwarÜbungen oder die jahrhundertalte Geschichte der War Games als Mittel der Strategieplanung und -evaluation.22 Der Vergleich ist vielmehr ein spöttischer, einer,

17 Markus Lohoff: Das neue Gesicht des Krieges. Cockpit- und Raketenbilder im Zweiten Persischen Golfkrieg, in: Das Jahrhundert der Bilder. Band 2: 1949 bis heute, hg. v. Gerhard Paul, Bonn 2008, S. 598-605, hier: S. 598. 18 Schlüter [Anm. 15], S. 245; Roger Stahl: What the drone saw: the cultural optics of the unmanned war, Australian Journal of International Affairs, 5 (2013), S. 659–674, http://doi.org/10.1080/10357718.2013.817526. 19 Vgl. Lohoff [Anm. 17], S. 604. 20 Lohoff [Anm. 17], S. 604. 21 Marcus Schulzke: Rethinking Military Gaming, Games and Culture 2 (2013), S. 5976, http://doi.org/10.1177/1555412013478686. 22 Vgl. Fabio Cristiano: From Simulations to Simulacra of War: Game Scenarios in Cyberwar Exercises, Journal of War & Culture Studies 1 (2018), S. 22-37, http://doi.

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der die Inkongruenz von Soldatenethos (damit Anspruch und Teilprämisse fürs Kriegerheldentum) und Wirklichkeit bloßlegt – oder aber behauptet und damit Kernbestandteile dieses Ethos perpetuiert. Drohnenpiloten, so die Sichtweise, verdienen keine institutionelle Ehrung, zumindest nicht wie »richtige« Soldaten, weil ihr Einsatz anders ist oder sein könnte. Das Wort »Einsatz« bekommt hier eine quasi mythische Doppelbedeutung23: erstens die des individuellen Eingesetzt-Werdens, der Entsendung ins Kampfgebiet oder in die Region sowie zweitens die des Risikoinvestments, des Spieleinsatzes. Beides geht in der klassischen Heldenvorstellung zusammen, fällt jedoch bei Drohnenpiloten, die nicht wie Kampfpiloten abgeschossen werden können und doch an Aufklärungs-, Patrouillen- und Tötungsmissionen vor Ort teilnehmen, in eklatanter Weise auseinander. Das erzeugt eine ideologische Spannung. Das »Spiel« ist also kein so problematisches, weil es lediglich ein fiktionalisierendes unverbindliches So-tun-al-ob wäre oder weil es die Piloten selbst nicht ernst nehmen würden, sondern weil für sie individuell und vor allem: leiblich nichts auf ›dem Spiel steht‹. Das erscheint vielleicht unsinnig, denn: »Es sind die Ideale und Imaginationen einer heroischen Gesellschaft, die gegen die Technologie der ›Gefechtsfeldbewirtschaftung‹ mit Hilfe von Drohnen angeführt werden: die fehlende Symmetrie in der Konfrontation der Kämpfer, die tendenzielle Unsichtbarkeit und Unverwundbarkeit einer Seite, die sich nicht zum Kampf stellt, sondern ihn mit Geräten austrägt, die somit ›feige‹ agiert. Es ist, um dies zu pointieren, das Ethos des Westerns, wo im fairen Zweikampf der bessere Mann gewinnt, das hier gegen die Entwicklung der modernen Waffen ins Spiel gebracht wird.«24

Von der Einführung von Bogenschützenregimentern, der Kanonen und Musketen bis zu der der Kampfflugzeuge ist raum-zeitlich distanzierender Militärentwicklung (ähnlich der der Medientechnologien) mit Vorbehalten begegnet worden. Sei es, weil eine unkontrollierbare Deregulierung, gar »Barbarisierung« des Krieges befürchtet, sei es, weil ein Verlust der Ehre (oder der Möglichkeit des

org/ 10.1080/17526272.2017.1416761; Philipp von Hilgers: War Games. A History of War on Paper. Cambridge, MA 2012. 23 Roland Barthes: Mythen des Alltags, Berlin 2012 (1957). 24 Münkler 2015 [Anm. 10], Kap. 8: »Neue Kampfsysteme und die Ethik des Krieges«.

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Ehrzugewinns) vorausgesehen wurde.25 Bei Drohnen war und ist das nicht anders: »Without risk, there’s less restraint. With these unmanned craft, governments can fight a coward’s war, a god’s war, harming only the unnamed.«26 Nun sollte aber ein bellizistisches Duell-Ideal in postheroischen Gesellschaften eigentlich keine signifikante Rolle mehr spielen – auch wenn (oder gerade weil) Krieg die Form von Interventionen oder den Charakter konstatierter Polizeiaktionen angenommen hat. Und doch braucht es offensichtlich das Kämpferisch-Heldische als individuelle wie kollektive Richtgröße, als fundamentale Referenzquelle für die Vorstellungen, sprachlichen und bildlichen Rahmen von heldenhaftem Mut, Pflicht und Engagement – nicht nur als Residuum, anthropologische Konstante oder als ein Ideal, das seiner Ablösung (oder Demilitarisierung) harrt. Es ist nicht zuletzt, wenn auch nicht für die reale, politische bzw. kollektive Restriktion, integraler Bestandteil der ethischen und emotionalen Orientierung, der Einordnung und ideologischen Kontrolle legitimer Gewaltausübung. Der Heldencharakter bleibt Regulativ, aber nun gegen die moralische Indifferenz der Maschinen und Netzwerke sowie deren »unfaire« und potenziell tyrannische Anwendung. Wie aber konnte dies mit dem Physis-Heros vollzogen werden? Die Lösung des Problems erfolgte durch Ablösung des Einsatzes durch die Teilnahme, die ebenfalls relevant doppeldeutig aufzufassen ist: als tätiger, raum-zeitlich unspezifischer Partizipation, mehr aber noch als »einfühlende« Anteilnahme bzw. psychologische und moralische Bravour. In Ermangelung der Bedrohung für Leib und Leben wird Risiko und Leistung verlagert: auf die potenzielle psychische Verwundung wie Burnout und Posttraumatische Belastungsstörung sowie auf die moralische, charakterliche Herausforderung angesichts der Gravität der Entscheidungen über Leben und Tod Anderer als eigene Art oder Dimension des Mutes und der Chance auf Größe bzw. der ganz eigenen Gefahr der »Teleoperationen«. »[W]atching a man play with his children, then seeing his mangled body takes a psychological toll. A recent Air Force study found that 29 percent of drone pilots suffered from ›burnout‹, with 17 percent

25 Vgl. ebd.; Rosa Brooks: What’s Not Wrong With Dronesς The wildly overblown case against remote-controlled war, Foreign Policy, 05.09.2012, URL: https://foreign policy.com/2012/09/05/whats-not-wrong-with-drones/ (Aufrufdatum: 01.03.2019). 26 George Monbiot: With its deadly drones, the US is fighting a coward's war, The Guardian, 30.01.2012, URL: https://www.theguardian.com/commentisfree/2012/jan/ 30/deadly-drones-us-cowards-war (Aufrufdatum: 01.03.2019). Auf das komplexe Verhältnis von Heldenehre als Kriegsregulativ kann hier leider nicht näher eingegangen werden.

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›clinically distressed.‹«27 Mit dieser ›Umheldung‹ wird der Drohnenpilot verteidigt oder rehabilitiert.28 Die ersatzheroische Lesart: Nicht der Soldat muss ins Kampfgeschehen, sondern er selbst mit seinem Körper als auch sozialem Leib ist Schauplatz des Gefechtes. Die »heroic anxieties over asymmetrical warfare«29 sind folglich nicht nur romantische Kehrseite der Befürchtung, physische und – qua Computerdisplays und Joystick – phänomenologische Distanz würden der psychologischen und moralischen Verrohung Vorschub leisten. Eine Befürchtung, die im Grunde eine personalisierte, vom Kollektiv auf den individuellen Soldaten projizierte ist – und die ihm eine symbolische Verantwortung für die politisch allzu verführerischen, verlustfreien und virtualisierenden HightechWaffensysteme aufbürdet. Nicht trotz, sondern weil der klare Kriegsrahmen fehlt, sind hier bestimmte Tugenden wieder gefragt. Mehr noch aber ist der Drohnenpilot ein Held, der gegen Inhumanität, Entindividualisierung und Entfremdung ankämpfen muss: Als Freud’scher Prothesengott (qua technischapparativen Extensionen und Potenzierungen)30 ist er noch kein ganzer Gott, ist Halbgott und damit automatisch ein ἥ ω , ein Heros im altgriechischen Verständnis. Dank Technik ist es ihm versagt, sich selbst zu beweisen, über sich hinauszuwachsen, umso mehr als nicht der Apparatus seine eigene souveräne Kraft und sein Wesen erweitert, sondern er bloß Diener, gar Funktionsteil der Maschinen ist, in die er eingespannt ist: die organisatorischen (von der er Befehle empfängt) und die technischen (denen er die Befehle übermittelt).

III. NEO-HEROISMUS DES DROHNENPILOTEN IN FILMISCHEN FIKTIONEN Spielfilme sind sowohl symbolische und symptomatische Kulturobjekte wie Aushandlungsinstanzen imaginativer, deutender und ideologisch-integrativer

27 Brooks [Anm. 25]. 28 Vgl. etwa Sparrow [Anm. 6]; Nicholas R. Brown: Unmanned? The Bodily Harms and Moral Valor of Drone Warfare, in: The Future of Drone Use. Opportunities and Threats from Ethical and Legal Perspectives, hg. v. Bart Custers, The Hague 2016, S. 189-207. 29 Marouf Hasian, jr.: Drone warfare and Lawfare in a Post-Heroic Age, Tuscaloosa, AL 2016. 30 Vgl. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930.

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Verarbeitungsleistung.31 Sie bzw. ihre Macherinnen und Macher fungieren als Dichtungen und »Dichter, die aus Kämpfern strahlende Helden machen, und dadurch wird die Heldenepik zum Wächter der Symmetrie des Kämpfens« 32 – selbst, wenn diese Helden nicht mehr ganz so strahlen und überdies fiktionale Figuren sind. Zwei Spielfilme veranschaulichen die Dilemmata postindustrieller und postheroischer Kriegsführung besonders gut. Der eine, ›Good Kill‹ (USA 2015)33, basiert u.a. auf den Erfahrungen des UAV-Camera Operators und Whistleblowers Brandon Bryant.34 Er erzählt die Geschichte von Major Thomas Egan (gespielt von Ethan Hawke) als eine des Selbstverlustes, von ethisch-moralischer Belastung, familiärer Zerrüttung und psychischer Desintegration. Als ehemaliger Kampfpilot steuert er von einer Air Force Base in Nevada aus Aufklärungs- und Target-Kills-Einsätze in Jemen und Somalia, beobachtet unsichtbar vom Himmel herab Untaten von Zielpersonen, ohne eingreifen zu können oder sieht sich, unter dem Befehl der CIA, gezwungen, bei der Terroristenjagd auch Zivilisten in den sicheren Tod zu schicken. Zuhause leidet er an Schlafstörung, flüchtet sich in den Alkohol. Zuletzt boykottiert er den Abschussbefehl mit sicheren Kollateralschäden, indem er einen Systemfehler vortäuscht und exekutiert eigenmächtig einen überwachten Militanten, den er wiederholt bei der Vergewaltigung einer Frau beobachten musste, wobei er sie, das Opfer, beinahe ebenfalls umbringt. Anschließend quittiert er den Dienst und verlässt mit seiner Ehefrau und den Kindern die Stadt. Wie viele (Anti-)Kriegsfilme der 2000er Jahre (und zuvor schon das Hollywood-Kino der Vietnamtrauma-Ära) ist ›Good Kill‹ ein Film über den seelisch und darüber sozial versehrten Soldaten als postheroisches victim unmenschli-

31 Vgl. Bernd Zywietz: Terrorismus im Spielfilm. Eine filmwissenschaftliche Untersuchung über Konflikte, Genres und Figuren, Wiesbaden 2016, S. 63 ff.; Bernd Zywietz: Grenzen des seismografischen Films. Zum konzeptuellen Verhältnis zwischen Film und Gesellschaft am Beispiel des Stereotyps zwischen Funktionalität und Angemessenheit, Rabbit Eye - Zeitschrift für Filmforschung 4 (2012), S. 16-34, URL: http:// www.rabbiteye.de/2012/4/zywietz_grenzen.pdf (Aufrufdatum: 01.03.2019). 32 Münkler 2015 [Anm. 10], Kap. 6: »Helden, Sieger, Ordnungsstifter. […]« (Abschnitt »Die Verwandlung des Kriegers in den Helden«). 33 Regie u. Buch: Andrew Niccol, dt. Verleihtitel: ›Good Kill – Tod aus der Luft‹. 34 Dazu wie zu »Imaginationen des Drohnenkriegs im Hollywoodkino« vgl. Martin Doll: Medialisierungen vernetzter Kriegsführung. Imaginationen des Drohnenkriegs im Hollywoodkino, in: Medialisierungen der Macht. Filmische Inszenierungen politischer Praxis, hg. v. Irina Gradinari [u.a.], Paderborn 2018, S. 273-296.

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cher, amoralischer Kriege und seiner Entscheider. Freilich – und das in Einklang mit Drohnen-Apologeten wie Brooks35 – gesteht ihm der Film den heroischen Status des sacrifice zu, als er sich für den ja nicht durchweg negativ oder sinnlos gezeichneten UAV-Dienst aufopfert und am Ende sich gar ermannt, den Befehl geschickt verweigert und selbst in fragwürdiger Selbstermächtigung einen Schuft tötet, um eine Frau vor diesem Peiniger zu bewahren. Egan wird so zum maskulinen Retter, nicht nur einer schutzbedürftigen Frau, sondern speziell einer Muslima.36 Stress und Trauma funktionieren als Ersatz für (und Überwindung von) Formen leiblichen Einsatzes und Opferns allerdings nur, weil sie den tolerierten seelischen Kosten eines selbstausbeuterischen Arbeits- und Berufsethos ähneln oder gar entsprechen, damit für eine postindustrielle, durchökonomisierte Zivilgesellschaft verständlich sind. ›Good Kill‹ bleibt aber selbst widersprüchlich (und reproduziert damit vielleicht symptomatisch die gesellschaftliche Ambivalenz), insofern sich Egan selbst (und der Film ihn) in die klassische Rolle des Soldaten hineinwünscht: die eines Angehörigen einer sozial abgegrenzten Kriegerkaste mit eigenen Regel und Werten.37 Dazu gehört freilich eine auch spatiotemporale Separierung. Visuell pointiert (und so Unnatürlichkeit markierend) erzählt und inszeniert Regisseur Niccol, was Drohnenpiloten selbst als Belastung schildern und Cara Daggett als sozialgeschlechtliche Desorientierung, als eine Art queeren Schwindel (vertigo) beschreibt.38 Neben dem Kollaps der Distanz-IntimitätPolarität, was die erlebte Nähe zu den menschlichen »Zielobjekten« anbelangt, meint das die Auflösung der identitätsformenden Achse von Heimat (home) und Gefecht (combat).39 Zu Beginn des Films sehen wir den Protagonisten nach Dienstschluss zunächst den Container seiner Steuerzentrale, dann mit seinem Auto die umzäunte Luftwaffenbasis verlassen und durch die Wüste fahren. Ganz auf die Assoziationsleistung des Zuschauers vertrauend, der hier eine golfarabische Region als Schauplatz vermutet, wirkt das Auftauchen der bunten, futuristi-

35 Brooks [Anm. 25]. 36 Vgl. Lila Abu-Lughod: Do Muslim Women Really Need Saving? Anthropological Reflections on Cultural Relativism and Its Others, American Anthropologist 3 (2002), S. 783-790, http://doi.org/ 10.1525/aa.2002.104.3.783. 37 Münkler 2015 [Anm. 10], Kap. 6: »Helden, Sieger, Ordnungsstifter. […].« 38 Vgl. Daggett [Anm. 6]. 39 In der Agenten-TV-Serie Tom Clancy’s Jack Ryan (USA 2018, Amazon Studios) wiegt die persönliche Schuld eines Drohnenpiloten am Tod einer falsch identifizierten Zielperson so schwer, dass er persönlich nach Syrien reist, um dort bei Vater und Sohn des Opfers Buße zu tun.

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schen Amüsiermetropole Las Vegas, in deren kleinbürgerlichen Vorort Egan mit der Familie wohnt, wie eine verblüffende Wendung, eine Art plot twist. Egan fliegt seine Fernsteuereinsätze zwar nicht vom Homeoffice aus, ihm als »cubicle warrior«40 liegen die Normalität des Heims und die permanente Ausnahmesituation seiner Arbeitsstelle gleichwohl zu dicht beieinander. Der zermürbend häufige und kurz getaktete Wechsel zwischen Kriegseinsatz hier und legerem GrillAbend mit den Nachbarn dort, mithin der permanente geistige Registerwechsel und damit das Trivialitätsgefühl der heimischen Beziehung- und Erziehungsprobleme setzen Egan zu. Das ist zwar für die Psychodramatik des Films profitabel. Letztendlich lässt es sich aber nicht nur als eine quasi unwürdige Banalisierung militärischer Aktion (bis hin zur gezielten Tötung) im »virtual war« auffassen, sondern auch als fast satirische Parabel auf Leistungsdruck der Arbeitsverhältnisse und Lebensmodelle, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder professioneller Burn-out-Existenz. Wenn der Tele-Krieg zum Computerspiel wird, heißt das, dass auch die Spiele zu Krieg werden? Und gilt das auch für die Berufe postheroischer Streiter im Zivilen, dem Feuerwehrmann und Notfallchirurgen? Ein anderer Spielfilm stellt noch deutlicher heraus, wie der alternative moralisch-tragische Heldenethos zu seiner Vermittlung dem Kino und Fernsehen einige Kniffe abverlangt. ›Eye in the Sky‹41 erzählt multiperspektivisch von einer Überwachungsoperation in Kenia. Über die Observation einer militanten Konvertitin stößt das internationale Antiterror-Kooperationsteam auf ein Haus in Nairobi, in denen sich al-Shabaab-Terroristen versammelt haben und vermutlich einen Anschlag vorbereiten. Der Film kreist nun um die Abwägungen der Optionen, die Konsultationen, politischen Kalküle und Abstimmungs- und Anordnungsprozesse unter Zeitdruck zwischen Geheimdienstlern und Militärs, Regierungsbeamten, Rechtsberatern und Außenministern, immer wieder unterbrochen und beeinflusst von neusten Lageerkenntnissen des kenianischen Agenten vor Ort. In dem komplexen Netzwerk ist der US-amerikanische Operator der Reaper-Drohne Watts (Aaron Paul) nur Befehlsempfänger, ein Rad im Getriebe, zugleich zentrale Stimme des Gewissens: Vor besagtem Zielgebäude hat sich ein kleines kenianisches Mädchen (Aisha Takow) niedergelassen, um Brot zu verkaufen. So drängt Watts, gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten, auf Schadensneukalkulation.

40 Lambèr Royakkers u. Rinie van Est: The cubicle warrior: the marionette of digitalized warfare, Ethics and Information Technology 3 (2010), S. 289-296, http://doi.org/10. 1007/s10676-010-9240-8. 41 UK / Kanada 2016; Regie: Gavin Hood, Buch: Guy Hibbert.

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Wie in ›Good Kill‹ ist der Mut des Soldaten einer des individuellen Widerstands, nicht der der schnellen, entschlossenen und unerbittlichen Tatkraft der Action-(Kriegs-)Helden, die Mann gegen Mann stereotype Bösewichte stoppen bzw. ausschalten.42 Für die emotionale, moralische Dramatik, gar die volle tragische Dimension des Schlusses – dem Tod des Mädchens als Kollateralschaden – muss der Film aber für das Publikum eine Nähe zu dem Kind als Opfer herstellen, die der Pilot mit dem technisch-operationalen Blick aus der Vogelperspektive nicht hat und haben kann. Die Erzählinstanz von ›Eye in the Sky‹ löst sie aus der Anonymität heraus, macht sie zur eigenständigen Nebenfigur mit Hintergrund, mit Zuhause und Familie, zeigt sie in Großaufnahme, als Mensch, als Individuum. Diese erzählerische und inszenatorische Nähe führt zum Punkt der Sichtbarkeit und des strategischen Einsatzes der Körper als strategischen Gegenentwurf auf Seiten von Jihadisten.

IV. JIHADISTISCHE KÖRPER- UND BILDERGUERILLA ALS ANTI-POSTHEROISMUS Wenn es um die operationale Visualität geht, ist eine Unterteilung in »heiße« und »kalte« Bilder bzw. »image operations« mit Jens Eder sinnvoll 43: Kalte Bilder sind die bereits beschriebenen technisch-prozessualen.44 »Heiße« Bilder(-operationen) dagegen »crucially depend on the affective force of images. They aim to trigger intense affective responses as motors of action in the general public, political factions or powerful individuals.«45 Aktivisten, NGOs, Regierungsstellen, aber auch Terroristen setzen solche teils beleghaften, vor allem aber emotionalisierenden Bilder gezielt ein, um Empörung hervorzurufen, politischen Druck aufzubauen und um zu mobilisieren. Auf Seiten der USA bzw. der US-Militärs können hier die Bilder vom Sturz der Saddam-Hussein-Statue auf

42 Vgl. Zywietz 2016 [Anm. 31], S. 248 ff.; 413 ff. 43 Jens Eder: Affective Image Operations, in: Image Operations. Visual Media and Political Conflict, hg. v. dems. u. Charlotte Klonk, Manchester 2017, S. 63-78. 44 »The are processed by machines in missile guidance or industrial production [...], serve as devices of surveillance or interactive simulation or provide information in military reports of surveillance or interactive simulation or provide information in military reports and other ›discourses of sobriety‹ governed by emotion control [...]«, Eder [Anm. 43], S. 63. 45 Ebd., S. 63.

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dem Bagdader Firdaus-Platz 2003 genannt werden oder die vielen Aufnahmen des Presse-Corps und der embedded journalists von martialisch gerüsteten Armeesoldaten, die freundlich mit Befreiten (v.a. Kindern) umgehen bzw. von diesen begrüßt werden. Eine feindliche Operation war und ist hingegen die taktische Verbreitung und Präsentation von Fotoaufnahmen der Häftlingsmisshandlungen im Abu-Ghuraib-Gefängnis, selbst wenn die Bilder von Soldaten auch für den Zweck der Einschüchterung neuer Gefangener selbst angefertigt wurden.46 Es lässt sich nun eine Dualität aufmachen: auf der einen Seite der unsichtbare, geschützte oder körperlose Drohnenpilot, die abstrakt-virtuellen Gefechtsbilder und epistemische wie mediale Absenz von Opfern, auf der anderen der Jihadist, der seinen Körper gezielt und bewusst einsetzt, gar – was seinen und die seiner Opfer anbelangt – eine geradezu viszerale Hypervisibilität anstrebt.47 Natürlich ist moderner Terrorismus per se eine Strategie, die alternativ zum militärischen Kampf auf Schockbilder als »mind bombs« setzt.48 Drei Arten von Körperzerstörungen und damit verbundene Bildsorten der Propaganda sind hier aber, quasi als Antwort auf einen »westlichen« Postheroismus, unterscheidbar und wirksam: Erstens die Opfer des Feindes – tote oder verstümmelte Leiber von Menschen, auch Kindern, häufig aus Trümmern der durch Luftschläge zerstörten Gebäude geborgen. Sie belegen und veranschaulichen die Brutalität und Indifferenz des Gegners, entlarven das Gerede vom Chirurgischen, Sauberen und Präzisen seiner Maßnahmen und Mittel. Eine andere Form der Gräuelpropaganda besonders des IS sind, zweitens, die expliziten Aufnahmen eigener Hinrichtungen: gefangene Feinde, Geiseln (neben vermeintlichen Verrätern oder Spionen), denen vor laufender Kamera in den Kopf geschossen oder die Kehle durch- und der Kopf abgeschnitten wird.49 Der sensori-

46 Hierzu wie überhaupt zum Faktor Bilder, Visualität und (In-)Visibilität im Rahmen der Revolution in Military Affairs seit den 1990er Jahren vgl. Nicholas Mirzoeff: The Right to Look. A Counterhistory of Visuality, Durham, NC 2011, S. 277 ff. 47 Vgl. Julia Welland: Violence and the contemporary soldiering body, Security Dialogue 6 (2017), S. 524-540, http://doi.org/10.1177/0967010617733355. 48 Vgl. Charlotte Klonk: Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden, Frankfurt a.M. 2017; Sebastian Baden: Das Image des Terrorismus im Kunstsystem, München 2017, S. 95 ff. 49 Zum Spektakelhaften der IS-Hinrichtungen vgl. u.a. Roxanne L. Euben (2017): Spectacles of Sovereignty in Digital Time: ISIS Executions, Visual Rhetoric and Sovereign Power, Perspectives on Politics 4 (2017), S. 1007-1033, http://doi.org/10.1017/ S1537592717002134.; Simone Molin Friis: Beyond anything we have ever seen:

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sche Leib des Publikums solcher medialen Aufnahmen wird mitinstrumentalisiert, insofern per Bild- und Audiobearbeitung in der Postproduktion die Exekutionen noch ästhetisch hyperrealisiert und das affektiv-sinnliche Erleben künstlich maximiert wird.50 »Seht her«, so lässt sich die Einschüchterung als Botschaft daraus destillieren, »wir wagen es, uns die Hände blutig zu machen«. Die Grausamkeit des Kriegers und die des Krieges werden kurzgeschaltet; die Art der Bilder und die Funktion wirken auch formal wie eine Umkehrung der »kalten« Techno-Bilder (hohe Farbbrillanz vs. Monochromie etc.). In langer Traditionslinie (auch der Heldendichtung) steht, drittens, das antipostheroische Aufopfern des eigenen Leibs und Lebens im Kampf, gar der Selbstmordanschlag als gezielte, auch psychologisch überwältigende Taktik. 51 Anhand politischer Testamente unterscheidet Graitl drei defensive (»einsamer Rufer«, »Opferlamm«, »verzweifelter Altruist«) und drei offensive Idealtypen von Selbstmordaktivisten: neben dem anklagenden Racheengel und dem egoistischen Märtyrer (der das paradiesische Jenseits als Belohnung anstrebt) den Heldenmärtyrer, der Hingabe, Loyalität, Stärke und Unbesiegbarkeit im Kampf gegen den Feind demonstrieren will.52 Bei den Shuhada (singular: Shahid) der ISPropaganda gehen Heldenstatus und Jenseitsbelohnung mit ihrer Erlösungskonnotation Hand in Hand. Zur Waffe im Israelisch-Palästinensischen Konflikt wurde der sunnitische Selbstmordanschlag in den 1990ern 53, damit zeitlich zum Aufkommen der postheroischen Virtualität westlicher Kriegsführung. Die Heroisierung palästinensischer Suizidattentäter ist – etwa mittels öffentlicher Poster –

beheading videos and the visibility of violence in the war against ISIS, International Affairs 4 (2015), S. 725-746, http://doi.org/10.1111/1468-2346.12341. 50 Vgl. Bernd Zywietz: Zur Ästhetisierung in und von IS-Video-Propaganda (I), OnlinePropagandaforschung, 21.04.2018. URL: www.online-propagandaforschung.de/index. php/2018/04/21/zur-aesthetisierung-in-und-von-is-video-propaganda-i/ (Aufrufdatum: 01.03.2019). 51 Vgl. Arata Takeda: Ästhetik der Selbstzerstörung. Selbstmordattentäter in der abendländischen Literatur, Paderborn 2010; James Dingley und Marcello Mollica: The Human Body as a Terrorist Weapon: Hunger Strikes and Suicide Bombers, Studies in Conflict & Terrorism 6 (2007), S. 459-492. 52 Lorenz Graitl: Sterben als Spektakel. Zur kommunikativen Dimension des politisch motivierten Suizids, Wiesbaden 2012, S. 245 ff. 53 Vgl. Meir Hatina: The ›Ulama‹ and the Cult of Death in Palestine, Israel Affairs 1 (2006), S. 29-51, http://doi.org/10.1080/13537120500381703. Meir Litvak: »Martyrdom is Life«: Jihad and Martyrdom in the Ideology of Hamas, Studies in Conflict & Terrorism 8 (2010), S. 716-734, http://doi.org/10.1080/1057610X.2010.494170.

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Teil der Alltagskultur; für sie wie für den IS und andere Jihadisten sind Statements, Portraits und Erzählungen von Märtyrern und ihren Taten zentrales Element ideologischer Praxis und der Propaganda (etwa als eigene Videogattung oder in der Rubrik »Among the Believers are Men« in der digitalen ISZeitschrift ›Dabiq‹). Sie generieren Rollenvorbilder und bieten Anreiz für Nachahmer. Der Märtyrerbegriff des IS umfasst neben den Selbstmordattentätern, die gezielt ihren Tod bei einem spezifischen terroristischen Anschlag suchen und den Kämpfern von Inghimasi-Einheiten, die im Verlauf von militärischen Aktionen die Sprengstoffwesten zünden, um möglichst viele Feinde mit in den Tod zu reißen, auch ›einfache‹ Soldaten, die während des Kampfes ums Leben kommen. Anders als im Westen werden diese gefallenen Helden nicht nur vor, sondern auch nach ihrem Tod gezeigt, in Großaufnahmen und zumindest wenn die Gesichter nicht allzu versehrt sind und einen friedlichen, schlafenden oder selig entrückten Ausdruck aufweisen (oder die Leichen entsprechend hergerichtet wurden). Schließlich sind noch die Videos und sonstigen Medientexte zu erwähnen, die (konträr zum postheroischen Unwillen, die eigenen Kinder an die bellizistisch verfolgte höhere Sache abzutreten) die militärische Ausbildung von Kinder- bzw. Jungensoldaten zeigen. Sie werden als lion cubs ganz auf die Schlacht hin erzogen. Einschlägige IS-Filme sind das Nashid-Video ›Sang pour Sang / Blood for Blood‹54, das den Weg eines Jungen vom Kriegsopfer in Stadttrümmern zum stolzen, auf Vergeltung ausgerichteten Kindersoldaten visuell erzählt, sowie ›My Father Told Me‹55, das gar das Erschießen eines Kriegsgefangenen durch einen Jungen als Teil des Häuserkampftrainings zeigt. 56 Der ›Dabiq‹Artikel »A Jihad Without Fighting« wiederum erinnert die Frauen des Kalifats an ihre Pflichten, u.a. »producing men, and sending them out to the fierceness of battle«.57 Illustriert ist der Beitrag ausschließlich mit Fotos von ernst blickenden Jungen in Flecktarnmontur. Ideologisch wird so der Jihad nicht nur nach außen wie nach innen als totale (und totalitäre) Anstrengung ausgedeutet und bereits das Üben an der Waffe zu blutigem Ernst, sondern dem Gegner auch biopolitisch und besonders demografisch gedroht.

54 Produktion: al-Hayat Media Center; April 2016 55 Produktion: Medienstelle Wilayat Rakka; Dezember 2016 56 Vgl. Zywietz [Anm. 50] 57 Dabiq, Nr. 11 (Sept. 2015), S. 40-45, hier: S. 41.

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V. AMBIVALENZ DES POSTMODERNEN RETRO-HEROISMUS IM KRIEGSWANDEL Wie der Postheroismus nicht den Kriegerhelden abgeschafft, sondern ihn in einen moralischen, humanitären und professionellen Heros transformiert hat 58, ist der IS-Jihadist nun weder schlichtweg »heroisch« (im Sinne von »prä-/ postheroisch«), noch ein völliges Gegenbild zum Drohnenpiloten und anderen Repräsentationsfiguren des autonomen remote warfare. Als Salafisten orientieren sich die IS-Jihadisten an den Altvorderen der Frühzeit des Islams, deren Sitten, Bräuche und Regelwerk auf literalistischen Auslegungen von Koran und Hadithen basieren. Auch als Kämpfer inszenieren sie sich dementsprechend, etwa zu Pferde, mit Schwert oder Träger des Schwarzen Banners. In den Videos und anderen Medientexten werden immer wieder die heutigen Kämpfe mit den historischen oder mythischen Schlachten des Frühislams gleichgesetzt. Entsprechend lässt sich bei diesen Rückbesinnungen und Aneignungen von einem reimaginativen Reenactment sprechen. Bezugsgröße ist nicht nur die Vergangenheit, sondern auch eine prophezeite Zukunft. Es stört den IS dabei jedoch nicht, für die Illustration dieser Rückbindung und der religiös-historischen Großerzählung (der wiederkehrende und fortwährende Widerstand gegen die »Kreuzzügler« etc.) auf Massenkampfszenen aus Hollywoodfilmen zurückzugreifen – oder gar aus dem Fantasy-Kinoepos ›Lord of the Rings‹.59 Bezüglich dieser wild vereinnahmenden Absorption von Zeichen60, der auch quasi kultischen Medialität, des Code-Mixing, der Zitathaftigkeit, spektakelhafter Oberflächlichkeit und des – freilich ernst gelebtem – Pastiche lässt sich beim IS von einem postmodernen Fundamentalismus, zumindest von einem re- oder retro-heroischen Zustand sprechen. Dieser gerät zugleich mit der Pragmatik des IS als hochadaptivem Akteur eines Neuen Krieges in Konflikt. Tatsächlich operiert auch der IS an der digitalen Front (Hackerangriffe und Propaganda-Dissemination) und muss den

58 Vgl. Kristian Frisk: Post-Heroic Warfare Revisited: Meaning and Legitimation of Military Losses, Sociology 5 (2018), S. 898-914, http://doi.org/10.1177/003803851668 0313. 2018. 59 Vgl. Alexandra Ma: ISIS ripped off a scene from ›The Lord of the Rings‹ in its latest propaganda

video,

Business

Insider

(South

Africa),

25.05.2018,

URL:

https://www.businessinsider.co.za/isis-rips-off-lord-of-the-rings-scene-for-propaganda -video-2018-5 (Aufrufdatum: 01.03.2019). 60 Vgl. John Lloyd: The radical post-modernism of Islamic State, Japan Times, 05.08.2016,

URL:

https://www.japantimes.co.jp/opinion/2016/08/05/commentary/

world-commentary/radical-post-modernism-islamic-state/ (Aufrufdatum: 01.03.2019).

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dort Engagierten ihres kollektiven Wertes und heroischen Status versichern, etwa mit Videos wie ›Media Man‹, ›You Are a Mujahid Too‹61 oder ›Inside the Khilafah 8‹62, in dem militärische Suizidmission und Terroranschlag mit dem Dienst am Rechner parallelisiert werden. Während sich (pro-)IS-Hacker aber noch als digitale Guerilla empfinden können und etwa 2016 eine Liste mit Namen von US-Militärangehörigen (samt Social-Media-Profilfotos) veröffentlichten, die vorgeblich an Drohnenoperationen gegen Ziele in Syrien und im Irak beteiligt waren63, hielt sich zumindest die Printpropaganda des IS mit Attacken gegen Drohnen als Militärmittel erstaunlich zurück. Zwischen 2008 und 2012 schalt noch al-Qaida bzw. die Medienstelle asSabab die USA nach Beginn der UAV-Einsätze verstärkt als feige und quasi terroristisch angesichts des unterschiedslosen Tötens auch Unschuldiger.64 Vergleichbare Töne – feige, inhuman, oppressiv – stimmte das berüchtigte englischsprachige ›Inspire‹-Magazin, herausgegeben von al-Qaida im Jemen, an.65 In den fünfzehn ›Dabiq‹-Ausgaben (2014-2016) sowie der dreizehn Titel des Nachfolgemagazins ›Rumiyah‹ (2016-2017) – so zeigt eine eigene Durchsicht des Autors – werden Drohnen hingegen als mächtiges, gefährliches Kriegsinstrument, jedoch überwiegend wertneutral und meist im Zusammenhang mit anderen Luftkriegstaktiken und -mitteln (v.a. Kampfjets) erwähnt. Das mag an der spezifischen Bürgerkriegssituation in Syrien liegen, vielleicht aber auch daran, dass der UAV-Einsatz zu einer militärischen Normalität geworden ist – oder am Umstand, dass der IS selbst Drohnen für sich entdeckt hat: Zunächst, um mit einfachen Quadrocoptern eindrucksvolle Vogelperspektivbilder für ihre Propaganda-

61 Produktionsstelle: Wilayat Salahuddin; Mai 2015. 62 Produktionsstelle: al-Hayat Media Center; Oktober 2018; vgl. zu dem Thema auch: Charlie Winter: Media Jihad: The Islamic States’ Doctrin for Information Warfare. (ICSR Report), London 2017. S. 9, URL: https://icsr.info/wp-content/uploads/2017 /02/ICSR-Report-Media-Jihad-The-Islamic-State%E2%80%99s-Doctrine-forInformation-Warfare.pdf (Aufrufdatum: 01.03.2019). 63 Vgl. Dipesh Gadher u. Toby Harnden: Isis hackers publish hitlist of drone pilots, The Sunday Times, 01.05.2016, URL: https://www.thetimes.co.uk/article/isis-hackers-pub lish-hitlist-of-drone-pilots-xz59sq5bb (Aufrufdatum: 01.03.2019). 64 Vgl. Marina Powers: Sticks and stones: the relationship between drone strikes and alQaeda’s portrayal of the United States, Critical Studies on Terrorism 3 (2014), S. 411421, http://doi.org/10.1080/17539153.2014.954822. 2014. 65 Vgl. Jan Andre Lee Ludvigsen: The portrayal of drones in terrorist propaganda: a discourse analysis of Al Qaeda in the Arabian Peninsula’s Inspire, Dynamics of Asymmetric Conflict 1 (2018), S. 26-49, http://doi.org/10.1080/17467586.2018.1428764.

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videos zu erstellen und damit den Gottesblick des Westens symbolisch für sich zu erobern. Später auch – in Videos selbst stolz präsentiert66 – als Vehikel für Aufklärungszwecke und zum Abwurf von eigenen Bomben über feindlichen Zielen.67 Es passt denn auch zur neuen normalen Ambivalenz des IS-Jihadisten als »postheroisch« kämpfenden Retro-Heros, dass 2016 auf der Gegenseite die erneute Einführung einer Auszeichnung für Drohnenoperatoren und CyberkriegSoldaten nun keine Kontroverse entfachte oder Spott erntete. 68 Dies wohl auch, weil sie dezenter, als Ergänzung zu bestehenden Dienstorden konzipiert war.

66 Video Knights of the Department (Medienstelle Wilayat Ninawa; Januar 2017). 67 Vgl. Don Rassler: The Islamic State and Drones. Supply, Scale, and Future Threats. (CTC Report), West Point, NY 2018, URL: https://ctc.usma.edu/app/uploads /2018/07/Islamic-State-and-Drones-Release-Version.pdf (Aufrufdatum: 01.03.2019). 68 Vgl. Torbati Yeganeh: Pentagon creates award for U.S. drone pilotes, cyber warriors, Reuters, 07.01.2016, URL: https://www.reuters.com/article/us-usa-military-awards-id USKBN0UL2MN20160107 (Aufrufdatum: 01.03.2019).

Die Doppelidentität des Helden Ein Konzept zwischen höfischer Epik und modernen Superhelden Thalia Vollstedt

Im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue wird der Protagonist Zeuge eines Kampfes zwischen einem Drachen und einem Löwen. Er entschließt sich, dem edleren Tier zu helfen, und rettet dem Löwen das Leben, indem er den Drachen tötet. Aus Dankbarkeit folgt ihm der Löwe fortan überallhin und unterstützt ihn im Kampf. Da Iwein seinen eigentlichen Namen nicht mehr benutzt, seit ihn seine Frau öffentlich des Wortbruchs angeklagt und verstoßen hat, werden seine Taten in der Folge als die des Löwenritters bekannt. In den Comics des Marvel-Verlags beginnt Sam Wilsons Superheldenkarriere, nachdem eine telepathische Verbindung zwischen ihm und seinem Jagdfalken hergestellt wurde, den er Redwing nennt und der ihn im Kampf gegen seine Gegner unterstützt.1 Mit Bezug auf seinen tierischen Begleiter benutzt Wilson denn auch im Einsatz den Decknamen ›Falcon‹. Nachdem das Verhältnis zwischen Superheld und Vogel in den früheren Comics metonymisch war, erhält Wilson später selbst Flügeltechnologie, mit der er im Kampf fliegen und sich nun auch mimetisch an Redwing angleichen kann. 2 Zwischen der Entstehung der beiden Heldenfiguren Iwein/Löwenritter und Sam Wilson/Falcon liegen mehrere Jahrhunderte. Umso frappierender ist die Ähnlichkeit zwischen diesen Figuren in ihrer jeweiligen Anlage als Held mit Doppelidentität. Die Doppelidentität des Helden ist im höfischen Roman des eu-

1

Vgl. Stan Lee u. Johnny Romita: Captain America 117-119 (September-November 1969) u. Steve Engelhart u.a.: Captain America and the Falcon 186 (Juni 1975).

2

Vgl. Steve Engelhart u.a.: Captain America and the Falcon 169-171 (Januar-März 1974).

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ropäischen Mittelalters ein durchaus gängiges Konzept – der Löwenritter Iwein steht dabei in einer Reihe etwa mit dem »›Karrenritter‹ im Lancelot, de[m] ›Roten Ritter‹ im Parzival oder de[m] ›Ritter mit dem Rade‹ im Wigalois«3 und führt als Sonderfall des Tierritters eine Liste an, auf der sich beispielsweise auch der Ritter mit dem Bock/Gauriel und der Ritter mit dem Adler/Wigamur finden.4 Ebenso gehört die Doppelidentität des Helden zum Superheldengenre seit dessen frühsten Vertretern konstitutiv dazu: Clark Kent alias Superman, Bruce Wayne alias Batman, Steve Rogers alias Captain America, Tony Stark alias Iron Man, Peter Parker alias Spiderman – das sind nur die vielleicht populärsten Beispiele; die Liste lässt sich leicht fortsetzen. Auf ihr stehen als ›Tiersuperhelden‹ neben Sam Wilson/Falcon auch Figuren wie Hank Pym und Scott Lang, die in ihrer Superheldenidentität als Ant-Man telepathisch mit Ameisen kommunizieren und diese tierischen Verbündeten für ihre Ziele einspannen. Doch die Parallelen, die bezüglich der Doppelidentität zwischen Superheldengenre und höfischer Epik bestehen, sind nicht auf äußere Merkmale beschränkt. Als besonders fruchtbar erweist sich vielmehr ein Vergleich unter Einbeziehung struktureller Elemente des Erzählens von Helden mit Doppelidentität. Geht es um Doppelidentitäten von Helden, liegt der Blick auf das Superheldengenre mehr als nahe. In den Marvel-Comics gibt es kaum eine Superheldenfigur ohne Doppelidentität; das Konzept scheint ein zentraler Bestandteil des Genres zu sein. Es bleibt auch dann noch erhalten, wenn in den Kinoverfilmungen des ›Marvel Cinematic Universe‹ der Zusammenhang zwischen Superhelden- und ziviler Identität bei den meisten Figuren auch der Öffentlichkeit bekannt ist und so die Funktion der Zweitidentität als bloße Tarnung für die meisten Figuren programmatisch ausgesetzt wird. Wenn der Grund für die Zweitidentität sich nicht mehr in der bloßen Schutzfunktion einer Geheimidentität erschöpft, ist umso genauer zu betrachten, welche Rolle das Konzept der Doppelidentität dann noch für die jeweilige Heldenkonzeption der Filmnarrative spielt. Komplexität und Details ihrer jeweiligen Ausprägung zeigen sich im Vergleich mit den Doppelidentitäten in den Ritterromanen des Mittelalters in besonderer Schärfe. Ebenso verspricht andersherum der Vergleich mit dem Superheldengenre erweiterte Erschließungsmöglichkeiten für die Bedeutung und Vielschichtigkeit von Doppelidentitäten in den mittelalterlichen Ritterromanen.

3

Sabine Obermaier: Löwe, Adler, Bock. Das Tierrittermotiv und seine Verwandlungen im späthöfischen Artusroman, in: Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischen Anthropologie vormoderner Literatur, hg. v. Bernhard Jahn u. Otto Neudeck, Frankfurt a.M. 2004 (Mikrokosmos 71), S. 121-139, hier: S. 139.

4

Vgl. ebd.

Die Doppelidentität des Helden | 251

Der folgende Vergleich der Figuren Iwein, Parzival und Tristan mit Steve Rogers alias Captain America – der eine der komplexesten Doppelidentitäten des Marvel-Franchise besitzt – stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem jeweiligen Ritter und dem modernen Superhelden in puncto Figurenkonzeption und Geschichte heraus und fokussiert jeweils einen besonderen Aspekt der mittelalterlichen Doppelidentität. Dabei wird auch jeweils eine bestimmte Schicht der Captain-America-Figur näher beleuchtet. So betont (1) der Vergleich mit den beiden verschiedenen, aber immer ritterlichen Identitäten Iweins die spannungsreiche Situation des Soldaten Rogers mit seinen beiden kampaffinen Identitäten in einer auch sonst von Superhelden bevölkerten, aber doch im Kern zivilen Welt und unterstreicht den besonderen Status der Captain-America-Figur auch gegenüber den anderen Marvel-Superhelden (Kap 3 u.4). (2) Im Vergleich mit Parzival, für den die Identität als Roter Ritter gerade insofern nicht zu spezifisch an ihn gebunden sein darf, als er sie (nur) vorübergehend annimmt, wird die letztliche Dominanz der äußeren Zeichen wie Rüstung und Schwert, Uniform und Schild über die körperliche Disposition sowie die daraus resultierende Option zum Ablegen und Umbesetzen der Superheldenidentität deutlich (Kap 5-7). (3) Dagegen übersteigt Tristans Zweitidentität Tantris die rein äußerlich fixierte Doppelidentität endgültig und weist mit einem Konzept von Teilidentitäten, die jeweils an inhärenten Eigenschaften und Fähigkeiten der Figur hängen, bereits in die Richtung jüngerer Identitätskonzepte um die vielzitierten ›inneren Werte‹, indem sie Tristans Künstlerseite als gleichberechtigte Komponente neben seiner Ritteridentität benennt (Kap 8. u. 9). Bevor diese einzelnen Vergleichstexte in den Blick genommen werden, sind die für diesen Aufsatz zentralen Konzepte der Identität (Kap.1) und der Doppelidentität (Kap. 2) grundlegend im Blick, wobei das erste Kapitel den strittigen Begriff der Identität in der mediävistischen Forschung erörtert und auf den Vergleich mit dem modernen Superheldengenre hin perspektiviert und das zweite Kapitel an den Phänomenen des MCU entlang aufzuweisen sucht, in welcher Dichte dort mit Doppelidentitäten gearbeitet wird.

I.

DIE IDENTITÄT DES HELDEN: MEDIÄVISTISCHE PERSPEKTIVEN – UND EIN AUSBLICK AUF DIE MODERNE

Zur Frage nach mittelalterlichen Konzepten von Identität bietet Anette Sosna in ihrer einschlägigen Dissertation einen breiten Forschungsüberblick. Zentral in der Diskussion zu diesem Thema ist die Auseinandersetzung mit grundsätzlichen

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Zweifeln daran, ob es im Mittelalter überhaupt Konzepte gibt, die sich mit dem Begriff der Identität im Sinne einer Individualität oder eines Ich-Bewusstseins angemessen erfassen ließen. Bei aller berechtigten Skepsis bezüglich eines mittelalterlichen Verständnisses von Identität im modernen Sinne erscheint umgekehrt aber auch eine Verallgemeinerung des Fehlens von Identitätskonzepten für eine Epoche oder das Postulat, der Identitätsbegriff sei allein für neuzeitliche Konzepte zu beanspruchen, wenig ratsam. Darüber hinaus untersucht Sosna den Identitätsbegriff nicht nur bezogen auf das historische Mittelalter, sondern auch speziell für die Literatur des Mittelalters. Dabei arbeitet sie unter anderem die Relationsbedingtheit von fiktionaler Identität heraus: Demnach konstituiert sich die Identität einer literarischen Figur im Mittelalter in Relation zu anderen Figuren beziehungsweise gesellschaftlichen Größen auf Handlungsebene oder zu noch weiter übergeordneten Mustern wie textübergreifend gültigen Handlungsschemata oder Rollenbildern. Im höfischen Roman steht Sosna zufolge in der Regel das Muster des perfekten Artusritters im Raum, mit dem sich der Protagonist vergleichen lässt, sodass dessen jeweilige Identität sich darin konturiert, wie er sich diesem Muster anpasst oder von ihm abweicht.5 Für das Folgende wird die Beobachtung von Bedeutung sein, dass die Abhängigkeit von äußeren Faktoren bei einem solchen Identitätskonzept die Erkennbarkeit der Identität von außen voraussetzt. Im Vergleich mit dem Superheldengenre zeichnet sich nun ein mögliches Konzept von Identität ab, das sich auch auf eine Vielzahl von mittelalterlichen Figuren anwenden ließe: Demnach wäre die Identität einer Figur eine von anderen Figuren als einheitlich aufgefasste Kombination aus einem Namen 6 (oder zumindest einer überschaubaren sprachlichen Referenzeinheit) und einer bestimmten, erkenn- und vor allem wiedererkennbaren äußeren Erscheinungsform – eine Einheit, über die visuell und sprachlich auf die entsprechende Figur Bezug genommen werden kann. Die Betonung der Sichtbarkeit und visuellen Erkennbarkeit des Helden korreliert sowohl mit der Darstellung von Superhelden in Comic, Film und Fernse-

5

Vgl. Anette Sosna: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200: Erec, Iwein, Parzival, Tristan, Diss. Tübingen 2002, S. 11-54. Vgl. dazu auch Judith Klinger: Möglichkeiten und Strategien der Subjekt-Reflexion im höfischen Roman. Tristan und Lancelot, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel, Stuttgart u. Leipzig 1999, S. 127-148, hier: S. 130-133.

6

Zur Bedeutung des Namens für die Wahrnehmung der Identität von außen vgl. JanDirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 172.

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hen als auch mit gängigen Vorstellungen vom Mittelalter als Epoche mit besonderer Affinität zur Körperlichkeit, Präsenz und äußerlich fixierten Erkennbarkeit von Personen. Dass das zweiteilige Konzept heute gängige Komponenten von Identität wie Charakterzüge oder biographische Hintergründe außer Acht lässt, ist freilich zuallererst eine Setzung, die aber auch den speziellen Bedingungen des hier angesetzten Vergleichs geschuldet ist: Es ist die Crux der Superheldenidentität überhaupt, dass sie – anders als ihr jeweiliges bürgerliches alter ego – keine individuelle Vergangenheit, keine eigene Biographie hat, sondern in nichts existiert als ihren jeweiligen Heldentaten der Gegenwart – ihrem unmittelbaren Auftreten – und eben ihrem Namen. In diesem Sinne fungiert der Begriff der Identität hier vor allem als Möglichkeit der Unterscheidung innerhalb der Doppelidentität – und ist also auch auf die mittelalterlichen Figuren anzuwenden. Tatsächlich fußt das hier angewendete Identitätskonzept, das sich – zielorientiert reduziert – aus erkennbarem Äußeren und sprachlicher Benennung zusammensetzt, im Kern auf einer Dynamik des Erkennens und Wiedererkennens als essentieller Bedingung der öffentlich aktiven, bekannten und anerkannten Heldenidentität. Indem es damit stark an bildliche und vor allem an äußerliche Merkmale gebunden ist, hebt es sich geradezu programmatisch von jüngeren Identitätskonzepten um Subjektivität und Individualität als internalisiertcharakterliche Größen ab und zeigt sich so gerade besonders geeignet für die Anwendung auf das Mittelalter als Epoche, in deren Literatur Identität als eng an sichtbare Zeichen im Bereich von Körperlichkeit, Ausstattung und Kleidung gebunden erscheint: »Wir haben uns in den letzten Jahren daran gewöhnt, im Mittelalter eine Epoche der Körperlichkeit zu sehen. Kommunikation ist in ihr stark rituell geprägt – und damit nicht nur von den vermittelten Inhalten, sondern vor allem von der körperlichen Präsenz der Kommunizierenden abhängig, abhängig auch von ihren sichtbaren Gesten und Statusinsignien. Macht zeigt sich darin, Räume gegen die Konkurrenz anderer mit dem eigenen Körper besetzen und verteidigen zu können, sie zeigt sich in überlegener körperlicher Gewalt. Die Frauenmystik stellt spirituelle Erfahrungen als körperliche dar, wenn nicht gar als sexuelle. Herrschaftsmodelle werden als Körpermodelle beschrieben, als Verhältnis von Haupt und Gliedern. Verwandtschaft wird als Teilhabe an einem gemeinsamen Sippenkörper imaginiert. Identität scheint, neben dem Wissen um Herkommen und Stand, vor allem an die sichtbare Oberfläche des Körpers gebunden.«7

7

Armin Schulz: Das Reich der Zeichen und der unkenntliche Körper des Helden. Zu den Rückkehrabenteuern in der Tristan-Tradition, in: Körperkonzepte im arthurischen

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Diese Affinität des Mittelalters zum Sichtbaren verbindet seine Literatur über die Jahrhunderte hinweg mit den visuell arbeitenden Medien Comic und Film, in denen das moderne Superheldengenre vor allem zu Hause ist: Das Bedürfnis, einen Helden erkennen und anhand dieses Erkennens benennen zu können, findet seine Entsprechung ebenso im Löwenritter mit dem Löwen und dem Roten Ritter in der roten Rüstung wie im Zeichensystem des Superhelden-Franchise, das für die Zweitnamen seiner Figuren eindeutige Erkennungsmarker schafft: einen Metallanzug für Iron Man, einen Falken als Begleiter und später auch noch Flügel für Falcon – und für Captain America eine Uniform und einen Schild mit den Farben der amerikanischen Flagge.

II. DIE DOPPELIDENTITÄT DES SUPERHELDEN IN DEN MARVEL COMICS UND IM MCU Ursprünglich – gattungsgeschichtlich gesehen – geht es Superhelden mit ihrer Superheldenpersona in erster Linie um lebenssichernde Geheimhaltung der wahren Identität. Es ist im Superheldengenre gängiger Usus, dass die Geheimidentität des Helden seine bürgerliche Existenz vor all den Schurken schützen soll, mit denen sich der Superheld immer wieder anlegen und damit jedes Mal von Neuem Vergeltungsschläge riskieren muss. Doch weitaus mehr geht es den meisten Superhelden darum, die Menschen in ihrem engeren Umfeld zu schützen. Dafür sind Bekenntnisse zum Nutzen der Geheimidentität wie dieses von Steve Rogers alias Captain America aus einem Comic der späten Sechziger Jahre typisch: »Captain America will have a secret identity […]. And those whose lives are closest to mine […] will be in less danger. Because if my enemies don’t know where – or who – I really am… they’ll have a tougher time finding them.”8

Roman. 6. Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft, Februar 2005, hg. v. Friedrich Wolfzettel, Tübingen 2007, S. 311-336, hier: S. 316. Später fügt Schulz angesichts von Tristans Verkleidungen in den Rückkehrabenteuern noch die Kleidung als Identitätsmerkmal hinzu: vgl. ebd., S. 328f. Vgl. zu diesem Thema auch Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 135) u. Florian Nieser: Die Lesbarkeit von Helden. Uneindeutige Zeichen in der ›Bataille d'Aliscans‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach, Berlin 2018. 8

Stan Lee u. Johnny Romita: Captain America 114 (Juni 1969), S. 1. Vgl. auch AletaAlmirée von Holzen: Marvel-lous Masked Men. Doppelidentitäten in Superheldenfil-

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Im 2008 gestarteten ›Marvel Cinematic Universe‹ (kurz MCU) wird die einfache Erklärung für die Doppelidentität der Superhelden als Geheimidentität zunächst eingespielt, um dann abgewiesen zu werden: Am Ende des ersten IronMan-Films tritt Protagonist Tony Stark, verkörpert von Robert Downey Jr., vor die Presse – eigentlich mit der Absicht, den ersten von der amerikanischen Öffentlichkeit bezeugten Einsatz seines alter ego Iron Man als das Eingreifen eines Bodyguards im Metallanzug zu erklären, was der Version entspricht, unter der Iron Man jahrelang in der Comicvorlage operiert. 9 Doch anders als dort entscheidet sich Tony Stark im Film letztlich gegen die Coverstory und setzt mit den Worten »Truth is: I am Iron Man«10 Maßstäbe für seine weitere Geschichte wie auch für das ganze Filmprojekt, das mit ›Iron Man‹ auf den Weg gebracht wird. Während sich in der Folge rasch Superheld nach Superheld in das wachsende Universum einklinkt, taucht erst 2016 im dritten Captain-America-Film mit dem jugendlichen Peter Parker alias Spiderman (Tom Holland) eine Figur auf, die tatsächlich die Geheimidentität aus der Comicvorlage einstweilen beibehält.11 Für alle anderen Figuren der Kinofilme stellt sich damit die Frage nach der sonstigen Funktion und, auf der Interpretationsebene, nach der Bedeutung der Doppelidentität. Bei Tony Stark etwa lässt sich eindeutig zwischen dem Privatmann und Unternehmer auf der einen und dem aktiven Superhelden auf der anderen Seite trennen. Genau dieser Trennung entspricht auch die Trennung zwischen seinem bürgerlichen Namen und dem Titel als Iron Man. Vor allem verweist sie aber auf

men, in: Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert, hg. v. Lars Schmeink u. Hans-Harald Müller, Berlin/Boston 2012, S. 187-202, hier: S. 197. 9

Vgl. Mike O’Sullivan: Marvel Cinematic Universe Guidebook. The Avengers Initiative, New York 2017, S. 11.

10 Jon Favreau: Iron Man, Grünwald 2008. 11 Dagegen ist die im MCU marginal länger aktive Figur Scott Lang alias Ant-Man (Paul Rudd) zwar nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch den anderen Superhelden zunächst noch unbekannt, allerdings mehr, weil Lang in der frühen Zeit seiner Superheldenkarriere mehr in der Peripherie der erzählten Welt aktiv ist, als aufgrund einer tatsächlichen Anstrengung zur Geheimhaltung der zivilen Identität seinerseits. Stattdessen sind seine ersten Worte, als er bei dem Versuch, mit den besten Absichten in das Hauptquartier der Avengers einzubrechen, abgefangen wird, in dieser Hinsicht bemerkenswert naiv: »Hi. I’m Scott« (Peyton Reed: Ant-Man. München 2017). Erst als er daraufhin erneut nach seiner Identität gefragt wird (»So, who the hell are you?« (ebd.)), schiebt Lang wie zur Erklärung hinterher: »I’m Ant-Man« (ebd.) und koppelt seine beiden Identitäten damit freiwillig aneinander.

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die Tatsache, dass Stark als Superheld nur operieren kann, wenn er den Metallanzug trägt, von dem auch der Name Iron Man herrührt – und dass er selbst körperlich in keiner Weise außergewöhnlich ist. Seine bürgerliche Identität ist klar mit dem Namen Tony Stark bezeichnet und in dem von Downey Jr. gespielten Unternehmer erkennbar und unterscheidet sich klar vom Superhelden Iron Man im Metallanzug – gezeigt meist sogar mit geschlossenem Helmvisier. Eine Überlappung beider Identitäten ist bildlich dann am stärksten, wenn Stark nur Teile seiner Rüstung, vor allem aber nicht den Helm trägt, was folgerichtig in den Filmen umso häufiger geschieht, je weiter Starks Heldengeschichte auf eine Vermittlung zwischen Superhelden- und ziviler Identität drängt.12 Ganz so klar stehen die bildlichen Elemente für die Trennung der zwei Identitäten eines anderen MCU-Superhelden nicht zur Verfügung: Steve Rogers alias Captain America, gespielt von Chris Evans, ist nach der Behandlung mit einem experimentellen Superserum in seiner körperlichen Leistungsfähigkeit zum absoluten Maximum gesteigert und damit schneller, stärker und ausdauernder als so ziemlich jeder andere Mensch. Seine Qualifikation zum Superhelden ist körperlich so internalisiert wie nur möglich und deshalb niemals ganz von seiner zivilen Identität zu trennen. Zwar trägt auch Captain America ein – zu allem Überfluss hochgradig symbolisch aufgeladenes – Kostüm in den Farben und mit der Musterung der amerikanischen Flagge. Doch anders als die Iron-Man Rüstung ist die Captain-America-Uniform tatsächlich vor allem Kostümierung und nicht Teil der Superheldenqualifikation; die liegt optisch erkennbar vor allem in der hochgradig muskulösen körperlichen Gestalt des Darstellers Evans und ist damit auch in den Filmsequenzen präsent, in denen die Figur Zivil trägt und damit nach der gängigen Logik des Genres den Steve-Rogers-Teil der Doppelidentität darstellen sollte. Selbst ein Teil des Superheldennamens ›Captain America‹ – im MCU ursprünglich Teil einer Medienkampagne – ist nicht vollständig von Steve Rogers loszulösen, denn ›Captain‹ ist auch sein militärischer Rang. Wenn seine Freunde und Verbündeten ihn also meistens mit ›Cap‹ ansprechen – obwohl sich die Superhelden des MCU untereinander sonst in aller Regel beim bürgerlichen Namen rufen –, liegt es nahe, dass sie sich nicht nur auf seine Superheldenpersona beziehen. Folgerichtig ist die Figur Steve Rogers/Captain America auch in Bezug auf die Bedingungen ihrer Heldengeschichte in vielerlei Hinsicht das exakte Gegenstück zu Tony Stark: Während dieser über die ersten Filme hinweg darum kämpft, den Heldenstatus auch unabhängig von der Ausrüstung für sich reklamieren zu können, droht Steve Rogers im Verlauf seiner Geschichte mehrfach so

12 Vgl. v.a. Shane Black: Iron Man 3, Grünwald 2013.

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gründlich in der Superheldenidentität Captain Americas aufzugehen, dass für ihn als bürgerliche Figur kein Raum mehr bleibt. Exemplarisch lässt sich das in Bezug auf das Liebesleben der Figuren durchspielen: Verglichen mit Iron Man, für den als Tony Stark die romantische Beziehung zu seiner anfänglichen Assistentin Virginia ›Pepper‹ Potts (Gwyneth Paltrow) einen wesentlichen Teil seiner Geschichte darstellt, fällt Steve Rogers im MCU durch einen eklatanten Mangel an Privatleben im eigentlichen Sinne auf. Unbeschadet der humoristischen Wirkung ist es nicht ohne tiefere Bedeutung, wenn sich Rogers im zweiten CaptainAmerica-Film laufend den Kuppelversuchen seiner Teamkollegin Natasha Romanoff alias Black Widow (Scarlett Johansson) ausgesetzt sieht und dabei ein ums andere Mal, vor allem auch mit Verweis auf den jeweils aktuellen Superheldeneinsatz, abblockt: Rogers’ Mangel an Liebesleben entspricht im Ganzen dem Mangel an Privatleben überhaupt – und damit auch einem Mangel an persönlicher Identität – bei einer Figur, deren Superheldenidentität stets dominant und körperlich präsent ist. Das ist nur ein kurzer Überblick über nur einen kleinen Teil der Doppelidentitäts-Konstellationen des MCU. Doch schon daraus geht hervor, dass das Fehlen der Geheimidentität die Doppelidentität nicht nur nicht überflüssig macht: Vielmehr wird die Unverzichtbarkeit des Konzepts für die Konstruktion der Heldenfiguren bestätigt. Entsprechend wird die Figur Steve Rogers/Captain America im folgenden Vergleich mit den Figuren der mittelalterlichen Epik hauptsächlich entlang ihrer Geschichte betrachtet, wie sie die Filme des MCU – mit einigen Abweichungen von der Comicvorlage – erzählen. Vereinzelt werden jedoch auch Aspekte aus den Comics herangezogen, die für das Verständnis der Figurenanlage als Ganzes erforderlich sind.

III. IWEIN UND DER LÖWE: DER TIERRITTER ALS ERSATZIDENTITÄT Was für die Superhelden im MCU gilt, lässt sich oft auch an den mittelalterlichen Helden feststellen: Ihre Doppelidentitäten sind keineswegs immer die Folge einer gezielten Täuschung – oder überhaupt als Geheimidentität angelegt. Wenn etwa der Ritter Wigalois auch als Ritter mit dem Rade bekannt ist, liegt das vorderhand und ganz unproblematisch einmal daran, dass sein Schildwappen ein goldenes Rad darstellt und er zusätzlich ein ähnliches Zeichen auf dem Helm trägt. In seinem Fall werden die beiden Namen synonym verwendet, bezeichnen also nicht wie bei einer voll funktionalen Doppelidentität zwar denselben Körper, aber unterschiedliche mit diesem Körper assoziierte Identitäten. Komplizier-

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ter liegt der Fall bei Hartmanns Löwenritter oder Wolframs Rotem Ritter. Doch auch wenn hier der Artuswelt längere Zeit tatsächlich unbekannt ist, dass hinter diesen (nach einigen vollbrachten Heldentaten renommierten) Namen eigentlich die Ritter Iwein respektive Parzival stecken, ist das ebenfalls weniger einem gezielten Versuch der Identitätsverschleierung durch die Figuren geschuldet. Stattdessen markiert der Zweitname eher eine Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Identität bei den Figuren selbst: Iwein hatte nach der Verstoßung durch seine Ehefrau vorübergehend den Verstand verloren und für eine Weile fernab der Zivilisation im Wald gelebt. Vom Wahnsinn geheilt, wieder ritterlich ausgerüstet und bald auch in Begleitung des von ihm geretteten Löwen, zieht er in der Folgezeit einstweilen noch nicht wieder unter seinem eigentlichen Namen umher, sondern lässt sich stattdessen als Löwenritter bezeichnen. 13 Der junge Parzival ist derweil zu Beginn seiner Zeit als Roter Ritter noch dabei, seine eigentliche Identität überhaupt erst auszubilden. Iwein war kurz nach der Hochzeit mit Laudine zu einer ausladenden Turnierfahrt aufgebrochen, hatte allerdings seiner Frischangetrauten versprochen, nach einem Jahr zurückzukommen. Er versäumt jedoch die Frist und handelt sich damit den Zorn seiner Ehefrau ein, die über eine Botin Iweins gebrochenes Versprechen vor der versammelten Artusrunde anprangert und ihrem Mann den Ehebund aufkündigt. Das entzieht Iwein nicht nur die Lizenz als Ehemann: Die öffentliche Anklage macht ihn auch als Ritter unmöglich, und so erleidet er den Verlust aller Komponenten seiner Identität – als Laudines Ehemann, als Landesherr über ihr Reich und als Artusritter.14 Nach einer Phase tiefster Sinnesverwirrung wieder bei klarem Verstand, hält er die Erinnerungen an seine Zeit als Iwein für einen Traum und bestreitet seine nächste Rittertat – den Kampf für die Gräfin von Narrison – als Namenloser. Kurze Zeit später rettet er im Drachenkampf dem bereits erwähnten Löwen das Leben. Damit verdient er sich nicht nur

13 Vgl. Obermaier [Anm. 3]. Obermaier geht von Iwein als ›Tierritter‹ neben Gauriel und Wigamur aus, stellt die Identität als Löwenritter jedoch am Ende ihres Aufsatzes auch wieder mit den Zweitidentitäten von Chrétiens Lancelot, Wolframs Parzival und Wirnts Wigalois in eine Reihe. 14 Vgl. Klaus Speckenbach: Rîter – geselle – herre. Überlegungen zu Iweins Identität, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4. - 7. Januar 1996, hg. v. Dietmar Peil i. Verb. m. Wolfgang Frühwald, Tübingen 1998, S. 115146 u. Jan-Dirk Müller: Imaginäre Ordnungen und literarische Imaginationen um 1200, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003 (2004), S. 41-68.

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einen treuen Begleiter: Mit der Bezeichnung als Löwenritter 15 und dem Löwen an seiner Seite als Erkennungszeichen gewinnt er auch eine neue IdentitätsEinheit, die einerseits von den Versäumnissen und dem öffentlichen Stigma der unmöglich gemachten Iwein-Identität unbelastet ist16 und andererseits das ausgezahlte Kapital17 aus der Hilfeleistung für den Löwen darstellt. Unter dem neuen Namen kann sich Iwein einen ›guten Ruf‹ als Ritter in der Artuswelt buchstäblich wieder erkämpfen.18

15 Vgl. Obermaier [Anm. 3], S. 137: »Nur im Iwein erfüllt der Tierritter-Name die delikate Funktion, einerseits Deckname für Iwein zu sein und andererseits – in der Zeit seines Inkognitos – seine Identifizierung überhaupt zu ermöglichen.« 16 Vgl. Andreas Hammer: Schöpfung – Magie – Erzählung. Name und Zeichen von den althochdeutschen Zaubersprüchen bis zum höfischen Roman, in: Name, Ding. Referenzen, hg. v. Stefan Börnchen [u.a.], München 2012, S. 39-58, hier: S. 55. 17 Vgl. Haiko Wandhoff: Iweins guter Name. Zur medialen Konstruktion von adliger Ehre und Identität in den Artusromanen Hartmanns von Aue, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel, Stuttgart u. Leipzig 1999, S. 111-126. Wandhoff benutzt den Begriff des Kapitals zunächst in Bezug auf den Verlust von Iweins gutem Ruf nach Lunetes öffentlicher Anklage wegen des Fristversäumnisses am Artushof: »Konnte Iwein mit seinem guten Namen bisher stets über sein Ehrvermögen verfügen, das ihn selbst aus kritischen Situationen hinausmanövrierte, so steht ihm dieses Kapital fortan nicht mehr zur Verfügung.« In Entsprechung dazu wird die neue Identität vor allem als Tragfläche für den Rückgewinn des verlorenen Renommees interpretiert: »Aus dem unermüdlichen Einsatz für die Wiederherstellung des Rechts erwächst dem unbekannten Löwenritter bald ein guter Ruf.« (S. 123) 18 Vgl. Obermaier [Anm. 3], S. 126: »Sein eigener Name Iwein ist mit der Verfluchung Lunetes, der Zofe Laudines, zum Schandnamen geworden […].« Es ist aufschlussreich dafür, wie naheliegend diese Lesart für Iweins Situation sein müsste, dass Obermaier sie in dieser Eindeutigkeit voraussetzt, obwohl Hartmanns Text die Annahme einer kategorischen Verbannung Iweins aus der Gesellschaft keineswegs einhellig bestätigt; wird doch unter anderem ausdrücklich erwähnt, dass kein Geringerer als König Artus persönlich den von Lunete geschmähten Ritter nur zu gerne getröstet hätte, wenn dieser nicht bereits fluchtartig vom Hof verschwunden wäre. Zum ›sozialen Tod‹ Iweins vgl. auch Anna Mühlherr: Die ›Macht der Ringe‹. Ein Beitrag zur Frage, wie sympathisch man Iwein finden darf, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne, hg. v. Friedrich Michael Dimpel u. Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 125-143, hier: S. 137-141 u. Florian Nieser: Two rings to break them all. Zur agency des neuen Rings der Macht in ›Shadow of War‹ und der

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Dass der Löwe unzweifelhaft in der zweiten Hälfte von Iweins Geschichte eine wichtige Position einnimmt,19 ist auch in der Forschung zu Hartmanns Roman reflektiert. Sabine Obermaier listet mehrere symbolische Interpretationen der Tierfigur auf,20 argumentiert allerdings selbst gegen die Symbolfunktion n u r des Löwen und dafür, dass »das Paar Löwe-Iwein, das bereits im Namen ›der Ritter mit dem Löwen‹ als Einheit erscheint«,21 das eigentliche Symbol bildet und auch dazu »erst im Laufe des Textes […] aufgebaut wird« 22. Martin Schuhmann dokumentiert 2007 ebenfalls für die bestehende Forschung vor allem Auslegungen des Löwen als Symbol oder als »intratextuelle Spiegelung, intertextuellen Verweis oder als poetologisches Signal«23 und kritisiert diese, ohne ihnen Plausibilität und Anwendbarkeit grundsätzlich abzusprechen, als nicht für die ganze Länge der Löwenauftritte im ›Iwein‹ voll belastbar. Er selbst interpretiert den Löwen als erweiterte, gewissermaßen ausgelagerte Eigenschaftsmatrix der Hauptfigur: »Begleitete der Löwe Iwein nicht, würde den Löwenritterromanen von der Handlungsstruktur und der engeren Handlung an sich nicht viel fehlen – geschwächt wäre vor allem die Zeichnung Iweins.«24 Schuhmanns Interpretation, dass der Löwe vor allem zur Identitätszeichnung des Protagonisten in Hartmanns Text beiträgt, liegt von der Anlage der Löwenfigur her durchaus nahe. Dass diese Lesart dennoch so programmatisch gegen Großteile der ›Iwein‹-Forschung

zwei Ringe im mittelalterlichen ›Iwein‹, in: Sonderausgabe Paidia – Zeitschrift für Computerspielforschung: Vom ›Wigalois‹ zum ›Witcher‹. Mediävistische Zugänge zum Computerspiel, hg. v. Franziska Ascher u. Thomas Müller, http://www.paidia.de/ two-rings-to-break-them-all-zur-agency-des-neuen-rings-der-macht-in-shadow-ofwar-und-der-zwei-ringe-im-mittelalterlichen-iwein/ (Aufrufdatum 13.08.2019). 19 Vgl. Bruno Quast: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns ›Iwein‹, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hg. v. Beate Kellner, Frankfurt a.M. [u.a.] 2001, S. 111-128. 20 Vgl. Obermaier [Anm. 3], S. 123f. 21 Ebd., S. 126. 22 Ebd. Vgl. dazu auch Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe, 2., durchges. Aufl., Berlin [u.a.] 2015, S. 32 u. 339. 23 Martin Schuhmann: Körper im Text – der Löwe und der Löwenritter, in: Körperkonzepte im arthurischen Roman. 6. Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft, hg. v. Friedrich Wolfzettel, Tübingen 2007, S. 337-352, hier: S. 340. 24 Ebd., S. 350.

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gestellt werden muss, verweist auf einen tendenziell unterschätzten Status der Doppelidentität des Helden in der Untersuchung des höfischen Romans. Für die hier versuchte Konturierung des Löwenritters als Zweitidentität Iweins fungiert der Löwe, wie oben angedeutet, einerseits als optisches Erkennungszeichen, zum anderen als Namensgeber. Dass mit ihm beide Komponenten der Löwenritter-Identität an die ursprüngliche Hilfeleistung Iweins gegen den Drachen rückgebunden sind, weist die Löwenritter-Identität als erwerbbar und verdient aus. So hat es auch keinen bloßen Täuschungscharakter, wenn noch im Moment der Versöhnung mit seiner Frau Iweins Zweitidentität eine entscheidende Rolle spielt: An ihr ahnungslos gegebenes Versprechen gebunden, den – ihr vermeintlich unbekannten – Löwenritter mit seiner ihm zürnenden Gemahlin zu versöhnen, muss Laudine Iwein verzeihen. Doch dieses Versprechen hatte sie im Austausch für die Schutzzusicherung des Löwenritters gegeben – womit die List, die letztlich zur Versöhnung führt, nur möglich ist, weil sich der Löwenritter in den Taten, die Iwein unter diesem Titel vollbracht hat, als wünschenswerter Beschützer erwiesen hat. Die Taten des Löwenritters erkaufen so die Chance auf die Lösung von Iweins Eheproblem. »In der Gemeinschaft Iweins mit dem Löwen zeigen sich demnach Qualitäten, die Iweins Tauglichkeit zur Landesherrschaft und damit seine Laudine-Würdigkeit bestätigen.«25 Zu Laudine heimgekommen, kehrt der Protagonist jedoch auch zum Namen Iwein – den er freilich schon früher als den seinen erkannt und zwischenzeitlich auch bereits wieder benutzt hatte – endgültig zurück. Noch bemerkenswerter ist, dass der Löwe am Ende des Romans – wie Nicola Kaminski in ihrem einschlägigen Aufsatz minutiös herausarbeitet – ohne Erklärung aus der Erzählung verschwindet, indem er schließlich einfach nicht mehr erwähnt wird. Kaminski bewertet das Verschwinden des Löwen als Verlust der Löwenritter-Identität und beurteilt die Rückkehr der Figur zum Ritter Iwein als aporetischen Rückschritt. 26 Besonders wichtig ist hier einstweilen vor allem die Beobachtung, dass der Löwe als komplett externer Träger beider Komponenten der Löwenritter-Identität – der visuellen und der sprachlichen – verhältnismäßig leicht von Iweins Person zu lösen ist und sich damit auch der Wechsel zwischen den Identitäten für diesen Helden ähnlich sauber vollziehen lässt wie für Tony Stark, der, anders als Steve Rogers, den Träger seiner Superheldenidentität – den Metallanzug – einfach ablegen kann.

25 Obermaier [Anm. 3], S. 127. 26 Vgl. Nicola Kaminski: »Ich war schließlich dabei« oder Die Wiederkehr des wegerzählten Löwen. Chrétien – Hartmann – Hoppe, Germanisch-romanische Monatsschrift 64 (2014), H. 2, S. 143-173.

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Fest steht, dass mit der sukzessiven Wiederannahme des Namens Iwein und dem Ausblenden des Löwen aus der Erzählung die Zweitidentität tatsächlich ebenfalls aus der Geschichte verschwindet. Aus der akuten Notlage der Namenund Identitätslosigkeit nach dem Wahnsinn entstanden und damit ursprünglich vor allem als Ersatzidentität angelegt, wird sie spätestens dann unnötig, wenn erst der Artushof und dann auch Laudine im Löwenritter Iwein erkennt und die beiden Namen irreversibel für das relevante Umfeld der Figur synonym werden.

IV. DER SUPERSOLDAT STEVE ROGERS IN EINER ZIVILEN WELT: WENN HELDENTUM ISOLIERT – UND EIN OUTFITWECHSEL NICHT WEITERHILFT In dem Moment, wo der Zusammenhang zwischen Iwein und dem Löwenritter bekannt wird, löst sich also die Doppelidentität auf. Hier zeigt sich nun doch ein zentraler Unterschied der Löwenritter-Konstellation zu denjenigen Superhelden der Moderne, deren zivile Identität der inszenierten Öffentlichkeit (in Comic 27 und Film) immer schon bekannt ist. Mangels Geheimidentität ist hier eigentlich immer klar, dass die beiden Namen der Protagonisten (Tony Stark und Iron Man, Steve Rogers und Captain America, Natasha Romanoff und Black Widow etc.) jeweils auf dieselbe Person referieren. Der Grund dafür, dass der Superheldenname hier trotzdem nicht – wie letztlich die Bezeichnung Iweins als Löwenritter – unnötig wird, sondern durchgehend im Gebrauch bleibt, liegt im Verhältnis von Gesellschaft und Einzelheld, das für so viele mediävistische Identitätskonzepte zentral ist28: Der bürgerliche Name der Marvel-Figuren bezeichnet eine Person, die in die umgebende Gesellschaft integriert ist oder es doch sein sollte – und diese Gesellschaft ist eine primär zivile. Demgegenüber bezeichnet der Superheldenname eine Person, die sich durch bestimmte Qualifikationen – in der Regel zum Kampf – vom Rest der Gesellschaft abhebt und deshalb in dem Moment, wo sie diese Qualifikationen einsetzt, außerhalb der Gesellschaft steht. Damit bezeichnen die doppelten Namen im Superheldengenre vor allem auch

27 So agieren die Fantastic Four als erstes Superheldenteam des Marvel-Verlags schon von Anfang an auch in den Comics ohne Geheimidentität, während andere MarvelFiguren diese dort – zumindest zunächst noch – beibehalten: vgl. Stan Lee u. Jack Kirby: Die Fantastischen Vier. Klassiker der Comic-Literatur, m. einer Einl. v. Patrick Bahners, Frankfurt a.M. 2005. 28 Vgl. Sosna [Anm. 5], S. 11-54.

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jeweils die Position der Protagonisten gegenüber einer Umwelt, die im Ganzen nicht ›super‹ ist. In der Artuswelt dagegen ist Iwein Teil einer Rittergesellschaft, in der seine Kampfkraft und seine höfische Raffinesse schon seiner ursprünglichen Identität den Platz in seinem Umfeld sichern, anstatt ihn auszugrenzen. Erst als er diesen Platz verliert und nunmehr außerhalb der Gesellschaft steht, braucht er eine zweite Identität, um diese Außenseiterposition zu definieren. Allerdings ist die Figur auch als Außenseiter29 immer noch Ritter und im Besitz ihrer entsprechenden Fähigkeiten. So ist es nur folgerichtig, wenn auch diese zweite Identität nicht dauerhaft auf die Außenseiterposition, sondern am Ende auf die Reintegration der Figur in die Gesellschaft angelegt ist. Artusritter haben per se keine zivile Identität, und bei allen Fragen, die das hinsichtlich der Ritterkonzeption des historischen Mittelalters aufwerfen mag, ist es zunächst einmal ein literarischer Befund: Der literarische Typus ist so angelegt, dass er auch als Landesherr und Ehemann immer gleichzeitig noch Ritter bleibt. Das ist ein profunder Unterschied zu den meisten Superhelden der Gegenwart: Sie sind Teil einer Erzählwelt, die zu großen Teilen eine zivile Gesellschaft enthält und den Kampf auf bestimmte Bereiche beschränkt: Neben dem aus Einzelpersonen zusammengesetzten Bereich der Superhelden, der diesem Genre eigen ist, betrifft das vor allem das Militär. Und während der höfische Roman des Mittelalters sich auf die Kampfelite des Ritterstandes konzentriert, erzählt das moderne Superheldennarrativ in den meisten Fällen ebenso von Menschen mit einem bürgerlichen Leben wie von kämpfenden Heldenfiguren. Doch gerade hier nimmt Steve Rogers eine Sonderposition ein, da er vor und während seiner Zeit als Captain America Soldat ist und damit auch in seiner eigentlich zivilen, gesellschaftsintegrierten Identität dem kampfaffinen Teil der Gesellschaft angehört. Er steht den Helden des mittelalterlichen Artusromans damit näher als viele andere Superhelden, deren ursprüngliche Identität tatsächlich vollständig zivil ist. Der doppelten Möglichkeit der sprachlichen Bezugnahme auf Rogers in der Anrede als ›Captain‹ entspricht die partielle Überschneidung der beiden Identitäten Iweins in der Bezeichnung als ›Ritter‹. Und wie Laudine bei allen Spannungen zwischen Landesherrschaft, Ehe und Ritteraventiure30 wissentlich einen Ritter geheiratet hatte und sich auch am Ende

29 Der Begriff des Außenseiters bezeichnet bei Iwein freilich vor allem seine räumliche Entfernung von der Gemeinschaft, der er zuvor angehört hatte, und allenfalls noch sein selbstauferlegtes Exil, da eine aktive gesellschaftliche Ausgrenzung zumindest von Seiten des Artushofes nicht stattfindet. 30 Vgl. Speckenbach [Anm. 14].

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des Romans in ihrer Not wieder an einen Ritter wendet – Iwein also selbst als Ehemann immer auch Ritter ist und sein muss –, ist Steve Rogers in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen letztlich nahezu völlig auf Captain Americas typisches Milieu von Militär, Geheimdienst und Superheldenteam beschränkt. Tony Stark hat mit ›Pepper‹ Potts eine Partnerin an seiner Seite, die gänzlich aus dem Umfeld seiner zivilen Identität stammt und nie ganz in die Welt seiner IronMan-Aktivität übertritt.31 Dagegen versucht sich Steve Rogers zwar in ›Captain America: The Winter Soldier‹ an einer Kontaktaufnahme zu Menschen aus der zivilen Gesellschaft; jedoch führen diese Vorstöße in Richtung Privatleben am Ende doch wieder zurück in die Welt Captain Americas: Der Kriegsveteran Sam Wilson (Anthony Mackie), mit dem sich für Rogers eben noch eine persönliche Freundschaft angebahnt hatte, legt angesichts eines akuten Notfalls mit Superheldenbedarf seine Vergangenheit als Teil eines militärischen Sonderprojekts offen und wird als geflügelter Superheld Falcon wieder aktiv. 32 Ebenso entpuppt

31 Daran ändert sich auch nichts Grundlegendes, wenn Potts zweimal kurz aktiv in die jeweils aktuellen Kampfgeschehnisse eingreift: einmal am Ende von ›Iron Man 3‹, wenn sie unter dem Einfluss einer genetischen Manipulation steht, und ein weiteres Mal auf dem Höhepunkt von ›Avengers: Endgame‹, wenn sie für den das Schicksal der Erde entscheidenden Kampf gegen eine Invasion von Aliens zum ersten Mal den Kampfanzug anlegt, den Stark zu ihrem Schutz gebaut hat. Für Potts sind dies Ausnahmesituationen – und es ist kennzeichnend für ihre Beziehung zu Stark, dass sie ihn immer wieder von seiner eigenen Superheldentätigkeit abzubringen versucht. Sie erscheint darin als vergleichsweise konventionelles love interest des ihm zugeordneten Helden – vergleichbar am ehesten wohl einer Gyburc (aus dem ›Willehalm‹), die im Notfall auch bereit ist, selbst zu kämpfen, diese Aufgabe jedoch dankbar wieder an Willehalm übergibt, als er nach Oransche zurückkehrt. 32 Hierin unterscheidet der Sam Wilson der MCU-Filme sich natürlich entscheidend von seinem Gegenstück in den Comics; er ist damit eine von mehreren Figuren, deren Hintergrundgeschichte für die Filme grundlegend verändert wurde. Redwing ist in den Filmen eine – später Wilsons Ausrüstung hinzugefügte – vogelförmige Drohne; das Verhältnis zwischen Superheld und Begleiter bezüglich der äußeren Erscheinungsform ist damit genau umgedreht. Die Zurückdrängung des tierischen Gefährten als entscheidender Komponente der Heldenidentität erinnert an die vergleichbaren Phänomene, die Nicola Kaminski in der Rezeption des Iwein-Stoffes für den Löwen feststellt: vgl. Kaminski [Anm. 26]. Die Veränderungen an der Falcon-Figur für die Filme macht sie auch für den hier angesetzten Vergleich – trotz der ursprünglichen Ähnlichkeit seiner Doppelidentität mit der Iweins – weniger geeignet. In den Filmen fungiert Wilson größtenteils als unproblematischer Sidekick für Steve Rogers/Captain Ameri-

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sich die Krankenschwester Kate, mit der Rogers einen zaghaften Flirtversuch wagt, wenig später als schlagkräftige Geheimagentin Sharon Carter alias Agent 13 (Emily VanCamp) im Undercover-Einsatz. Dass sein solchermaßen beschränktes Umfeld Rogers nicht nur auch dann mit ›Cap‹ anspricht, wenn er nicht in seiner rot-weiß-blauen Uniform steckt, sondern vor allem häufig ›Cap‹ und ›Steve‹ wechselweise als Anrede gebraucht, macht auf der Bezeichnungsebene die Untrennbarkeit von Zivilperson und Superheld in dieser speziellen Figur deutlich und korreliert mit der Untrennbarkeit von Zivilperson und Superheld im Körper des Helden und – auf der Ebene der filmischen Darstellung – in der Muskelmasse des Darstellers Evans. Von der Funktionszuweisung der beiden Namen her steht Steve Rogers/Captain America damit gewissermaßen zwischen Superheldenfiguren wie Tony Stark/Iron Man, bei denen mit den beiden Bezeichnungen auch die beiden Identitäten (und in Erweiterung die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Welten) sprachlich klar unterscheidbar sind, und einer Figur wie Iwein, der in seinen beiden Identitäten immer Ritter ist. Rogers ist Soldat und kann in beiden Identitäten als ›Captain‹ bezeichnet werden; auch seine Kampffähigkeiten sind Teil seiner selbst und stehen ihm damit immer zur Verfügung. Doch wo der Artusritter im Artusroman gesellschaftlicher Standard ist, gehört der Soldat in der Gesellschaft, die das MCU-Setting präsentiert, zu einem von vielen Berufsständen; und Rogers übergroße Leistungsfähigkeit erlaubt ihm langfristig nicht einmal einen Platz unter anderen Soldaten, sondern weist ihn der Sphäre der Superhelden zu. Deren konstitutives Außenseiter-Setting isoliert bis zu einem gewissen Grad alle ihr zugeordneten Figuren zumindest in ihrer Superheldenidentität vom Rest der Gesellschaft. Da Captain America in Steve Rogers kein gesellschaftsintegriertes Gegenstück hat, umfasst die Isolation des Superhelden letztlich beide. So steht Tony Starks ständigem Spagat zwischen seinem zivilen Leben und Iron Mans Superheldenaktivitäten und Iweins Weg zurück zu der ursprünglichen Ritteridentität über eine a n d e r e Ritteridentität mit Steve Rogers/Captain America ein Superheld gegenüber, dessen eigentlich zivile Seite mit der Superheldenidentität aus Gesellschaft und Alltag mitexiliert wurde. Das gibt besonders hinsichtlich der Frage zu denken, was die verschiedenen Spielarten von Doppelidentität für das Heldenkonzept leisten können. Der Grundgedanke des doppelten Namens ist im Superheldengenre unschwer er-

ca und erhält eine Hintergrundgeschichte, die die Nähe der beiden Figuren über eine ähnliche Erfahrung begründet, indem sie Wilson den traumatischen Verlust eines Freundes im Kampfeinsatz zuschreibt, wie Steve Rogers ihn mit seinem Kindheitsfreund James ›Bucky‹ Barnes (Sebastian Stan) erlitten hat.

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kennbar die Zuordnung des Heldenbegriffs zu dem Namen derjenigen Teilidentität, die mit der Aktivität im Kampf verbunden ist.33 Während sich das mit gängigen Übersetzungsvarianten des mittelhochdeutschen Worts helt durchaus vereinbaren ließe,34 ist die Idee, die Begriffe ›Kämpfer‹ und ›Held‹ synonym zu gebrauchen, heute längst problematisch geworden. 35 So nimmt auch das ›Marvel Cinematic Universe‹ die Zuordnung des Heldenbegriffs über die Kampfqualifikation ihrer Figuren nicht einfach unkritisch an. Stattdessen wird der Zusammenhang von Heldenstatus und Kampfkraft auf verschiedenste Weise verhandelt. Zum einen geschieht dies etwa über Entwicklungsstrukturen wie die von Tony Stark, der sein Verhältnis zu Iron-Man-Anzug und Superheldenidentität insgesamt über mehrere Filme aushandeln und dabei weit mehr als seine Kampffähigkeiten unter Beweis stellen muss. Anderen Fällen ist die Spannung zwischen bloßer Schlagkraft und tatsächlichem Heldentum bereits in die Grundanlage ihrer Figur eingeschrieben; so erlaubt bei Steve Rogers die Unablösbarkeit von körperlicher Superqualifikation und Soldatenrang es gerade nicht, den Heldenbegriff einer klar isolierbaren Kämpferidentität zuzuordnen.

33 von Holzen [Anm. 8], S. 189. 34 Vgl. dazu auch den Beitrag ›Riesen und Helden‹ von Lena van Beek in diesem Band. 35 Vgl. dazu Klaus von See: Held und Kollektiv, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1991), S. 1-35, hier: S. 1: »Umso schwieriger denn auch die Definition des ›Helden‹: Es geht dabei zunächst um die Frage, ob und mit welcher Strenge man unterscheiden darf, zwischen einer vielleicht primären, eigentlichen Bedeutung, bezogen auf den Protagonisten einer ›Heldensage‹, und anderen, vielleicht erst sekundären Verwendungsweisen: Kann der Held im engeren Sinne nur ein Mann in Waffen sein oder auch, wie Thomas Carlyle es will, ein Prophet, ein Dichter, ein Philosophς Ist der ›Held der Arbeit‹, den die DDR kreierte, wirklich ein Heldς Und weiter: Ist ein Held zu allen Zeiten etwas Singuläres – ein Achill, ein Siegfried, ein Roland –, oder kann er auch scharen- und massenweise auftreten wie die namenlosen Frontkämpfer beider Weltkriege oder die Demonstranten des Jahres 1989 in der flugs danach benannten ›Heldenstadt Leipzig‹ς Ist vielleicht sogar jeder tote Soldat ein Held, wie die Ausdrücke ›Heldentod‹, ›Heldenfriedhof‹, ›Heldengedenktag‹ suggerierenς Damit zusammenhängend: Gibt es überhaupt den lautlos leidenden ›stillen Helden‹, oder gehört nicht doch zum Helden per definitionem der Ruhm und die Selbstberühmung? Könnte es also sein, daß der Held immer irgendwie einer Öffentlichkeit bedarf, wie ja auch der ›Star‹ – als Verehrungsobjekt eine moderne Entsprechung des Helden – zwar ein guter Sänger sein mag, zum ›Star‹ aber erst durch sein Publikum wird?«

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V. HELDENIDENTITÄT FÜR ZWISCHENDURCH: DER ROTE RITTER Nicht alle Protagonisten des mittelalterlichen Artusromans sind und bleiben wie Iwein den ganzen Verlauf ihrer Geschichte über Ritter. Der Protagonist in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ wächst, nachdem sein Vater im Kampf gefallen ist, in der Einöde von Soltane auf, und seine Mutter Herzeloyde unterbindet jeden Kontakt des Kindes mit der Ritterwelt, um zu verhindern, dass Parzival ebenfalls Ritter werden und das Schicksal seines Vaters erleiden könnte. Doch eine einzige Begegnung mit drei vorbeireitenden Rittern im Wald aktiviert in Parzival das Erbe seines Vaters und weckt eine tiefe, offenbar angeborene Sehnsucht nach Rittertum. Herzeloyde kann ihn nicht zurückhalten, stattet ihn jedoch bei seinem Aufbruch mit Narrenkleidern aus in der Hoffnung, dass er darin ausgelacht und verspottet wird und bald zu ihr zurückkehrt, wenn die Welt, in die es ihn zieht, sich ihm nur hinreichend unfreundlich zeigt. Dass dieser Plan fehlschlägt, wird Herzeloyde allerdings schon nicht mehr erfahren: Als Parzival von ihr fortreitet, sinkt sie zu Boden und stirbt. Für die Ritteridentität, die Parzival anstrebt, fehlt ihm zu diesem Zeitpunkt neben der entsprechenden Erziehung auch der Name; Herzeloyde hatte ihn immer einfach nur als ihren Sohn angesprochen – semiotisch gesehen ein leicht zu erkennender Versuch der trauernden Witwe und besitzergreifenden Mutter, den Heranwachsenden auf seine Rolle als Sohn und die enge Bindung an sie zu beschränken. Doch schon bald begegnet der junge Ritteranwärter auf dem Weg zum Artushof seiner Kusine Sigune, die ihm seinen wahren Namen, Parzival, nennt. Damit gibt es im Roman nur einen vergleichsweise kurzen Zeitabschnitt – zwischen Parzivals Aufbruch von seiner Mutter und der Begegnung mit seiner Kusine –, in dem der junge Ritteraspirant ganz namenlos agiert. Und ausgerechnet in diesen kurzen Zeitabschnitt fällt die große Jugendsünde des Helden: Noch bevor er Sigune begegnet, trifft er auf Jeschute, die Gemahlin des Herzogs Orilus. In seiner Unerfahrenheit und unter fragwürdiger Interpretation des mütterlichen Rats zum Thema Frauenminne fällt der Jüngling über Jeschute her, beraubt sie ihres Schmucks und lässt sie in einem Zustand zurück, der dazu führt, dass Orilus sie des Ehebruchs verdächtigt. Der Erzähler im ›Parzival‹ (vgl. Pz. 139, 12-22) hält sich ebenso wenig wie die Forschung36 damit zurück, Parzivals Handeln in dieser Episode als Fehlverhalten zu be- und verurteilen.

36 Vgl. z.B. Elke Brüggen: Die Rüstung des Anderen. Zu einem rekurrenten Motiv bei Wolfram von Eschenbach, in: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesell-

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Nun handelt Parzival ja allerdings in dieser Episode streng genommen noch gar nicht als Parzival, sondern als Namenloser: Da er erst kurz nach dieser heiklen Begegnung auf Sigune trifft und von ihr seinen Taufnamen erfährt, kann sein Fehlverhalten gegenüber Jeschute rein technisch nicht den Namen Parzival belasten, wie es bei Iwein und dem Fristversäumnis geschehen ist – und als der junge Ritter mit seinem neu in Erfahrung gebrachten Namen von Sigune fortreitet, wird er sich zwar schon bald einen neuen Fehltritt leisten, doch auch der wird allgemein nicht einem Ritter unter dem Namen Parzival angerechnet. Stattdessen ist das neue Fehlverhalten hauptsächlich schon wieder mit einem anderen Namen verknüpft, den Parzival direkt nach seinem Erstkontakt mit dem Artushof annimmt: Es ist der Rote Ritter. In Sachen Ritterwerden hatte Parzival von Anfang an das Problem eines etwaig fehlenden Namens weniger angefochten als der Umstand, dass ihm noch eine Rüstung fehlte, wie er sie bei den drei Rittern im Wald gesehen hatte. Als Ither, der Rote Ritter, ihn kurz nach der Sigune-Episode mit einer Herausforderung zum Artushof schickt, stürzt sich Parzival auf diese Gelegenheit und will die Herausforderung selbst im Namen des Hofes annehmen, wenn Artus ihm dafür die rote Rüstung des Provokateurs gewährt. Es gelingt Parzival auch tatsächlich, Ither zu töten. Er nimmt der Leiche die Rüstung ab, zieht sie an und reitet davon, trotz des eigentlich ausstehenden Ritterschlags überzeugt, nunmehr ein vollgültiger Ritter zu sein. Zumindest die ritterliche Erziehung des jungen Parzival holt der alte Gurnemanz bald darauf nach. Gurnemanz ist es auch, der seinem Schützling als Erster ausdrücklich die Bezeichnung als Roter Ritter zuschreibt – allerdings nicht, ohne vorher den Tod von Ither, Parzivals Vorgänger in dieser Rolle, beklagt zu haben. Nach dem Überfall auf Jeschute ist auch der Ither-Kampf als Parzivals nächste Großtat überaus problematisch: Nicht nur ist die Art und Weise, wie er Ither – mit einem Wurfspieß durch den Helmschlitz – tötet, alles andere als angemessen;37 Parzival begeht darüber hinaus mit der Aneignung der Rüstung et-

schaft der Vormoderne, hg. v. Anna Mühlherr [u.a.], Berlin/Boston 2016 (Literatur – Theorie – Geschichte 9), S. 127-144, hier: S. 128; Albrecht Classen: The Symbolic Function of Food as Iconic Representation of Culture and Spirituality in Wolfram von Eschenbach’s Parzival (ca 1205), in: Orbis Litterarum 62 (2007), H. 4, S. 315-335, hier: S. 319f. u. Evelyn Meyer: Reading Parzival’s Quest for the Grail as a Unique Exile Experience, in: Weltanschauliche Orientierungsversuche im Exil. New orientations of world view in exile, hg. v. Reinhard Andress [u.a.], Amsterdam/New York 2010 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 76) , S. 45-59, hier: S. 47. 37 Vgl. Brüggen [Anm. 36], S. 140.

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was, das er später selbst als rêroup (vgl. Pz. 475, 5-12) – Leichenraub – anerkennen wird. Nun könnte dieses erneute Fehlverhalten inzwischen tatsächlich auf Parzivals Namen, den er ja nun kennt, angerechnet werden, wenn er mit der (geraubten) roten Rüstung nicht sofort auch eine neue Identität annehmen würde, die mit dem Tod Ithers enger verknüpft ist, als es sein Taufname je sein könnte. Wie also Iwein den Namen des Löwenritters benutzen muss, während der Name Iwein schuldbehaftet ist, begeht Parzival sein erstes großes Fehlverhalten (gegen Jeschute) namenlos, weil noch in Unkenntnis seines Geburtsnamens, sein zweites in untrennbarer Verknüpfung mit der neuen Identität als Roter Ritter – und hält damit den Namen Parzival von dem Makel beider Fehltritte frei. Es ist demnach einerseits unzweifelhaft richtig, dass die Identität des Roten Ritters von ihrer Geschichte im ›Parzival‹ her überaus problematisch ist.38 Andererseits verhindert diese Identität, dass die Schuld im Zusammenhang mit Ithers Tod dem Namen Parzival zugerechnet wird, mehr noch: Sie macht es auch unnötig, diesen Namen endgültig auf eine Ritteridentität festzulegen, da Parzivals Ritteridentität, die spätestens mit Gurnemanz’ Erziehung einigermaßen stabilisiert ist, als ›Roter Ritter‹ schon hinreichend benennbar ist. Parzival ist, anders als Iwein, nicht nur nicht von Anfang an Ritter; er ist, wie sich herausstellen wird, als Figur auch nicht darauf angelegt, notwendig immer Artusritter zu bleiben.

VI. DIE ZWEITIDENTITÄT ALS ROLLE: WENN DIE PERSON HINTER DER HELDENIDENTITÄT AUSTAUSCHBAR IST Freilich ist die Identität als Roter Ritter auch insofern für Parzivals Identitätskonstitution prekär, als sie auffallend beliebig ist. Während Iwein sich seine Identität als Löwenritter dadurch verdient, dass er dem Löwen das Leben rettet, scheint der Titel des Roten Ritters prinzipiell jedem zukommen zu können, der eine entsprechend gefärbte Rüstung trägt39 – eine Annahme, die für die Artusepik bestätigt wird, wenn im ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg wieder eine allgemein als Roter Ritter bekannte Figur auftritt, bei der es sich weder um Ither

38 Vgl. ebd., S. 143f. 39 Tatsächlich wird sowohl für Ither als auch für Hojir im ›Wigalois‹ ausdrücklich erwähnt, dass sie außerdem noch rote Haare haben, doch der Umstand, dass Parzival die Identität übernehmen kann, ohne dass der Erzähler es für nötig hält, ein Vorhandensein oder Fehlen dieses angeborenen Merkmals bei ihm anzumerken, entwertet es als Ausschlussmerkmal für die Identität als Roter Ritter.

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noch um Parzival, sondern um den Grafen Hojir von Mannesfeld handelt.40 Im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven wird die Beliebigkeit der Identität als Roter Ritter noch weiter auf die Spitze getrieben, indem der Protagonist – der hier seinen eigentlichen Namen noch gar nicht kennt – bei einem dreitägigen Turnier des Artushofes an jedem Tag in einer andersfarbigen Rüstung anrückt, dabei am dritten eine rote wählt und dann auch wirklich als Roter Ritter bezeichnet wird. 41 Anders als beim Löwenritter ist also diese Zweitidentität nicht auf einen bestimmten Ritter zugeschnitten; stattdessen ist diese Kombination aus Name und Erkennungszeichen prinzipiell bei verschiedenen Ritter anzutreffen.42 Auch dieses Phänomen kennt das Superheldengenre. So ist Steve Rogers in den Marvel-Comics nicht die einzige Figur, die jemals das Kostüm und den Namen Captain Americas getragen hat. Stattdessen ist dort die Captain-AmericaIdentität mehrfach von anderen Figuren des Marvel-Universums – zuletzt für eine Weile von Sam Wilson43 – übernommen worden. Damit erweist sich das symbolträchtige Kostüm als frei übertragbare Komponente nun doch als letztlich entscheidender Träger der Captain-America-Identität: Steve Rogersʼ Leistungssteigerung durch das Superserum als seine eigentliche Qualifikation zum Superhelden, die mit seiner Person, weil mit seinem Körper unter allen Namen untrennbar verbunden ist, stellt offenbar trotz allem nicht das entscheidende Krite-

40 Vgl. Volker Honemann: Wigalois’ Kampf mit dem roten Ritter. Zum Verständnis der Hojir-Aventiure in Wirnts Wigalois, in: German Narrative Literature of the Twelth and Thirteenth Centuries. Festschrift Roy Wisbey, hg. v. Volker Honemann [u.a.], Tübingen 1994, S. 347-362, hier: S. 358. 41 Vgl. Sosna [Anm. 5], S. 117. 42 Den Roten Ritter damit eher als Rolle einzustufen entspricht dem Konzept einer Zweitidentität, deren Name und visuelles Erkennungsmerkmal so lose an eine bestimmte Person gebunden ist, dass sie prinzipiell übertragbar ist, also von unterschiedlichen Personen verkörpert werden kann. Wie der Rote Ritter damit eher eine Rolle ist als der Löwenritter, geschweige denn Tantris, sind umgekehrt einige Zweitidentitäten (wie der Hulk oder Scarlet Witch) im Marvel-Superheldenuniversum enger und untrennbarer an konkrete Personen (Bruce Banner respektive Wanda Maximoff) gebunden als die Captain-America-Identität an Steve Rogers. 43 Vgl. Rick Remender: Captain America Vol. 5: The Tomorrow Soldier, New York 2015. Mit der Schlussszene des 2019 in den Kinos angelaufenen vierten AvengersFilms ›Endgame‹, in der Steve Rogers seinen ikonischen Schild an Sam Wilson übergibt und ihm damit auch die Rolle als Captain America überträgt, übernimmt das MCU diesen Handlungsstrang aus den Comics und bestätigt die Rollenhaftigkeit der Captain-America-Identität auch für das Filmuniversum.

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rium für die Eignung zur Verkörperung Captain Americas dar. Obwohl Sam Wilson den Kampfmechanismen nach eine ganz andere Art Superheld ist, geht die Identität als Captain America in dem Moment auf ihn über, in dem er sein Kostüm für den Kampfeinsatz an die Dreifarbigkeit der amerikanischen Flagge anpasst (und vor allem auch den ikonischen dreifarbigen Schild benutzt; s.u.). Im ›Parzival‹ bemerken die anderen Figuren in der frühen Phase von Parzivals Unerfahrenheit noch am ehesten seine körperliche Schönheit – viel eher als die Narrenkleider, in die ihn seine Mutter gesteckt hatte; unter denen scheint Parzivals strahlende Schönheit buchstäblich hervor, indem sie trotz der lächerlichen Gewandung in voller Wirksamkeit für alle sichtbar bleibt. 44 Nach der Übernahme von Ithers Rüstung wird dagegen mehrfach erwähnt, wie Parzivals körperliche Schönheit, wenn er an einem Ort einkehrt und sich nach dem Ablegen der Rüstung wäscht, unter dem râm,45 mit dem der Ritter unter der Rüstung beschmiert ist, erst wieder zum Vorschein kommen muss. 46 Bei Parzival wie bei Steve Rogers überlagert also in der zweiten Identität das rein äußere Erkennungszeichen die körperliche, eigentlich ebenso visuell erkennbare Auffälligkeit, mit der die Eignung zu der Identität des Ritters respektive Superhelden ursprünglich in Verbindung steht: Parzivals rote Rüstung verdeckt seine perfekte Schönheit nach höfischem Ideal; die Amerika-Uniform fungiert noch vor der überdimensioniert muskulösen Statur des Supersoldaten Rogers als Erkennungszeichen Captain Americas. Spätestens, wenn die unansehnliche, aber sonst in jeder Hinsicht edle Gralsbotin Parzivals Schönheit öffentlich verflucht, wird diese Schönheit als untrügliches Merkmal von Rittertauglichkeit endgültig infrage gestellt. Das entspricht ziemlich genau der in Marvel-Comic und Marvel-Film immer wieder vermittelten Einsicht, dass körperliche Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer allein nicht alle Herausforderungen bewältigen können, mit der sich ein Superheld wie Captain America konfrontiert finden könnte. Das ist auch Teil der schon zuvor angedeuteten Problematisierung eines Heldenbegriffs, der auf bloßer Kampftauglichkeit beruht.

44 Vgl. Pz. 123, 12f.; 124, 15-20; 139, 25-28; 146, 4-10; 148, 19-28. Vgl. dazu auch Sosna [Anm. 5], S. 177. 45 Vgl. Pz. 228, 1-7; 306, 21-28. Zu Wolframs Verwendung des »mit Schweiß vermischte[n] Rüstungsschmutz[es], der sich auf die Haut der Kämpfer legt«, als »Kontaktphänomen« zwischen Ritter und Rüstung vgl. Brüggen [Anm. 36], S. 140f. 46 Zur Verdeckung von Parzivals angeborener Schönheit durch Ithers Rüstung und zu weiteren Interpretationsangeboten vgl. Monika Schausten: Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs Parzival, PBB 130 (2008), S. 459-482.

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Steve Rogers ist nicht in der Lage, seine gesteigerte Leistungsfähigkeit von seiner physischen Existenz zu trennen, und damit ist sie für i h n wesentlicher Bestandteil der Captain-America-Identität; für die anderen Figuren in dieser Rolle wird die rot-weiß-blaue Uniform und Ausrüstung einfach mit den jeweiligen Fähigkeiten oder Ausrüstungen – also etwa im Fall von Sam Wilson mit den Falcon-Flügeln – kombiniert und bildet so im Anschluss eine neue vollständige Superheldenidentität unter dem Namen Captain America.

VII. BINDUNG IM ÄUßEREN: EXTRAKTION DER HELDENIDENTITÄT ÜBER DIE DINGE Die rot-weiß-blaue Uniform und die Ausrüstung Captain Americas sind also ebenso wie die Rüstung des Roten Ritters doch noch verhältnismäßig einfach von einer Figur zu trennen und potenziell auf eine andere zu übertragen – und so kann sowohl Wolframs ›Parzival‹ als auch die Handlungslinie um Steve Rogers in den MCU-Filmen den Moment, in dem die Ritter- bzw. Superheldenidentität aussetzt, wirkungsstark und unmissverständlich über die jeweiligen äußeren Zeichen dieser Identität inszenieren. Kurz vor dem Ende von Wolframs Roman gerät Parzival ahnungslos in einen Zweikampf mit seinem Halbbruder Feirefiz – was als drohender Verwandtenmord gleichsam wie eine Wiederholung des Kampfes gegen Ither anmutet, nachdem sich inzwischen herausgestellt hat, dass Ither ebenfalls entfernt mit Parzival verwandt war. Im letzten Moment, bevor Parzival seinen Bruder getötet hätte, greift Gott in das Geschehen ein und lässt Parzivals Schwert in Stücke zerspringen. got des niht langer ruochte, daz Parzivâl daz rê nemen in sîner hende solde zemen: daz swert er Ithêre nam, als sîner tumpheit dô wol zam.

(Pz. 744, 14–18)47

Bei dem Schwert, dessen Zerstörung hier den Brudermord verhindert, handelt es sich also ausdrücklich um die Waffe, die Parzival dem toten Ither abgenommen

47 Übers.: ›Gott ließ das nicht länger zu, dass Parzival das Raubgut aus dem Leichenraub in seiner Hand führen sollte: Das Schwert hatte er Ither genommen, wie es damals gut zu seiner Torheit passte.‹

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hatte. Das ist umso auffälliger, als Parzival zwischendurch noch ein zweites Schwert geschenkt bekommen und seitdem eigentlich mit sich geführt hatte, das Schwert des siechen Gralskönigs Anfortas, das ihm hier offenkundig und ohne Erklärung von Seiten des Erzählers nicht zur Verfügung steht. Es muss offenbar unbedingt das Ither-Schwert sein, das Gottes rettendem Eingreifen zum Opfer fällt. Mit ihm als Teil der Identität des Roten Ritters wird diese Identität symbolisch eliminiert – und auch Parzivals Zeit als Artusritter an ihr Ende gebracht: Kurz nach dem Bruderkampf erhält Parzival die Nachricht, dass er auf die Gralsburg berufen wurde, um Anfortas von seinem Leiden zu erlösen und selbst die Gralsherrschaft anzutreten. Das zerspringende Schwert markiert den Übertritt zum Gralskönigtum und die endgültige Ablösung des Roten Ritters durch Parzival: Engstens auf seine Mutter bezogen, über die Parzival mit Anfortas verwandt und seine Auswahl zum Gralskönig begründet ist (vgl. Pz. 140, 15-20), geht dieser Name am Ende vollständig nicht in der Identität als Artusritter, sondern in der als Gralskönig auf. Die vergleichbare Captain-America-Szene im MCU-Film ›Captain America: Civil War‹ sieht die Figur in einem Kampf mit dem langjährigen Freund und Verbündeten Tony Stark beziehungsweise Iron Man. Als Stark unterliegt und daraufhin Rogers den rot-weiß-blauen Captain-America-Schild abfordert, den ursprünglich Starks Vater gefertigt hatte, lässt Rogers diesen zurück und flieht.48 Hintergrund des Kampfes zwischen Rogers und Stark ist ein zuletzt sehr persönlicher Konflikt, dem jedoch eine politische Auseinandersetzung zugrunde liegt, wegen der Rogers zum Zeitpunkt des Zweikampfes bereits von den amerikanischen Behörden als Krimineller gesucht wird. Es leuchtet ein, dass ein solcher Zustand sich nicht mit der Identität eines nationalen Heldensymbols verträgt. Rogers muss hier endgültig die Grenze zur Superheldenpersona ziehen – allen Schwierigkeiten hinsichtlich der Trennbarkeit von superheldendimensioniertem Muskelumfang und ebenso muskulöser bürgerlicher Identität zum Trotz. Die Trennung gelingt über den rot-weiß-blauen Schild, der in den Filmen immer ebenso Kennzeichen wie Kampfequipment für den Superhelden ist und als einziges Stück der Captain-America-Ausrüstung auch in Kampfszenen mit Steve Rogers in Zivil benutzt wird. Damit signalisiert der Schild einerseits am deut-

48 Dies ist freilich nur die erste Gelegenheit im MCU, bei der Rogers – hier noch gezwungenermaßen – den Schild und die mit ihm verknüpfte Identität als Captain America ablegt. Jahre später gibt Stark ihm den Schild in ›Avengers: Endgame‹ zurück. Mit seinem Segen übernimmt Rogers so noch einmal die ikonische Rolle, tritt aber schließlich endgültig von ihr zurück, wenn er am Ende dieses Films den Schild – nunmehr ganz freiwillig – an Sam Wilson übergibt (vgl. Anm. 43).

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lichsten die mangelnde Grenzziehung zwischen Superheldentätigkeit und Alltagsdasein im Leben der Figur und trägt dabei andererseits noch am ehesten genug von dem Gewicht der Superheldenidentität, dass diese mit ihm zumindest semiotisch von Rogers getrennt werden kann – so wenig Rogers seine übergroße Körperkraft als Substanz dessen loszuwerden vermag, was ursprünglich zu der Kreierung der Captain-America-Identität geführt hatte und auch immer einen Teil von ihr ausgemacht hatte.

VIII. TRISTAN: MULTIPLE VERKLEIDUNGEN – UND EINE DOPPELIDENTITÄT Besondere Virtuosität im Schaffen neuer Ichs beweist die mittelalterliche Tristan-Figur. Bei Gottfried von Straßburg wird dem Helden schon sein regulärer Name erst nach dem Tod seiner Eltern von seinem Ziehvater gegeben, der mit dem französischen Wort triste auf das traurige bisherige Schicksal des kleinen Waisen Bezug nimmt (vgl. Tris. V. 1991-2003); allerdings verweist der Erzähler explizit darauf, dass der Name auch in der Folge gut zu seinem Träger gepasst habe (vgl. Tris. V. 2004f.). Der herangewachsene Tristan wird von fahrenden Kaufleuten entführt und findet sich unversehens in dem ihm fremden Land Cornwall wieder. Das ist nicht nur der Beginn seines Erwachsenenlebens jenseits des behüteten Heims bei den Zieheltern, sondern zugleich der Beginn eines Weges, auf dem er immer wieder neue Namen und Bezeichnungen annehmen wird. Schon unmittelbar nach seiner Ankunft in Cornwall erzählt er den Menschen, denen er dort begegnet, nicht die Wahrheit über seine Herkunft. Zunächst gibt er sich als Landesbewohner aus, der sich auf der Jagd verirrt habe, anschließend als Sohn eines Kaufmanns, der mit anderen Kaufleuten durchgebrannt sei. Diejenigen, die diese Auskünfte von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt erhalten, können kaum als Bedrohung für Tristan gelten – einmal handelt es sich um eine Jagdgesellschaft, einmal um eine Gruppe Pilger, über die Tristan sogar ausdrücklich sagt: diz mugen wol guote liute sîn; ine darf kein angest von in haben (Tris. V. 2668f)49. Damit scheinen seine Lügen hier noch ein wenig unmotiviert zu sein, wenngleich der Erzähler ihn ausdrücklich für seine Vorsicht lobt: Tristan der was vil wol bedâht / und sinnesam von sînen tagen (Tris. V. 2692f.)50. Doch nur um Lügen scheint es sich gar nicht zu

49 Übers.: ›Das können wohl gute Menschen sein; ich muss keine Angst vor ihnen haben.‹ 50 Übers.: ›Tristan war sehr gut bedacht und weise über seine Tage hinaus.‹

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handeln: Anna Mühlherr bezeichnet die kreativ umgestaltete Biographie der Figur als »Gespinst aus ›Wahrheit und Lüge‹«51 und konstatiert: »[Tristan] kombiniert und verdreht also in seiner Version Elemente seiner ›realen‹, d.h. vom Erzähler präsentierten Biografie und schafft sich damit gegen die erzählte Faktizität seine eigene Geschichte.«52 Im Sinne des hier bislang verwendeten Identitätskonzepts sticht jedoch besonders der Umstand hervor, dass Tristan in diesem Stadium nur seinen biographischen Hintergrund und damit im weitesten Sinne die sprachliche Bezugnahme auf ihn ändert – etwa zu ›Sohn eines Kaufmanns‹ –, nicht jedoch sein Äußeres. Was er erst den Mönchen und dann der Jagdgesellschaft präsentiert, ist somit jeweils keine vollständige neue Identitäts-Einheit, sondern eine Mischung aus der originalen Identität und einem Teil einer potenziellen Zweitidentität, die jedoch nie voll entwickelt wird. Dennoch ist schon dieses frühe Spiel mit den Konstituenten des eigenen Ichs mehr als zeichensetzend für Tristans Leben, in dessen Verlauf er ständig mit den harten Fakten seiner Realität jongliert, um für sich Gegebenheiten zu schaffen, in denen eine jeweils neue Form von Sein und vor allem Überleben möglich ist. Ein erster Höhepunkt dieses Musters ist erreicht, wenn Tristan, der im Kampf mit dem irischen Kämpen Morold eine vergiftete Wunde empfangen hat, bei der irischen Königin Isolde, Schwester Morolds und damit Todfeindin Tristans, um Heilung nachsuchen muss. Er tritt die gefährliche Reise an und wird als Spielmann verkleidet am irischen Hof unter dem Namen Tantris vorstellig. Hier liegt eine neue Stufe in der Praxis wahrheitsverdrehender Selbstreferenz vor. Zum ersten Mal besteht eine unmittelbar einleuchtende Motivation für die Lüge. Würde Tristan der irischen Königin als der, der er ist, gegenübertreten – also unter anderem auch als der, der ihren Bruder getötet hat –, bestünde nicht nur wenig Aussicht darauf, dass sie Tristan heilen würde: Sehr wahrscheinlich würde sie ihn sogar selbst töten. Es ist aber auch das erste Mal, dass Tristan sich gezielt verkleidet und sich nicht nur einen anderen biographischen Hintergrund zuweist, sondern auch einen anderen Namen annimmt. Es ist dieser Effekt, der auch die Tristan-Figur nahe an die Doppelidentität der modernen Superhelden heranrückt: Zum ersten und be-

51 Anna Mühlherr: Tristan, in: Themenorientierte Literaturdidaktik: Helden im Mittelalter, hg. v. Franziska Küenzlen [u.a.], Göttingen 2014, S. 90-109, hier: S. 95. 52 Ebd. Vgl. auch Monika Schausten: »Ich bin, alse ich han vernomen, ze wunderlichen maeren komen.« Zur Funktion biographischer und autobiographischer Figurenrede für die narrative Konstitution von Identität in Gottfrieds von Straßburg Tristan, PBB 123 (2001), S. 24-48.

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merkenswerterweise ebenso letzten Mal legt dieser versierte Verstellungs- und Verkleidungskünstler sich hier eine vollständige Zweitidentität zu. Das ist ein entscheidender Unterschied zu den falschen Biographien, die sich der Protagonist bei seiner Ankunft in Cornwall zusammengestrickt hatte und die er im einen Fall überhaupt nicht mit einem Namen und im anderen sogar mit seinem Taufnamen Tristan verknüpft hatte, die aber vor allem ohne eine Veränderung des Äußeren des Helden ausgekommen waren. In den Ehebruchsepisoden und den Rückkehraventiuren der Gottfried-Fortsetzungen dagegen verkleidet Tristan sich mehrfach, um seine ehebrecherische Liebe zu der jungen Isolde ausleben zu können;53 doch nimmt er dabei nunmehr keinen neuen Namen oder nennenswerte neue Biographien an, sondern ändert mit seinem Aussehen nur den anderen Teil seiner Identität – immer für einen jeweils bestimmten Zweck und damit auch nur für einen jeweils absehbaren Zeitraum. Das würde die besondere Stellung der Tantris-Verkleidung bestätigen – in einer Situation, in der die Notwendigkeit des Inkognitos und der Bedarf nach einer längeren Haltbarkeit der Tarnung zusammenfallen; schließlich muss Tristan hier mindestens so lange als Spielmann durchgehen, bis die Heilung durch die Königin Isolde abgeschlossen ist. Tantris nimmt also unter den zahlreichen Verkleidungen Tristans eine Sonderstellung ein und ist damit nicht zuletzt auch die am ehesten ernst zu nehmende Konkurrenz für die Tristan-Identität: Sosna etwa interpretiert den Protagonisten so, dass er grundsätzlich zwischen zwei Qualifikationen geteilt ist, einer ritterlichen und einer künstlerisch-rhetorischen, symbolisiert in Schwert und Harfe. Jede dieser Qualifikationen konstituiert je eine Teilidentität der Figur. Sosna liest Tantris folgerichtig nicht nur als Tarnung, sondern auch als den anderen Teil Tristans.54 Damit stellt die Tantris-Identität nicht nur mehr dar als die anderen Verkleidungen und zusammenfabulierten Biographien der Tristan-Figur; sie ist auch untrennbarer als die Zweitidentitäten von Parzival und Iwein mit ihrem Träger verbunden: Tristan, dessen Zweitidentität als einzige in der hier vorgestellten Reihe nicht mit dem Ritterbegriff kombiniert ist, sondern aus einer simplen Umstellung der Silben seines Taufnamens besteht, präsentiert sich als Tantris mit Fähigkeiten, die nicht zu seiner Ritteridentität gehören, aber dennoch ganz Teil seiner selbst sind. Die Spielmannsidentität stellt dem irischen Königshof den Musiker, den Rhetoriker – den Künstler und Überlebenskünstler vor Augen, den die umfassende Erziehung, für die der Ziehvater einst gesorgt hatte, in dem jungen Mann angelegt hat.

53 Vgl. Schulz [Anm. 7], S. 311-336. 54 Vgl. Sosna [Anm. 5], S. 219-256.

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IX. TANTRIS: WENN ZWEITIDENTITÄTEN NICHT ABLEGBAR SIND – UND DIE FOLGEN Bei Tristans zweitem Aufenthalt in Irland erkennen die Königin Isolde und ihre gleichnamige Tochter ihn als Tantris wieder, was angesichts ihres freundlichen Verhältnisses zu diesem kein Problem sein müsste. Freilich beweist der Umstand, dass die Frauen den vermeintlichen Spielmann nun als Drachentöter in Rüstung überhaupt wiedererkennen können, endgültig die Abweichung der Tristan-Tantris-Konstellation von dem bis hier vorausgesetzten Konzept von Doppelidentität. In diesem macht die gegenseitige Abhängigkeit von einem Namen und einem bestimmten Äußeren die Unterscheidung zweier Identitäten voneinander überhaupt erst möglich. Während also die Erkennbarkeit des Löwenritters vom Löwen und die des Roten Ritters von der roten Rüstung abhängt, steckt Tantris so tief in Tristan, dass er auch dann noch in ihm sichtbar ist, wenn er nicht mehr die Spielmannskleidung trägt, in der Tantris zuerst aufgetreten war. Freilich wird ihm die in seiner Person und besonders dem geteilten Buchstabenvorrat der Namen untrennbare Nähe der beiden Identitäten fast zum Verhängnis: Tristans Schwert – von Sosna als das Hauptsymbol seiner Ritteridentität ausgewiesen55 – fehlt seit dem Morold-Kampf ein Splitter, der in Morolds Leichnam steckengeblieben ist und so seinen Weg zu der jungen Isolde gefunden hat. Die Scharte in Tantris’ Schwert löst nun in der Prinzessin einen Verdacht aus, den ausgerechnet die sprachliche Nähe zwischen den Namen Tristan und Tantris endgültig bestätigt: sô bistu, des bin ich gewis, Tantris unde Tristan. die zwêne sint ein veiger man. daz mir Tristan hât getân, daz muoz ûf Tantrîsen gân.

(Tris. V. 10148-10152)56

Isolde spricht hier ihren Entschluss aus, Rache für Morold zu nehmen an dem Mann, den sie als Mörder ihres Onkels erkannt hat. Sie wählt dabei eine auffällige Formulierung, in der Tristan und Tantris gewissermaßen als zwei verschiedene Personen erscheinen, die erst im Moment der Todesverfallenheit (ein veiger man) zu einer einzigen Person werden: Da sie sich schon immer einen

55 Vgl. ebd., S. 219-256. 56 Übers.: ›So bist du, dessen bin ich mir sicher, Tantris und Tristan. Die zwei sind ein dem Tod verfallener Mann. Was mir Tristan angetan hat, das muss auf Tantris fallen.‹

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Körper geteilt haben, würde Tantris in diesem mitsterben, wenn Isolde Tristan tötet. Dabei hat streng genommen Tantris keinen Anteil an Morolds Tod, der durch die Ritteridentität Tristan und die mit ihr verbundenen Fähigkeiten verschuldet wurde. Wenn Tristan in dieser Szene ausgerechnet im Bad sitzt und folglich nackt ist – ohne alle Verkleidungen und äußeren Erkennungszeichen außer den unmittelbar körperlichen57 –, wird er ganz auf den einen Körper reduziert, aus dem auch der in gewisser Weise ›unschuldige‹ Tantris-Teil seiner Identität nicht heraus kann. Sosna stellt dementsprechend fest, dass Tristan dieser Situation nur durch das vorher Tantris erteilte Schutzversprechen der Königin Isolde entkommt;58 doch ebenso, wie Tantris hier Tristan rettet, geriet er zuvor durch Tristan überhaupt erst in Lebensgefahr. Das ist das Problem, das auch Steve Rogers hat, in diesmal voller Gültigkeit: das Problem einer Zweitidentität, die allzu ›eng‹, weil körperlich mit der eigenen Person verbunden ist und sich nie ganz ablegen lässt, selbst wenn das gelegentlich praktisch oder wünschenswert wäre. Steve Rogers trägt immer Captain Americas körperliche Stärke und damit einen Teil dieser Superheldenrolle in sich. Und konnte Parzival die rote Rüstung noch ablegen und seine edle Schönheit darunter wieder zum Vorschein bringen, wird Tristan den einmal so benannten Tantris weder durch einen Kleiderwechsel noch durch das Ablegen jeglicher Kleidung los (selbst wenn er das denn wollen würde). Ebenso ist Tantris jeder gegen Tristan gerichteten Bedrohung unweigerlich mit ausgesetzt. Dass Isolde ihn in der besagten Szene letztlich nicht tötet und die volle Konsequenz der allzu internalisierten Zweitidentität nicht eintritt, ist dabei für diesen speziellen Aspekt weniger entscheidend als das mit dieser Szene aufgerufene Bewusstsein für die Vielschichtigkeit von Tristans Figurenanlage, die komplex genug ist, um genug Eigenschaften- und Fähigkeiten-Sets für zwei gleichberechtigte Teilidentitäten zu bieten. Es ist, wenngleich weit entfernt von einer Psychologisierung der Identitätsfrage, ein erster Schritt zur Internalisierung des Konzepts von Identität. Tristans Doppelidentität verlässt den Bereich des äußerlich Erkennbaren und ist stattdessen ein Beispiel dafür, wie das Unterscheiden von Identitäten – nunmehr vor allem am Namen – die Vielseitigkeit einer Figur als Ganzes in Szene setzt. Während sich für Iwein die Frage, wie viel vom Löwenritter nach der Aufgabe dieses Namens noch in ihm ist, nur sehr theoretisch stellt, weil sie erst mit dem Ende seiner Geschichte aktuell wird, zieht sich im ›Tristan‹ das Wissen um die Tantris-Seite des Protagonisten durch die längsten Teile des Romans. Tristans

57 Vgl. Sosna [Anm. 5], S. 255. 58 Vgl. ebd.

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doppelte Identität entfaltet sich früh in seiner Geschichte – und ist für ihre ganze weitere Dauer latent wirksam.

X. IDENTITÄT DURCH DOPPELIDENTITÄT Tristan-Tantris ist dem Captain-America-Problem vielleicht von allen Doppelidentitäten der höfischen Epik am nächsten, doch letztlich weist nichts die Komplexität des modernen Superhelden so eindrücklich nach wie seine Vergleichbarkeit mit mehreren v e r s c h i e d e n e n Spielarten von Doppelidentität. Als Figuren der mittelalterlichen Literatur stammen die hier aufgerufenen Vergleichsgrößen aus einer Zeit, in der eine Doppelidentität vor allem auch als Konstellation gesehen werden kann, die Identität in der Unterscheidung mehrerer Teilidentitäten überhaupt erst erkennbar macht. In Bezug auf die Identität fiktionaler Figuren steht in der neueren Literaturwissenschaft oft die Psychologie der Figur im Zentrum. Mangels Voraussetzbarkeit einer Vorstellung von Psychologie im modernen Sinne lässt sich das für mittelalterliche Literatur kaum veranschlagen. Dass damit die Frage nach Identität für das Mittelalter keineswegs erledigt ist, lässt sich dagegen auf jeden Fall festhalten. In diesem Kontext wäre nun auch dem Potenzial der Doppelidentität entscheidendes Gewicht beizumessen. Man kann so weit gehen zu sagen, dass die Trennung und Abgrenzung von Teilidentitäten geradezu im Modus der Präsupposition figürliche Identität als gegeben setzt. Umso bemerkenswerter ist, dass in der gegenwärtigen Epoche, die Figurenpsychologie und Figurenpsychologisierung als Mittel der fiktionalen Figurenkonzeption zur Genüge kennt, mit dem Superheldengenre eine komplette Gattung vorliegt, deren Erzählweise sich bezüglich der Figurenidentität problemlos an mittelalterliche Modelle anschließen lässt. Das Superheldengenre und seine Fangemeinde sind hinlänglich an das Konzept der Doppelidentität gewöhnt. Seine Problematisierung in den jüngeren Erzählsträngen von Comic und Film dürfte auf den ersten Blick kaum hervortreten, zumal sie teilweise davon überdeckt werden könnte, dass sie – sicher auch im Dienst einer modernen Kohärenzerwartung an Erzählungen – im Tandem mit dem bewährten Konzept der Psychologisierung arbeitet. Doch die Doppelidentität – offensichtlich in ihrer vollen Funktionstüchtigkeit ein Konzept schon aus vorpsychologischer Zeit, wobei freilich auch der mittelalterliche Roman hier kein Monopol postulieren könnte – nimmt wie subtil auch immer Einfluss auf die Wahrnehmung der Figuren und folgt dabei Mustern, die das literarische Mittelalter kannte und virtuos in den verschiedensten Prägungen bediente.

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Der Vergleich – die Vergleichbarkeit – mit dem modernen Superhelden, dessen Doppelidentität in all ihren Schichten und Facetten die Züge verschiedenster Figuren der höfischen Epik trägt, legt die Schablone des Superheldengenres mit seiner Affinität zur Doppelidentität auf die Romane des Mittelalters, rückt die Produktivität des Konzepts auch für diese Epoche in den Blick und enthüllt seine jeweilige Bedeutung für die Geschichte des Helden. So macht der Vergleich mit Captain America den Löwenritter als Ersatzidentität für Iweins Zeit nach dem Wahnsinn und vor seiner Heimkehr zu Laudine deutlich erkennbar. Der Rote Ritter wird durch denselben Vergleich in neuer Schärfe konturiert als Übergangsidentität für Parzivals Zeit als Artusritter zwischen seiner Identität als unerfahrener Junge aus Soltane und der des Gralskönigs. In beiden Fällen lassen diese Zweitidentitäten sich anhand ihrer konstitutiven Verbindung aus äußerem Erkennungszeichen und sprachlicher Bezeichnung untersuchen. Der Fall Tristan-Tantris schließlich überwindet die Bedingtheit der Doppelidentität durch äußerliche Erkennungszeichen, indem Tantris als Name des Künstlers in Tristan eine gleichberechtigt neben dem Ritter in der Figur angelegte Komponente benennt. Andererseits zeigt sich im Spiegel des höfischen Romans die Vielseitigkeit verschiedener Spielarten des Konzepts von Doppelidentität und die Komplexität einer Figur wie Captain America, die alle diese Spielarten in sich vereint und so zu einer bemerkenswert problemorientiert angelegten Figur im Rahmen einer unterhaltungskulturell einflussreichen Thematisierung des Heldenbegriffs wird. Damit kann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem MCU als einem der wirkungsreichsten cineastischen Großnarrative der letzten Jahre ebenso von dem Vergleich mit der mittelalterlichen Literatur profitieren wie umgekehrt der germanistischen Mediävistik durch den Blick auf den modernen Superhelden zusätzliche Perspektiven auf Figuren wie Iwein, Parzival und Tristan eröffnet werden. Die Doppelidentität des Helden als verbindendes Merkmal vormoderner und zeitgenössischer Heldenfiguren kristallisiert sich aus Artusroman wie Superheldenblockbuster als ein essentieller Bestandteil der jeweiligen Heldenidentität heraus und zeigt dem Betrachter epochenübergreifend wirkmächtige Mechanismen des Konstruierens, Benennens und Erzählens von Helden.

Autorinnen und Autoren

Van Beek, Lena, promoviert an der Universität Hamburg über Riesen in der Literatur des Mittelalters und arbeitet seit 2017 am Open Access-Projekt »Mittelalter – Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte« mit. Däumer, Matthias, Dr. phil. studierte Literatur- und Theaterwissenschaft. Er wurde 2011 mit einer interdisziplinären Dissertation zur Vortragspraxis höfischer Romane promoviert (Stimme im Raum und Bühne im Kopf, Bielefeld 2013). Seine kürzeren Publikationen nähern sich kulturwissenschaftlich (Medien-, Performanz- und Raumtheorie) den Texten des Hochmittelalters. Des Weiteren bilden Aufsätze zu den Mittelalterbildern aktueller TV-Serien und Überlegungen zur Systematik seriellen Erzählens einen Schwerpunkt. Seit März 2017 lehrt Däumer als wissenschaftlicher Assistent am germanistischen Seminar der Universität Wien. Fahr, Svenja, ist seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf in der Abteilung für Germanistische Mediävistik am Lehrstuhl von Prof. Dr. Ricarda Bauschke-Hartung. Zuvor war sie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ältere Deutsche Literatur. Ihre Forschungs- und Interessensschwerpunkte liegen im Bereich der Heldenepik, der Artusdichtung, der Novellistik und betreffen die Historische Narratologie. In ihrer Dissertation arbeitet sie zu Formen unzuverlässigen Erzählens in deutschsprachigen Texten des Mittelalters. Federow, Anne-Katrin, Dr. phil. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für ältere und frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur der TU Dresden. Die Altgermanistin promovierte zum Zusammenhang von Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Heldenepen genuin germanischer Tradi-

tion und in deutschsprachigen Chanson de geste-Adaptionen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ihre weiteren Publikationen liegen ebenfalls in diesem und angrenzenden Textfeldern. Hinsichtlich der in ihren Arbeiten zugrunde gelegten Theorien bewegen sich ihre Interessen im Bereich der Semiotik, Narratologie und kulturwissenschaftlicher Ansätze. Jansen, Daria, promoviert in der Älteren deutschen Sprache und Literatur an der Universität Tübingen bei Prof. Anna Mühlherr. Ihre Arbeit zum tragischen Potential mittelalterlicher Erzählliteratur ist an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Literaturwissenschaft angesiedelt und wird mit einem Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung gefördert. Bis 2017 war sie Referentin für Studium und Lehre an der Philosophischen Fakultät der Uni Tübingen und hat zuvor an der University of Nebraska Lincoln (US) als Graduate Teaching Assistant gearbeitet. Nieser, Florian, Dr. phil. ist seit September 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt AMAD (»Archivum Medi Aevii Digitale«) an der LudwigMaximilians-Universität München. Er schloss sein erstes Staatsexamen in den Fächern Theologie und Germanistik an der Eberhard-Karls Universität in Tübingen ab und wurde dort 2018 in Germanistischer Mediävistik mit der Arbeit ›Die Lesbarkeit von Helden. Uneindeutige Zeichen in der ›Bataille d'Aliscans‹ und im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach‹ promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind semiotische Codierungen von Heldenfiguren (Heldenepik, höfischer Roman), Dingsemiotik, Game Studies sowie Intermedialität. Olbert, Ann-Kathrin, ist Doktorandin im Fach Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Tübingen. Ihre bei Prof. Anna Mühlherr entstehende Dissertation gilt dem Thema der Ambiguität als vormoderner Denkfigur. Für ihre Arbeit erhielt sie ein Stipendium der Landesgraduiertenförderung. Pawlak, Anna, Jun.-Prof. Dr., lehrt Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Kunst der Frühen Neuzeit an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Nordalpine Malerei, Skulptur und Druckgraphik des 15. bis 18. Jahrhunderts, Kunst und Konfessionalisierung, Figurationen des Todes, künstlerische Konzepte des Immateriellen, Visualität und Materialität der Macht.

Sahm, Heike, Professorin für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Göttingen, lehrt und forscht zur europäischen Heldendichtung, zur niederdeutschen Literatur und zur Literatur in der spätmittelalterlichen Stadt. Zentrales Projekt ist derzeit die Anfertigung eines Studienbuches zum altniederdeutschen ›Heliand‹ mit Übersetzung. Tetzlaff, Stefan, ist Juniorprofessor am Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen. Publikationen und Forschungsschwerpunkte: ›Heterotopie als Textverfahren. Erzählter Raum in Romantik und Realismus‹ (De Gruyter 2016). Literatur und Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts, Semiotik der Gegenwartskultur, Kultursemiotik und linguistische Literaturwissenschaft. Trauschke, Jennifer, studierte Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften an der Universität Konstanz (2007-2011) und Kunstgeschichte an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg (2011-2013). Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Freiburg und promoviert im Sonderforschungsbereich 948 ›Helden – Heroisierungen – Heroismen‹ im Teilprojekt ›Grazia und Terribilità: Charismatisierungen des Künstlers als Phänomen des Heroischen in der frühen Neuzeit‹ bei Prof. Dr. Anna Schreurs-Morét. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kunsttheorie und Kunstliteratur sowie italienische Malerei der Frühen Neuzeit. Vollstedt, Thalia, ist Doktorandin an der Universität Tübingen. Die Literaturwissenschaftlerin absolvierte ihr Bachelorstudium und den Master Deutsche Literatur an der Universität Tübingen und lehrte dort anschließend zwei Semester mediävistische Germanistik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mythostheorie, Wiedererzählen und die mediävistische Perspektive auf Erzählphänomene der Gegenwart. Zywietz, Bernd, Dr. phil. arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Dschihadismus im Internet, angesiedelt am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Herausgeber der Publikationsreihe »Aktivismus- und Propagandaforschung« (VS Springer) und Vorstandsmitglied des Netzwerks Terrorismusforschung e.V. Aktuelle Schwerpunkte: Multimodalität, Medienrhetorik, Medienformal- und Medienformatästhetik, Theorie und Geschichte audiovisueller und digitaler Propaganda. Mehr Informationen unter www.online-propagandaforschung.de, www.bzyw.de.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

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Michael Basseler

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Literaturwissenschaft Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6

Laura Bieger

Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

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