Stadt und Medien: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart 9783412214906, 9783412208691


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Stadt und Medien: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart
 9783412214906, 9783412208691

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¨ DTEFORSCHUNG STA Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte in Mu¨nster begru¨ndet von Heinz Stoob in Verbindung mit

U. Braasch-Schwersmann, W. Ehbrecht, H. Heineberg, P. Johanek, M. Kintzinger, A. Lampen, R.-E. Mohrmann, E. Mu¨hle, F. Opll und H. Schilling herausgegeben von

We r n e r F r e i t a g Reihe A: Darstellungen Band 85

STADT UND MEDIEN VOM MITTELALTER BIS ZUR GEGENWART

herausgegeben von Clemens Zimmermann

2012 ¨ HLAU VERLAG KO ¨ LN WEIMAR WIEN BO

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Kamerateam der Tagesschau unterwegs in Hamburg, 1955. Quelle: Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Ju¨rgen Wilke, Ko¨ln 1999, S. 277 (nach Norddeutscher Rundfunk, Hamburg).

c 2012 by Bo¨hlau Verlag GmbH & Cie, Ko¨ln Weimar Wien  Ursulaplatz 1, D-50668 Ko¨ln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschu¨tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzula¨ssig. Redaktion: Institut fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte, Mu¨nster http://www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte Layout und Satz: Peter Kramer Buch & Satz, Mu¨nster Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mo¨rlenbach Gesetzt aus der Linotype Stempel Garamond 10pt. Gedruckt auf chlor- und sa¨urefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-412-20869-1

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Verzeichnis der Abku¨rzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VIII

Clemens Zimmermann Einleitung: Stadt und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Carla Meyer ‚City branding‘ im Mittelalter? Sta¨dtische Medien der Imagepflege bis 1500

19

Ute Schneider Die Medienstadt der Fru¨hen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Jo¨rg Requate Presse und Journalismus in urbanen Kontexten des 19. Jahrhunderts . . . .

77

Adelheid von Saldern Radio und Stadt in der Zwischenkriegszeit. Urbane Verankerung, mediale Regionalisierung, virtuelle Raumentgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Rolf Sachsse Geschichtslose Bilder vom Alten und Neuen Bauen. Zur Analogie der architektonischen Moderne (1912–1960) mit den Medien . . . . . . . . . . . . .

131

Nicole Huber Expo(rt)-Urbanismus. Multimediale Bauausstellungen und transatlantische Beziehungen – Stuttgart 1927 und Berlin 1957 . . . . . . . . . . . . . . . .

153

Katrin Minner Lost in transformation? Sta¨dtische Selbstdarstellung in Stadt(werbe)filmen der 1950er bis 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

VI

Inhalt

Anna Schober ¨ berlegungen aus der Sicht der KulturwissenStadt im Film. Stadt als Film. U schaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

Axel Schildt Großstadt und Massenmedien. Hamburg von den 1950er bis zu den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

Martin Schreiber Die Stadt im Zeitalter der vernetzten Kommunikation . . . . . . . . . . . .

265

Autoren und Kurzviten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287

Index der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

VORWORT

Dem komplexen Verha¨ltnis von Stadt und Medien vom Mittelalter bis zur Gegenwart widmete sich das 41. Fru¨hjahrskolloquium des Instituts fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte und des Kuratoriums fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte e. V., das vom 4. bis 5. April 2011 im Liudgerhaus Mu¨nster in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl fu¨r Kultur- und Mediengeschichte der Universita¨t des Saarlandes veranstaltet wurde. Die interdisziplina¨r angelegte Tagung versammelte Medienhistoriker, Kulturwissenschaftler, Architekten, Kunst- und Kommunikationsforscher, die die vielfa¨ltigen engen historischen Verflechtungen von Stadt und Medien vom Mittelalter bis zur Gegenwart beleuchteten. Entgegen des Ansatzes der etablierten Mediengeschichte ging es bei der Tagung nicht nur um die entgrenzenden und vernetzenden Auswirkungen von Medien, sondern auch um die vielfa¨ltigen Formen, in denen sich Medien in Orten situieren und auf diese verweisen. Die Tagungsbeitra¨ge fragten daher erstens aus einer kulturo¨konomischen Perspektive heraus, was es u¨ber bestimmte Sta¨dte aussagt, wenn sie sich als kontinuierliche Standorte von Medieninstitutionen und -unternehmen erweisen. Zweitens verfolgten die Beitra¨ge die Frage, inwiefern sich medienspezifische Repra¨sentationen von Stadtra¨umen unterscheiden und wie diese Images auf die realen Ra¨ume zuru¨ckwirken. Die Beitra¨ge verweisen neben erheblichen und bislang in der Forschung noch unterscha¨tzten Kontinuita¨ten auch auf Bru¨che und Entwicklungsstufen hin. Dankenswerterweise haben sich die Autorinnen und Autoren dazu bereit erkla¨rt, ihre Vortra¨ge in leicht u¨berarbeiteter Form fu¨r diese Publikation beizusteuern. Der Band wa¨re ohne die großzu¨gige Fo¨rderung des Instituts fu¨r vergleichende Sta¨dtegeschichte und ihrem wissenschaftlichen Vorstand Prof. Dr. Werner Freitag nicht zustande gekommen. Fu¨r die reibungslose Organisation der Tagung war die Institutsleiterin, Frau Dr. Angelika Lampen, unentbehrlich. Die Sektionsleitungen u¨bernahmen Prof. Dr. Werner Freitag (Mu¨nster), Prof. Dr. Thomas Großbo¨lting (Mu¨nster), Prof. em. Dr. Peter Johanek (Mu¨nster), Prof. Dr. Gerd Schwerhoff (Dresden) und Prof. Dr. Matthias Warstat (Erlangen-Nu¨rnberg). Ihnen allen sei fu¨r ihren Einsatz herzlich gedankt. Der ganz besondere Dank des Herausgebers geht an die wissenschaftliche Redaktion, Dr. Mechthild Siekmann und Ria Ha¨nisch M. A., die fu¨r die umsichtige Betreuung der Beitra¨ge verantwortlich zeichneten und die rasche Vero¨ffentlichung erst ermo¨glichten. Saarbru¨cken, Dezember 2011

Clemens Zimmermann

¨ RZUNGEN UND SIGLEN VERZEICHNIS DER ABKU

ArchGBw ArchSozG Beih. BeitrGDortmund BeitrStGU Die alte Stadt ZSSD EsslingerStudS Go¨ppArbGerm GR HZ InfStG JbKo¨lnGV LexMA MAF ¨G MIO MittGesKielStG MittVGNu¨rnberg NPL RegImp RhVjbll SD SHistKoll StadtADo StF A VInstEurG VSWG VuF WestfF ZGO

Archiv fu¨r Geschichte des Buchwesens Archiv fu¨r Sozialgeschichte Beiheft Beitra¨ge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark Beitra¨ge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung Die alte Stadt. Zeitschrift fu¨r Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege Esslinger Studien – Schriftenreihe Go¨ppinger Arbeiten zur Germanistik Geographische Rundschau Historische Zeitschrift Informationen zur modernen Stadtgeschichte Jahrbuch des Ko¨lnischen Geschichtsvereins Lexikon des Mittelalters Mittelalter-Forschungen ¨ sterreichische Geschichtsforschung Mitteilungen des Instituts fu¨r O Mitteilungen der Gesellschaft fu¨r Kieler Stadtgeschichte Mitteilungen des Vereins fu¨r Geschichte der Stadt Nu¨rnberg Neue Politische Literatur Regesta Imperii, Die Regesten des Kaiserreichs Rheinische Vierteljahrsbla¨tter Sicherheitsdienst des Reichsfu¨hrers-SS Schriften des Historischen Kollegs Stadtarchiv Dortmund Sta¨dteforschung, Reihe A: Darstellungen Vero¨ffentlichungen des Instituts fu¨r Europa¨ische Geschichte Vierteljahrschrift fu¨r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Vortra¨ge und Forschungen Westfa¨lische Forschungen Zeitschrift fu¨r die Geschichte des Oberrheins

EINLEITUNG: STADT UND MEDIEN von Clemens Zimmermann

„In Paris ist die Luft gleichsam mit Informationen gesa¨ttigt; ob man will oder nicht, man sieht die Schlagzeilen an den Zeitungssta¨nden und ho¨rt die Gespra¨che in der Schlange vor den Kassen der Superma¨rkte“.1 So bemerkte Michel Houellebecq in seinem Roman „Karte und Gebiet“. Physische Stadtra¨ume und kommunikative Verdichtung im Stadtraum werden heute, so zeigen vielfa¨ltige Erfahrungen und Forschungsergebnisse, durch vernetzte digitale Medien keineswegs „aufgelo¨st“. Selbst die extrem mobilen Medien der Gegenwart weisen deutliche Ortsbezu¨ge auf: Durch das Mobiltelefon werden bestehende soziale Netze auf territorialer Grundlage sowohl gesta¨rkt als erweitert, zugleich werden dadurch die Quasi-Anwesenheit in mehreren Kommunikationsra¨umen und die Koordination von Bewegungen erheblich begu¨nstigt. Praktiken des Twitters, der Facebook-Party, der Schnitzeljagd mit GPS-Empfa¨nger („Geocaching“) oder interaktive Wet-Wars, in denen Spielteilnehmer die Stadt in einer Menschenjagd mit Wasserpistolen durchstreifen, ermo¨glichen eine neue Form o¨rtlicher Praktiken, wenngleich sie dem Betrachter als punktuell und flu¨chtig erscheinen. Die Stadtsoziologin Saskia Sassen meinte zu den „neuen Medien“ optimistisch: Political activists can use digital networks for global or non-local transactions and they can use them for strengthening local communications and transactions inside a city or rural community. Recovering how the digital technology can serve to support local initiatives and alliances across a city’s neighbourhoods is extremely important in an age where the notion of the local is often seen as losing ground to global dynamics and actors ... Any large city is today traversed by these ‚invisible‘ circuits.2 So changieren die heutigen Medien zwischen Entgrenzungen und konstruierten Raumbezu¨gen einerseits und ra¨umlichen Referenzen und Ortsbezu¨gen andererseits. Das sieht man selbst beim Fernsehen: Es schafft seine Ortsbezu¨ge vielfach nur nachtra¨glich, durch Berichte u¨ber Events, u¨ber die Wetterkarten, wo die Zuschauer sich selbst verorten ko¨nnen, u¨berhaupt durch Angabe von Orten, wenn z. B. die Tagesschau aus Hamburg kommt.3 Aber es hat auch seine festen Standorte und in seinem gesam1 Michel Houellebecqu, Karte und Gebiet, Ko¨ln 22011, S. 141. 2 Saskia Sassen, Reading the City in a Global Digital Age, in: Mediengeographie. Theorie – Analyse –

Diskussion, hg. v. Jo¨rg Do¨ring/Tristan Thielmann, Bielefeld 2009, S. 513–538, Zitat S. 530f.

3 Vgl. Rolf F. Nohr, Fernsehen als Topographie, in: Do ¨ ring/Thielmann, Mediengeographie (wie

Anm. 2), S. 587–606; vgl. Knut Hickethier, Fernsehen als urbanes Medium, in: Die inszenierte Stadt. Zur Praxis und Theorie kultureller Konstruktionen, hg. v. Bernd Henningsen, Berlin 2001, S. 157–176.

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Clemens Zimmermann

ten Berichts- und Nachrichtenteil eine eminente Referenzfunktion, d. h. es berichtet u¨ber reale Orte. Selbst in den fiktionalen Formaten sind sta¨dtische Topographien nicht beliebig konstruierbar, jedenfalls wenn die Zuschauer sie wiedererkennen sollen. Der „Tatort“ mag zwar innersta¨dtische Schaupla¨tze stark vera¨ndert darstellen, muss aber von seinem ganzen Profil her eindeutige Raumsymbole und Raumbeziehungen beachten.4 Das Thema „Stadt und Medien“5 im historischen La¨ngsschnitt vom Spa¨tmittelalter bis zur Gegenwart impliziert eine Fu¨lle von Fragestellungen, Perspektiven und Relationen. Lokale und außerlokale Ereignisse werden und wurden in ortspra¨senten Medien dargestellt. Medien waren in historisch wachsendem Ausmaß unerla¨sslich fu¨r intra- und interlokale Kommunikation,6 die Rhythmen großsta¨dtischen Lebens und der medialen Neuigkeiten entsprachen einander, Fotos von der Stadt und ihre sozialkritische Deutung stu¨tzten einander,7 und aus all dem ergeben sich Wechsel¨ ffentlichkeiten, die ihrerseits in einem bezu¨ge zu den die Stadt auszeichnenden O historisch wachsenden Ausmaß durch Kommunikationsmedien dynamisiert wurden.8 Sieht man Medien o¨konomisch, stellen sie Unternehmen dar, bieten besondere 4 Vgl. Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers, hg. v. Julia Griem/Sebastian Scholz,

Frankfurt a. M./New York 2010.

5 Hier werden fru¨here Anna¨herungen an das Thema des Ortsbezugs von Medien fortgefu¨hrt: Clemens

Zimmermann, Stadt, Medien und Lokalita¨t, in: InfStG, 1 (2002), S. 5–13; Ders., Medien und Stadt, in: InfStG, 1 (2007), S. 70–85; Ders., Wie Medien den Raum beschreiben, in: Historische Determinanten der Raumanalyse (Informationen zur Raumentwicklung 10,11 2007), S. 627–637. 6 Verdichtete Kommunikation und besondere Formen der O ¨ ffentlichkeit als Konstituenten urbaner Gesellschaft beim Klassiker der Urbanistik: Hans Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologi¨ berlegungen zum Sta¨dtebau, Reinbek bei Hamburg 31961; zur Fru¨hen Neuzeit: Ko¨ln als Komsche U munikationszentrum (Studien zur fru¨hneuzeitlichen Stadtgeschichte), hg. v. Georg Mo¨lich/Gerd Schwerhoff, Ko¨ln 2000; Dagmar Freist, Governed by Opinion. Politics, Religion and the Dynamics of Communication in Stuart London 1637–1645, London 1997; Dies., Wirtsha¨user als Zentren ¨ ffentlichkeit. London im 17. Jahrhundert, in: Kommunikation und Medien der fru¨hneuzeitlicher O Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Johannes Burkhardt, Mu¨nchen 2005, S. 201–224; Christopher R. Friedrichs, Das sta¨dtische Rathaus als kommunikativer Raum in europa¨ischer Perspektive, in: ebd., S. 159–174; Uwe Goppold, Politische Kommunikation in den Sta¨dten der Vormoderne. Zu¨rich und Mu¨nster im Vergleich (StF A 74), Ko¨ln/Weimar/Wien 2007; Michael Hecht, Patriziatsbildung als kommunikativer Prozess. Die Salzsta¨dte Lu¨neburg, Halle und Werl in Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit (StF A 79), Ko¨ln/Weimar/Wien 2010; die Ereignishaftigkeit der Großstadt als Inhalt der Medien: Peter Fritzsche, Readers, Browsers, Strangers, Spectators, Narrative Forms and Metropolitan Encounters in Twentieth-century Berlin, in: Printed Matters. Printing, Publishing and Urban Culture in Europe in the Modern Period, hg. v. Malcolm Gee/Tim Kirk, Aldershot 2002, S. 88–104. Vgl. dazu auch Clemens Zimmermann, Zuru¨ck zum Sozialen? Stadtgeschichtsforschung zwischen den Kategorien Gesellschaft, Kultur und Medien, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Reden, Schreiben und Schauen in Großsta¨dten des Mittelalters und der Neuzeit, hg. v. Irmgard Ch. Becker, Ostfildern 2011, S. 15–28. 7 Vgl. Frank Bo ¨ sch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt a. M./ New York 2010, S. 116–18; vgl. auch John Tagg, The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, Basingstoke 1988; Rudolf Stumberger, Klassen-Bilder I. Sozialdokumentarische Fotografie 1900–1945, Konstanz 2007; Ders., Klassenbilder II. Sozialdokumentarische Fotografie 1945–2000, Konstanz 2000. 8 Beginnend im Spa¨tmittelalter bis zur Moderne, vgl. Mark Mersiowsky, Wege zur O ¨ ffentlichkeit. ¨ ffentKommunikation und Medieneinsatz in der spa¨tmittelalterlichen Stadt, in: Stadtgestalt und O lichkeit. Die Entstehung politischer Ra¨ume in der Stadt der Vormoderne, hg. v. Albrecht Stephan,

Einleitung: Stadt und Medien

3

Arbeitspla¨tze und schaffen Kaufkraft. In Sicht der Kultur- und Bildwissenschaften produzieren Medien die sta¨dtischen Images, die wiederum bewusst auf Konsensherstellung und Einwerbung von symbolischen und materiellen Ressourcen zielen.9 Die Relation von Stadt und Medien ergibt sich also auf verschiedenen analytischen Ebenen, die wiederum von diversen wissenschaftlichen Disziplinen sowie einzelnen Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft bearbeitet werden. Stadt und Medien vermitteln sich, so der Vorschlag hier, auf sechs solcher Ebenen: ¨ ffentlichkeit10 1. medialisierte innersta¨dtische Kommunikation und O 2. mediale Funktionen in der interlokalen Kommunikation (vermittelte „Bilder“ und Images) 3. durch Medien involvierte und vermittelte Raumvorstellungen (Karten oder Navigationsgera¨te) 4. Medien als lokale Wirtschaftsunternehmen, die wiederum mit lokalen Milieus in engem Wechselverha¨ltnis stehen 5. historische Sta¨dte als Orte mit besonderen medialen Praktiken und als besondere Aneignungsra¨ume 6. (v. a. große) Sta¨dte als Knotenpunkte einer sich in verschiedenen historischen Schritten ausweitenden Netzkommunikation. Es ist festzustellen, dass es bislang kaum gegenwartsbezogene Forschungsarbeit gibt, die auch nur zwei dieser Ebenen zugleich thematisiert. Man kann sie unter dem Leitbegriff eines Ortsbezugs der Medien, konzentriert auf das Paradigma Stadt, zusammenfassen. Bislang gibt es immer nur hoch spezifische, a¨ußerst heterogene und auffallend theorielastige Zugriffe. Aber auch in historischer Perspektive ergibt sich die Notwendigkeit, nicht nur im Idealfall das Wechselspiel dieser sechs Ebenen zu thematisieren, sondern medienspezifisch, und zudem eben nach epochalen Medienensembles und Medienkulturen zu differenzieren. Ferner mu¨ssen in historischer Perspektive auch die jeweiligen sta¨dtischen Bedingungen, die in die Relation von Medien und Stadt eingehen, reflektiert werden, etwa die Gro¨ßenordnungen, mit denen man es zu tun hat, stadtgesellschaftliche Charakteristika sowie diverse sta¨dtische Akteurskonstellationen. Wegen dieser Komplexita¨t des Gegenstands (womit sich die Reflexion auf Theorie dann doch lohnt) und aufgrund der Dynamisierung des historisch

Ko¨ln/Weimar/Wien 2010, S. 13–57; Alice von Plato/Lu Seegers, Sta¨dte, Stadtrepra¨sentationen und Medien in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: Geschichte als Experiment, hg. v. Daniela Mu¨nkel/ Jutta Schwarzkopf, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 369–380; Adelheid von Saldern, Symbolische Stadtpolitik – Stadtpolitik der Symbole. Repra¨sentationen in drei politischen Systemen, in: Inszenierter Stolz. Stadtrepra¨sentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935–1975), hg. v. Ders., ¨ ffentlichkeit in Deutschland im 20. JahrStuttgart 2005, S. 29–82; Axel Schildt, Stadt, Medien und O hundert, Ergebnisse der neueren Forschung, in: InfStG 1 (2002), S. 36–43. 9 Wie Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nu¨rnbergs Entdeckung in Texten um 1500, Ostfildern 2009, unter Hinweis auf vielfa¨ltige harmonisierende Tendenzen der diversen Quellen nachwies. 10 Vgl. Gregor Hassemer/Gu¨nther Rager, Zur Bedeutung des Lokalen in den Medien, in: Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, hg. v. Adelheid von Saldern, Stuttgart 2006, S. 239–255.

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Clemens Zimmermann

verstandenen Gegenstandes wurden hier zwei Zuga¨nge zum Gesamtthema privilegiert, na¨mlich die Stadt als Standort von Medien und die Repra¨sentation der Stadt in Medien, von denen aus sich Einblicke in weitere analytisch relevante Aspekte gewinnen lassen. In historischer Perspektive ist das bedeutende Aufgabenfeld bislang vor allem hinsichtlich der Verbreitung des Buchdrucks und des Verha¨ltnisses von „Schriftlichkeit“ und „Mu¨ndlichkeit“ (darunter auch die Arbeiten zur Rolle von Geru¨chten in der Kommunikationsgeschichte bis zum 20. Jahrhundert), des „Bildes der Stadt in der Fru¨hen Neuzeit“,11 der „Stadt im Film“12 bzw. „filmischer Topologie des Urbanen“13 angegangen worden, jedoch eben sektorspezifisch und nicht im historischen La¨ngsschnitt. Weite empirische Fragekomplexe, wie die Aneignung von medialen Produkten und Inhalten im Stadtraum14 sind zudem weitgehend ungekla¨rt. In der bisherigen Mediengeschichte wird den Medien vor allem die Qualita¨ten der Raumu¨berwindung und der Beschleunigung historischer Zeit zugeschrieben, oft auch mit zugeschriebener „revolutiona¨rer“ Qualita¨t. Tatsa¨chlich zeichnen sich Neuzeit und insbesondere die Moderne durch erhebliche, u¨ber verbesserten Transport und technische Kommunikationssysteme bedingte Beschleunigungsprozesse aus, erweiterten sich zumindest potenziell die Kommunikationsra¨ume.15 Wir erleben in der Gegenwart, wie sich

11 Das Bild der Stadt in der Neuzeit (1400–1800), hg. v. Bernd Roeck/Wolfgang Behringer, Mu¨nchen

1999.

12 Vgl. Guntram Vogt, Die Stadt im Kino. Deutsche Spielfilme 1900–2000, Marburg 2001; Dschungel

Großstadt. Kino und Modernisierung, hg. v. Irmbert Schenk, Marburg 1999; The City and the Moving Image. Urban Projections, hg. v. Richard Koeck/Les Roberts, Houndmills/New York 2010. 13 Laura Frahm, Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld 2010. Frahm betont, wie sich die Darstellung von Sta¨dtischem vom Raum selbst erheblich lo¨se, und distanziert sich vom Repra¨sentationsbegriff, da es ihr nicht um mediale Stadtgeschichte, sondern um „Auffa¨cherung des Raums in einzelne filmische Topologien“ gehe (S. 386). Aber selbst die solcherart medientheoretisch „filmische Metropole“ verweise noch „auf ein Außen“ der wirklichen Dynamiken und auf die Differenz zum La¨ndlichen. Es ist offensichtlich, dass hier allein aus medienphilosophischer Perspektive die Konstruktionsprinzipien des Stadtfilms gemeint sind, nicht mehr seine Referenzen, außermedialen Bezu¨ge und stofflichen Anregungen. Die tatsa¨chliche physische Gestalt der Stadt, die in ihr stattfindenden sozialen Interaktionen sind in unza¨hligen „Stadtfilmen“ aber durchaus wiedererkennbar, so in „Cle´o de 5 a` 7“ (1961), wo man die Wege der Protagonistin durch Paris exakt nachvollziehen kann. Auch wenn es hier um eine fiktive Lebensgeschichte geht, um die Raumerfahrung eines weiblichen Flaneurs, bleibt der Orts- und Zeitbezug der Aufnahmen, mit ihren Straßen, Parks und Ateliers absolut realistisch; vgl. Barbara Mennel, Cities and Cinema, Abingdon 2008, 72–76. 14 In der Mediengeschichte, soweit sie weniger die Medien als technische und institutionelle Apparate als die Ausbreitung und Aneignung von medialen Inhalten thematisiert, wird – so die These hier – der spezifisch konturierte, sozial und kulturell definierte Raum wichtig, innerhalb dessen sich die Aneignung der Inhalte, der unterhaltenden Erlebnisse vollzieht. Vor Ort diffundieren die Zeitungsinhalte in Kommunikationsnetzwerken, in denen Meinungsbildner ihre eigenen Interpretationen leisten; der Klassiker ist immer noch: Elihu Katz/Paul Lazarsfeld, Personal influence: the part played by people in the flow of mass communications, Glencoe, Ill. 1950. Siehe auch Henning Dunckelmann, Lokale ¨ ffentlichkeit. Eine gemeindesoziologische Untersuchung, Stuttgart 1975; vgl. auch die einschla¨gige O Literatur zum Lokaljournalismus, die zu umfangreich ist, als dass sie hier aufgefu¨hrt werden ko¨nnte. 15 Zur physischen Beschleunigung des Transports, zur Raumu¨berwindung und zum (angeblichen) Ver¨ berwindung der Distanz. Zeit schwinden von Territorialita¨t im Netz vgl. Wolfgang Kaschuba, Die U und Raum in der europa¨ischen Moderne, Frankfurt a. M. 2004; William J. Mitchell, City of Bits. Leben in der Stadt des 21. Jahrhunderts, Basel 1996; Michel S. Laguerre, The Digital City. The

Einleitung: Stadt und Medien

5

ein weiterer Schub in einer jahrhundertealten Medialisierungsgeschichte vollzieht, ¨ konomisiewie im Zusammenhang mit fortschreitender Technisierung und einer O rung der Gesellschaft sowie weiter verbessertem Transport die neuen Medien zur Beschleunigung des Lebens beitragen, was wiederum zur anna¨hernden Gleichzeitigkeit verschiedener Ortsbezu¨ge fu¨hren kann. All diese Pha¨nomene bescha¨ftigen die heutige popula¨re und wissenschaftliche Debatte außerordentlich und haben zu irrigen Vorstellungen u¨ber ihre revolutiona¨re Absolutheit gefu¨hrt. Fu¨r die Historiker hingegen stellt die Gegenwart immer nur eine Periode von mehreren dar, die mit historischem Instrumentarium zu erforschen sein wird, sie gibt somit Fragestellungen und Erfahrungen der Forschung vor. Eben die Erfahrung der Vervielfa¨ltigung der Medien heute, der Beschleunigungseffekte, die sie produzieren, der Vervielfa¨ltigung von Orten, auf die sie sich beziehen, la¨sst die Frage entstehen, wie sich die Beziehung von Stadt und Medien historisch aufbaute. Wir haben es mit einem historischen Prozess zu tun, in dem diese Relation fortbesteht, wobei sie sich als hoch variabel und ambivalent erweist. So soll in diesem Band betont werden, dass schon Schriftund Druckmedien der Fru¨hen Neuzeit in dieser Relation relevant sind, wie auch in der anschließenden Geschichte des Hinzutretens des Telegrafen, der so genannten Massenmedien, es bei all diesen Medien nicht nur um Ausweitung der Horizonte, Beschleunigung und Intensivierung der Kommunikation ging, sondern immer auch um o¨rtliche Bezu¨ge und innero¨rtliche Funktionen. Elektronische Kommunikationsmittel der Moderne, vom Telefon u¨ber das Fernsehen zum Internet konnten die Relation von Zeit und Raum effektiver als die klassischen Printmedien der Fru¨hen Neuzeit entkoppeln. Das heißt aber nicht, dass sie es stets und nur in dieser Funktion taten – wenn man zum Beispiel daran denkt, wie das Telefon historisch u¨berwiegend von Anfang an im Zuge lokaler gescha¨ftlicher oder privater Netzwerke genutzt wurde.16 Trotz der historisch wachsenden Vernetzung, die als „Dynamisierung“ oder als System der „Informationsstro¨me“ beschrieben wird,17 und der Bildung großer Kommunikationsra¨ume gibt es die konstante Funktion von Medien, Nahkommunikation zu unterstu¨tzen. Zu den vielen mit Bedeutung aufgeladenen Bildern, die Medien verbreiten, geho¨ren auch die, die im Zuge symbolischer Praktiken entwickelt wurden und sowohl bei Stadtbewohnern als auch nach „außen“ die Vorstellung von der jeweiligen Stadt pra¨gen halfen.18 Der sta¨dtische Raum wurde durch Medien also nicht aufgelo¨st, er wurde allerdings (selektiv) erfahrbar gemacht, er wurde relationiert

American Metropolis and Information Technology, New York 2005; vgl. aber: Anke Matuscheski, Clusterbildung in der Informationswirtschaft – Ra¨umliche Konzentration trotz raumu¨berwindender Technologien, in: Ra¨umlicher Strukturwandel im Zeitalter des Internets, hg. v. d. Wu¨stenrot Stiftung, Ludwigsburg/Wiesbaden 2004, S. 159–168. 16 Zum Ortsbezug des Telefons vgl. die Beitra¨ge von Suzanne Keller, Jean Gottmann, Ronald Abler und J. Alan Moyer in: The Social Impact of the Telephone, hg. v. Ithiel de Sola Pool, Cambridge/ London 1977; Angel Calvo, The shaping of urban telephone networks in Europe, 1877–1926, in: Urban History 33,3 (2006), S. 411–434. 17 Etwa bei Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2004, S. 433–438. 18 Vgl. Katrin Minner, Was bleibt von der Stadt der Bu¨rger? Stadtbilder und Stadtjubila¨en der Region Sachsen-Anhalt (1893–1961), Halle (Saale) 2010.

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Clemens Zimmermann

(z. B. wenn Stadtverwaltungen mit anderen korrespondierten), er wurde „medialisiert“ (jedenfalls soweit Medieninhalte wirklich angeeignet wurden). Dies geschah vielfach zu praktischen Zwecken, die wiederum eine selektive Mediennutzung nahelegten. Einerseits gab es die Medialisierung als vielfach unterbrochenen und territorial ungleichzeitig verlaufenden langzeitigen Prozess.19 Andererseits wurde der auf ein Zentrum bezogene, einheitlich u¨berplante und speziell infrastrukturell ausgeru¨stete, kommunikativ verdichtete sta¨dtische Raum als Konstante der Geschichte nicht aufgehoben. Er wurde aber zahlreichen neuen inneren Abgrenzungen (aufgrund beispielsweise von Verkehrsstraßen oder sich vera¨ndernden soziokulturellen Zuschreibungen) und erheblichen Entgrenzungen (z. B. durch Anlage von Vorsta¨dten, Fabrikvierteln, Villenkolonien, Siedlungen und Suburbanita¨t) unterworfen.20 Allen Beitra¨gen liegt insofern ein historisch-relationaler Raumbegriff zugrunde ebenso wie die Pra¨misse, dass es immer „Stadt“ als abgrenzbarer, eindeutig qualifizierter Raum im untersuchten Zeitraum gab. Ra¨ume ko¨nnen bei aller Variabilita¨t nicht beliebig konstruiert werden, sondern orientieren sich auch an physischen Grenzen, an tradierten Institutionen, Bevo¨lkerungskonzentrationen, Artefakten, die sich nicht einfach verschieben lassen. Sta¨dte und innersta¨dtische Orte zeichnen sich durch ihre Einmaligkeit, Bedeutungsaufladung, kontinuierliche Raumfunktionen aus, die weder faktisch rasch vera¨ndert werden noch beliebig medial variiert werden ko¨nnen.21 Zudem, was aber hier nicht ausgefu¨hrt werden soll, liegen die klassische „europa¨ische Stadt“ und die Megapolis heutiger Schwellenla¨nder in ihrer Form und sozialen Konstruktion sicher weit auseinander, aber unbestreitbar ist es doch, dass global betrachtet Urbanisierungsraten sta¨ndig steigen, dass Metropolen wie Shanghai sich ungeheuer dynamisch und nach Modellen entwickelten, die in Europa entscheidend mit formuliert wurden. In Deutschland scheint derzeit der Ho¨hepunkt der Suburbanisierung u¨berschritten und Sta¨dte gewinnen innerhalb der Entwicklungsachsen an Potenzialen. Die Stadt war und ist, so die Pra¨misse dieses Bandes, im gesamten untersuchten Zeitraum wichtig – als territoriale Grundlage von Leben, Sinnentwu¨rfen, Produktion, Imagebildung und Wissen.22 Ferner ist der Vorstellung entgegenzutreten, dass fru¨hmoderne Sta¨dte abgeschieden und isoliert, dann aber seit dem Telegrafenzeitalter und v. a. dem Internet schlagartig und hochgradig vernetzt seien. Schon die Marktfunktion historischer Sta¨dte weist auf die absolute Notwendigkeit materieller und kommunikativer Vernetzung mit einem jeweiligen Umland hin. Bereits die netzwerkartig organisierten 19 Vgl. jetzt den globalgeschichtlich geweiteten Blick auf den langen Medialisierungsprozess bei Bo ¨ sch,

Mediengeschichte (wie Anm. 7).

20 Adelheid von Saldern, Kommunikation in Umbruchzeiten. Die Stadt im Spannungsfeld von Koha¨-

renz und Entgrenzung, Der Einstieg, Bina¨re Denkmuster und Leitfrage, in: Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, hg. v. Ders., Stuttgart 2006, S. 11–44. 21 Martina Lo ¨ w, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 198–203. „Lokalisierung der Ra¨ume an Orten“ bedeutet, sie sind konstitutiv fu¨r (interaktiv und nicht nur metaphorisch verstandene) Ra¨ume. Zur Kategorie von „Ort“ („place“) vgl. auch den pha¨nomenologischen Ansatz von E. Relph, Place and Placelessness, London 1976. 22 Vgl. dazu: Martina Hessler, Vernetzte Wissensra¨ume. Zur Bedeutung von Orten in einer vernetzten Welt, in: Technikgeschichte 70,4 (2003), S. 235–253; Katharine Willis, Hidden Treasure. Sharing Local Information, in: Aether. The Journal of Media Geography 5 (2010), S. 50–62.

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und mediengestu¨tzten, europaweiten und teils sogar globalen Handelsbeziehungen der Fru¨hen Neuzeit (konzentriert an der Rheinschiene und in Oberitalien) wurzelten in den sta¨dtischen Standorten und ihrem jeweiligen Hinterland. Im medialen Gesamtraum traten einzelne Sta¨dte hervor, so wurden relevante Informationen wie die Preiscourants lokal kontrolliert und in kosmopolitischen Sta¨dten wie Amsterdam vielfa¨ltig aufbereitet und produziert.23 Zum Absatzgebiet der Mediensta¨dte geho¨rte der gesamte europa¨ische Raum, wie Ute Schneider in diesem Band ausfu¨hrt. In der fru¨hneuzeitlichen Exilantenstadt waren „fremde“ Kulturen anzutreffen, Handel und Migration gestalteten das Sta¨dtische offen und poro¨s; die „Fremden“ dort hielten die Verbindung mit ihren Herkunftsorten. Im 19. Jahrhundert wurde durch medialisierte Kommunikation, Industrialisierung, verbesserten Transport und sich globalisierende Ma¨rkte die Konnektivita¨t der Sta¨dte intensiviert. Mit dem Telegrafen ergab sich eine neue Hierarchie der Stro¨me des Austauschs, so die herausragende globale Positionierung von London, Paris und Berlin. Mit der Ausweitung globaler Kommunikation wuchs zugleich die Bedeutung einzelner lokaler Zentren des intensivierten Austauschs, die wiederum spezialisierte Produktionsfunktionen u¨bernahmen.24 Auch heute konzentriert sich die „Infrastruktur der Netzkommunikation in Sta¨dten“.25 In diesem Band geht es nicht mehr um die sta¨ndige Erweiterung medialisierter Kommunikationsra¨ume, oder wie sich im Zeitalter der Globalisierung wichtige Netzwerke der Medien mit gesteigerter Geschwindigkeit der Zirkulation von Informationen in Verbindung mit neuen Logistiken der Nachrichtenvermittlung ausbreiteten.26 Vielmehr werden die Orte selbst behandelt, an denen auch im Zeitalter globalisierten, verbilligten und beschleunigten Transports die meisten bleiben und erleben, was die globale Moderne zu ihnen bringt – Orte, an denen Medien produziert werden, wo Beziehungen, Netzwerke und Traditionen sich auf jeweils einmalige Weise

23 Cle´ Lesger, Der Buchdruck und der Aufstieg Amsterdams als Nachrichtenzentrum um 1600, in:

Praktiken des Handels. Gescha¨fte und soziale Beziehungen europa¨ischer Kaufleute in Mittelalter und fru¨her Neuzeit, hg. v. Mark Ha¨berlein/Christof Jeggle, Konstanz 2010, S. 283–305; vgl. auch Pamela O. Long, Openness, secrecy, authorship: technical arts and the culture of knowledge from antiquity to Renaissance, Baltimore 2001. Terhi Rantanen, The Cosmopolitanization of News, in: Journalism Studies 8,6 (2007), S. 843–86, betont, dass „Nachrichten“ von Anfang an zwischen Sta¨dten und nicht national oder international zirkulierten. 24 Historische Argumentation: Terhi Rantanen, Cosmopolitanization (wie Anm. 23), S. 843–861, Zitat S. 847. In aktueller Sicht: Stephen Graham, The end of geography or the explosion of place? Conceptualizing space, place and information technology, in: Progress in Human Geography 22,2 (1998), S. 165–185 zur Resistenz physischer Begegnungsorte wie Universita¨ten, Schulen oder Fabriken trotz ihrer Involviertheit in den elektronischen Netzen. Graham vertritt hier eine „ko-evolutionistische“ Perspektive anstelle einer des technologischen Determinismus, doch sei z. B. zur Kenntnis zu nehmen, wie sich durch Hochgeschwindigkeitszu¨ge die Relationen zwischen großen Zentren versta¨rkten, wa¨hrend deren Umland zur Peripherie werde. 25 Andreas Hepp, Translokale Medienkulturen: Netzwerke der Medien und Globalisierung, in: Konnektivita¨t, Netzwerk und Fluss, hg. v. Andreas Hepp, Wiesbaden 2006, S. 43–68, hier S. 55, 61 (Zitat), 62. 26 Vgl. Das Mediensystem im Alten Reich der Fru¨hen Neuzeit (1600–1750), hg. v. Johannes Arndt/ Esther-Beate Ko¨rber, Go¨ttingen 2010.

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miteinander verbinden und zu neuen Genres und innovativen Inhalten fu¨hren.27 Es wird das Thema des Wechselverha¨ltnisses von Stadt und Medien von der Kategorie des Ortes her angegangen. Es geht um die Lokalisierung der Medien und um die Medialita¨t von Stadt.

1. Stadt als Standort von Medieninstitutionen und -unternehmen

Was bedeutet es, wenn sich Sta¨dte – v. a. solche mit gu¨nstigen Lagefaktoren und mit besonderen kulturellen Potenzialen ausgestattete – u¨ber Jahrhunderte hinweg als Standorte von Medienunternehmen oder -institutionen erweisen? Welche Kontinuita¨ten, welche Bru¨che liegen hier vor, was heißt dies hinsichtlich der Wechselbezu¨ge von spezifisch urbanen Milieus und Medienentwicklung? Diese erste Perspektive geht von Medien als Institutionen und Unternehmen aus, die ihre Entstehung und ihren erfolgreichen Betrieb den Ressourcen der Stadt und ihrer Kultur verdanken. Damit handelt es sich um eine materielle, kommunikative und sozialgeschichtliche Ebene. Die Stadt als Standort von Medieninstitutionen und Publikumsmedien – auf letztere konzentriert sich der Band –, taucht in der bisherigen Literatur zwar immer wieder auf, z. B. mit Lyon oder Venedig als Buchsta¨dten und Augsburg oder Berlin als Zeitungssta¨dten, das Thema ist aber noch nicht im historischen La¨ngsschnitt angegangen worden.28 Der Begriff der Medienstadt29 wird heute in kommerzialisierten Internetpra¨sentationen als suburbanes Cluster von Medienfirmen wie Babelsberg bei Potsdam verstanden; dem wird dann eine quasi-urbane Aufenthalts- und Erlebnisqualita¨t zugeschrieben. Im historischen Zugriff versteht man unter einer Medienstadt einen urbanen Standort, in dem die Wertscho¨pfung aus dem Mediensektor und

27 Ein modernes Beispiel fu¨r ein Profil kreativer, avantgardistischer Medienproduktionen, die in unver-

wechselbaren Milieus wurzeln, diese wiederum u¨ber Perzeption des Medialen durch Akteure vera¨ndern, ist San Francisco: Radical Light. Alternative Film & Video in the San Francisco Bay Area, 1945–2000, hg. v. Steve Anker/Kathy Geritz/Steve Seid, Berkeley 2010. 28 Es handelte sich bislang nur um punktuelle Zugriffe. Gegenwartsbezogene, soziologische oder o¨konomische Arbeiten setzen sich nicht mit der Geschichtlichkeit des Themas auseinander – und umgekehrt die historischen Arbeiten nicht mit gegenwartsbezogenen. 29 In harter Konkurrenz zueinander bezeichnen sich verschiedene deutsche Sta¨dte als „Mediensta¨dte“ – Mu¨nchen und Hamburg stehen an der Spitze, Ko¨ln und Du¨sseldorf streiten sich im Westen um das Primat, Berlin ist trotz Hauptstadtfunktionen nur im Verlagssektor bedeutend und Leipzig – die alte ¨ berdeutsche Verlagsstadt – liegt heute weit zuru¨ck. Vgl. Medienstandort Ko¨ln 2000. Die Branche im U blick, Ko¨ln 2000; (30. 12. 2010); (22. 11. 2011); (30. 12. 2010); (30. 12. 2010); (30. 12. 2010); (30. 12. 2010).

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angelagerter Produktionen sehr bedeutend ist, wo es zwischen dem Milieu der Produzenten und der Stadt als kulturelles Milieu zu intensiven Beziehungen und professioneller Kooperation und Konkurrenz kommt und wo die Stadt national oder international als Netzknoten fungiert.30 Wie in anderen Kulturindustrien beruhte und beruht die lokale Wertscho¨pfung im Mediensektor auf einer zentralen Position im Sta¨dtenetz sowie in intensiver Kommunikation und Kooperation innerhalb der mit singula¨ren kulturellen Qualita¨ten ausgestatteten jeweiligen Stadt,31 wozu auch die Fo¨rderung von Kulturwirtschaft durch ein tolerantes Klima und geeignete Kulturpolitik geho¨rte und geho¨rt.32 Dieser Themenkomplex, erweitert um Fragen der Raumentgrenzung, des StadtLand-Verha¨ltnisses, spezifischer journalistischer Innovationen und Praktiken, wird hier in den Beitra¨gen von Ute Schneider, Jo¨rg Requate, Adelheid von Saldern, Axel Schildt und Martin Schreiber aufgegriffen. Ute Schneider nimmt die u¨berfa¨llige Historisierung der „Medienstadt“ vor. Die Herstellung von Druckerzeugnissen vom Satz bis zum Binden und der Handel mit Bu¨chern, Flugschriften, Flugbla¨ttern, Messrelationen und Zeitungen konzentrierte sich in besonderen Stadttypen, zuna¨chst Universita¨ts- und Bischofssitzen, die eine institutionelle Grundlage fu¨r Druckauftra¨ge boten, dann bald in Handelssta¨dten, von denen aus sich die Organisation des Buchabsatzes u¨ber das Fernhandelsnetz umsetzen ließ. Die Autorin fragt am Beispiel der exponierten Handelsmetropolen Frankfurt am Main und Antwerpen nach Unternehmensmodellen im Druck- und Verlagswesen, nach Absatz und Konsum und nach der Topographie der innersta¨dtischen Ansiedlung, d. h. den Kreativquartieren, die wiederum an den sta¨dtischen ¨ berhaupt weisen Handels- und Kommunikationsmittelpunkten orientiert waren. U Mediensta¨dte gemeinsame Strukturmerkmale auf. Deutlich wird, wie in Antwerpen qualifizierte Migranten, finanzielle Infrastrukturen und ein tolerantes Gesamtklima die multisprachliche Buchproduktion begu¨nstigten. Frankfurt profitierte von der Zuwanderung aus anderen spezialisierten Mediensta¨dten und von seiner u¨berragenden Funktion als Messestadt. Im Druckgewerbe entwickelten sich hohe Professionalita¨t und Organisiertheit, es war durch Quantita¨t, Vielfalt und Spezialisierung gleichermaßen gekennzeichnet. Zugleich zeigt sich an den beiden Sta¨dten die besondere Abha¨ngigkeit von politisch gu¨nstigen Rahmen- und Kommunikationsbedingungen, somit auch die besondere Krisenanfa¨lligkeit dieses Stadttyps. Die Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts ist in der bisherigen Forschung bislang fu¨r seine ersten zwei Drittel kaum beachtet worden. Bei Jo¨rg Requate zeigt

30 Zum 16. und 17. Jahrhundert vgl. Paul Arblaster, Antwerp and Brussels as Inter-European Spaces

in News Exchange, in: The Dissemination of News and the Emergence of Contemporaneity in Early Modern Europe, hg. v. Brendan Dooley, Farnham/Burlington 2010, S. 193–205. 31 Ein weiteres signifikantes Beispiel ist die multikulturelle Metropole Shanghai als Vorposten der Moderne, wo sich im fru¨hen 20. Jahrhundert die chinesische Filmproduktion konzentrierte: Cinema and Urban Culture in Shanghai, 1922–1943, hg. v. Yingjin Zhang, Stanford 1999. 32 Vgl. Allen J. Scott, Cultural-Products Industries and Urban Economic Development: Prospects for Growth and Market Contestation in Global Context, in: Urban Affairs Review 39 (2004), S. 461–490.

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sich fu¨r dieses Jahrhundert die Relevanz und hohe Kontinuita¨t sta¨dtischer Verlagszentren. Fu¨r den Autor zeichnet sich das Jahrhundert ferner durch eine Scharnierfunktion zwischen prima¨rer Face-to-face-Kommunikation und moderner Mediengesellschaft aus. In Deutschland war bereits eine stark dezentrale Struktur aktueller Medien entstanden, d. h. man hat es diesbezu¨glich mit einer hohen Zahl von Standorten zu tun, was den Vertrieb von Zeitungen erheblich begu¨nstigte. Deshalb kam es auch zu einer hohen Durchdringung der Kleinsta¨dte und la¨ndlichen Gesellschaft mit Presseerzeugnissen. Obwohl also Zeitungen charakteristisch an vielen Standorten existierten, entwickelten sich Ansa¨tze des Lokaljournalismus erst mit der Revolution von 1848, da nun die u¨berregionalen Ereignisse immer auch vor Ort ihren Niederschlag fanden und dort o¨ffentlich diskutiert wurden. In der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts trug dann die sich teils auf lokale Ereignisse wie Wahlen, kommunale Investitionen und Feste ausrichtende Presse stark zur Ausbildung lokaler politischer Kulturen bei. Requate unterscheidet vier Typen urbaner medialisierter Kommunikation: Gebrauchskommunikation (z. B. in Kleinanzeigen), Identita¨tskommunikation (schriftstellerische Aktivita¨ten), zivilgesellschaftliche Kommunikation (Zeitungen bzw. Zeitungsjournalisten als Akteure) und Ereigniskommunikation (z. B. Theater- und Konzertrezensionen). Seit den 1880er Jahren trat die Generalanzeigerpresse auf den Plan. Sie sprach die Leser als Bewohner einer Stadt an und nicht mehr als Anha¨nger einzelner Parteien oder Mitglieder besonderer Milieus. Sie legte ferner den Stadtraum als soziale und kulturelle Einheit zugrunde. Wie weit sich dadurch Effekte einer lokalen Identita¨tsbildung ergaben, u¨berschreitet indes methodisch und hinsichtlich der zur Verfu¨gung stehenden Quellen die Grenzen einer Medienanalyse ¨ berblick. im U In den 1920er und 30er Jahren wie sie von Adelheid von Saldern behandelt werden, war fu¨r das scheinbar ortslose Radio – das zeitgeno¨ssisch als Medium eines ¨ thers“ gefeiert wurde und heute sehr stark als Instrument Vo¨lker verbindenden „A nationalisierender Politiken und Herstellung vereinheitlichender Musikprogramme in Verbindung gebracht wird – das jeweilige urbane Milieu signifikant wichtig. In den Sta¨dten befanden sich die sichtbaren, der Bevo¨lkerung bekannten Funkha¨user, in denen die Livesendungen abliefen, also das sta¨dtische Publikum vertreten war. Ebenso die Redaktionen der Rundfunkzeitschriften waren hier ansa¨ssig. Der Großteil des Programms in der Weimarer Zeit war hochkulturell, aktuell, auf die Moderne ausgerichtet. Hingegen sind im nationalsozialistischen Radioprogramm, so die These der Autorin, die Verschiebungen zu Gunsten einer la¨ndlich codierten Volkskultur zu beachten. Insofern pra¨gt die Verfasserin den Begriff der Dualita¨t des Mediums, das zwischen Stadtbezogenheit und Raumentgrenzung stand. Man hatte es seit dem Ende der Weimarer Republik mit einer wachsenden Menge von Volksmusik, insbesondere von volkstu¨mlichen bzw. Heimatsendungen zu tun, in denen (entgegen fru¨herer Vermutungen in der Forschung) die Großstadt weniger angegriffen als im geschichtlich-regionalen Rahmen wurzelnd interpretiert wurde. Insofern mehrten sich gegenu¨ber urspru¨nglichen nationalsozialistischen Ideologemen der Großstadtfeindschaft die integrativen Programmangebote, die auch auf die Kleinsta¨dter gemu¨nzt waren und die bislang irritierende Elemente der Großstadtkultur verdra¨ngten. Die Verfasserin hebt auf sich vereinheitlichende Geschmackspra¨ferenzen und den stilistischen

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Schmelztiegel der unterhaltsam pra¨sentierten „Volkskultur“ bzw. raumentgrenzender Schlager und enturbanisierter Humoresken ab – eindeutig als Anna¨herung an mentale Dispositionen der Zuho¨rer, die solche Angebote gerne annahmen. Fortschreitende Raumentgrenzungen traten dann im Zusammenhang des Medienprojekts der Heimatfront auf, die als Pendant zur Kriegsfront aufgebaut wurde. Die aktuelle Begrifflichkeit der „Medienstadt“ hebt verengt auf die Cluster von Medienunternehmen im globalen Rahmen ab. In historischer Perspektive ist hingegen nicht zu u¨bersehen, wie solche urbanen Mediencluster mit der Gesamtheit des ¨ ffentlichkeiten in sta¨dtischen Gefu¨ges, besonderen Milieus und intensivierten Teil-O engem Zusammenhang standen und stehen.33 Dies schließt das Verha¨ltnis von zentralen Stadtra¨umen und Suburbanita¨t ein, was Axel Schildt am Beispiel Hamburgs aufzeigt. Gerade weil die Medien mit anderen Kulturindustrien und bestimmten Milieus und Szenen verbunden waren und sind,34 und weil sie bis heute lokal konzentriert in den Sta¨dten auftreten, pra¨gen sie die gesamte Raumorganisation an ihren Standorten. Durch die Deutsche Teilung, durch die politisch bedingte Schaffung einer o¨ffentlichrechtlichen Rundfunkstruktur, also durch außermediale Faktoren, wurde Hamburg als gro¨ßte Stadt der Bundesrepublik zum wichtigsten Medienstandort, dort war der Standort des NWDR, heute des NDR; dort befinden sich die Zentralen des Springerverlages und von Gruner + Jahr mit Zeitschriftentiteln wie Ho¨r Zu, Spiegel und Stern. Insofern ist Hamburg ein signifikanter Fall fu¨r die Pra¨gung des Lokalen durch eine Konzentration von Medien und journalistischer Profile mit nationaler Bedeutung einerseits und durch die Zusammenha¨nge lokaler Medienakteure mit neuen urbanen Raumstrukturen andererseits. Diese wiederum waren durch die Hardware der kommunikativen Netze, Suburbanisierung und die Entgrenzung vormals fest definierter Publiken definiert. Die Medien integrierten den ausfasernden Stadtraum und gingen auf die Suburbanisierung durch die Einrichtung neuer Lokalredaktionen ein. Eine solche Lokalisierungsgeschichte der Massenmedien, konzentriert auf die 1970er Jahre, stellt der Autor gegen die herko¨mmliche Perspektive einer Forschung, die ¨ ffentlichkeitssich sta¨ndig von Innovationen faszinieren ließ und die Sozial- und O geschichte jeweiliger Sta¨dte nicht zusammenzubringen vermochte. Insofern geht es,

33 Vgl. Karl Christian Fu ¨ ffentlichkeiten 1930–1960, Ham¨ hrer, Medienmetropole Hamburg. Mediale O

burg 2008.

34 Vgl. Stefan Kra¨tke, Medienstadt. Urbane Cluster und globale Zentren der Kulturproduktion, Opla-

den 2002, v. a. S. 245; ra¨umliche Aspekte heutiger Medienproduktion (u. a. die Konzentration von Aktivita¨ten, lokale Interaktionen der an Produktionen Beteiligten) in: Production Studies. Cultural Studies of Media Industries, hg. v. Vicki Mayer/Miranda J. Banks/John T. Caldwell, New York/London 2009; Media Industries. History, Theory and Method, hg. v. Jennifer Holt/Alisa Perren, Malden/Oxford 2009; historische Konstellationen von Mediensta¨dten arbeiteten heraus: Adrian Johns, The nature of the book. Print and knowledge in the making, Chicago/London 1998, S. 58–186; Urban achievement in early modern Europe. Golden ages in Antwerp, Amsterdam and London, hg. v. Patrick O’ Brien u. a., Amsterdam/London 2001; Bronwen Wilson, The world in Venice. Print, the city & early modern identity, Toronto/Buffalo/London 2005; Clemens Zimmermann, The productivity of the city in the early modern era: the book and art trade in Venice and London, in: Creative urban milieus. Historical perspectives on culture, economy, and the city, hg. v. Martina Hessler/Clemens Zimmermann, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 40–75.

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so die grundsa¨tzliche These, um eine Historisierung des ga¨ngigen Modells der Massenmedien durch Betrachtung medialer lokaler Traditionen. Schließlich arbeitet Martin Schreiber heraus, wie trotz der Dynamik neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und globalisierter virtueller Kommunikationsnetze wie „Google“ ra¨umliche Na¨he und urbane Kontexte von Kommunikation wichtig bleiben, d. h. Face-to-face-Kommunikation (mit ihren besonderen Eigenschaften der damit vermittelten Vertrauensbildung, Performativita¨t, Kontingenz, der Aktualisierung kontextgebundenen Wissens). Die Kommunikationswirtschaft stellt sich als urbanes Cluster dar. Die Unternehmen der New Economy konzentrieren sich in besonderen Sta¨dten und die metropolitanen Ballungsra¨ume sind die Knotenpunkte der globalen Netzkommunikation, so unterstreicht der Autor unter Berufung auf den Ansatz von Saskia Sassen. Die Sta¨dte waren Akteure der sonst nur von ihren entgrenzenden Wirkungen her aufgefassten IuK-Technologien. Der Beitrag fragt ferner nach Formen der Nutzung netzbasierter Kommunikation in den Sta¨dten selbst, nach ihrer Bedeutung fu¨r o¨konomische Aktivita¨ten, v. a. hinsichtlich Standortwahl von Betrieben, der Verteilung von Arbeitspla¨tzen und Wachstumseffekten. Insofern geht es um die These, dass „Stadt“ als materieller Standort von modernen Kommunikationsmedien anhaltende Bedeutung zukommt. Schließlich sind bei diesem Thema auch die Hierarchisierungen und Gefa¨lle der netzbasierten Mediennutzung im weltweiten Zusammenhang zu beachten. Insgesamt geht es nicht nur um den Zusammenhang von urbanen Milieus und Medienentwicklung, sondern wird herausgearbeitet, wie jeweilige rechtliche, politische und soziale Rahmenbedingungen die Relation von Stadt und Medien beeinflussten. In ku¨nftigen Forschungsarbeiten wa¨re zu kla¨ren, wie weit bis zur Moderne historische regionale Standorte, v. a. im Kontext von Sta¨dtelandschaften, von nationalen Sprachgemeinschaften wichtig waren, und nicht nur die von der heutigen Stadtgeographie und -soziologie betonten globalen Mediensta¨dte. Kann man historisch spezifische Standortbedingungen fu¨r Medienkonzentrationen im Buchdruckzeitalter erkennen?35 Welche Prozesse der Metropolisierung und Provinzialisierung ehemaliger Mediensta¨dte vollzogen sich? Wenn allgemein das Pha¨nomen lokaler Cluster eine hohe Kontinuita¨t seit dem 15. Jahrhundert aufweist, heißt das nicht, dass sie lu¨ckenlos an einzelnen Orten fortbestanden. So verloren Venedig und Leipzig ihre in der Fru¨hen Neuzeit dominierenden Positionen an andere Standorte.36 Unterstellt wird in diesem Band also nicht die Kontinuita¨t aller Standorte, aber eine hohe Kontinuita¨t des Typus der „Medienstadt“, die von jeher einen Knoten medialisierter Kommunikation darstellte.37

35 Siehe Jean-Dominique Mellot, Rouen and its printers from the fifteenth to the nineteenth century,

in: Printed matters (wie Anm. 6), S. 8–29; Dominique Varry, Lyon’s printers and booksellers from the fifteenth to the nineteenth century, in: ebd., S. 30–47. 36 Kra¨tke, Medienstadt (wie Anm. 34), S. 153–175, 186–197, 206–218. 37 Mit dem Unterschied, dass heute (die globalen) Mediensta¨dte als zentrale Knoten in den „Netzwerken der deterritorialen Medienkonzerne“ und im Rahmen globalisierter Finanzstro¨me funktionieren, allerdings auch im nationalen Rahmen; Hepp, Translokale Medienkulturen (wie Anm. 25), S. 58–60.

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2. Repra¨sentationen

Die Medien und ihre Produkte stellen Repra¨sentationen von geographischen Ra¨umen oder Teilra¨umen her – von Sta¨dten, Landschaften, Milieus als vorgestellte Ra¨ume, als Images. Ra¨ume sind in den Medien als Imaginationen, als Bilder pra¨sent und nehmen auf mentale Vorstellungen Bezug. Dies gilt auch noch im Nachhinein. Popula¨re Postkarteneditionen und bebilderte Stadtgeschichtsbroschu¨ren fungieren als Elemente eines Diskurses u¨ber vergangene und mythisierte Stadtra¨ume. Sie regen heutige Stadtbewohner dazu an, sich ihrerseits auf die Suche nach historischen Fotografien zu begeben und selbst Schnappschu¨sse zu schießen, die wiederum die vorgepra¨gten Bilder aufnehmen.38 Inwiefern unterscheiden sich epochen- und medienspezifische Repra¨sentationen von Sta¨dten und Stadtra¨umen? Was macht deren o¨konomische, soziale und kommunikative Funktionen aus, welche unbeabsichtigten Folgewirkungen ergaben sich aus diesen Repra¨sentationen des Sta¨dtischen? Diese Perspektive zielt darauf, wie in verschiedenen Medien unterschiedliche Bilder, Konzepte und Vorstellungen von Sta¨dten entworfen wurden.39 Konzepte, die als Planungen in die gebaute Wirklichkeit transformiert wurden, wirkten stetig auf das Sta¨dtische als gebauter und sozialer Realita¨t selbst zuru¨ck, da sie die Realisierungshorizonte der Handelnden bestimmten. Man denke an die internationale sta¨dtebauliche Expertenkommunikation40 oder an die heftigen Debatten u¨ber den Wiederaufbau deutscher Sta¨dte nach 1945, wo sowohl romantisierende Bilder des Vergangenen als auch zukunftsgewisse Konzepte des Aufbaus den Akteuren in Ost und West vor Augen standen.41 Neue Medien wie Dokumentarfilme seit den 1910er Jahren repra¨sentierten die Stadtra¨ume und ihre Eigenschaften u¨ber eine gegenu¨ber der Fotografie oder bisherigen literarischen Beschreibungen erheblich dynamisierte Weise, die auch die Zeitgenossen (innerhalb gewisser Grenzen des als zumutbar erscheinenden) a¨ußerst attraktiv fanden. Besonders ragen filmgeschichtlich die 1920er Jahre hervor, als sich im Filmischen das Motiv sta¨dtischer Bewegtheit und sozialdokumentarische Intentionen miteinander verbanden.42 Mit dem Film konnten mediale Ra¨ume des Sta¨dtischen nach eigenen a¨sthetischen Konstruktionsprinzipien erstellt werden, die sich 38 Vgl. M. Crang, Envisioning urban histories: Bristol as palimpsest, postcards, and snapshots, in: Envi-

ronment and Planning A 28 (1996), S. 429–452, hier S. 437f.

39 Jochen Guckes, Stadtbilder und Stadtrepra¨sentationen im 20. Jahrhundert, in: InfStG 1 (2005),

S. 75–86.

40 Vgl. Dieter Schott, Die Stadt als Thema und Medium europa¨ischer Kommunikation – Stadtplanung

als Resultat europa¨ischer Lernprozesse, in: Sta¨dte im europa¨ischen Raum. Verkehr, Kommunikation und Urbanita¨t im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Ralf Roth, Stuttgart 2009, S. 205–225. 41 Vgl. Rother Rainer, Aus eigener Kraft, Aufbaupathos in Filmen u¨ber Wolfsburg und Stalinstadt, in: Aufbau West – Aufbau Ost. Die Plansta¨dte Wolfsburg und Eisenhu¨ttenstadt in der Nachkriegszeit, hg. v. Rosmarie Beier, Ostfildern 1997, S. 273–279. 42 Ella Bergmann-Michel, Fliegende Ha¨ndler in Frankfurt am Main, 1932 (DVD Frankfurt a. M. 2006); vgl. Anneli Duscha, Ella Bergmann-Michel. Fotografie und Filme, Go¨ttingen 2005; Kristin Vincke, Kleine Stadt ganz groß. Frankfurt im Dokumentarfilm zwischen 1920 und 1960, in: Lebende Bilder einer Stadt. Kino und Film in Frankfurt am Main, hg. v. Hilmar Hoffmann/Walter Schobert, Frankfurt a. M. 1995, S. 132–141.

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gegenu¨ber bisherigen bildlichen Traditionen zentralperspektivischer Darstellungsweise sehr weit entfernten, in starkem Maße geschnitten, formalisiert, a¨sthetisiert und arrangiert waren und doch charakteristische Eigenschaften des dargestellten sozialen Raums der jeweiligen Stadt vermittelten.43 Allerdings ermo¨glichten schon die schriftbasierten Medien des spa¨ten Mittelalters „Spielra¨ume fu¨r die Neuordnung von Sequenzen der Kommunikation“,44 gerade unter den Bedingungen mu¨ndlicher Kommunikation. So stellt sich also auch hier die Frage, welche Wahrnehmungsra¨ume die Medien ero¨ffneten. Man denke z. B. auch an die reichhaltig, indes eher assoziativ bebilderten illustrierten Zeitungen des 19. Jahrhunderts.45 Tatsa¨chliche Ra¨ume werden, so ist grundsa¨tzlich festzuhalten, in unterschiedlichen Medien nicht nur auf verschiedene Weise beschrieben, sondern journalistisch bearbeitet und symbolisch aufgeladen, und u¨ber verschiedene Selektionsmechanismen werden sta¨dtische Ra¨ume rekonstruiert. Verschieden gezogene Grenzen der Beliebigkeit dieser Rekonstruktion ha¨ngen von den Zwecken der Medien und a¨sthetischer Organisation ab: Zwecke von Dokumentarfilmen oder expressionistischen Stadtfilmen, von ku¨nstlerischen Produktionen oder von Werbefilmen, die wiederum auf konkrete Auftraggeber, Protagonisten und Intentionen beruhten. Wenn die Baedeker-Fu¨hrer seit dem 19. Jahrhundert die Stadttouristen dazu brachten, sich ganz bestimmte Denkma¨ler anzuschauen, die wiederum das blieben, was man spa¨ter von der Stadt erinnerte, kann man annehmen, dass Medien nicht nur die Wahrnehmung sta¨dtischen Raums beeinflussten, sondern – u¨ber verschiedene Akteure – auf ihn zuru¨ckwirkten.46 Solche gedruckten Fu¨hrer, selbst linear angeordnet, fu¨hrten die Stadt als ‚linear‘ wahrnehmbar vor.47 Soweit sie von einem lesenden Publikum wirklich zur Kenntnis genommen wurden, konnten sie, u¨ber menschliche Wahrnehmungen und soziale Praxis vermittelt, auf die Gestaltung der realen Ra¨ume zuru¨ckwirken.48 Diese Wechselbeziehungen von Stadtraum und seinen medialen Repra¨sentationen zeigen sich in diesem Band in den Beitra¨gen von Carla Meyer, Rolf Sachsse, Nicole Huber, Katrin Minner, und Anna Schober. Der große zeitliche Sprung von

43 Vgl. zu Ruttmann: Nicole Huber, From „Berlin“ to „Germania“/Cinema and the Implementation

of National Politics in Regional Planning (1926–1939), in: Zentralita¨t und Raumgefu¨ge der Großsta¨dte im 20 Jahrhundert, hg. v. Clemens Zimmermann, Stuttgart 2006, S. 153–174; Karl Pru¨mm, Symphonie contra Rhythmus. Widerspru¨che und Ambivalenzen in Walter Ruttmanns Berlin-Film, in: Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Band 2: 1918–1933, hg. v. Klaus Kreimeier/ Antje Ehmann/Jeanpaul Goergen, Stuttgart 2005, S. 411–434. 44 Vgl. Klaus Kuhm, Telekommunikative Medien und Raumstrukturen der Kommunikation, in: Raum – Zeit – Medialita¨t. Interdisziplina¨re Studien zu neuen Kommunikationstechnologien, hg. v. Christiane Funken/Martina Lo¨w, Opladen 2003, S. 97–118, hier S. 107. 45 Vgl. Nic Leonhardt, Piktorial-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869–1899), Bielefeld 2007. 46 Vgl. Jan Palmowski, Travels with Baedecker: The Guidebook and the Middle Classes in Victorian and Edwardian England, in: Histories of Leisure, hg. v. Rudy Koshar, Oxford/New York 2002, S. 105–130. 47 Ulrike Spring, The linear city: touring Vienna in the nineteenth century, in: Mobile Technologies of the City, hg. v. Mimi Sheller, London 2006, S. 21–43, hier S. 24. 48 Vgl. Scott McQuire, The Media City. Media, Architecture and Urban Space, London 2008.

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der Vormoderne in die klassische und dann in die spa¨te Moderne ist hierbei aufgrund gemeinsamer Kategorien und Fragerichtung kein Hindernis. Wie Carla Meyer ausfu¨hrt, war sta¨dtische Imagebildung als Vorform von moderner Werbung und von branding u¨ber unterschiedliche mediale Repra¨sentationen wie die Chroniken bereits im Spa¨tmittelalter nachweisbar, jedenfalls auf der Produktionsseite. Die Autorin, die von einem funktionalen, nicht technischen Medienbegriff ausgeht, zeigt auf, wie die Chroniken und andere Medien (Wa¨nde mit Malereien, Stadtsiegel, Reimreden, Lieder) sta¨dtische Selbstvergewisserung u¨ber damit assoziierte mentale Bilder herstellen sollten. So wie Geschichtsschreiber und Ra¨te zu den Akteuren der Medialita¨t geho¨ren, kann man ein spezifisches lesekundiges Publikum unterstellen, vor allem du¨rfte der mu¨ndliche Vortrag wichtiger Passagen der Chroniken u¨blich gewesen sein. In Krisensituationen trat solche medial vermittelte Selbstvergewisserung besonders deutlich hervor. Zugleich muss man sich vor Augen fu¨hren, dass die spa¨tmittelalterlichen Sta¨dte starke Außenkorrespondenzen unterhielten (zu anderen Sta¨dten, Sta¨dtebu¨nden und Ho¨fen) und dass die anderen Sta¨dte in Form von Reiseberichten bekannt waren. Trotz der herausragenden Stellung des gewa¨hlten Beispiels Nu¨rnbergs in der Sta¨dtelandschaft des Reiches kann man es fu¨r die gro¨ßeren Sta¨dte insgesamt als exemplarisch nehmen. Rolf Sachsse zeigt hier zuna¨chst auf, wie im 19. Jahrhundert bereits ein hoher publizistischer Bedarf an medialen Bildern von Sta¨dten bestand. Jedoch war es erst mit dem 20. Jahrhundert mo¨glich, die technisch generierten Medienbilder (Fotografien) direkt abzudrucken. Es erschien ein bedeutendes Genre publizierter Fotografien, das explizit und demonstrativ einen Bruch mit dem alten Stadtbild propagierte. Im „Neuen Sehen“ wurden die vorhandenen Archivbilder, die eine konservierende Funktion hatten, mit „Sa¨uberungswillen“ konfrontiert. So liegen seitdem dezidierte „Repra¨sentationen“ der Stadt in u¨bergroßer Menge vor, sodass man sie klassifizieren muss, wie Sachsse dies tut, in typische Bilder von Baumonografien, Bildpostkarten und Luftbilder. Diese drei Bildformen, die der Autor aus weiteren ausgewa¨hlt hat, weisen unterschiedliche Potenziale der Verbreitung und Adressierung spezifischer Publiken auf. Zeigt die Baumonographie die Moderne in einzelnen Bauwerken ohne sta¨dtische Kontexte (mit Ausnahmen), so fu¨hrt die Bildpostkarte die Stadt vor, wie sie selbst gern gesehen werden will. Das Luftbild mit seinen eigenen analytischen Mo¨glichkeiten war ebenfalls nicht frei von werbenden Elementen, wenn Reformsiedlungen gezeigt wurden, die „Fortschrittlichkeit“ unabweisbar demonstrierten. Aber sie weist auch dekonstruktivistische Elemente auf. Mit Montage wurde recht ¨ brigen frei umgegangen, gleichwohl war der dokumentarische Anspruch stark. Im U muss man sich bei Stadtbildern des 20. Jahrhunderts vergegenwa¨rtigen, dass sie ha¨ufig Auftragsbilder fu¨r bauplanerische Zwecke waren; wie die spa¨tmittelalterlichen Chroniken wurden sie von den Sta¨dten selbst kontrolliert.49 49 Die Forschung hat sich eingehend damit bescha¨ftigt, wie stark die Stadt- und Straßenfotografie als

neue Repra¨sentationsweise des Sta¨dtischen gesehen werden muss und dass sie vorhandene visuelle und ra¨umliche Muster (z. B. die Abwertung von „Peripherien“) reproduzierte oder vera¨nderte. Wenn es nach 1860 u¨blich wurde, Fotos als scheinbar objektive Belege fu¨r Zusta¨nde und damit auch zum Zwecke politischer Reform einzusetzen, verweist dies, wie Rolf Sachsse auch im Beitrag dieses Bandes

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Dass mediale Repra¨sentation von Stadt (und ihre Ru¨ckwirkungen) nicht ohne Medienverbu¨nde und u¨berlokale, ja im 20. Jahrhundert transnationale Zusammenha¨nge zu denken ist, erweist sich bei Nicole Huber. Internationale Bauausstellungen bauten einen Verbund von Modellen, Zeichnungen, Fotografien (und Filmen) auf, wie er im Jahrhundert zuvor undenkbar gewesen wa¨re, auch hinsichtlich der Techniken der Ausstellungspra¨sentation, der Entwicklung einer Bildsprache, die Menschen (jedenfalls im Rahmen der westlichen Moderne) u¨berall ansprechen konnte. Grundsa¨tzlich ist bei den Ausstellungsmachern der beiden behandelten Ausstellungen (Stuttgart 1927 im Kontext internationaler Sta¨dtereform; Berlin 1957 im Kontext der Ost-West-Konfrontation) inhaltlich eine Betonung strikter Modernita¨t (Herausstellung des Experimentellen, Einheit von Kunst und Technik, Pra¨ferenz fu¨r Hochha¨user) als auch mediale Bewusstheit festzustellen (Film als Mo¨glichkeit, die Stadtlandschaft darzustellen, Collagen und Karten, um in didaktischer Absicht die Simultaneita¨t der unu¨bersichtlich gewordenen sta¨dtischen Prozesse einsehbar zu machen). Mit dem Typ der Bauhausbu¨cher hat man ein Genre vor sich, das den Fotobu¨chern bei Rolf Sachsse a¨hnelt, das auch den strategischen Versuch einer Kanonisierung bedeutet und als Akt der Selbstinszenierung der Akteure zu sehen ist. Der Beitrag der Autorin macht zugleich klar, dass (spa¨testens seit dem 19. Jahrhundert) transnationale Leitbilder von Architektur- und Stadtentwicklung in den Forschungshorizont des Verha¨ltnisses von Stadt und Medien einbezogen werden mu¨ssen. Katrin Minner knu¨pft sowohl an Carla Meyer mit dem Motiv des werbenden Charakters von Stadtfilmen der 1950er bis 1970er Jahre an als auch an den Komplex der von Rolf Sachsse und Nicole Huber unterstrichenen Baumoderne. Denn die von Stadtverwaltungen in Auftrag gegebenen filmischen Selbstdarstellungen oder Dokumentarfilme betonten die Errungenschaften des Wiederaufbaus, gaben also eine kollektive Sinndeutung und verwiesen auf urbane wiedergewonnene Lebensqualita¨t, ebenso auf die Notwendigkeit weiteren Strukturwandels. Zugleich zeigen sich bei den Stadtdokumentarfilmen die Grenzen der Darstellbarkeit von Stadt. Die Geschichten, die die jeweilige Stadt insgesamt kennzeichneten, waren filmisch nur an Einzelnem festzumachen, meist an einzelnen Geba¨uden, mit denen eine Errungenschaft oder Eigenschaft der jeweiligen Stadt verbunden wurde. Es ging um Zukunft, aber auch um Stadt oder Region als Heimat. Stadt wird in diesen Filmen als offen, partizipativ, und der Stadtverkehr wird – ebenso harmonisierend – als Zeichen der Modernita¨t dargestellt. Wenig weiß man u¨ber die konkrete Relation von Auftraggebern oder Filmproduzenten, und kaum etwas ist u¨ber die soziale Rezeption der Filme

andeutet, auf eine neue Funktion der Medialisierung des Sta¨dtischen. Vgl. generell Rolf Sachsse, Photographie als Medium der Architekturinterpretation, Mu¨nchen 1984; Roswitha Neu-Kock, Stumme Zeugen. Architekturphotographie und Stadtbilddokumentation im 19. Jahrhundert, in: Alles Wahrheit, alles Lu¨ge! Photographie und Wirklichkeit im 19. Jahrhundert, hg. v. Bodo von Dewitz/Roland Scotti, Ko¨ln 1997, S. 165–199; Richard Dennis, Cities in Modernity. Representations and Productions of Metropolitan Space, 1840–1930, Cambridge 2008, S. 60–64; Peter B. Hales, Silver Cities. The Photography of American Urbanization 1839–1915, Philadelphia 1984, S. 287 betont die Funktion der Fotografie: to promote the myth that the city was a product of conscious human endeavour, malleable to the collective will of American civilization.

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bekannt; ganz sicher aber ist, dass genau das gezeigt wurde, was gebaut wurde oder noch gebaut werden sollte. Ging es in den eben referierten Beitra¨gen um die Ausformung einer Baumoderne, die inhaltlich auf lokale Traditionen und jeweilige sta¨dtische Signaturen keine Ru¨cksicht nahm, und ging es medial um das Avancierte und um den Medienverbund, erweist sich bei Anna Schober fu¨r die Zeit seit den 1960er Jahren, verstanden als vernakulare, also kulturell stark variierte Moderne, u¨berraschend eine eindeutige und pra¨sente, in den Quellen vielfa¨ltig aufweisbare und nicht einfach nur postulierte Beziehung von Medium (Film/Kino) und Stadt. Ein Beispiel hierfu¨r ist das Filmplakat, das an den Hausfassaden u¨berall sichtbar ist. Offensichtlich hatte der Film als Leitmedium der Moderne und ra¨umlicher Wahrnehmung das Publikum in bestimmter Weise trainiert. Im Publikumsfilm konnten recht komplexe und ehemals avantgardistische Darstellungsweisen nun durchaus eingebaut werden und gar nicht mehr als avantgardistisch erscheinen. Schon seit den 1920er Jahren erwies der Film sein Potenzial, das an der Stadt zu zeigen, was ohne dieses Medium nicht erfahrbar wa¨re, zum Beispiel die Stadt bei Nacht, die metaphorisch dunkle Seite der Sta¨dte, u¨berhaupt den Schlamm, das Unerwu¨nschte, das „Niedere“, das im film noir noch einmal hervortrat. Im Film heute gibt es, so die weitere Beobachtung der Autorin, eine neue Attraktivita¨t der einzelnen konkreten und erkennbaren sta¨dtischen Orte. Schober geht es daru¨ber hinaus um den realen sta¨dtischen Ort des Kinos als Begegnungso¨ffentlichkeit und als Selbstdarstellungsraum von aktivistischen Bewegungen.50

3. Schluss

In diesem Band zeigt sich, dass Grundbegriffe heutiger gegenwartsorientierter Medienwissenschaft, die sich wiederum als Sammlung verschiedener Fa¨cher darstellt,51 wie Konnektivita¨t, Netz und Ort in hohem Grade historisierbar sind und historisiert werden sollten. Medien wie Schrift/Buch und die Zeitung, dann weitere Kommunikations- und Publikumsmedien, so ist abschließend festzustellen, trugen zur Verbreitung von ra¨umlichen Repra¨sentationen, raumbezogenen Informationen

50 Vgl. Anna Schober, Ironie, Montage, Verfremdung. A ¨ sthetische Taktiken und die politische Gestalt

der Demokratie, Mu¨nchen 2009.

51 Geert Lovink, Medienwissenschaften. Diagnose einer gescheiterten Fusion, in: Zeitschrift fu¨r Medien-

wissenschaft 4,1 (2011), S. 159–176, sieht, allerdings mit zu melancholisch-pessimistischem Unterton, die Medienwissenschaft als gegenwa¨rtig dem ungeheuren Tempo der Entwicklung der „neuen Medien“ („Explosion“) gegenu¨ber kaum noch mithaltende Metadisziplin, die an der „Last eines schweren Rucksacks voller heterogener Paradigmen“ leide; ebd., S. 161. – Im erweiterten Sinne sind allerdings unter Medienwissenschaft alle gegenwartsbezogenen, einschla¨gig orientierten Teildisziplinen zu verstehen, ¨ ffentlichkeit, so die Mediengeographie. Dazu kommen Beitra¨ge aus der Soziologie (Kategorien der O des Publikums) und der Ethnographie (Projekte zur Medienethnographie wandten sich etwa Videospielen oder afrikanischen Praktiken der Mobiltelefonie zu. Schließlich kommt die Medieninformatik in Betracht. Auf Literaturhinweise muss hier verzichtet werden.

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und mentalen Assoziationen bei, ohne diese Ra¨ume aufzuheben. Medien produzierten und verbreiteten Images und diese wirkten auf die o¨rtlichen Milieus und Gemeinschaften zuru¨ck. Insofern sollte ku¨nftig das Repertoire der Mediengeschichte versta¨rkt fu¨r die Stadtgeschichte nutzbar gemacht werden. Insgesamt mo¨chte dieser Band zeigen, warum und in welcher Weise die Stadt, ihre Cluster und Milieus, zur Medienproduktion beitrugen und wie diese auf die Sta¨dte zuru¨ckwirkten. Angesichts des hier verfolgten Projekts einer La¨ngsschnittanalyse kann freilich kein vo¨llig einheitlicher Medienbegriff zugrunde gelegt werden, er wird hier eher eng verstanden. Ferner wird dem Umstand Rechnung getragen, dass in historisch spezifischen Medienensembles einzelne Medien jeweils dominant waren. Dass Medien auch besondere sta¨dtische Orte schaffen, und in diese wiederum eingelassen sind, wird mehrfach ¨ ffentherausgearbeitet. Deutlich treten die vorhandenen Defizite der historischen O lichkeits- und Rezeptionsforschung zutage, wobei man sich vergegenwa¨rtigen muss, dass bei sozialer Rezeption und Aneignung medialer Inhalte stets verschiedene Lesarten mo¨glich sind, die auf den Dispositionen und Situationen von Individuen und Gruppen beruhen. Wie weit sich etwa in der Zeit des Nationalsozialismus la¨ndliche und sta¨dtische Publiken tatsa¨chlich zu virtuellen Erlebnis- und Ho¨rergemeinschaften integrierten, kann aus methodischen Gru¨nden kaum je empirisch erwiesen werden, es geht um deduzierte und partielle Vergemeinschaftungstendenzen, vor allem bei bestimmten Sendeformaten. Durch eine lokalisierende Forschungsstrategie, so zeichnet sich in den Beitra¨gen ab, ko¨nnten solche Fragen ku¨nftig besser beantwortet werden. Ebenso ist es die komplementa¨re Aufgabe einer stadtzentrierten Mediengeschichte, die Medialisierungsprozesse in den jeweiligen la¨ndlichen Gesellschaften nachzuvollziehen.52 Da sich dieser Band auf Zentraleuropa konzentriert, erweist es sich als weitgehendes Zukunftsprojekt, transnationale Perspektiven des Themas zu eruieren, etwa die von Nicole Huber aufgezeigten multimedialen Strategien internationalisierter Bauausstellungen. Ferner stellt sich die Frage, wie stark Medienkulturen national formiert wurden, man denke an die von Frank Bo¨sch betonten Unterschiede der politischen Fa¨rbung der Massenpresse und investigativer journalistischer Praktiken im Vergleich von Deutschland, Frankreich und Großbritannien.53 Insgesamt: Medien waren und sind nicht ortslos, sie setzen Sta¨dte jeweils in andere ra¨umliche Zusammenha¨nge und stehen mit sta¨dtischen Orten in engem Zusammenhang – das ist das Thema Lokalisierung von Medien. Medien pra¨gten in den Stadtbevo¨lkerungen wie in der Außenwahrnehmung auf spezifische Weise die Vorstellungen vom sta¨dtischen Raum, das geho¨rt zum Thema der Medialita¨t der Stadt. Der Herausgeber und die Autoren hoffen, dass sie mit diesem Band dazu beitragen ko¨nnen, fu¨r diese Themenstellung zwischen Stadt- und Mediengeschichte, zwischen Geschichtsund Medienwissenschaften einen Ort zu begru¨nden.

52 Neue Ansa¨tze und einschla¨gige Forschungsliteratur im Themenheft der Zeitschrift fu¨r Agrarge-

schichte und Agrarsoziologie 58,2 (2010).

53 Vgl. Bo ¨ sch, Mediengeschichte (wie Anm. 7), S. 112–115.

‚CITY BRANDING‘ IM MITTELALTER? Sta¨dtische Medien der Imagepflege bis 1500* von Carla Meyer

Alles ist Marke – im 21. Jahrhundert gilt dies auch fu¨r Sta¨dte, deren Popularita¨tswerte dem Vergleich in internationalen Sta¨dte-Barometern wie dem „City Brands Index“ des Branding-Guru Simon Anholt standhalten mu¨ssen.1 Doch nicht nur Metropolen, auch kleinere Sta¨dte und Gemeinden setzen im Kampf um Investoren, Touristen und (zahlungskra¨ftige) Einwohner la¨ngst auf Marketingstrategien und Imagekampagnen. Als ‚harte Faktoren‘ za¨hlen Wirtschaftswachstum und Wohlstand; viele Sta¨dte ¨ koprofitieren jedoch auch von ihrer reichen Geschichte und kalkulieren mit einer ‚O nomie der Aufmerksamkeit‘ durch Tradition und Kultur. Stadtmarketing in diesem Sinn ist aus media¨vistischer Perspektive einerseits als Rezeptionsgeschichte interessant, sind es doch gerade lokale und regionale Sinnstiftungen, fu¨r die man sich in der heutigen Bundesrepublik Deutschland noch unbefangen auf mittelalterliche Wurzeln berufen darf.2 Prominentes Beispiel fu¨r eine Stadt, die sich u¨ber ihre mittelalterliche Vergangenheit profiliert, ist Nu¨rnberg: Die „Albrecht-Du¨rer-Stadt“ pflegt erfolgreich das Label der Alten Stadt im modernen Gewand. 2003 nahm der Ku¨nstler Ottmar Ho¨rl den 500-ja¨hrigen ‚Geburtstag‘ von Du¨rers Werk „Der Feldhase“ zum Anlass, um 7000 dreidimensionale Popart-Kopien des Tiers auf den Nu¨rnberger Hauptmarkt zu setzen; das Jahr der Fußball-WM 2006

* Fu¨r viele Hinweise, Diskussionen und ihre aufmerksame Lektu¨re danke ich Christoph Dartmann,

Antje Flu¨chter, Marc von der Ho¨h und Christoph Mauntel.

1 Vgl. Simon Anholt, City Brands Index, URL: (29. August 2011).

2 Zu den Instrumentalisierungen des „deutschen Mittelalters“ und der daraus erwachsenden Hypothek

fu¨r aktuelle Sinnstiftungsprozesse vgl. Gerd Althoff, Sinnstiftung und Instrumentalisierung. Zugriffe auf das Mittelalter. Eine Einfu¨hrung, in: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, hg. v. dems. (Ausblicke), Darmstadt 1992, S. 1–6. Seit der Wende 1989 und noch mehr seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 ist freilich auch die nationale Anna¨herung ans Mittelalter wieder salonfa¨hig geworden, s. dazu die Fernsehserie „Die Deutschen“ sowie das Buch zum Film: Guido Knopp/Stefan Brauburger/Peter Arens, Die Deutschen. Vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Mu¨nchen 22008. Zur Virulenz nationalsozialistischer Geschichtspolitik auch auf lokaler Ebene und den Skandalen, die sie fu¨nfzig Jahre nach Kriegsende auszulo¨sen vermag, vgl. Hans Schultheiss, Mit Geschichtsbildern leben. Begegnungen mit der historischen Identita¨t einer Stadt, in: Die alte Stadt ZSSD 23 (1996), S. 351–365, u¨ber ein Ausstellungsprojekt in Waiblingen.

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wurde am Austragungsort Nu¨rnberg mit Du¨rers Aquarell „Das große Rasenstu¨ck“ beworben.3 ‚City branding‘ findet sich freilich auch schon avant la lettre. Fu¨r die Zeit ab dem fru¨hen 18. Jahrhundert hat der Sammelband „Selling Berlin“ von 2008 erwiesen, dass Imagebildung und Stadtmarketing keine Erfindungen der Gegenwart sind.4 Auch fu¨r Nu¨rnberg gibt es hier entsprechende Studien, zuletzt des amerikanischen Kulturwissenschaftlers Stephen Brockmann, der Nu¨rnberg mit transatlantischer Distanz als „Imaginary Capital“ der Deutschen sezierte.5 Seit der Romantik, das heißt, auch hier seit dem 18. Jahrhundert, la¨sst sich fu¨r das mittelalterliche Nu¨rnberg – schon damals personifiziert in seinen großen So¨hnen wie Albrecht Du¨rer oder auch Hans Sachs – eine lange Kette nationaler Vereinnahmungen nachweisen. Sie gipfelten in den Instrumentalisierungen der NS-Zeit: Als Beispiel sei die Sichtachse genannt, die Adolf Hitler zwischen der alten Kaiserburg und dem Reichsparteitagsgela¨nde der NSDAP vor den Toren der Altstadt plante.6 Augenfa¨lliger konnte die Kontinuita¨t vom mittelalterlichen Ersten zum nationalsozialistischen Dritten Reich nicht stilisiert werden. Umso ku¨hner (und wichtiger) mag nach solchen Indienstnahmen die heutige unbeschwerte Umwertung des ‚altdeutschen‘ Helden Du¨rer zum Popart-Star erscheinen. Die Profilierung der Stadt als Marke ist demnach keine Erfindung der Gegenwart, sie la¨sst sich auch in fru¨heren Zeiten immer wieder und durch ganz verschiedene Akteure beobachten. Fu¨r die Media¨vistik ist allerdings zu diskutieren, ob das 18. Jahrhundert und seine spezifischen Bedingungen – als Schlagwort sei nur die Ent¨ ffentlichkeit“ genannt7 – eine Schallmauer darstellen oder stehung einer „kritischen O 3 Zur Installation „Das große Hasenstu¨ck“ (2003) von Ottmar Ho¨rl vgl.

(29. August 2011). Zur WM-Werbung vgl. den Katalog zur Ausstellung „Das große Rasenstu¨ck“. Zeitgeno¨ssische Kunst im o¨ffentlichen Raum, hg. von der Stadt Nu¨rnberg und dem Deutschen FußballBund, Nu¨rnberg 2006, sowie (29. August 2011). 4 Thomas Biskup/Marc Schalenberg, Selling Berlin. Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt (BeitrStGU 6), Stuttgart 2008. 5 Stephen Brockmann, Nuremberg. The Imaginary Capital (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), Rochester (New York) 2006. S. auch Werner K. Blessing, Nu¨rnberg – ein deutscher Mythos, in: Mythen in der Geschichte, hg. v. Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Rombach Wissenschaften. Reihe Historiae 16), Freiburg i. Br. 2004, S. 371–395. Zur Instrumentalisierung des Mittelalters im europa¨ischen Kontext bis in die Gegenwart vgl. Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jahrhundert. Uses and Abuses of the Middle Ages 19th–21st Century; Usages et Me´susages du Moyen-Age du XIXe au XXIe sie`cle, hg. v. Ja´nos M. Bak u. a. (Mittelalter Studien 17), Mu¨nchen 2009. 6 Vgl. Bernd Windsheimer, Fu¨r den Marschantritt der Kolonnen. Die Große Straße, in: Gela¨ndebegehung. Das Reichsparteitagsgela¨nde in Nu¨rnberg, hg. v. Alexander Schmidt/Bernd Windsheimer, Nu¨rnberg 32002, S. 60–63. 7 S. dazu den Klassiker Ju¨rgen Habermas, Strukturwandel der O ¨ ffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bu¨rgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, S. 51–85. Fu¨r neuere Ansa¨tze und kritische ¨ ffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans-Wolf Ja¨ger, Go¨ttingen 1997. Aus Stimmen vgl. „O ¨ ffentlichkeit“ als historisches Analyseinmedia¨vistischer Perspektive vgl. Arie´ Malz, Der Begriff „O strument: Eine Anna¨herung aus kommunikations- und systemtheoretischer Sicht, in: Kommunikation im Spa¨tmittelalter. Spielarten – Wahrnehmungen – Deutungen, hg. v. Romy Gu¨nthart/Michael ¨ ffentlichkeit des Politischen, in: Politische Jucker, Zu¨rich 2005, S. 13–26, und Klaus Oschema, Die O ¨ ffentlichkeit im Spa¨tmittelalter, hg. v. Martin Kintzinger/Bernd Schneidmu¨ller (VuF 75), OstfilO dern 2011, S. 41–86.

‚City branding‘ im Mittelalter?

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ob sich solche Fragen auch schon an die Zeugnisse der Vormoderne stellen lassen. Die media¨vistische Forschung der letzten Jahrzehnte hat eine u¨berwa¨ltigende Zahl an Indizien als Beleg dafu¨r zusammengetragen, dass sich vereinzelt seit dem Hochmittelalter, versta¨rkt seit dem Spa¨tmittelalter eine kollektive Selbstvergewisserung der Stadtgemeinden bzw. ihrer politischen Eliten greifen la¨sst. Weniger Einigkeit herrscht dagegen bei der Antwort auf die Frage, ob Sta¨dte im Mittelalter schon gezielt Identita¨tsbildung und Imagepflege betrieben. Ganz heterogen fallen schließlich die Beobachtungen aus, unter Zuhilfenahme welcher Medien ihnen dies gelang. ¨ berlegungen verstehen sich als Versuch, die Beobachtungen der Die folgenden U Forschung zusammenzutragen und zu systematisieren. Vorausgehen muss diesen ¨ berlegungen, mit welchen Begriffen in der Forschung das Pha¨nomen ‚City branU ding‘ untersucht und was unter dem (erst seit den 1960er Jahren im Deutschen etablierten, nichtsdestotrotz semantisch weit wuchernden) Begriff Medium diskutiert wird.8 Das Hauptaugenmerk wird jedoch darauf liegen, welche Medien von den Stadtgemeinden fu¨r die Entwicklung und Propagierung sta¨dtischer Identita¨t(en) entdeckt und genutzt wurden. Diesen Hauptteil flankierend mo¨chte ich zugleich meine Zusammenschau relativieren: In einem dritten, abschließenden Kapitel soll die Frage nach der Reichweite und der Verallgemeinerbarkeit dieser Pha¨nomene gestellt werden. Im ersten, nun anschließenden Kapitel soll hinterfragt werden, inwieweit eine Ru¨ckprojektion solcher gegenwa¨rtiger Fragen auf vergangene Kulturen problematisch ist.

1. Auf der Suche nach dem bu¨rgerlichen Selbstbewusstsein

Welche Fallstricke drohen, wenn man moderne Wahrnehmungs- und Erkla¨rungsmuster fu¨r die Vormoderne einfach voraussetzt, hat die Forschung der letzten Jahrzehnte vor allem an einem Medium diskutiert, das seit dem 19. Jahrhundert als Kommunikationsmittel sta¨dtischer Identita¨t par excellence im Forschungsdiskurs fest etabliert ist: der spa¨tmittelalterlichen Historiographie.9 Die die Forschung pra¨gende und nach wie vor (trotz aller Probleme) unentbehrliche Basis fu¨r ihre Erforschung 8 Zur Geschichte des Begriffs Medium vgl. knapp Frank Bo ¨ sch, Mediengeschichte. Vom asiatischen

Buchdruck zum Fernsehen (Historische Einfu¨hrungen 10), Frankfurt/New York 2011, S. 9. Wa¨hrend der Begriff in Studien zur Fru¨hen Neuzeit vielfach Verwendung findet, wird er in media¨vistischen Publikationen deutlich sparsamer eingesetzt; sie pra¨ferieren den Begriff Kommunikation; vgl. Marco Mostert (Hg.), New Approaches to Medieval Communication (Utrecht Studies in Medieval Literacy 1), Turnhout 1999, mit einer umfangreichen, thematisch geordneten Bibliographie (S. 193–297). 9 Der große Reichtum an historiographischen Texten aus Sta¨dten des Heiligen Ro¨mischen Reichs bei einer gleichzeitigen Vielfalt an Formen, Entstehungsbedingungen und Intentionen hat einerseits die historische Forschung immer wieder angeregt. Andererseits erschwert die Fu¨lle und Heterogenita¨t einen systematisierenden Zugriff, so dass sich das Gros der Studien auf die Geschichtsschreibung ¨ berblick vgl. Sta¨dtische einer Stadt oder einzelne Werke beschra¨nkt. Fu¨r einen systematisierenden U Geschichtsschreibung im Spa¨tmittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Peter Johanek (StF A 47), Ko¨ln/Weimar/Wien 2000, fu¨r eine Gattungstypologie vgl. Klaus Wriedt, Bu¨rgerliche Geschichts-

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im deutschsprachigen Bereich wurde ab 1862 mit den „Chroniken der deutschen Sta¨dte“ – einem Langzeitunternehmen der Historischen Kommission in Mu¨nchen – gelegt.10 Die Unterstellung ihrer identita¨tsstiftenden Wirkung besaß von Beginn an besonderes Gewicht: Denn nicht nur fu¨r Fachgelehrte, sondern „namentlich fu¨r die Nachkommen jener ehrenfesten Stadtbu¨rger des Mittelalters, von welchen und fu¨r welche die alten Chroniken urspru¨nglich geschrieben wurden“, sah der Initiator Karl Hegel das ehrgeizige Editionsprojekt bestimmt.11 Auch Hegel wusste sich in einer respektablen familia¨ren Tradition, stammte doch sowohl seine Mutter als auch seine Ehefrau aus der alten Nu¨rnberger Patrizierfamilie der Tucher, deren Mitglieder schon seit dem Spa¨tmittelalter als Autoren und Ma¨zene genealogischer und sta¨dtischer Historiographie hervorgetreten waren. Ihre fru¨hen Werke fanden damit auch Eingang in Hegels Edition. Die Auswahl der Texte orientierte sich freilich weniger an ihrem Anteil zur Ausbildung einer sta¨dtischen Identita¨t, sondern daran, welchen Beitrag sie zur Erforschung der – um eine Formulierung von Gerhard Fouquet aufzugreifen – „Realien und Realita¨ten“12 der jeweiligen Stadtgeschichte zu leisten vermochten. Als eigentliche Pionierarbeit zur identita¨tsstiftenden Wirkung sta¨dtischer Historiographie ist daher Heinrich Schmidts Studie „Die deutschen Sta¨dtechroniken als Spiegel des bu¨rgerlichen Selbstversta¨ndnisses im Spa¨tmittelalter“ aus dem Jahr 1958 zu nennen. Programmatisch definiert Schmidt darin die Aufzeichnungen der spa¨tmittelalterlichen Stadtbu¨rger als „aufgeschriebene Mo¨glichkeiten eines Bewusstseins von Welt.“13 Er

schreibung im 15. und 16. Jahrhundert. Ansa¨tze und Formen, in: ebd., S. 19–50 (Kritik daran in einer Rezension des Bandes durch Heiko Droste, in: H-Soz-u-Kult, 4. 5. 2001, URL: 9. 9. 2011); zum Forschungsstand vgl. Peter Johanek, Einleitung, in: ebd., S. VII–XIX, und Robert Stein, Selbstversta¨ndnis oder Identita¨t? Sta¨dtische Geschichtsschreibung als Quelle fu¨r die Identita¨tsforschung, in: Memoria, communitas, civitas. Me´moire et conscience urbaines en Occident a` la fin du Moyen Age, hg. v. Hanno Brand u. a. (Beih. der Francia 55), Ostfildern 2003, S. 181–202, mit Belegen dafu¨r, dass sta¨dtische Historiographie kein ausschließliches Pha¨nomen des deutschen, schweizerischen und italienischen Raumes war, wie der Editions- und Forschungsstand suggeriert, sondern sich – wenngleich mit anderer Ausrichtung – auch in Frankreich, England und den Niederlanden erhalten hat. 10 Zur Kritik an den Chroniken der deutschen Sta¨dte vgl. etwa Stein, Selbstversta¨ndnis oder Identita¨t? (wie Anm. 9), bes. S. 184–187, und Carla Meyer, Zur Edition der Nu¨rnberger Chroniken in den ‚Chroniken der deutschen Sta¨dte‘, in: MittVGNu¨rnberg 97 (2010), S. 1–29. 11 Karl Hegel, Vorwort, in: Die Chroniken der fra¨nkischen Sta¨dte 1: Nu¨rnberg, hg. v. dems. (Die Chroniken der deutschen Sta¨dte 1), Leipzig 1862, ND Go¨ttingen 1961, S. V–X, hier S. IX. Zur Person vgl. Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert, hg. v. Helmut Neuhaus (Erlanger Studien zur Geschichte 7), Erlangen/Jena 2001; Helmut Neuhaus, Karl Hegel (1813–1901). Ein (fast) vergessener Historiker des 19. Jahrhunderts, in: Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universita¨tsgeschichte. Festschrift fu¨r Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, hg. v. Armin Kohnle/Frank Engehausen, Stuttgart 2001, S. 309–328. 12 Gerhard Fouquet, Mit dem Blick des Fremden. Stadt und Urbanita¨t in der Wahrnehmung spa¨tmittelalterlicher Reise- und Stadtbeschreibungen, in: Bild und Wahrnehmung der Stadt, hg. v. Ferdinand Opll (Beitra¨ge zur Geschichte der Sta¨dte Mitteleuropas 19), Linz 2004, S. 45–65, hier S. 46. 13 Heinrich Schmidt, Die deutschen Sta¨dtechroniken als Spiegel des bu¨rgerlichen Selbstversta¨ndnisses im Spa¨tmittelalter, Go¨ttingen 1958, S. 9. S. dazu Schmidts spa¨ten Ru¨ckblick auf sein Werk: ders., Bu¨rgerliches Selbstversta¨ndnis und sta¨dtische Geschichtsschreibung im deutschen Spa¨tmittelalter. Eine Erinnerung, in: Sta¨dtische Geschichtsschreibung, hg. v. Johanek (wie Anm. 9), S. 1–17.

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legte damit den Grundstein fu¨r eine Neubewertung der historiographischen Texte, die er nicht mehr nur als Steinbruch fu¨r Fakten, sondern als Quellen fu¨r die Wahrnehmungs- und Mentalita¨tsgeschichte verstand. Schmidts These, dass die von sta¨dtischen Autoren geschriebenen Annalen und Chroniken auch ein spezifisch bu¨rgerliches Selbstversta¨ndnis spiegeln und damit die Annahme, dass die spa¨tmittelalterlichen Sta¨dte von ihren Bewohnern als Einheit und als ein besonderes Stu¨ck Lebenswelt erfahren wurden, wurde allerdings wiederholt bezweifelt. Hartmut Boockmann wandte 1994 ein, dass Stadtgeschichte und Weltgeschichte in den Annalen so selbstversta¨ndlich ineinanderfließen, „als ha¨tte es die Stadtmauer nicht gegeben, welche die Welt der Bu¨rger von der u¨brigen Welt trennte, von der Welt des Adels, der Fu¨rsten und Bauern.“14 Als typisches Beispiel ko¨nnen die Handschriften mit historiographischem Inhalt gelten, die in den Chroniken der deutschen Sta¨dte in Auszu¨gen unter dem Behelfstitel der Nu¨rnberger Jahrbu¨cher vero¨ffentlicht wurden.15 Bei diesen Konvoluten handelt es sich um eine kaum zu ba¨ndigende Flut von welt- und heilsgeschichtlich als relevant erachteten Nachrichten, die ha¨ufig mit Adam und Eva oder anderen biblischen Ereignissen einsetzen. Die auf die Stadt bezogenen Notizen gewinnen erst ganz am Ende des Berichtzeitraums in der Gegenwart der Chronisten an Bedeutung. Auch hier bleiben sie undifferenziert und unkommentiert mit zum Teil geographisch weit entfernten Ereignissen der Reichsgeschichte vermengt. Dieser Eindruck wird noch erheblich versta¨rkt, wenn man nicht zu den Editionen, sondern zu den handschriftlichen Originalen greift: Um den Sturzbach der Eintra¨ge zu kanalisieren, entschieden sich die Editoren ha¨ufig, nicht die kompilierten, sondern nur die zeitgeno¨ssischen Notizen der Chronisten zu edieren und verzerrten damit entscheidend die Zusammensetzung der Annalen. Eine dezidiert sta¨dtische Perspektive (im Sinn, dass die Stadt und ihre Geschichte den Bezugsrahmen bildeten, nach dem die Kompilatoren ihren Stoff auswa¨hlten und ordneten) ist demnach in diesen historiographischen Werken nicht zu erkennen. Noch plakativer wird diese Beobachtung beim Blick in die Bilderwelt der Stadt: Dort begegnet man – um noch einmal Boockmann zu zitieren – „einer scheinbar wenig sta¨dtischen Welt“.16 Europaweit Einzug in die Ratha¨user und an Kirchenfassaden hielt das Motiv der neun guten Helden: Judas Makkaba¨us, Ko¨nig David und der Prophet Josua aus dem Alten Testament, Hektor von Troja, Alexander der Große und Julius Caesar aus der Antike und Ko¨nig Artus, Karl der Große und Gottfried von Bouillon fu¨r die nachantike Zeit. Sie scheinen sich damit als klassische Identifikationsfiguren fu¨r die Sta¨dter angeboten zu haben, wiewohl keiner der Neun aus der Welt der Sta¨dte kam, sondern die Helden in den Augen der Zeitgenossen klar aus der 14 Hartmut Boockmann, Deutsche Sta¨dte um 1500 in den Augen der Zeitgenossen, in: Studien zum

15. Jahrhundert. Festschrift fu¨r Erich Meuthen, Bd. 2, hg. v. Johannes Helmrath/Heribert Mu¨ller, Mu¨nchen 1994, S. 957–970, hier S. 959. 15 Vgl. Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nu¨rnbergs Entdeckung in Texten um 1500 (MAF 26), Ostfildern 2009, hier S. 102–148. Am Beispiel des mehrfach u¨berarbeiteten Chronikkonvolutes, das der Nu¨rnberger Bierbrauer Heinrich Deichsler anlegte, vgl. Joachim Schneider, Heinrich Deichsler und die Nu¨rnberger Chronistik des 15. Jahrhunderts (Wissensliteratur im Mittelalter 5), Wiesbaden 1991, bes. S. 48–52. 16 Boockmann, Deutsche Sta¨dte um 1500 (wie Anm. 14), S. 959.

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Spha¨re der Ho¨fe und des Adels stammten.17 Fu¨r die norddeutschen Sta¨dte la¨sst sich auch an die Rolandsfiguren denken, die zu ma¨chtigen Symbolen fu¨r das Stadtrecht und die sta¨dtische Gerichtsbarkeit avancierten – obwohl sie auf eine ebenso wenig sta¨dtische Gestalt, Roland, den in der ho¨fischen Literatur gefeierten Paladin Karls des Großen, zuru¨ckzufu¨hren sind.18 Dies sind nur einige wenige Beispiele fu¨r eine in der Forschung an einer breiten Quellen- und Gattungsbasis belegten Beobachtung, dass die Kategorie ‚bu¨rgerlich‘ fu¨r die Sta¨dter des Mittelalters noch keinen Wert besaß.19 Auch in der Stadt blieb man vielmehr ganz selbstversta¨ndlich und unhinterfragt dem Denken in die Stadtgesellschaften quer durchschneidenden sta¨ndischen Kategorien verhaftet. Die sta¨dtischen Eliten, die als Initiatoren bzw. Auftraggeber von ‚city branding‘ im Mittelalter anzusprechen sind, verstanden sich als Teil einer Elitekultur, die sich u¨ber das Wertesystem und den Verhaltenscodex des Adels definierte. Dies fa¨llt umso mehr ins Auge, wenn dem sta¨dtischen Patriziat wie im spa¨tmittelalterlichen Nu¨rnberg vom ‚Alten Adel‘ im Umland die Anerkennung verweigert wurde. Dass die soziale Kluft zwischen den sta¨dtischen Eliten und dem sie umgebenden Landadel im Verlauf des 15. Jahrhunderts immer gro¨ßer wurde, wurde von patrizischer Seite nicht etwa dadurch kompensiert, dass man sich bewusst abgesetzt, die sta¨dtische Lebensform und Erwerbsweise als Kaufmann aufgewertet und damit die Voraussetzung fu¨r ein genuin ‚bu¨rgerliches‘ Selbstbewusstsein geschaffen ha¨tte. Stattdessen verwandte man die gesamte Energie und genealogische Kreativita¨t darauf, diese Kluft zu u¨berwinden und sich dem ‚Alten Adel‘ einzuschreiben. Gefahr drohte den sta¨dtischen Gemeinwesen damit paradoxerweise nicht von sozialen Aufsteigern und Neuanko¨mmlingen, sondern ha¨ufig von den etablierten alten Ratsgeschlechtern. Innerhalb der Hierarchie der Stadt hatten sie alles erreicht; nun setzten sie sich neue Ziele und nahmen dafu¨r das Zerbersten alter Solidarita¨ten und Autorita¨ten in Kauf.20

17 Zu Urspru¨ngen und Deutungen des Motivs vgl. Georg Scheibelreiter, Ho¨fisches Geschichtsver-

¨ G 114 (2006), sta¨ndnis. Neuf Preux und Neuf Preuses als Sinnbilder adeliger Weltsicht, in: MIO S. 251–288. 18 Vgl. etwa Bernd Ulrich Hucker, Der hansesta¨dtische Roland, in: Hanse – Sta¨dte – Bu¨nde. Die sa¨chsischen Sta¨dte zwischen Elbe und Weser um 1500. Ausstellungskatalog, hg. v. Matthias Puhle (Magdeburger Museumsschriften 4,1: Aufsa¨tze), Magdeburg 1996, S. 474–494. 19 Vgl. zu dieser Diskussion etwa Birgit Studt, Territoriale Funktionen und urbane Identita¨t deutscher Residenzsta¨dte vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, in: Aspetti e componenti dell’identita` urbana in Italia e in Germania (secoli XIV–XVI). Aspekte und Komponenten der sta¨dtischen Identita¨t in Italien und Deutschland (14.–16. Jahrhundert), hg. v. Giorgio Chittolini/Peter Johanek (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 12), Bologna u. a. 2003, S. 45–68, hier S. 48–51. 20 Fu¨r entsprechende Ergebnisse zu Nu¨rnberg vgl. Meyer, Die Stadt als Thema (wie Anm. 15), S. 428–437; Gerhard Fouquet, Die Affa¨re Niklas Muffel. Die Hinrichtung eines Nu¨rnberger Patriziers im Jahre 1469, in: VSWG 83 (1996), S. 459–500, und Valentin Groebner, Ratsinteressen, Familieninteressen. Patrizische Konflikte in Nu¨rnberg um 1500, in: Stadtregiment und Bu¨rgerfreiheit. Handlungsspielra¨ume in deutschen und italienischen Sta¨dten des spa¨ten Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Klaus Schreiner/Ulrich Meier, Go¨ttingen 1994, S. 278–308. Eine gegenteilige Entwicklung macht Olivier Richard fu¨r das Patriziat der Reichsstadt Regensburg plausibel, vgl. Olivier Richard, Von der Distinktion zur Integration. Die Repra¨sentation des Regensburger Patriziats im Spa¨tmittelalter, in: Repra¨sentationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. Jo¨rg Oberste (Forum Mittelalter Studien 4), Regensburg 2008, S. 213–228, hier S. 228: Wa¨hrend die

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Insgesamt sind Heinrich Schmidts richtungsweisende Thesen von der identita¨tsstiftenden Funktion der sta¨dtischen Historiographie im spa¨ten Mittelalter damit nicht falsch: Nach heutigem Forschungskonsens spiegelt diese Gattung zwar kein bu¨rgerliches Selbstbewusstsein. Sie konnte aber sehr wohl innerhalb einer konkreten Stadtgemeinde – das heißt, fu¨r die Nu¨rnberger, Augsburger, Pisaner oder Genueser beispielsweise – zur Identita¨tsstiftung und Gemeinschaftsbildung eingesetzt sein. Damit sind diese Intentionen gar nicht weit von denen moderner ‚City brander‘ entfernt: Sicher suchen sie die urbane Lebensweise und das urbane Lebensgefu¨hl auch als solche positiv herauszustellen; ihr prima¨res Ziel ist freilich die Profilierung einer konkreten Stadt, die unverwechselbar und einzigartig erscheinen soll. Damit aber scheint der Wettstreit moderner Sta¨dte um die Platzierung in den „City brands indexes“ dem Pha¨nomen des campanilismo vergleichbar – der unbedingten ‚Kirchturmtreue‘ und damit scharfen regionalen Konkurrenz, die schon die Bewohner der norditalienischen Kommunen im Spa¨tmittelalter auszeichnete.21

2. Begriffskla¨rungen

Das zweite Kapitel hat die beeindruckende Fu¨lle an media¨vistischen Studien zum Gegenstand, die sich in den letzten Jahren mit der Frage sta¨dtischer Identita¨ten auseinandergesetzt haben. Trotz heterogener Ziele und (nicht zuletzt disziplina¨r bedingter) Unterschiede in der Herangehensweise werden diese Studien durch vier zentrale Aspekte geeint: Erstens hat sich die Forschung fu¨r die Frage nach sta¨dtischer Imagebildung auf die o¨konomisch und politisch potenten Metropolen oder zumindest Großsta¨dte des Mittelalters konzentriert. Zweitens handelt es sich allgemein um Sta¨dte, die im gewa¨hlten Untersuchungszeitraum meist auf dem Zenit ihrer Macht standen, zugleich aber auffa¨llig ha¨ufig mit inneren oder a¨ußeren Krisen ka¨mpften;

Regensburger Patrizier im 14. Jahrhundert noch mit der Stiftung pra¨chtiger Hauskapellen ihre herausgehobene Stellung in der Stadt unterstrichen, betonten ihre Nachfahren im 15. Jahrhundert durch Stiftungen fu¨r das Gemeinwohl ihre Zugeho¨rigkeit zur Stadt. Allgemein warnt Richard, das Selbstversta¨ndnis der sta¨dtischen Eliten auf die Nachahmung des Adels zu reduzieren und gar nicht erst nach anderen Erkla¨rungsmustern zu suchen. Mit Richard la¨sst sich demnach ein stetes Wechselspiel zwischen „soziale[r] Distinktion – aus der Stadtgesellschaft heraus – und Integration – in die Stadtgesellschaft –“ (ebd., S. 213f.) konstatieren, wobei sich beide Bemu¨hungen nicht widersprechen oder ausschließen, sondern erga¨nzen. S. a¨hnlich auch Stefanie Ru¨ther, Soziale Distinktion und sta¨dtischer Konsens. Repra¨sentationsformen bu¨rgerlicher Herrschaft in Lu¨beck, in: Ordnung und Distinktion: Praktiken sozialer Repra¨sentation in der sta¨ndischen Gesellschaft, hg. v. Marian Fu¨ssel/Thomas Weller, Mu¨nster 2005, S. 103–135. 21 Vgl. Gene Brucker, From campanilismo to nationhood. Forging an Italian identity, in: ders., Living on the Edge in Leonardo’s Florence. Selected Essays, Berkeley (California) 2005, S. 42–61, bes. S. 44–46. Allgemeiner s. Johannes Bernhard Menke, Geschichtsschreibung und Politik in deutschen Sta¨dten des Spa¨tmittelalters, in: JbKo¨lnGV 33 (1958), S. 1–84, hier S. 1: „Eine ‚Geschichte der Sta¨dte‘ oder die ‚Geschichte eines Sta¨dtebundes‘ findet sich [...] nicht. Es ist immer nur Stadtgeschichte von der einzelnen Stadt aus gesehen, von der Stadt, in der das Werk entstand.“

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diese Konflikte werden in den Studien ha¨ufig als Ursache dafu¨r herauskristallisiert, dass sta¨dtische Identita¨t u¨berhaupt artikuliert wurde bzw. werden musste. Drittens spielt auch die Verfasstheit dieser Sta¨dte eine Rolle: Es handelt sich meist um den Typus der selbsta¨ndigen Kommune mit starkem Autonomieanspruch.22 Bevorzugte Untersuchungsobjekte sind daher die oberitalienischen Sta¨dte, entsprechende Studien fu¨hren bis in die ‚Inkubationszeit‘ der Kommune seit dem spa¨ten 11. Jahrhundert zuru¨ck. Fu¨r den deutschsprachigen Raum sind es im 14. und 15. Jahrhundert die Freien Sta¨dte, die die urspru¨ngliche Stadtherrschaft erfolgreich abgeschu¨ttelt hatten, bzw. vor allem Reichssta¨dte, die zwar den Ko¨nig als Stadtherren weiterhin anerkannten, seine stadtherrlichen Rechte jedoch nach und nach fu¨r die Bu¨rgergemeinde hatten erwerben ko¨nnen. Diese Auswahl ist kein Zufall, musste doch der Zusammenhang zwischen politischer Vergemeinschaftung und kulturellen Formen der Identita¨tsstiftung in diesen Gemeinwesen besonders wichtig sein. Und so mag es auch kein Zufall sein, weshalb sich – schaut man in den Westen Europas – entsprechende Studien zwar zu su¨dfranzo¨sischen und den ma¨chtigen fla¨mischen Sta¨dten finden, kaum aber zu den nordfranzo¨sischen Sta¨dten mit ihrer großen Ko¨nigsna¨he, deren Eliten sich eher u¨ber ihre Loyalita¨t zur Krone als u¨ber ein sta¨dtisches Gemeinschaftsgefu¨hl definierten.23 Als vierte und letzte Gemeinsamkeit ist festzuhalten, dass die Stadt in diesen Studien – auch in den kunsthistorischen – damit nicht als baulich-topographisches Ensemble oder aber als Wirtschaftszentrum verstanden wird; sie ist vielmehr definiert

22 S. mit diesem Befund schon Ruth Schilling, Rezension zu: Jo¨rg Oberste (Hg.), Repra¨sentatio-

nen der mittelalterlichen Stadt, Regensburg 2008, in: H-Soz-u-Kult (19. 6. 2009), URL: , und Benedikt Mauer, Das ‚uneinheitliche Geda¨chtnis‘. Schwerpunkte sta¨dtischer Erinnerung in Augsburg, Salzburg, Bern und wu¨rttembergischen Landsta¨dten, in: Vielfalt der Geschichte. Lernen, Lehren und Erforschen vergangener Zeiten. Festschrift fu¨r Ingrid Heidrich zum 65. Geburtstag, hg. v. Sabine Happ/Ulrich Nonn, Berlin 2004, S. 213–232, hier S. 213f. Mauer konstatiert erhebliche Unterschiede in der sta¨dtischen Historiographie je nach den Verfassungsstrukturen der Sta¨dte; so etwa zeigt er, dass die Salzburger Chronistik nicht an der Stadt als Bezugsgro¨ße interessiert war, sondern als Landeschronistik zu verstehen ist, die sich in erster Linie mit der Geschichte des Hochstifts bescha¨ftigte (ebd., S. 216–218); weitere Beispiele fu¨r die enge Symbiose zwischen Stadt und Dynastie fu¨r die Residenzsta¨dte Eisenach, Mu¨nchen und Landshut bei Birgit Studt, Territoriale Funktionen (wie Anm. 19), S. 45–68; fu¨r Frankenberg bei Ernst Riegg, Eine Identita¨t der Leiden und Niederlagen. Frankenberg in der Stadt- und Landeschronik Wigand Gerstenbergs, in: Hessische Chroniken zur Landes- und Stadtgeschichte, hg. v. Gerhard Menk (Beitra¨ge zur hessischen Geschichte 17), Marburg an der Lahn 2003, S. 57–86; fu¨r die Brabanter Sta¨dte Bru¨ssel, Herzogenbusch und Antwerpen bei Stein, Selbstversta¨ndnis oder Identita¨t? (wie Anm. 9), S. 198–200, fu¨r die auf die Monarchie bezogenen nordfranzo¨sischen Sta¨dte bei Juliane Ku¨mmell, Erin¨ berlegungen zu Formen spa¨tmittelalterlicher Wahrnehmung nerung und Vergessen in der Stadt. U anhand von Ansa¨tzen volkssprachlicher Geschichtsschreibung im no¨rdlichen Frankreich, in: Saeculum 35 (1984), S. 225–245. 23 Vgl. Jo¨rg Oberste, Kommunebildung, politische Repra¨sentation und religio¨se Praxis in Toulouse (1119–1209), in: Repra¨sentationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. dems. (wie Anm. 20), S. 65–82, hier S. 75f., und Ku¨mmell, Erinnerung und Vergessen (wie Anm. 22), S. 225f. Anders dagegen Alain SaintDenis, L’apparition d’une identite´ urbaine dans les villes de commune de France du Nord aux XIIe et XIIIe sie`cles, in: Shaping urban identity in late Medieval Europe. L’apparition d’une identite´ urbaine dans l’Europe du bas moyen aˆge, hg. v. Marc Boone/Peter Stabel (Studies in Urban Social, Economic and Political History of the Medieval and Early Modern Low Countries 11), Leuven 2000, S. 65–87.

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als ein politisch-sozialer Verband, als Bu¨rgergemeinde, die sich als Gruppe im Sinn einer „imagined community“ u¨berhaupt erst einmal formieren musste, um handlungsfa¨hig zu sein.24 Prononciert haben dies zum Teil auch schon die Zeitgenossen formuliert: Eyn statt ist eyn communitett / In lyeb und frontschafft vest und stett – eine Stadt sei eine Gemeinschaft in Achtung und Freundschaft, fest und besta¨ndig, so definierte Johannes von Soest kurz vor 1500 in seiner Lehrschrift, wie man eine Stadt regieren solle. Ihr ureigener Sinn bestehe darin, dass in ihr Einigkeit herrsche; wo dies nicht der Fall sei, da hot statt keyn schyn, da tru¨ge also der Schein einer Stadt. Dieser Sinn sei schon im lateinischen Begriff fu¨r Stadt, der civitas, immanent: Dan das wort statt heyst civitas / Quasi civium unitas. / Das ist zu teutsch so vil gerett / Als burgerlich vereynung stett.25 Diese Definitionen aus zeitgeno¨ssischer Perspektive machen plausibel, nach Strategien und Medien der Selbstvergewisserung und des Gemeinschaftsgefu¨hls in den sta¨dtischen Gemeinden zu fragen: Der Begriff Stadtmarketing dafu¨r wird zwar vermieden; doch von Image ist durchaus die Rede.26 Zentral fu¨r entsprechende Studien ist vor allem der hier bereits eingefu¨hrte Terminus der sta¨dtischen Identita¨t, der auch im Englischen, Franzo¨sischen und Italienischen gebraucht wird.27 Geha¨uft finden sich zudem die Parallelbegriffe des Selbstbewusstseins, italienisch coscienza cittadina, wie ein wegweisender Sammelband von 1972 titelte, bzw. des sta¨dtischen Selbstversta¨ndnisses.28 Die a¨ltere Forschung kannte als Etikett fu¨r solche Fragen noch das Wesen der Stadt:29 Dieser Begriff transportiert eine essentialistische Vorstellung von Identita¨t

24 Der Begriff der „imagined community“ geht zuru¨ck auf Benedict Anderson, Imagined Communities.

Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London 1983, der auf das neuzeitliche Pha¨nomen des Nationalismus fokussiert. Anderson konstatiert jedoch generell, dass jede Gemeinschaft u¨ber dem Niveau der Face-to-Face-Community vorgestellt ist; somit ist auch fu¨r andere Gruppen als Nationen plausibel, von „imagined communities“ zu sprechen und mit diesem Begriff zugleich nach den Medien zu fragen, in denen sich die jeweilige Gruppenvorstellung materialisiert. 25 Wie men wol eyn statt regyrn sol. Didaktische Literatur und berufliche Schreiben des Johann von Soest, genannt Steinwert, in Auswahl und Erla¨uterungen hg. v. Heinz-Dieter Heimann, Soest 1986, S. 23f. 26 Image als Wortspiel zwischen Abbild und Werbung vgl. etwa bei Gerhard Jaritz, Das Image der spa¨tmittelalterlichen Stadt. Zur Konstruktion und Vermittlung ihres a¨ußeren Erscheinungsbildes, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Beitra¨ge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift fu¨r Karl Czok zum 75. Geburtstag, hg. v. Helmut Bra¨uer u. a., Leipzig 2001, S. 471–485. 27 S. etwa Stein, Selbstversta¨ndnis oder Identita¨t? (wie Anm. 9); Bernd Roeck, Identita¨t und Stadtbild. Zur Selbstdarstellung der deutschen Stadt im 15. und 16. Jahrhundert, in: Aspetti e componenti dell’identita` urbana, hg. v. Chittolini/Johanek (wie Anm. 19), S. 11–24; Shaping urban identity, hg. v. Boone/Stabel (wie Anm. 23). 28 La coscienza cittadina nei comuni italiani del Duecento, hg. v. Centro di studi sulla spiritualita` medievale (Convegni del Centro di Studi sulla Spiritualita` Medievale di Todi 11), Todi 1972; Franz Irsigler, Außensicht und Selbstversta¨ndnis der Stadt Ko¨ln im 15. und 16. Jahrhundert, in: Das Bild und die Wahrnehmung der Stadt und der sta¨dtischen Gesellschaft im Hanseraum im Mittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Roman Czaja, Thorn 2004, S. 57–74. 29 Vgl. etwa August Sieghardt, Nu¨rnberg. Wesen und Schicksal einer Stadt, Nu¨rnberg 1950; Heinz Zirnbauer, Die deutsche Reichsstadt. Werden und Wesen in Buch und Graphik. Ausstellungskatalog der Stadtbibliothek Nu¨rnberg, Nu¨rnberg 1958; S. dazu Meyer, Die Stadt als Thema (wie Anm. 15), S. 49–53.

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als Substanz, sozusagen als Reservoir bestimmter Eigenschaften und Einstellungen, das den einzelnen Gruppenmitgliedern bei Bedarf fu¨r eine Artikulation zur Verfu¨gung steht. Die neueren Forschungen dagegen betonen, dass das Image einer Stadt (so man diesen Begriff u¨berhaupt im Singular benutzen will) sta¨ndig im Fluss ist und mit jedem Kommunikationsakt neu hergestellt werden muss. Pra¨gnant wird dieses zugleich prozesshafte und akteursbezogene Versta¨ndnis im englischen Titel eines Sammelbandes von 2000 umschrieben, der von „shaping urban identity“ spricht (diese Metapher ist noch treffender als das aktuelle Marketing-Label ‚city branding‘).30 Scharf hat Christoph Dartmann das Preka¨re dieser Konstruktionen herausgestellt mit der Erkla¨rung, dass man eigentlich nicht von Identita¨ten, sondern von Identita¨tsbehauptungen sprechen mu¨sse.31 In der Historiographie entpuppen sich gerade die Passagen, die die vermeintlich dauerhaften Grundlagen lokaler Sinnfindung zu thematisieren scheinen, auf den zweiten Blick als Musterargumentationen, mit denen ihre Verfasser sich fu¨r die Auseinandersetzung mit ihren Gegnern ru¨sten wollten, oder als Scheinargumente, mit denen die eigentlichen Krisen verdeckt werden sollten. Dies gilt gerade fu¨r die politische Vereinnahmung der Vergangenheit, die nicht erst eine Erfindung der Moderne ist. Als weiteres zentrales Schlagwort der Forschungen zu diesem Feld sei schließlich der Begriff der Repra¨sentation32 aufgegriffen. Die Repra¨sentation zeichnet aus, dass ihr eine doppelte Bedeutung innewohnt: Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnen wir damit die symbolisch verdichtete Darstellung von sozialen oder politischen Gruppen und den ihnen gemeinsamen Werten und Selbstbildern. Im Spa¨tmittelalter dagegen war die representatio ein Begriff der Korporationslehre fu¨r das juristische Problem, inwiefern eine Gruppe im Ganzen durch einzelne Gruppenmitglieder repra¨sentiert werden kann, es ging also um die Fragen legitimer Stellvertreterschaft.33 Damit ist

30 Shaping urban identity, hg. v. Boone/Stabel (wie Anm. 23). 31 Christoph Dartmann, Die Repra¨sentation der Stadtgemeinde in der Bu¨rgerversammlung der italie-

nischen Kommune, in: Repra¨sentationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. Oberste (wie Anm. 20), S. 95–108, hier S. 95. S. auch ders., Zwischen demonstrativem Konsens und kanalisiertem Konflikt. Ein Essay u¨ber o¨ffentliche Kommunikation in der italienischen Stadtkommune, in: Cum verbis ut Italici solent suavibus atque ornatissimis. Funktionen der Beredsamkeit im kommunalen Italien. Funzioni dell’ eloquenza nell’ Italia comunale, hg. v. Florian Hartmann (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der klassischen Antike), Go¨ttingen [im Druck]; Carla Meyer, Die Stadt als Thema (wie Anm. 15), S. 41–49. 32 Repra¨sentationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. Oberste (wie Anm. 20), bes. ders., Einfu¨hrung, in: ebd., S. 7–12, hier S. 11f.; Stadt und Repra¨sentation. 31. Arbeitstagung in Pforzheim 1992, hg. v. Bernhard Kirchga¨ssner/Hans-Peter Becht (Stadt in der Geschichte 21), Sigmaringen 1995; Le verbe, l’image et les repre´sentations de la socie´te´ urbaine au Moyen-Age, actes du colloque international tenu a` Marche-en-Famenne du 24 au 27 octobre 2001, hg. v. Marc Boone u. a. (Studies in urban social, economic and political history of the Medieval and early modern Low Countries 13), Antwerpen u. a. 2002. 33 Zur repraesentatio als Stellvertreterschaft vgl. Adalbert Podlech, Art. Repra¨sentation, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 509–547, hier S. 509–514. Zur Doppelbedeutung des Begriffs vgl. Dartmann, Die Repra¨sentation der Stadtgemeinde (wie Anm. 31), S. 95–97 mit Literatur in Anm. 1–2, der Repra¨sentation einerseits als „Symbolisierung“, andererseits als „Mandat“ fasst (S. 97).

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dieser Begriff nah an dem, was die Zeitgenossen reflektierten, wenn sie u¨ber Pha¨nomene der Gemeinschaftsbildung nachdachten. Schwierigkeiten bereitet freilich nicht nur, wie mittelalterliche Formen des ‚city branding‘ begrifflich gefasst und konzeptionalisiert werden ko¨nnen. Zu diskutieren ist ebenfalls, was als Medium solcher Identita¨tsbildungsprozesse im Mittelalter ¨ berdefiniert werden kann. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes haben ihren U legungen einen engen Medienbegriff zugrunde gelegt, wie er im Genre der Mediengeschichte dominierend ist: Zwar haben gegenu¨ber einem rein technik- und ideengeschichtlichen Interesse insgesamt la¨ngst sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen an Raum gewonnen. Die Definition, was als Medium zu bezeichnen sei, bezieht sich in der Mehrzahl der Studien aber weiterhin auf das technische Versta¨ndnis des Mediums als Kanal, etwa – um die in diesem Band versammelten exemplarisch herauszugreifen – das gedruckte Buch und die Flugschrift, Zeitung und Radio, Film und Internet.34 Fu¨r die Zeit vor Gutenberg bleibt eine Auflistung entsprechender Medien freilich kurz.35 Um den Begriff demnach sinnvoll fu¨r das Mittelalter anwenden zu ko¨nnen, ist eine Ausweitung des Technik-Begriffs auf Kulturtechniken im weitesten Sinne (Sprache, Ritus, Tanz etc.) unumga¨nglich.36 Dies zeitigt gleich mehrere Folgen: Erstens entfa¨llt damit die Mo¨glichkeit und der Charme einer Za¨sursetzung nach Entwicklungsschu¨ben der Medientechnik – im 15. und 16. Jahrhundert der Buchdruck, im 17. Jahrhundert die Presse, im 18. Jahrhundert die Telegraphie usw.; dabei wird diesen technischen Innovationen in der Neuzeitgeschichte nicht selten allgemein epochale Bedeutung zugebilligt, durch ihre Za¨surierungsleistung erfahren sie also eine Aufwertung und Aufmerksamkeit, die einer mittelalterlichen Mediengeschichte zwangs-

34 Vgl. als eines der ju¨ngsten Beispiele das Handbuch von Bo ¨ sch, Mediengeschichte (wie Anm. 8), der

dezidiert auf die gesellschaftliche Bedeutung der Medien und Medienumbru¨che fokussiert (vgl. S. 8f.), seine Ausfu¨hrungen jedoch trotzdem weitgehend technikgeschichtlich strukturiert. 35 S. das Handbuch von Ju¨rgen Wilke, Grundzu¨ge einer Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfa¨ngen bis ins 20. Jahrhundert, Ko¨ln/Weimar/Wien 22008, das der technisch-institutionellen Definition von Medien verpflichtet bleibt, mit der Konsequenz, dass Wilke zwar schon im Titel bis zu „den Anfa¨ngen“ zuru¨ckzugehen verspricht: Diese Anku¨ndigung beschra¨nkt sich jedoch auf eine neunseitige „Vorgeschichte“ der Massenkommunikation zu den Epochen der Antike und des Mittelalters, bevor er mit Gutenbergs Erfindung der Drucktechnik die eigentliche Darstellung beginnt. 36 Vgl. Hartmut Winkler, Basiswissen Medien, Frankfurt a. M. 2008, S. 91, der unter einen weiten Technikbegriff auch „Ko¨rpertechniken“ und „technische Praxen“ fasst. Der weite Technikbegriff ist freilich nicht zu verwechseln mit kulturalistischen Mediendefinitionen bei McLuhan oder Luhmann: Marshall McLuhan definierte Medien als „any extension of ourselves“; daher verstand er – so sein beru¨hmtes Beispiel – auch das elektrische Licht als Medium, da es die menschliche Interaktion in die Nacht verla¨ngere, vgl. Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, S. 23–25. Niklas Luhmanns Medienbegriff beruht auf der Hypothese, dass Kommunikation aufgrund ihrer Komplexita¨t eher unwahrscheinlich sei. Medien seien daher „diejenigen evolutiona¨ren Errungenschaften, die [...] Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches transformieren“, indem sie Komplexita¨t reduzieren und als Motivationsmittel wirken. Als Beispiele nennt Luhmann Wahrheit, Glaube, Liebe oder Kunst. Vgl. Christina Gansel, Macht und Ohnmacht der Medien. Zur Entwicklung der Medien und ihrer Leistung in kommunikationstheoretischer Sicht, in: Medien der Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Karl-Heinz Spiess (Beitra¨ge zur Kommunikationsgeschichte 15), Stuttgart 2003, S. 49–62, hier S. 50–53.

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la¨ufig fehlen mu¨ssen.37 Zwar ist auch fu¨r die neuzeitlichen technischen Medien die suggestive Vorstellung von der Ablo¨sung eines alten durch ein neues Medium als Fortschrittsmodell mit guten Gru¨nden abgelehnt worden;38 fu¨r die Zeit vor 1450 ist jedoch gar kein Nacheinander, sondern ein Nebeneinander, die Gleichzeitigkeit verschiedener Medien zu konstatieren.39 Dieses Neben- und Ineinander macht es zweitens unmo¨glich, klare Einzelmedien zu unterscheiden und zu konturieren, wie dies mit Abstrichen fu¨r die genannten neuzeitlichen Medien durchaus plausibel ist. Entsprechende Schwierigkeiten zeigen sich schon bei einem Blick in die Inhaltsverzeichnisse verschiedener ‚Mediengeschichten‘ des Mittelalters: Wa¨hrend sich die Neuzeitkollegen auf einen Kanon bestimmter Medien versta¨ndigt haben, an denen entlang Mediengeschichte erza¨hlt werden kann, scheint ein solcher Konsens fu¨r das Mittelalter aussichtslos. Ein geschlossenes Epochenbild im Sinn einer „funktionalen Mediengeschichte“ wurde bislang nur durch den Medienwissenschaftler Werner Faulstich versucht.40 Innerhalb des Gesamtssystems mittelalterlicher Kommunikation identifizierte er dazu fu¨nf in sich geschlossene Binnensysteme, die er Teilo¨ffentlichkeiten nannte, darunter auch die Stadt. Als spezifische Medien des Teilsystems Stadt klassifizierte er ganz heterogene Pha¨nomene: Einerseits fu¨hrte er klassische Kommunikationsmittel wie Urkunden und Bu¨cher auf, fu¨r die sich auch in der Forschung allgemein die Kategorie als (Schrift-)Medien finden, andererseits Kommunikationsorte wie den Marktplatz. Keine Ru¨cksicht nahm Faulstich auf verschiedene Beschreibungsebenen: So stellt er in der Teilo¨ffentlichkeit Hof das Medium Hofnarr bzw. Sa¨nger neben die Medien Urkunde und Vertrag, das heißt Akteure neben Texte. Auch die Mehrfachnennung der Urkunden als Leitmedien sowohl fu¨r die Teilo¨ffentlichkeit der Stadt als auch fu¨r die des adligen Hofes machen deutlich, dass sich 37 Zur Mediengeschichte als Meistererza¨hlung vgl. Gerhard Vowe, „Wissensgesellschaft“, „Medienge-

sellschaft“ und andere Angebote fu¨r den Deutungsmarkt. Der Beitrag der Kommunikationswissenschaft zum Selbstversta¨ndnis der Gesellschaft, in: Medien und Kommunikation in der Wissensgesellschaft, hg. v. Johannes Raabe u. a. (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft fu¨r Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 35), Konstanz 2008, S. 46–61, bes. S. 55f. S. auch Kay Kirchmann/Marcus Sandl, Einleitung, in: Revolutionsmedien – Medienrevolutionen, hg. v. dens. u. a. (Historische Kulturwissenschaften 11), Konstanz 2008, S. 9–17, hier S. 14. 38 S. etwa Winkler, Basiswissen Medien (wie Anm. 36), S. 102. 39 S. dazu Horst Wenzel, Mediengeschichte vor und nach Gutenberg, Darmstadt 22008, S. 7: „Mediengeschichte wird in diesem Band als Akkumulation von medialen Mo¨glichkeiten [...] verstanden, nicht als historischer Entwicklungsprozess mit epochalen Abfolgen. Es geht also nicht um eine Großnar¨ berga¨ngen“. ration mit Vollsta¨ndigkeitsanspruch, sondern um die Beobachtung von Bru¨chen und U Wenzels Band, der Feldstudien der Jahre 1990 bis 2005 versammelt, bindet die Identifizierung von medialen Umbru¨chen an die zeitgeno¨ssische Wahrnehmung; demnach spricht er methodisch nur dann von einem Umbruch, wenn zu diesem auch eine Mediendiskussion fassbar ist (so noch vor dem Wandel von der Manuskript- zur Druckkultur im Umbruch vom Ko¨rper- zum Schriftgeda¨chtnis im Hochmittelalter), vgl. dazu ebd., Einleitung, S. 10–26. 40 Werner Faulstich, Medien und O ¨ ffentlichkeiten im Mittelalter 800–1400, Go¨ttingen 1996. Faulstichs Modell geht davon aus, dass „aus medienwissenschaftlicher Sichtweise [...] die mittelalterliche Sta¨ndeordnung [...] als ein Gesamtsystem spezifischer, markant unterschiedlicher Teil- oder Binneno¨ffentlichkeiten, d. h. bestimmter, aufeinander bezogener Kommunikationsra¨ume“ erscheinen, „die zuna¨chst weitgehend voneinander abgegrenzt waren“ (S. 9). Zur „Teilo¨ffentlichkeit Stadt“ vgl. ebd., S. 27–29.

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u¨ber Faulstichs Systematisierungen durchaus streiten la¨sst (und da das Mittelalter insgesamt als Urkundenzeitalter gilt, du¨rfte diese Gattung eigentlich auch fu¨r die weiteren Teilsysteme Land/Dorf, Kloster/Universita¨t und Kirchenraum nicht fehlen). Unstrittig ist freilich, dass die Schnitte auch anders schlu¨ssig zu setzen gewesen wa¨ren. So wird Faulstichs Mediengeschichte des Mittelalters in Volker Depkats Einfu¨hrung zum Sammelband „Medien der Kommunikation im Mittelalter“ zwar fu¨r ihren u¨bergreifenden Kategorisierungsversuch explizit gewu¨rdigt.41 Die Medien, die die an Depkats Ausfu¨hrungen anschließenden Spezialstudien aufgreifen, ignorieren jedoch die von Faulstich vorgeschlagene Nomenklatur und benennen in weiten Teilen ganz andere Kommunikationsmittel. Versteht man also Medien allgemein als Techniken, um Menschen (nicht einmalig, sondern wiederholt bzw. wiederholbar) miteinander zu vernetzen, so bleibt nur die resignative Feststellung, dass solche Medien sich nur im jeweiligen Systemzusammenhang konkret definieren lassen.42 Ohne explizite Definition freilich droht die Gefahr, wie Andreas Wu¨rgler ironisch kommentierte, dass „ohne dass mit ihm gewinkt wu¨rde, [...] jeder Zaunpfahl zu einem Medium“ mutierte, „sobald er zwischen andern im Boden steckte und stumm verku¨ndete: hier ist die Grenze“.43 Um einen solchermaßen weiten Medienbegriff wieder pragmatisch eng zu fu¨hren, bieten sich zwei Eingrenzungen an: Erstens la¨sst er sich u¨ber die Frage nach der Funktion ¨ berlegungen sind daher konseder Kommunikation beschra¨nken – die folgenden U quent auf die Frage danach verengt, durch welche Medien sta¨dtische Identita¨t kommuniziert wurde. Zweitens ist das Sprechen u¨ber Medien im Mittelalter noch mehr als das fu¨r die Moderne darauf angewiesen, den Medienbegriff in seiner Leistung fu¨r die gesellschaftliche Interaktion zu beschreiben. In der Tat vermo¨gen Sprach- und Verbreitungstechnik allein der Kommunikation noch nicht zum Erfolg zu verhelfen: Ein Fernsehgera¨t kann abgeschaltet, ein Buch ungelesen zugeschlagen, ein Bote nicht vorgelassen werden. Das jeweilige Kommunikationsmittel, in dem oder durch das die Wirklichkeit – in unserem Fall: das sta¨dtische Image – konstruiert und inszeniert wird, muss demnach erstens verstanden werden und zweitens auf eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz treffen. Dies ist ein weiterer zentraler Punkt, den die neueren Forschungen teilen: Sie eint, nicht nur nach den Medieninhalten zu fragen, d. h. also, etwa die Historiographie hermeneutisch nach ihrer identita¨tsstiftenden Intention zu befragen, sondern die Gebrauchszusammenha¨nge und Akteure in den Blick zu nehmen.

41 Vgl. Volker Depkat, Kommunikationsgeschichte zwischen Mediengeschichte und der Geschichte

sozialer Kommunikation. Versuch einer konzeptionellen Kla¨rung, in: Medien der Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Spiess (wie Anm. 36), S. 9–48, hier S. 30. 42 S. Roland Posner, Zur Systematik der Beschreibung verbaler und nonverbaler Kommunikation. Semiotik als Propa¨deutik der Medienanalyse, in: Perspektiven auf Sprache. Interdisziplina¨re Beitra¨ge zum Gedenken an Hans Ho¨rmann, hg. v. Hans-Georg Bosshardt, Berlin/New York 1968, S. 267–313, hier S. 293f. 43 Andreas Wu ¨ rgler, Medien in der fru¨hen Neuzeit (Enzyklopa¨die Deutscher Geschichte 85), Mu¨nchen 2009, S. 2.

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¨ berlieferungslage ist dies nicht immer leicht. Als ein Glu¨cksAngesichts der U fall fu¨r die sta¨dtische Historiographie, der zudem auch mustergu¨ltig zuletzt durch die Studien von Regula Schmid-Keeling aufgearbeitet ist, darf die Stadt Bern gelten, wo gleich mehrere Generationen von Chronisten im Dienst der Stadt die Geschichte Berns von den Urspru¨ngen bis in die Gegenwart festhielten.44 Fu¨r die aktive Beteiligung des Rates an diesen Ausformulierungen sta¨dtischer Geschichte im 15. Jahrhundert sprechen die mehrfach verbu¨rgten Auftra¨ge an die Stadtschreiber, Chroniken zusammenzustellen, a¨ltere Werke zu u¨berarbeiten oder einzelne Chronikpartien zu kopieren. Vielzitierter Beleg ist die repra¨sentative Stadtchronik von Diebold Schilling: Bevor er sie am Stephanstag des Jahres 1483 feierlich dem Rat u¨berreichte, war sie von diesem Gremium ausfu¨hrlich gepru¨ft worden.45 Auch im Bild ist das Interesse des Rates an diesen Texten bezeugt: In Schillings „Spiezer Chronik“, die er 1484/85 fu¨r den Altschultheißen Rudolf von Erlach schrieb, ist Schillings Vorga¨nger Konrad Justinger in seinem Arbeitszimmer vor dem Schreibpult dargestellt. Er empfa¨ngt gerade Schultheiß und Rat von Bern, die sich offenbar nach dem Fortgang der von ihnen in Auftrag gegebenen Stadtchronik erkundigen und Vorlagen mitbringen.46 Wie eng die Kooperation zwischen Rat und Stadtchronist war, wird vor allem an Valerius Anselm deutlich, dem der Berner Rat im fru¨hen 16. Jahrhundert das geheime Archiv der Stadt o¨ffnete. In vielen Aktenba¨nden finden sich bis heute Spuren seiner Bearbeitungen, Marginalien seiner Hand, abgeknickte Blattecken als Lesezeichen oder Ziffern als Verweissymbole.47 Doch nicht nur u¨ber die Entstehung, auch u¨ber den Nutzen dieser Geschichtswerke geben die Berner Ratsaufzeichnungen Auskunft: Thu¨ring Fricker wurde 1487 aufgetragen, eine Darstellung der Schlacht bei Murten abschreiben zu lassen, damit der Bericht ja¨hrlich am Schlachtengedenktag in der Kirche o¨ffentlich verlesen werden konnte.48 Nach Urs Zahnd wurden auch feierliche Ratssitzungen mit einer Lektion 44 Programmatisch Regula Schmid, Die Chronik im Archiv. Amtliche Geschichtsschreibung und ihr

Gebrauchspotential im Spa¨tmittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, in: Instrumentalisierung von Historiographie im Mittelalter, hg. v. Gudrun Gleba (Das Mittelalter 5,2), Berlin 2000, S. 115–138. Fu¨r einen ¨ berblick u¨ber die Stadtchronistik zu Bern vgl. dies., Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche HisU torie und Politik im Spa¨tmittelalter, Zu¨rich 2009, bes. S. 60–71, und Urs Martin Zahnd, „... zu ewigen zitten angedenck ...“ Einige Bemerkungen zu den bernischen Stadtchroniken aus dem 15. Jahrhundert, in: Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt, hg. v. Ellen J. Beer/Norberto Gramaccini/ Charlotte Gutscher-Schmid/Rainer C. Schwinges, Bern 1999, S. 187–195. 45 Vgl. Schmid, Geschichte im Dienst der Stadt (wie Anm. 44), S. 11f., und Bastian Walter, „Und mu´stent ouch lang vor im knu´wen“? Symbolische Kommunikation als Argument fu¨r politische Ressentiments der Reichsstadt Bern im Spa¨tmittelalter, in: Integration und Konkurrenz, hg. v. Stefanie Ru¨ther (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 21), Mu¨nster 2009, S. 153–176, hier S. 167–172, bes. S. 169. 46 Diebold Schilling d. A ¨ ., Chronik fu¨r Rudolf von Erlach 1484, Bern, Burgerbibliothek, Mss. h. h. I, 16, S. 41; Abb. : Schmid, Geschichte im Dienst der Stadt (wie Anm. 44), Tafel 5; vgl. dazu Zahnd, „... zu ewigen zitten angedenck ...“ (wie Anm. 44), S. 187–189. 47 Schmid, Geschichte im Dienst der Stadt (wie Anm. 44), S. 240–243. 48 Die Berner Chronik des Diebold Schilling 1468–1474, Bd. 2, hg. v. Gustav Tobler, Bern 1901, S. 361. Zur Bedeutung milita¨rischer Siege oder Niederlagen fu¨r die sta¨dtische Gemeinschaft vgl. allgemein Klaus Graf, Schlachtengedenken im Spa¨tmittelalter. Riten und Medien der Pra¨sentation kollektiver Identita¨t, in: Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposion des Media¨vistenverbandes, hg. v. Detlef Altenburg u. a., Sigmaringen 1991, S. 63–69.

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aus der Stadtchronik eingeleitet,49 ein seltenes Ritual der Identita¨tsvergewisserung, das offensichtlich politische Hoheit auch in Erinnerungshoheit umzusetzen suchte.50 Beim eben geschilderten Beispiel stellt sich die Frage, ob nur der Chroniktext oder nicht auch die Praktik des Verlesens sinnvoll als Medium zu bezeichnen ist. Der Medienwissenschaftler Hartmut Winkler hat dazu lapidar erkla¨rt, die Stabilita¨t der Einzelmedien werde u¨berscha¨tzt.51 Die Grenzen zwischen ihnen verschieben sich bzw. zerfließen, je nachdem welches man in den Fokus nimmt. Die folgenden Ausfu¨hrungen greifen daher auf die Etikettierungen der Studien zuru¨ck, die vorgestellt werden.

3. Medien sta¨dtischer Selbstvergewisserung im Mittelalter Grob hat die aktuelle Forschung erstens Texte, zweitens Bilder, drittens Objekte mit Verweischarakter sowie viertens Praxen/Praktiken als Medien identifiziert (letztere sind bei Faulstich anschaulich als „Menschmedien“ benannt, auch wenn diese Bezeichnung den Unterschied zwischen Medium und Akteur vernachla¨ssigt).52 3.1. Schriftmedien Als klassisches Schriftmedium zur Kommunikation sta¨dtischer Identita¨t ist noch vor der hier schon thematisierten sta¨dtischen Historiographie53 das Genre des Sta¨dtelobs und der Stadtbeschreibung zu nennen. Aus unterschiedlichen Wurzeln erwachsen, pra¨sentieren sich diese Zeugnisse inhaltlich und formal a¨ußerst heterogen: als Großund Kleinform, in der Volkssprache und auf Latein, als Prosa oder in gebundener Sprache, als selbsta¨ndige Werke oder ha¨ufiger noch als Teil von Weltchroniken, Reisebeschreibungen, diplomatischen Depeschen, Autobiographien, Liturgica, hagiographischen Texten oder sogar medizinischen Traktaten usw.54 49 Zahnd, „... zu ewigen zitten angedenck ...“ (wie Anm. 44), S. 193. 50 Vgl. Gu¨nther Lottes, Stadtchronistik und sta¨dtische Identita¨t. Zur Erinnerungskultur der fru¨hneu-

zeitlichen Stadt, in: MittVGNu¨rnberg 87 (2000), S. 47–58, hier S. 54.

51 Winkler, Basiswissen Medien (wie Anm. 36), S. 19. 52 Zur Definition „Menschmedium“ vgl. Faulstich, Medien und O ¨ ffentlichkeiten (wie Anm. 40), S. 31.

Winkler, Basiswissen Medien (wie Anm. 36), S. 33, statuiert mit der Definition, dass Medien „grundsa¨tzlich [...] intersubjektiv“ seien, dagegen kategorisch: „Sie haben ihren Ort zwischen den Subjekten.“ Differenzierter ist die Bezeichnung des Ko¨rpers als Medium, s. dazu Rudolf Schlo¨gl, Der Ko¨rper als Medium. Einleitung, in: Kommunikation und Medien der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (HZ, Beih. 41), Mu¨nchen 2005, S. 429–432; Michael Jucker, Ko¨rper ¨ berlegungen zur spa¨tmittelalterlichen Kommunikationspraxis im eidgeno¨ssiund Plurimedialita¨t. U schen Gesandtschaftswesen, in: Der Ko¨rper. Realpra¨senz und symbolische Ordnung, hg. v. Karina Kellermann (Das Mittelalter 8,1), Berlin 2003, S. 68–93; Horst Wenzel, Vom Ko¨rper zur Schrift. Boten, Briefe, Bu¨cher, in: ders., Mediengeschichte vor und nach Gutenberg (wie Anm. 39), S. 53–76. 53 Vgl. Anm. 9. 54 Fu¨r eine Zusammenstellung der Quellen vgl. Hartmut Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters (Mu¨nchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur

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In der a¨lteren Forschung dominierte der Zweifel am Quellenwert dieser Texte: Gerade die panegyrischen Werke weckten sowohl bei Literaturwissenschaftlern als auch bei Historikern den Argwohn, dass sich die Autoren nur aus einem Fundus vorgepra¨gter Formeln bedienten, dass die Beschreibungen also kaum die ‚reale Stadt‘ als vielmehr nur literarische Allgemeinpla¨tze zu spiegeln vermo¨ge.55 Einen Weg zur Neubewertung und Aufwertung der Sta¨dtelobtexte hat vor allem die Studie von Hartmut Kugler gewiesen: Kugler versteht die Texte darin nicht la¨nger als konkrete Abbilder einer ‚realen‘ Stadt, sondern er begreift sie gerade in ihren Idealisierungen als gedankliche Entwu¨rfe, wie in den Augen der Zeitgenossen eine Stadt sein soll. Sie sind nach Kugler damit Quellen fu¨r die Herausbildung einer sta¨dtischen Identita¨t, sie sind als Zeugnisse zur Versta¨ndigung u¨ber sta¨dtische Existenzweisen und Erfahrungshorizonte zu lesen. Konkret bedeutet dies, dass die Autoren zwar literarisch gepra¨gten Darstellungsschemata folgten. Sie kompilierten aber nicht gedankenlos, was sie bei a¨lteren Autorita¨ten vorfanden. Vielmehr etablierte sich ein Repertoire an Themen, Epitheta und Topoi als einer Form der Konsensbildung der Zeitgenossen daru¨ber, was eine Stadt zur Stadt macht.56 Wie literarische Schablonen oder Denkmuster gaben die Topoi somit die Richtung vor, was in den Blick bzw. wovon Notiz zu nehmen lohnte. Ihren Reiz gewinnt Kuglers sowohl geographisch als auch chronologisch breit angelegte Studie dadurch, dass er die mittelalterlichen Stadtbeschreibungen mit der stadtgeschichtlichen Entwicklung im deutschen Raum korreliert: Er geht davon aus, dass sich jenseits der Grenzen des versta¨dterten Imperium Romanum die in den Texten portra¨tierten urbanen Siedlungsstrukturen und Lebensformen u¨berhaupt erst herausbildeten – die literarischen Texte hatten also einen Gegenstand zum Thema, der selbst erst im Verlauf vom Fru¨h- zum Spa¨tmittelalter Gestalt annahm. Hartmut Kugler statuierte damit fu¨r das von ihm untersuchte Feld der Sta¨dtelobtexte und Stadtbeschreibungen, dass sich ein Bewusstsein fu¨r die qualitative Besonderheit der Stadt erst relativ spa¨t im Lauf der mittelalterlichen Stadtentwicklung artikuliert habe. Es verwundert daher nicht, dass die Zahl entsprechender Zeugnisse im Spa¨tmittelalter eklatant steigt.

des Mittelalters 88), Mu¨nchen u. a. 1986, S. 235–274. Zur Gattung der Reiseberichte vgl. Fouquet, Mit dem Blick des Fremden (wie Anm. 12). Zu Stadtbeschreibungen in autobiographischen Texten vgl. Pierre Monnet, Reale und ideale Stadt. Die oberdeutschen Sta¨dte im Spiegel autobiographischer Zeugnisse des Spa¨tmittelalters, in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europa¨ische Selbstzeugnisse als historische Quelle (1500–1850), hg. v. Kaspar von Greyerz/Hans Medick/ Patrice Veit (Selbstzeugnisse der Neuzeit 9), Ko¨ln 2001, S. 395–430. Zu diplomatischen Berichten vgl. Giorgio Chittolini, Le citta` tedesche in alcune scritture diplomatiche italiane del Cinquecento, in: Imago urbis. L’immagine della citta` nella storia d’Italia. Atti del convegno internazionale, Bologna 5.–7. September, hg. v. Francesca Bocchi/Rosa Smurra, Rom 2003, S. 323–349. 55 Mit dieser Skepsis zuletzt etwa Klaus Arnold, Sta¨dtelob und Stadtbeschreibung im spa¨teren Mittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, in: Sta¨dtische Geschichtsschreibung, hg. v. Johanek (wie Anm. 9), S. 247–268. S. dazu auch den Forschungsu¨berblick bei Kugler, Die Vorstellung der Stadt (wie Anm. 54), S. 17–25. 56 Kugler, Die Vorstellung der Stadt (wie Anm. 54), S. 6. S. auch Erich Kleinschmidt, Textsta¨dte – Stadtbeschreibungen im fru¨hneuzeitlichen Deutschland, in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400–1800, hg. v. Wolfgang Behringer/Bernd Roeck, Mu¨nchen 1999, S. 73–80.

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Speziell fu¨r diese Zeit sei hier daher noch eine dritte Quellengattung als bislang in der Forschung vernachla¨ssigtes Schriftmedium fu¨r die sta¨dtische Selbstvergewisserung herausgegriffen, die mit den volkssprachlichen Sta¨dtelobtexten nicht nur starke inhaltliche und formale Gemeinsamkeiten teilt, sondern zum Teil auch von denselben Autoren stammt: die politische Dichtung des spa¨ten Mittelalters in deutscher Sprache. Sie fristete lange Zeit ein Nischendasein zwischen den Disziplinen, da den Germanisten diese Texte als a¨sthetisch zu anspruchslos galten; von den Historikern wurden sie als literarisch eingestuft und daher in ihrer Glaubwu¨rdigkeit angezweifelt.57 ¨ berlieferungsproblem: Von diesen Texten ist heute nur noch Dazu kommt ein U die Spitze des Eisbergs zu fassen; viele Texte du¨rften niemals aufgeschrieben worden sein. Vor der Durchsetzung des Buchdrucks u¨berdauerten die Dichtungen meistens als Einschu¨be in Chroniken und Annalen – man billigte den Dichtungen also einen historischen Aussagewert zu. In ihrem urspru¨nglichen Gebrauchszusammenhang wa¨ren sie freilich weniger als Schrift- denn als „Menschmedien“ zu qualifizieren: Sie waren fu¨r den mu¨ndlichen Vortrag und als tagesaktuelles Informationsmedium gedacht. Es ist kein Zufall, dass es sich um Reimreden und Lieder handelt: Verse sind besser auswendig zu lernen als Prosa, noch leichter sind gesungene Strophen zu memorieren. Dass nicht der musikalische Genuss za¨hlte, wird daran deutlich, dass man fu¨r die Texte immer wieder dieselben Notenfolgen nutzte, sie hatten offenbar die Wirkung heutiger Erkennungsmelodien von Radio- und Fernsehsendungen. Inhaltlich geho¨ren diese Texte zur politischen Tendenzliteratur, unverhu¨llt und nicht selten aggressiv ergreifen sie Partei und verunglimpfen ihre Gegner. Damit sind sie eine ergiebige Quelle einerseits fu¨r das Thema innersta¨dtischer Unruhen, wie vor allem eine Heidelberger Studie von Peter Seibert zu Augsburg, Ko¨ln, Schweinfurt und Worms zeigte.58 Andererseits belegen sie eindrucksvoll die scharfen Stadt-Adels-

57 Fu¨r die bis heute maßgebliche Edition vgl. Rochus von Liliencron (Hg.), Die historischen Volkslie-

der der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, 4 Bde., Leipzig 1865–1869. S. auch Ulrich Mu¨ller (Hg.), Politische Lyrik des deutschen Mittelalters, 2 Bde., Go¨ppingen 1972 und 1974 (Go¨ppArbGerm 68 und 84); Thomas Cramer (Hg.), Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, 4 Bde., Mu¨nchen 1977–1985. Zur Analyse der Texte vgl. Meyer, Die Stadt als Thema (wie Anm. 15), S. 179–244; Sonja Kerth, Der landsfrid ist zerbrochen. Das Bild des Krieges in den politischen Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts (Imagines Medii Aevi 1), Wiesbaden 1997; Karina Kel¨ sthetik und Publizita¨t lermann, Abschied vom „historischen Volkslied“. Studien zu Funktion, A der Gattung historisch-politischer Ereignisdichtung (Herma¨a 90), Tu¨bingen 2000; Erich Strassner, Politische Relevanz „historischer Volkslieder“. Die Auseinandersetzungen zwischen der Reichsstadt Nu¨rnberg und den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach im Spiegel von Liedern und Spru¨chen, in: Formen mittelalterlicher Literatur. Festschrift fu¨r Siegfried Beyschlag zu seinem 65. Geburtstag, hg. v. Otmar Werner/Bernd Naumann (Go¨ppArbGerm 25), Go¨ppingen 1970, S. 229–246; Beate Rattay, Entstehung und Rezeption politischer Lyrik im 15. und 16. Jahrhundert. Die Lieder im Chronicon Helveticum von Aegidius Tschudi, Go¨ppingen 1986 (Go¨ppArbGerm 405). Zahlreiche Einzeluntersuchungen, oft als Vorarbeiten fu¨r die zweite Auflage des Verfasserlexikons, sind Frieder Schanze zu verdanken. 58 Peter Seibert, Aufstandsbewegungen in Deutschland 1476–1517 in der zeitgeno¨ssischen Reimliteratur (Reihe Siegen: Beitra¨ge zur Literatur- und Sprachwissenschaft 11), Heidelberg 1978; s. auch ein Lied aus Esslingen, ebd., S. 322–324, sowie Mainzer Beispiele bei Bernhard Menke, Geschichtsschreibung und Politik in deutschen Sta¨dten des Spa¨tmittelalters, in: JbKo¨lnGV 34/35 (1959/60), S. 85–194, hier S. 132–135.

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Konflikte im 15. und auch noch im 16. Jahrhundert: In den Texten aus Nu¨rnberg dominieren Klagen u¨ber gewaltsame Fehden mit dem Ritteradel, denen die Stadt oder einzelne ihrer Bu¨rger beinahe permanent ausgesetzt waren.59 Klaus Graf hat diese Konflikte als „Kalten Krieg“ bezeichnet, in dem beide Seiten nicht nur milita¨risch, sondern auch ideologisch aufru¨steten.60 Wie ernst die Konfliktpartner solche Angriffe auf ihren Leumund nahmen, offenbart in Nu¨rnberg die Welle an Zensurund Strafbescheiden in den Ratserla¨ssen, die damit heute ha¨ufig die einzigen Nachweise fu¨r die Existenz dieser Dichtungen sind.61

3.2. Bildmedien Der vielzitierte iconic turn hat die Aufmerksamkeit der Stadtgeschichtsforschung la¨ngst auch mit Nachdruck auf die bildlichen Darstellungen mittelalterlicher Sta¨dte gelenkt.62 Dieses Interesse entspricht modernen Sehgewohnheiten: Als Symbol mit hohem Wiedererkennungswert gilt heute ganz selbstversta¨ndlich die Silhouette der 59 Meyer, Die Stadt als Thema (wie Anm. 15), S. 192–202. 60 Klaus Graf, Feindbild und Vorbild. Bemerkungen zur sta¨dtischen Wahrnehmung des Adels, in: ZGO

141 (1993), S. 121–154, hier S. 126. 61 S. dazu Theodor Hampe, Archivalische Miszellen zur Nu¨rnberger Literaturgeschichte, in: MittV-

GNu¨rnberg 27 (1928), S. 251–278, und Meyer, Die Stadt als Thema (wie Anm. 15), S. 179–192. 62 Die Basis zur Erforschung der deutschen Stadtdarstellungen wurde versta¨rkt ab den achtziger Jahren

durch lokale Museen, Bibliotheken und Archive gelegt, die erstmals systematische Sammlungen zu einzelnen Sta¨dten publizierten. Fu¨r eine Zusammenstellung vgl. Frank-Dietrich Jacob, Bemerkungen zur bildhaften Kommunikation am Beispiel historischer Stadtdarstellungen, in: Die Stadt als Kommunikationsraum, hg. v. Bra¨uer (wie Anm. 26), S. 441–470, hier S. 443f. mit Anm. 7. Fu¨r 46 Portra¨ts ausgewa¨hlter deutscher Sta¨dte sowie vergleichende Einfu¨hrungen aus der Perspektive der Kunst-, Literatur-, Verfassungs-, Sozial- und allgemeinen Geschichte vgl. Das Bild der Stadt in der Neuzeit, hg. v. Behringer/Roeck (wie Anm. 56). Das Interesse an den Stadtveduten war anfangs davon gepra¨gt, Bildquellen fu¨r die Baugeschichte der Sta¨dte fruchtbar zu machen, die Erfolge der Mittelalterarcha¨ologie geben dieser Perspektive ihre Berechtigung, vgl. etwa Martina Stercken/Lotti Frascoli, Hu¨lle als Konzept. Konstruktion und Rekonstruktion von Stadtbildern, in: Die mittelalterliche Stadt erforschen – Archa¨ologie und Geschichte im Dialog, hg. v. Armand Baeriswyl u. a. (Schweizer Beitra¨ge zur Kulturgeschichte und Archa¨ologie des Mittelalters 36), Basel 2009, S. 181–192. Wie schon beim Schriftmedium Sta¨dtelob ist jedoch auch hier die Tendenz der Forschung nicht zu verkennen, „das Bild zur illustrativen Abbildung zu reduzieren und nicht dessen unverhandelbare Eigengesetzlichkeit anzuerkennen“. Zitat von Andreas Beyer, Wie kommt die Stadt ins Bild? Das Stadtbild zwischen Realienkunde und eigenem Recht, in: Stadtbilder und Denkmalpflege. Konstruktion und Rezeption von Bildern der Stadt, hg. v. Sigrid Brandt/Hans-Rudolf Meier (Stadtentwicklung und Denkmalpflege 11), Berlin 2008, S. 20–27, hier S. 23. Fu¨r viele deutsche Sta¨dte kam der Auftakt 1493 mit ihrer Aufnahme in die sog. Schedelsche Weltchronik, die gerade wegen ihrer Sta¨dteveduten aus der Werkstatt von Wilhelm Pleydenwurff in bibliophilen Nachdrucken weit verbreitet ist. Fu¨r einen ganz dem „Liber Chronicarum“ gewidmeten Katalog vgl. Werner Kreuer, Imago civitatis. Stadtbildsprache des Spa¨tmittelalters; Katalog [zur] Ausstellung der Dio¨zesan- und Dombibliothek Ko¨ln, vom 16. Nov.–17. Dez. 1993, Ko¨ln 1993. Das Gros der Studien setzt demnach erst mit der Neuzeit ein, in der auch erst die Tu¨r zur Disziplin der Topographie aufgestoßen werden sollte. Nur wenige Sta¨dte lohnen eigensta¨ndige media¨vistische Untersuchungen, eine Ausnahme ist Ko¨ln, fu¨r das die Forschung zwischen der fru¨hesten ‚realen‘ Stadtansicht von 1411 und der Epochenscheide 1500 18 Bilder zusammentrug. Vgl. Hugo Borger/Frank Gu¨nter Zehnder, Ko¨ln, die Stadt als Kunstwerk. Stadtansichten vom 15. bis 20. Jahrhundert, Ko¨ln 1982.

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Stadt, fotographisch abgebildet auf Postkarten und in Reisefu¨hrern, graphisch aufbereitet als charakteristische Skyline etwa fu¨r Logos und andere Formen des Corporate Design. Angesichts dieser offensichtlichen Repra¨sentationskraft solcher Bilder mag heute verwundern, dass sich die Entdeckung der ‚wirklichkeitstreuen‘ Stadtansicht erst im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts vollzog. Das hohe Mittelalter kannte, wie die Forschung in zahlreichen Studien herausgestrichen hat, nur formel- und abbreviaturhafte Darstellungen von Stadt mit Mauern, Tu¨rmen und Toren, die allgemein Stadt bedeuten, – und damit eine Architektursymbolik, die stark auf die JerusalemEbenbildlichkeit referierte.63 Erst ab dem 15. Jahrhundert sind – parallel zur Entdeckung des ‚authentischen‘ Personenportra¨ts – vermehrt Stadtdarstellungen zu finden, die eine konkrete Stadt vorstellen und eindeutig auf ihre Wiedererkennbarkeit rekurrieren. Auch auf diesen Fresken und Tafelbildern war die Stadt freilich ha¨ufig noch nicht das alleinige oder auch nur prima¨re Darstellungsziel. Meist schmu¨cken die Veduten lediglich den Bildhintergrund, etwa auf Altarbildern, auf denen der sta¨dtische Patron ins Bild gesetzt ist. Ein fru¨hes Beispiel dafu¨r ist der heilige Geminianus, der auf einer um 1400 datierten Tafel von Taddeo di Bartolo die nach ihm benannte Stadt San Gimignano in den Ha¨nden tra¨gt;64 fu¨r den deutschen Bereich ist als wohl prominentestes Beispiel eine ganze Serie mittelalterlicher Tafelbilder zur Legende der heiligen Ursula zu nennen, deren Martyrium vor den Toren Ko¨lns stattgefunden haben soll.65 Aber auch biblische, das heißt im fernen Heiligen Land lokalisierte Szenen wurden vor den Kulissen europa¨ischer Sta¨dte inszeniert: So platzierten die Maler die Kreuzigung Jesu auf dem Berg Golgatha nicht vor dem Panorama Jerusalems, sondern etwa vor Arezzo oder Bamberg. Dass damit die Stiftung sta¨dtischer Identita¨t u¨ber die wieder erkennbare Stadtansicht nicht automatisch als Intention der Zeitgenossen vorauszusetzen ist, zeigt insbesondere die Bamberger Tafel:66 In Auftrag gegeben wurde sie von einem Nu¨rnberger, dem Jerusalempilger und ehrbaren Ratsherrn Hans Tucher, der trotzdem nichts dagegen einwandte, dass der Maler nicht seine Heimatstadt, sondern das benachbarte Bamberg ins Bild hob. Weitaus wichtiger als der Hintergrund war ihm sicher der Vordergrund: Dort ist er selbst inmitten seiner ganzen Familie dargestellt, mit zwei bereits verstorbenen Ehefrauen und der lebenden, fu¨nf To¨chtern und vier So¨hnen. Keiner außer Hans Tucher besuchte wohl die Originalschaupla¨tze der Kreuzigung auf Golgatha. Aber auf Katzheimers Tafel waren sie ihnen zum Greifen nah. Die Tafel ist damit ein eindrucksvolles Beispiel fu¨r die Interpretation der Forschung, dass die 63 Vgl. Sergiusz Michalski, Vom himmlischen Jerusalem bis zu den Veduten des 18. Jahrhunderts – Sym-

bolik und Darstellungsparadigmen der Stadtprofilansichten, in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit, hg. v. Behringer/Roeck (wie Anm. 56), S. 46–55, hier S. 46f. 64 Abb. bei Andrew John Martin, Stadtmodelle, in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit, hg. v. Behringer/ Roeck (wie Anm. 56), S. 66–72, hier S. 67, Abb. 21. 65 Vgl. Borger/Zehnder, Ko¨ln, die Stadt als Kunstwerk (wie Anm. 62). 66 Lorenz Katzheimer, Tafelbild von 1485, Pfarrkirche St. Sebald in Nu¨rnberg, fu¨r eine Abb. vgl. Die ¨ lteren (1479–1480). Untersuchungen zur U ¨ berlieferung ‚Reise ins Gelobte Land‘ Hans Tuchers des A und kritische Edition eines spa¨tmittelalterlichen Reiseberichts, hg. v. Randall Herz, Wiesbaden 2002 (Wissensliteratur im Mittelalter 38), Abb. 29.

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Ausschmu¨ckung dieser religio¨sen Szenen mit identifizierbaren Stadthintergru¨nden den Betrachtern helfen sollte, sich das heilige Geschehen zu vergegenwa¨rtigen – mit sta¨dtischer Identita¨tsstiftung hat sie prima¨r nichts zu tun. Noch ein weiteres Nu¨rnberger Zeugnis belegt das lang anhaltende Desinteresse am imagebildenden Aspekt von Stadt- und Landschaftsveduten: die Aquarelle, in denen Albrecht Du¨rer um 1500 nicht nur Pla¨tze und Geba¨udeensemble seiner Heimatstadt und aus dem Nu¨rnberger Umland, sondern auch Reiseimpressionen portra¨tierte.67 Die moderne Forschung wu¨rdigt sie unisono als herausragende Innovationen.68 Fu¨r die zeitgeno¨ssische Welt blieben sie dagegen ohne Folgen: Du¨rer malte sie nur als Skizzen oder Fingeru¨bungen. Im Hintergrund seiner Gema¨lde und fu¨r den Verkauf gefertigten Holzschnitte dagegen sind lediglich Ideal- und Phantasielandschaften dargestellt. Trotz naturalistischer Details, die eine Identifizierung einzelner Bildteile ermo¨glichen – z. B. auf dem Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel“ von 1513 eine spiegelverkehrte Wiedergabe von Teilen der Nu¨rnberger Burg69 –, waren dem Ku¨nstler Sta¨dte und Pla¨tze als authentische Orte also gleichgu¨ltig. Zweifelsfrei der Kommunikation und Stiftung sta¨dtischer Identita¨t dienten dagegen die umfangreichen Bilderzyklen, mit denen in mehreren eidgeno¨ssischen Sta¨dten, aber auch in der Reichsstadt Augsburg spa¨tmittelalterliche Stadtchroniken ausgestattet wurden.70 Repra¨sentativ sollten sie die bedeutsamsten im Text fixierten Ereignisse der Stadtgesellschaft von den Urspru¨ngen bis zur Gegenwart illustrieren. In den letzten Jahren versta¨rkt ins Zentrum geru¨ckt sind insbesondere die prachtvollen Handschriften, die zur Chronographia Augustensium des Sigmund Meisterlin erhalten sind. Sie wurden als solche Verkaufsschlager erachtet, dass sie sogar zwei Mal, einmal im spa¨ten 15. und einmal im fru¨hen 16. Jahrhundert, gedruckt wurden. Schon vor diesen Bilderzyklen auf Papier sind fu¨r Augsburg auch Wandfresken mit Szenen aus der Stadtgeschichte fu¨r die erste Ha¨lfte des 15. Jahrhunderts nachweisbar, wie fu¨r

67 Fu¨r Literatur u¨ber identifizierbare Darstellungen rund um Du¨rers Heimatstadt Nu¨rnberg vgl. Meyer,

Die Stadt als Thema (wie Anm. 15), S. 37, Anm. 82. 68 S. Jan Simane, Die Welt im Bild – Sta¨dte- und Landschaftsdarstellungen im 16. und 17. Jahrhundert,

in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit, hg. v. Behringer/Roeck (wie Anm. 56), S. 56–65, bes. S. 56–58, Zitat S. 58. 69 Vgl. Fridolin Dressler, Nu¨rnbergisch-Fra¨nkische Landschaften bei Albrecht Du¨rer. Ein Verzeichnis bestimmbarer Darstellungen, in: MittVGNu¨rnberg 50 (1960), S. 258–270, hier S. 262, Nr. 1c. S. auch Meyer, Die Stadt als Thema (wie Anm. 15), S. 37f. mit Anm. 83. 70 Vgl. Norbert H. Ott, Zum Ausstattungsanspruch illustrierter Sta¨dtechroniken. Sigismund Meisterlin und die Schweizer Chronistik als Beispiele, in: Poesis et Pictura. Studien zum Verha¨ltnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken. Festschrift fu¨r Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag, hg. v. Stephan Fu¨ssel/Joachim Knape (Saecula Spiritalia. Sonderbd.), Baden-Baden 1989, S. 77–106. Zu den Schweizer Chroniken: Regula Schmid, Turm, Tor, Reiterbild. Ansichten der Stadt in Bilderchroniken des Spa¨tmittelalters, in: Stadtbilder der Neuzeit. Die europa¨ische Stadtansicht von den Anfa¨ngen bis zum Photo. 42. Arbeitstagung des Su¨dwestdeutschen Arbeitskreises fu¨r Stadtgeschichte in Zu¨rich vom 14.–16. November 2003, hg. v. Bernd Roeck u. a. (Stadt in der Geschichte 32), Ostfildern 2006, ´ gota Pataki: Bilder schaffen Identita¨t – Zur KonstrukS. 65–83, bes. S. 67–72. Zu Augsburg vgl. Zita A tion eines sta¨dtischen Selbstbildes in den Illustrationen der Augsburger Chronik Sigismund Meisterlins 1457–1480, in: Identita¨t und Krise? Zur Deutung vormoderner Selbst-, Welt- und Fremderfahrung, hg. v. Christoph Dartmann/Carla Meyer (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 17), Mu¨nster 2007, S. 99–117.

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das Wohnhaus des mehrmaligen Bu¨rgermeisters Peter Egen, sie sind nur leider nicht erhalten.71 Als zweiter, noch prominenterer Bild-Typus zur Vermittlung sta¨dtischer Identita¨t ko¨nnen die monumentalen Wandmalereien gelten, die sowohl Kirchenbauten als auch profane Repra¨sentationsbauten schmu¨ckten. Als besonderer Symbolort der sta¨dtischen universitas sei hier nur das Rathaus herausgegriffen, das immer wieder Gegenstand von Studien wurde.72 Im Norden Italiens haben sich herausragende Beispiele schon fu¨r das 13. Jahrhundert, z. B. in Mailand oder Ancona, erhalten.73 Sowohl biblische Exempla als auch komplexe Allegorien sollten die in den Palazzi tagenden Ra¨te und Kommissionen an ihre Pflichten erinnern. Als eines der Schlu¨sselwerke kommunaler Kunst gilt der Forschung das vielbeschriebene Sieneser Fresko, das Ambrogio Lorenzetti in den 1330er Jahren fu¨r den großen Ratssaal im zweiten Stockwerk des Palazzo Pubblico schuf.74 An der Schmalseite des Raumes thront eine ma¨nnliche Figur, die wohl das Gute Regiment bzw. das Gemeinwohl vorstellt, aber auch als Personifikation der Stadt Siena selbst gedeutet werden kann. Die Darstellung spiegelt damit wieder, was sich auf den Ba¨nken des Raumes realiter abspielte: Dort traten die erho¨ht thronenden Entscheidungstra¨ger – Siena wurde zwischen 1287 und 1355 vom Rat der Neun regiert – unterstu¨tzt von Rechtsgelehrten zu ihren Beratungen zusammen.

3.3. Sachobjekte als Medien Die Architektur im Stadtraum bot allerdings noch mehr Medien zur sta¨dtischen Vergewisserung und Vergemeinschaftung als Wandmalereien. Als eindrucksvolle Manifestationen von Geschichtspolitik hat die Forschung die denkmalhafte Setzung von Inschriften etwa zu Schlachtensiegen oder anderen Bewa¨hrungsproben der sta¨dtischen communitas hervorgehoben, wie sie zuerst im fru¨hkommunalen Italien schon ab dem spa¨ten 11. Jahrhundert an den Fassaden von Kirchen, Kommunalpala¨sten und 71 Dieter Weber, Geschichtsschreibung in Augsburg. Hektor Mu¨lich und die reichssta¨dtische Chronistik

des Spa¨tmittelalters (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 30), Augsburg 1984, S. 35.

72 Vgl. etwa Matthias Ohm, „Darna geyt de rad vppe de loewene, vnde de borghermester secht to dem

volke von der loewene“. Das Rathaus als Ort der Kommunikation im spa¨tmittelalterlichen Braunschweig, in: Kommunikation im Spa¨tmittelalter, hg. v. Gu¨nthart/Jucker (wie Anm. 7), S. 53–64; Christopher R. Friedrichs, Das sta¨dtische Rathaus als kommunikativer Raum in europa¨ischer Perspektive, in: Kommunikation und Medien der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (HZ, Beih. 41), Mu¨nchen 2005, S. 159–174; Bernd Roeck, Rathaus und Reichsstadt, in: Stadt und Repra¨sentation, hg. v. Kirchga¨ssner/Becht (wie Anm. 32), S. 93–114. 73 Vgl. Dieter Blume, Zur Entstehung und Entwicklung einer politischen Bildersprache in den italienischen Kommunen, in: Repra¨sentationen in der mittelalterlichen Stadt, hg. v. Oberste (wie Anm. 20), S. 109–127. 74 In kaum einem Sammelband zu sta¨dtischen Identita¨ten fehlt ein Beitrag zu diesen Fresken, s. etwa Maria Monica Donato, Il princeps, il giudice, il „sindacho“ e la citta`. Novita` su Ambrogio Lorenzetti nel Palazzo Pubblico di Siena, in: Imago urbis, hg. v. Bocchi/Smurra (wie Anm. 54), S. 389–416; ¨ ber die Aufgaben von historischer Erinnerung in der Henrike Haug, Preteritum, Praesens, Futurum. U Gegenwart der Kommune Siena, in: Repra¨sentationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. Oberste (wie Anm. 20), S. 165–178, mit einer Literaturauswahl auf S. 165f., Anm. 2.

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Stadttoren zu finden waren. Besonders fru¨h und dicht wurde ein Netz solcher programmatischer Inschriften u¨ber das Pisa des 11. und 12. Jahrhunderts gespannt, wie der Historiker Marc von der Ho¨h in einer Texte wie Artefakte gleichermaßen in den Blick nehmenden Untersuchung zur Pisaner Erinnerungskultur nachwies.75 Wie von der Ho¨h zugleich zeigte, wurden die Inschriften in Pisa allen voran am Dom zudem von Spolien und Tropha¨en flankiert, deren Funktion und Bedeutung auch im Zentrum der kunsthistorischen Studie von Rebecca Mu¨ller u¨ber das Genua des 12. bis 15. Jahrhunderts steht.76 Beide Arbeiten verschieben den Fokus von der bis dato vorherrschenden ikonologischen oder formala¨sthetischen Betrachtung der Spolien auf ihre historische Verweisfunktion: Nach ihren Thesen mu¨ssen sie als dem Feind geraubte, materielle Zeichen des Sieges verstanden werden. Die Auftraggeber wollten mit ihrer Sichtbarmachung im sta¨dtischen Raum historische Ereignisse in der kollektiven Erinnerung fixieren. So erinnern in beiden Sta¨dten verschiedene Beutestu¨cke an die Bezwingung der Muslime – in Pisa wird diese Deutung besta¨tigt durch historiographische Parallelu¨berlieferung, in Genua wird sie plausibel durch flankierende pitture trionfali. Im 13. und 14. Jahrhundert wurden Genueser Tropha¨en schließlich auch zunehmend mit Inschriften erga¨nzt, die ihre Herkunft erkla¨rten und die Verweisfunktion nun sogar explizit machten. Fu¨r die Sta¨dte no¨rdlich der Alpen ist eine solche ausgepra¨gte Kultur heute materiell nicht mehr fassbar. Entsprechende Zeugnisse dort scheinen weitgehend ephemer gewesen zu sein, wie wir aus schriftlichen Quellen wissen: Eine a¨hnliche Denkmalsfunktion wie den Spolien kam Fahnen und Bannern zu;77 zu jedem Schlachtenbericht geho¨rte die Nachricht ihrer Eroberung bzw. glu¨cklichen Heimfu¨hrung; auch die Aufbewahrung und o¨ffentliche Ausstellung dieser Herrschaftszeichen in den Kirchen oder Ratha¨usern bzw. ihre spa¨tere Entfernung als Akt des ostentativen Vergessens etwa bei Friedensschlu¨ssen wurde aufmerksam registriert. Der große Aufwand fu¨r die Ru¨ckgewinnung verlorener Banner weist auf ihre zentrale Rolle fu¨r die Ehre der Tra¨ger hin. Schon die Zeitgenossen ka¨mpften daher mit dem Problem ihrer mangelnden Haltbarkeit: Wie Regula Schmid am Beispiel der Fahnen aus der Schlacht bei Sempach in der Luzerner Franziskanerkirche zeigen konnte, entschied man noch im

75 Marc von der Ho ¨ h, Erinnerungskultur und fru¨he Kommune. Formen und Funktionen des Umgangs

mit der Vergangenheit im hochmittelalterlichen Pisa (1050–1150) (Hallische Beitra¨ge zur Geschichte des Mittelalters und der Fru¨hen Neuzeit 3), Berlin 2006. 76 Rebecca Mu ¨ ller, Sic hostes Ianua frangit. Spolien und Tropha¨en im mittelalterlichen Genua (Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte 5), Weimar 2002, bes. Kap. 2 u¨ber „Die Stadt und ihre Tropha¨en“, S. 47–106; fu¨r weitere Literatur s. S. 13, Anm. 1–4. 77 Vgl. dazu Regula Schmid, Fahnengeschichten. Erinnern in der spa¨tmittelalterlichen Gemeinde, in: traverse 1 (1999), S. 39–48. Auch in Italien kam Fahnen eine vergleichbare Bedeutung zu: Vgl. Christoph Friedrich Weber, Zeichen der Ordnung und des Aufruhrs. Heraldische Symbolik in italienischen Stadtkommunen des Mittelalters (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Ko¨ln/Weimar/ Wien 2011. Nur erwa¨hnt sei hier, dass Wappen, materialisiert nicht nur auf Fahnen, sondern auch auf Siegeln, in Stein oder als Miniatur, sich ebenso plausibel wie diese einzelnen Tra¨gerstoffe auch als Medien bezeichnen ließen. S. dazu Ludwig Biewer, Wappen als Tra¨ger von Kommunikation im Mittelalter. Einige ausgewa¨hlte Beispiele, in: Medien der Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Spiess (wie Anm. 36), S. 139–154.

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15. Jahrhundert, die bru¨chigen Originale in den Wasserturm zum sta¨dtischen Archivgut und Schatz zu legen und in der Kirche selbst durch Leinwandkopien zu ersetzen. Als die Kopien ebenfalls zerfielen, ersetzte man sie im 17. Jahrhundert durch Fresken.78 Fahnen besaßen also, wie diese Beispiele illustrieren, neben ihrer prima¨ren milita¨rischen Bedeutung auch eine weithin wahrgenommene identita¨tsstiftende Wirkung. Diese Doppelfunktion teilten sie mit weiteren Sachobjekten: Zu denken ist hier etwa an die sta¨dtischen Mu¨nzen, die mit ihrem Mu¨nzbild nicht nur einen bestimmten Geldwert garantierten, sondern zugleich Kennzeichen der Stadt waren. Gleiches gilt fu¨r die sta¨dtischen Siegel, die fu¨r den mittel- und su¨deuropa¨ischen Raum des Mit¨ berlieferung, so hat die telalters zu Abertausenden erhalten sind. Der Beginn ihrer U reiche Forschung zu ihnen belegt, korreliert mit der allma¨hlichen Emanzipation der Bu¨rgerschaft aus der Herrschaft ihrer jeweiligen Stadtherren.79 Als Motiv auf den fru¨hen Siegeln findet sich meist entweder eine Stadtabbreviatur mit stilisierten Mauern und Geba¨uden – so etwa fu¨r Trier und Ko¨ln schon im 12. Jahrhundert – oder bzw. und die Darstellung der Stadtheiligen.80 Welches Selbstbewusstsein aus ihnen spricht, hat Ruth Wolff in einem Beitrag u¨ber Siegelbilder italienischer Sta¨dte an einem Beispiel zur Stadt Reggio Emilia im fru¨hen 14. Jahrhundert demonstriert: Abgebildet sind die Stadtheiligen Prosperus und Giovanni Crisostomo, die ein Banner mit einem Kreuz auf leerem Grund tragen. Es handelt sich dabei um das Banner der Societas S. Prosperi, die der populus und die artes der Stadt Reggio geschlossen hatten. 1306 war es dieser Societas gelungen, die Fremdherrschaft der Este abzuschu¨tteln. Ihr aus diesem Sieg gewonnenes Selbstbewusstsein spiegelt sich auch in der Siegelumschrift: „Der Popolo von Reggio gibt mit diesen Schriften seine Stimme ab“. In der Tat musste jedes wichtige o¨ffentliche Schriftstu¨ck vom Consiglio generale sanktioniert und mit diesem Siegel autorisiert werden.81 Gemeinsam war den Auftraggebern der Siegel somit die Absicht, ein repra¨sentatives Beglaubigungsmittel fu¨r ihre Stadt zu schaffen, das sowohl fu¨r die Bu¨rger

78 Vgl. Schmid, Fahnengeschichten (wie Anm. 77), S. 42. 79 Vgl. Artur Dirmeier, Mit Brief und Siegel. Beglaubigungsmittel an Donau und Rhein, in: Repra¨sen-

tationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. Oberste (wie Anm. 20), S. 193–212, hier S. 193. S. im selben Band Ruth Wolff, Descriptio civitatis. Siegel-Bilder und Siegel-Beschreibungen italienischer Sta¨dte des Mittelalters, in: ebd., S. 129–144. Siegel fehlen in keinem der Ba¨nde zu sta¨dtischen Identita¨ten. S. auch Silvia Neri, Fra immagine e simbolo. Sigilli ed armi araldiche fra medioevo ed eta` moderna, in: Imago urbis, hg. v. Bocchi/Smurra (wie Anm. 54), S. 519–539; Alois Niedersta¨tter, Das Stadtsiegel. Medium kommunaler Selbstdarstellung. Eine Anna¨herung anhand von Beispielen aus dem habsburgisch-o¨sterreichischen Alpen- und Donauraum, in: Bild und Wahrnehmung der Stadt, hg. v. Opll (wie ˇ Siegel erza¨hlen – Fallbeispiel: Mittelalterliche Sta¨dte auf Anm. 12), S. 143–156, und Darja Mihelic, slowenischem Gebiet, in: ebd., S. 97–117. Vgl. auch monographische Werke, z. B. Volker Steck, Das Siegelwesen der su¨dwestdeutschen Reichssta¨dte im Mittelalter (EsslingerStudS 12), Esslingen 1994, und die Handbuchliteratur zu Siegeln, so die Beitra¨ge in: Das Siegel. Gebrauch und Bedeutung, hg. v. Gabriela Signori, Darmstadt 2007. 80 S. dazu auch Peter Johanek, Die Mauer und die Heiligen – Stadtvorstellungen im Mittelalter, in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit, hg. v. Behringer/Roeck (wie Anm. 56), S. 26–38, mit Beispielen auf S. 32 und 34f. 81 Vgl. Wolff, Descriptio civitatis (wie Anm. 79), S. 134f.

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als auch fu¨r auswa¨rtige Urkundenempfa¨nger einen Wiedererkennungswert besaß. Der nachhaltige Erfolg dieser Absichten, so Artur Dirmeier, zeigt sich nicht zuletzt an der Nutzung der Siegelbilder bis heute fu¨r Beho¨rdenstempel oder Logos.82 Wa¨hrend Siegel wie auch Mu¨nzen oder Fahnen bis heute als Herrschaftszeichen und Symbole von Gemeinschaft bekannt sind und erkannt werden, muss dies nicht auf alle Sachobjekte mit identita¨tsstiftender Funktion zutreffen. Weitgehend vergessen ist etwa die Symbolwirkung der sta¨dtischen Glockentu¨rme. Von ihnen wurden im Hoch- und Spa¨tmittelalter nicht nur die Marktzeiten geregelt, die Sperrstunde verku¨ndet, die Ratsherren zur Sitzung gerufen oder bei Feuer alarmiert. In verschiedenen europa¨ischen Regionen waren sie zugleich stolze Wahrzeichen sta¨dtischer Selbsta¨ndigkeit: Nicht von ungefa¨hr kommt der Begriff des in den norditalienischen Kommunen virulenten campanilismo – als starke Identifizierung mit der eigenen Stadt und Region zu u¨bersetzen – vom Begriff des Campanile, einem freistehenden Glockenturm, wie er sich an oberitalienischen Kirchen schon seit dem Fru¨hmittelalter findet.83 Im fla¨mischen Bereich trug er den Namen des Belfrieds. In sta¨dtischen Aufsta¨nden spielten diese Belfriede ha¨ufig eine zentrale Rolle, wie der belgische Stadthistoriker Jelle Haemers zeigen konnte. Er bezeichnet die Glocken als „the voice of power, a vital medium to mobilize the masses. [...] The bells gave voice to collective anger, as its loud and dominant ringing filled the air with emotional tension.“84 Auch auswa¨rtige Ma¨chte wussten um die Bedeutung der Belfriede. Wurde die Stadt erobert, war es daher konsequent, den Belfried zu zersto¨ren. Das von Alfred Haverkamp gepra¨gte Diktum „Ohne Glocke keine Gemeinde“ ist zugleich nicht erst moderne Interpretation, sondern findet sich auch schon in mittelalterlichen Quellen formuliert.85 Eine a¨hnliche Bedeutung der sta¨dtischen Glocken konnte Claudia Garnier auch fu¨r die o¨stliche Peripherie Europas nachweisen, fu¨r die Veˇce-Republiken, zu denen seit dem 14. Jahrhundert auch die Stadt Novgorod za¨hlte.86 Das Veˇce bezeichnete eine Versammlung zur Beratung politischer und administrativer Fragen; dazu einberufen wurden die Novgoroder Bu¨rger durch das La¨uten einer Glocke, die im VeˇceTurm untergebracht war. Wie Garnier zeigen konnte, wurden diese Glocken in den Auseinandersetzungen mit dem Moskauer Großfu¨rsten Ivan III. in den 1470er Jahren geradezu als Symbol fu¨r das politisch unabha¨ngige Novgorod verstanden. Im

82 Vgl. Dirmeier, Mit Brief und Siegel (wie Anm. 79), S. 192. 83 Vgl. Gu¨nther Binding, Art. Campanile, in: LexMA 2, Stuttgart u. a. 1983, Sp. 1420, und oben Anm. 21. 84 Jelle Haemers, A moody community? Emotion and Ritual in Late Medieval Urban Revolts, in: Emo-

tions in the Heart of the City (14th–16th century), hg. v. Elodie Lecuppre-Desjardin/Anne-Laure van Bruaene (Studies in European Urban History (1100–1800) 5), Woodbridge 2005, S. 63–81, hier S. 72. 85 Vgl. Alfred Haverkamp, „... an die große Glocke ha¨ngen“. U ¨ ber O ¨ ffentlichkeit im Mittelalter, in: Jahrbuch des historischen Kollegs (1995), S. 71–112; Frank G. Hirschmann, Die Stadt im Mittelalter (Enzyklopa¨die deutscher Geschichte 84), Mu¨nchen 2009, S. 86. 86 Vgl. Claudia Garnier, Rituale der Ehre. Die Inszenierung der Herrschaft im spa¨tmittelalterlichen Moskauer Adel, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 2, URL: (28. Juli 2011), bes. Abschnitt 17–46. S. auch Haverkamp, „... an die große Glocke ha¨ngen“ (wie Anm. 85).

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August 1471 hatte Ivans Unternehmen mit einem milita¨rischen Triumph u¨ber Novgorod geendet. Als o¨ffentlichkeitswirksames Zeichen dafu¨r, dass die Handelsmetropole damit ihre Autonomie vollsta¨ndig einbu¨ßte, ließ Ivan die Veˇce-Glocke nach Moskau u¨berfu¨hren. Das Beispiel Novgorods macht deutlich, welche Symbolkraft ein Sachgegenstand des ta¨glichen Lebens fu¨r die Selbstvergewisserung und das Selbstbewusstsein einer Stadtgemeinde zu entwickeln vermochte. An den Glocken selbst – wenn sie erhalten sind – ist diese Bedeutung und mediale Wirkung freilich nicht abzulesen; dasselbe gilt ebenso fu¨r Spolien, Tropha¨en, Fahnen, Mu¨nzen oder Siegel. Von sich aus schweigen die Objekte: Nur per Analogieschluss auf der Basis schriftlicher Quellen – so hat daher Volker Depkat statuiert – ist heute noch der situative Kontext, in dem die Sachgegensta¨nde als Medien der Kommunikation wirkten, zu erschließen.87 Angesichts der Unsicherheiten bei der Deutung von Texten in ihrer Funktion fu¨r kollektive mentale Verfasstheiten bleibt jedoch fraglich, ob dieses methodische Problem letztlich nicht fu¨r alle Versuche gilt, von Quellenbefunden auf Identita¨ten zu schließen.

3.4. „Menschmedien“ Schon in den vorangegangenen Kapiteln standen nicht nur konkrete Relikte der Vergangenheit – Texte, Bilder, Gegensta¨nde mit Symbolcharakter – im Fokus, in bzw. mit denen kollektive Identita¨ten zum Ausdruck gebracht werden konnten. Es wurden auch die o¨ffentlichen Praktiken – etwa die o¨ffentliche Lesung aus der Stadtchronik – thematisiert, in die sie eingebunden waren und die ihre identita¨tsstiftende Intention u¨berhaupt erst belegen bzw. zum Tragen brachten. Wenn den Praxen bzw. Praktiken hier trotzdem ein eigenes Kapitel gewidmet sein ¨ berschrift Faulstichs Begriffspra¨gung der „Menschmedien“ erscheint, soll und als U so ist dies erstens der Erkenntnis geschuldet, wie stark in oral gepra¨gten Gesellschaften der menschliche Ko¨rper und sein kalkulierter Einsatz zum Medium werden konnte.88 Zweitens sind u¨ber den Fokus auf einzelne bedeutende Artefakte – seien sie uns u¨berliefert oder aus schriftlichen Zeugnissen bekannt – nur Ausschnitte aus der reichen und komplexen Kultur der Inszenierungen, Rituale und Zeremonien zu erschließen, mit denen sich die sta¨dtischen Gemeinschaften ihrer selbst vergewisserten und Gruppenzugeho¨rigkeiten demonstrierten. Als Pionierstudien zum rituellen Leben der Sta¨dte gelten die Arbeiten von Edward Muir und Richard Trexler u¨ber Venedig und Florenz zwischen Spa¨tmittelalter und Renaissance, die explizit die Frage nach der Identita¨t der Stadtgesellschaften stellen. Sie teilten bereits die Grundannahme, dass Rituale gerade fu¨r das politische Leben der Sta¨dte zentrale Funktionen

87 Vgl. Depkat, Kommunikationsgeschichte (wie Anm. 41), S. 37. Fu¨r die fla¨mischen Belfriede ist die

identita¨tsstiftende Wirkung auch durch Siegelbilder bezeugt, vgl. Raymond van Uytven, Fla¨mische Belfriede und su¨dniederla¨ndische Bauwerke im Mittelalter. Symbol und Mythos, in: Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden, hg. v. Alfred Haverkamp (SHistKoll, Kolloquien 40), Mu¨nchen 1998, S. 125–159, hier S. 144. 88 Vgl. Anm. 52.

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erfu¨llten, weil die Verfassung der Gemeinwesen und ihre Identita¨t vor allem in der Performanz erfahrbar war oder durch sie sogar erst hervorgebracht wurde.89 Nicht mehr betont werden muss, dass Rituale dabei keineswegs als allein traditionsgeleitete, irreflexive, mit der Aura des Magischen umgebene Praxis verstanden werden du¨rfen. Wie vor allem Gerd Althoff in vielen Studien herausgestellt hat, werden Rituale als ha¨ufig sorgsam geplante, im Vorfeld zwischen den Interaktionsteilnehmern genau verhandelte Verfahren greifbar;90 als Beispiel fu¨r den sta¨dtischen Kontext sei hier nur auf die Forschungen zur rituellen Ausgestaltung von Friedensschlu¨ssen verwiesen.91 Wie hoch in der Vormoderne religio¨se Bindekra¨fte zu veranschlagen sind, zeigt der Kult um Stadtpatrone, der fu¨r die sta¨dtische Selbstvergewisserung in einer Vielzahl von Studien sowohl zu Italien, zu Frankreich als auch zu Deutschland in den Blick genommen worden ist.92 Noch bevor sich der ro¨misch-rechtliche Gedanke der universitas im Rechtsleben als Vorla¨ufer der ‚juristischen Person‘ durchsetzen konnte, u¨bernahm der Stadtheilige diese Funktion. Er galt als Tra¨ger der sta¨dtischen

89 Richard C. Trexler, Public Life in Renaissance Florence, New York 1980; Edward Muir, Civic Ritual

in Renaissance Venice, Princeton 1981. Vgl. auch Philipp Braunstein/Christiane Klapisch-Zuber, Florence and Venise, les rituels publics a` l’e´poque de la Renaissance, in: Annales. E´conomies, Socie´te´s, Civilisations 38,5 (1983), S. 1110–1124. Zu den Gru¨nden der verzo¨gerten deutschen Rezeption vgl. Jo¨rg Rogge, Stadtverfassung, sta¨dtische Gesetzgebung und ihre Darstellung in Zeremoniell und Ritual in deutschen Sta¨dten vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Aspetti e componenti dell’ identita` urbana, hg. v. Chittolini/Johanek (wie Anm. 19), S. 193–226. Neben Studien zu einzelnen Sta¨dten s. auch den vergleichenden Zugriff etwa bei Gerrit Schenk, Der Einzug des Herrschers. ‚Idealschema‘ und Fallstudie zum Adventuszeremoniell fu¨r ro¨misch-deutsche Herrscher in spa¨tmittelalterlichen italienischen Sta¨dten zwischen Zeremoniell, Diplomatie und Politik (Edition Wissenschaft, Reihe Geschichte 13), Marburg 1996; ders., Zeremoniell und Politik. Herrschereinzu¨ge im spa¨tmittelalterlichen Reich (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Bo¨hmer, RegImp 21), Ko¨ln u. a. 2003; Elodie Lecuppre-Desjardin, La ville des ce´re´monies. Essai sur la communication politique dans les anciens Pays-Bas bourguignons, Turnhout 2004. 90 Vgl. etwa Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; ders., Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt 2003. 91 Christoph Dartmann, Medien in der sta¨dtischen O ¨ ffentlichkeit. Innere Friedensschlu¨sse in den italienischen Kommunen des Mittelalters, in: Friedensschlu¨sse. Medien und Konfliktbewa¨ltigung vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, hg. v. Bent Jo¨rgensen/Raphael Krug/Christine Lu¨dke, Augsburg 2008 (Documenta Augustana 18), S. 23–53. 92 Vgl. etwa Peter Johanek, Die Mauer und die Heiligen (wie Anm. 80); Christoph Dartmann, Der Stadtpatron in der kollektiven Identita¨t des fru¨hkommunalen Italiens: Mailand und Florenz, in: Patriotische Heilige. Beitra¨ge zur Konstruktion religio¨ser und politischer Identita¨ten in der Vormoderne, hg. v. Dieter R. Bauer/Gabriela Signori (Beitra¨ge zur Hagiographie 5), Stuttgart 2007, S. 179–192; Ernst Voltmer, Leben im Schutz der Heiligen. Die mittelalterliche Stadt als Kult- und Kampfgemeinde, in: Die Okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugeho¨rigkeit in Antike und Mittelalter, hg. v. Christian Meier, Mu¨nchen 1994, S. 213–242; Toni Diederich, Stadtpatrone an Rhein und Mosel, in: RhVjbll 58 (1994), S. 25–86; Wilfried Ehbrecht, Die Stadt und ihre Heiligen. Aspekte und Probleme nach Beispielen west- und norddeutscher Sta¨dte, in: Vestigia Monasteriensia. Westfalen – Rheinland – Niederlande, hg. v. Ellen Widder (Studien zur Regionalgeschichte 5), Bielefeld 1995, S. 197–257; Klaus Graf, Maria als Stadtpatronin in deutschen Sta¨dten des Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit, in: Fro¨mmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, ko¨rperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus Schreiner, Mu¨nchen 2002, S. 125–154.

‚City branding‘ im Mittelalter?

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Rechte und Wa¨chter u¨ber die sta¨dtische Rechts- und Friedensordnung, er repra¨sentierte das Gemeinwesen, das sich in seinem Kult zur Einheit verdichtet – kurz, er wurde als Emanation des Abstraktums Stadt verstanden.93 Beim spa¨tmittelalterlichen Kult des Stadtpatrons handelte es sich vor allem um eine Angelegenheit der Bu¨rger, also um eine religio¨se Beta¨tigung von Laien, so zeigte Diana Webb fu¨r die norditalienischen Sta¨dte an einer Fu¨lle von Beispielen.94 In den Statuten waren nicht nur die o¨ffentlichen Festtage festgelegt, an denen alle Arbeiten zu ruhen hatten, sondern auch die Gaben, die dem Stadtpatron an diesen Tagen zu leisten waren. Dabei mussten nicht nur einzelne Bu¨rger eine Kerze darbringen, auch die Stadtviertel und die unterworfenen Territorien des Contado mussten ein Opfer leisten und so ihre Zugeho¨rigkeit zur und Abha¨ngigkeit von der Stadt zum Ausdruck zu bringen. Schließlich finden sich auch Anordnungen u¨ber die Prozessionen am Festtag des Stadtpatrons. Sie regelten nicht nur, welche Reliquien und Fahnen mitzufu¨hren waren, sondern auch, in welcher Reihenfolge sich die Teilnehmer in die Prozession einreihen mussten. Wie die Forschung inzwischen vielfach an langwierigen Konflikten um die Rangfolge veranschaulicht hat, sah man in dieser Ordnung die soziale und politische Struktur der Stadt gespiegelt.95

4. Resu¨mee

Die Fu¨lle an Material, das die Forschung erschlossen hat und das hier zumindest kursorisch vorgestellt werden sollte, la¨sst die sta¨dtischen Eliten als ‚ausgefuchste Marketing-Strategen‘ erscheinen. So multimedial wie hier vorgefu¨hrt gestaltete sich das ‚city branding‘ allerdings in keiner der mittelalterlichen Sta¨dte – ein Blick in einzelne Sta¨dte ergibt vielmehr ha¨ufig einen ernu¨chternden Befund (und er wird noch erheb¨ berlieferungschancen der identilich verscha¨rft durch die sehr unterschiedlichen U ta¨tsstiftenden Medien). Traditionell hat die Forschung vor allem fu¨r Einzelmedien (etwa fu¨r die Bild- und Bauprogramme der Ratha¨user)96 herausgearbeitet, was die Sta¨dte voneinander u¨bernahmen, wa¨hrend das Wechselspiel verschiedener Medien, ihre Interferenzen erst in ju¨ngeren Studien vermehrt in den Blick geraten.97 Nur vereinzelt wurde bislang

93 Vgl. Hans-Ju¨rgen Becker, Defensor et patronus. Stadtheilige als Repra¨sentanten einer mittelalterli-

chen Stadt, in: Repra¨sentationen der mittelalterlichen Stadt, hg. v. Oberste (wie Anm. 20), S. 45–63, hier S. 57. 94 Diana Webb, Patrons and defenders. The saints in the Italian city-states (International library of historical studies 4), London 1996. 95 Becker, Defensor et patronus (wie Anm. 93), S. 60f. 96 S. etwa Stephan Albrecht, Die Lauben als Mittel der Repra¨sentation in den Ratha¨usern des su¨dlichen Ostseeraums, in: Aspetti e componenti dell’identita` urbana, hg. v. Chittolini/Johanek (wie Anm. 19), S. 227–247. 97 Fu¨r gattungsu¨bergreifende Zugriffe auf die sta¨dtische Geschichtspolitik vgl. etwa Peter Johanek, Geschichtsschreibung und Geschichtsu¨berlieferung in Augsburg am Ausgang des Mittelalters, in:

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Carla Meyer

bemerkt, dass sich zum Teil verblu¨ffende Leerstellen und ‚blinde Flecken‘ ergaben: Warum zum Beispiel gaben die Nu¨rnberger beim Augsburger Chronisten Sigmund Meisterlin ebenfalls eine Stadtchronik in Auftrag und holten ihn dazu in ihre Stadt, ließen sich von der Bilderflut in Meisterlins Augsburger Chronik dagegen gar nicht inspirieren? Warum entwickelten einige der bedeutendsten Sta¨dte wie etwa Frankfurt am Main vor dem 16. Jahrhundert u¨berhaupt keine nennenswerte Geschichtsschreibung?98 Vorsicht bleibt schließlich auch immer angebracht beim Urteil u¨ber die Intentionen der Identita¨tsstifter: Viele Quellen, die in der modernen Forschung fu¨r das sta¨dtische Bewusstsein in Anspruch genommen werden, waren im zeitgeno¨ssischen Horizont vorrangig zur familia¨ren Selbstverortung gedacht.99 Und selbst wenn die Zeugnisse inhaltlich explizit die Profilierung der Stadt zum Thema hatten, so ist damit noch nichts u¨ber die Reichweite und Akzeptanz dieser Identita¨tsangebote gesagt. Ein beru¨hmt-beru¨chtigtes Beispiel dafu¨r, dass Zweifel an der Breitenwirkung ¨ berreichung berechtigt sind, sind die schwierigen Umsta¨nde, die im Jahr 1495 die U einer Lobschrift durch den gefeierten Humanisten Conrad Celtis an den Nu¨rnberger Rat begleiteten. Inhaltlich la¨sst sich dieses wortgewaltige Werk als erste umfassende Darstellung der gegenwa¨rtigen Stadt beschreiben. Celtis darf damit als erster gelten, der Nu¨rnbergs ‚Wesen‘ als groß angelegtes Gesamtbild zu zeichnen suchte. Viel sta¨rker als Albrecht Du¨rer, der heute der Stadt seinen Namen leiht, ist er damit als einer der fru¨hen Konstrukteure des bis heute lebendigen Nu¨rnberg-Images anzusehen. Als selbstbewusster Poeta laureatus wusste Celtis auch um den Wert seiner Leistung. Programmatisch machte er in der Praefatio die Nu¨rnberger darauf aufmerksam, dass ihnen zum Gipfel ihres Glu¨ckes nun nur noch die Sorge um ihr Verma¨chtnis fehle.100 Es brauche, so argumentiert Celtis, daher einen scriptor illuster – einen illustren Ku¨nder, der mit ro¨mischer Beredsamkeit den Ruhm der Stadt und ihrer Geschichte preise. Die laudes und annales, so postuliert Celtis, vermo¨chten Nu¨rnberg sogar dauerhafter vor dem Vergessen zu schu¨tzen als die Mauern um die Stadt. Als Beispiel verweist Literarisches Leben in Augsburg wa¨hrend des 15. Jahrhunderts, hg. v. Johannes Janota/Werner Williams-Krapp (Studia Augustana 7), Tu¨bingen 1995, S. 160–182; von der Ho¨h, Erinnerungskultur (wie Anm. 75); Schmid, Geschichte im Dienst der Stadt (wie Anm. 44). 98 Vgl. Jo¨rg Schwarz, Die Horizonte sta¨dtischer Historiographie in Frankfurt am Main im spa¨ten Mittelalter. Das Beispiel des Johann Heyse († 1495), in: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse, hg. v. Robert Seidel/Regina To¨pfer (Zeitspru¨nge. Forschungen zur Fru¨hen Neuzeit 14), Frankfurt am Main 2010, S. 311–323, hier S. 311–318, mit Rostock und Freiburg im Breisgau als weiteren Beispielen; s. auch Droste, Rezension (wie Anm. 9) und Lottes, Stadtchronistik (wie Anm. 50), S. 52. 99 Vgl. etwa Pierre Monnet, La me´moire des e´lites urbaines dans l’Empire a` la fin du Moyen A ˆ ge entre e´criture de soi et histoire de la cite´, in: Memoria, Communitas, Civitas, hg. v. Brand (wie Anm. 9), S. 49–72, oder Robert Bizzocchi, Memoria famigliare e identita` cittadina, in: Aspetti e componenti dell’identita` urbana, hg. v. Chittolini/Johanek (wie Anm. 19), S. 123–134. 100 Conrad Celtis und sein Buch u¨ber Nu¨rnberg, hg. v. Albert Werminghoff, Freiburg i. Br. 1921, S. 102. ¨ bers.: Gerhard Fink, Konrad Celtis, „Norimberga“. Ein Bu¨chlein u¨ber Ursprung, Lage, EinrichtunU gen und Gesittung Nu¨rnbergs, vollendet um das Jahr 1500, gedruckt vorgelegt 1502, Nu¨rnberg 2000, S. 19. S. dazu wie auch zum Folgenden Carla Meyer, Poeten fu¨r das „vatterland“? Humanistische Vorsto¨ße zur Etablierung eines neuen Berufsstandes in den Sta¨dten des 15. Jahrhunderts, in: Aspekte der Professionalisierung in der Politik und Verwaltung urbaner Zentren wa¨hrend des spa¨ten Mittelalters, hg. v. Christian Jo¨rg (Beitra¨ge zu den Historischen Kulturwissenschaften), Berlin (in Vorbereitung).

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er auf die großen Sta¨dte des antiken Griechenland. Obwohl unter gewaltigen Tru¨mmerhalden begraben, ha¨tten die Texte ihrer Bu¨rger die Erinnerung an sie lebendig gehalten. Die Nu¨rnberger Ratsherren freilich zeigten sich von der Marketingstrategie des Celtis unbeeindruckt. Gut dokumentiert ist der lange und za¨he Weg durch die Gremien, die er fu¨r sein Werk zu gehen hatte.101 In mehreren Texten machte Celtis daher seinem Zorn auf die Ratsherren Luft. Entta¨uscht ra¨t er dem Leser, doch besser Theologie, Jura oder Medizin zu studieren, da ein solches Studium ungleich besser belohnt ¨ rzte und Juriswerde als die Leistungen der Poetae. Wa¨hrend man na¨mlich Lehrer, A ten in feste Dienste nehme, habe man ihm nicht einmal soviel gezahlt, dass er davon die Schuhe bezahlen ko¨nne, um sich die Stadt anzusehen. Grobianisch schma¨ht er die Ratsherren als ignorante Kra¨mer, die mit seinem Werk nichts anderes anzufangen wu¨ssten, als darin Pfeffer einzuwickeln oder sich die cacationes abzuwischen.102 Celtis war der einzige, der so deutliche Worte finden sollte, aber er war nicht der einzige, dem in Nu¨rnberg ein solches Schicksal widerfuhr. So finden sich in Nu¨rnberg zwar einige Werke, die entweder einzelnen Ratsherren oder aber noch ha¨ufiger dem gesamten Rat dezidiert wurden. Diese Widmungen sind jedoch kaum als Auftragswerke zu lesen, sondern mu¨ssen vielmehr als captatio benevolentiae der Autoren gelten: Den Reaktionen des Rats zufolge scheinen diese Werke zumeist ungefragt eingereicht worden zu sein. Mehrfach wurde eine Entlohnung mit der Auflage verbunden, dass die Werke nicht verbreitet oder gedruckt werden durften, oder, dass die Dichter in der Zukunft nicht mehr mit a¨hnlichen Werken an den Rat herantreten sollten. Sogar die Archivierung der dem Rat angetragenen Texte scheint vernachla¨ssigt worden zu sein. Auch die erste, dem Rat explizit u¨berreichte Version der Norimberga von Conrad Celtis ist heute verloren.103 Es stellt sich die Frage, wieso der Nu¨rnberger Rat die aus moderner Sicht naheliegenden Chancen einer zielgerichteten Identita¨tspolitik verstreichen ließ. Ein zentraler Grund dafu¨r liegt im Selbstversta¨ndnis der Nu¨rnberger Ratsherren, die sich fru¨her und sta¨rker als ihre Amtskollegen in anderen Sta¨dten als exklusive Fu¨hrungsschicht von Gottes Gnaden definierten.104 Statt einer ‚Identita¨tspolitik‘, die auf die Akzeptanz der gesamten Gruppe zielt, entschieden sie sich fu¨r das von den Fu¨rsten vorgefu¨hrte Modell der Arkanpolitik. Indem dieses Asymmetrien des Wissens schafft, 101 Vgl. das Vorwort der Edition: Conrad Celtis und sein Buch u¨ber Nu¨rnberg, hg. v. Werminghoff (wie

Anm. 100), S. 30–41; Meyer, Poeten fu¨r das „vatterland“? (wie Anm. 100); Gu¨nther Hess, Von der Kunst zu u¨berleben. Die Scheltrede des Konrad Celtis an den Rat von Nu¨rnberg (Oden III,11), in: Handbuch der Literatur in Bayern vom Fru¨hmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretation, hg. v. Albrecht Weber, Regensburg 1987, S. 163–174. 102 Conradus Protucius Celtis, Libri Odarum Quattuor, Liber Epodon, Carmen Saeculare, hg. v. Felicitas Pindter (Bibliotheca Scriptorum Medii Recentisque Aevorum 23), Leipzig 1937, Nr. III, 11, ¨ bersetzung und Interpretation vgl. Hess, Von der Kunst zu u¨berleben (wie Anm. 101), S. 77f. Fu¨r U S. 163–174. 103 Vgl. dazu Meyer, Die Stadt als Thema (wie Anm. 15), S. 462–476; dies., Poeten fu¨r das „vatterland“? (wie Anm. 100). 104 S. prominent die Rechtfertigung der Ratsfa¨higkeit in Christoph Scheurl’s Epistel u¨ber die Verfassung der Reichsstadt Nu¨rnberg. 1516, in: Die Chroniken der fra¨nkischen Sta¨dte. Nu¨rnberg 5 (Die Chroniken der deutschen Sta¨dte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 11), Leipzig 1874, Nr. XVI, Anhang, A, S. 781–804, hier S. 791.

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ermo¨glicht und stu¨tzt es die politische Herrschaft einer Teilgruppe. Instrumente wie die in Nu¨rnberg sich immer weiter verscha¨rfende Zensur sind also als Mittel zur Aufrechterhaltung dieser Asymmetrien zu interpretieren. Dass sich sowohl gegen die Zensur wie auch gegen die autorita¨re Regierungsform insgesamt keine Kritik findet, ist nicht nur mit der Effizienz dieser repressiven Maßnahmen zu erkla¨ren. Die ausbleibende Reaktion der Autoren zeigt zugleich, dass Arkanpolitik in der sta¨ndischen Gesellschaft als ebenso selbstversta¨ndlich wie legitim galt. Ein solches Herrschaftsversta¨ndnis beno¨tigte keine Imagepflege oder Identita¨tspolitik – und damit beno¨tigte es auch keinen ‚City brander‘ wie Conrad Celtis.

¨ HEN NEUZEIT DIE MEDIENSTADT DER FRU von Ute Schneider

„To call a city a cultural metropolis that its artists (writers, actors, printers, etc.) influence the world outside, whether by traveling abroad themselves, by exporting their products, or by attracting outsiders to the city, whether they come as students or consumers of the art.“1 Die Kriterien, die Peter Burke hier fu¨r die Charakterisierung einer Stadt als Kulturmetropole vorschla¨gt, lassen sich in gewissem Umfang auch als Analyse leitende Kriterien fu¨r die Identifizierung fru¨hneuzeitlicher Mediensta¨dte fruchtbar machen. Verknu¨pft man diese Kriterien mit dem theoretischen Konzept, Sta¨dte als geographische und soziale Orte zu begreifen, in denen Innovationen in kultureller wie wissenschaftlicher und o¨konomischer Perspektive entstehen und gedeihen, wird man verschiedene Analyseebenen betrachten mu¨ssen, die der Charakterisierung einer fru¨hneuzeitlichen Stadt als Medienstadt dienlich sein ko¨nnen. Dazu geho¨ren auf der einen Ebene die Analyse der Rahmenbedingungen, die Sta¨dte fu¨r die Ansiedlung von Medienunternehmen attraktiv werden lassen. Außer einer solchen Standortanalyse wird in einer zweiten Ebene die Analyse der Organisiertheit der Medienunternehmen relevant und in einer dritten Ebene sicherlich das quantitative Produktionsvolumen wie auch das qualitative Medienspektrum. Schließlich ist nach der Distribution der Medien zu fragen. Clemens Zimmermann hat bereits am Beispiel von Venedig und London nachgewiesen, dass Kultur und Produktivita¨t im Kommunikationsraum Stadt eng verbunden sind, da hier personelle Ressourcen mit spezifischem Wissen und Ko¨nnen in hohem Maß vorhanden sind sowie eine Clusterbildung von Medienunternehmen vielfa¨ltigster Art beobachtet werden kann. Ein von anderen abgrenzbares Milieu im Buch- und Kunsthandel innerhalb der Sta¨dte mit einem u¨berregionalen Handelsnetz geho¨rt zu den spezifischen Auspra¨gungen urbaner Strukturen.2 Nach Zimmermann ist fu¨r den Standort von Medienunternehmen „die Zentralita¨tsfunktion der Sta¨dte“ relevant, die „Ha¨ufung von medienrelevanten Unterhaltungsinstitutionen und berichtsrelevanten ‚Ereignissen‘, [...] die Entfaltung von spezifischen Formen

1 Peter Burke, Antwerp, a Metropolis in Europe, in: Antwerp, story of a metropolis. 16th–17th century,

hg. v. Jan van der Stock, Antwerpen 1993, S. 49–57, hier S. 50.

2 Vgl. Clemens Zimmermann, The productivity of the City in the Early Modern Era: The Book and

Art Trade in Venice and London, in: Creative Urban Milieus. Historical perspectives on Culture, Economy, and the City, hg. v. Martina Hessler/Clemens Zimmermann, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 41–76.

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der Stadtbeschreibung (Chroniken, Reportage). Von einer ‚Medienstadt‘ wird man sprechen, wenn die Clusterbildung sehr bedeutend ist, die u¨bero¨rtliche Bedeutung der o¨rtlichen Medien evident ist und wo ein spezifischer Medienverbund besteht, der einen professionellen Crossover begu¨nstigt.“3 Die institutionellen Strukturen werden u¨berformt von einem unverwechselbaren urbanen Milieu, das sich sowohl als dichter Kommunikationsraum und sozialer Rahmen als auch als konzeptionell produktiver Ort begu¨nstigend auf innovative Ideen und kreative Prozesse auswirken kann, die dann in o¨konomischen Erfolg mu¨nden ko¨nnen. So hat auch Roberto Camagni das innovative Milieu als Voraussetzung fu¨r zukunftsweisende Ideen und wirtschaftlichen Erfolg gedeutet und es als eine „Reihe von Beziehungen, die ein lokales Produktionssystem mit diversen Akteuren und Repra¨sentationen und einer Industriekultur vereinen“4, definiert. Ganz a¨hnlich versteht Martina Heßler unter einem innovativen Milieu ein „ra¨umlich abgrenzbares Gebiet [...], dessen Grenzen nicht administrativ bestimmt sind, [...]“.5 Entscheidend ist die Feststellung, dass die Milieugrenzen nicht administrativ gezogen werden, sondern sich durch Kommunikation konstituieren.6 Diese theoretischen Annahmen lassen sich nicht nur auf die Großstadt der Moderne projizieren und als analytisches Geru¨st nutzen, sondern sie lassen sich auch auf die fru¨hneuzeitliche Stadt anwenden, denn insbesondere angesichts der Durchsetzung des Buchdrucks und druckgraphischer Verfahren wird das innovative sta¨dtische Potenzial rasch deutlich. Das publizistische Profil einer (Medien)Stadt wurde schon relativ schnell nicht mehr allein nur durch die Quantita¨t der dort hergestellten Druckerzeugnisse, sondern bereits durch die Vielfalt der dort produzierten und gehandelten Medien gepra¨gt. Die interessegeleitete Verknu¨pfung o¨konomischer Ziele mit kommunikativen Faktoren ist dem Buchdruck von Anfang an immanent. Basis ¨ berlegungen, deren Fokus der folgenden Analyse sind daher kulturo¨konomische U auf den fru¨hneuzeitlichen Handelssta¨dten liegt.

1. Handelszentren als Mediensta¨dte

Die fru¨hneuzeitliche Stadt ist als kultureller Kommunikationsraum und als „eine der zentralen Agenturen literarischen Lebens [...] stets wahrgenommen worden“.7 Die Bedeutung der Stadt fu¨r die Herausbildung kultureller Artikulationsformen und 3 So Clemens Zimmermann in seiner Einladung zu dieser Tagung „Stadt und Medien“. 4 Robertot Camagni, Das urbane Milieu. Voraussetzung fu¨r Innovation und wirtschaftlichen Erfolg,

in: Metropolen. Laboratorien der Moderne, hg. v. Dirk Matejowski, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 292–307, hier S. 299/300. 5 Martina Hessler, Stadt als innovatives Milieu – Ein transdisziplina¨rer Forschungsansatz, in: NPL 47 (2002), S. 193–223, hier S. 194. 6 Ebd., S. 195. 7 Klaus Garber, Literatur in der Stadt – Bilder der Stadt in der Literatur, in: Vielerlei Sta¨dte. Der Stadtbegriff, hg. v. Peter Johanek/Franz-Joseph Post, Ko¨ln/Weimar/Wien 2004, S. 71–89, hier S. 71.

Die Medienstadt der Fru¨hen Neuzeit

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-medien in Abgrenzung zum kulturell und geistig weniger attraktiven Land wird in der Forschung gerne betont. Ebenso wie die Produktion der Literatur selbst ist ihre Materialisierung im Buchdruck eng mit dem sta¨dtischen Leben verbunden. Nach Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Metalltypen in der Mitte des 15. Jahrhunderts hatte sich die neue Technik der Buchherstellung recht zu¨gig bis zum Ende des Jahrhunderts in ganz Europa verbreitet. Das reibungslos funktionierende Gewerbe von Setzern und Druckern, die auch Schriften gegossen haben, Formschneidern, Briefmalern, Illuminatoren und Buchbindereien wurde zur Basis des fru¨hneuzeitlichen Mediensystems, das von Beginn an eng mit der fru¨hneuzeitlichen Stadt verknu¨pft war. Die Herstellung von Druckerzeugnissen vom Satz bis zum Binden und vor allem auch der Handel mit Bu¨chern, Flugschriften, Flugbla¨ttern, Messrelationen und fru¨hen Zeitungen war ein genuin sta¨dtisches Gescha¨ft. Die Drucksta¨dte der Inkunabelzeit sind allerdings nicht automatisch als Mediensta¨dte zu bezeichnen, nur weil der Buchdruck zu den ga¨ngigen sta¨dtischen Handwerksbetrieben geho¨rte. Man wird kaum plausibel erkla¨ren ko¨nnen, dass Eltville am Rhein (Buchdruck seit 1467), Esslingen (1473), Blaubeuren (1475), Magdeburg (1480) oder Stockholm (1483) im 15. Jahrhundert ideale Standorte fu¨r Medienunternehmen und bedeutende u¨berregionale Kommunikationszentren gewesen seien. Selbst Wittenberg, das als Zentrum der Reformation in der ersten Ha¨lfte des 16. Jahrhundert von der unbedeutenden Bauern- und Handwerkstadt zu einem sehr wichtigen protestantischen Medienstandort avancierte und die Lesefa¨higkeit seiner Einwohner zu dieser Zeit auf gut 50 Prozent gescha¨tzt wird,8 war doch nur von voru¨bergehender Bedeutung als Medienstadt. Auch die dort 1502 gegru¨ndete Universita¨t spielte als Institution und Ort der Wissensproduktion keine oder nur eine sehr geringe Rolle fu¨r die Stadt als Medienstandort. Auch der 1570 auf dem Reichstag in Speyer verabschiedete Erlass, Buchdruckereien nur noch in Reichs-, Residenz- und Universita¨tssta¨dten zuzulassen, hat fu¨r letzteren Stadttyp keinen Aufschwung als Medienstandort gebracht.9 Severin Corsten hat schon vor etlichen Jahren festgestellt, dass sich Buchdruckereien zwar in den ersten Jahren nach Gutenbergs Erfindung vorwiegend in Universita¨tssta¨dten und Bischofssitzen, die zuna¨chst eine tragfa¨hige institutionelle Grundlage fu¨r Druckauftra¨ge bieten konnten, etablierten,10 aber schon bald boten Universita¨ten und kirchliche Institutionen alleine nicht mehr hinreichend Auftra¨ge und damit finanzielles Auskommen fu¨r die Buchdrucker, die ja ein ho¨chst kapitalintensives Gewerbe betrieben. Daher lassen sich Buchdruckereien und Buchhandlungen als Medieninstitutionen in der Folge vor allem in den gro¨ßeren Handelssta¨dten finden.

8 Vgl. z. B. die Angaben bei Erich Scho ¨ n, Geschichte des Lesens, in: Handbuch Lesen, hg. v. Bodo

Franzmann u. a., Mu¨nchen 1999, S. 1–85, hier S. 18.

9 Zur Verschiebung bedeutender Druckzentren nach Wirtschaftsra¨umen vom 15. bis 18. Jahrhundert

vgl. E´tienne Francois, ¸ Ge´ographie du livre et re´seau urbain dans l’Allemagne moderne, in: La Ville et L’Innovation, hg. v. l’E´cole des Hautes E´tudes en Sciences Sociales, Paris 1987, S. 59–74. 10 Severin Corsten, Der fru¨he Buchdruck und die Stadt, in: Studien zum sta¨dtischen Bildungswesen des spa¨ten Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Bernd Moeller/Hans Patze/Karl Stackmann, Go¨ttingen 1983, S. 11–31.

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Ute Schneider

Die Bevorzugung von gro¨ßeren Handelszentren als Unternehmensstandort hatte mehrere Gru¨nde. Zum einen konnten die Drucker/Verleger die „Kapitalkraft, die im Schutze der Stadtmauern entstanden war“11 und die fu¨r die Einrichtung und den Betrieb einer Druckerei no¨tig war, nutzen. Zum anderen ließ sich die Organisation des Buchabsatzes u¨ber das ohnehin meist schon vorhandene Fernhandelsnetz leicht umsetzen. Handelssta¨dte waren meist nicht nur Wirtschaftszentrum, sondern auch Kulturzentrum und Kommunikationszentrum gleichermaßen und boten so die idealen Umweltbedingungen fu¨r Medienunternehmen und Medienangebote. ¨ ber die unproblematische Eingliederung der Handelsware Buch bzw. DruckU schrift in den allgemeinen Warenverkehr und die Nutzung der lokalen, regionalen wie auch u¨berregionalen Handelswege durch Drucker/Verleger und Buchfu¨hrer, die ein breites Angebot bereithielten, herrscht Konsens in der Forschung. Die im allgemeinen Warenverkehr eingefu¨hrten Handelswege und Frachtrouten wurden zu Transporttrassen fu¨r den Informationshandel erweitert.12 Im Laufe der Fru¨hdruckzeit bis ins 17. Jahrhundert hinein wurden in erster Linie die Handelszentren zu Zentren des Buchdrucks und Buchhandels, und Stadt und Gewerbe profitierten wechselseitig voneinander. Neueste Nachrichten und Informationen wurden besonders in den Sta¨dten kolportiert, die von vielen Fremden frequentiert wurden, was im Fall von Handelssta¨dten an der Tagesordnung war. Post- und Botendienste kamen hinzu. Die Aufbereitung und weitere Verbreitung der Nachrichten besorgten wiederum die ortsansa¨ssigen Medienunternehmer. Unter den Fru¨hdrucksta¨dten nahmen sicherlich Augsburg und Nu¨rnberg, daneben Venedig sowie die Universita¨ts- und Bischofsstadt Ko¨ln eine herausragende Stellung ein. Im oberdeutschen Raum war bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts unbestritten die reiche Handelsstadt Augsburg ein herausragendes Zentrum des fru¨hen Drucks deutschsprachiger Prosa und der hochkara¨tigen Buchillustration. Auch Nu¨rnberg war als Handelsplatz und deutsches humanistisches Zentrum gleichermaßen ein prominenter Medienstandort. In der gro¨ßten deutschen Stadt der Fru¨hen Neuzeit, Ko¨ln, u¨berwog der lateinische theologische Buchdruck, und andere Druckerzeugnisse traten daher in den Hintergrund. Selbst Wittenberg konnte trotz florierenden Druckereiwesens nach der Mitte des 16. Jahrhunderts seine Funktion als Buchgewerbestandort nicht dauerhaft aufrechterhalten, vermutlich weil die Stadt keinen Mittelpunkt im Handelsverkehr bildete. Stadttopographisch erfolgte die Ansiedlung von Medienunternehmen, die Buchdruckereien, druckgraphische Ateliers, Lagerra¨ume und Verkaufsstellen wie Buchund Kunsthandlungen umfassen, oft an sta¨dtischen Kommunikationsknotenpunkten wie Marktpla¨tzen, Universita¨ten oder Kirchen und Kathedralen. Die Konzentration von Firmen in bestimmten Stadtvierteln oder Straßenzu¨gen begann schon in der Inkunabelzeit und la¨sst sich noch fu¨r die Buchhandlung der Aufkla¨rung nachwei-

11 Corsten, Der fru¨he Buchdruck und die Stadt (wie Anm. 10), S. 29. 12 Vgl. hierzu z. B. Michael Giesecke, Der Buchdruck in der fru¨hen Neuzeit. Eine historische Fallstudie

u¨ber die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991.

Die Medienstadt der Fru¨hen Neuzeit

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sen.13 Die geographische Na¨he der Betriebe unterstu¨tzte Kommunikationsprozesse und die Herausbildung milieuspezifischer Verhaltensweisen und machte Drucker/ Verlegern, die nie oder nur sehr selten zu¨nftig gebunden waren, auch soziale Kontrolle mo¨glich. Diese professionelle Clusterbildung ist in der Fru¨hen Neuzeit in ganz Europa nachweisbar. In Paris beispielsweise war die Rue St. Jacques ein solches Zentrum der Buchproduktion und -distribution; in London etablierten sich buchgewerbliche Betriebe in St. Paul’s Churchyard; in Ko¨ln, wo die Drucker vor 1500 im ganzen Stadtgebiet verteilt waren, bildete sich nach 1500 ein Buchha¨ndlerviertel um die Kirche St. Paul und in der anschließenden Straße „Unterfettenhennen“ heraus.14 Der soziale Status der Buchdrucker und Verleger leitete sich nicht aus der Zugeho¨rigkeit zu einer Zunft oder Gilde ab, „sie waren in dieser Hinsicht heimatlos“.15 Daher bemu¨hten sie sich oft um Aufnahme in anderen Korporationen, z. B. bei Malergilden, Goldschmiedezu¨nften oder Vereinigungen von anderen Kaufleuten. Sofern es sich nicht um reine Lohndrucker handelte, sondern um Drucker/Verleger oder ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert auch um reine Verleger war der soziale Status innerhalb der sta¨dtischen Handwerkerschaft und im sta¨dtischen Bu¨rgertum sehr hoch. Die Erlangung der Bu¨rgerrechte oder der Zutritt zu Gilden war finanziell meist recht aufwendig, wurde aber von den Drucker/Verlegern durchaus angestrebt. Bekanntermaßen entstammte schon Johannes Gutenberg dem Mainzer Patriziat. Der soziale Status ließ sich oft auch an der Wahl des Wohnortviertels innerhalb der Sta¨dte ablesen.

2.

Medienhandel und Informationsmarkt

Die mediale Ausstattung der Fru¨hen Neuzeit ist bereits durch eine außerordentliche Vielfalt der Publikationsformen gekennzeichnet. Als erstes ist selbstversta¨ndlich das gedruckte Buch zu nennen, das aber schon in der Inkunabelzeit nicht isoliert als Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsmedium auftrat, sondern stets im Medienkontext von Flugblatt und Flugschrift zu sehen ist. Die fru¨he funktionale Ausdifferenzierung dieser unterschiedlichen Medien setzte mit Gutenbergs Erfindung ein. Vor allem die popula¨ren Flugbla¨tter fu¨r Nachrichtenmeldungen und Neuigkeiten wurden medial so aufbereitet und an den Markt angepasst, dass alle an ihrer Produktion Beteiligten wie Autoren, Drucker, Zeichner, Holzschneider, Briefmaler etc. an den Verkaufsertra¨gen gewinnbringend beteiligt waren.16 Druckmedien, 13 Fu¨r die konzentrierte Ansiedlung von Buchhandlungen in Sta¨dten im 18. Jahrhundert vgl. den U ¨ ber-

blick bei Mark Lehmstedt, „Le rendezvous de tous les gens de lettres et de tous les nouvellistes“. Gestalt und Funktion des Buchladens im Zeitalter der deutschen Aufkla¨rung, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 9 (1999), S. 11–75, hier besonders die Auflistung S. 15/16. 14 Vgl. Corsten, Der fru¨he Buchdruck und die Stadt (wie Anm. 10), S. 25. 15 Ebd., S. 30. 16 Vgl. hierzu ausfu¨hrlich Michael Schilling, Stadt und Publizistik, in: Das illustrierte Flugblatt der fru¨hen Neuzeit. Traditionen – Wirkungen – Kontexte, hg. v. Wolfgang Harms/Michael Schilling, Stuttgart 2008, S. 347–365.

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die aktuelle Ereignisse aufgriffen, sind vom Speichermedium Buch zu unterscheiden, nicht nur im Hinblick auf die Geschwindigkeit ihrer Herstellung, sondern auch im Hinblick auf ihre Umschlagsgeschwindigkeit und ihre Vertriebswege. Die Produktion von Flugschriften und Flugbla¨ttern konzentrierte sich im deutschsprachigen Raum auf wenige Zentren. In Nu¨rnberg wurden vom 15. bis zum 17. Jahrhundert mehr als 32 Prozent aller Flugbla¨tter gedruckt, in Augsburg etwas mehr als 27 Prozent. Erst danach folgen Straßburg mit knapp 8 und Frankfurt am Main mit noch nicht einmal 5 Prozent.17 Ganz deutlich ist die Konzentration auf die großen Handelssta¨dte festzustellen, in denen ein intellektuell wie finanziell genu¨gend großes Ka¨uferpublikum erwartet wurde bzw. Kolporteure und andere Distribuenten zusammenkamen, die das jeweilige regionale Hinterland versorgten. Auch bei den Flugschriften bilden Augsburg, Straßburg, Nu¨rnberg und in der Reformation auch ¨ hnliches la¨sst sich bei den Neuen Zeitungen Wittenberg Zentren der Produktion. A feststellen, die in Auflagen von 1000 bis 1500 Exemplaren durch ambulante Ha¨ndler auf Straßen und Ma¨rkten vertrieben, angepriesen, ausgerufen und vorgesungen wurden. Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts kommen Messrelationen, ab dem 17. Jahrhundert dann periodische Zeitungen und schließlich mit Einsetzen der fru¨hen Aufkla¨rung Zeitschriften hinzu. Im Falle der periodischen Zeitungen wird Frankfurt am Main recht schnell nach Hamburg zu einem zentralen Druckort. Die hohe Leistungsfa¨higkeit des europa¨ischen, internationalen Buchhandels bis in die zweite Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts bestand zuna¨chst im sogenannten Wanderverkehr als buchha¨ndlerischer Organisationsform. Neben dem reinen Drucker/Verleger differenzierte sich noch im 15. Jahrhundert der Beruf des Buchfu¨hrers heraus, der als fru¨her Sortimenter im Auftrag eines Drucker/Verlegers oder auch auf eigene Rechnung Bu¨cher, Flugschriften und Broschu¨ren und somit Wissen, Unterhaltung und Informationen vertrieb.18 Durch die wachsende Quantita¨t der Buchproduktion auch innerhalb der einzelnen Druckereien war es dem einzelnen Drucker/Verleger schon relativ schnell nicht mehr mo¨glich, Verlag, Druck und Vertrieb der Bu¨cher selbst zu u¨bernehmen. Er bedurfte der Unterstu¨tzung in der Organisation, vor allem im Hinblick auf den Vertrieb seiner Druckerzeugnisse. Aus diesem Erfordernis resultierte der Beruf des Buchfu¨hrers als fru¨her Sortimenter. Der Buchfu¨hrer war als offizielle Berufsbezeichnung schon in der Inkunabelzeit bekannt. Er betrieb sein Unternehmen entweder stationa¨r mit einem offenen Ladengescha¨ft oder zog mit seinem Sortiment u¨ber Land oder betrieb beide Arten des Verkaufs. Die u¨ber Land ziehenden Buchfu¨hrer konnten relativ flexibel auf Verkaufsgelegenheiten reagieren und nutzten zentrale, von mo¨glichst vielen potenziellen Kunden besuchte o¨ffentliche Pla¨tze. Traditionelle Verkaufsorte fu¨r Gedrucktes waren Messen und Jahrma¨rkte, auch Wirtsha¨user und Kirchpla¨tze oder in den Universita¨ten 17 Diese und die folgenden Zahlen nach Rudolf Sto ¨ ber, Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfa¨ngen

bis zur Gegenwart, Konstanz 2005, S. 49, 51, 56, 71. 18 Zur Forschungsproblematik des fru¨hen Buchvertriebs vgl. Ursula Rautenberg, Buchha¨ndlerische

Organisationsformen in der Inkunabel- und Fru¨hdruckzeit, in: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert, 2. Halbbd., Hamburg 1999, S. 345–347.

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die Kollegien. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts sind bereits u¨ber 1000 Buchfu¨hrer namentlich bekannt, die sowohl in gro¨ßeren Sta¨dten als auch in kleineren Orten den Vertrieb von Druckwerken u¨bernommen hatten.19 Die Buchfu¨hrer bildeten im internationalen Wanderhandel durch ihren Besuch von Messen und Ma¨rkten ein leistungsfa¨higes Kommunikationsgeflecht.20 Fu¨r das Mediensystem entscheidend ist die Entstehung eines professionell organisierten Informationsmarktes: „Die bisherigen an soziale Systeme oder Institutionen gebundenen Kommunikationssysteme wurden aufgebrochen und durch ein marktorientiertes System ersetzt.“21 Auch der gesamte Komplex der popula¨ren Druckgraphik geho¨rt zum ga¨ngigen Medienspektrum der Fru¨hen Neuzeit. Gerade der druckgraphische Bereich ist bei der Betrachtung von Medienunternehmen nicht zu vernachla¨ssigen. Holzschnitte und Kupferstiche dienten keineswegs lediglich der Illustration von gedruckten Texten oder zur Unterstu¨tzung des Textversta¨ndnisses, sondern hatten eigene Aussagekraft. Schon im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts war „gedruckte Kunst [...] ein Massenartikel“.22 Einblattdrucke, die meist im Kupferstich produziert mehrere hundert bis zweitausend Abzu¨ge als Auflage hatten, wurden auf Straßen, auf Jahrma¨rkten und in speziell eingerichteten, festen Verkaufsstellen feilgeboten.23 Ein Beispiel fu¨r die erfolgreiche Distribution von ku¨nstlerisch gestalteten Bla¨ttern liefert das Vorgehen Albrecht Du¨rers (1471–1528). Er war recht gescha¨ftstu¨chtig, hat seine Kupferstiche fu¨r einen anonymen Markt in Serie gefertigt und durch Kolporteure vertreiben lassen. Aus seiner Nu¨rnberger Zeit berichtet Johannes Cochlaeus (1479–1552) im Jahr 1512: „Das Genie der nu¨rnbergischen Ku¨nstler aber bewundern nicht nur die Deutschen, sondern auch die Italiener, die Franzosen und die fernen Spanier und haben gro¨ßtes Interesse an ihnen. Das beweisen die Werke selbst, die weithin verschickt werden. Es gibt ja die Passionsdarstellungen (die neulich Albrecht Du¨rer geschaffen und in Kupfer gestochen hat, auch selbst gedruckt hat), die so u¨beraus fein und mit wahrer Perspektive gezeichnet sind, dass die Kaufleute aus ganz Europa sie als Vorlagen fu¨r die Maler ihrer La¨nder kaufen.“24 Du¨rer hatte fu¨r den Vertrieb seiner Stiche 1497 einen Vertrag geschlossen, der u¨ber das strategische Vorgehen gut informiert. Der Kolporteur sollte: „die abtruck von kupffer vnd holtzwerck ye von einer stat zu der anndern tragen, veil habn vnd nach allem seinem vermugen, vnd yeden truck in dem werd vnd vmb das gelt, jn maß er jme

19 Vgl. Heinrich Grimm, Die Buchfu¨hrer des deutschen Kulturbereichs und ihre Niederlassungsorte in

der Zeitspanne 1490 bis um 1550, in: Archiv fu¨r Geschichte des Buchwesens VII (1967), Sp. 1154–1771.

20 Vgl. Ute Schneider, Das Buch als Wissensvermittler in der Fru¨hen Neuzeit, in: Kommunikation und

Medien in der Fru¨hen Neuzeit, hg. v. Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (HZ, Beih. 41), Mu¨nchen 2005, S. 63–78. 21 Michael North, Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der fru¨hen Neuzeit, Mu¨nchen 2000, S. 6. 22 Nils Bu ¨ ttner, Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels (Rekonstruktion der Ku¨nste 1), Go¨ttingen 2000, S. 33. 23 Ebd., S. 33–35. 24 Zitiert nach Albrecht Du¨rer, Schriftlicher Nachlaß, 3 Bde., hg. v. Hans Rupprich, Berlin 1956, Bd. 1, S. 293.

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an einer zetteln verzeichent hat, verkauffen. Wo er aber die truck tewrer verkauffen mag [kann], des wol er keinen fleiß sparen, vnd sich an [zu] verkauffen solicher truck kein spil noch leichtfertige handelung nit verhindern lassen.“25 Auch auf seiner Reise nach Antwerpen 1520 hat Du¨rer seine Bilder mitgefu¨hrt, unterwegs auch neue angefertigt und verkauft. Druckgraphische Arbeiten geho¨rten fest zum publizistischen Profil der Stadt. Dies ist schon damit zu erkla¨ren, dass die Holzschneider und Kupferstecher in den meisten Fa¨llen nicht in einem fest angestellten Arbeitsverha¨ltnis standen, sondern freischaffende Ku¨nstler waren, die auf eine kontinuierlich ausgelastete Auftragssituation angewiesen waren, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu ko¨nnen. Eine solche Auftragslage garantierte neben institutionellen Auftraggebern wie Universita¨ten nur die große Stadt, in der auch Drucker und Verleger als private Auftraggeber ansa¨ssig waren. „Neben der Anfertigung von Portra¨ts, Stadtpla¨nen und Veduten, Titelvignetten und Buchillustrationen mußten sich die Stecher ha¨ufig auch mit Nebenarbeiten wie Stempelschneiden und Miniaturmalerei, Zeichnungen fu¨r Gebetbu¨cher und Bu¨hnenentwu¨rfe, aber auch gelegentliche Restaurierungen von Gema¨lden und Wandmalereien befassen.“26 All diese Verdienstmo¨glichkeiten bot in ho¨herer Konzentration nur eine Stadt. Eckhard Ja¨ger hat nachweisen ko¨nnen, dass Kupferstecher und Holzschneider nicht schlecht verdienten. Um 1550 waren der Lohn eines Holzschneiders und ein Professorengehalt etwa gleich hoch.27 Kleine Sta¨dte oder gar Do¨rfer konnten den Freiberuflern eine ausgelastete Auftragslage nicht bieten. Im Folgenden werden zwei Sta¨dte als Fallbeispiele vorgestellt, die diese gu¨nstigen infrastrukturellen Bedingungen aufwiesen, die Fernhandelssta¨dte und Standorte bedeutender Medienunternehmen der Fru¨hen Neuzeit gleichermaßen waren.

3. Fallbeispiel 1 Die Scheldestadt Antwerpen – Kunst- und Finanzzentrum sowie Handelsmetropole

Ab den 1470er Jahren zogen Drucker aus Ko¨ln und aus Venedig in die Niederlande. Beziehungen zwischen den Niederlanden und Ko¨ln bestanden zu diesem Zeitpunkt bereits, denn Ko¨ln war ein wichtiger Stapelplatz, beispielsweise fu¨r Papier, das von dort aus in den Norden geliefert wurde. Severin Corsten schreibt Ko¨ln in der Papierversorgung der Niederlande eine Schlu¨sselposition zu.28 1473 geriet die Stadt Ko¨ln 25 Zitiert nach Rupprich, Albrecht Du¨rer (wie Anm. 24), Bd. 3, 1969, S. 448. 26 Eckhard Ja¨ger, Sozialgeschichtliche Aspekte der Arbeit von Vedutenstechern. Ausgewa¨hlte Beispiele

aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Lu¨neburger Beitra¨ge zur Vedutenforschung. Lu¨neburg: Nordostdeutsches Kulturwerk 1983, S. 9–18, hier S. 9. 27 Ebd., S. 10. 28 Vgl. Severin Corsten, Ko¨ln und die Ausbreitung der Druckkunst in den Niederlanden, in: Studien zum Ko¨lner Fru¨hdruck. Gesammelte Beitra¨ge 1955–1985 (Ko¨lner Arbeiten zum Bibliotheks- und Dokumentationswesen 7), Ko¨ln 1985, S. 52–83.

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in Streitigkeiten mit Erzbischof Ruprecht aus der Pfalz, worunter der Ko¨lner Handel sehr litt, und in der Folge etliche Drucker aus Sorge um ihre Zukunft in die Niederlande umsiedelten, um dort an einem neuen Standort ihre Werksta¨tten neu aufzubauen. Gleichzeitig zogen in den 1470er Jahren etliche Drucker aus Venedig in die Niederlande, da in Venedig eine erhebliche Konkurrenz unter den vielen dort angesiedelten Druckern entstanden war und auf dem Markt nicht mehr alle Druckerzeugnisse absetzbar waren. Eines der Ziele auswandernder Drucker/Verleger war Antwerpen, die Hafenstadt, die im 16. Jahrhundert lange Zeit das gro¨ßte Handels- und Finanzzentrum in Westeuropa war.29 Die Fernhandelsbeziehungen reichten schon in der jungen Brabanter Textilbranche seit dem 14. Jahrhundert bis nach England, von wo man Wolle importierte, sowie ins Rheinland. In den 1530er Jahren entwickelte sich Antwerpen „zu einem der wichtigsten Kapitalma¨rkte der Welt“30 mit Wechselbeziehungen zu den Handelssta¨dten Augsburg, Besanc¸on, Florenz, Frankfurt am Main, Genua, Lissabon, London, Lyon, Mailand, Nu¨rnberg, Rom und Venedig. Raymon van Uytven weist darauf hin, dass die Innovationskraft der Stadt ausgesprochen hoch gewesen ist, so wurden Neuerungen in der Glasindustrie, der Majolikaindustrie, der Seidenweberei, der Zuckerraffinerie u. a. eingefu¨hrt.31 Die Scheldestadt wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts zum prosperierenden Markt fu¨r Luxusgu¨ter wie Schmuck, Seide, Satin, Samt, Damast, Leinen, Teppiche, ostindische Gewu¨rze und zog die entsprechenden produzierenden Gewerbe an. Große europa¨ische Handelsha¨user wie die su¨ddeutschen Fugger und Welser unterhielten hier Niederlassungen. Die Attraktivita¨t Antwerpens la¨sst sich an den steigenden Einwohnerzahlen ablesen: 1480, also kurz vor Einfu¨hrung des lokalen Buchdrucks hatte Antwerpen 33 000 Einwohner, 1526 waren es schon 55 000 und 1565 war der Ho¨hepunkt im 16. Jahrhundert mit 100 000 Einwohnern erreicht, die allerdings bedingt durch die spanische Belagerung bis 1585 wieder auf 42 000 sank. In den etwas mehr als 80 Jahren zwischen 1480 und 1565 war Antwerpen zweifellos singula¨rer Ausdruck urbaner Lebenswelt in Europa. Die stabilen internationalen Handelsbeziehungen mit Kontakten zur europa¨ischen Kaufmannschaft fu¨hrten schließlich auch zu ausgereiften Organisationsformen im Handel, angefangen zum Beispiel bei Teilhaberschaften an gro¨ßeren Unternehmungen, sodass auch Ha¨ndler mit wenig Kapital an der kommerziellen Expansion partizipieren konnten, bis hin zu Handbu¨chern zur Buchhaltung in unterschiedlichen Sprachen. Bisweilen wird Antwerpen auch als „Steuerungszentrum“32 des europa¨ischen Handels bezeichnet. Zum 29 Zum Aufstieg Antwerpens als europa¨isches Finanzzentrum vgl. Michael Limberger, ‚No town in

the world provides more advantages‘: economies of agglomeration in the golden age of Antwerp, in: Urban Achievement in Early Modern Europe. Golden Ages in Antwerp, Amsterdam and London, hg. v. Patrick O’Brien/Derek Keene/Marjolein ’t Hart/Hermann van der Wee, Cambridge u. a. 2001, S. 39–62. 30 Raymond van Uytven, Antwerpen. Steuerungszentrum des europa¨ischen Handels und Metropole der Niederlande im 16. Jahrhundert, in: Herrschaft und Verfassungsstrukturen im Nordwesten des Reiches. Beitra¨ge zum Zeitalter Karls V., hg. v. Bernhard Sicken (StF A 35), Ko¨ln/Weimar/Wien 1994, S. 1–18, hier S. 9. 31 Vgl. diese Aufza¨hlung bei van Uytven, Antwerpen (wie Anm. 30), S. 10. 32 Ebd., S. 1.

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Warenverkehr geho¨rte selbstversta¨ndlich auch der Buchhandel. Mit dem Aufstieg der Stadt zum Finanzzentrum nahm die Anzahl der Drucker und Verleger zu. Flankiert wurde die o¨konomische Blu¨te auch vom Zuzug vieler bildender Ku¨nstler und Maler, denn die finanziell gut gestellten Kaufleute wurden zu Kunstsammlern, schufen somit einen Markt fu¨r Kunst und ermo¨glichten dadurch wiederum sowohl den Ku¨nstlern als auch dem Kunsthandel die Existenzsicherung.33 Zwischen 1540 und 1580 hatte die fu¨r Ku¨nstler maßgebliche Lukasgilde stets durchschnittlich zwei- bis dreihundert Mitglieder, was auf einen enormen Konkurrenzdruck der Ku¨nstler untereinander schließen la¨sst.34 Geld und Kunst standen nun aber in fruchtbarer Wechselwirkung. Auch Albrecht Du¨rer zog es schon im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts nach Antwerpen, insgesamt sechsmal besuchte er in den Jahren 1520 und 1521 die Scheldestadt. In seinem Tagebuch vermerkte er akribisch die dort genossene Gastfreundschaft unter Berufskollegen, die ihm zu Ehren große Festessen veranstalteten, und er konstatierte: „Vnd zu Antorff sparen sie kein Kostung zu solchen dingen, dan do ist gelds genug.“35 Aus Du¨rers Tagebu¨chern seiner niederla¨ndischen Reise geht unzweifelhaft hervor, dass es sich um eine Gescha¨ftsreise handelte, auf der er seine Holzschnitte und Kupferstiche verkaufte und rege Tauschgescha¨fte vornahm. Gerd Unverfehrt hat Du¨rers Tagebu¨cher ausgewertet und eindeutig belegen ko¨nnen, dass Du¨rer mehr noch als zu anderen Ku¨nstlern den Kontakt zur reichen Kaufmannschaft suchte.36 Sein umfangreichstes Gescha¨ft wickelte Du¨rer mit Sebald Fischer, dem Faktor des Nu¨rnberger Handelshauses Hillebrant, ab. Fischer kaufte Du¨rer „in erheblichem Umfang fu¨r insgesamt 28 Gulden“37 Graphiken ab, um dann vermutlich weiter damit zu handeln, da er manche Drucke mehrfach erwarb. Die intensiven Kontakte zwischen Kunst und Geld waren offensichtlich fu¨r den Graphik- und den Buchhandel lohnend: „Die beru¨hmte und herrliche Stadt Antwerpen, die dem Kaufhandel ihre Blu¨te verdankt, hat von u¨berall her die bedeutendsten Vertreter unserer Kunst angelockt, die sich in großer Anzahl auch deswegen dorthin begeben haben, weil die Kunst sich gern in der Na¨he des Reichtums aufha¨lt.“ schrieb 1604 der Maler und Kunstschriftsteller Karl van Mander (1548–1606).38 Fu¨r Du¨rer wie auch fu¨r alle anderen Kupferstecher, Radierer, Holzschneider, Maler und bildenden Ku¨nstler war die Stadt in zweierlei Hinsicht lukrativ: zum einen bot sie einen großen Absatzmarkt mit kaufkra¨ftigem Publikum und zweitens auch Austauschmo¨glichkeiten mit anderen Ku¨nstlern. Die Integration von Marktorientierung und rein ku¨nstlerischen Interessen zeigt sich in der Etablierung eines Kunsthandels, fu¨r den Antwerpen als erste Stadt in Europa feste Verkaufsra¨ume eingerichtet

33 Vgl. diesen Aspekt bei Bu ¨ ttner, Die Erfindung der Landschaft (wie Anm. 22), S. 15. 34 Diese Angabe ebd., S. 21. 35 Rupprich, Albrecht Du¨rer (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 152. 36 Dazu: Gerd Unverfehrt, Da sah ich viel ko¨stliche Dinge. Albrecht Du¨rers Reise in die Niederlande,

Go¨ttingen 2007, S. 42.

37 Ebd., S. 47. 38 Zitat ebd., S. 33.

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hatte. Bereits 1460 hatte man den zentral gelegenen Platz um die Liebfrauenkirche mit stationa¨ren Verkaufssta¨nden fu¨r den Kunsthandel versehen.39

3.1. Medienunternehmen In Antwerpen wird seit 1481 gedruckt. Bereits wa¨hrend der Inkunabelzeit u¨bertraf die Antwerpener Buchproduktion mit insgesamt 432 Titeln bis 1500 rein quantitativ alle anderen su¨dniederla¨ndischen Sta¨dte deutlich, sogar die Universita¨tsstadt Leuven, die nur 270 Titel in derselben Zeit hervorbrachte.40 Diese Zahlen untermauern die These, dass Buchdrucker nicht auf Dauer von der lokalen Universita¨t leben konnten. Die Stadt war ein Zentrum des Humanismus, in dem sich zeitweise Erasmus von Rotterdam (um 1465–1536), Thomas Morus (1478–1535) und weitere humanistische Gelehrte aufhielten. An den Bedu¨rfnissen der humanistischen Gelehrten haben sich die ersten Drucker mit ihrer Produktion zwar vorwiegend, aber nicht ausschließlich orientiert, sondern sie beru¨cksichtigten bald weitere Interessen. Man produzierte wie in anderen großen Handelssta¨dten nicht nur fu¨r den lokalen oder regionalen Markt – wie es beispielsweise oft in Universita¨tssta¨dten der Fall war – , sondern man hatte den internationalen, lateinischsprachigen Gelehrtenmarkt im Blick. Zwischen 1500 und 1540 stieg die Scheldestadt zur europa¨ischen Buchmetropole auf und bot 66 von insgesamt 133 nachgewiesenen aktiven niederla¨ndischen Druckern41, also der Ha¨lfte aller niederla¨ndischen Drucker, offenbar einen idealen Standort. Allein schon diese beeindruckende Anzahl der Unternehmen ließ Antwerpen in der ersten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts zum bedeutendsten Druckzentrum no¨rdlich der Alpen avancieren und neben Venedig und Paris eine Spitzenposition unter den Buchhandelspla¨tzen in ganz Europa einnehmen. Ebenso wie viele Angeho¨rige anderer Handwerksberufe oder der Kaufmannschaft kamen nicht wenige Drucker/Verleger aus dem Ausland in die Metropole und brachten vielfa¨ltige Erfahrungen mit, was fu¨r eine blu¨hende und marktga¨ngige Buchproduktion einen entscheidenden Vorteil bedeutete und den anhaltenden Trend des Zustroms weiter forcierte. Aus Frankreich, aus Spanien und aus Deutschland zogen bald Drucker nach Antwerpen. Zum Beispiel hatte der Ko¨lner Großverleger Franz Birckmann (gest. 1530) eine Filiale seines Gescha¨fts in den 1520er Jahren in der Scheldestadt ero¨ffnet, wo er so erfolgreich war, dass er sechs Lohndrucker bescha¨ftigen konnte.42 Spa¨ter, im 17. Jahrhundert, siedelte sich auch der Ko¨lner Drucker Engelbert Gymnich (1628–1652) in Antwerpen an und leitete dort ein großes Verlags- und

39 Vgl. Bu ¨ ttner, Die Erfindung der Landschaft (wie Anm. 22), S. 35. 40 Vgl. die Angaben bei Werner Watershoot, Antwerp: books, publishing and cultural production

before 1585, in: Urban Achievement in Early Modern Europe (wie Anm. 29), S. 233–263, hier S. 233.

41 Vgl. Antwerpen & de scheiding der Nederlanden 1585–1985. Catalogus, Antwerpen 1985, S. 3. 42 Wolfgang Reuter, Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Buchdruckgewerbes im Rheinland bis

1800, in: Archiv fu¨r Geschichte des Buchwesens VIII (1968), Sp. 134.

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¨ berhaupt bestanden intensive Gescha¨ftsbeziehungen Buchhandelsunternehmen.43 U zwischen Ko¨lner und Antwerpener Druckern. Der Aufstieg Antwerpens zur europa¨ischen Buchhandelsmetropole ist wesentlich auf die dortige gute Infrastruktur zuru¨ckzufu¨hren, die Antwerpen als Finanzzentrum investitionswilligen Buchdruckern bereitstellen konnte,44 denn die vollsta¨ndige Einrichtung einer Buchdruckerei mit sa¨mtlichen Gera¨tschaften, Druckpressen und einem Sortiment Schriften erforderte einen erheblichen Kapitaleinsatz, und der Papierkauf musste außerdem finanziert werden, bevor die Druckerei in Betrieb genommen werden konnte. Hinzu kamen hohe laufende Kosten, die fu¨r eine kontinuierliche Produktion aufgebracht werden mussten.45 Das Drucken von Bu¨chern stellte eine enorme finanzielle Belastung dar, zumal der Kapitalru¨cklauf bei Bu¨chern durch langfristige, an die Messetermine gebundene Zahlungsziele ein a¨ußerst langwieriger Prozess war. Die prosperierende Stadt mit ihrem ausgedehnten Hinterland und einem funktionierenden Kommunikationsnetzwerk erleichterte und beschleunigte die Buchproduktion, was wiederum in Wechselwirkung mehr und mehr auswa¨rtige Drucker anzog, so auch den bis heute bekanntesten Antwerpener Drucker/Verleger und Buchha¨ndler Christoph Plantin (um 1520–1589). Er wanderte aus Frankreich zu und gru¨ndete 1550, als die Stadt ihren Zenit als Finanz- und Handelszentrum erreicht hatte, eine Druckerei nebst Holzschneider- und Kupferstecherwerkstatt. Die Firma Plantin war eines der gro¨ßten Verlags- und Druckereiunternehmen in Europa, vergleichbar vielleicht nur noch mit dem von Aldus Manutius (1449–1515) in Venedig. Plantin bescha¨ftigte in seiner Druckerei auf dem Ho¨hepunkt seines Erfolgs in den 1570er Jahren u¨ber 60 Mitarbeiter (Setzer, Drucker, Korrektoren), hatte bis zu 16 Druckpressen in Betrieb und besaß eine eigene Schriftgießerei.46 Das Unternehmen druckte und verlegte insgesamt ca. 2450 Titel. Sein beru¨hmtestes Druckerzeugnis ist sicherlich die Biblia regia, die von Ko¨nig Philipp II. von Spanien finanziert wurde. Diese polyglotte Bibel wurde in fu¨nf Sprachen und acht Ba¨nden 1569–1572 herausgebracht. Die Organisiertheit der niederla¨ndischen Medienunternehmen war hochprofessionell. Auch das la¨sst sich am Verlagshaus und der Druckerei von Christoph Plantin ablesen. Hier wurden Holzschneider und Kupferstecher bescha¨ftigt, die fu¨r ihn, aber auch zum Teil fu¨r den eigenen Verkauf, Illustrationen und Einzelbla¨tter anfertigten.

43 Vgl, Isabell Heitjan, Gerwin Gymnich, Johann Busa¨us und ihre Nachfolger. Ein Beitrag zur Ko¨lner

Verlags- und Buchhandelsgeschichte des 17. Jahrhunderts, in: Archiv fu¨r Geschichte des Buchwesens V (1964), Sp. 1525. 44 Die Entwicklung des Kapitalmarktes in Antwerpen verlief außerordentlich gut, um 1550 war die Stadt sogar das bedeutendste europa¨ische Zentrum fu¨r „kurzfristige Kredite der o¨ffentlichen Hand gewor¨ konomische den, zum Zielort fu¨r die Geldtransporte und Wechseltransaktionen“. Vgl. Hugo Soly, O & soziokulturelle Strukturen: Kontinuita¨t im Wandel, in: Stadtbilder in Flandern. Spuren bu¨rgerlicher Kultur 1477–1787, Bru¨ssel 1991, S. 31–44, hier S. 34. 45 Zu diesen Aspekten vgl. auch Watershoot, Antwerp: books, publishing and cultural production before 1585 (wie Anm. 40), S. 233. 46 Eine ausfu¨hrliche Unternehmensgeschichte auf Basis des bis heute gut erhaltenen Firmenarchivs liefert Leon Voet, The Golden Compasses. The History of the House of Plantin-Moretus, 2 Bde., Amsterdam/London 1969–1972.

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In der Mitte des 16. Jahrhunderts waren in Antwerpen gleichzeitig ta¨tig: 48 Drucker, 72 Buchha¨ndler, 62 Holzschneider und Kupferstecher, davon waren 16 auf Spielkarten spezialisiert, sowie sieben Schriftschneider und fu¨nf Graphikha¨ndler.47 Zum Vergleich: in der Lutherstadt Wittenberg waren vor 1540 etwa 15 Drucker und im bedeutendsten internationalen Buchhandelsumschlagplatz Frankfurt am Main lediglich drei Druckereien aktiv. In Ko¨ln bestanden zur gleichen Zeit zehn, 1590 dann 18 Druckereien, womit Ko¨ln die gro¨ßte deutsche Druckstadt war.48 Mehr als 15 bis 18 Druckereien haben allerdings nie gleichzeitig in Ko¨ln gearbeitet. Antwerpens Drucker/Verleger hielten regen Kontakt zu Zu¨nften und Gilden, in denen sich andere Professionen wie Maler, Graphiker und Dichter organisiert hatten. Die ins Buch- und Graphikgewerbe in unterschiedlicher Weise involvierten Betriebe bildeten sta¨dtetopographisch „eine kleine Welt fu¨r sich“.49 Die meisten der dort Bescha¨ftigten wohnten „im Gebiet rund um die Kammerstraße und den Freitagmarkt, mit Ausla¨ufern bis zur Liebfrauenkirche“.50 Am Vrijdagmarkt befand sich auch der Firmensitz Christoph Plantins, das erheblichen Wohlstand ausstrahlende Patrizierhaus „De Gulden Passer“. Das Buch- und Graphik-Viertel war zentral gelegen, unweit der Schelde, mit zum Teil prunkvollen Geba¨uden. Allerdings waren nicht alle Buchdrucker, Verleger, Graphiker und Ha¨ndler so wohlhabend wie Plantin. Die meisten standen in abha¨ngigen Lohnverha¨ltnissen. Außer Plantin geho¨rten die Moretus, Verdussen, Bellerus, Aertens, Cnobaert51 und einige andere zu den gut situierten Unternehmerfamilien. Die ra¨umliche Na¨he der Firmen begu¨nstigte den professionellen Kommunikationsaustausch und fu¨hrte außerdem zu konkreten Kooperationsprojekten, bei denen das finanzielle Risiko von mehreren Firmen getragen wurde.52 Arnout Balis weist darauf hin, dass in diesem Milieu auch neue Kunstgattungen wie zum Beispiel die Markt- und Ku¨chengema¨lde entstanden sind, die von einem bu¨rgerlichen Publikum gekauft, gesammelt, in Auftrag gegeben und wohl auch weiterverkauft worden sind.53 Das Innovationspotenzial der Maler und bildenden Ku¨nstler nahm auch Einfluss auf die Erzeugnisse der Druckgraphik, die als (mehr oder weniger) aktuelle Massenmedien in hohen Auflagen ihr Ka¨uferpublikum fanden.

47 Angaben nach Bu ¨ ttner, Die Erfindung der Landschaft (wie Anm. 22), S. 28. Auf Antwerpens Bedeu-

tung als Stadt der Maler und bildenden Ku¨nstler verweist Hans Vlieghe in Anlehnung an den italienischen Kaufmann Lodovico Guicciardini, der 1560 in seiner Beschreibung Descrittione de tutti i Paesi-Bassi (Antwerpen 1567) mehr als 300 Ku¨nstler unter den 100 000 Einwohnern Antwerpens und damit doppelt so viele Ku¨nstler wie Ba¨cker geza¨hlt hat. Vgl. Hans Vlieghe, The fine and decorative arts in Antwerp’s Golden age, in: Urban Achievement in Early Modern Europe (wie Anm. 29), S. 173–185, hier S. 173. 48 Alle Zahlen nach Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing (Beitra¨ge zum Buchund Bibliothekswesen 51), Wiesbaden 2007. 49 Jan Materne´, Editionen und Drucke in Antwerpen ca. 1550–1650, in: Stadtbilder in Flandern (wie Anm. 44), S. 279–290. 50 Ebd., S. 280. 51 Vgl. diese Auflistung ebd., S. 281. 52 Vgl. ebd., S. 288. 53 Arnout Balis, Die neuen Kunstgattungen und das bu¨rgerliche Ma¨zenat, in: Stadtbilder in Flandern (wie Anm. 44), S. 237–254.

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Das Absatzgebiet der Drucker/Verleger und Buchha¨ndler an der Schelde erstreckte sich auf den gesamten europa¨ischen Raum. Die Drucker/Verleger beschra¨nkten sich im internationalen Handel aber nicht auf die Herstellung von Drucken in der Gelehrtensprache Latein, sondern sie haben durch ihre Vernetzung mit ausla¨ndischen Kollegen eine respektable polyglotte Buchproduktion hervorgebracht.54 Bereits der erste Drucker Antwerpens, Gerard Leeu (um 1445–1492), der aus Gouda zuzog, hat englisch- und franzo¨sischsprachige Bu¨cher fu¨r ein internationales Publikum herausgebracht. Nach der Jahrhundertwende wurden in großem Stil fremdsprachige Werke gedruckt. Neben den lateinischen und griechischen, meist humanistischen Drucken, erschienen Bu¨cher in franzo¨sischer Sprache, die durchaus fu¨r den einheimischen Markt gedacht waren, auch spanische, was aufgrund der intensiven Beziehungen zwischen Spanien und den Niederlanden einleuchtet, aber auch da¨nische, italienische, hebra¨ische und natu¨rlich fla¨mische bzw. niederla¨ndische. Zwischen 1545 und 1570 wurden in Antwerpen mehr spanischsprachige Werke gedruckt als in Spanien selbst.55 Eindrucksvoll ist die Vernetzung des Drucker/ Verlegers Willem Vorsterman (gest. 1543), der etwa 400 Titel zwischen 1504 und 1543 gedruckt hat, und zwar auch fu¨r Kollegen in Amsterdam, in Gent, in Ypern und Konstanz. Aufgrund der hohen Kapazita¨tsauslastung vergab er sogar weitere Auftra¨ge an Lohndrucker bis nach Paris. Die Blu¨te des Antwerpener Druckgewerbes wurde unterstu¨tzt durch eine religio¨se Toleranz, wurden doch reformatorische und gegnerische Schriften gleichermaßen, zum Teil beim selben Drucker hervorgebracht. Ohne Frage waren die Drucker sehr gebildet und sprachen nicht selten mehrere Sprachen. Sie bewegten sich im gleichen sozialen Umfeld wie ihre gelehrten Autoren und Ka¨ufer. Es sind nicht nur die Quantita¨ten wie Anzahl der Firmen und Produktionsvolumen, die in Antwerpen herausragen. Die Buchinhalte wie auch die Publikationsformen waren durch besondere Vielfalt gekennzeichnet. Anfangs dominierten wie in allen anderen europa¨ischen Fru¨hdruckoffizinen die theologischen und religio¨sen Druckerzeugnisse. Alsbald kamen Schulbu¨cher, Lehrbu¨cher, wissenschaftliche Werke und sehr fru¨h auch Unterhaltungsliteratur hinzu. Und nicht zu vergessen: Antwerpen wurde zum Zentrum des Landkarten- und Atlantendrucks. Das beru¨hmteste Beispiel ist sicherlich das Theatrum Orbis Terrarum von Abraham Ortelius (1527–1598) aus dem Jahr 1570. Großgraphiken wie Landkarten und Atlanten wurden flankiert von selbstbewussten Stadtdarstellungen in Radierungen und Holzschnitten. Als zweite Stadt nach der Handelsstadt Venedig wurde 1515 eine Ansicht Antwerpens angefertigt, die in Riesenholzschnitten aufwendig hergestellt wurde.56 Diese sehr teuren Graphiken wurden vermutlich sowohl fu¨r die begu¨terten Kaufmannsha¨user der Stadt als auch fu¨r durchreisende Kaufleute fabriziert.

54 Vgl. die Angaben bei Francine de Nave, Printing in Foreign Languages, in: Antwerp. Story of a Metro-

polis (wie Anm. 1), S. 220.

55 Watershoot, Antwerp: books, publishing and cultural production before 1585 (wie Anm. 40), S. 239. 56 Vgl. dies bei Thomas Besing, Produktion und Publikum, in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit

1400–1800, hg. v. Wolfgang Behringer/Bernd Roeck, Mu¨nchen 1999, S. 94–100, hier S. 95.

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Antwerpen war u¨ber all diese blu¨henden Gescha¨ftszweige hinaus spa¨testens im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts auch Knotenpunkt im Informationsverkehr. Ein regelma¨ßiger Botendienst von Antwerpen nach Ko¨ln und Frankfurt am Main gehend bestand neben den kaiserlich Taxis’schen Postwegen, die in Venedig, Rom, Mailand, Innsbruck, Augsburg, Frankfurt am Main, Ko¨ln, Bru¨ssel und Antwerpen Filialen hatten. Das pa¨pstliche und das Maila¨nder Postamtsunternehmen hatten ebenfalls Niederlassungen in Antwerpen.57 Mit den Informationen kamen zugleich kontinuierliche Einnahmequellen fu¨r die Drucker in die Stadt. Ein Zeitungsprivileg zum Beispiel war eine lukrative Sache, denn der Kapitalru¨ckfluss erfolgte im Gegensatz zur u¨ber viele Jahre hinweg verkauften Buchauflage mit langen Zahlungszielen recht schnell.58

3.2. Popula¨re Druckgraphik Die florierende mehrsprachige Buchproduktion verweist zwar auf einen internationalen Absatzmarkt, ist aber nicht zwingend ein hinreichendes Merkmal fu¨r eine Medienstadt. Das Buch als Medium positioniert sich stets in einem epochenspezifischen Medienkontext, zu dem auch die popula¨re Druckgraphik geho¨rt. Nils Bu¨ttner hat den Markt fu¨r Druckgraphik sowie ihren Vertrieb, insbesondere auch in Antwerpen fundiert beschrieben.59 Auch in diesem Bereich ist die Quantita¨t der dort ansa¨ssigen Ateliers, Werksta¨tten und Herstellungsbetriebe bemerkenswert. Abraham Ortelius berichtete 1572, in Antwerpen ka¨me ta¨glich eine wahre Flut von graphischen Bla¨ttern heraus.60 Um 1550 etablierten sich in Antwerpen neben dem beru¨hmten Christoph Plantin weitere, auf Druckgraphik spezialisierte Firmen.61 Zu diesen neuen Unternehmern geho¨rte der Kupferstichverleger Hieronymus Cock (ca. 1510–1570), der seinen Verlag Aux quatre Vents nannte und damit auf den Absatz seiner Produkte in alle Himmelsrichtungen abhob. Er unterhielt den gro¨ßten Stichvertrieb in den Niederlanden,62 ein kommerzielles Graphikunternehmen, in dem er etwa 20 Kupferstecher

57 Vgl. Paul Arblaster, London, Antwerp and Amsterdam: Journalistic relations in the first half of the

seventeenth century, in: The Bookshop of the World. The role of the Low Countries in the book-trade 1473–1941, hg. v. Lotte Hellinga/Alastair Duke/Jacob Harskamp/Theo Hermann, Zwolle 2001, S. 145–150. 58 Vgl. zu diesem Aspekt Ute Schneider, Grundlagen des Mediensystems. Drucker, Verleger, Buchha¨ndler in ihren o¨konomischen Beziehungen 1600–1750, in: Das Mediensystem im Alten Reich der Fru¨hen Neuzeit (1600–1750), hg. v. Johannes Arndt/Esther-Beate Ko¨rber (VInstEurG, Beih. 75), Go¨ttingen 2010, S. 27–37. 59 Vgl. Bu ¨ ttner, Die Erfindung der Landschaft (wie Anm. 22), S. 28–36. 60 Vgl. das Zitat ebd., S. 28. 61 Ebd., S. 29. 62 Graphik der Niederlande 1508–1617. Kupferstiche und Radierungen von Lucas van Leyden bis Hendrik Goltzius, Ausstellungskatalog, bearb. v. Konrad Renger/Cornelia Syre, Mu¨nchen 1979, S. 34. Zu Cocks Unternehmen, Produktion und Strategien vgl. ausfu¨hrlich Timothy A. Riggs, Hieronymus Cock. Printmaker and Publisher, New York/London 1977.

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bescha¨ftigte: „Mit Cock entstand der Typ des kaufma¨nnisch orientierten Kunstha¨ndlers, der sich nur noch mit dem Verlag und internationalen Vertrieb der Werke auf den Ma¨rkten und Messen befaßte.“63 Voraussetzung fu¨r den Aufbau und die Etablierung eines solchen Graphikvertriebs ist eine kritische Masse an Erzeugnissen und ein finanziell wie ideell aufnahmebereiter (bu¨rgerlicher) Absatzmarkt. Außer Cock o¨ffneten auch Hans Liefrinck (ca. 1518–1573) und Gerard de Jode (1509 oder 1517–1591) ihre Graphikbetriebe. Zu Cocks Programm geho¨rten vor allem Land¨ lteren. schaftsdarstellungen, unter anderem verlegte er auch Pieter Bruegel den A Nach Cocks Tod 1570 erlangte Philipp Galle (1537–1612) einen hervorragenden Ruf als Verleger von Druckgraphik und bescha¨ftigte eine Vielzahl von Stechern.64 Mit seiner Firma kooperierte ab den 1570er Jahren auch Plantin.65 In dieser ku¨nstlerisch fruchtbaren Atmospha¨re existierte allerdings auch eine belebende Konkurrenz unter den Graphik- und Buchdruckern, und unberechtigte Nachdrucke sorgten fu¨r Einkommensausfa¨lle. Jan van der Stock belegt am Beispiel des Kupferstechers Hans Liefrinck die Bemu¨hungen der Graphikdrucker um Monopolisierung. Liefrinck beantragte 1543 unter Hinweis auf die großen Summen, die er fu¨r die Verpflichtung von „Experten-Malern“ aufwende und welcher Schaden ihm durch Kopien seiner Bla¨tter entstu¨nde.66 Seit 1540 verfu¨gte die Stadt auch u¨ber eine permanente Kunstgalerie in der oberen Galerie der Bo¨rse.67 Im 17. Jahrhundert nahm der Kunstmarkt nochmals neuen Schwung mit Cornelius van der Geest (1555–1638), einem erfolgreichen Gewu¨rzha¨ndler, der sich als Fo¨rderer und Sammler der scho¨nen Ku¨nste einen Namen machte und eine Kunstkammer eingerichtet hatte. Eine deutliche Za¨sur brachte dann ein politisches Ereignis, was zwar die Medienstadt nicht niedergehen ließ, ihre Vormachtstellung jedoch erheblich einschra¨nkte. Die 1585 nach der Eroberung durch die Spanier und die Blockade der Scheldemu¨ndung aus Antwerpen Flu¨chtenden, zu denen Geld- und Gewu¨rzha¨ndler, Zuckerba¨cker, Bierbrauer, Weinha¨ndler, auch Diamantschleifer, Maler und Drucker wie Buchha¨ndler und Verleger geho¨rten, fanden eine neue Heimstatt in betra¨chtlicher Anzahl in Frankfurt am Main.

63 Patricia Stahl, Der Einfluß des niederla¨ndischen Bild- und Kunsthandels in Frankfurt am Main, in:

Bru¨cke zwischen den Vo¨lkern – Zur Geschichte der Frankfurter Messe, 3 Bde., hg. v. Rainer Koch, Bd. 3: Ausstellung zur Geschichte der Frankfurter Messe, hg. v. Patricia Stahl u. a., S. 226/227. 64 Vgl. Graphik der Niederlande, bearb. v. Renger/Syre (wie Anm. 62), S. 42. 65 Dazu ausfu¨hrlich: Karen L. Bowen/Dirk Imhof, Christopher Plantin and Engraved Book Illustrations in Sixteenth-Century Europe, Cambridge 2008, besonders S. 248–311. 66 Jan van der Stock, Gedruckte Bilder, in: Stadtbilder in Flandern (wie Anm. 44), S. 186/187. 67 Vgl. Hans Peter Thurn, Der Kunstha¨ndler. Wandlungen eines Berufs, Mu¨nchen 1994, S. 44.

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4. Fallbeispiel 2 Die freie Reichsstadt Frankfurt am Main – Kosmopolitisches Handelszentrum

Frankfurt am Main, wo Karl der Große 794 die Reichsversammlung abgehalten hatte, war eine kosmopolitische Stadt, spa¨testens seitdem sie 1356 Ort der Kaiserwahl geworden war. Friedrich II. hatte schon 1240 die Messe privilegiert und unter seinen Schutz gestellt. Frankfurt bildete seit dem Mittelalter einen bedeutenden Knotenpunkt im internationalen Handelsverkehr, war die Zentrale fu¨r mehrere Wirtschaftsra¨ume: auf der Rheinschiene u¨ber Ko¨ln bis in die Niederlande, weiter nach England, von Paris nach Leipzig und von Lyon nach Amsterdam. So pflegte die Stadt am Main auch schon seit langem Handelsbeziehungen mit Antwerpen, ebenso wie urspru¨nglich auch Ko¨ln, wo „die Toleranz gegenu¨ber Fremden deutlich geringer ausgepra¨gt [war], Protestanten und Calvinisten aus dem Reich, aber auch Italiener und Portugiesen durften nur relativ kurze Zeit in Ko¨ln bleiben und verlagerten ihre kaufma¨nnische Ta¨tigkeit nach Hamburg und Frankfurt“.68 Die religio¨se Toleranz Frankfurts la¨sst sich am internationalen Zustrom ablesen, der vorwiegend reformierte Wallonen (aus Valenciennes, Lille, Tournai, Bergen), reformierte Flamen (aus Antwerpen, Bru¨gge, Gent, Maastricht, Limburg) sowie Lutheraner aus Antwerpen umfasste.69 So entwickelte sich ein lebendiges sta¨dtisches Leben, das der Mainmetropole dynamischen wirtschaftlichen Aufschwung, einen starken Innovationsschub sowie kreatives Potenzial einbrachte. Letzteres beflu¨gelte den Buch- und Kunsthandel, und ließ Frankfurt „erstmals zu einem Zentrum der Malerei“70 werden. Im ganzen profitierten das Handwerk, der Handel, das gesamte Wirtschaftsleben Frankfurts von der niederla¨ndischen Emigration erheblich, nicht nur weil die Niederla¨nder 1585 dort die Bo¨rse gru¨ndeten, was Frankfurts Weltruhm als Finanzstadt einleitete, sondern auch, weil Frankfurt um 1550 nur 12 000 Einwohner hatte, der Handel auf einem Tiefpunkt angekommen und die Stadt hochverschuldet war.71 Zehn Jahre spa¨ter, 1560, hatte die Stadt schon 15 000, 1580 dann 18 000 und zu Beginn des 17. Jahrhunderts schließlich knapp 25 000 Einwohner. Diese Verdoppelung der Einwohnerzahl in 50 Jahren resultierte aus dem Zuzug ju¨discher, niederla¨ndischer und italienischer Zuwanderer. Die halbja¨hrlich abgehaltenen Messen im Fru¨hjahr und im Herbst zogen bis zu 5000 weitere, aus ganz Europa kommende Ga¨ste in die Stadt, um insbesondere Seidenhandel, Juwelenhandel, Buchhandel und Geldgescha¨fte zu betreiben.72 Die urspru¨nglich aus anderen europa¨ischen La¨ndern und Sta¨dten stammenden Einwohner geho¨rten unterschiedlichen Berufsgruppen an und

68 North, Kommunikation (wie Anm. 21), S. 20. 69 Vgl. diese Auflistung bei Frank Berger, Frankfurt um 1550, in: Glaube Macht Kunst. Faith Power(s)

Art, hg. v. Frank Berger. Ausstellungskatalog (Schriften des Historischen Museums Frankfurt a. M. 25), Frankfurt a. M. 2005, S. 39–47, hier S. 45. 70 Ebd., S. 45. 71 Vgl. ebd., S. 42. 72 In erster Linie werden diese vier Gescha¨ftszweige von Berger, ebd., S. 46, genannt.

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brachten jeweils spezifisches und vielfa¨ltiges Wissen mit in die Stadt, das in der Folge o¨konomische wie kulturelle Innovationen hervorbrachte und die Stadt auch wirtschaftlich sta¨rkte. Der sichtbare Effekt waren die Etablierung neuer Infrastrukturen, die Ausdifferenzierung und Spezialisierung neuer Professionen und die Herstellung von neuen Waren und Gu¨tern, beispielsweise auch im Druck- und druckgraphischen Gewerbe, und die Bereitstellung von neuen Dienstleistungen. Die Stadt war schon vor Gutenbergs Erfindung traditioneller Handelsplatz des Buchgewerbes. Es wurden handgeschriebene Bu¨cher oder Blockbu¨cher, auch im Holzdruck hergestellte Spielkarten auf der Messe feilgeboten, und schon fru¨h war dann der Mainzer Mitarbeiter Gutenbergs Peter Scho¨ffer (um 1425-um 1503) regelma¨ßig mit seinen gedruckten Bu¨chern auf der Frankfurter Messe vertreten. Frankfurt am Main ist ein Beispiel fu¨r eine Metropole, die sicherlich den ganz fru¨hen Mediensta¨dten, spa¨testens seit der Inkunabelzeit, zugeordnet werden kann, obwohl es nach Gutenbergs Erfindung noch fast 90 Jahre gedauert hat, bis sich der erste Drucker bzw. Verleger von lokaler wie auch u¨berregionaler Bedeutung in der Stadt niederließ.73 Dieser spa¨te Zeitpunkt ist u¨berraschend, denn Frankfurt hatte schon allein aufgrund der Kaiserwahlen und seit 1563 auch mit den Kaiserkro¨nungen genu¨gend interessante Ereignisse zu bieten, die eine mehr oder minder aktuelle mediale Berichterstattung lohnten (hatte doch beispielsweise bei der Kaiserkro¨nung 1562 eine tu¨rkische Delegation mit Dromedaren Aufsehen erregt).74 Auch war zur Messezeit zweimal im Jahr stets ein finanzkra¨ftiges Publikum zugegen, an das man seine Druckerzeugnisse ha¨tte gut absetzen ko¨nnen. Andererseits war in Frankfurt weder ein weltlicher noch ein geistlicher Fu¨rst ansa¨ssig, auch keine Universita¨t mit regelma¨ßigen Druckauftra¨gen außerhalb der Messezeit.75 Der Hinweis auf die Na¨he zu Mainz als Druckstadt mit ¨ berlegung, in der Messestadt wu¨rregelma¨ßig verkehrendem Marktschiff76 und die U den so viele Bu¨cher gestapelt, dass eine eigene Druckwerkstatt nicht notwendig war, kann eventuell eine Erkla¨rung fu¨r diesen Mangel liefern.

73 Zu Frankfurt als Verlags- und Druckstadt allgemein vgl. z. B.: Alexander Dietz, Buchdruck und

Buchhandel, in: Ders., Frankfurter Handelsgeschichte, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1921, S. 1–178; Fried Lu¨bbecke, Fu¨nfhundert Jahre Buch und Druck in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1948; Tina Terrahe, Frankfurts Aufstieg zur Druckmetropole des 16. Jahrhunderts, in: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im spa¨ten Mittelalter und in der fru¨hen Neuzeit, hg. v. Robert Seidel/Regina Toepfer, Frankfurt a. M. 2010, S. 177–194. 74 Vgl. Berger, Frankfurt um 1550 (wie Anm. 69), S. 46. 75 Vgl. diesen Aspekt bei Imke Schmidt, Die Bu¨cher der Frankfurter Offizin Gu¨lfferich-Han Weigand Han-Erben. Eine literarhistorische und buchgeschichtliche Untersuchung zum Buchdruck in der zweiten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts (Wolfenbu¨tteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 26), Wiesbaden 1996, S. 26. 76 Vgl. dazu schon Paul Jacob Marperger, Beschreibung der Messen und Jahrma¨rkte, Leipzig 1710, S. 211 (Nachdruck mit einer Einfu¨hrung von Bruno Tietz, Frankfurt a. M. 1968).

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4.1. Internationale Messe und intellektuelles Zentrum Frankfurt konnte zwar zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch kein florierendes Druckgewerbe aufweisen, war aber fu¨r den Handel mit Druckerzeugnissen ein international wichtiger Umschlagplatz. Die Mainmetropole war erheblich kleiner als Antwerpen, war auch Ende des 16. Jahrhunderts Standort fu¨r lediglich acht Druckereien und war dennoch eine der wichtigsten Mediensta¨dte der Fru¨hen Neuzeit. Um 1600 hatte die ja¨hrliche Titelproduktion in Frankfurt eine Spitzenposition im deutschen Buchhandel erreicht und nahm schließlich „eine zentrale Stellung in der europa¨ischen Bildungswelt ein“.77 Ab 1564 erschienen erstmals eigens fu¨r die Frankfurter Buchmesse gedruckte Messkataloge, zuna¨chst als privates Werbe- und Informationsmedium einzelner Drucker/Verleger, ab 1598 als amtliches Verzeichnis der auf der Messe gehandelten Druckerzeugnisse. Zu diesem Zeitpunkt war Frankfurt zur bedeutendsten Buchmetropole mit prosperierendem Druckereiwesen emporgestiegen, mit großen Verlagsunternehmen und entsprechenden Zulieferbetrieben. Frankfurt wurde zu einem europaweiten geistigen Zentrum, obwohl es keine Universita¨t hatte, denn Gelehrte, Schriftsteller, Illustratoren und gelehrte Buchha¨ndler aus der Schweiz, aus Frankreich, Italien, aus ganz Europa fanden hier einen Kommunikationsort vor, der bereits zeitgeno¨ssisch (Marckschiffer-Gespra¨ch 1596) als herausragend charakterisiert wurde: Hie legen auss all glehrte Leuth. All ihre Kunst und Geschicklichkeit, Durch die Buchfu¨hrer, Truckerherrn, So hier zusamm kommen von fern: [...] Hie findst Geistliche und Juristen, Medicos vnd Alchemisten: Beru¨hmte gewaltige Doctores, Vornemer Schulen Professores; Von Marpurg, Leipzig, Wittemberg, Tu¨bing, Basel, Heidelberg, wie auch von Lo¨uen in Holland, Ochsenfurt in Engelland. Badua in Italien, Vnd von Cantabrigien. Also auch von Genue, dessgleich Von Parise auss Frankreich.78 Die Aufza¨hlung der Universita¨tssta¨dte, aus denen Gelehrte nach Frankfurt kamen, korrespondiert mit der Internationalita¨t der Drucker/Verleger und Buchfu¨hrer. 77 Berger, Frankfurt um 1550 (wie Anm. 69), S. 46. Zur Quantita¨t der Frankfurter Buchproduktion vgl.

Dietz, Handelsgeschichte (wie Anm. 73), S. 70–74. 78 Zitiert nach Ernst Kelchner, Sechs Gedichte u¨ber die Frankfurter Messe, in: Mittheilungen des Ver-

eins fu¨r Geschichte und Alterthumskunde in Frankfurt am Main 6 (1881), S. 317–396, hier S. 342/343.

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Die Frankfurter Messe war nicht nur Gescha¨ftsmesse, sondern auch Gelehrtenmesse. Johannes Reuchlin (1455–1522) beispielsweise hatte Philipp Melanchthon (1497–1560) brieflich mitgeteilt, er werde bei Thomas Anshelm (um 1470–1522/24), einem Drucker/Verleger aus Hagenau, auf der na¨chsten Messe anzutreffen sein. Auch Melanchthon traf sich zur Ostermesse 1518 mit seinem Verleger in dessen Laden in der Buchgasse. Wolfgang Bru¨ckner hat eine Messha¨ndlerliste von 1579 ausgewertet, aus der hervorgeht, dass insgesamt 70 Firmen aus dem herstellenden Buchhandel und etwa 30 Buchfu¨hrer auf der Messe sowie 20 weitere Buchgewerbetreibende auf der Herbstmesse anwesend waren, was zeigt, dass die Buchha¨ndler und Drucker/Verleger eine recht u¨berschaubare Menge innerhalb der Gesamtmesse ausgemacht haben.79 Sie alle du¨rften sich untereinander durch die Tauschgescha¨fte gekannt haben. Zu den wichtigsten Messebeschickern in der zweiten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts za¨hlten die Niederla¨nder, deren Buchproduktion zu dieser Zeit die ho¨chste qualitative Blu¨te erreichte. Bereits der erste Antwerpener Drucker Heinrich Eckart hatte die Messe besucht. Aus Antwerpen kamen um 1570 nach Frankfurt: Johann Beller, Cornelius Clypius, Cornelius und Rupprecht Caimox, Anton Dilher, Hans von Loe¨, Martin und Philipp Nutius, Christoph Plantin, Johannes Moretus, Franz Rapheleng, Johann Richart, Gerhart Spilmann, Wilhelm Sylvius, Johann Steels, Franciscus Steltzius.80 Christoph Plantin brachte jedes Jahr mehrere tausend Buchexemplare zum Tausch nach Frankfurt. Als zum Beispiel nach dem protestantischen Bildersturm 1566 die Absatzmo¨glichkeiten liturgischer Drucke in Antwerpen zuru¨ckgegangen waren, fuhr Plantin in den Jahren 1568 bis 1571 regelma¨ßig nach Frankfurt, um dort seine liturgischen Drucke abzusetzen. Er unterhielt dort auch ein Lager, das nach seinem Tod auf mehr als 8000 Gulden gescha¨tzt wurde.81 Das angebotene Medienspektrum auf der Messe war vielfa¨ltig, nicht nur gelehrte Werke, sondern auch eine Menge Kleinschrifttum, Flugbla¨tter und Flugschriften, Gelegenheitsdrucke sowie Kalender und Neue Zeitungen wurden dort gehandelt.82 Im Marckschiffer-Gespra¨ch 1596 wird berichtet: Will mir new Zeitung kauffen ein, Dieweil die jetzt so angnemb seyn. Kann sie selber tichten zu zeiten, Obs wahr, hat nicht vil zu bedeuten. Betrogen seyn will jetzt die Welt, Kauffen Lu¨gen umb gutes Gelt. 79 Wolfgang Bru ¨ ckner, Eine Meßha¨ndlerliste von 1579 und Beitra¨ge zur Geschichte der Bu¨cherkom-

mission, in: Archiv fu¨r Geschichte des Buchwesens III (1961), Sp. 1629–1648. 80 Vgl. diese Aufza¨hlung bei Aloys Ruppel, Die Bu¨cherwelt des 16. Jahrhunderts und die Frankfurter

Bu¨chermessen, in: De Gulden Passer 34 (1956), S. 20–39, hier S. 32. 81 Ebd., S. 33. 82 Zwei Schlaglichter auf das Buch- und Medienangebot sind zu finden in: Mess-Memorial des Frank-

furter Buchha¨ndlers Michael Harder, Fastenmesse 1569, hg. v. Ernst Kelchner/Richard Wu¨lcker, Frankfurt a. M., Paris 1873 sowie Heinrich Pallmann, Ein Meßregister Sigmund Feyerabends aus dem Jahre 1565, in: Archiv fu¨r Geschichte des deutschen Buchhandels IX (1884), S. 5–46.

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Je feister Lu¨g, je besser kauff, Das weiß gar wol der Singer hauff. Die Zeitung gelten vberal, Einer hat was auss Portugal: Der ander aus Hispanien, Auss Lothringen, Italien: Auss Niderlanden und Franckreich, Auss Sophya und Polen dessgleich: Warhaffte Zeitung aus Brabant, Auss Hungarn und Engelland. [...] Derselbn ich jetzt viel vernam. Als ich einstmals in d’ Buchgass kam: Stund still vnd mich ein wenig vmbsah, Da ward ich gwar dort in der nah, Ein hauffen Leuth stehen herumb, Die lasen nova novorum; Warhaffte newe Zeittungen, Historische Beschreibungen.83 Die Medienvielfalt bot fu¨r jedes intellektuelle Vermo¨gen, fu¨r jedes Finanzbudget und fu¨r jede Rezeptionssituation reichlich Auswahlmo¨glichkeiten. 1611, als der Londoner Buchha¨ndler John Bill die Frankfurter Messkataloge in englischer Sprache herausgab84, berichtete auch sein Landsmann, der englische Reiseschriftsteller Thomas Coryate (1577–1617) von der Frankfurter Herbstmesse, er sei in die Buchgasse gegangen, „wo ich solch unermeßlichen Reichtum [...] sah, daß ich ihn ho¨chst bewundern mußte. Denn diese Straße u¨bertrifft bei weitem St. Paul’s Churchyard in London, [...] die Merceria in Venedig, alles, was ich auf meinen Reisen sah. [...] Und doch ist diese Stadt nicht nur wegen ihres Buchhandels beru¨hmt, sondern auch wegen ihres Buchdrucks. Denn diese Stadt ist in den letzten Jahren in der Buchdruckerkunst so aufgeblu¨ht, daß sie keiner Stadt in der Christenheit nachsteht, auch nicht Basel.“85 Tatsa¨chlich hatte Frankfurt in der zweiten Ha¨lfte des 16. Jahrhunderts die großen Druckzentren der Fru¨hdruckzeit wie Augsburg, Nu¨rnberg, Basel und Straßburg zur buchha¨ndlerischen Peripherie werden lassen und eine Spitzenposition erreicht. Unter den Messebesuchern findet man Angeho¨rige aller buchaffinen Professionen, neben den Drucker/Verlegern und Buchfu¨hrern kamen auch Papierha¨ndler, Formschneider, Briefmaler, Kupferstecher und Buchbinder an den Main. Aber nicht

83 Zitiert nach Kelchner, Sechs Gedichte u¨ber die Frankfurter Messe (wie Anm. 78), S. 322/323. 84 Vgl. Nils Bru ¨ bach, Die Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig und Braunschweig

(14.–18. Jahrhundert), Stuttgart 1994, S. 195. 85 Zit. nach Berthold Hack, Von der „Buchgaß“ zum Großen Hirschgraben. Zur Geschichte der buch-

ha¨ndlerischen Quartiere und ihrer Bewohner, in: Bo¨rsenblatt fu¨r den deutschen Buchhandel (Frankfurter Ausgabe), Nr. 34 vom 28. April 1953, S. 190–205, hier S. 191.

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nur die Buchbranche fand sich in Frankfurt zur Kontaktpflege und fu¨r Gescha¨fte zusammen, sondern auch der Kunsthandel.86 Bilderha¨ndler und umherziehende Kolporteure verkauften popula¨re druckgraphische Bla¨tter wie Andachtsbilder, Ornamentvorlagen, auch Spielkarten. Es ist beispielsweise belegt, dass Du¨rers Frau Agnes in den Jahren 1505 und 1506, als sich Du¨rer in Venedig aufhielt, auf der Frankfurter Messe Kupferstiche und Holzschnitte ihres Mannes verkaufte und dafu¨r immerhin stattliche 13 Gulden erhalten hatte.87 Besonders die kapitalkra¨ftigen niederla¨ndischen Kunstha¨ndler kamen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts nach Frankfurt, um diesen profitablen Vertriebsweg auszunutzen. Der oben bereits erwa¨hnte Hieronymus Cock war sicher der bedeutendste unter ihnen. Niederla¨ndische Emigranten sorgten ¨ . (gest. 1588) fu¨r einen florierenden Kunstbetrieb in Frankfurt. Cornelius Caimox d. A beispielsweise stammte ebenfalls aus Antwerpen, hatte sich in Frankenthal niedergelassen und ließ nach dem merkantilen Vorbild Cocks 1581 bis 1588 Kupferstiche in Ko¨ln, Straßburg und Frankfurt drucken, um sie dann auf der Frankfurter Messe feilzubieten.88

4.2. Das Buchha¨ndlerviertel – Wohnort der Eliten und Kommunikationsraum Der franzo¨sische Verleger Henri Estienne (1531–1598) sprach 1574 in seinem oft zitierten humanistischen Sta¨dtelob auf Frankfurt von der „Akademie der Musen in Messeform. Denn die Musen rufen zu der Messe ihre Buchdrucker und Buchha¨ndler alle gleichzeitig nach Frankfurt hin und heißen sie die Dichter, Redner, Geschichtsschreiber und Philosophen mit sich bringen; [...] Und daher bietet auch diese Akademie in Messeform, wie ich sie oben genannt habe, einen Gewinn, der sich aus keiner Bibliothek erzielen la¨ßt. Denn hier kann jedermann die lebendige Stimme vieler Lehrer genießen, die von den verschiedenen Akademien hier zusammenstro¨men; hier kann man gar manche von ihnen in den Buchha¨ndlerla¨den selbst nicht weniger ernst philosophieren ho¨ren, als es einst in den Ra¨umen des athenischen Lyzeums von Ma¨nnern wie Sokrates und wie Plato geschehen ist.“89 Das derart beschriebene Frankfurter Buchha¨ndlerviertel lag im Su¨den der Stadt am Main, auf dem die schweren, mit Bu¨chern gefu¨llten Fa¨sser auf Schiffen anlandeten und von dort aus bequem in die Lager und La¨den gerollt werden konnten. Wie die Angeho¨rigen anderer Gewerbe und wie in Antwerpen und in anderen Sta¨dten ebenfalls u¨blich bewohnten die Frankfurter Drucker und Verleger ein eigenes Stadtviertel:90 Die Druckereien und die Lager-Gewo¨lbe der Verleger befanden 86 Vgl. hierzu besonders: Patricia Stahl, Der Kunsthandel in Frankfurt am Main, in: Bru¨cke zwischen

den Vo¨lkern (wie Anm. 63), S. 210–211. 87 Vgl. die Exponatbeschreibungen von Monika Salet sowie Patricia Stahl, in: ebd., S. 211, 213. 88 Vgl. Stahl, Der Einfluß des niederla¨ndischen Kunsthandels (wie Anm. 63), S. 226. 89 Henricus Stephanus/Henri Estienne, Francofordiense Emporium [1574]. Der Frankfurter Markt. The

Frankfort Fair. La Foire de Francfort, Nachdruck Frankfurt a. M. 1968, S. 61/62.

90 Beschrieben bei Hack, Geschichte der buchha¨ndlerischen Quartiere (wie Anm. 85) und Lu ¨ bbecke,

Das Buchha¨ndlerviertel, in: Ders.: Fu¨nfhundert Jahre Buch und Druck in Frankfurt am Main (wie Anm. 73), S. 50–58.

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sich parallel zum Main zwischen dem Ro¨merberg und der Mainzer Pforte. Den Mittelpunkt des Viertels bildete die St. Leonhardskirche: „In diesem Viertel herrschten Wohlstand und Glanz. [...] Er spricht fu¨r den Wohlstand und die Selbstachtung der Verleger und Buchha¨ndler, daß sie das beste Viertel in Frankfurt bewohnten.“91 Neben dem sichtbaren finanziellen Wohlstand – die wirtschaftliche Lage der Druckherren und Verleger war mit der von Großkaufleuten vergleichbar92 –, a¨hnelte sich „das soziale Milieu der Verleger und Gelehrten [...] im Habitus, denn sie geho¨rten zu der herausragenden Bildungsgemeinschaft in der intentional orientierten Intellektuellengesellschaft, fu¨r die sie wissenschaftliche Vermittlungsfunktion hatten.“93 Wirtschaftlich etabliert und als angesehene Bu¨rger mit imponierendem Grund- und Immobilienbesitz genossen Frankfurter Drucker wie Egenolffs Erben94 und Verlegerfamilien wie die Sigmund Feyerabends hohes soziales Ansehen in der Stadt. Der zugewanderte Drucker Nicolas Basse´ (ca. 1540–1599) konnte beispielsweise seinen fu¨nf Kindern ein Geldvermo¨gen von immerhin 33 000 Gulden und zwei Ha¨user in der Alten Mainzer Gasse hinterlassen.95 Als soziale Gruppe bildeten die kapitalkra¨ftigen Druckherren und die großen Verleger die Schnittstelle zwischen Wirtschaftsund Bildungselite.

4.3. Medienunternehmen und Publikationsformen 1530 verlegte der Drucker/Verleger Christian Egenolff (1502–1555), der aus Hadamar im Westerwald stammte und in Mainz studiert hatte, seinen Betrieb von Straßburg nach Frankfurt. Vermutlich verließ er Straßburg, um der Konkurrenz von ca. 15 dort ansa¨ssigen Druckereiunternehmern auszuweichen. In Frankfurt, wo zwar der Buchhandel stark und mindestens fu¨nf Buchfu¨hrer vertreten waren, eine Druckerei jedoch fehlte, waren somit die Standortbedingungen und die Marktlage gut.96 Egenolff produzierte bis zu seinem Tod 420 Bu¨cher, richtete eine Filiale in Marburg an der Lahn ein, wo gerade 1527 die protestantische Universita¨t gegru¨ndet worden war, und besaß auch eine Papiermu¨hle im Schwarzwald. Egenolff druckte eine große Anzahl deutschsprachiger Bu¨cher, besonders Fachprosa wie zum Beispiel Arzneiund Kra¨uterbu¨cher oder Kochbu¨cher, aber auch juristische Fachliteratur in lateini¨ bersetzungen. Mit Egenolff arbeitete der renomscher Sprache und in deutschen U mierte Graphiker und Zeichner Hans Sebald Beham (1500–1550) zusammen, der

91 Lu ¨ bbecke, Das Buchha¨ndlerviertel (wie Anm. 90), S. 51. 92 Vgl. Monika Estermann: Signete und Widmungsbriefe Frankfurter Verleger, in: Archiv fu¨r Geschichte

des Buchwesens 59 (2005), S. 65–90, hier S. 67. Estermann verweist u. a. auf den Immobilienbesitz der Drucker/Verleger. 93 Ebd., S. 67. 94 Zu deren soliden wirtschaftlichen Lage vgl. in der Dissertation von Gu¨nther Richter, Christian Egenolffs Erben 1555–1667, in: Archiv fu¨r Geschichte des Buchwesens VII (1967), Sp. 449–1130. 95 Vgl. Kurt Wettengl, Druck, in: Glaube Macht Kunst. Faith Power(s) Art (wie Anm. 69), S. 137–149, hier S. 140. 96 Vgl. zu dieser Argumentation die Angaben bei Richter, Christian Egenolffs Erben 1555–1667 (wie Anm. 94), Sp. 460.

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1532 aus Nu¨rnberg nach Frankfurt u¨bersiedelte und 1540 das Bu¨rgerrecht erhielt. Beham entwarf auch Egenolffs Druckersignet. 1596 wird im Marckschiffer Gespra¨ch von acht Frankfurter Druckereien gesprochen, was im Vergleich mit Ko¨ln oder gar Antwerpen recht wenig ist. Allerdings hatten sich Ende des 16. Jahrhundes hochspezialisierte Medienunternehmer in Frankfurt niedergelassen. Dazu geho¨rte der bedeutende Verleger Sigmund Feyerabend (1527–1590), der als Formschneider ausgebildet worden war und aus Heidelberg in die Mainmetropole kam. Er war reiner Verleger ohne eigenen Druckereibetrieb und bescha¨ftigte ab 1560 stets mehrere Lohndruckereien fu¨r seine Werke. Er verlegte theologische und juristische Literatur fu¨r den gesamteuropa¨ischen Markt, wurde aber in erster Linie mit seinen großen bedeutenden Bilderbibeln beru¨hmt. Fu¨r diese lieferte der Nu¨rnberger Holzschneider Jost Amman (1539–1591), der nachweislich 1574 und 1583 perso¨nlich zum Messebesuch nach Frankfurt reiste, Tausende von Holzschnitten.97 Die Typographie und graphische Ausstattung der Bibeln mit reichen Illustrationen ku¨ndigten einen dauerhaften Bruch „mit den Lese- und Sehgewohnheiten“98 an. Die mit Holzschnitten von Jost Amman geschmu¨ckten Bibeln waren fu¨r den Verleger ein lukratives Gescha¨ft. Es folgten in kurzen Absta¨nden immer neue Auflagen (1569, 1570, 1577, 1580 und 1583). Auch eine erstmals 1566 erschienene lateinische Bibel mit Ammans Holzschnitten wurde zweimal neu aufgelegt. Die Holzschnitte Ammans waren so beliebt, dass Feyerabend sie gescha¨ftstu¨chtig auch einzeln als reine biblische Bilderserien verkaufte. Feyerabend beschritt nicht nur mit seinem Verlagsprogramm neue Wege, sondern auch in der Organisation seines Gescha¨ftes. Er richtete selbst keine Druckerei ein, sondern wurde reiner Verleger, was in dieser Zeit noch ausgesprochen ungewo¨hnlich war; die großen Verlagsfirmen hatten meistens noch eine Druckerei. Im Unternehmen Feyerabends wird eine sehr fru¨he Spezialisierung und funktionale Ausdifferenzierung professioneller Rollen deutlich. Er nahm damit durchaus eine Vorreiterrolle ein. Er war prototypisch der rein kommerziell ausgerichtete Verleger. Er war ausgesprochen innovativ und fu¨hrte die Frankfurter Buchkunst zu einer fru¨hen Blu¨te. In Frankfurt vollzog sich der Ausdifferenzierungsprozess in Drucker und Verleger, der freilich nebenbei ein Sortiment betrieb, um am buchha¨ndlerischen Tauschgescha¨ft partizipieren zu ko¨nnen, sehr fru¨h. Aus dieser arbeitsteiligen Trennung resultierte einerseits ein Spezialistentum in unterschiedlichen Professionen, andererseits ließ diese Trennung aber auch den Drucker zum Lohndrucker, der nur in fremdem Auftrag druckt, in seiner sozialen Anerkennung herabsinken. Dies war eine Neuerung. Und diese „Teilung, bei welcher nunmehr zwei verdienen wollten, hatte allma¨hlich einen starken Ru¨ckgang in den Leistungen der Druckereien zur Folge.“99 Es kamen weitere Verleger und Drucker nach Frankfurt, die in der Folge Feyerabends die Stadt zu einer ersten Adresse der Kupferstichkunst machten. Dazu

97 Dietz, Handelsgeschichte (wie Anm. 73), S. 89. 98 Estermann, Signete und Widmungsbriefe (wie Anm. 92), S. 81. 99 Dietz, Handelsgeschichte (wie Anm. 73), S. 13.

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geho¨rte der reformierte, von den Spaniern aus Lu¨ttich vertriebene Kupferstecher Theodor de Bry (1528–1598). Er u¨bersiedelte 1590, im Todesjahr Feyerabends, aus Straßburg nach Frankfurt. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits seit 20 Jahren fu¨r den verstorbenen Feyerabend ta¨tig gewesen und wurde nun in Frankfurt zu einem der innovativsten Verleger seiner Zeit, indem er dem Kupferstich im Buch zum Durchbruch verhalf und den Holzschnitt als Buchillustrationsverfahren zuru¨ckdra¨ngte. Er hatte sich 1577 bis 1584 in Antwerpen im Kupfertiefdruck weitergebildet und kam mit seinen beiden So¨hnen Johann Theodor (1561–1623) und Johann Israel (1572–1623) nach Frankfurt, wo sie große Kupferstichwerke herausbrachten. Theodor de Bry traf in Frankfurt auch auf seinen wallonischen Landsmann Nicolas Basse´e (gest. 1601) aus Valenciennes, ebenfalls ein Religionsflu¨chtling, der nach dem Tod Feyerabends der bedeutendste Verleger in der Mainmetropole war. Auch Basse´e verkaufte 1599 seine Druckerei und fu¨hrte sein Unternehmen als reinen Verlag, der nach seinem Tod von seinem Sohn u¨bernommen wurde. Außer ihm hatten sich auch die beiden Schwiegerso¨hne des aus Paris geflohenen, ab 1572 in Frankfurt wirkenden Verlegers Andreas Wechel (gest. 1581), Johannes Aubry (gest. 1600 oder 1601) aus Straßburg und Claude de Marne aus Paris, hier angesiedelt. Hatten die Frankfurter Verleger bis dahin vor allem mit den Nu¨rnberger Holzschneidern wie Jost Amman, Hans Sebald Beham (1500–1550), Hans Scha¨ufelin (um 1480/85-um 1538/40) und anderen bekannten Ku¨nstlern zusammengearbeitet, wurden unter den Frankfurter Kunstverlegern die Kupferstichwerke am Standort produziert und fu¨hrten dazu, dass Frankfurt bis Ende des 17. Jahrhunderts neben Augsburg der „erste Verlagsplatz fu¨r Kupferstichwerke“100 geworden war. Der bekannteste Kupferstichverlag ist sicherlich der von Mattha¨us Merian (1593–1650), der 1625 aus Basel in die freie Reichsstadt zuwanderte und einer der bedeutendsten Kunstverleger wurde.101 Sein Theatrum Europaeum ist eines der publizistischen Großprojekte des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts, an dem drei Generationen der Familie Merian beteiligt waren.102 In 21 Ba¨nden mit ca. 20 000 Seiten Text und 720 Kupfertafeln und knapp 700 Kupferportra¨ts werden die denkwu¨rdigsten Ereignisse des Jahrhunderts zwischen 1618 und 1718 beschrieben. Als Quellen dienten die zur Frankfurter Messe publizierten Messrelationen.103 Frankfurt als Umschlagplatz fu¨r Bu¨cher hatte eine enorme Anziehungskraft fu¨r Graphiker, Drucker und Verleger entwickelt, die sicherlich aus den Ende des 16. Jahrhunderts recht attraktiven Standortbedingungen resultierte. Infrastrukturell ist auch nach den Zulieferbetrieben zu fragen. Die erste nachweisbare Frankfurter Papiermu¨hle stand ab 1539 in Bonames. Mitte des 16. Jahrhunderts waren in Frankfurt bzw. in na¨herer Umgebung fu¨nf Papiermu¨hlen aktiv.104 100 Dietz, Handelsgeschichte (wie Anm. 73), S. 89. 101 Zu Merians Verlag vgl. Stefan Soltek, Matthaeus Merian – Verleger seiner Zeit, in: Matthaeus Merian.

Ausstellungskatalog, Frankfurt am Main: Museum fu¨r Kunsthandwerk 1993, S. 276–282.

102 Vgl. Hermann Bingel, Theatrum Europaeum. Ein Beitrag zur Publizistik des 17. und 18. Jahrhun-

derts. Phil. Diss. Mu¨nchen 1909, Neudruck Wiesbaden 1969, S. 7; siehe auch Gerd Dethlefs, Schau¨ ffentlichkeit, platz Europa. Das Theatrum Europaeum des Matthaeus Merian als Medium kritischer O in: Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, hg. v. Klaus Bussmann/Elke Anna Werner, Wiesbaden 2004, S. 149–179. 103 Diesen Nachweis fu¨hrt Bingel (wie Anm. 102), S. 28–35. 104 Dietz, Handelsgeschichte (wie Anm. 73), S. 111.

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Als Umschlagplatz und als Papiermarkt fu¨r große Mengen Papierballen war Frankfurt schon wesentlich fru¨her bekannt. Auf der Buchmesse wurden regelma¨ßig riesige Mengen umgesetzt fu¨r Absatzgebiete in Nord- und Mitteldeutschland. Obwohl Frankfurt als Sta¨tte der Produktion weniger hervortrat als sie fu¨r ihre Handelsmessen bekannt war, wurde sie zeitgeno¨ssisch durchaus in ihrer Eigenschaft als Medienzentrum wahrgenommen, wie die oben schon zitierten Lobgedichte von Henri Estienne u. a. zeigen.105 Zeugnis dieser Wahrnehmung als Medienstadt ist sicherlich der 1564 erstmals gedruckte Messkatalog, der vom Augsburger Drucker/ Verleger Georg Willer (1514–1593) eigens fu¨r die Frankfurter Messe als zuna¨chst noch privates Werbeinstrument erstellt wurde. In der Buchhandelsgeschichte ist dies ein ganz entscheidendes Datum, wird doch damit deutlich, dass der alte, im Buchhandel u¨bliche Wanderverkehr durch die Bedeutungssteigerung der Frankfurter Messe nur noch lokale oder ho¨chstens regionale Bedeutung hatte. Fu¨r den u¨berregionalen, fu¨r den internationalen buchha¨ndlerischen Gescha¨ftsverkehr war die Frankfurter Messe der wichtigste Umschlagplatz geworden. Damit waren auch die „kleineren Bu¨cherzentren in den Universita¨tssta¨dten“106 wie Basel, Straßburg, Heidelberg, Mainz und Ko¨ln fast ga¨nzlich ausgeschaltet. Schließlich sind die Messrelationen relevant, die ab 1583 eigens fu¨r die Frankfurter Messe geschrieben und gedruckt wurden, und zwar zuna¨chst in Ko¨ln. In halbja¨hrlichem Rhythmus zuna¨chst als gedruckte Chroniken mit einem Umfang von 100 bis 150 Seiten berichteten sie die Ereignisse der vergangenen Monate.107 Die erste Messrelation wurde von dem Ko¨lner Juristen und Historiker Michael von Aitzing (ca. 1530–1598) fu¨r die Frankfurter Messe herausgebracht. In Ko¨ln erschienen dann auch noch weitere Messrelationen. Ab den 1590er Jahren lief Frankfurt Ko¨ln „den Rang ab“.108 Bis in die 1640er Jahre erschienen 263 Messrelationen in Frankfurt,109 mehr als doppelt so viele wie in Ko¨ln; an dritter Stelle folgt mit etwas mehr als einem Drittel der Frankfurter Produktion Leipzig.

5. Charakteristische Merkmale der fru¨hneuzeitlichen Mediensta¨dte

Fru¨hneuzeitliche Sta¨dte, die gleichsam als „Mediensta¨dte“ bezeichnet werden ko¨nnen, weisen strukturelle Gemeinsamkeiten auf, unabha¨ngig von ihrer Einwohnerzahl und unabha¨ngig von der reinen Quantita¨t ihrer Medienproduktion. Ein Hauptaspekt, der zur Identifikation einer Stadt als Medienstadt beitra¨gt, ist neben dem 105 Zu Frankfurt in Lobgedichten vgl. Ursula Paintner, Zwischen regionaler Verortung und Reichsper-

spektive. Frankfurt im Sta¨dtelob der Fru¨hen Neuzeit, in: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse (wie Anm. 73), S. 364–385. 106 Ruppel, Die Bu¨cherwelt des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 80), S. 31. 107 Juliane Glu ¨ er, Meßrelationen um 1600 – ein neues Medium zwischen aktueller Presse und Geschichtsschreibung. Eine textsortengeschichtliche Untersuchung, Go¨ppingen 2000, S. 1. 108 Sto ¨ ber, Deutsche Pressegeschichte (wie Anm. 17), S. 56. 109 Ebd.

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anzutreffenden qualitativ breiten Medienspektrum der professionelle Organisationsgrad der o¨rtlichen Medienunternehmen. Zwei Kennzeichen der Moderne sind die Ausdifferenzierung von Professionen und das Prinzip des Zusammenwirkens von Konkurrenz und Arbeitsteilung.110 Im „Mediengewerbe“ sind diese Prinzipien bereits in der Fru¨hen Neuzeit im Produktionsablauf verwirklicht worden. Die von Clemens Zimmermann schon beschriebene hinzukommende Clusterbildung im sta¨dtischen Buchgewerbe und im sta¨dtischen Kunsthandel la¨sst sich auch fu¨r Antwerpen und Frankfurt am Main nachweisen. Daru¨ber hinaus lassen sich trotz ihrer eklatanten Gro¨ßenunterschiede strukturelle Gemeinsamkeiten von beiden Sta¨dten ablesen: 1. handelt es sich um traditionsreiche Handelssta¨dte mit internationalen Handelsnetzen, die gleichzeitig auch zu wichtigen Finanzzentren mit großer Anziehungskraft wurden und ideale Standortbedingungen fu¨r Unternehmer boten. Handelspla¨tze begu¨nstigten in der Fru¨hen Neuzeit die Ansiedlung von Medienunternehmen eher als Universita¨tssta¨dte, die zwar als prima¨rer Ort spezifischer gelehrter Wissensproduktion und -diffusion fungieren, was aber als Standortbedingung fu¨r Buchdruck- und Graphikunternehmen nicht hinreichend war. Internationale Finanzpla¨tze ziehen bis heute große Presseunternehmen an. 2. zeigt sich die Attraktivita¨t der beiden Sta¨dte in der Zuwanderung von Druckern, Verlegern und Ku¨nstlern aus anderen europa¨ischen La¨ndern oder gro¨ßeren Sta¨dten. Die Beispiele Plantin, der von Frankreich nach Antwerpen kam, oder Merian, der aus Basel nach Frankfurt einwanderte, sind nur zwei von vielen weiteren. Mit der Zuwanderung wurde gleichsam ku¨nstlerisches Potenzial und verlegerisches Know How importiert, was sich in beiden Sta¨dten besonders im Kunsthandel wie auch im Buchhandel bemerkbar machte. 3. Die religio¨se Toleranz ist in beiden Sta¨dten sicherlich ein wesentlicher Faktor ihrer Attraktivita¨t gewesen. Kulturpolitisch schlug die spanische Belagerung Antwerpens ebenso negativ nieder wie die katholische Bu¨cherkommission auf der Frankfurter Messe im ausgehenden 17. Jahrhundert.111 4. Die jeweils ortansa¨ssigen Medienunternehmen waren in ihrer professionellen Organisiertheit mit entsprechender Arbeitsorganisation zukunftsweisend. Die fru¨hneuzeitliche Medienstadt ist in hohem Maße u¨ber diese Organisiertheit zu identifizieren. Dies la¨sst sich in Antwerpen am Beispiel von Plantins Unternehmen, Cocks Kunst- und Graphikhandel sowie in Frankfurt an Feyerabends verlegerischer Ta¨tigkeit leicht nachweisen. 5. waren alle am Produktionsprozess von Medien beteiligten Berufe in den beiden Sta¨dten zu finden. In der Medienstadt findet man alle einzelnen Herstellungsund Vertriebsstufen von Druckerzeugnissen vor: da sind die Firmen der technischen Herstellung, und zwar in hochspezialisierter Form – von der Druckgraphik 110 Vgl. diesen Gedanken bei Georg Simmel, Das Individuum und die Freiheit [um 1913], in: Ders., Das

Individuum und die Freiheit. Essais, Frankfurt a. M. 1993, S. 212–219, hier S. 219.

111 Zur Bu¨cherkommission vgl. Ulrich Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht u¨ber Buchdruck, Buch-

handel und Presse im heiligen Ro¨mischen Reich Deutscher Nation (1496–1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bu¨cher- und Pressezensur, Karlsruhe 1970.

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bis zum Buch –, die Verlagsunternehmen, der Buchbinder, der fru¨he Sortimenter oder Buchfu¨hrer, auch die Zulieferbetriebe wie die Schriftgießerei und oft auch die Papierherstellung oder zumindest der Papierumschlagplatz sowie die Messen. 6. war das Spektrum der Medien in Antwerpen wie in Frankfurt im Buch- und Graphikhandel bemerkenswert facettenreich. Mit Bilderserien, Graphiken und Bu¨chern wurde ein anonymer Markt u¨ber etablierte Vertriebswege bedient. 7. erschienen in Antwerpen wie in Frankfurt verlegerische Großprojekte wie die großen Sta¨dtewerke und Weltkarten etc. Und schließlich 8. wurden diese Sta¨dte in der Fremdwahrnehmung als Mediensta¨dte erkannt wie man in Antwerpen beim Bilderhandel gesehen hat und in Frankfurt beim Buchumschlag. Der Kommunikationsraum der Drucker, Verleger, Buchfu¨hrer und druckgraphischen Gewerbe wurde geographisch weder politisch noch administrativ begrenzt, sondern vor allem von den Handelswegen und von den o¨konomischen Rahmenbe¨ konomische und kulturelle Kommunikationsnetze waren u¨berregional dingungen. O wie lokal anna¨hernd deckungsgleich. Innersta¨dtisch u¨berschnitt sich der Kommunikationsraum sozial sowohl mit den sta¨dtischen Bildungseliten als auch mit der o¨rtlichen und der durchziehenden Kaufmannschaft. Topographisch konzentrierten sich Firmenansiedlungen innerhalb der Sta¨dte meist an typischen, kommunikationsstrategisch vorteilhaften Pla¨tzen wie Ma¨rkten, Kirchen usw., die gleichzeitig auch logistisch leicht erreichbar waren. Die Medienstadt der Fru¨hen Neuzeit bot Medienunternehmern die Mo¨glichkeit an einem besonders dichten Kommunikationsraum teilzuhaben, in dem soziale, o¨konomische und mediale Teilsysteme integriert wurden. Das ist die spezifische Leistung der Stadt.

PRESSE UND JOURNALISMUS IN URBANEN KONTEXTEN DES 19. JAHRHUNDERTS von Jo¨rg Requate

Bildete die Stadt im ausgehenden 18. Jahrhundert in kommunikativer Hinsicht vielfach noch eine Art erweiterte Face-to-face-Gesellschaft, wandelte sie sich bis ins fru¨he 20. Jahrhundert hinein in eine moderne sta¨dtische Mediengesellschaft. In der weit gefassten Konzeption des Bandes kommt dem langen 19. Jahrhundert somit eine Scharnierfunktion zu, vera¨nderte sich in diesem Zeitraum der urbane Kontext und dessen Kommunikationsbedingungen in besonders nachdru¨cklicher Weise. In seiner Untersuchung u¨ber die Wurzeln der amerikanischen Stadtsoziologie verweist Rolf Lindner auf die entstehende „Symbiose von Großstadt und Presse“ im Ausgang des 19. Jahrhunderts.1 Ganz in diesem Sinne betonte zuvor schon der Soziologe Gunther Barth mit Blick auf die amerikanische Entwicklung, dass die gro¨ßte Pressestory des 19. Jahrhunderts das Großstadtleben selbst gewesen sei.2 Vor allem die amerikanischen Reporter entdeckten die Großstadt als eine aufregende, immer neue Geschichten produzierende fremde Welt, die es zu entdecken galt. Zwar waren die deutschen Sta¨dte und vor allem die deutsche Presse von a¨hnlichen Entwicklungen u¨ber weite Strecken des 19. Jahrhunderts noch weit entfernt. Gleichwohl griffen Urbanisierung und Medialisierung zunehmend auch in Deutschland in neuer und spezifischer Weise zusammen. Allerdings hat bislang weder die Stadt- noch die Mediengeschichtsschreibung diese Prozesse gezielt in den Blick genommen. Insgesamt haben fu¨r die Urbanisierungsforschung die kommunikativen Vera¨nderungsprozesse bislang ebenso wenig eine Rolle gespielt wie fu¨r die stadtbezogene Bu¨rgertumsforschung. Zwar la¨sst sich die Forschung u¨ber das aufblu¨hende Vereinswesen des 19. Jahrhunderts auch in den Kontext der sich vera¨ndernden sta¨dtischen Kommunikationsstrukturen einordnen, doch ist dieser Bezug bislang nur in Ansa¨tzen hergestellt worden. Gleichzeitig hat die Medien- und Kommunikationsgeschichte in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung genommen. Doch gilt das Interesse in erster Linie der Fru¨hen Neuzeit

1 Rolf Lindner, Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Frank-

furt a. M. 1990, S. 17; vgl. auch Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, London 1996, zur Ereignishaftigkeit der Großstadt im Wechselbezug zur innovativen, schneller zirkulierenden und sich erweiternden Presseberichterstattung dort. 2 Gunther Barth, City People. The Rise of modern City Culture in Nineteenth Century America, New York/Oxford 1980, S. 59.

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sowie dem ausgehenden 19. und dem 20. Jahrhundert, wa¨hrend die Forschung das fru¨he 19. Jahrhundert bis zu seinem letzten Drittel weit weniger beachtet. Die meisten neueren Arbeiten nehmen damit die Zeit in den Blick, in der die Presselandschaft in voller Blu¨te steht. Untersuchungen zur Medien- und Kommunikationsgeschichte des urbanen Kontextes im fru¨hen bis mittleren 19. Jahrhundert fehlen fast ganz. Sowohl die a¨ltere pressegeschichtliche Forschung als auch die neueren medien- und kommunikationsgeschichtlichen Arbeiten liefern hier nur wenig Erhellendes. Dies gilt weitgehend auch fu¨r die stadtgeschichtliche Perspektive.3 In den Lokalstudien, die im Bereich der Bu¨rgertumsgeschichte entstanden sind, wird die Kommunikationsgeschichte zwar insofern beru¨hrt, als es um Vereins- und Parteigru¨ndungen geht, aber die Frage nach deren medialen Einbettung und nach einem mo¨glichen Eigengewicht medialer Entwicklungen bleibt hier vielfach ausgespart.4 Gleichwohl kann sich eine Analyse der Kommunikationsstrukturen in den urbanen Kontexten des 19. Jahrhunderts nicht nur auf den im engeren Sinne politischen Bereich beschra¨nken. Die medial-kommunikative Durchdringung der urbanen Gesellschaft umfasst vielmehr nahezu alle Bereiche vom privaten Austausch von Waren und Dienstleistungen u¨ber die Freizeitgestaltung bis hin zur Schaffung eines urbanen Identita¨ts- und Kommunikationsraums. Fu¨r Frankreich gibt es einige interessante Arbeiten von Dominique Kalifa, von Marine M’Sili oder von Anne-Claude Ambroise-Rendu zu den faits divers,5 in denen sich zunehmend das sta¨dtische Leben verdichtete und in denen nicht zuletzt Kriminalfa¨lle eine immer wichtigere Rolle einnahmen. Kriminalfa¨lle lieferten nicht nur spannende Geschichten, sondern wurden gerade im urbanen Kontext zu Projektionsfla¨chen fu¨r Vorstellungen, die zwischen der Faszination fu¨r das aufregende und ungewo¨hnliche Stadtleben und Klagen u¨ber den vermeintlichen moralischen Verfall schwankten. Die Stadt bot dafu¨r den geradezu idealen Ereignis- und Kommunikationsraum. Fu¨r Deutschland greift im Moment lediglich die Arbeit von Philipp Mu¨ller derartige Fragen auf, indem er das

3 Aus der a¨lteren pressegeschichtlichen Literatur vgl. Liselotte Adloff, Der lokale Teil der Berliner

Presse von seinen Anfa¨ngen bis zum Jahre 1848, Diss. Berlin 1939, sowie Hugo Buschmann, Die deutsche Lokalpresse, Bielefeld 1922. Als neuere medienwissenschaftlich orientierte Arbeit vgl. Gabriele Christmann, Dresdens Glanz, Stolz der Dresdner. Lokale Kommunikation, Stadtkultur und sta¨dtische Identita¨t, Wiesbaden 2004; die historische Entwicklung wird hier allerdings eher als Steinbruch verwendet. 4 Vgl. etwa Hans-Walter Schmuhl, Die Herren der Stadt. Bu¨rgerliche Eliten und sta¨dtische Selbstverwaltung in Nu¨rnberg und Braunschweig vom 18. Jahrhundert bis 1918, Gießen 1998, oder Michael Scha¨fer, Bu¨rgertum in der Krise. Sta¨dtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig 1890 bis 1930, Go¨ttingen 2003; auch etwa die Stadtstudie von Adolf Klein, Ko¨ln im 19. Jahrhundert. Von der Reichsstadt zur Großstadt Ko¨ln 1992 spart medien- und kommunikationsgeschichtliche Aspekte weitgehend aus. 5 Vgl. hier u.a Dominique Kalifa, La Culture de masse en France, Bd. 1: 1860–1930, La De´couverte, Paris, 2001; ders., Crime et culture au XIXe sie`cle, Perrin, Paris 2005; Marine M’Sili, Le fait divers en Re´publique. Histoire sociale de 1870 a` nos jours, Paris 2000; Anne-Claude Ambroise-Rendu, Les faits divers dans la presse franc¸aise de la fin du XIXe sie`cle. E´tude de la mise en re´cits d’une re´alite´ quotidienne (1870–1910), Lille 1998.

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Medienereignis der Geschichte vom Hauptmann von Ko¨penick untersucht, die die Hauptstadt des Deutschen Reiches im Jahr 1906 in Atem hielt.6 Wenn es davon abgesehen noch kaum Forschung zu a¨hnlichen Pha¨nomenen und zur Berichtererstattung auf lokaler Ebene gibt, so ha¨ngt dies nicht zuletzt damit zusammen, dass die deutschen Zeitungen in diesem Bereich u¨ber weite Strecken des 19. Jahrhunderts deutlich weniger berichteten als etwa die franzo¨sischen Zeitungen – zumindest soweit sie Paris betrafen. Eine systematische Lokalberichterstattung im eigentlichen Sinne setzte in den deutschen Zeitungen erst relativ spa¨t ein, und zwar im Wesentlichen erst mit der popula¨ren Massenpresse. Sie wird in Deutschland seit den 1870er Jahren in Berlin und in vielen anderen Sta¨dten seit den 1890er Jahren in der Regel unter der Bezeichnung „Generalanzeiger“ gefasst. Um der Frage nach der Entstehung eines medialen urbanen Kommunikationsraums nachzugehen, kann man sich jedoch nicht auf die Lokalberichterstattung allein konzentrieren, sondern man wird breiter auf die stadtbezogene Kommunikation insgesamt schauen mu¨ssen. Dazu soll im Folgenden in zwei Schritten vorgegangen werden. Zuna¨chst werden einige ¨ berlegungen zur Kategorisierung der Kommunikation angestellt, um systematische U dann in einem knappen chronologischen Abriss die Entwicklung der lokalen Berichterstattung in der Presse des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen.

1.

Modi urbaner Kommunikation

¨ berblick u¨ber die Entwicklung der medial Um anhand der Forschungslage eine U vermittelten urbanen Kommunikation zu erhalten, erscheint es sinnvoll, hierfu¨r bestimmte Kategorien zu finden, mit deren Hilfe sich die unterschiedlichen Modi der medialen Kommunikation erfassen lassen. Es ließe sich einiger Aufwand betreiben, um den Zuschnitt dieser Kategorien zu diskutieren und zu begru¨nden. Darauf wird hier zugunsten eines heuristischen, der Empirie folgenden Zugriffs verzichtet. Vier unterschiedliche Modi der Kommunikation werden vorgeschlagen: Gebrauchskommunikation, Identita¨tskommunikation, zivilgesellschaftliche Kommunikation und Ereigniskommunikation. Unter die Gebrauchskommunikation fielen zuna¨chst bestimmte Formen von Bekanntmachungen, aber auch Anzeigen und insbesondere Kleinanzeigen. Fu¨r diese Form der Kommunikation stellte die Zeitung ihren Raum zu Verfu¨gung, ohne dass hier irgendeine redaktionelle Bearbeitung no¨tig gewesen wa¨re. Nicht von ungefa¨hr basierte der erste, von den Intelligenzbla¨ttern getragene Aufstieg der Presse im 18. Jahrhundert auf dem Abdruck von Anzeigen, denen dann in einem zweiten Schritt Beitra¨ge sehr unterschiedlicher Art zugefu¨gt wurden. Die Zeitungen stellten hier,

6 Philipp Mu ¨ ller, Auf der Suche nach dem Ta¨ter. Die o¨ffentliche Dramatisierung von Verbrechen im

Berlin des Kaiserreichs (Campus Historische Studien 40), Frankfurt a. M. 2005.

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finanziert durch die Gebu¨hren fu¨r die Anzeigen, den Lesern ein Forum zur Verfu¨gung, das ihnen ermo¨glichte, untereinander in „Gescha¨ftsbeziehungen“ zu treten. Die Leser erfuhren hier, wo innerhalb eines mehr oder weniger klar umrissenen lokalen Umfeldes bestimmte Gu¨ter zu erwerben, wo Dienstleistungen zu finden waren und wo etwa Auktionen stattfanden. Diese Anzeigen und Bekanntmachungen geben Auskunft daru¨ber, in welchem geographischen Raum sich eine Zeitung verortete.7 Ein Charakteristikum der deutschen Presselandschaft war bekanntermaßen schon im 19. Jahrhundert seine Dezentralita¨t und seine regionale Vielfalt. Anders als in England oder Frankreich, wo die Hauptsta¨dte unangefochten auch die Zentren der Zeitungslandschaft waren, stieg Berlin erst im ausgehenden 19. Jahrhundert zur wichtigsten deutschen Zeitungsstadt auf – ohne dass dabei die regionale Vielfalt verloren ging. Diese lokale und regionale Diversita¨t darf aber nicht zu dem Schluss verleiten, dass sich die Publikationen als Regional- oder Lokalzeitungen verstanden ha¨tten, wie sich an den Anzeigen ablesen la¨sst. Die Augsburger Allgemeine Zeitung bildete ein extremes Beispiel in diesem breiten Spektrum: Sie besaß so gut wie keine kommunikative Verbindung zur Stadt; Augsburg war nur Sitz der Redaktion und Ort der Herstellung.8 Es finden sich nicht nur keine Artikel u¨ber Augsburg oder die Umgebung, sondern auch der Anzeigenteil nahm keinerlei Bezug zum sta¨dtischen Raum. Die Zeitung publizierte Anzeigen zu neuen Bu¨chern und Buchhandlungen oder auch Kleinanzeigen, in denen Personal gesucht wurde. Als Publikum sprach sie eine in den deutschen Staaten verbreitete, Zeitung lesende Schicht der Gebildeten an. Die Augsburger Allgemeine Zeitung ist in dieser Hinsicht gewiss einzigartig. Fu¨r viele andere wichtige Zeitungen des 19. Jahrhunderts, wie die Ko¨lnische Zeitung, den Schwa¨bischen Merkur, den Hamburgischen Korrespondenten, die Frankfurter Zeitung, die Vossische Zeitung in Berlin oder die Breslauer Zeitung gilt, dass sie trotz ihrer u¨berregionalen Bedeutung in der Stadt verankert waren. Wie weit sich dies in den Anzeigen niederschlug, wa¨re im Einzelnen zu pru¨fen. Sehr deutlich zu sehen ist diese lokale Einbettung anhand der Vossischen Zeitung aus Berlin, die exemplarisch u¨ber einen la¨ngeren Zeitraum ausgewertet wurde.9 Dabei ist unverkennbar, dass u¨ber die Anzeigen, die permanenten Bekanntmachungen von Auktionen und Ma¨rkten, von Verka¨ufen, von Veranstaltungen oder Verkehrsnachrichten, schon seit dem 18. Jahrhundert ein sta¨dtischer Kommunikationsraum abgesteckt wurde. Diese Form der Informationen bildete ohne Zweifel eine wichtige Sa¨ule der Zeitungen des 19. Jahrhunderts insgesamt. Jenseits aller politischen Bedeutung manifestierte sich hier der konkrete Gebrauchswert der Bla¨tter, indem er sich zunehmend auf das jeweilige lokale Umfeld bezog.

7 Vgl. auch Norbert Jonscher, Lokale Publizistik. Theorie und Praxis der o¨rtlichen Berichterstattung,

Opladen 1995, S. 89–92, zu Intelligenzbla¨ttern und Anfa¨ngen der Lokalberichterstattung. 8 Zur Gru¨ndung der Augsburger Allgemeinen Zeitung vgl. Eduard Heyck, Die Allgemeine Zeitung

1798–1898, Mu¨nchen 1898.

9 Zur Vossischen Zeitung vgl. Klaus Bender, Vossische Zeitung, Berlin (1617–1934), in: Deutsche Zei-

tungen des 17. bis 20. Jahrhunderts, hg. v. Heinz-Dietrich Fischer, Pullach 1972, S. 25–39, sowie Arend Buchholtz, Die Vossische Zeitung. Geschichtliche Ru¨ckblicke auf drei Jahrhunderte, Berlin 1904.

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Als eine zweite Ebene urbaner Kommunikation sei hier die der Identita¨tskommunikation vorschlagen. In einer neueren, kommunikationswissenschaftlichen Studie u¨ber „lokale Kommunikation, Stadtkultur und sta¨dtische Identita¨t“ Dresdens wird ganz selbstversta¨ndlich davon ausgegangen, dass die Lokalpresse per se seit jeher zur Herausbildung sta¨dtischer Identita¨t beigetragen hat. Tatsa¨chlich scheint diese Annahme von unmittelbarer Evidenz, gleichwohl findet sich eine solche identita¨tsbildende Kommunikation in den Zeitungen lange Zeit nur in Rudimenten. Die stadtgeschichtliche Forschung hat identita¨tsbildenden Prozessen auf urbaner Ebene im 19. Jahrhundert zwar durchaus ihre Aufmerksamkeit gewidmet, dabei jedoch vornehmlich Fragen der Bau- und der Festkultur in den Blick genommen. Die Presse und ihre Rolle fu¨r die Herausbildung einer neuen sta¨dtischen Identita¨t hat sie bislang ga¨nzlich außer Acht gelassen.10 Tatsa¨chlich besaß diese identita¨tsbezogene Form der Kommunikation lange Zeit zuna¨chst noch keinen bzw. keinen engen Bezug zu den Zeitungen. Allerdings begann im 19. Jahrhundert eine Reihe von Schriftstellern, sich mit ihrem regionalen und lokalen Umfeld zu befassen. Sie schufen nicht zuletzt im urbanen Kontext bestimmte Identifikationsfiguren und trugen dazu bei, eine lokale Identita¨t zu konstruieren. Als Beispiel sei hier der Berliner Schriftsteller Adolf Glaßbrenner genannt, der zum Umfeld des Jungen Deutschland geho¨rte und sich bis zu einem gewissen Grade auch als politischer Schriftsteller definierte. Daru¨ber hinaus befasste er sich in einer Vielzahl von Texten mit Berliner Eigenarten, Charakteristika des Berliner Lebens etc. So vero¨ffentlichte Glaßbrenner zwischen 1832 und 1850 insgesamt 30 unregelma¨ßig erscheinende Hefte mit dem Titel „Berlin, wie es ist und trinkt“. Ebenfalls in Heftform erschienen zwischen 1837 und 1853 die Reihe „Buntes Berlin“ und seine „Berliner Erza¨hlungen und Lebensbilder“. Glaßbrenner lebte zeitweise auch in Wien und in Neustrelitz, wo er sich ebenfalls mit den lokalen Eigenarten bescha¨ftigte und zu den lokalen Identita¨tskonstruktionen beitrug.11 Die Literaturwissenschaft hat diese Form der popula¨ren Literatur wenig beachtet. In gewisser Weise standen diese Erza¨hlungen mit sta¨dtischem Lokalkolorit im Schatten des im ausgehenden 19. Jahrhunderts popula¨r werdenden Heimatromans, der gerade von der Hinwendung zur Natur in Abkehr von der Großstadt lebte.12 Glaßbrenner und einige andere begannen

10 Vgl. zu den grundlegenden Entwicklungen immer noch Ju¨rgen Reulecke, Geschichte der Urbani-

sierung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1985, hier insbes. S. 86–91, konkret fu¨r Mu¨nchen: Wolfgang Hardtwig, Die politische Topographie Mu¨nchens 1870–1914. Denkmal und Sakralbau, in: Denkmal – Zeichen – Monument. Skulptur und o¨ffentlicher Raum heute, hg. v. Ekkehard Mai/Gisela Schmirber, Mu¨nchen 1989, S. 42–50, sowie ders., Soziale Ra¨ume und politische Herrschaft. Leistungsverwaltung, Stadterweiterung und Architektur in Mu¨nchen 1870–1914, in: Soziale Ra¨ume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Mu¨nchens im Vergleich 1850–1933, hg. v. Wolfgang Hardtwig/Klaus Tenfelde, Mu¨nchen 1990, S. 59–154. Allgemeiner zur Verbindung von sta¨dtischem Bewusstsein und Nationalismus: Ders., Großstadt und Bu¨rgerlichkeit in der politischen Ordnung des Kaiserreichs, in: Stadt und Bu¨rgertum im 19. Jahrhundert, hg. v. Lothar Gall Mu¨nchen 1990, S. 19–64. 11 Zu Glaßbrenner vgl. insbes. Ingrid Heinrich-Jost, Literarische Publizistik Adolf Glaßbrenners (1810–1876). Die List beim Schreiben der Wahrheit, Mu¨nchen 1980. 12 Vgl. Karlheinz Rossbacher, Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zur Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975, insbes. S. 29–34 und S. 143–149.

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aber mit ihrer volkstu¨mlichen Literatur, auch fu¨r die Stadt eine eigene Form der „heimatlichen Behaglichkeit“ jenseits einer stilisierten do¨rflichen Idylle zu entwerfen. Die Entstehung volkstu¨mlicher, lokaler Figuren, wie die des „Tu¨nnes“ in Ko¨ln, der dort zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Bu¨hnenfigur erfunden wurde, dann zunehmend an Popularita¨t gewann und schließlich zu einem Ko¨lner Markenzeichen wurde, la¨sst sich ebenfalls in diesen Kontext verorten. Aus der medien- und kommunikationsgeschichtlichen Perspektive scheint das Pha¨nomen auch insofern wichtig, als damit die Verengung des Blickes auf ein bestimmtes Medium – etwa das der Zeitung – aufgebrochen wird. Denn diese Form der Identita¨tskommunikation fand in den Zeitungen zuna¨chst noch kaum ihren Niederschlag. Nur die Nekrologe mehr oder weniger bedeutender Perso¨nlichkeiten zeigen a¨hnliche Ansa¨tze: Als etwa der Schriftsteller Friedrich Nicolai im Jahr 1811 starb, hieß es dazu in der in Berlin erscheinenden Spenerschen Zeitung: „Seit 60 Jahren und daru¨ber war Berlin der Standpunkt, von welchem seine Tha¨tigkeit ausging, der Brennpunkt, aus welchem er leuchtete, wa¨rmte und zu¨ndete. An jeden anderen Ort versetzt, wu¨rde Nicolai bestimmt nicht das geleistet haben, was er hier leistete. Er war viel fu¨r Berlin, aber auch umgekehrt, Berlin war viel fu¨r ihn.“13 Hier feierte die Zeitung nicht nur einen der „großen So¨hne der Stadt“, sondern auch Berlin als einen ganz besonderen Standort. Ansonsten aber ging diese Art der Identita¨tskommunikation zuna¨chst vor allem von Schriftstellern aus. Sie schlug sich in Volkstheatern, in popula¨ren Zeichnungen und Bildern nieder und verwies auf die Verzahnung der Kommu¨ berformung und Neukonstruktion. nikation auf der Straße und ihrer medialen U In der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts bescha¨ftigten die Zeitungen schließlich vermehrt Redakteure, die ihre Ta¨tigkeit als lokale Chronisten und Volksschriftsteller mit ihrer Ta¨tigkeit bei einer Zeitung verknu¨pften. In Dresden verpflichteten die dortigen Dresdner Nachrichten 1859 den Volksschriftsteller Theodor Drobisch als Redakteur, der sie zu einem popula¨ren Lokal- und Unterhaltungsblatt oder, wie Heinricht von Treitschke schrieb, zum „ordina¨rsten Klatschblatt deutscher Zunge“ formte.14 Mit dem, was Treitschke „Klatsch“ nannte, hob das Blatt genau jene kommunikative Funktion, die im Dorf oder im Stadtviertel die Kneipe besaß, auf eine sta¨dtische Ebene. Offensichtlich traf Drobisch damit einen Nerv, denn die Dresdner Nachrichten avancierten unter dessen Leitung binnen kurzer Zeit zu einer der erfolgreichsten deutschen Zeitungen. In den zehn Jahren zwischen 1860 und 1870 vervierfachte sich die Abonnentenzahl von knapp 4000 auf knapp 20 000, eine Zahl, die allein von der Ko¨lnischen Zeitung noch u¨bertroffen wurde.15 Damit stieß das Blatt in die Regionen vor, die nur kurze Zeit spa¨ter die so genannten Generalanzeiger erreichten, zu deren Vorla¨ufern die Dresdner Nachrichten geza¨hlt werden ko¨nnen. Der Entwurf der Stadt als Kommunikationsraum, zu dessen Teil der Leser werden

13 Spenersche Zeitung Nr. 6 vom 8. 1. 1811. 14 Zit. nach Helmut Fiedler, Geschichte der ‚Dresdner Nachrichten‘ von 1856–1936, Diss. Leipzig 1939,

S. 56.

15 Die Auflagenzahlen vgl. ebd. S. 38 u. S. 92. Die Ko¨lnische Zeitung hatte 1870 eine Auflage von rund

40 000 Exemplaren; vgl. Horst Heenemann, Die Auflagenho¨he der deutschen Zeitungen, Diss. Leipzig, Berlin 1930, S. 54.

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sollte, um so an die Zeitung gebunden zu werden, war schließlich auch das Konzept, mit dem die Generalanzeiger im ausgehenden 19. Jahrhundert erfolgreich waren. Die Identifikation der Leser mit ihrer Stadt wurde somit zu einer wichtigen Verkaufsgrundlage der Zeitungen. Auch der dritte Kommunikationsmodus – die zivilgesellschaftliche Kommunikation – war keineswegs auf die Presse beschra¨nkt. Vielmehr betraf dieser zuna¨chst sehr viel sta¨rker die interpersonale Kommunikation, wie sie insbesondere in Vereinen und politischen Organisationen zu finden war. Zeitungen hatten jedoch nicht nur eine zunehmend wichtige Funktion, Treffpunkte bekannt zu geben, die Ziele solcher Vereine nach außen zu kommunizieren und fu¨r sie zu werben, sondern die Zeitungen konnte auch den Kern politischer Zusammenschlu¨sse bilden und gegebenenfalls als Substitut eines Vereins oder einer Parteizelle fungieren. Das prominenteste Beispiel hierfu¨r bildet auf nationaler Ebene die 1847 gegru¨ndete Deutsche Zeitung, deren fu¨hrende Mitarbeiter, Gottfried Gervinus, Karl Mathy oder Karl Joseph auch die fu¨hrenden Ko¨pfe der Casino-Fraktion in der 1848er Revolution waren.16 In a¨hnlicher Weise haben die fru¨hen liberalen Zeitungen wie etwa die Kieler Bla¨tter (Friedrich Christoph Dahlmann), Der Freisinnige (Karl von Rotteck) oder Die Deutsche Tribu¨ne (Johann Georg August Wirth) eine zentrale Rolle fu¨r die Selbstversta¨ndigung und die Ausbreitung des Liberalismus gespielt. Auch fu¨r die sozialdemokratischen und die katholischen Zeitungen ist deren tragende Rolle in der Formierungsphase der Parteien eindeutig. Fu¨r die lokale Ebene scheint mir nicht nur die Rolle der Zeitungen, sondern vor allem die Frage der Verzahnung der interpersonalen und der medialen Kommunikation noch kaum untersucht. In Bezug auf Russland hat Kirsten Bo¨nker detailliert nachgewiesen, in welchem Maße hier den Zeitungen auf sta¨dtischer Ebene eine wichtige Funktion als Kern fu¨r die entstehenden Parteien bzw. als deren Substitut zukam.17 In Frankreich kam den Zeitungen angesichts einer sehr instabilen Parteienlandschaft in dieser Hinsicht ohnehin eine große Rolle zu.18 Aber auch in Deutschland waren Bla¨tter unterschiedlicher Couleur auf lokaler Ebene keineswegs nur Verlautbarungsorgane der Parteien, sondern bildeten in mehrfacher Hinsicht wichtige kommunikative Kristallisationspunkte. Insofern waren die Zeitungen hier nicht nur Instrumente der sich formierenden Zivilgesellschaft, sondern durchaus deren Akteure. Einen kleinen Einblick in die lokalen Verha¨ltnisse bietet der Schriftsteller und Journalist Friedrich Spielhagen, der 1860 nach Hannover kam, um eine Stelle als Feuilletonredakteur der dortigen liberalen Zeitung fu¨r Norddeutschland anzutreten. In seinen Erinnerungen berichtet er, wie er u¨ber seine Redaktionskollegen bald in

16 Vgl. hierzu Ulrike von Hirschhausen, Liberalismus und Nation. Die Deutsche Zeitung 1847–1850,

Du¨sseldorf 1998.

17 Kirsten Bo ¨ ffentlichkeit und Lokalpolitik im Gouvernement Saratov ¨ nker, Jenseits der Metropolen. O

(1890–1914) (Beitra¨ge zur Geschichte Osteuropas 45), Wien u. a. 2010. 18 Vgl. Jo¨rg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im

19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 109), Go¨ttingen 1995, S. 59–96.

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die Kreise des o¨rtlichen Nationalvereins gelangte. Von Zeit zu Zeit habe sich dieser in einem Restaurant zusammengefunden, wobei die Zahl der Anwesenden nie ho¨her als dreißig gewesen sei. Der Kreis sei dafu¨r jedoch umso illustrer gewesen. Die kleine Gesellschaft habe sich ru¨hmen ko¨nnen, „die Blu¨te der politischen Intelligenz der Hauptstadt und mit ihr auch wohl des ganzen Landes zu repra¨sentieren.“19 Die zentrale Figur des Kreises war Rudolf von Bennigsen. Das bedeutete allerdings, dass sich die Gespra¨chsrunde eher mit nationaler als mit sta¨dtischer Politik befasst haben wird. Dafu¨r spricht auch die Tatsache, dass Ehrenreich Eichenholtz, seit Anfang der fu¨nfziger Jahre politischer Redakteur der Zeitung fu¨r Norddeutschland, in diesem Kreis den Grundstein fu¨r seine politische Karriere legte. 1867 wurde er in den Norddeutschen Reichstag gewa¨hlt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Eichenholtz allerdings schon wegen der preußischen Annexion Hannovers vom Nationalverein abgewendet, die Zeitung fu¨r Norddeutschland verlassen und war als Redakteur zur Deutschen Volkszeitung, dem Organ der Deutsch-Hannoverschen Partei, gewechselt.20 Diese Zeitung vertrat nun ganz dezidiert die Interessen Hannovers, ohne sich aber mit den lokalen Belangen der Stadt selbst zu befassen. Ohnehin blieb Lokalpolitik im engeren Sinne in den Zeitungen lange ausgespart. Als 1844 die Bremer Weserzeitung gegru¨ndet wurde, forderte der Senat ausdru¨cklich, auf eine Sparte „Lokalpolitik“ zu verzichten.21 Das Beispiel zeigt, dass die Mo¨glichkeit hieru¨ber zu berichten, zwar schon in Betracht gezogen wurde, dass aber die Zensur und Informationsverhinderungspolitik des Deutschen Bundes bis hinunter auf die lokale Ebene wirksam war. Als Argument fu¨hrten die Bremer Beho¨rden an, dass die Zeitung auch außerhalb Bremens ein Publikum ansprechen sollte. Tatsa¨chlich aber war offensichtlich, dass die Politik der Stadt einer unmittelbaren Auseinandersetzung entzogen werden sollte. Eine der ersten Ausnahmen bildete in dieser Hinsicht die 1856 gegru¨ndete Frankfurter Zeitung. Durch die Annexion Frankfurts durch Preußen im Jahr 1866 waren sta¨dtische Politik und nationale Politik in dieser Phase eng miteinander verbunden. Die sta¨dtische Identita¨t spielte fu¨r die innersta¨dtische Kommunikation ohnehin eine zentrale Rolle, auf der ambitionierte Zeitungen unmittelbar aufbauen konnten. Die politische Fu¨hrung der Stadt konnte zudem zu diesem Zeitpunkt sicher sein, dass die Zeitung die Interessen der Stadt unterstu¨tzte, zumal die personellen Verbindungen eng waren.22 Auf dieser Basis baute die ambitionierte Zeitung dann ihren lokalpolitischen Teil systematisch weiter aus und wurde so zu einem wichtigen Tra¨ger der zivilgesellschaftlichen Kommunikation in der Stadt. Mit einem deutlichen Schub durch die Generalanzeiger boten nicht nur die Frankfurter, sondern in zunehmendem Maße auch andere Zeitungen den Vereinen, den lokalpolitischen Akteuren oder dem Lesepublikum z. B. u¨ber Leserbriefe ein Forum,

19 Friedrich Spielhagen, Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1911, S. 386–392. 20 Vgl. Otto Kuntzemu ¨ ller, Der Hannoversche Courier 1849–1899, Hannover 1899, S. 21 u. 24.

Eichenholtz (1807–1877) war von 1851 an Redakteur der Zeitung fu¨r Norddeutschland.

21 Vgl. Dora Meyer, Die Weserzeitung von 1844 bis zur Reichsgru¨ndung, Bremen 1932, S. 81–83. 22 Zum kommunalpolitischen Teil der Zeitung vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, Volksausgabe,

hg. v. Verlag der Frankfurter Zeitung, Frankfurt a. M. 1911, S. 165–169 und 630–638.

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Meinungen zu a¨ußern. Zudem wurden die Zeitungen und ihre Journalisten zunehmend zu Beobachtern der lokalen Selbstorganisation und kommentierten diese. An diese Kommentarfunktion knu¨pft sich die vierte Kommunikationsebene an, die hier mit dem Begriff der „Ereigniskommunikation“ gefasst werden soll. Dieses ist letztlich der Kommunikationsbereich, der zur Doma¨ne des Journalismus geworden ist, na¨mlich u¨ber Ereignisse zu berichten und diese bis zu einem gewissen Grade zu konstruieren. Fu¨r den sta¨dtischen Bereich ist dies logischerweise das klassische Feld des Lokaljournalismus, ohne aber mit diesem deckungsgleich zu sein. Denn die ersten Ereignisse, u¨ber die Zeitungen auf lokaler Ebene kontinuierlich berichteten, waren in der Regel Theaterauffu¨hrungen und Konzerte. Hier la¨sst sich auf der lokalen Ebene zuna¨chst eine Art der Medialisierung beobachten. Denn es ging ja nicht nur einfach darum, u¨ber ein Ereignis zu berichten, sondern Auffu¨hrungen wurden angeku¨ndigt. Sa¨nger und Sa¨ngerinnen oder Schauspieler und Schauspielerinnen wurden u¨ber Besprechungen und Anku¨ndigungen bekannt und konnten so einen gewissen Star-Status erlangen. In den Opern- und Theaterkritiken konnte die Bedeutung eines Theaters und daru¨ber wiederum die Bedeutung der Stadt als ku¨nstlerischer Standort diskutiert werden. Die Kennzeichen einer Medialisierung, also der zunehmenden Durchdringung von bestimmten Ereignissen, deren medialer Verarbeitung mit den entsprechenden Ru¨ckwirkungen auf die Ereignisse lassen sich hier ohne Zweifel am ehesten beobachten. Schaut man sich dagegen die klassische Lokalberichterstattung an, also die Thematisierung und Besprechung sta¨dtischer Angelegenheiten auf dem Feld der Politik, der Wirtschaft und vor allem der sta¨dtischen Entwicklungen etwa im Bereich der Infrastruktur, Ereignissen des ta¨glichen urbanen Lebens wie Unfa¨llen, Unwettern, Kriminalfa¨llen und anderes mehr, so ist der Historiker offenbar fu¨r das 19. Jahrhundert bis in die 1870er Jahre und vielerorts daru¨ber hinaus, auf Zufallsfunde angewiesen. Denn eine systematische, an den Ereignissen orientierte Berichterstattung beno¨tigte eine entsprechende redaktionelle und journalistische Infrastruktur. Offizielle Mitteilungen u¨ber bestimmte Ereignisse – etwa eine Parade, der Besuch, die Durchreise oder die Ru¨ckkehr einer hochgestellten Perso¨nlichkeit – finden sich zwar ebenso wie verschiedene verstreute Berichte u¨ber unterschiedlichste lokale Vorkommnisse schon in den Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Doch solange – wie bei vielen Zeitungen lange u¨blich – nur ein, zum Teil noch nebenberuflich ta¨tiger Redakteur das Blatt zusammenstellte, blieb dieser darauf angewiesen, dass ihm bestimmte Ereignisse zugetragen wurden. Erst mit dem Ausbau der Zeitungen und der Redaktionen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ero¨ffnete sich die Mo¨glichkeit, sta¨dtischen Ereignissen systematisch Beachtung zu schenken und zu kommunizieren.

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2.

Zur Entwicklung des Lokaljournalismus

Der empirisch-begriffliche Zugriff hat bereits erkennen lassen, dass die Systematik zwar nicht einfach in eine chronologische Abfolge gebracht werden kann, gleichwohl aber eine wachsende Verdichtung und Verzahnung der Kommunikationsebenen unverkennbar ist: Die Anzeigen, die Theater- und Konzertkritiken waren dabei die ersten Pflo¨cke, die den lokalen Kommunikationsraum absteckten. Die hier als Identita¨tskommunikation bezeichnete Ebene bildete in zunehmendem Maße die Basis dafu¨r, dass die Lokalberichterstattung im ausgehenden 19. Jahrhundert einen rasanten Aufschwung nahm. Denn das Versta¨ndnis der Leser als Berliner, als Ko¨lner, als Mu¨nchner, als Mu¨nsteraner oder als Bielefelder wurde zur Voraussetzung dafu¨r, dass sich die Leser immer mehr fu¨r das interessierten, was in ihrer Stadt passierte und sie deshalb in zunehmenden Maße die Zeitungen kauften, die dieses Bedu¨rfnis befriedigten. Ansa¨tze zu einer lokalen Berichterstattung gab es zwar seit dem fru¨hen 19. Jahrhundert durchaus, aber doch blieben diese zumeist sporadisch und punktuell. Einen interessanten Versuch findet man etwa in Kleists Berliner Abendbla¨tter von 1810/11. Kleist versuchte, wie ein moderner Reporter, u¨ber die Polizei an interessante Berichte zu kommen und sie dann zu verarbeiten. Durchschlagenden Erfolg hatte Kleist damit allerdings nicht.23 Die Versuche blieben ohnehin eher zaghaft und das Blatt ging bald ein. Anku¨ndigungen, man wu¨rde ein besonderes Augenmerk auf die lokalen Ereignisse legen, finden sich in manchen Zeitungen zwar wiederholt, eingelo¨st wurden diese Versprechungen jedoch kaum. Die Breslauer Zeitung betonte die besondere Bedeutung der Lokalberichterstattung sogar 1834 eigens in einem erneuerten Pro¨ bel, „wenn eine provinzielle Zeitung ebenso gut von gramm. Dort hieß es, es sei von U Monomopotapa als Breslau datiert erscheinen kann, ohne dass der Inhalt den na¨heren Bezug auf eine von beiden verriete.“24 Tatsa¨chlich beschrieb die Zeitung hiermit die Lage ziemlich genau, a¨nderte aber auch nicht viel an ihrer Berichterstattung. Als Konsequenz forderte die Zeitung lediglich wiederholt das Publikum zur Mitarbeit auf, was man als eine Fru¨hform des Leserreporters sehen ko¨nnte. Sie blieb damit aber letztlich weitgehend erfolglos. Offenbar war die Zeitung wenig geneigt, fu¨r die lokale Berichterstattung tatsa¨chlich eigene Ressourcen zu mobilisieren. Zudem zeigte einmal mehr die 48er Revolution, wie sehr das Zensur- und informationspolitische Klima des Vorma¨rzes auch den urbanen Kommunikationsraum eingeengt hatte. Denn in der Revolution berichteten die Zeitungen nun ganz selbstversta¨ndlich u¨ber die lokalen Ereignisse. Dies galt nicht nur fu¨r die auflagenstarken Zeitungen der großen Sta¨dte, sondern, wenn auch im Umfang noch auf einem niedrigen Niveau, auch fu¨r viele kleine Zeitungen in kleinen und mittleren Sta¨dten.25 23 Vgl. Helmut Sembdner, Die Berliner Abendbla¨tter Heinrich von Kleists, Berlin 1939, bes. S. 1f., 8f.,

19, 317f.

24 Breslauer Zeitung, 1. 5. 1834, zit. nach Alfred Oehlke, 100 Jahre Breslauer Zeitung, Breslau 1920, S. 78. 25 Fu¨r Berlin vgl. hier die vielfa¨ltigen Beispiele bei Ru¨diger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und

Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997; fu¨r die Region Baden mit einer Vielzahl von sta¨d-

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Daru¨ber hinaus wurden viele Zeitungen – vor allem neu gegru¨ndete – vielfach zu Akteuren in der sich organisierenden Zivilgesellschaft. Die ganz u¨berwiegende Zahl der Zeitungsneugru¨ndungen in der Revolution wollte nicht einfach nur u¨ber die Ereignisse berichten, sondern auch auf lokaler Ebene aktiv eingreifen. Die Phase der Revolution war allerdings zu kurz, um die Zeitungslandschaft und die Praktiken der medialen Kommunikation in der Stadt nachhaltig zu vera¨ndern. Wirklich gru¨ndliche Untersuchungen stehen hier allerdings noch aus. Die Lektu¨re der Vossischen Zeitung aus Berlin zeigt jedoch, dass die Berichterstattung in den 1850er Jahren fu¨r die lokale Ebene zumeist noch nicht besonders ergiebig war. Dort finden sich weiterhin nur vereinzelte Meldungen in der Art der faits divers franzo¨sischer Zeitungen, wie etwa die folgende aus dem Jahr 1855, wo ein „Zusammenlauf von einigen hundert Personen“ erwa¨hnt wurde, um angeblich einen „wandelnden Mondflu¨chtigen“ auf dem Dach eines Hauses zu beobachten. Langsam mehrten sich aber stadttypische Meldungen von Unglu¨cksfa¨llen, etwa dem Zusammensturz eines Wohnhauses, bei dem im Jahr 1865 fu¨nf Menschen starben und 19 weitere schwer verletzt wurden. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang war, dass dieser Unglu¨cksfall auch kommentiert und zu zumindest vorsichtiger Kritik genutzt wurde: Angesichts der in der letzten Zeit wiederholt vorgekommenen Einstu¨rze von Ha¨usern, frage man sich zu Recht, „ob jene Geba¨ude in ihrer Ausfu¨hrung auch den Vorschriften der Baupolizei-Ordnung entsprochen haben.“26 Quantifizierende Aussagen u¨ber die Ha¨ufigkeit derartiger Kritik, lassen sich nur schwer treffen. Die restriktive Informationspolitik und die noch lange geu¨bte Praxis, Kritik mit Beleidigungsklagen zu unterbinden, ließen den Zeitungen in dieser Hinsicht wenig Spielraum. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass eine regelma¨ßige Lokalberichterstattung bis weit u¨ber die Mitte des 19. Jahrhunderts nur in Ansa¨tzen existierte und die Kritik an lokalen Verha¨ltnissen lange die Ausnahme blieb. Zudem verstanden sich die gro¨ßeren Zeitungen, bei denen schon in der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts hauptberufliche Journalisten arbeiteten, in aller Regel explizit als u¨berregionale Sprachrohre. Abgesehen davon, dass das, was in aller Welt passierte, von den Redakteuren ha¨ufig als wichtiger angesehen wurde als lokale Angelegenheiten, hielt man sich hier auch schon deshalb zuru¨ck, um in keine Konflikte mit den lokalen Autorita¨ten zu geraten. Kleinere Zeitungen erhoben zwar einen solchen u¨berregionalen Anspruch nicht, aber ihnen fehlte der entsprechende professionelle Apparat, der einen nennenswerten Lokaljournalismus ermo¨glicht ha¨tte. Die noch lange Zeit von den Verlegern oder nebenberuflichen Redakteuren zusammengestellten Bla¨tter waren, a¨hnlich wie bei der Breslauer Zeitung in ihren Anfangsjahren, auf die Mitarbeit der Leser angewiesen. So folgte das, was u¨ber lokale Angelegenheiten in diesen Zeitungen zu lesen war, vielfach dem Zufallsprinzip. In dem Maße, in dem

tischen Bezu¨gen: Hanno Tauschwitz, Presse und Revolution 1848/49 in Baden, Heidelberg 1981; fu¨r die Region Ostwestfalen Lippe vgl. die unterschiedlichen Beitra¨ge in: „Jede Umwa¨lzung tra¨gt den Charakter ihrer Zeit“: Ostwestfalen-Lippe 1848/49, hg. v. Horst-Walter Blanke, Waltrop 1999, die zeigen, in welchem Maße nun auch in kleinen Sta¨dten die Zeitungen die zivilgesellschaftliche Kommunikation trugen. 26 Vossische Zeitung, Nr. 227, 21. 10. 1865.

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jedoch in den 1850er und 1860er Jahren auch bei kleineren Bla¨ttern, die keine u¨berregionalen Ambitionen hatten, hauptberufliche Redakteure ta¨tig wurden, begannen auch die lokalen Angelegenheiten in den Zeitungen eine gro¨ßere Rolle zu spielen. Nun entstand der Typus des in verschiedenen lokalen Vereinigungen vertretenen Lokaljournalisten, der in erster Linie u¨ber diese Vereinigungen schrieb. Bezeichnenderweise folgte damit der hier entstehende Lokaljournalismus den Praktiken des politischen Journalismus. Das bedeutete, dass die Berichterstattung in der Regel nicht auf mehr oder weniger distanzierter Beobachtung basierte, sondern auf gesellschaftlicher Zugeho¨rigkeit und sozialen Netzwerken beruhte. Als etwa der „Literarische Verein“ Dresdens dem neuen Redakteur des Dresdner Anzeigers im Jahr 1864 die Aufnahme verweigerte, war ihm automatisch die Berichterstattung u¨ber den lokal wichtigen Verein verwehrt. Damit war er auch als Redakteur der Zeitung nicht mehr haltbar.27 Aus anderen Sta¨dten finden sich Beispiele von Journalisten, die wie etwa der langja¨hrige Redakteur der Saarbru¨cker Zeitung, Conrad Hermann, in verschiedenen Vereinen vertreten waren und dort eine maßgebliche Rolle spielten. Hermann war in den verschiedenen Vereinen jeweils fu¨r alles „Literarische“ und damit nicht zuletzt fu¨r deren Außendarstellung zusta¨ndig. 1860 saß er zusammen mit den o¨rtlichen Honoratioren in dem Festausschuss fu¨r die Ero¨ffnung der Rhein-Nahe-Bahn, zu der der preußische Regent erscheinen sollte. Hier wird deutlich, wie sehr die gesellschaftliche Stellung eines Journalisten an dessen perso¨nlicher Fa¨higkeit hing, sich innerhalb von Vereinen, Parteien oder anderen Gruppierungen vor allem dadurch Akzeptanz zu verschaffen, dass er nach außen hin als deren Propagandist auftrat. Verfolgt man exemplarisch die Lokalberichterstattung der Vossischen Zeitung weiter, so richtete diese 1869 schließlich eine Rubrik „Lokales“ ein. Doch auch diese Rubrik sammelte im Wesentlichen Bekanntmachungen u¨ber lokale Veranstaltungen – Feste, Paraden, Vereinssitzungen, Trauerfeiern oder Gerichtsmitteilungen – und stand so zuna¨chst noch in der Tradition der Anzeigen, aus dem sich erst langsam ein neues journalistisches Feld entwickelte, das die interpersonale Kommunikation nach und nach medial erweiterte und u¨berformte. Dies tat sich tatsa¨chlich erst mit der Entstehung der modernen Massenpresse und in Berlin konkret mit der Gru¨ndung des Berliner Tageblatt im Jahr 1872 auf. In dem Programm der Zeitung, mit dem man sich den Lesern vorstellte, hieß es ganz in diesem Sinne, das Tageblatt wolle „im vollen und erscho¨pfenden Sinne des Wortes das Berliner Lokalblatt“ sein. Es hatte zuvor in Berlin schon ein paar kleinere Zeitungsgru¨ndungen gegeben, die sich auf diesem Feld etablieren wollten. Doch erst dem Berliner Tageblatt gelang dies wirklich – vor allem dadurch, dass die Zeitung nun nicht mehr nur zufa¨llig etwas u¨ber Lokales schrieb, sondern darauf ganz klar ihren Schwerpunkt legte. Mit dem Berliner Tageblatt berichtete wohl erstmals eine deutsche Zeitung in großem Stil und auf professionelle Art und Weise u¨ber die lokalen Angelegenheiten einer Stadt, indem sie Misssta¨nde, u¨ber die in der Stadt zweifellos ohnehin gesprochen wurde, nun zum Gegenstand o¨ffentlicher Auseinandersetzungen machte.28 Wiederholt wurde 27 Herbert Zeissig, Eine deutsche Zeitung. 200 Jahre Dresdner Anzeiger, Dresden 1930, S. 235. 28 U ¨ ber die Lokalberichterstattung im Berliner Tageblatt vgl. Joachim Klippel, Geschichte des Berliner

Tageblatts 1872–1880, Diss. Leipzig 1936, S. 60–66.

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der Zustand der Berliner Gewa¨sser beklagt – der Ko¨nigsgraben sei eine „Pestbeule im Mittelpunkt der Stadt“, der Tiergarten eine u¨belriechende Kloake. Vereinzelt pran¨ bergriffe der Polizei an und verstand sich so insgesamt als gerte die Zeitung auch U eine Art Anwalt der Berliner Bevo¨lkerung.29 Neu war das in zweierlei Hinsicht. Erstens begannen sich Journalisten hier weniger als Propagandisten bestimmter Ideen, sondern als Anwa¨lte der Bewohner einer Stadt zu verstehen, ohne dass die soziale Differenzierung dabei eine erhebliche Rolle gespielt ha¨tte. Die Leser wurden nicht als Angeho¨rige einer bestimmten sozialen Schicht oder als Anha¨nger einer Partei, sondern als Bewohner einer Stadt angesprochen, so dass potenziell jeder Bewohner Berlins auch Ka¨ufer der Zeitung sein sollte. Das Konzept der Unparteilichkeit und die Konzentration auf den Lokaljournalismus waren somit eng miteinander verknu¨pft. Folgerichtig erkla¨rte etwa der Ko¨lner Stadtanzeiger – 1876 als Ableger der nationalliberalen Ko¨lnischen Zeitung gegru¨ndet – er werde „sta¨dtische Angelegenheiten in ruhiger und unparteiischer Weise ausfu¨hrlich besprechen“.30 Zweitens war neu, dass sich die Journalisten bei der Art von lokaler Berichterstattung, wie sie das Berliner Tageblatt fu¨r sich in Anspruch nahm, nicht mehr wie zuvor auf mehr oder weniger zufa¨llig und ungepru¨ft einlaufende Informationen verlassen konnten. Gleichwohl blieb die gezielte Recherche, insbesondere durch die Redakteure selbst, noch eher die Ausnahme. Da die Zeitung mit jedem Bericht u¨ber Polizeiwillku¨r einen Beleidigungsprozess riskierte, mussten die Redakteure einigermaßen sicher sein ko¨nnen, dass das, was ihnen berichtet wurde, auch stimmte. Da die Redakteure selbst nach allem, was man weiß, ihren Schreibtisch nur selten verließen, begannen Zeitungen wie das Berliner Tageblatt vor allem fu¨r lokale Angelegenheiten feste Berichterstatter zu engagieren, die nach anglo-amerikanischem Vorbild schon ¨ ber deren Arbeit geben Quellen allerdings nur bald Reporter genannt wurden. U wenig Auskunft. Einige Beispiele, die zeigen, welche Wege auf der einen Seite von Reportern eingeschlagen wurden, um an Informationen zu kommen, und wie auf der anderen Seite versucht wurde, dies zu verhindern, finden sich nicht zufa¨llig aus dem Umfeld des Berliner Tageblatts. Denn um den formulierten Anspruch, das Berliner Lokalblatt zu sein, tatsa¨chlich auch einlo¨sen zu ko¨nnen und sich dadurch von den anderen Berliner Zeitungen abzuheben, musste das Blatt in diesem Bereich auch neue Wege gehen. So lo¨ste das Berliner Tageblatt mit seiner Berichterstattung u¨ber das Verfahren gegen den Kaiser-Attenta¨ter Karl Nobiling einigen Wirbel aus, der sich in den Akten des Berliner Polizeipra¨sidenten niederschlug. In einem Artikel vom 7. Juli 1878 hatte das Tageblatt Informationen u¨ber den Fall geliefert, an die es nur auf inoffiziellem Weg herangekommen sein konnte. Das preußische Innenministerium wurde aktiv und fragte beim Berliner Polizeipra¨sidenten nach, woher das Tageblatt sein Wissen habe. Die Nachforschungen des Polizeipra¨sidenten ergaben jedoch lediglich, dass ein ¨ ber dessen QuelReporter namens Bennemann die Informationen geliefert hatte. U len konnte man hingegen auch nur spekulieren. Von einem Polizeibeamten, so hieß 29 Einige Beispiele vgl. ebd., S. 61–64. 30 Ko¨lner Stadtanzeiger, Probeblatt vom 12. 11. 1876, zit. nach Hermann Bo ¨ hm, Der Stadt-Anzeiger fu¨r

Ko¨ln und Umgebung 1876–1926, Ko¨ln 1926, S. 25.

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es in dem Bericht ans Innenministerium, ko¨nne Bennemann die Informationen nicht bezogen haben, da bei den Vernehmungen keiner anwesend gewesen sei. Man habe jedoch feststellen ko¨nnen, dass sich Bennemann sta¨ndig in den Ra¨umen des Stadtgerichts aufhalte und „seine Neuigkeiten durch Ausfragen von Zeugen und Beamten des Stadtgerichts“ zu erlangen suche. In den ersten Tagen nach dem Attentat „soll Herr Bennemann sogar ein Faß Bier ta¨glich aufgelegt haben, um durch Gewa¨hrung freien Biergenusses von Zeugen und Beamten Nachrichten zu erhalten.“ Auf diese Weise sei wohl auch der Artikel im Berliner Tageblatt entstanden.31 Im Innenministerium war man nicht sehr angetan von dem Bericht und mahnte in scharfer Form „Maßnahmen zur Unterbindung des geschilderten Reporterwesens in den Ra¨umen des Stadtgerichts“ an.32 Kurze Zeit spa¨ter erschien erneut eine Meldung im Berliner Tageblatt, die den Argwohn der Beho¨rden hervorrief. Am 4. August 1878 meldete das Tageblatt, man wisse aus sicherer Quelle, dass Nobiling versucht habe, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Aufgeschreckt durch die Mahnungen des Innenministeriums drohte der Polizeipra¨sident dem verantwortlichen Redakteur Behrendt unverzu¨glich weitere Schritte an, wenn dieser nicht „gefa¨lligst schleunigst den Referenten namentlich“ bezeichne.33 Eine Reaktion seitens der Zeitung ist nicht aktenkundig. Dafu¨r informierte der Pra¨sident des Stadtgerichts den Polizeipra¨sidenten u¨ber die von ihm eingeleiteten Maßnahmen. Die Beamten seien zu strengster Verschwiegenheit insbeson¨ brigen sollten Reporter „fortan dere gegenu¨ber Reportern angewiesen worden; im U mo¨glichst fern von den Orten und Stellen gehalten werden, in welchen sie Erkundigungen einziehen und die Beamten auszuforschende Gelegenheit haben“. Schließlich habe er veranlasst, dass „der Kastellan Kro¨hl fortan eine Bierstube nicht mehr ha¨lt.“34 Die hatte man offenbar als Umschlagplatz fu¨r Informationen in besonderem Verdacht. Allen diesen Maßnahmen zum Trotz erschien am 24. September 1878 wieder ein Artikel im Tageblatt „Aus den Acten contra Nobiling“. Diesmal war man bei der Suche nach der undichten Stelle erfolgreicher: Nicht irgendeinem subalternen Beamten war unter Alkoholeinfluss eine Information entlockt worden, sondern es war der Oberstaatsanwalt selbst, der einem Reporter namens Auerbach Einblick in die Handakte gewa¨hrt hatte.35 Die Affa¨re macht dreierlei deutlich. Erstens versuchten einzelne Reporter, insbesondere des zu diesem Zeitpunkt noch stark lokal orientierten Berliner Tageblatts, auch auf unkonventionelle Weise an Informationen zu kommen. Zweitens entwickelte sich angesichts dieser Versuche seitens der Beho¨rden eine etwas hilflose Betriebsamkeit, bei der, a¨hnlich wie im Bereich des politischen Journalismus, die Vorstellungskraft nur dazu ausreichte, untergeordnete Beamte als undichte Stellen zu

31 Der Berliner Polizeipra¨sident an den preuß. Innenminister, 11. 7. 1878, Brandenburgisches Landes-

hauptarchiv, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Tit. 94 Lit. R Nr. 544, Bl. 23.

32 Der Preuß. Innenminister an den Berliner Polizeipra¨sidenten, 25. 7. 1878, ebd., Bl. 31. 33 Der Berliner Polizeipra¨sident an Ludwig Behrendt, 5. 8. 1878, ebd., Bl. 26. 34 Der Pra¨sident des Stadtgerichts an den Berliner Polizeipra¨sidenten, 4. 9. 1878, ebd., Bl. 39. 35 Der Pra¨sident des Stadtgerichts an den Berliner Polizeipra¨sidenten, 2. 10. 1878, ebd., Bl. 42.

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vermuten. Offensichtlich gab es jedoch – drittens – Reporter, die Kontakte zu Personen in ho¨heren Stellungen unterhielten, von denen sie, wenn auch nur vereinzelt, Informationen bezogen. Noch ein weiteres Mal, allerdings viele Jahre spa¨ter, wurde der Berliner Polizeipra¨sident aufgefordert, in der Frage des Reporterwesens Stellung zu nehmen. Ende Februar 1908 ging der Abgeordnete Kirsch vom Zentrum in einer Rede vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus auf die seiner Ansicht nach fragwu¨rdigen Beziehungen zwischen Presse und Polizei ein. Anlass war der Fund eines Waffenlagers in der Berliner Pankstraße, u¨ber den das Berliner Tageblatt und der Berliner Lokal-Anzeiger ausfu¨hrlich berichtet hatten. Ihre Informationen ko¨nnten die Zeitungen, so der Abgeordnete, nur von der Polizei bezogen haben. Sofern derartige Mitteilungen an die Presse der Verbrechensbeka¨mpfung dienten, sei dagegen nichts zu sagen. In vielen Fa¨llen gehe es aber nur darum, die Neugierde des Publikums und deren Lust an der Sensation zu befriedigen. In einem Fall, in dem es um die Beschlagnahme von Schmuck einer Dame aus der „Demimonde“ gegangen sei, habe der Berichterstatter geschrieben, er habe das Bu¨ro des betreffenden Kriminalkommissars verschlossen vorgefunden. „Aus dieser Zeitungsnachricht geht doch hervor, daß der betreffende Reporter schon vorher diesen Kommissar interviewt hat, wie das bisher in der letzten Zeit von ausla¨ndischen Preßgelehrten gegenu¨ber den Ministern geschehen ist.“ Der Zentrumsabgeordnete Kirsch fand das empo¨rend und forderte, hier mu¨sse „der Polizeipra¨sident eingreifen und verbieten, daß Mitteilungen von der Polizei den Zeitungen gemacht werden, die nur der Sensationslust des Publikums fro¨nen sollen und nicht den ho¨heren Zweck verfolgen, die Spur der Verbrecher zu entdecken.“36 Anders als im Fall Nobiling reagierte der Berliner Polizeipra¨sident gelassen. Er ra¨umte zwar eine gewisse Berechtigung der Kritik ein, doch zum einen wies er grundsa¨tzlich auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Presse hin, und zum anderen gab er einen kurzen Einblick in die Verha¨ltnisse, der seine Machtlosigkeit gegenu¨ber dem Treiben der Reporter deutlich werden ließ. Verantwortlich fu¨r die von dem Abgeordneten beklagten Zusta¨nde sei auf der einen Seite „der allgemeine Tiefstand unserer hauptsta¨dtischen Sensationspresse“. Eine solche Presse sende „naturgema¨ß ihre Reporter und Fu¨hler in alle Korridore und Winkel der hiesigen Beho¨rde, und es geho¨rt schon ein besonderes Maß an Vorsicht dazu, um nicht – auch ohne Absicht und gegen den Willen – zum intellektuellen Urheber irgendeiner halb geho¨rten und halb erfundenen Pressemitteilung zu werden.“ Auf der anderen Seite wollten „die Polizeibeamten lieber gelobt als getadelt werden, und das ha¨nge davon ab, ob sie Nachrichten ga¨ben oder nicht. Manchmal werden gar der Name oder ein Bild gebracht, im anderen Fall wu¨rde die Polizei z. T. sogar verho¨hnt und fu¨r reformbe¨ ußerungen gegenu¨ber vo¨llig du¨rftig gehalten.“ Nur wer wohl- oder u¨belwollenden A unabha¨ngig sei, bleibe davon unberu¨hrt. Die Presse sei ein notwendiges Werkzeug in den Ha¨nden der Polizei, aber sie du¨rfe auch nicht mehr sein als ein Werkzeug.37 36 Abg. Kirsch, 29. 2. 1908, Stenographische Berichte u¨ber die Verhandlungen des Preußischen Hauses

der Abgeordneten, 20. Legislaturperiode, 4. Session, Sp. 2991f.

37 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Ministerium des Innern, Rep. 77 Tit. 54a Nr. 19 Bd. 6,

Bl. 32f.

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Bis zu einem gewissen Grade hatte man sich bei der Polizei mit den la¨stigen Fragen der Reporter abgefunden, obwohl es offenbar immer wieder Versuche gab, den Reportern ihre Arbeit mo¨glichst schwer zu machen. Wie der Jubila¨umsausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers zu seinem 10-ja¨hrigen Bestehen im Jahr 1893 zu entnehmen ist, existierte eine Anweisung, die vorsah, dass bei Verbrechen oder anderen Vorkommnissen nur leitende Beamte Reportern Auskunft geben durften.38 Die waren ihrerseits nur autorisiert, etwas zu sagen, sofern es in ihren Augen der Sache dienlich war. Mit der Sensationsberichterstattung heutiger Massenmedien im Hinterkopf, mag mancher durchaus Sympathie fu¨r die abwehrende Haltung der Polizei gegenu¨ber den Fragen der Reporter empfinden. Insgesamt ging es jedoch um weit mehr als die Abwehr sensationshungriger Lokalberichterstatter. Die Ansicht, die Presse du¨rfe nur ein „Werkzeug“ der Polizei sein, das Verbot, Reportern Auskunft zu geben, und vor allem die rechtlichen Bestimmungen und deren Auslegungen fu¨gen sich zu einem Gesamtbild des zeitgeno¨ssischen Versta¨ndnisses vom Umgang mit der Presse: In den Zeitungen sollte mo¨glichst nur beho¨rdlich Genehmigtes stehen. Bei dem Kampf gegen die „Sensationspresse“ ging es immer auch darum, die Mo¨glichkeiten der Presse insgesamt zu beschra¨nken. Dadurch, dass sich Journalisten in einem lokalen Rahmen zu Anwa¨lten der Interessen der gesamten Bewohnerschaft machen konnten, entstand gerade hier die Mo¨glichkeit fu¨r die Presse, sich als kritische, von Parteieninteressen verha¨ltnisma¨ßig unabha¨ngige Institution zu etablieren. Beispiele dafu¨r gibt es nicht nur aus dem Berliner Tageblatt. Wenn Hans-Wolfgang Wolter schreibt, der Redakteur des GeneralAnzeigers fu¨r Hamburg-Altona, Johannes Flach, habe die Schuld der Hamburger Beho¨rden an der Cholera-Epidemie „aufgedeckt“, ist das sicher u¨bertrieben. In der Tat hielt der General-Anzeiger jedoch fru¨her und hartna¨ckiger als die anderen Hamburger Zeitungen den Beho¨rden ihre Verantwortung fu¨r die Epidemie vor.39 Couragierte Berichterstattung dieser Art war dennoch die Ausnahme. Doch dadurch, dass ausgehend von den Generalanzeigern ein vom Anspruch her an den Interessen der Bewohner orientierter lokaler Journalismus entstand, wurde auf dieser Ebene die ¨ ffentlichkeit im sta¨dtischen KonVoraussetzung fu¨r eine funktionierende kritische O text geschaffen. Da Forschungen zu dieser Frage bislang nur in Ansa¨tzen vorliegen, lassen sich aus den genannten Beispielen eher vorla¨ufige Schlu¨sse ziehen. Zu großer Optimismus, was die kritische Funktion des Lokaljournalismus betrifft, scheint nicht angebracht. Die personelle Verbindung von Lokaljournalismus und Lokalpolitik, die es etwa beim General-Anzeiger fu¨r Hamburg-Altona, dem Ko¨lner Stadtanzeiger und einer ganzen Reihe von anderen Zeitungen wie etwa auch dem Berliner Tageblatt gab,

38 Berliner Lokal-Anzeiger 1883–1893. 39 Vgl. Hans Wolfgang Wolter, Generalanzeiger – Das pragmatische Prinzip. Zur Entwicklungsge-

schichte und Typologie des Pressewesens im spa¨ten 19. Jahrhundert, Bochum 1981, S. 234f. Im General-Anzeiger fu¨r Hamburg-Altona vgl. insbes. den Artikel vom 29. 8. 1892, und, ru¨ckblickend zu der gesamten Affa¨re, den Artikel vom 26. 3. 1893; zu der Cholera-Epidemie ausfu¨hrlich: Richard Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Hamburg 1990. Evans geht auch wiederholt auf die Berichterstattung in den verschiedenen Zeitungen ein.

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musste diese kritische Funktion noch nicht unbedingt beeintra¨chtigen, auch wenn die Kritik dabei jeweils in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. Entscheidend war vielmehr, dass ein u¨ber lokale Angelegenheiten berichtender Journalist bis zu einem gewissen Grade in das lokale Milieu integriert sein musste. Diese Integration zeigte sich insbesondere in Mitgliedschaften in wichtigen lokalen Vereinen und der damit verbundenen Rolle der Journalisten. Insofern erscheint weniger der unermu¨dlich recherchierende Reporter als der Lokalredakteur der Ko¨lnischen Zeitung, Albert Bachem, als Prototyp eines Lokaljournalisten. Bachem geho¨rte dem Vorstand des nationalliberalen Vereins in Ko¨ln an, war von 1876 bis 1887 Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, saß 30 Jahre lang der Ko¨lner Lesegesellschaft vor, war Vorstandsmitglied des Lokal- und Bu¨rgervereins sowie Mitglied im Turnverein und im stenographischen Verein und geho¨rte schließlich dem Kirchenvorstand der altkatholischen Gemeinde Ko¨lns an. Sein mehr fu¨r Unterhaltung zusta¨ndiger Kollege Peter Paul Faust vom Ko¨lner Stadtanzeiger gab als Ko¨lner Mundartdichter nebenher zwei lokalkolorierte humoristische Bla¨ttchen heraus und war Ehrenmitglied des Ko¨lner Liederkranzes und des Vereins Alt-Ko¨ln.40 In dem Maße, wie auf der einen Seite das Interesse der Journalisten bestand, aus beruflichen wie aus privaten Gru¨nden in den jeweiligen Lokalmilieus Fuß zu fassen, mehrten sich auf der anderen Seite mit der wachsenden Bedeutung des Lokaljournalismus die Versuche, von verschiedener Seite auf die Lokalredakteure Einfluss zu nehmen. Sei er die einen „Beschwerde- und Bittsteller“ los, berichtete der Chefredakteur des Leipziger Tageblatts in einem Brief aus dem Jahr 1894 an einen Kollegen, „so kommt jemand vom Reichsgericht, vom Rath, vom Milita¨r-Commando, von der Handelskammer oder von einer der Hunderten von Corporationen und Vereinigungen, die zu allen nur denkbaren Zwecken hier bestehen. Jeder will das ‚Tageblatt‘ und – weil ich es nicht dulde, daß unser fu¨r gewisse ‚Gru¨nde‘ sehr zuga¨nglicher Lokal-Redacteur sich fu¨r irgendetwas bindet – mich fu¨r seine Meinung und seine Ansicht gewinnen – [...] fu¨r eine neue Ausstellungshalle, fu¨r ein neues Canal- oder Hafenprojekt, fu¨r die Errichtung eines Palmengartens, fu¨r den Durchbruch einer Straße und Gott weiß nicht was; das ‚Tageblatt‘ ist in Leipzig eben eine Macht, ohne die nicht leicht etwas durchgesetzt werden kann, mag auch der Rath sich auf den Kopf stellen.“41 Selbst wenn Hermann Ku¨chling, der Chefredakteur des Leipziger Tageblatts, hier seine Machtposition mo¨glicherweise etwas u¨bertrieben darstellte, du¨rfte kaum bestreitbar sein, dass die Bedeutung und damit auch der Einfluss der Zeitungen Ende des 19. Jahrhunderts im lokalen Bereich erheblich stieg. Gerade dadurch, dass sich die Zeitungen, Generalanzeiger oder andere, unabha¨ngig von ihrer sonstigen politischen Festlegung im lokalen Bereich vielfach ihrer „Unparteilichkeit“ und „Objektivita¨t“ ru¨hmten, stiegen die Begehrlichkeiten, einen scheinbar objektiven Beobachter, als 40 Zu Albert Bachem, u¨ber dessen Verwandtschaftsverha¨ltnisse zur Familie des Verlegers der katholi-

schen Ko¨lnischen Volkszeitung sich nichts Na¨heres ermitteln ließ, vgl. den Nekrolog in der Ko¨lnischen Zeitung vom 1. 6. 1908, sowie den Nekrolog in einer Todesanzeige im Archiv der Ko¨lnischen Zeitung, Ko¨ln; zu Faust: Ko¨lner Stadtanzeiger, 13. 9. 1912, sowie Bo¨hm, Stadtanzeiger (wie Anm. 30), S. 76. 41 H. Ku¨chling an G. C. Petzet, 8. 2. 1894, Bayerische Staatsbibliothek Mu¨nchen, Petzetiana IX.

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der sich die Zeitung in lokalen Fragen vielfach ausgab, fu¨r sein Anliegen zu gewinnen. Ku¨chling sah in gewisser Weise die darin liegende Gefahr und beschuldigte hier seinen Lokalredakteur indirekt der Bestechlichkeit. Die wird es wie in anderen Bereichen der Presse auch im Lokaljournalismus gegeben haben. Grundsa¨tzlich gilt aber, dass die Einbindung der Journalisten in das Milieu der lokalen Entscheidungstra¨ger weit wirksamer war als eine direkte Bestechung.42 Langfristig vera¨nderte der Lokaljournalismus den sta¨dtischen Kommunikationsraum damit nachhaltig, auch wenn die journalistische Praxis erst langsam zu neuen, innovativen Arbeitsweisen gelangte. Dadurch, dass lokale Angelegenheiten, ausgehend von den Generalanzeigern, versta¨rkt in den Zeitungen thematisiert wurden, entstand erst eine u¨ber die verschiedenen Vereinigungen hinausgehende, tendenziell die ¨ ffentlichkeit. gesamte Einwohnerschaft einer Stadt einbeziehende lokale politische O Im Zuge dieser Entwicklung mehrten sich die Bemu¨hungen der Zeitungen, Neuigkeiten schneller und pra¨ziser als die Konkurrenz zu bringen. Hier o¨ffnete sich das Arbeitsgebiet des Lokalreporters, der „vor Ort“ sein musste, um authentisch berichten zu ko¨nnen. Hier entstanden sowohl die Grundlagen fu¨r einen kritischen, „investigativen“ als auch fu¨r einen voyeuristisch-sensationellen Journalismus. Der Normalfall des Lokaljournalismus war dies jedoch vor allem außerhalb der Metropole Berlin und einiger anderer Großsta¨dte nicht. Vielfach entwickelte der Lokaljournalismus zuna¨chst vor allem seine Funktion als kommunikatives Bindeglied der Einwohnerschaft einer Stadt und als Sprachrohr der verschiedenen kommunalen Vereinigungen.43 Inwieweit lokaler Journalismus auf der Basis der Unparteilichkeitsbehauptung eher zu einer sich um Objektivita¨t bemu¨henden, tendenziell kritischen Berichterstattung fu¨hrte oder aber zum Sprachrohr lokaler Interessengruppen wurde, ist pauschal kaum beantwortbar. Auch hier ero¨ffnet sich noch ein breites Forschungsfeld. Der Aufstieg der Generalanzeigerpresse seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bedeutete ohne Zweifel einen Einschnitt in der Geschichte des Journalismus. Die pauschale Kritik an den Generalanzeigern von Seiten zeitgeno¨ssischer Kritiker und mancher Pressehistoriker u¨bersieht dabei zweierlei.44 Zum einen lo¨ste der „Kommerzialisierungsschub“ wie in anderen La¨ndern auch in Deutschland ein Aufbrechen der alten Strukturen aus. Zumindest in der Anfangsphase ihres Bestehens ist bei einer Reihe von Bla¨ttern, die diesem neuartigen Zeitungstyp zuzuordnen sind, ein deutliches Bemu¨hen erkennbar, den „Unparteilichkeitsanspruch“, mit dem sie antraten, auch einzulo¨sen. Der Anspruch, den die Verleger der Generalanzeiger an ihre Redakteure stellten, lautete, die Zeitung weniger beha¨big, weniger akademisch, weniger doktrina¨r, kurzum „interessanter“ zu gestalten. Dass bedeutete auch, dass sich

42 Fu¨r den politischen Bereich vgl. dazu ausfu¨hrlich Requate, Journalismus (wie Anm. 18), S. 290–324. 43 Zum Problem der Vereinsberichterstattung aus zeitgeno¨ssischer Sicht: vgl. Heinrich Binder, Der

lokale Teil der Tageszeitungen, in: Der Zeitungs-Verlag, 12. Jg. 27. 1. 1911, sowie Toni Kellen. Die Vereinsberichte und die Hinweise auf Vereinsveranstaltungen in den Zeitungen, in: Der Zeitungsverlag, 10. Jg., 20. 8. 1909. 44 Als zeitgeno¨ssische Kritik immer wieder zitiert: Walter Hammer, Die Generalanzeiger-Presse kritisch beurteilt als ein Herd der Korruption, Leipzig 19124; zu dieser Kritik vgl. Requate, Journalismus (wie Anm. 18), S. 358f.

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die Journalisten versta¨rkt selbst bemu¨hen mussten, Neuigkeiten aufzuspu¨ren. Vor allem die Berliner Zeitungen, insbesondere der Berliner Lokal-Anzeiger, trieben diese Entwicklung voran, indem sie zunehmend eigene Reporter anstellten, die die Neuigkeiten und „Sensationen“ liefern sollten.

3. Fazit

Auch wenn sich die lokale Berichterstattung in den Zeitungen des 19. Jahrhunderts erst allma¨hlich entwickelte, kann kein Zweifel sein, dass auch der sta¨dtische Raum in dieser Zeit einer nachhaltigen Medialisierung unterlag. Je sta¨rker sich der urbane Kommunikationsraum im Laufe des 19. Jahrhunderts medial verdichtete, desto sta¨rker flossen auch die unterschiedlichen Modi der sta¨dtischen Kommunikation zusammen. Der Takt der Berichterstattung wurde zunehmend von Ereignissen bestimmt, und zwar in einem doppelten Sinne. Die systematische Berichterstattung u¨ber Ereignisse wurde immer mehr zum Kern auch der lokalen Berichterstattung. Das bedeutete umgekehrt, dass die Zeitungen gerade im lokalen Raum Ereignisse in zunehmender Weise selbst zu generieren begannen. Das von den Zeitungen nachhaltig gepra¨gte sta¨dtische Zugeho¨rigkeitsgefu¨hl – hier als Identita¨tskommunikation bezeichnet – bildete dabei die Basis dafu¨r, dass Ereignisse im sta¨dtischen Raum als kommunikationswu¨rdig eingestuft oder dazu gemacht wurden. Die Ereignisse in einer Stadt, so die ebenso einfache wie nachhaltig wirksame Konzeption, betrafen und interessierten potenziell alle Bewohner. Die politische Zerklu¨ftung der sta¨dtischen Gesellschaft wurde damit zwar selbstversta¨ndlich nicht aufgehoben, doch der Erfolg der Generalanzeiger beruhte in einem nicht unwesentlichen Maß darauf, dass sie die Stadt – gerade jenseits politischer Interessen – als gemeinsamen Lebens- und Kommunikationsraum entwarfen. Die Generalanzeiger als die deutsche Form der kommerzialisierten Massenpresse verstanden es, die Einwohner der Stadt in ihrer Breite anzusprechen, um sie als Leser zu gewinnen. Der sta¨dtische Bezug der Zeitung und ihrer Berichterstattung aktualisierte somit in allta¨glicher Weise die Zugeho¨rigkeit des Lesers zu dem so geschaffenen Kommunikationsraum. Der Modus der Identita¨tskommunikation wurde so zu einer wichtige Basis fu¨r den kommerziellen Erfolg dieser Zeitungen, der sich seit den 1870er Jahren zunehmend einstellte. Mit der Beobachtung dessen, was in der Stadt in infrastruktureller, kultureller, wirtschaftlicher und allgemein politischer Hinsicht geschah, erfu¨llten die Zeitungen im gu¨nstigen Fall eine Funktion als Tra¨ger einer zivilgesellschaftlichen Kommunikation in der Stadt. Damit lieferten die Zeitungen gleichzeitig – jenseits der rei¨ ber die Frage, wie dies nen Anzeigen – Informationen fu¨r den Alltagsgebrauch. U im Einzelnen geschah, weiß man noch vergleichsweise wenig. Auf die rudimenta¨re Forschungslage ist hier wiederholt hingewiesen worden, so dass hier umfassende Untersuchungen der Zeitungen erst noch ausstehen. An dem spektakula¨ren Fall der Geschichte des Hauptmanns von Ko¨penick aus dem Jahr 1906, die Berlin lange in Atem hielt, la¨sst sich aber in geradezu idealer Weise verfolgen, wie die genannten

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Kommunikationsmodi hier zusammenflossen.45 Das Ereignis – der raffinierte Raub der Ko¨penicker Stadtkasse durch die Anmaßung milita¨rischer Autorita¨t – faszinierte nicht nur als solches, sondern lo¨ste mit der Fahndung, der Verhaftung und dem spa¨teren Prozess eine weitere Kette von Ereignissen aus, die die Leser wie eine Fortsetzungsgeschichte fesselten. Der Raum Berlin wurde von den Zeitungen als „Ort des Geschehens“ entworfen, der daru¨ber zu dem Raum wurde, dem die Leser als ¨ ber den Aufruf der Zeitung, sich an der Fahndung zu zugeho¨rig definiert wurden. U beteiligen und u¨ber die entsprechende Berichterstattung u¨ber den Fortgang des Fal¨ ber les, bekamen die Leser direkt potenziell handlungsanleitende Informationen. U der Debatte um die politische Bedeutung des Falles setzte schließlich auch eine zivilgesellschaftliche Debatte ein, die wesentlich von den Zeitungen getragen wurde. Dieser Fall war ohne Zweifel besonders spektakula¨r und insofern nicht typisch. Er zeigt aber das Ausmaß, das die Medialisierung des sta¨dtischen Raums am Ende des „langen 19. Jahrhunderts“ erreichen konnte.

45 Vgl. hierzu die Studie von Mu ¨ ller, Auf der Suche (wie Anm 6).

RADIO UND STADT IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Urbane Verankerung, mediale Regionalisierung, virtuelle Raumentgrenzung von Adelheid von Saldern

„Der Rundfunk dient der Allgemeinheit!“, heißt es auf dem Titelblatt der FunkStunde,1 und das war wohl ernst gemeint, denn das neue Medium wollte mit seinen Sendungen von Anfang an alle ansprechen. „Man sucht im Programm mo¨glichst jedem gerecht zu werden“, meinte beispielsweise der Chefredakteur der Rundfunkzeitschrift Sieben Tage, Ludwig Kapeller, im Jahr 1926.2 Gepriesen wurde die soziale und ra¨umliche Ubiquita¨t des neuen Mediums – unter dem Motto „Jeder ho¨rt Radio“.3 „Wir sind nicht mehr umfaßt von uns’ren Wa¨nden. Es schwebt der Raum – von vielem Licht erhellt. Es hebt uns Melodie mit ihren Geisterha¨nden und tra¨gt uns mitten in das Herz der Welt.“4 Mit dem „Herz der Welt“ verbunden zu sein, das waren freilich bei Weitem nicht alle Rundfunkho¨rer. Zwar konnten seit 1926 die Deutsche Welle bzw. ab den fru¨hen 1930er Jahren der Deutschlandsender auf Langwelle im Prinzip u¨berall in Deutschland geho¨rt werden, aber Auslandsprogramme zu empfangen, das gelang aus technischen Gru¨nden wa¨hrend der ersten Jahre nur wenigen. In der NS-Zeit strahlten zwar mehr als einhundert Rundfunksender von außen her ihre Programme ins Reich,5 aber nur jene Menschen konnten Auslandssender tatsa¨chlich ho¨ren, die leistungsstarke Apparate oder Zusatzgera¨te ihr Eigen nannten. Die billigen Radios, die im Dritten Reich hergestellt wurden, der Deutsche Volksempfa¨nger fu¨r 76 und ab 1937 fu¨r 59 RM sowie der Deutsche Kleinempfa¨nger fu¨r 35 RM, verfu¨gten u¨ber gar keine Kurzwelle, und damit war die Mo¨glichkeit, die Welt zu empfangen, schon vor dem Krieg ohne Zusatzvorrichtung recht beschnitten. Unerlaubt war zudem in der NS-

1 Titelblatt der Funk-Stunde, in: Peter Dahl, Radio. Sozialgeschichte des Rundfunks fu¨r Sender und

Empfa¨nger, Hamburg 1983, S. 6. Fu¨r Hinweise und Kritik danke ich Inge Marszolek, Lu Seegers und Clemens Zimmermann. 2 Zit. nach Ludwig Steffels, Sendepla¨tze fu¨r Kunst und Unterhaltung, in: Programmgeschichte des Ho¨rfunks in der Weimarer Republik, Bd. 1, hg. v. Joachim-Felix Leonhard, Mu¨nchen 1997, S. 641–685, hier S. 645. 3 Vgl. Carsten Lenk, Die Erscheinung des Rundfunks. Einfu¨hrung und Nutzung eines neuen Mediums 1923–1932, Opladen 1997, S. 79. 4 Zit. nach ebd., S. 155 u. 232–236. 5 Rudolf Sto ¨ ber, Die erfolgverfu¨hrte Nation. Deutschlands o¨ffentliche Stimmungen 1866 bis 1945, Stuttgart 1998, S. 104.

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Adelheid von Saldern

Zeit die Verbreitung der Sendungen von Radio Moskau. Mit Kriegsbeginn wurde das ¨ bertretungen stellten die Einschalten aller Auslandssender komplett verboten, und U Nationalsozialisten unter empfindliche Strafe, im Extremfall bis hin zur Todesstrafe.6 Im Folgenden geht es freilich nicht um die „weite Welt“, sondern ‚nur‘ um die Frage, wie Stadt und Land im Rundfunk aufeinander bezogen waren. Dabei wird nicht von einer Polarita¨t zwischen Stadt- und Landinteressen ausgegangen, vielmehr von einer Dualita¨t des Mediums, die, wie gezeigt werden soll, im Verlauf der Zwischenkriegszeit vielseitigen Vera¨nderungen unterlag und u¨berdies mit Blick auf die Weimarer Republik und die NS-Diktatur sehr unterschiedlich kontextualisiert war. Als erstes wird die Verankerung des neuen Mediums in den Sta¨dten vorgestellt, gefolgt von Ausfu¨hrungen u¨ber die Anstrengungen, das Radio auch auf dem Land zu verbreiten und der Landbevo¨lkerung Sendungen anzubieten, die ihre spezifischen Interessen beru¨cksichtigen. Daraufhin werden volkskulturelle und so genannte volkstu¨mliche Sendungen in Augenschein genommen, insofern sie als Gegenkonzept zur großsta¨dtischen Massenkultur galten. Eine besondere Aufmerksamkeit richtet sich dann auf die Tendenzen zur Integration von Stadt- und Landinteressen durch unterhaltsame Heimatsendungen und „volkstu¨mliche Musik“, ferner durch Schlager, Tanzmusik und Humoresken. In den zwei folgenden Abschnitten werden Umdeutungen der Großstadt sowie das Spannungsfeld von National- und Regionalkultur thematisiert. Zum Schluss fa¨llt der Blick auf mentale Dispositionen und Resonanzen der Zuho¨rerschaft sowie auf die mediale Imagination einer raumentgrenzten nationalsozialistischen Ho¨rer-Volksgemeinschaft.

1.

Zur Verankerung des Rundfunks in Sta¨dten

Ende 1923, Anfang 1924, als das Radio fu¨r die Allgemeinheit zu senden begann, bauten in Deutschland rund 200 Betriebe Radiogera¨te.7 Die Rundfunkindustrie unterlag ihrerseits jedoch schnell einem Prozess der Konzentration und Kartellbildung, mit AEG und Siemens und ihren in der Regel in Sta¨dten gelegenen Firmen an der Spitze.8 Im Jahre 1933 bauten nur mehr 29 Fabriken und 59 Zulieferfirmen Radiogera¨te. Davon waren lediglich vier Firmen in kleineren Sta¨dten angesiedelt, hingegen 16 allein in Berlin.9 Der Vertrieb musste selbstredend breiter gestreut sein. Im Jahre 1928 za¨hlte man im Reich ungefa¨hr 7800 Funkgera¨teha¨ndler, davon entfielen allerdings 1400 allein auf

6 Gleichwohl kam es zu Massenu¨bertretungen dieses Verbots. 7 Konrad Dussel, Deutsche Rundfunkgeschichte. Eine Einfu¨hrung, Konstanz 1999, S. 39. 8 Karl Christian Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte des Rundfunks in der Weimarer Republik, Potsdam

1997, S. 41.

9 Heinz Vollmann, Entwicklungsbedingungen von Rundfunk und Rundfunkindustrie, Borna-Leipzig

¨ hnliche Ergebnisse sind auch fu¨r die Lautsprecher-Spezialfirmen zu verzeichnen. Ebd. 1936, S. 264. A S. 264f.

Radio und Stadt in der Zwischenkriegszeit

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Berlin, wa¨hrend in Klein- und Landsta¨dten die Versorgung zu wu¨nschen u¨brig ließ. Selbst in der NS-Zeit war die Zahl der Rundfunkgera¨teha¨ndler in la¨ndlichen Gebieten außerordentlich gering.10 Die Werbung fu¨r den Kauf eines Radioapparates bezog sich in den ersten Radiojahren ebenfalls vorrangig auf die sta¨dtische Bevo¨lkerung. So fand in Berlin jedes Jahr zu Werbe- und Informationszwecken eine offenbar auch wa¨hrend der NS-Zeit sehr publikumswirksame Funkausstellung statt.11 Außerdem warben die Sender auf fachfremden Veranstaltungen. Allein die Nordische Rundfunk AG (NORAG) beteiligte sich an diversen Ausstellungen in Hannover, Bremen, Braunschweig und Kiel, auf denen sie Modelle der Funkanlagen vorstellte sowie statistisches Material und Broschu¨ren verteilte.12 Die neun regionalen Rundfunkgesellschaften samt den diversen Nebensendern und Studios wurden ebenfalls in Sta¨dten eingerichtet,13 so in Dresden, Kaiserslautern, Nu¨rnberg, Go¨rlitz, Frankfurt a. M., Ko¨nigsberg, Breslau, Salzburg, Danzig, Berlin, Saarbru¨cken, Hamburg, Leipzig, Mu¨nchen, Ko¨ln und Stuttgart. Die Sendegesellschaften waren in den ersten Jahren provisorisch in Postgeba¨uden, wie in Mu¨nchen, oder im Postscheckamt wie in Frankfurt a. M. untergebracht. Doch schon nach wenigen Jahren begannen diese, neue Geba¨ude zu errichten. Im Jahre 1927 finanzierte ¨ ffentlichkeit, die Schlesische Funkstunde AG in Breslau einen, in den Augen der O 14 viel zu teuren Neubau. Oft wurden auch bestehende Ha¨user in recht luxurio¨ser Weise umgebaut, was ebenfalls sehr kostspielig war. Am meisten Aufsehen und Kritik erregte das als „Funkpalast“ bezeichnete Geba¨ude am Kaiserdamm in Berlin fu¨r u¨ber fu¨nf Millionen Reichsmark,15 ein von Hans Poelzig entworfener Klinkerbau. Wie schon angedeutet, reichten die Empfangsmo¨glichkeiten ohne teure Zusatzgera¨te in den ersten Jahren nicht sehr weit.16 Deshalb kauften meist nur jene Personen ein Radio, die im engeren Umkreis der Sendestationen wohnten, und das waren in ¨ berzahl Stadtbewohner. So hing es letztlich auch an der Technologie, dass sich der U der Rundfunk als ein sta¨dtisches, ja ein großsta¨dtisches Medium generierte. Das gilt in besonderem Ausmaß fu¨r die fru¨he Zeit des Rundfunks in Deutschland: Im Dezember 10 Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 47; Vollmann, Entwicklungsbedingungen (wie

Anm. 9), S. 237. Im Krieg wurde u¨ber einen Engpass bei der Lieferung von Ersatzro¨hren speziell in Kleinsta¨dten geklagt: Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, hg. u. eingel. v. Heinz Boberach, Herrsching 1984 (1940), S. 1585 (ku¨nftig. zit. MadR). 11 Zu den Ausstellungen und Messen siehe Lenk, Die Erscheinung (wie Anm. 3), S. 42; Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 49. 12 Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 70f. 13 Das gilt selbst fu¨r die Nebensender. 14 Horst O. Halefeldt, Sendegesellschaften und Rundfunkordnungen, in: Programmgeschichte (wie Anm. 2), S. 23–352, hier S. 136. 15 Ebd., S. 137; Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 156; Funk-Woche. Kritische RadioWochenschau 6 (1931), Nr. 4, Artikel o. V., Achtung! Achtung! – Hier ist die Kritik. 16 Gu¨nter Grull, Radio und Musik von und fu¨r Soldaten. Kriegs- und Nachkriegsjahre 1939–1960, Ko¨ln 2000, S. 135. Ein Detektor-Empfang war anfangs nur im Umkreis von 20 km gut mo¨glich; 1926/27 vergro¨ßerten sich die Empfangsmo¨glichkeiten zwar auf 50 bis 70 km, doch bis zum Ende der 1920er Jahre waren die Rundfunksender immer noch nicht sehr leistungsstark. Fu¨hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 56 und 213.

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1924 wohnten 94,7 Prozent der Gebu¨hrenzahler des Berliner Senders Funk-Stunde im Raum Groß-Berlin.17 Der Rest des riesigen Gebietes, das von der Ostsee bis nach Schlesien reichte, blieb zuna¨chst noch weithin unerschlossen. In anderen ‚RundfunkSta¨dten‘ war die Situation a¨hnlich.18 Erst die Großsenderanlagen von 1930, wie die in der badischen Kleinstadt Mu¨hlacker und in der ostpreußischen Kreisstadt Heilsberg, brachten eine Verbesserung, wenn auch oft nicht im gewu¨nschten Ausmaß. Gleichwohl lebten 1934 noch 81 Prozent der Ho¨rer in Sta¨dten, waren also merklich u¨berrepra¨sentiert, insofern der Anteil der Sta¨dter an der Reichsbevo¨lkerung nur 67 Prozent ausmachte.19 Fast ein Viertel aller deutschen Radioho¨rer fiel 1935 sogar auf die Medienmetropole Berlin.20 Vorrangig handelte es sich dabei um Mittelschichten,21 wa¨hrend die Arbeiterschaft vor allem wegen der Kosten, die der Kauf eines Radioapparates und die Rundfunkgebu¨hren verursachten, unterrepra¨sentiert blieb.22 Nur in 4,8 Prozent der bei einer Befragung der Mitglieder des Arbeiter-Radio-Bunds von 1931 erfassten Arbeiterhaushalte standen (oftmals selbstgebaute) Rundfunkgera¨te.23 Allerdings schufen die damals in Berlin, dann in Leipzig, Chemnitz, Hamburg und schließlich in den meisten Großsta¨dten eingerichteten Arbeiter-Radio-Clubs einen beachtlichen Ausgleich,24 da hier gemeinschaftlich Radioapparate gebastelt und Programme geho¨rt wurden. Der Haupteigentu¨mer der Rundfunkgesellschaften war mit 51 Prozent die Reichspost; die restlichen Anteile der Rundfunkgesellschaften stammten von sta¨dtischen Kaufleuten, Unternehmern und Bankiers, kurzum von der Wirtschaft bzw. dem Großbu¨rgertum.25 Auch Stadtverwaltungen beteiligten sich hin und wieder an ihren regionalen Rundfunksendern. Als beispielsweise 1924 die neu gegru¨ndete Ostmarken-Rundfunk AG in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, u¨bernahm die 17 Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 64. 18 So wohnten in Bayern 53,1 % der Teilnehmer der Deutschen Stunde im Mu¨nchner und 40,7 % im

Nu¨rnberger Bezirk, wo bereits 1924 ein Nebensender errichtet wurde. Ganz a¨hnlich verhielt es sich auch bei der NORAG: 76,5 % der Ho¨rer stammten aus Hamburg, 11,1 % aus Bremen und 9,2 % aus Hannover, wo Nebensender existierten. Im Jahre 1932 entfielen in Großsta¨dten u¨ber 500 000 Haushalte 46 Ho¨rer auf 100 Haushalte, wa¨hrend der Reichsdurchschnitt bei 24 lag. Fu¨hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 64 u. 66. 19 Florian Cebulla, Rundfunk und la¨ndliche Gesellschaft 1924–1945, Go¨ttingen 2004, S. 40. 20 Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 66. 21 Carsten Lenk, Medium der Privatheit? U ¨ ber Rundfunk, Freizeit und Konsum in der Weimarer Republik, in: Radiozeiten. Herrschaft, Alltag, Gesellschaft (1924–1960), hg. v. Inge Marszolek/Adelheid von Saldern, Potsdam 1999, S. 206–217, hier S. 211; Fu¨hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), ¨ ffentlichkeiten 1930–1960, S. 60; Karl Christian Fu¨hrer, Medienmetropole Hamburg. Mediale O Hamburg 2008, S. 39. 22 Trotz der Mo¨glichkeiten des Ratenkaufs waren die Apparate fu¨r viele Menschen noch zu teuer. 23 Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 63. Der Eigenbau von Rundfunkgera¨ten erfolgte hauptsa¨chlich in den ersten Jahren zur Zeit der Detektoren: Im Jahre 1926 lag der Anteil der selbstgebauten Ro¨hrengera¨te immerhin bei 13,4 % der von der Erhebung erfassten Ho¨rer. Ebd., S. 62. 24 Es hat allerdings auch einige „bu¨rgerliche“ Funkvereine gegeben. Gerhard Eckert, Der Rundfunk als Fu¨hrungsmittel, Heidelberg u. a. 1941, S. 186. 25 Fu¨r den Mu¨nchner Sender siehe Bettina Hasselbring, „Hier ist die Deutsche Stunde in Bayern“. Die Anfa¨nge des Rundfunks (1924–1934), in: Der Ton. Das Bild. Die Bayern und ihr Rundfunk 1924–1949–1999, hg. v. Margot Hamm/Bettina Hasselbring/Michael Henker, Augsburg 1999, S. 51–58, hier S. 53

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Stadt Ko¨nigsberg Anteile.26 Und an der Mitteldeutschen Rundfunk AG (MIRAG) beteiligte sich u. a. das Messeunternehmen, welches in sta¨dtischer Hand lag. Die Rundfunkorganisatoren und Programmgestalter ko¨nnen ebenfalls als Sta¨dter gelten, was allein schon aus ihrem bildungsbu¨rgerlichen Hintergrund geschlossen werden kann.27 Zwei Beispiele mo¨gen genu¨gen: Der Jurist Kurt Magnus, Gescha¨ftsfu¨hrer der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, kam aus Kassel, und der Rundfunk-Kommissar Hans Bredow wuchs zwar in der Kleinstadt Schlawe in Hinterpommern auf, doch arbeitete er schon seit 1903 in Berlin und Riga. Die Mitglieder der Kulturbeira¨te geho¨rten gleichfalls dem sta¨dtischen Milieu an.28 Vielfach handelte es sich um Hochschullehrer, Museums- und Theaterdirektoren und, gema¨ß dem selbst gesteckten Erziehungsanspruch, um Personen aus dem pa¨dagogischen Bereich. Frauen sowie Vertreter der Landbevo¨lkerung und der Arbeiterschaft suchte man in solchen Gremien meist vergeblich.29 ¨ ffentlichkeit, das bei Auch formierte sich ein Radio-Publikum als sta¨dtische O der Produktion der vielen live-Sendungen oftmals anwesend war.30 Zwar entstand ein Teil der live-Sendungen nur in Studios, und zahlreiche Sendungen basierten von vornherein auf Schallplattenaufnahmen, doch wurde immerhin ein Teil der Sendungen im Rahmen eigener Rundfunkveranstaltungen in o¨ffentlichen Ra¨umen erstellt. Der große Berliner Senderaum wies Platz fu¨r 1000 Besucher auf.31 Zudem ging der Rundfunk seinerseits in die Konzertsa¨le, Theater und Tanzcafe´s, um Darbietungen zu u¨bertragen. Clemens Zimmermann hat darauf hingewiesen, dass die Medien dort am besten gediehen, „wo eine Vielfalt an Gu¨terproduktion und Dienstleistungen zur Verfu¨gung stand, wo sich besondere soziokulturelle Qualita¨ten zeigten“, den „transaction cities“. Hier konnte Wissen relativ schnell angeeignet werden, Kreativita¨t sich ent¨ ffentlichkeiten falten und Professionalita¨t entwickeln,32 hier fanden Medien ihre O ¨ und die Offentlichkeiten ihre Medien. Auch der Rundfunk und seine vielfach freien Mitarbeiter waren bei ihrer Programmgestaltung auf ein lebendiges und vielseitiges kulturelles Umfeld angewiesen. Nicht zufa¨llig argumentierte beispielsweise Ko¨ln bei seiner Bewerbung um den Sitz einer Rundfunkgesellschaft erfolgreich mit seinem reichhaltigen kulturellen Kapital.33 26 Dussel, Deutsche Rundfunkgeschichte (wie Anm. 7), S. 32. 27 Cebulla, Rundfunk (wie Anm. 19), S. 91f. 28 Halefeldt, Sendegesellschaften (wie Anm. 14), S. 246–259. 29 Ebd., S. 258. Auch die Mitglieder in den U ¨ berwachungsausschu¨ssen waren meist Beamte, vielfach

Juristen und nicht selten Finanzbeamte. Nur in Preußen entstammten die Mitglieder nicht der Beamtenschaft, sondern den Parteien der Weimarer Koalition. Genauere Angaben: ebd., S. 169–174. 30 Vgl. u. a. Stephanie Schrader, Von der „Deutschen Stunde in Bayern“ zum „Reichssender Mu¨nchen“. Der Zugriff der Nationalsozialisten auf den Rundfunk, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 15. 31 Theresia Wittenbrink, Rundfunk und literarische Tradition, in: Programmgeschichte (wie Anm. 2), S. 996–1097, hier S. 1012–1023; Susanne Grossmann-Vendrey, Rundfunk und etabliertes Musikleben, in: Programmgeschichte (wie Anm. 2), S. 725–876, hier S. 741. 32 Clemens Zimmermann, Zur Einleitung: Stadt, Medien und Lokalita¨t, in: InfStG 1 (2002), S. 5–13, hier S. 5. 33 Dazu Na¨heres in Wolf Bierbach, Rundfunk zwischen Kommerz und Politik. Der Westdeutsche Rundfunk in der Weimarer Zeit, Frankfurt a. M. u. a. 1986, bes. S. 148.

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2. Stadtbezogene Programmformate

Aussagen u¨ber die Stadtbezogenheit des damaligen Radioprogramms mu¨ssen notgedrungen vage bleiben, allenfalls ko¨nnen dominante Trends in groben Umrissen eruiert werden. Sie basieren zum einen auf Schlussfolgerungen, die sich aus den Radiowu¨nschen jener sozialen Schichten ergeben, die sowohl in den Großsta¨dten als auch in den Rundfunkorganisationen u¨berproportional vertreten waren, wie vor allem das (Bildungs-)Bu¨rgertum. Erga¨nzend ko¨nnen Faktoren in den Blick genommen werden, die im Versta¨ndnis der Zeitgenossen als typisch großsta¨dtisch galten, etwa Vielfalt, Offenheit und Experimentierfreude. Die Stadtbezogenheit resultierte zuvo¨rderst aus dem Bestreben des sta¨dtischen, ha¨ufig kulturkonservativ bzw. konservativ-liberal gesinnten Bu¨rgertums, im Radio prima¨r Bildungsangebote sowie Werke der Hohen Kultur ins Programm aufzunehmen, und zwar in Form von klassischer Musik und Opernsendungen, ferner ¨ bertragungen von Theaterauffu¨hrungen, literarischen Lesungen und vielseidurch U tigen Vortra¨gen.34 Doch mussten diese kulturell hochwertigen Programme zu Gunsten von Unterhaltungssendungen schrittweise reduziert werden. Gleichwohl verschwanden „Klassiker“-Angebote auch in der NS-Zeit nicht aus dem Programm, weil die Nationalsozialisten, vor allem Joseph Goebbels, an einer Popularisierung bestimmter hochkultureller Werke durchaus interessiert waren,35 soweit diese nicht von Juden stammten und sich als „deutsche Kunst“ instrumentalisieren ließen. Einzelne Sendungen im Weimarer Rundfunk thematisierten direkt die Stadt, genauer: das Großsta¨dtische. Walter Ruttmanns Originalton-Collage Weekend von 1930 entstand nach dem Vorbild seines Stummfilms Berlin – Symphonie einer Großstadt. Und der Schwank Großstadtluft von Oskar Blumenthal, urspru¨nglich ein Stu¨ck fu¨r die Bu¨hne, 1927 im Su¨dfunk gesendet, stellte laut Programmzeitung den Gegensatz zwischen Großstadt und Kleinstadt vortrefflich dar: Großsta¨dte wurden hierin als Orte der Vielfalt, voll von Anregungen sowie als individuelle Freira¨ume gekennzeichnet, als Orte ohne Sozialkontrolle, ganz im Unterschied zu Kleinsta¨dten.36 Zahlreiche Ratgebersendungen waren ebenfalls auf sta¨dtisches Milieu ausgerichtet, wie etwa der erfolgreiche Jungma¨dchenfunk von Carola Hersel, der von der 34 Vgl. Hans Ju¨rgen Koch/Hermann Glaser, Ganz Ohr. Eine Kulturgeschichte des Radios in Deutsch-

land, Ko¨ln u. a. 2005, S. 30–39. Eine Aufstellung der 1924 und 1925 gesendeten Ho¨rspiele zeigt ebenfalls eine klare Dominanz von „Klassikern“ aller Sorten. Gerhard Eckert, Gestaltung eines literarischen Stoffes in Tonfilm und Ho¨rspiel, Berlin 1936, S. 262–272. 35 Vgl. Clemens Zimmermann, Medien im Nationalsozialismus. Deutschland 1933–1945, Italien 1922–1943, Spanien 1936–1951, Wien u. a. 2007, S. 137. Erinnert sei zum Beispiel an den Beethoven¨ bertragungen der Bayreuther Festspiele u. a. Corey Zyklus von 1934 und an spa¨ter ausgestrahlte U Ross, Media and the Making of Modern Germany. Mass Communications, Society, and Politics From the Empire to the Third Reich, Oxford 2008, S. 331f.; Adelheid von Saldern, „Kunst fu¨r’s Volk“. Vom Kulturkonservatismus zur nationalsozialistischen Kulturpolitik, in: Politik – Stadt – Kultur. Zum 60. Geburtstag, hg. v. Inge Marszolek/Michael Wildt, Hamburg 1999, S. 169–203, hier S. 182–185. 36 Thomas Penka, „Geistzersta¨uber“ Rundfunk. Sozialgeschichte des Su¨dfunkprogramms in der Weimarer Republik, Potsdam 1999, S. 124f.

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Deutschen Welle zwischen 1930 und 1933 ausgestrahlt wurde. Eine dieser dialoghaftunterhaltenden Ratgebersendungen begann beispielsweise mit den Worten: „Meine lieben Zuho¨rerinnen! Als ich unla¨ngst einmal in der Stadtbahn fuhr, wurde ich Ohrenzeuge einer Unterhaltung [...]“.37 Hersels Plaudereien u¨ber Lebenshilfe, die zwischen Tradition und Moderne changierte, erinnerten an „den Tenor einer gutbu¨rgerlichen [sta¨dtischen] Jungma¨dchen-Postille“.38 Und dementsprechend ging auch das Gros der Ho¨rerinnenpost zu diesen Sendungen aus Sta¨dten ein. Die urbane Kultur kam schließlich wa¨hrend der Weimarer Republik auch in all jenen Sendungen zum Tragen, in denen es um die Moderne ging. Zwar wies das fru¨he Radio mit seinem bildungsbu¨rgerlichen Programm eine eher kulturkonserva¨ berwindung tive Ausrichtung auf. Aber es gab auch vielfa¨ltige Bestrebungen zur U ¨ ffnung gegenu¨ber der ku¨nstlerischen Moderne und dem amerikadieses Profils, zur O nischen Jazz, zu Experimenten mit neuen Literaturformen, wobei solche Neuerungen ha¨ufig mit dem Namen des Frankfurter und spa¨teren Berliner Rundfunkintendanten Hans Flesch verbunden waren.39 Um dem Drang der sta¨dtischen Zuho¨rer und Zuho¨rerinnen nach mehr Unterhaltung nachzukommen, entwickelten die Programmstrategen daru¨ber hinaus Mischprogramme, die oftmals als Bunte Abende oder Bunte Stunden etikettiert wurden. Solche Formate waren aus der popula¨ren sta¨dtischen Vereinskultur des 19. Jahrhunderts hervorgegangen, stießen demnach bei der Zuho¨rerschaft auf eine gewisse Vertrautheit,40 auch dann, wenn die Aufbereitung fu¨r den Funk zahlreiche Experimente einschloss: Teils wurden Elemente des Kabaretts zu integrieren versucht, teils handelte es sich um eine Mischung von „Chanson, heitere(r) Rezitation und Confe´rence mit popula¨ren Schlagern und Operettenmelodien“, teils entstanden rein musikalische Mischungen, teils wurden fu¨r die Mischprogramme eigene Rahmenthemen konzipiert. Zu Wort kamen oftmals „selbstsichere, schlagfertige und aufmu¨pfige Figuren“.41 Bunt, lustig, heiter, popula¨r und froh, das waren jedenfalls die Attribute, mit denen diese beliebten Sendungen gekennzeichnet wurden. Chansons, Schlager, Operettenkla¨nge sowie Kleinkunst waren, wie erwa¨hnt, nicht nur den sta¨dtischen Milieus des 19. Jahrhunderts entsprungen, sondern bedienten auch vom Stil her in erster Linie sta¨dtische Geschma¨cker.42 37 Angela Dinghaus, Hersels Jungma¨dchenstunde. Identifikationsangebote fu¨r junge Frauen?, in:

Radiozeiten (wie Anm. 21), S. 213–251, hier S. 239; Dies., Frauenfunk und Jungma¨dchenstunde: ein Beitrag zur Programmgeschichte des Weimarer Rundfunks. Diss. Univ. Hannover, 2001 (, letzter Aufruf 14. Oktober 2011). 38 Dinghaus, Hersels Jungma¨dchenstunde (wie Anm. 37), S. 239, 241f. 39 Dazu siehe u. a. Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 92–95; Wolfgang Hagen, Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Ho¨rfunks – Deutschland/USA, Mu¨nchen 2005, S. XXI und 103–113. 40 Lenk, Die Erscheinung (wie Anm. 3), S. 166. 41 Ulrich Keuler, Ha¨berle und Pfleiderer. Zur Geschichte, Machart und Funktion einer popula¨ren Unterhaltungsreihe, Tu¨bingen 1992, S. 38. 42 Eine Umfrage der Zeitschrift Der deutsche Rundfunk aus dem Jahre 1924, also aus jenem Jahr, in dem es nahezu ausschließlich sta¨dtische Zuho¨rer gab, ermittelte unter den antwortenden rund 8000 Rundfunkteilnehmern eine besonders große Vorliebe fu¨r Operetten. Eckert, Der Rundfunk (wie Anm. 24), S. 190. Dies darf nicht allzu sehr verwundern, entstanden die Operetten ja doch im sta¨dtischen Milieu.

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Eine weitere Mo¨glichkeit, insbesondere Stadtmenschen anzusprechen, bestand in der Ausstrahlung von aktuellen Informationen und Berichten, etwa u¨ber verschiedene sta¨dtische Einrichtungen, wie Tierparks, Schlachtha¨user, Bahnho¨fe oder bestimmte Theaterauffu¨hrungen.43 Hinzu kamen so genannte aktuelle Sendereihen. Beispielsweise wurden vom November 1928 die Sendungen Wirtschaftliche Zeitfragen bei der NORAG oder die Sozialpolitische Umschau in der Funk-Stunde Berlin ausgestrahlt, in denen weder von Landwirtschaft noch von den Problemen der Landbevo¨lkerung die Rede war.44 Eine besondere Aufmerksamkeit erzielten Sportberichte, etwa Reportagen u¨ber die Deutsche Fußballmeisterschaft im Berliner Stadion (1927) oder das Sechstagerennen in Stuttgart (1928), ferner u¨ber diverse Boxka¨mpfe, Avus-Rennen und Pferderennen.45 In den meisten Fa¨llen handelte es sich um Veranstaltungen, die sich in Sta¨dten abspielten und demnach auch aus Sta¨dten ¨ hnlich verhielt es sich mit zahlreichen Informationssendungen u¨bertragen wurden. A u¨ber technische Neuerungen und besondere Ereignisse, etwa Schiffs-Stapella¨ufe oder Ausstellungsero¨ffnungen.46 In der durch Radiosendungen oftmals eher beila¨ufigen Erweiterung des ‚sozialen Wissens‘ der Zeit und einer zunehmenden Informiertheit lag – neben der Unterhaltung – wohl eine der großen Attraktionen des Rundfunks.47

3.

Landbezogene Werbe-Kampagnen und Programme

„Millionen von Teilnehmern ho¨ren heute gemeinsam die Rundfunkdarbietungen der deutschen Sender, die auf diese Weise gleichsam ein festes Band um die deutsche Funkgemeinde schlingen, die alle Bevo¨lkerungsschichten und Berufsklassen umfaßt“, meinte aus der Sicht des Jahres 1929 der erste Rundfunk-Kommissar der Republik, Hans Bredow.48 Doch damit bescho¨nigte er, wie bereits erwa¨hnt, die tatsa¨chlichen Verha¨ltnisse. Nicht nur waren sta¨dtische Arbeiter und Arbeiterinnen im 43 Lenk, Medium (wie Anm. 21), S. 214. 44 Renate Schumacher, Radio als Medium und Faktor des aktuellen Geschehens, in: Programmge-

schichte (wie Anm. 2), S. 423–662, hier S. 454–466 und 486–506.

45 Ebd., S. 451–516. 46 Ebd., S. 470–473. Gleichzeitig zeugten solche U ¨ bertragungen von der Leistungsfa¨higkeit und dem

Wiederaufstieg der deutschen Nation. Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 90–93.

47 Diesen Aspekt betont Kaspar Maase, „Jetzt kommt Da¨nemark“. Anmerkungen zum Gebrauchswert

des fru¨hen Rundfunks, in: Die Idee des Radios. Von den Anfa¨ngen in Europa und den USA bis 1933, hg. v. Edgar Lersch/Helmut Schanze, Konstanz 2004, S. 47–72, hier S. 61–69. Die Informationen und Nachrichtenmeldungen kamen teils aus den Zeitungen, teils von der neu gegru¨ndeten Gesellschaft DRADAG (Drahtloser Dienst AG fu¨r Buch und Presse), die ihr Material von den großen Agenturen erhielt. Wirtschaftsnachrichten wurden von der Eildienst GmbH bezogen. Jedenfalls handelte es sich beim Rundfunk nicht um eine „gesprochene Zeitung“, wie der Chefredakteur der Rundfunk-Programmzeitschrift Sieben Tage, Ludwig Kapeller, hervorhob. Ludwig Kapeller, Nicht „gesprochene Zeitung“ – sondern „Rundfunk“. Schwa¨chen und Mo¨glichkeiten des Rundfunks, in: Medientheorie 1888–1933, Texte und Kommentare hg. v. Albert Ku¨mmel/Petra Lo¨ffler, Frankfurt a. M. 2002, S. 156–161 (Erstvero¨ff. 1924). Es zeigt sich freilich auch hier wiederum, dass die diversen Medien als Ensemble fungierten und sich weniger Konkurrenz machten, als dass sie sich erga¨nzten. 48 Zit. nach Fu ¨ hrer, Medienmetropole (wie Anm. 21), S. 38.

Radio und Stadt in der Zwischenkriegszeit

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Weimarer Rundfunk unterrepra¨sentiert und deren Interessen wenig beachtet worden,49 die Landbevo¨lkerung blieb ebenfalls weitgehend außen vor.50 Prima¨r etablierte sich das Radio eben als ein sta¨dtisches Medium, und dies entsprach ja auch der schon weitgehend urbanisierten deutschen Gesellschaft.51 Allerdings erho¨hte sich in den letzten fu¨nf Jahren der Weimarer Republik die Werbung fu¨r den Rundfunk gerade auf dem Lande, wollten die Firmen doch ihren Absatz kontinuierlich steigern. So warben die Rundfunkgesellschaften vermehrt auf landwirtschaftlichen Fachausstellungen,52 und gesonderte Werbeveranstaltungen dienten ebenfalls der Verbreitung des Rundfunks auf dem Land. Auch „Werbewagen“, die das Radio vorfu¨hrten und vor allem nach 1933 eingesetzt wurden, bezweckten eine Absatzsteigerung von Radioapparaten in Do¨rfern und Kleinsta¨dten.53 Das Radio sollte schließlich auch helfen, die in den der NS-Zeit einsetzende Landflucht zu drosseln, denn das Landleben gewo¨nne, so die Annahme, durch das Radio an Vielseitigkeit.54 Das bis dahin weitgehend auf die Großstadt abgestellte Programm sprach am ehesten jene bu¨rgerlichen und bildungshungrigen Personenkreise an, die in Kleinsta¨dten und la¨ndlichen Gebieten anzutreffen waren, wie etwa Paul Enderling, Literarischer Berater des eher konservativ-bu¨rgerlichen Su¨dfunks, schon fru¨h erkannte.55 Lehrer, Beamte und Angestellte fungierten tatsa¨chlich als Vorreiter des Rundfunkho¨rens in la¨ndlich-kleinsta¨dtischen Regionen,56 wa¨hrend Landwirte und Landarbeiter, vor allem in kleinba¨uerlichen Gebieten, stark unterrepra¨sentiert blieben.57 Auch Pastoren traten oftmals, etwa in Mecklenburg und Bayern, als Rundfunkbefu¨rworter auf.58 Insbesondere waren sie an jenen Sendungen, die die Volksmission unterstu¨tz¨ bertragung der kirchlichen Morgenfeiern, vor allem ten, interessiert sowie an der U fu¨r jene Orte, die u¨ber keine eigene Kirche verfu¨gten.59

49 Vgl. Lenk, Die Erscheinung (wie Anm. 3), S. 128; PENKA, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36),

S. 212–215.

50 Wa¨hrend die Rundfunkdichte 1932 im Reichsdurchschnitt bei 24 Teilnehmern pro 100 Haushalte lag,

waren es in Orten mit weniger als 2500 Einwohnern nur 10 Ho¨rer. Fu¨hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 66. 51 Darauf verweist insbesondere Ross, Media (wie Anm. 35), S. 336. 52 Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 74. 53 Ebd., S. 73. 54 Vgl. ebd., S. 72. 55 Nach Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 28 u. 413. 56 Vgl. Lenk, Die Erscheinung (wie Anm. 3), S. 82–85. 57 Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 75; Zahlen bei Daniela Mu¨nkel, „Der Rundfunk geht auf die Do¨rfer“. Der Einzug der Massenmedien auf dem Lande von den zwanziger bis in die sechziger Jahre, in: Der lange Abschied vom Land. Agrarpolitik, Landwirtschaft und la¨ndliche Gesellschaft zwischen Weimar und Bonn, hg. v. Ders., Go¨ttingen 2000, S. 177–198, hier S. 188. 58 Die Verka¨ufer der Firma Siemens wurden angewiesen, bei ihren Werbeaktionen auf dem Lande zum einen den praktischen Nutzen des Funks (durch aktuelle Informationen), zum anderen die religio¨sen Morgenfeiern herauszustellen. Vgl. auch Mu¨nkel, Der Rundfunk (wie Anm. 57), S. 186; Halefeldt, Sendegesellschaften (wie Anm. 14), S. 191–193. 59 Cebulla, Rundfunk (wie Anm. 19), S. 69f.

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Doch Absatzerfolge im la¨ndlichen Raum stellten sich nur langsam ein: Im Jahre 1932 befanden sich unter den 2,9 Millionen rein la¨ndlichen Haushaltungen im Deutschen Reich erst 230 000 Radiobesitzer – also weniger als acht Prozent.60 Als Ursachen fu¨r dieses Stadt-Landgefa¨lle galten die sehr niedrigen Lo¨hne der Landarbeiter, ¨ lteren u¨berlange Arbeitszeiten, aber auch mentale Vorbehalte besonders unter den A gegenu¨ber solch einer technischen Erfindung.61 Alt-Konservative sowie ein Teil der kirchlich eingebundenen Kreise lehnten generell die Massenkultur, selbst das staatlich gelenkte Radio, ab. Sie fu¨rchteten die „Entseelung“ und „Entgeistigung“ der Menschen, sahen dadurch die Familien gefa¨hrdet und wollten lieber „gesunde“ und „saubere“ Alternativen fo¨rdern. So kam eine Untersuchung aus dem Jahre 1937 zu dem Ergebnis: „Es gibt eben noch, insbesondere auf dem Lande, unza¨hlige Volksgenossen, die keinen Begriff davon haben, was Rundfunk im eigenen Hause bedeutet. Bisher meinten sie, bei politischen Anla¨ssen ga¨be es ja den Gemeinschaftsempfang, Lautsprecher auf den Straßen oder den großen Empfangsapparat, u¨ber den ja heute fast jedes Dorfgasthaus verfu¨gt“; das reiche doch aus.62 Tatsa¨chlich spielte das Radio in den Dorfgastha¨usern eine große Rolle, nicht zuletzt fu¨r die Imagination einer do¨rflichen Ho¨rergemeinschaft: „Im Dorfwirtshaus im Harz [...] sah ich [...] die Bauern um den Zauberkasten sitzen, als ein Funkspiel in weit entfernten Sendesa¨len ausgetragen wurde“, berichtete der Journalist, Schriftsteller und Ho¨rspielschreiber Otto Rombach.63 Eine betra¨chtliche Zunahme der Radioausbreitung auf dem Lande und in den Kleinsta¨dten erfolgte schließlich kurz vor und vor allem nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Deutschnational-vo¨lkisch eingestellte Programmgestalter, wie der Abteilungsleiter der Deutschen Welle, Konrad Du¨rre, befu¨rchteten wa¨hrend der Weimarer Republik zu Recht, dass der Rundfunk den Stadt-Land-Gegensatz eher befo¨rdere, anstatt ihn abzubauen. Deshalb mu¨sse auf die Lebenssituation und die Psyche der Landbevo¨lkerung eigens eingegangen werden.64 So verwundert es nicht, wenn die allgemein konstatierte Stadtlastigkeit des Rundfunks dauerhaft durch so genannte Zielgruppensendungen, wie den Landfunk und diverse Landfrauenprogramme, ausgeglichen werden sollte. Im Jahr 1927 sendeten die Rundfunkgesellschaften in Deutschland immerhin schon 866 Vortra¨ge fu¨r Landwirtschaft und Gartenbau.65 Eine solche Programmverlagerung erfolgte vielfach in Zusammenarbeit mit den landwirtschaftlichen 60 Fu ¨ hrer, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 76. 61 Mu ¨ nkel, Der Rundfunk (wie Anm. 57), S. 187. 62 Zit. nach Uta C. Schmidt, Der Volksempfa¨nger. Tabernakel moderner Massenkultur, in: Radiozeiten

(wie Anm. 21), S. 136–159, hier S. 147. Genauere Ausfu¨hrungen in Cebulla, Rundfunk (wie Anm. 19), S. 40–45. Die Einrichtung eines Gemeinschaftsempfangs erfolgte meist auf Initiative der Volksschullehrer oder der Pfarrer. Alle Statistiken u¨ber die Anzahl der Radioho¨rer auf dem Lande stellen deshalb nur ganz grobe Richtwerte dar, weil die o¨ffentliche Nutzung des Rundfunks, vor allem in Gastha¨usern, nicht beru¨cksichtigt ist. 63 Andreas Meyer, Kriminalho¨rspiele 1924–1994. Eine Dokumentation, Potsdam 1998, S. 35. 64 Cebulla, Rundfunk (wie Anm. 19), S. 91f. 65 Wolfgang Schu ¨ tte, Regionalita¨t und Fo¨deralismus im Rundfunk. Die geschichtliche Entwicklung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1971, S. 73–86, hier S. 85; vgl. auch Koch/Glaser, Ganz Ohr (wie Anm. 34), S. 30. Die NORAG hatte sogar schon 1924 eine Stunde fu¨r den Landwirt in ihr Programm eingesetzt.

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Verba¨nden, die den Funk als „agrarpolitisches Instrument“ einsetzen wollten. La¨ndliche Volksbildungsprogramme samt Vortra¨gen, spezielle Ratgebersendungen, etwa u¨ber neue Anbau- und Produktionsmethoden,66 sowie Informationen u¨ber Handelspreise und Wettervorhersagen sollten ebenfalls den Landwirten helfen, ihre Probleme zu bewerkstelligen.67 Gegen die vielen meist langatmigen Vortra¨ge erhob allerdings 1930 der Journalist und Schriftsteller Alfred Mu¨hr (1903–1982) heftige Kritik: Das Mikrophon mu¨sse auf’s Land, heraus aus der „Stickluft der Sendera¨ume“, so forderte er.68 Dies war ja auch mo¨glich geworden, denn seit 1929/30 konnten die Mikrofone mobil eingesetzt ¨ ther, Bauern werden. Folglich liefen immer mehr Reportagen aus Do¨rfern u¨ber den A kamen dabei selbst zu Wort und so genannte Dorfabende, die unter aktiver Beteiligung der Bevo¨lkerung stattfanden, stießen auf großen Widerhall. Wa¨hrend der NSZeit fuhren an den so genannten Gaurundfunktagen dann mit großem Propaganda¨ bertragungswagen gerade in die Kleinsta¨dte und Do¨rfer und luden die Aufwand die U Menschen zur (gesteuerten) Partizipation ein.69

4. Volkskulturelle und volkstu¨mliche Sendungen als Gegenkonzept zur großsta¨dtischen Massenkultur

Unterhaltsame Mischprogramme sprachen am Ende der Weimarer Republik nicht nur die Stadtbevo¨lkerung, sondern auch Menschen, die im la¨ndlichen Milieu beheimatet waren, an. Deshalb verwundert es nicht, dass auch jene, die, wie der rechtskonservative Journalist Alfred Mu¨hr, die Interessen der Landbevo¨lkerung aus agitatorischen Gru¨nden entdeckten, Bunte Stunden (neuer Art) im Radio gut hießen.70 Im Zentrum solcher Sendungen stand der jeweilige regionale Kulturraum. Heimatdichtung, Regionalliteratur, Volksmusik, Volksku¨nste, Landschafts- und Sta¨dteportraits kamen in bunter Abfolge zum Zuge.71 Teils ho¨rte man, etwa im Su¨dfunk, in allabendlichen Unterhaltungsstunden vermehrt „Volksmusik, Dialektdarbietungen, Ta¨nze und Ma¨rsche“,72 teils wurden eigene Formate entwickelt, deren Inhalte sich von der Weltoffenheit der Großsta¨dte abgrenzten. Als Vorreiter dieser Entwicklung entwarf die NORAG bereits ein auf der „deutschen Stammeskultur“ basierendes 66 Mu ¨ nkel, Der Rundfunk (wie Anm. 57), S. 184–186. 67 Solche Sendungen verfolgten auch den Zweck, „den Volksgenossen in der Stadt Kenntnis von der

Arbeit, den Sorgen und Bestrebungen der Landbewohner zu vermitteln“, wie es beispielsweise 1936 im Wochenblatt der Landesbauernschaft Hannover hieß. 68 Nach Cebulla, Rundfunk (wie Anm. 19), S. 133. 69 Vgl. u. a. Dieter Heimann, Nationalsozialistische Rundfunkfu¨hrung am Beispiel des Westdeutschen Rundfunks Ko¨ln, in: Rundfunk und Politik 1923 bis 1973. Beitra¨ge zur Rundfunkforschung, hg. v. Winfried B. Lerg/Rolf Steininger, Berlin 1975, S. 153–178, hier S. 164f. 70 Cebulla, Rundfunk (wie Anm. 19), S. 133. 71 Wittenbrink, Rundfunk (wie Anm. 31), S. 1025f. 72 Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 47.

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Programm, gru¨ndete eine volkskundliche „Schule des Niederdeutschen“ und bot ein o¨ffentliches Forum fu¨r norddeutsche Heimatdichter, etwa fu¨r Hans Friedrich Blunck, wobei mundartliche Autorenlesungen Konjunktur hatten.73 Die Schlesische Funkstunde AG reaktivierte, wie auch andere Sender, vor allem die Volksmusik. In der Deutschen Stunde in Bayern wurden beispielsweise ab 1926 Volksliedabende gesendet, ab 1930 dann in versta¨rktem Maße. Kiem Pauli organisierte mehrere Preissingen, nicht zuletzt um auf diese Weise alte Lieder wiederzuentdecken. Nach 1933 stieg die Zahl der sehr erfolgreichen Volksmusik-Sendungen betra¨chtlich an, wobei die diversen Regionalkulturen von Altbayern, Franken und Schwaben beru¨cksichtigt wurden.74 Regionalkulturen ko¨nnen bekanntlich in unterschiedliche politische und kulturelle Kontexte gestellt werden. Im Rundfunk fanden zwar schon seit 1925 landschafts- und heimatgebundene Sendungen den Weg in die Programme der Sendeanstalten, doch gewannen sie Jahr fu¨r Jahr mehr Raum und wurden immer sta¨rker in die kulturellen Auseinandersetzungen hineingezogen.75 Am Ende der Weimarer Republik dienten die darauf beruhenden Rundfunksendungen angesichts der großen Systemkrise mehr und mehr als kulturelle Waffe gegen die großsta¨dtische Massenkultur: Gerade die Volksmusik, das „einfache kleine Volkslied“, sollte im Kampf gegen den „musikalischen Schmutz und Schund“ [der Großsta¨dte] eingesetzt werden, wie der Pianist und kulturpolitisch engagierte preußische Ministerialrat Professor Leo Kestenberg schon 1926 meinte.76 Es ginge bei den volkskulturellen Heimatsendungen – so wurde u¨ber den Inhalt eines Vortrags des niederdeutschen Dichters, Lehrers und Heimatforschers Karl Wagenfeld berichtet – gegen den Trend des „blo¨den Bildungsdusels“ [des sta¨dtischen Bu¨rgertums] und um die „Erneuerung deutschen Wesens“.77 Moderne Schlager oder lieber Volkslieder: das erschien vielen Rundfunkverantwortlichen als eine Entscheidung zwischen großsta¨dtischer Massenkultur und la¨ndlicher Volkskultur.78 Dabei beklagten Vertreter der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei und der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei, dass im Radio, wie Thomas Penka in seiner 1999 vero¨ffentlichten Studie u¨ber den Su¨dfunk formulierte, die „gemeinschaftszersetzenden Kra¨fte moderner Großstadtkultur am Werk“ seien,79 wogegen sie die heimatkulturellen Sendungen als ein Allheilmittel ansahen. Eine Gegensa¨tzlichkeit zwischen Heimatdichtung und Großstadtdichtung wurde proklamiert und diese pra¨gte den Weimarer Rundfunk. Sie spaltete selbst die Dichterakademie: Auf der einen Seite befanden sich die Vertreter der „nationalen Dichtung“

73 Schu ¨ tte, Regionalita¨t (wie Anm. 65), S. 79f.; Adelheid von Saldern, Rundfunkpolitik, Nationalidee

und Volkskultur (1926–1932), in: Radiozeiten (wie Anm. 21), S. 59–82, hier S. 74f.

74 Ernst Schusser, „Heimat“ ho¨ren? – Die Stellung der Volksmusik im Bayerischen Rundfunk, in: Der

Ton (wie Anm. 25), S. 163–175, hier S. 167.

75 Dazu ausfu¨hrlich Schu ¨ tte, Regionalita¨t (wie Anm. 65), S. 78–86. 76 Die Sendung 7 (1930), Nr. 4, S. 54–56. 77 Bericht u¨ber den Vortrag von Karl Wagenfeld „Vom deutschen Heimatschutz“ aus dem Jahr 1926, zit.

nach Wittenbrink, Rundfunk (wie Anm. 31), S. 1128. 78 Hinweise bei Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 95. 79 Ebd., S. 411.

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und der Heimatkunst, auf der anderen Seite die Repra¨sentanten der insbesondere in Großsta¨dten verankerten linksliberalen Literatur.80 Nicht erst die Nationalsozialisten waren es demnach, die die Radioprogramme mit Regionalsendungen anreicherten, vielmehr fanden solche Programmverschiebungen schrittweise schon wa¨hrend der Weimarer Republik, insbesondere an deren Ende, statt.81 Allen voran ging die Hamburger Rundfunkstation NORAG, die mit ihren Nebensendern Hannover, Kiel, Flensburg und Bremen einen geschlossenen niederdeutschen Kulturkreis imaginierte.82 Dabei wurden die Heimatsendungen immer mehr mit essentialistischem Volkstumsdenken und vo¨lkischer Ideologie durchsetzt. Als sich die agrarromantischen und großstadtfeindlichen Stro¨mungen in der NSDAP 1933 voru¨bergehend besondere Geltung verschaffen konnten, richteten sich in der allabendlichen Stunde der Nation nicht selten die nunmehr rassistisch gepra¨gten Blicke auf das vo¨lkisch gedeutete Land, etwa in Sendungen wie Blut und Scholle oder Bauern suchen das Reich. Der Nationalsozialismus habe „das Volk als Volk zusammengeschweißt“, hieß es nun im N. S. Funk von 1934 vollmundig.83 In einem solchen stammesbezogenen, ontologisch konzipierten Konstrukt von Volkskultur waren implizit Exklusionen eingelassen, denn alle „Fremden“, wie vor allem Juden, konnten allein schon aus Abstammungsgru¨nden nicht dazugeho¨ren. Insofern bedurfte es in solchen Sendungen gar keines expliziten Antisemitismus.84

5. Stadt-Land-Integrationstendenzen: Unterhaltsame Heimatsendungen und „volkstu¨mliche Musik“ in der NS-Zeit

Im Unterschied zum Reichsbauernfu¨hrer Richard Walther Darre´, zum NS-Ideologen Alfred Rosenberg und zum Reichsfu¨hrer SS Heinrich Himmler hielt der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ungeachtet seiner vo¨lkisch-rassistischen Grundeinstellung jedoch nichts von Deutsch- und Heimattu¨melei.85 Der Reichs80 Theresia Wittenbrink, Zeitgeno¨ssische Schriftsteller im Rundfunk, in: Programmgeschichte (wie

Anm. 2), S. 1098–1195, hier S. 1140. 81 Vgl. die Beobachtungen des konservativen Rundfunkkritikers Ludwig Kapeller aus dem Jahr 1931, in:

Lu Seegers, Ho¨r zu! Eduard Rhein und die Rundfunkprogrammzeitschriften (1931–1965), Potsdam 2001, S. 312; Schu¨tte, Regionalita¨t (wie Anm. 65); Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 89. Als Beispiel ist auf die Verehrung des 1929 verstorbenen Heimatdichters Friedrich Lienhard zu verweisen, der zugleich als „Wa¨chter deutscher Art“ galt. Ebd. Vgl. auch: Adelheid von Saldern, Volk and Heimat Culture in Radio Broadcasting during the Period of Transition from Weimar to Nazi Germany, in: The Journal of Modern History 76 (2004), S. 312–346. 82 Der Reichssender Hamburg (ehedem NORAG) strahlte schließlich allein im Jahre 1937 1298 „landschaftsgebundene“ Sendungen aus. Schu¨tte, Regionalita¨t (wie Anm. 65), S. 169. 83 N. S. Funk 2 (21. 1. 1934), S. 3. 84 Im Jahre 1939 mussten Juden ihre Radioapparate abgeben – eine symbolreiche Ausschließung aus der virtuellen deutschen Radio-Volksgemeinschaft. 85 Nach Zimmermann, Medien (wie Anm. 35), S. 14.

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propagandaminister wollte stattdessen volkstu¨mlich-modern erscheinende Sendeformate, zum einen mit unterhaltendem Charakter, zum anderen als bunt gemischtes Unterhaltungsprogramm. Goebbels hatte schon im Ma¨rz 1933 die neuen Programm¨ de. Nur nicht die gestalter ermahnt: „Nur nicht langweilig werden. Nur keine O Gesinnung auf den Pra¨sentierteller legen.“86 Und offensichtlich stieß er dabei keineswegs auf taube Ohren. Spa¨testens nach 1935 legten die Programmgestalter Wert darauf, weitmo¨glichst Abstand von belehrenden Vortra¨gen zu nehmen und die vo¨lkischlandmannschaftlichen Sendungen zum einen in heitere und unterhaltende Formate zu verpacken und zum anderen in Mischprogramme zu integrieren.87 Als ein herausragendes Beispiel fu¨r all jene Heimatsendungen, die ein unterhaltsames Format aufwiesen, gilt die von 1934 bis 1940 ausgestrahlte Ho¨rfolge Der Ko¨nigswusterha¨user Landbote.88 Hier, wie u¨brigens auch in anderen Sendereihen, kam dem Wandern eine besondere Bedeutung zu. So geht der recht popula¨r gewordene Landbote von Ort zu Ort und von Region zu Region.89 Zum Beispiel durchstreifte er in der Folge Weihnachtsreise des Ko¨nigswusterha¨user Landboten von 1934 viele Sta¨dte und macht die Zuho¨rerschaft mit den verschiedenen Weihnachtsbra¨uchen vertraut.90 Er sollte dazu beitragen, „Stadt und Land zu verbinden“, so der Rundfunkjournalist Friedrich Herzfeld, um die „deutsche Volksseele“ in allen „Landschaften unseres Vaterlandes“ anzusprechen.91 Gu¨nter Eich, der Hauptverfasser der Ko¨nigswusterha¨user Landboten-Serie schrieb auch eine an Joseph von Eichendorff erinnernde Sendung mit dem Titel Die bunte Welt der Landstraße„.92 Haupttenor dieser Sendung war, dass Landstreicher nicht von der Landstraße loskommen ko¨nnten – ein Motiv, das Eich wiederholt aufgegriffen und in seine Erza¨hlungen eingearbeitet hat. Das Wandern, das heißt, das entschleunigte In-Bewegung-Bleiben innerhalb des Deutschen Reiches fand sein Pendant im grenzu¨berschreitenden Fernweh, das durch die maritime Gesangskultur und der damit verbundenen Seemannsromantik, wie sie im Hamburger Hafenkonzert zum Einsatz kam, befriedigt werden sollte.93 Dabei handelte es sich um ein musikalisches Mischprogramm, das offenbar auch Kleinsta¨dter 86 Zit. nach Ansger Diller (Hg.), Rundfunk und Fernsehen in Deutschland. Texte zur Rundfunkpolitik

von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart, Stuttgart 1985, S. 59f. 87 Vgl. Cebulla, Rundfunk (wie Anm. 19), S. 201. Vgl. auch Hans Sarkowicz, „Nur nicht langweilig

werden ...“ Das Radio im Dienst der nationalsozialistischen Propaganda, in: Medien im Nationalsozialismus, hg. v. Bernd Heidenreich/So¨nke Neitzel, Paderborn 2010, S. 205–234, hier S. 210. 88 Monika Pater, Rundfunkangebote, in: Radio im Nationalsozialismus. Zwischen Lenkung und Ablenkung, hg. v. Inge Marszolek/Adelheid von Saldern, Bd. 1: Zuho¨ren und Geho¨rtwerden, Tu¨bingen 1998, S. 129–242, hier S. 172–187. Die Erwartungen in Bezug auf die Attraktivita¨t waren allerdings offensichtlich damals noch ho¨her geschraubt. Hierzu siehe Hansjo¨rg Bessler, Ho¨rer- und Zuschauerforschung, Mu¨nchen 1980, S. 31. 89 So steht es in den begleitenden Pressetexten, siehe Hans-Ulrich Wagner, Gu¨nter Eich und der Rundfunk, Potsdam 1999, S. 159. 90 Ebd., S. 138f. Koautor war Martin Raschke. 91 Zit. nach ebd., S. 183. 92 Gesendet am 28. 4. 1934, ebd., S. 131f., so auch S. 156. 93 Zum Hafenkonzert siehe Lars Amenda, Gera¨usche und Gesellschaft in Hamburg, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 8 (2011), H.2 URL: , S. 1–15, hier S. 11f. Erinnert sei auch an den Durchhalteschlager Das kann doch einen Seemann nicht erschu¨ttern, keine Angst, keine

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anzusprechen wusste, die mit der Hafenkultur gar nichts zu tun hatten: „Fu¨r das Hafenkonzert standen wir extra fru¨h auf und fu¨hlten uns, als wenn wir nicht mehr in der Enge der Kleinstadt wa¨ren“, erinnerte sich ein Ho¨rer.94 Zu den volkstu¨mlichen Sendungen za¨hlte in der NS-Zeit auch das besonders beliebte Deutsche Volkskonzert, in dem viele Volkslieder gesendet und gerne geho¨rt wurden, angeblich sogar a¨hnlich gern wie das Wunschkonzert.95 Das Verlangen nach „volkstu¨mlicher Musik“ sei „außerordentlich lebhaft“, meinten die Berichterstatter des Sicherheitsdienstes (SD) ¨ ußerungen des Reichsfu¨hrers SS im Jahre 1942.96 Vieles spricht dafu¨r, dass solche A zwar vielleicht u¨bertrieben, aber sicherlich nicht gelogen waren und den Nationalsozialisten zupass kamen. Mit „volkstu¨mlichen“ Mischprogrammen, wie dem Deutschen Volkskonzert oder dem Hamburger Hafenkonzert gewannen die Programmgestalter Zuho¨rerinnen und Zuho¨rer in Stadt und Land, weil Musikstu¨cke aus ganz unterschiedlichen Genres in ein und derselben Sendung integriert waren. Oftmals bezeichnete man sie in den Programmen auch als „volkstu¨mliche Konzerte“ oder als „gehobene Unterhaltungsmusik“.97 Vom Wunschkonzert wissen wir, dass hierin sogar Musikstu¨cke, die der sta¨dtischen Hochkultur zugeho¨ren, wie Opern-Ouvertu¨ren, mit leichter Musik gekoppelt wurden,98 eine Popularisierung der Klassik entsprechend den Goebbels’schen ¨ berall beliebt waren deshalb auch Sendereihen wie Fu¨r jeden etwas, FroWu¨nschen. U her Funk fu¨r alt und jung oder Bunte Platte – Potpourris mit gehaltvoller Musik, Volks- und Tanzmusik sowie Milita¨rma¨rschen.99 Auch in den Morgenstunden sollte das gesendete Musikprogramm „beleben, aufmunternd sein“, und zwar, wie es hieß, „zugleich fu¨r die Land- und Stadtbevo¨lkerung“.100 Im Jahre 1943 machte die „volkstu¨mliche Unterhaltung“ schließlich 45 von 190 Stunden wo¨chentliche Sendezeit aus, a¨hnlich viel wie die Sparte „leichte und gehobene Unterhaltungsmusik“ mit 47 Stunden.101

Angst, Rosmarie, den Heinz Ru¨hmann in der Filmkomo¨die Paradies der Junggesellen gesungen hatte. Volker Ku¨hn, Der Kompaß pendelt sich ein. Unterhaltung und Kabarett im „Dritten Reich“, in: Hans Sarkowicz, Hitlers Ku¨nste. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus, Frankfurt/Leipzig 2004, S. 346–392, hier S. 352f. Ein neuer Text mit derselben Melodie verspottete schließlich Churchill. Ebd., S. 353. 94 Zit. nach Lenk, Die Erscheinung (wie Anm. 3), S. 235. Bis heute wird das Hamburger Hafenkonzert gesendet. Siehe Wikipedia . 95 MadR (1940), S. 1577, 1692 und 1721; (1941), S. 2261, 2429, 2689, 2775 und 2853; (1942), S. 3266. Wegen der vielen Wiederholungen erfuhr das Deutsche Volkskonzert allerdings auch einige Kritik. Siehe u. a. MadR (1942), S. 3570, 3757 und 3841. 96 MadR (1942), S. 3266. 97 Fu¨r die Weimarer Zeit siehe Michael Stapper, Unterhaltungsmusik im Rundfunk der Weimarer Republik, Tutzing 2001, S. 101–103. 98 Jo¨rg Koch, Das NS-Wunschkonzert, in: Medien im Nationalsozialismus (wie Anm. 87), S. 253–274, hier S. 261. 99 MadR (1940), S. 1740; (1941), S. 1940, 2261, 2595, 2649, 2689, 2853f., 2872 und 3076; (1942), S. 3166, 3266, 3953 und 4234. 100 Musikprogramm im Winter 1941/42, zit. nach Nanny Drechsler, Die Funktion der Musik im deutschen Rundfunk 1933–1945, Pfaffenweiler 1988, S. 138. 101 Walter Klingler, Nationalsozialistische Rundfunkpolitik 1942–1945. Organisation, Programm und die Ho¨rer, Diss. Mannheim 1983, S. 194.

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Raumentgrenzende Schlager, geza¨hmte Tanzmusik und enturbanisierte Humoresken

„Leichte Musik“: darunter verstand man außer der Operettenmusik hauptsa¨chlich Schlager, die im Allgemeinen ebenfalls in sta¨dtischen Milieus entstanden waren. Insofern sta¨rkte quasi wider Willen die zunehmende Musiklastigkeit des NS-Radioprogramms den urbanen Charakter des Rundfunks. Schließlich hatte sich das Musikprogramm im NS-Funk insgesamt wesentlich erho¨ht, von 55 Prozent des Gesamtprogramms im Jahre 1933 auf fast 70 Prozent im Jahre 1938.102 Bei genauerem Hinsehen werden indessen Tendenzen zur Entra¨umlichung großer Teile der Musiku¨bertragungen erkennbar, die auf den ersten Blick auch als Urbanisierung des platten Landes gedeutet werden ko¨nnten, falls dabei der Wandel der Schlager am Ende der Weimarer Republik nicht beru¨cksichtigt wird. Einige der gerade damals aufkommenden „weichen, sentimentalen Schlager“ und erst recht bestimmte Filmschlager wurden – neben den altbekannten Operettenliedern – zu neuen ‚Ohrwu¨rmern‘, denen sich niemand entziehen konnte, zumal viele Neukompositionen „in ihrem Stil direkt auf die popula¨re Musik des 19. Jahrhunderts zuru¨ckgingen“.103 Diese Songs zogen vermutlich mehr Menschen in ihren Bann als die frivolen Schlager mit dadaistischen Texten aus den fru¨heren Weimarer Jahren, etwa Wo sind Deine Haare, August oder Was macht der Maier am Himalaja.104 Die neuen Schlager, wie Kann denn Liebe Su¨nde sein oder In einer Nacht im Mai oder Das gibt’s nur einmal verstand man hingegen auf dem Lande genauso gut wie in der Stadt, zumal wenn die Schlager durch den Besuch der entsprechenden Filme ein „Gesicht“ erhielten.105 Solche Songs geho¨rten bald sowohl fu¨r die sta¨dtische als auch fu¨r die la¨ndliche Bevo¨lkerung zum gemeinsamen Repertoire an „leichter Musik“.106 Auch die Durchhalteschlager im Krieg, wie Es geht alles voru¨ber, es geht alles vorbei oder Wir werden das Kind schon richtig schaukeln oder Davon geht die Welt nicht unter oder Schau nicht hin oder Mach Dir nichts draus oder Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n fanden Eingang in dieses stadt-landu¨bergreifende Lieder-Repertoire. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass das Musikprogramm in seiner Breite in der NS-Zeit stark eingeschra¨nkt wurde. Vorbei war es mit avantgardistischer Musik sowie mit der Musik ju¨discher Komponisten, und seit 1935 fiel auch der in der Weimarer Zeit oft im Rundfunk ausgestrahlte Jazz aus dem Raster des Erlaubten. Doch, und das sollte auch nicht vergessen werden, viele Deutsche hatten Jazz schon in der Weimarer Zeit abgelehnt. Insbesondere in der Wirtschaftskrise stellte ein Beobachter ein „Besinnen auf deutschen Rhythmus“ fest, wobei er mit Verweis auf „alte Ta¨nze“ den Namen Strauß nannte.107

102 Sarkowicz, Nur nicht langweilig (wie Anm. 87), S. 218. 103 Stapper, Unterhaltungsmusik (wie Anm. 97), S. 79 u. 96. 104 Koch, Das NS-Wunschkonzert (wie Anm. 98), S. 254f. 105 Peter Wicke, Von Mozart zur Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Leipzig 1998, S. 182. 106 Koch, Das NS-Wunschkonzert (wie Anm. 98), S. 255 u. 269. 107 K. K., Nachlese, Su¨dfunk 1930, zit. nach Stoffel, Programmgeschichte (wie Anm. 2), S. 974f.

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Selbst die als deutsche Produktion bezeichnete „Neue Tanzmusik“108 war nicht allen genehm. So rangierte diese in einer Umfrage von 1939, an der sich 9500 Ho¨rer beteiligten, bei Arbeitern, bei „sonstigen Angestellten“, bei „selbsta¨ndigen Kaufleuten“, aber auch bei Ho¨rern aus der Landwirtschaft nur auf Platz 9 von 17 Pla¨tzen und bei Hausfrauen auf Platz 8, wa¨hrend die „kaufma¨nnischen Angestellten“ und die „berufsta¨tigen Frauen“ diese immerhin auf Platz 5 positionierten. [Stadtverbundene] Arbeiter pra¨ferierten offensichtlich a¨hnlich wie die in der Landwirtschaft ta¨tigen Personengruppen eher traditionelle Ta¨nze. Dementsprechend stand die „Alte Tanzmusik“ bei ersteren (ebenso wie bei „kaufma¨nnischen“ sowie bei „sonstigen Angestellten“) auf Platz 3, bei letzteren auf Platz 2.109 Auch wenn die Umfrage keineswegs als repra¨sentativ gelten kann und in einer Diktatur ohne Mo¨glichkeiten zur freien Meinungsa¨ußerung erfolgte, la¨sst sich daraus zumindest der Schluss ziehen, dass es noch eine Anha¨ngerschaft fu¨r „die guten deutschen Ta¨nze“ auch in sta¨dtischen Kreisen gegeben haben muss.110 Indessen setzten selbst die NS-Programmgestalter nicht allein auf dieses ideologiekonforme Umfrage-Ergebnis u¨ber die Alte Tanzmusik. Sie wussten, dass Großstadtmenschen nach dem 1935 erlassenen Jazz-Verbot im Radio Zugesta¨ndnisse, erwarteten, spa¨testens dann, als das Regime im Krieg auch das Ho¨ren von Auslandssendern mit ihrer oft schmissigen Musik unter Strafe stellte. Schon seit 1934 wurde deshalb mit viel Verve nach einer „Neuen Tanzmusik“ deutscher Couleur gesucht, denn Abgrenzungen gegenu¨ber dem Jazz vorzunehmen, das war indessen keine leichte Aufgabe. So fiel das 1934 gegru¨ndete Orchester „Die Goldene Sieben“ wegen mangelnder Distanz zum Jazz beim Deutschlandsender alsbald in Ungnade.111 Im Krieg erfolgte dann 1942 die Gru¨ndung des Deutschen Tanz- und Unterhaltungsorchesters unter Franz Grothe und Georg Haentzschel. Als Alternative einerseits zu den la¨ndlichen alten Tanzweisen, etwa zu Polka und dem Rheinla¨nder, und andererseits zum verunglimpften Jazz entwickelte das Orchester einen eigenen Stil beschwingter, rhythmischer Musik, das mit dem Etikett (neue) „deutsche Tanzmusik“ versehen wurde. Hiergegen wandten sich auf der einen Seite die vielen (jungen) Freunde von Jazz und Swing, auf der anderen Seite die Kulturkonservativen und große Teile der a¨lteren und der auf dem Lande lebenden Bevo¨lkerungsgruppen, die, wie es einmal hieß, das „Trompeten- und Saxophongeto¨se“ generell ablehnten.112

108 Unter „Neuer Tanzmusik“ verstand man offensichtlich vor allem Marsch, Fox, Tango u. a. Dies geht

aus den „Neuen Programm-Richtlinien“ vom 26. 9. 1941 hervor. In: Drechsler, Die Funktion (wie Anm. 100), S. 136f. 109 Eckert, Der Rundfunk (wie Anm. 24), S. 192–207. 110 So kam bereits um 1930 der Wiener Walzer wieder in Mode. Stapper, Unterhaltungsmusik (wie Anm. 97), S. 98. Das geht aus Leserbriefen im Hamburger Anzeiger hervor. So beschwerte sich 1934 jemand daru¨ber, dass solche Tanzmusik zu selten im Radio zu ho¨ren sei. Zit. nach Fu¨hrer, Medienmetropole (wie Anm. 21), S. 86. 111 Michael Kater, Gewagtes Spiel. Jazz im Nationalsozialismus, Ko¨ln 1995, S. 96. Angenommen werden muss, dass mit der Rubrik „Neue Tanzmusik“ auch die „moderne deutsche Tanzmusik“ gemeint war, da es in der Umfrage nur die Rubriken „Alte“ und „Neue Tanzmusik“ gegeben hat. 112 MadR (1941), S. 2950 und 2976; (1942), S. 4211 und 4333 (Zitat). Vgl. auch Kater, Gewagtes Spiel (wie Anm. 111), bes. S. 93–110.

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Diese Versta¨ndnislosigkeit spiegelte sich offenbar in den oben genannten Umfrageergebnissen aus dem Jahre 1939 wider. Dass es sich bei den Platzierungen der Neuen ¨ brigen auch um eine Generationenfrage handelte,113 zeigt und Alten Tanzmusik im U die Kluft zwischen Schu¨lern, die die Neue Tanzmusik in der erwa¨hnten Umfrage von 1939 von 17 Pla¨tzen auf Platz 3 eingruppierten, und den Rentnern,114 die ihr den 16., also den vorletzten Platz zuwiesen.115 Wa¨hrend die leichte Unterhaltungsmusik, vor allem also die Schlager, ihres eigentlich urbanen Charakters ein Stu¨ck weit enthoben wurden und als tendenziell entra¨umlichte und entkontextualisierte Popula¨rkultur nicht nur in der Stadt, sondern wohl auch auf dem Land Anha¨nger gewann, koexistierten bei der Tanzmusik weiterhin unterschiedliche Vorlieben, wobei selbst die ‚amputierte‘ „deutsche Tanzmusik“ zwar die Kluft zwischen den differierenden Stadt-Land-Geschmackspra¨ferenzen vermindern, aber keineswegs einebnen konnte. Denn, obwohl solche Unterschiede stets auch schichten- und generationsspezifisch bedingt waren, sprach die neue „deutsche Tanzmusik“ ungeachtet ihrer ‚Amputation‘ offensichtlich nach wie vor mehr sta¨dtische als la¨ndliche Personengruppen an. Auch bei der Kleinkunst musste den Programmgestaltern besonders an Beitra¨gen gelegen sein, die die Geschmacksunterschiede zwischen Stadt und Land u¨berbru¨ckten.116 Mit bestimmten Unterhaltungsreihen, wie der beliebten Sendung Ha¨berle und Pfleiderer des Reichssenders Stuttgart gelang ein solches Unterfangen. Dabei handelte es sich um eine heimatverbundene Sendung, die indessen im sta¨dtischen Milieu spielte, wenn auch hier in einem „eng umrissenen Lebenskreis“ mit „schmale(n) Wirklichkeitsausschnitten“ und „kleinen Genu¨sse(n)“ der ma¨nnlichen Protagonisten sowie der Konstruktion von Ehefrauen, die in tyrannischer Weise das heile Familienleben verteidigten. Ha¨berle und Pfleiderer stellten zwei unterschiedlich profilierte Kleinbu¨rger dar: Der eine nahm irgendwie am großen Weltgeschehen teil, der andere blieb seinem Alltag verhaftet. Ein „beha¨biger Ton, biedere Gestalten, eher bauernschlau als intelligent, eher ungla¨ubig als respektlos und im Kontakt mit der Außenwelt schnell u¨berfordert“, solche Figuren gewannen die Aufmerksamkeit der Publika in Stadt und Land. Es war die „komische Standardfigur“ des Kleinbu¨rgers „mit seinen bescheidenen Mo¨glichkeiten und seinen kleinen Schwa¨chen“, der seit dem 19. Jahrhundert die Popula¨rkultur erobert hatte und sich nun auch im Rundfunk einen guten Platz sicherte. Obwohl oftmals regionalkulturell eingebunden, war die Kleinbu¨rger-Figur an sich in keinem sozialen Raum fest verankert, konnte also in diverse sta¨dtische und la¨ndliche Milieus integriert werden, solange diese Milieus eben kleinbu¨rgerlich-antiintellektuell grundiert waren.117

113 Auf die Bedeutung der Generationen verweist u. a. Zimmermann, Medien (wie Anm. 35), S. 142. 114 MadR (1943), S. 4736. 115 Eckert, Der Rundfunk (wie Anm. 24), S. 205–207. 116 Keuler, Ha¨berle (wie Anm. 41), S. 42. 117 Ebd., S. 40f. (Zitate S. 40, 115f.), vgl. auch S. 42, 82, 115 und 137. Hinter dem Namen Ha¨berle verbarg

sich der Schauspieler Willi Reichert aus Bayrisch-Schwaben.

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Neben Ha¨berle und Pfleiderer erzielte auch die Sendereihe Der Frohe Samstagnachmittag vom Reichssender Ko¨ln, die von 1934 bis 1939 (mit einer Unterbrechung im Jahre 1937) ausgestrahlt wurde, einen großen Beliebtheitsgrad.118 Die Sendung kann als Paradebeispiel fu¨r einen enturbanisierten, kleinbu¨rgerlichen, ma¨nnlich konnotierten Volkshumor dienen. Die drei darin auftretenden Komiker verko¨rperten drei verschiedene Regionen. Sie verloren sich in diversen Scheingefechten sowie in der Betrachtung von „exotischen Belanglosigkeiten“,119 wobei die Scheingefechte stets mit einer allseitigen Verbundenheit endeten. In solchen Sendungen war weder von traditionell bildungsbu¨rgerlicher noch von moderner Großstadtkultur etwas zu merken. Die als volkstu¨mlich geltenden Sendungen wollten stattdessen einen heiter stimmenden „Deutschen Humor“120 kultivieren. Der Wunsch nach „humoristischen Darbietungen“ und „lustigen Einlagen“, beispielsweise im Wehrmachts-Wunschkonzert, aber auch in anderen Sendereihen, bestu¨nde, wie es in den SD-Berichten hieß, in „breiten Ho¨rerkreisen“ auch in den Kriegsjahren.121 Die kabarettistischen Sendungen Noten und Anekdoten ha¨tten wegen des Zusammenspiels von Text und volkstu¨mlichen Melodien gefallen, hieß es in den SD-Berichten, zudem entspreche der „landschaftsgebundene(n) Humor [...] der Neigung der breiten Ho¨rerkreise zu landschaftlich gebundene(n) Sendungen, in denen ‚das Volk sich unmittelbar in seiner Vielfa¨ltigkeit zum Ausdruck bringe‘“.122 Die Bevo¨lkerung wu¨nschte sich angeblich einen „ungeku¨nstelten Humor“.123 Und dem NS-Regime kam dieser Wunsch zupass: Als im August 1941 erstmals Eine halbe Stunde Kabarett ausgestrahlt wurde, war die Reaktion sehr positiv, man habe schon lange auf eine solche Sendung gewartet, hieß es. Besonders gefallen habe das im Mittelpunkt stehende Zwiegespra¨ch zwischen Herrn Schnick und Frau Schnack. In den „Meldungen“ des SD war daru¨ber zu lesen: „Zweifellos sei auch eine erzieherische Wirkung in der breiten Masse zu erwarten, ‚wenn auf diese Weise den hamsternden Hausfrauen all ihre Su¨nden in humorvoller Form vorgehalten wu¨rden‘ und bei zuku¨nftigen Sendungen andere Alltagsschwierigkeiten auf diese Weise in ihrer Bedeutung herabgesetzt werden.“124 Die Konzentration auf die Darstellung von Alltagsschwierigkeiten der Deutschen sollte, auch wenn deren Relevanz relativiert wurde, den genauen Blick auf die ‚große Politik‘ des NS-Regimes samt den dazugeho¨renden Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstellen helfen.

118 Einen Beleg u¨ber die Beliebtheit dieser Sendung findet man z. B. in MadR (1942), S. 3664. Zur Analyse

dieser Sendung siehe Pater, Rundfunkangebote (wie Anm. 88), S. 195–212.

119 Keuler, Ha¨berle (wie in Anm. 41), S. 39f. 120 Dazu Patrick Merziger, Nationalsozialistische Satire und „Deutscher Humor“. Politische Bedeutung

¨ ffentlichkeit popula¨rer Unterhaltung 1931–1945, Stuttgart 2010, S. 332–350. Merziger unterund O scha¨tzt allerdings die Rolle, die der „Deutsche Humor“ in Rundfunksendungen spielte. 121 MadR (1940), S. 941 und 1861; (1941), S. 1889, 1940 und 1955. 122 MadR (1941), S. 2317, vgl. auch S. 2932. 123 MadR (1942), S. 3712. Kritik wurde z. B. am Funkbrettl geu¨bt. Ebd. 124 Zit. nach MadR (1941), S. 2648. Zur Beliebtheit der Sendung siehe MadR (1942), S. 3690f.

116 7.

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Anna¨herungen an mentale Dispositionen und Resonanzen der Zuho¨rerschaft

Weil mangels aussagekra¨ftiger Quellen125 die Rezeptionsvorga¨nge des Geho¨rten in der Regel nicht rekonstruiert werden ko¨nnen, treten, quasi als Substitute, u¨berlieferte, meist bruchstu¨ckhafte Quellen u¨ber die Resonanz des Geho¨rten in den Fokus. Ha¨ufig verwendete Aussagen in den Quellen daru¨ber, dass Sendungen erfolgreich und beliebt waren, sind zwar kritisch zu reflektieren, vor allem wenn sie in den SDBerichten auftauchen, auf ihre analytische Beru¨cksichtigung kann aber in der Regel nicht verzichtet werden.126 Das gilt auch fu¨r die hier fokussierte Frage, auf welche Resonanz volkstu¨mliche Sendungen in der Bevo¨lkerung stießen. Der Rundfunk-Kommissar Hans Bredow vertrat ru¨ckblickend die Ansicht, dass solche Sendungen samt der damit verbundenen „Pflege bodensta¨ndiger Kultur“ (Hans Bredow) bereits wa¨hrend der Weimarer Republik, vor allem in ihren letzten Jahren, den „Rundfunk viel schneller popula¨r gemacht“ habe als erwartet.127 Teils hatten die in der Stadt lebenden Menschen, inklusive zahlreicher Arbeiter, tatsa¨chlich selbst noch la¨ndliche Wurzeln, teils neigten sie dazu, das la¨ndliche Leben so zu verkla¨ren, dass sie sich nach ihm zuru¨cksehnen konnten.128 Heimat- und Jugendbewegung, ferner die Natur- und Wanderbegeisterung sowie der sich versta¨rkende Tourismus lenkte die Blicke vieler Sta¨dter ebenfalls auf la¨ndliche Regionen. Dies behinderte freilich nicht den großen Erfolg der modernen Massenkultur in Form von Filmen, Radio, Illustrierten und Schallplatten, vielmehr tolerierte das Gros der Bevo¨lkerung die Koexistenz unterschiedlicher Kulturpraktiken nicht nur, sondern lernte auch, die entsprechenden Angebote selektiv zu nutzen. Ein „Nebeneinander moderner und traditioneller Unterhaltungselemente“ charakterisierte beispielsweise den Funkball der Berliner Funk-Stunde 1928 mit 4000 Besuchern. Aus diesem Anlass spielten diverse Tanz- und Unterhaltungskapellen, und zwar sowohl jene, die moderne Tanzmusik darboten als auch solche, die die Wu¨nsche nach Salonmusik, Marschmusik und orchestraler Unterhaltungsmusik befriedigten, wobei erstere allerdings am ha¨ufigsten frequentiert wurden.129 125 Eine Rezeptionsforschung, die heutigen Analysemaßsta¨ben genu¨gt, hat es in der Zwischenkriegszeit

in Deutschland nicht gegeben. 126 Die an sich recht fragwu¨rdigen SD-Berichte sind tendenziell dann glaubhaft, wenn in den jeweiligen

Ausfu¨hrungen nicht von politischen Themen die Rede war und ermittelte Bewertungsdivergenzen hinsichtlich bestimmter Sendungen wiedergegeben wurden. Zur Aneignungsgeschichte des Radios in der NS-Zeit siehe Uta C. Schmidt, Radioaneignung, in: Zuho¨ren (wie Anm. 88), S. 243–360. 127 Zit. nach Schu¨tte, Regionalita¨t (wie Anm. 65), S. 86. Eine solche Schlussfolgerung kann aus der Tatsache gezogen werden, dass ja damals gar nicht sehr viele Landbewohner u¨ber einen Radioapparat verfu¨gten. Wenn trotzdem solche volkskulturellen Sendungen ausgestrahlt wurden, so ist anzunehmen, dass es unter der Stadtbevo¨lkerung auch (zahlreiche?) Menschen gegeben hat, die solche Sendungen ho¨rten. Vgl. Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 180, 411; von Saldern, Rundfunkpolitik (wie Anm. 73), S. 75. Von der allgemeinen Integrationskraft der Heimatbewegung spricht auch Habbo Knoch, Einleitung, in: Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945, hg. v. Dems., Go¨ttingen 2002, S. 9–26, hier S. 19. 128 Dazu siehe die zahlreiche Literatur zur Großstadtfeindlichkeit, die auch von einem Teil des sta¨dtischen Bu¨rgertums getragen wurde. 129 Stapper, Unterhaltungsmusik (wie Anm. 97), S. 79; vgl. auch S. 80f.

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Um Koexistenzen verschiedener Genres ging es auch bei den beliebten Unterhaltungs-Mischprogrammen im Radio, wenngleich sich hier das Nebeneinander in ein Hintereinander verwandelte. Ludwig Kapeller kennzeichnete diese als ein „drahtloses Warenhaus“.130 In der schon erwa¨hnten Umfrage aus dem Jahre 1939, an der sich 9500 Ho¨rer beteiligten, kamen die Bunten Abende im Gesamtergebnis unter den 17 zu vergebenden Pla¨tzen auf Platz eins.131 Bei den Personen aus der Landwirtschaft rangierten die Bunten Abende auf Platz vier.132 Erstaunlich a¨hnlich war die Reihenfolge bei den befragten Arbeitern. Bei ihnen, die vermutlich u¨berwiegend im sta¨dtischen Raum bescha¨ftigt waren, wie auch bei den ebenfalls dem sta¨dtischen Erwerbsleben zuzuordnenden „kaufma¨nnischen Angestellten“, standen die Bunten Abende auf Platz eins.133 Obwohl solche Umfragen sicherlich heutigen wissenschaftlichen Kriterien nicht standhalten und keineswegs als repra¨sentativ gelten ko¨nnen, geht aus ihnen doch die Beliebtheit der gemischten Unterhaltungssendungen hervor, in denen Volksmusik, Operettenmusik, Songs und Marschmusik134 sich abwechselten und die Sendungen oftmals durch heiter klingende Wortbeitra¨ge aufgelockert wurden. Die professionelle Bearbeitung und Inszenierung des Liedguts, die Ku¨rze und die Entkontextualisierung der Musikstu¨cke,135 die eigens fu¨r den Funk aufbereitete, vielleicht vielen als modern erscheinende Folklorisierung der Volksmusik sowie

130 Zit. nach Maase, „Jetzt kommt Da¨nemark“ (wie Anm. 47), S. 60. Allerdings gab es auch eine Reihe

kritischer Stimmen zu den Programmdirektiven, nicht nur von Seiten diverser Intellektueller, sondern auch von der Sozialdemokratie und den Kommunisten. Na¨heres: Adelheid von Saldern, Massenfreizeitkultur im Visier, in: ArchSozG 33 (1993), S. 21–58, hier S. 49f., 53f.; Dies., Abwehr, Steuerung, Gestaltung. Medien und Politik in der Weimarer Republik, in: Von der Politisierung der Medien zur ¨ ffentlichkeiten und Politik im 20. JahrMedialisierung des Politischen? Zum Verha¨ltnis von Medien, O hundert, hg. v. Klaus Arnold u. a., Leipzig 2010, S. 417–439. So passte es der SPD nicht, dass ihren Anspru¨chen auf eine Ausweitung arbeiterkultureller Sendungen nicht ausreichend Rechnung getragen werde. Zur Ablehnung seitens der Kommunisten siehe u. a. Die Rote Fahne v. 7. 3. 1929, 12. 9. 1929 und 7. 3. 1932. 131 Gefolgt von Milita¨rmusik, Alter Tanzmusik und Volksmusik Sarkowicz, Nur nicht langweilig (wie Anm. 87), S. 221; Eckert, Der Rundfunk (wie Anm. 24), S. 195; zum Folgenden siehe ebd., S. 204–206. Demoskopische Untersuchungen wurden in der NS-Zeit nicht betrieben. Bessler ging auf die Eckert’sche Studie nicht weiter ein. Hansjo¨rg Bessler, Ho¨rer- und Zuschauerforschung (wie Anm. 88), S. 41. Stattdessen breitet er die Ergebnisse der so genannten Telefunken-Studie aus der Mitte der 1930er Jahre aus, die indessen noch weniger repra¨sentativ ist als die Eckert’sche, beruht erstere doch auf nur 1000 Zuho¨rer aus Berlin, Frankfurt a. M., Brandenburg a. d. Havel und einigen ma¨rkischen Do¨rfern. Vgl. ebd. S. 30f. 132 An erster Stelle kam die Milita¨rmusik, gefolgt von der Alten Tanzmusik. Die Volksmusik rangierte auf Platz drei. 133 Gefolgt von Milita¨rmusik, Alter Tanzmusik und Volksmusik. Eine Umfrage unter Arbeitern der Leuna-Werke kam zwar erwartungsgema¨ß nicht zum gleichen Ergebnis, aber die Unterschiede hielten sich in engen Grenzen: Den 145 befragten Bescha¨ftigten gefiel leichte Unterhaltungsmusik (Operetten, Volksmusik, Tanzmusik und Milita¨rmusik) besonders gut, gefolgt von Nachrichtensendungen und Bunten Abenden. Nach Zimmermann, Medien (wie Anm. 35), S. 145. 134 Hinsichtlich der beliebten Marschmusik betont der Musikwissenschaftler Michael Stapper die nicht zuletzt durch die ausgepra¨gten Rhythmen und die Blasmusik hergestellte Na¨he zum Jazz. Stapper, Unterhaltungsmusik (wie Anm. 97), S. 81f. 135 Allerdings gab es auch Bestrebungen zur ausdru¨cklichen Kontextualisierung. Beispiel in Wittenbrink, Rundfunk (wie Anm. 31), S. 1021f.

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die Serialisierung abwechslungsreicher, „bunter“ Wort-Musik-Sendungen, ferner das Einblenden von Tonfilmmusik, beispielsweise im Wunschkonzert,136 all dies fu¨hrte, so darf angenommen werden, allma¨hlich zu einer Land und Stadt integrierenden Geschmacksausrichtung des „kleines Mannes“ und der „kleinen Frau“. Die prime time-Platzierungen solcher Mischprogramme ist daher gut nachvollziehbar.137 Die Unterhaltungssendungen erwiesen sich, wie Ulrich Keuler in seiner Studie aus dem Jahre 1992 ru¨ckblickend resu¨miert, als ein Kulturangebot, das „sich sowohl von der [sta¨dtischen] Elitekultur als auch von der [sta¨dtischen] Massenkultur“ abhob138 – aber auch nicht in der Welt la¨ndlicher Kulturtraditionen versank. Schon der NS-Rundfunkwissenschaftler Gerhard Eckert ging davon aus, dass die Gro¨ße der Radioo¨ffentlichkeit „eine Vereinheitlichung des Geschmacks, der Auffassungen und Meinungen“ bewirkt habe.139 Von einer „milieunivellierenden Kraft“ spricht aus heutiger Sicht auch Jo¨rg Koch.140 Großsta¨dtischen Mentalita¨ten mag u¨berdies das Medial-Moderne dieser Sendungen, etwa die Abwechslung und die Schnelligkeit der Abla¨ufe in den Mischprogrammen, imponiert haben. Der Dienst in der Wehrmacht, ¨ bridie allseits beliebte Milita¨rmusik und die Soldatenlieder im Krieg taten ein U ges, die Geschma¨cker anzugleichen. Vieles spricht dafu¨r, dass die Nazis wesentlich dazu beitrugen, „alle passenden Subkulturen [...] in einen stilistischen Schmelztiegel“ zu werfen und diese dann als „deutsche Volkskultur“ zu etikettieren. Von solcher Volkskultur profitierte das NS-Regime bei seinen Bestrebungen, eine „Kunst fu¨r alle“ zu schaffen. „So entstand ein vo¨lkischer Mainstream, der vom Heimatroman mit modernistischen Partikeln, von klassischer Musik und der ‚Ehret eure Meister‘Heroisierung bis zum kessen Schlager oder technikeuphorischen Rennsport-Kulturfilm reichte. All dies ließ sich in den kleinbu¨rgerlich-mittelsta¨ndischen Geschmack eines Massenpublikums einpassen“,141 Die Bunten Stunden im Radio waren das passende mediale Format dieser Entwicklung. Doch stießen die Vereinheitlichungstendenzen der Geschmacksausrichtung zwischen Stadt und Land nach wie vor durchaus auch auf Grenzen, wie nicht zuletzt aus den SD-Berichten hervorgeht. So war die Sonntagmorgen-Sendung Unser Schatzka¨stlein fu¨r anspruchsvollere Ho¨rer gedacht,142 womit sicherlich prima¨r das sta¨dtische Bildungsbu¨rgertum gemeint war. Auch wurde nach wie vor zwischen leichter und schwerer Musik unterschieden, womit den fortbestehenden Geschmacksdifferenzen weiterhin Rechnung getragen wurde.143 Manche Sendungen, etwa die 136 MadR (1941), S. 2035. 137 Vgl. auch Zimmermann, Medien (wie Anm. 35), S. 260f.; Ross, Media (wie Anm. 35), S. 339. 138 Keuler, Ha¨berle (wie Anm. 41), S. 176. 139 Eckert, Der Rundfunk (wie Anm. 24), S. 23; u¨ber Eckert siehe Clemens Zimmermann, Filmwis-

senschaft im Nationalsozialismus – Anspruch und Scheitern, in: Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universita¨tsgeschichte, hg. v. Armin Kohnle/Frank Engehausen, Stuttgart 2001, S. 203–217, hier S. 205, 211. 140 Koch, Das NS-Wunschkonzert (wie Anm. 98), S. 254. 141 Uwe Day, Das ‚Dritte Reich‘ dreht auf. Rennsport in den NS-Medien und die Modernisierung der Sinne, in: Reflexe und Reflexionen von Modernita¨t 1933–1945, hg. v. Erhard Schu¨tz/Gregor Streim, Bern u. a. 2002, S. 61–82, hier S. 62f. 142 MadR (1941), S. 1917, 1980 und 2207. 143 Fu¨r die Ausstrahlung schwerer Musik war der Deutschlandsender zusta¨ndig.

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Schnick-Schnack-Sendung am Wochenende vom 7. Februar 1942 fanden, wie es in den SD-Berichten hieß, nur in den Großsta¨dten eine „gute Aufnahme“, wa¨hrend sie in kleineren Sta¨dten und auf dem Lande auf wenig Zustimmung gestoßen sei, da der Inhalt – es handelte sich um eine Schwarzfahrt in der Berliner Straßenbahn – „zu sehr auf großsta¨dtische Verha¨ltnisse“ zugeschnitten gewesen sei.144 Doch auch der Großsta¨dter hatte am Programm bei Weitem nicht immer seine Freude, weil Ausdrucksformen der großsta¨dtisch-weltoffenen Moderne, wie avantgardistische Kunst, Satire oder Jazz fehlten. So sah sich der Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky gemu¨ßigt, diesen Typ von Radioho¨rer ernsthaft zu ermahnen: „Aber der Großsta¨dter mu¨sse bei diesen Sendungen an die Landbevo¨lkerung denken, die nicht wie der Großsta¨dter so oft Gelegenheit habe, ein Kabarett oder ein Variete´ aufzusuchen.“145 Noch deutlicher wurde der Reichsintendant Hans Glasmeier, als er sich entschieden gegen einen, wie er sagte, „Rundfunk von Großsta¨dtern fu¨r Großsta¨dter“ wandte.146 Kurzum, der NS-Rundfunk konnte und wollte, wie auch der Zeitungswissenschaftler Hans A. Mu¨nster 1939 einra¨umte, die „Bedu¨rfnisse einer Stadtbevo¨lkerung nicht ganz befriedigen“, weil er „immer die fu¨r das ganze Volk wichtigen Ereignisse“ beru¨cksichtigen mu¨sse.147

8. Umdeutung der Großstadt: Regionalisierung und Historisierung

Das Vordringen des Regional-Heimatlichen im Rundfunkprogramm insbesondere wa¨hrend der spa¨ten Weimarer Republik und dann versta¨rkt in der NS-Zeit lief parallel zur Zuru¨ckdra¨ngung dessen, was damals als typisch modern-großsta¨dtisch gelten konnte, wie Weltoffenheit, Toleranz, Experimentierfreude und Mobilita¨t, aber auch Elend und Luxus sowie Hektik, Helligkeit, La¨rm und jede Menge massenkultureller Vergnu¨gen. Sicherlich war es deshalb kein Zufall, dass Alfred Do¨blins Berlin Alexanderplatz, das wie kein anderes Stu¨ck das Großstadtmilieu beleuchtete, zwar noch funkgerecht aufbereitet, aber in der rundfunkpolitischen Umbruchzeit des Jahres 1932 nicht mehr gesendet wurde.148 Ebenso erging es der Originalfassung von Hermann Kasacks Der Ruf, ein Ho¨rspiel u¨ber großsta¨dtische Arbeitslosigkeit und Krisenerfahrung, das zwar noch am 12. Dezember 1932 zur Ausstrahlung gelangte, dann aber umgeschrieben wurde, um besser der neuen nationalsozialistischen Aufbruchsstimmung gerecht

144 MadR (1942), S. 3299. 145 Zit. nach Fu ¨ hrer, Medienmetropole (wie Anm. 21), S. 87. 146 Ebd. 147 Hans A. Mu ¨ nster, Publizistik, Leipzig 1939, S. 87. 148 Siehe Peter Jelavich, Berlin Alexanderplatz: radio, film, and the death of Weimar culture, Berkeley

u. a. 2006.

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zu werden.149 Hans Nicklichs Ho¨rspiel Kleine Liebe in der großen Stadt aus dem Jahre 1932 zeichnete die Großstadt ebenfalls bereits als einen Ort der Einsamkeit und kritisierte das mechanisierte Großstadtgetriebe.150 Auch das Motiv der Ru¨ckkehr von der Stadt in die la¨ndliche Welt kam immer mal wieder in Ho¨rfolgen zum Zuge151 und mochte auf Resonanz bei all jenen gestoßen sein, die von den o¨konomischen Krisenerfahrungen der spa¨ten Weimarer Republik erschu¨ttert wurden und auf’s Land hinausdra¨ngten.152 Kein Wunder, dass – soweit aus den Inhaltsangaben geschlossen werden kann – die Kriminalho¨rspiele aus der NS-Zeit ebenfalls meist im sta¨dtischen Milieu spielten, in dem Delikte wie Diebstahl, Mord und Betrug in typischer Weise beheimatet schienen. In der Regel handelte es sich dabei durchaus um spannende Unterhaltungsstu¨cke; direkte Bezu¨ge zur Politik blieben außen vor. Das sollte nicht verwundern, eingedenk Goebbels Worte: „Nicht das ist die beste Propaganda, bei der eigentlich Elemente der Propaganda immer sichtbar zutage treten, sondern das ist die beste Propaganda, die sozusagen unsichtbar wirkt, das gesamte o¨ffentliche Leben durchdringt, ohne dass das o¨ffentliche Leben u¨berhaupt von der Initiative der Propaganda irgendeine Kenntnis hat.“153 Abgesehen von den spannenden Kriminalho¨rspielen, in denen das Sta¨dtische mit Verbrechen in Zusammenhang gebracht wurde, waren andere Programmsparten darauf ausgerichtet, eine ‚positive‘ Umdeutung der Stadt und des Sta¨dtischen vorzunehmen, wie dies die NORAG schon in der Weimarer Republik vorexerziert hatte:154 „Heimat ist nie die Großstadt mit ihrem Wechsel“, meinte deren Sendeleiter Kurt Stapelfeldt.155 Folglich wollte er ein anderes Großstadtbild entwerfen. Aus den weltoffenen und vielfach monda¨n wirkenden Metropolen wurden nunmehr vorzugsweise regionalisierte und historisierte Sta¨dte eines angeblich einheitlichen, harmonisch gestalteten Kulturraumes.156 Das Eigensta¨ndige und vielfach IrritierendModerne der Großstadt entschwand zu Gunsten einer stark von la¨ndlicher Kultur gepra¨gten Region und deren langer Vorgeschichte, die auch die in ihr liegenden Sta¨dte hauptsa¨chlich zu charakterisieren schien. Stadtkultur wurde in starkem Maße in einen historischen Kontext eingebunden und erhielt dadurch das Flair eines in der Region verwurzelten Gemeinwesens.157 Wie immer wieder betont wurde, basierte dieser auf langen Kontinuita¨tslinien, die bis ins Mittelalter zuru¨ckreichten, wodurch die Bedeutung der industriell-urbanen, also der modernen und monda¨nen Stadt stark relativiert wurde. Die Re-Aktualisierung der alten Stadt sollte die Stadtmenschen „von Entwurzelungs- und Existenza¨ngsten, die mit den industriellen Modernisierungsund Urbanisierungsprozessen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stets virulent 149 Reinhard Do ¨ hl, Das Ho¨rspiel zur NS-Zeit, Darmstadt 1992, S. 25–33. 150 Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 125. 151 Beispiel in Wagner, Gu¨nter Eich (wie Anm. 89), S. 173. 152 In: Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 133; vgl. auch S. 30. 153 Zit. nach Meyer, Kriminalho¨rspiele (wie Anm. 63), S. 34f. 154 Vgl. Fu ¨ hrer, Medienmetropole (wie Anm. 21), S. 32f. 155 Zit. nach ebd., S. 52, vgl. auch S. 53–56. 156 Vgl. auch ebd., S. 46f. 157 Krijn Thijs, Drei Geschichten, eine Stadt. Die Berliner Stadtjubila¨en von 1937 und 1987, Ko¨ln u. a.

2008, S. 66–93.

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waren“, befreien,158 wie Lu Seegers am Beispiel von Rostock ermittelt hat.159 Kurt Stapelfeldt legitimierte eine solche organizistische Regionalisierung der Sta¨dte, indem er darauf hinwies, dass die großsta¨dtische Bevo¨lkerung Hamburgs sich ja zu u¨ber achtzig Prozent aus dem umliegenden niederdeutschen Gebiet rekrutiere.160 Folgerichtig inkorporierte das NORAG-Progamm das hansische Sta¨dtewesen in die niederdeutsche Region. Berichte u¨ber Sta¨dte wurden dementsprechend funktechnisch aufbereitet, und dabei verzichteten die Programmgestalter auf typisch großsta¨dtische Kulturangebote wie Kabarett und Jazz.161 In gleicher Weise integrierten der Su¨dwestfunk Stuttgart (SWR) und der Westdeutsche Rundfunk (WERAG) 1930/31 die Sta¨dte ihres Sendegebiets in Form von Sta¨dteportraits in ihre volkskulturell-landschaftsbezogenen Programmstrukturen, etwa in der Reihe „Unsere Sta¨dte in Rheinland und Westfalen“, eine Sendereihe, die im Januar 1931 startete.162 Solche Umdeutungen der Großsta¨dte durch Sendeleiter wie Stapelfeldt wurden von Personen vorgenommen, die ihrerseits in sta¨dtisch-bildungsbu¨rgerlichen Milieus beheimatet waren. Gleichwohl deuten die Gewichtsverschiebungen in den ausge¨ berschreibung der modernen Großstadtsignaturen strahlten Stadtbildern auf eine U hin, und zwar zu Gunsten der Imagination der alten Stadt als einer Stadt, die auf eine lange Geschichte zuru¨ckblickte und sich prima¨r in die bodensta¨ndige Landschaftskultur eingliederte.

9.

Zum Spannungsfeld von National- und Regionalkultur im Radio

Schon seit der Reichsgru¨ndung war das Verha¨ltnis von deutscher Nationalkultur zu den Regionalkulturen spannungsgeladen,163 doch a¨nderte sich in der Folgezeit die Konfiguration dieses Spannungsfeldes fortlaufend, und die betroffenen Akteure waren einem permanenten Aushandlungsprozess ausgesetzt, vor allem dann, wenn ein neues Medium in diesem Spannungsfeld seine Position suchte. So war das Radioprogramm nicht nur durch eine immer sta¨rker werdende Regionalkultur gekennzeichnet, sondern auch nationalorientierte Sendungen kamen schon in den Anfangsjahren des Rundfunks zum Zuge, obwohl der Rundfunk politikfrei gestaltet werden

158 Dazu siehe auch Lu Seegers, Hansetradition, niederdeutsches Volkstum und moderne Industriestadt:

Die Rostocker Kulturwochen (1934–1939), in: Inszenierter Stolz. Stadtrepra¨sentationen in drei deutschen Gesellschaften (1933–1975), hg. v. Adelheid von Saldern (unter Mitarbeit von Lu Seegers), Stuttgart 2005, S. 147–181, hier S. 165f. 159 Ebd., bes. S. 168–172. 160 Nach von Saldern, Rundfunkpolitik (wie Anm. 73), S. 76. Die Angabe Stapelfeldts kann nicht nachgepru¨ft werden. 161 Fu ¨ hrer, Medienmetropole (wie Anm. 21), S. 50–52. 162 Wittenbrink, Rundfunk (wie Anm. 31), S. 1025; vgl. auch Keuler, Ha¨berle (wie Anm. 41), S. 37. 163 Vgl. z. B. das Verha¨ltnis der Geschichtsvereine zu Region und Nation. Gabriele B. Clemens, „Sanctur amor patriae“. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert, Tu¨bingen 2004, bes. 351f.

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sollte. Solche Sendungen wurden gleichwohl erlaubt, weil die geforderte Eliminierung von Politik aus den Sendern sich ‚nur‘ auf offene Parteipolitik bezog, nicht aber auf Sendungen, die sich der Pflege des Nationalgedankens und der Sta¨rkung der Reichseinheit widmeten.164 Demokratie verachtende rechte Meinungen verschafften sich im Radio mehr Geho¨r als demokratische, denn ihnen gelang es offensichtlich besonders gut, sich als unpolitisch auszugeben und die Staats- und Nationsgebundenheit als parteipolitisch u¨bergreifend zu interpretieren.165 Gegen Ende der Weimarer Republik trat erneut ein Nationalisierungsschub im Rundfunk ein: Deutschlandlied, Milita¨rma¨rsche und Gedenkfeiern sollten der Erneuerung deutscher Kultur dienen.166 Der Deutschlandsender intensivierte die Konstruktion einer „deutschen Kultur“ und eines „deutschen Wesens“, die Stadt-Land-u¨bergreifend angelegt war und nicht zuletzt auch die deutschsta¨mmige Zuho¨rerschaft im Ausland ansprechen sollte. Spa¨testens 1932 war die wachsende Dominanz nationalkonservativer Themen und Autoren im Programm der Sendegesellschaften nicht mehr zu u¨bersehen, selbst nicht beim liberalen Frankfurter Rundfunk.167 Nationalistisch gepra¨gte Sendungen wiesen nunmehr ha¨ufig auch rassistische Unterto¨ne auf.168 Die Nationalisierung des Rundfunkprogramms stand zwar nicht in einem Gegensatz zur Regionalisierung, wohl aber in einem permanenten Spannungszustand, der freilich gut u¨berspielt wurde: Die Arbeit an der Heimat sei der „Weg, der zur Einheit Deutschlands“ fu¨hre, ließ Karl Wagenfeld verlauten.169 Die Papensche Rundfunkreform von 1932, die aus einem bis dahin staatsnahen Rundfunk vollends einen Staatsfunk machte, verpflichtete die Sender, mit ihren Programmen nicht nur den Reichsgedanken zu pflegen, sondern auch den Ho¨rern das „reiche Eigenleben der deutschen Sta¨mme und Landschaften“ zu vermitteln. Die Nationalisierung des Rundfunkprogramms lief also zeitlich parallel zur Zunahme regional-heimatlich gepra¨gter Sendungen. Kurt Stapelfeldt hatte schon 1927 die gemeinsamen Zielsetzungen von regionaler und nationaler Radiopolitik betont. So sollte die Pflege des Niederdeutschen nicht nur das Niedersa¨chsische, sondern auch die Bevo¨lkerung ¨ hnliche Bestrebungen waren Nordschleswigs gegen den da¨nischen Einfluss sta¨rken. A im Rundfunk auch in anderen Grenzregionen, etwa in Schlesien, im Gange.170 Im Zuge der Gleichschaltungspolitik machten die Nationalsozialisten aus den Regionalsendern so genannte Reichssender. Dabei nahm die von den Reichssendern eigenverantwortete Programmpolitik immer mehr zu Gunsten eines deutschen Einheitsprogramms ab, das – von Berlin gesteuert und u¨berwacht – allerdings dezentral, das heißt abwechselnd von einem der Reichssender hergestellt und dann u¨ber 164 Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 31. 165 Vgl. Cebulla, Rundfunk (wie Anm. 19), S. 93. 166 Zur Kulturkrise siehe Georg Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen

um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt a. M. 1999, bes. S. 252–289. 167 Wittenbrink, Zeitgeno¨ssische Schriftsteller (wie Anm. 80), S. 1146–1148 und 1201. 168 Beispiel in: Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 93; vgl. die Antrittsrede des Intendanten

Richard Kolb vom April 1933, Ausschnitt aus der Rede in Schrader, Von der Deutschen Stunde (wie Anm. 30), S. 75. 169 Zit. nach Wittenbrink, Zeitgeno¨ssische Schriftsteller (wie Anm. 80), S. 1128. 170 von Saldern, Volk (wie Anm. 81), S. 335f.

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alle Sender ausgestrahlt werden musste, wie etwa die ta¨glich zwischen 19 und 20 Uhr in ganz Deutschland ho¨rbare Sendung Die Stunde der Nation, die aus Musikund Wortbeitra¨gen bestand. Im Jahre 1940 wurde das Vereinheitlichungsziel vollends erreicht, insofern sich alle Reichssender zu einem Einheitsprogramm auf dezentraler Produktionsbasis, dem Großdeutschen Rundfunk, zusammenschließen mussten. Teils erfolgte ein solcher Schritt aus Sparsamkeitsgru¨nden, teils aus Kontrollgru¨nden, teils weil viele Mitarbeiter zum Milita¨rdienst einberufen wurden. Die Eigensendungen der regionalen Rundfunkstationen nahmen bis auf einen kleinen Rest ab, was von Seiten des Ho¨rerpublikums verschiedentlich bedauert wurde.171 Die Einschra¨nkungen, die die Regionalsender mit Blick auf ihre eigene regional verankerte Volkskultur erlitten, bedeutete freilich insgesamt gesehen keine Abnahme der Regionalkultur im Rundfunkprogramm. Denn viele der dezentral produzierten Sendungen wurden ja von den jeweils anderen Rundfunkstationen u¨bernommen, eine Entwicklung, die schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik eingesetzt hatte. Ein solcher Programmaustausch verbilligte nicht nur die Produktion, sondern fo¨rderte auch die Kenntnisse der Deutschen einer Region u¨ber die jeweils anderen Regionen, wodurch die innere Reichseinheit gefo¨rdert werden sollte172 – ein Konzept, das in den ersten Jahren des Rundfunks bei den diversen regionalen „Hauptsta¨dten“ allerdings noch auf Vorbehalte gestoßen war, dann gegen Ende der Weimarer Republik indessen zunehmend Unterstu¨tzung gewann und sich wa¨hrend der NS-Zeit mehr und mehr durchsetzte.173 Ein Problem fu¨r die Fo¨rderung der inneren Reichseinheit durch den Austausch regionaler Volkskultur-Sendungen waren freilich die diversen Mundarten. Hochdeutsch sollte die Sprache im Rundfunk sein, meinte etwa der Rundfunkpolitiker Alfred Simon im Jahr 1931, nicht zuletzt wegen der ausla¨ndischen Ho¨rerschaft. Dialekte seien nur in bestimmten Sendungen zu gestatten, na¨mlich lediglich dann, wenn es gelte, die Ho¨rer mit Land und Leuten vertraut zu machen.174 Diese Position setzte sich auch weitgehend durch, vor allem bei Vortra¨gen. Gleichwohl behielt der Dialekt seine Bedeutung fu¨r den Rundfunk, etwa in Hans Ehrkes Stu¨cken u¨ber das „Kriegserleben“ im Ersten Weltkrieg.175 In der Regel begnu¨gte man sich indessen mit Dialektankla¨ngen, die zwar die Landsmannschaft eines Sprechers erkennen ließen, dessen Sprechweise jedoch von den Zuho¨rern in anderen Teilen Deutschlands verstanden werden konnte, wie das Beispiel der von allen Reichssendern u¨bernommenen, aus großen Veranstaltungshallen simultan u¨bertragenen Unterhaltungsreihe Der Frohe Samstagnachmittag zeigt. Auf dieser Basis gelang es, dass auch der schwa¨bische

171 Zimmermann, Medien (wie Anm. 35), S. 141; MadR (1940), S. 1789. 172 Siehe u. a. Mario Krammer, Der Rundfunk im Dienste des deutschen Gedankens, in: Funk 5 (1924),

S. 82–83, hier S. 83.

173 Vgl. Keuler, Ha¨berle (wie Anm. 41), S. 37. 174 Alfred Simon, Mundart und Hochsprache im Rundfunk, in: Rufer und Ho¨rer 1 (1931), H. 6,

¨ hnlich auch Ernst Stockinger, Mitarbeiter des Su¨dfunks, in: Penka, „GeistS. 256–263, hier S. 263. A zersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 62. 175 Do ¨ hl, Das Ho¨rspiel (wie Anm. 149), S. 13–18.

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Humorist Willi Reichert und der Mu¨nchner Weiß Ferdl im ebenfalls deutschlandweit ausgestrahlten Wehrmachts-Wunschkonzert erfolgreich auftreten konnten.176 In der NS-Zeit versta¨rkte sich – wie u¨brigens auch in anderen La¨ndern – im und um das Radio herum außerdem eine vielfa¨ltige Mitmach-Kultur. Gemeint sind nicht nur Ho¨rerbriefe, sondern auch das Einsenden von Volksliedern, Witzen, Ra¨tseln etc., wobei die Auswahlprozesse und die damit verbundenen Exklusionen undurchsichtig blieben. „Aus dem Volk fu¨r das Volk“ – das war das Motto, unter dem die besonders angepriesenen Volkssenderaktionen standen.177 Die erste Volkssenderaktion wurde anla¨sslich der Großen Rundfunkausstellung 1935 in Berlin abgehalten, 1936 folgte bereits die na¨chste (und letzte) Runde, diesmal von der Deutschen Arbeitsfront durchgefu¨hrt. Beide Veranstaltungen stießen in der Bevo¨lkerung auf große Resonanz. Die Volksmusik-Darbietungen wurden auf Schallplatten aufgenommen. Welche Lieder schließlich im Rundfunk landeten, entschied der Oberspielleiter. Zwar fand die letzte Wettbewerbsrunde in der Medienmetropole Berlin statt, aber die 25 000 Einzelteilnehmer (1936) sowie die vielen Teilnehmer-Gruppen kamen aus allen Gauen. Dabei handelte es sich sowohl um betriebliche als auch um nicht-betrieblich eingebundene Musikgruppen, die in den jeweiligen regionalen Ausscheidungswettbewerben, welche ebenfalls von den zusta¨ndigen Rundfunkstationen u¨bertragen wurden, gewonnen hatten.178 Mit diesen Aktionen drang nicht nur die Volksmusik in die sta¨dtischen Wohnungen, sondern der Su¨den konnte „den Norden, der Osten den Westen mit all seinen Eigenarten und besonderen Reizen kennenlernen“, wie es emphatisch hieß.179 Auch hier zeigt sich u¨berdies die Wertscha¨tzung der vielfa¨ltigen Regionalkulturen wa¨hrend der NS-Zeit, die aber bezeichnenderweise in einer ho¨heren Einheit, der Reichseinheit, inkorporiert wurden – symbolisiert durch Berlin als Austragungsort. Bekanntlich kann zusammenfassend gesehen, Region, Heimat und Regionalkultur recht Unterschiedliches bedeuten: von der regionsorientierten Identita¨tssuche und dem bodensta¨ndigen, landschaftsgebundenen Heimatkult seit dem 19. Jahrhunderts u¨ber das Konstrukt ontologisch-geschlossener, womo¨glich vo¨lkisch aufgeladener oder gar rassistisch eingebundener Stammeskultur, wie insbesondere wa¨hrend der NS-Zeit, bis hin zu den im letzten Drittel des 20. Jahrhundert erfolgten Deutungen der Regionen als demokratisch-weltoffene Kulturlandschaften. Dabei zeigt 176 MadR (1941), S. 1987 und 2104. Schwer versta¨ndlich war z. B. „in su¨ddeutschen Gebieten und auf dem

Lande“ die berlinerische Fa¨rbung von Gisela Schlu¨ter, was auch kritisiert wurde. MadR (1941), S. 2648. Im Jahre 1943 erfolgte dann schließlich das Verbot fu¨r mundartliche Volkslieder im Radio: Schusser, „Heimat“ ho¨ren? (wie Anm. 74), S. 168. 177 Hierzu und zum Folgenden siehe Pater, Rundfunkangebote (wie Anm. 88), S. 147–150; Inge Marszolek, „Aus dem Volke fu¨r das Volk“. Die Inszenierung der „Volksgemeinschaft“ um und durch das Radio, in: Radiozeiten (wie Anm. 21), S. 132f. 178 Mit diesen Programmen sollte auch das volkskulturelle Musizieren in allen Milieus gefo¨rdert werden. Allein in Bayern fanden Gesangswettbewerbe in zehn Sta¨dten statt. Schusser, „Heimat“ ho¨ren? (wie Anm. 74), S. 167. 179 Zit. nach Pater, Rundfunkangebote (wie Anm. 88), S. 149. Allerdings wurden danach keine Volkssenderaktionen mehr durchgefu¨hrt; wahrscheinlich waren diese zu aufwendig geworden. Das Prinzip, Laiengruppen in die Programmgestaltung zu integrieren, blieb jedoch bis zum Beginn des Krieges erhalten. Ebd., S. 150.

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sich immer wieder, dass die Kulturlandschaften nicht mit politischen Grenzziehungen u¨bereinstimmten und schon gar nicht mit jenen der Senderreichweiten. Dadurch kam es zu zahlreichen Konflikten. So hatten sich die Rundfunkverantwortlichen in Mu¨nchen von Anfang an mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, dass Schwaben und Franken sich von der in Mu¨nchen zentralisierten Rundfunkstation benachteiligt fu¨hlten. Die Einrichtung der Nebensender in Nu¨rnberg und in Augsburg halfen schließlich solche Ungleichheiten zu vermindern.

10. Die mediale Imagination einer raumentgrenzten Ho¨rer- und Volksgemeinschaft

Viel spricht fu¨r die Annahme, dass die Radio-Ho¨rerschaft in den ersten Jahren des Rundfunks recht empfindsam auf die symbolisch stark aufgeladene Vernetzung der Menschen untereinander reagiert hat.180 Das „Dort wird zum Hier“, und: Wer Radio ho¨re, fu¨hle sich „als Glied einer geistigen unsichtbaren Gemeinschaft der in allen Landen Ho¨renden“, ließ 1930 der Religionsphilosoph Johannes Maria Verweyen verlauten.181 Beeindruckt zeigten sich zahlreiche Menschen davon, dass das Medium die bis dahin gu¨ltigen Raum- und Zeitgesetze u¨berwinden konnte und sich das Raum- und Zeiterleben stark beschleunigte. Die Simultaneita¨t zwischen Geschehnis, Reportage und der medienvernetzten Zuho¨rerschaft mochte von den Zuho¨renden als faszinierender und gemu¨tserregender Sinneseindruck empfunden worden sein, vor allem wenn es den Reportern gelang, ihren Bericht in Stimmungsbilder ‚einzutauchen‘. Aktualita¨t erhielt durch zahlreiche live-Sendungen eine neue, vielseitige Bedeutung.182 Virtuelles Dabei-Sein wurde zum medialen Erlebnis.183 Radioho¨ren zwang außerdem zum inneren Schauen und damit wuchs auch das „Gefu¨hls- und Phantasieleben“.184 „Das Ohr ist das Organ der Imagination“, heißt es dazu heute in der medienwissenschaftlichen Literatur.185 Sicherlich entsprachen solche Attribute, u¨ber die das neue Medium verfu¨gte, vollsta¨ndig dem, was gemeinhin als Charakteristikum des Großsta¨dtischen verstanden

180 Vgl. Oliver Jungen, Erregerphantasien. Eine sentimentale Schneise im fru¨hen Radiodiskurs, in: Die

Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, hg. v. Frank Bo¨sch/Manuel Borutta, Frankfurt/New York 2006, S. 307–324, hier S. 323f. 181 Johannes Maria Verweyen, Radioitis! Gedanken zum Radioho¨ren, in: Medientheorie (wie Anm. 47), S. 454–460, hier S. 456 und 459. 182 Na¨heres siehe Schumacher, Radio (wie Anm. 44), S. 451–453. 183 So auch schon Eckert, Das Radio (wie Anm. 24), S. 23 und 91; Vollmann, Entwicklungsbedingungen (wie Anm. 9), S. 216f.; Ross, Media (wie Anm. 35), S. 183f. 184 Harding Vollquart Matthiessen, Das Ho¨rspiel und seine Ho¨rer, in: Medientheorie (wie Anm. 47), S. 268–271. 185 Karl Karst, Medium Ohr. Eine kurze Geschichte des Ho¨rens, in: Randga¨nge der Mediengeschichte, hg. v. Matthias Buck/Florian Hartling/Sebastian Pfau, Wiesbaden 2010, S. 181–190, hier S. 184.

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wurde: die Simultaneita¨t der Sinneswahrnehmungen in Zeit und Raum sowie die vernetzte Ho¨rerschaft. So verwundert es auch nicht, wenn sich die großen, Aufsehen erregenden Vernetzungsaktionen meist in Sta¨dten abspielten.186 Das erste besonders große Ereignis dieser Art fand am 8. April 1933 statt, als 800 000 SA-Leute in mehreren Sta¨dten mit ho¨rbaren Marschtritten vor den Lautsprechern paradierten, aus ¨ berwindung von Raum und Zeit denen Hitler zu ihnen sprach. Angelegt auf die U symbolisierte das Spektakel durch die mediale Vernetzung der Teilnehmer mit den Ho¨rern die allumfassende Gleichschaltung.187 Bei einer Hitler-Rede 1935 in Berlin applaudierten Zuho¨rer auch in anderen Sta¨dten auf o¨ffentlichen Straßen und Pla¨tzen der Lautsprecher-Stimme, so als ob sie den Redner darin sa¨hen und der Redner sie ho¨ren ko¨nnte.188 Die dem Modern-Urbanen entsprechenden Radio-Eigenschaf¨ bertraten sollten allerdings nicht die Raumentgrenzungen u¨bersehen lassen. Die U gungen befo¨rderten am meisten den Zusammenschluss des Volkes, meinte etwa der Medienwissenschaftler Gerhard Eckert in seiner Radiostudie aus dem Jahre 1939,189 und er hatte damit sicherlich nicht nur die Stadtbevo¨lkerung im Sinn. Insgesamt stand in der NS-Diktatur die Bildung einer in- und exkludierenden Kommunikationsgemeinschaft durch das Medium Radio von vornherein auf der Agenda. Die avisierte virtuelle Volksgemeinschaft unter allen Ho¨rern und Ho¨rerinnen aus Stadt und Land entsprach zumindest in Teilen dem, was der Sozialanthropologe Victor Turner in ganz anderem Zusammenhang als Communitas bezeichnet hat, na¨mlich als erlebnisorientierte, auf bestimmten Situationen und Konstellationen beruhende Gemeinschaftsbildung, die sich gravierend von sozial verankerten Gemeinschaften unterschieden.190 Integriert in die Pflege einer so genannten Nationalkultur sollte die regional verankerte Volkskultur bereits gegen Ende der Weimarer Republik eine Volksgemeinschaft schaffen helfen, und zwar nicht nur durch ¨ berwindung allen Klassen- und Schichtendenkens, sondern auch durch einen die U Ausgleich zwischen Stadt- und Landinteressen.191 Volkskultur und Heimatkultur machten das Konstrukt der Volksgemeinschaft versta¨ndlich, ho¨rbar und erlebbar. Solche Gemeinschaftsimaginationen sollten vor allem in der Kriegszeit Front und Heimat virtuell vernetzen.192 Insbesondere sprengte das Wehrmachts-Wunschkonzert – sonntags jeweils vier Stunden lang – die bis dahin erfahrenen Raumbegren186 Allerdings gab es Ausnahmen: So symbolisierte der niedersa¨chsische Bu¨ckeberg und das dort zele-

brierte Erntedankfest die la¨ndliche Provinz. 187 Vgl. Hagen, Radio (wie Anm. 39), S. 116f., 137f.; positiv gewendet: Eckert, Der Rundfunk (wie

Anm. 24), S. 99. 188 Fu ¨ hrer, Medienmetropole (wie Anm. 21), S. 94. 189 Eckert, Der Rundfunk (wie Anm. 24), S. 80. 190 Dazu siehe Adelheid von Saldern, Zur Inszenierung der NS-Volksgemeinschaft im Rundfunk, in:

‚Volksgemeinschaft‘: Mythos, wirkungsma¨chtige soziale Verheißung oder soziale Realita¨t im ‚Dritten Reich‘? Propaganda und Selbstmobilisierung im NS-Staat, hg. v. Detlef Schmiechen-Ackermann, Paderborn 2011 (im Erscheinen). 191 von Saldern, Rundfunkpolitik (wie Anm. 73), S. 76f.; vgl. auch Cebulla, Rundfunkpolitik (wie Anm. 19), S. 9 und 94. Penka, „Geistzersta¨uber“ (wie Anm. 36), S. 202. 192 Zimmermann, Medien (wie Anm. 35), S. 261; Inge Marszolek, „Der Fu¨hrer spricht ...“ Hitler und der Rundfunk, in: Hitler der Redner, hg. v. Josef Kopperschmidt, Mu¨nchen 2003, S. 205–216, hier S. 212f.

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zungen. „Die Front reicht ihrer Heimat jetzt die Ha¨nde, die Heimat aber reicht der Front die Hand?“,193 das war der sich wiederholende Schluss aller Wunschkonzertsendungen.194 „Und das ganze Volk, Front und Heimat, sitzt am Lautsprecher“, schrieb Goebbels zufrieden in sein Tagebuch.195 Solche Sendungen litten allerdings in der Regel darunter, dass viel mehr von der Heimat als von der Front berichtet wurde.196 Eine der großen Ausnahmen war die Weihnachtsringschaltung 1941 und 1942 mit dem Titel Von Narvik bis zur Biskaya. Diese kann unter raumentgrenzendem Aspekt als medialer Ho¨hepunkt der NS-Zeit angesehen werden: Schlachtfelder und Heimatfronten wurden hierin gefu¨hlsbetont miteinander virtuell verknu¨pft, die Bedienung der Stadt-Land-u¨bergreifenden christlichen Tradition in Form des u¨ber ¨ ther to¨nenden Liedes Stille Nacht, heilige Nacht sollte integrativ wirken und den A als „technische Glanzleistung“ beeindrucken.197 Alle Stadt-Land Divergenzen verblassten angesichts der neuen ‚schicksalstra¨chtigen‘ Großra¨ume, die als Heimat und Front in gewissen Absta¨nden das Radioprogramm konfigurierten.

Zusammenfassung

Das Radio wies von vornherein einen dualen Charakter auf, gepra¨gt von Stadtbezogenheit einerseits und Raumentgrenzung andererseits. Zum einen war und blieb die Stadt der dominante Ort fu¨r die Produktion, die Distribution und auch fu¨r den Konsum der neuen Radiokultur; die Unterschiede zur la¨ndlichen Provinz konnten zwar betra¨chtlich vermindert aber nicht vo¨llig eingeebnet werden. So besta¨tigt sich auch mit Blick auf die Radiogeschichte die allgemein feststellbare spezifische Affinita¨t zwischen Medien und Stadt, symbolisiert in den ansehnlichen Funkha¨usern als Zentren der Programm-Produktion, in denen Großsta¨dter das Sagen hatten. Die Stadt hat freilich nicht nur das Radio gepra¨gt, sondern auch das Radio die Stadtkultur konturiert, etwa durch die in den Reportagen ausgedru¨ckten Sichtweisen auf die jeweilige Stadt, ferner durch beschleunigte und simultan geschaltete Raum-Zeit-Erfahrungen 193 Koch/Glaser, Ganz Ohr (wie Anm. 24), S. 131. Im Jahre 1942 wurde die Sendung allerdings einge-

stellt, vielleicht weil sich zeigte, dass der Krieg la¨nger dauerte als erwartet und der Sieg nicht mehr gewiss erscheinen mochte. Vgl. Sarkowicz, Nur nicht langweilig (wie Anm. 87), S. 231. 194 Koch, Das NS-Wunschkonzert (wie Anm. 98), S. 262. Dort ist der ganze Text abgedruckt. 195 Ebd. 196 Siehe zum Beispiel die Kritik u¨ber die Ringschaltung Die Front reicht ihrer Heimat nun die Hand vom 1. Juni 1941. Daru¨ber hieß es, das soldatische Leben sei zu wenig zur Geltung gekommen. MadR (1941), S. 2382f.; vgl. auch (1941), S. 2410f. 197 MadR (1941), S. 1888; (1942), S. 3135f. Hier wurde berichtet, dass die Sendung „u¨ber alles gut gefalle(n)“ habe und als „technische Glanzleistung“ angesehen worden sei. Ob die Ringschaltung „echt“ war oder nicht, spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle. Eine Simulation unterstellt Leonhard, allerdings ohne Quellennachweis. Joachim-Felix Leonhard, Medien und NS-Diktatur – Eine Einfu¨hrung, in: Heidenreich/Neitzel, Medien (wie Anm. 87), S. 13–28, hier S. 25. Es gab auch andere Ringsendungen, etwa anla¨sslich des Muttertages am 18. Mai 1941, welche die Ho¨rerschaft ebenfalls beeindruckte. MadR (1941), S. 2342.

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sowie durch ein Publikum, das die Veranstaltungen der Funkha¨user besuchte und dort live die Live-Sendungen miterlebte. Zum anderen war das Radio von Anfang an raumentgrenzend-transsta¨dtisch angelegt und wirkte deshalb nicht nur in den (sta¨dtischen) Raum hinein, sondern auch u¨ber den (sta¨dtischen) Raum hinaus – auf das platte Land (und in die weite Welt). Eine entsprechende Verschiebung im Programm erfolgte nicht zufa¨llig im gro¨ßeren Ausmaße am Ende der Weimarer Republik, bedingt durch die Zunahme kleinbu¨rgerlicher und la¨ndlicher Ho¨rerschaft und durch die Negativerfahrungen in der großen Wirtschafts- und Kulturkrise, und solche Verlagerungen setzten sich dann in der NS-Zeit allerdings unter den Rahmenbedingungen einer vo¨lkisch-rassistischen Diktatur in neuen Kontexten weiter fort. So wurden vermehrt Sendungen konzipiert, die die Stadt-Land-Dualita¨t u¨berlagerten, etwa durch eine funkischmodern aufbereitete, volkstu¨mlich-vo¨lkische Popula¨rkultur, die offenbar auch Teile der Arbeiterschaft ansprach. So fanden zunehmend Vera¨nderungen des urspru¨nglich hauptsa¨chlich sta¨dtisch ausgerichteten Programms statt, um – ungeachtet der fortbestehenden Dominanz der Stadt als zentraler Produktions-, Distributions- und Konsumtionsstandort – auch das Dorf in die neue mediale Kommunikationsgemeinschaft einbeziehen zu ko¨nnen. Insbesondere seit den spa¨ten Weimarer Jahren, jedoch versta¨rkt in der NS-Diktatur, belebten sta¨dtische Bildungsbu¨rgerkreise im Radio die Volks- und Heimatkultur samt den la¨ndlichen Traditionen wieder. Sie stand fu¨r eine ‚heile Welt‘, wobei ihre Folklorisierung mit ihrer ontologisch-stammeskulturellen Deutung, oftmals mit vo¨lkischen Ankla¨ngen, Hand in Hand ging. In dieses Ho¨rbildrepertoire wurden dann auch die Großsta¨dte integriert, indem diese mehr und mehr regionalisiert und historisiert wurden, und die großstadt-typischen Bilder u¨ber die „wilden zwanziger Jahre“ Negativkonturen erhielten. Hatte schon der Entwurf einer medialen Volksgemeinschaft die Konstruktion eines Stadt-Land-Gegensatzes im virtuellen Bereich aufgehoben, so versta¨rkten sich die Raumentgrenzungen im Radio wa¨hrend des Krieges. Aus der bis dahin ra¨umlich begrenzten Heimatbezogenheit wurde die Metapher der raumentgrenzten Heimatfront, die Stadt und Land endgu¨ltig zusammenschweißen und in einen einheitlichen Bezug zur ebenfalls raumentgrenzten Kriegsfront setzen sollte. Viele Unterhaltungssendungen drehten sich in der NS-Zeit um kleinbu¨rgerliche, enturbanisierte Stadtgestalten, die sich mit ihrem „gesunden Volkshumor“ auch der la¨ndlichen und kleinsta¨dtischen Landbevo¨lkerung versta¨ndlich machen konnten. Patrick Merziger interpretiert diesen Befund zu recht nicht als Flucht aus den Alltag und auch nicht als Zerstreuung, sondern als eine Flucht in den Alltag, als Wahrnehmung einer stark eingegrenzten Realita¨t, die die verbrecherischen Seiten der NS-Wirklichkeit außen vor ließ, um auf diese Weise die Akzeptanz des NS-Regimes zu erleichtern.198 Die herrschaftssichernde Funktion der Rundfunkunterhaltung bestand in der Verbreitung von bestimmten Leitbildern und Verhaltensnormen, die die Angepasstheit der Menschen an die NS-Realita¨t fo¨rderte.199

198 Merziger, Nationalsozialistische Satire (wie Anm. 120), S. 366. 199 Vgl. Keuler, Ha¨berle (wie Anm. 41), S. 82 und 169.

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Die Frage, ob die volkskulturellen Sendungen von sta¨dtischen Ho¨rern und Ho¨rerinnen u¨berhaupt ernst genommen wurden, la¨sst sich zwar nicht empirisch mit harten ¨ berlappungen des sta¨dtischen Daten belegen. Doch kann von betra¨chtlich großen U und la¨ndlichen Geschmacks ausgegangen werden, die schon vor der Etablierung der NS-Diktatur bestanden haben: Solche Sendungen sprachen jene Personen aus dem Bildungsbu¨rgertum an, die die volkskulturelle Heimatkultur selbst aktiviert hatten und hierin ein Gegenmittel zur großsta¨dtisch konnotierten Massenkultur sahen. Ferner waren wohl tatsa¨chlich Teile der Arbeiterschaft, vor allem ungelernte Arbeiter, der la¨ndlichen Kultur noch nicht entfremdet, weil sie erst vor nicht allzu langer Zeit in die Sta¨dte abgewandert waren.200 Daru¨ber hinaus wuchs mit der Ausbreitung des Radios die Anzahl des sta¨dtischen Kleinbu¨rgertums unter der Zuho¨rerschaft, das sich in Geschmacksfragen von jenem in den Klein- und Landsta¨dten offensichtlich nicht wesentlich unterschied. Schließlich gewann ein Teil der Heimatkultursendungen an Attraktivita¨t durch die Integration in abwechslungsreiche Mischprogramme sowie durch unterhaltsame Formate. Keuler bewertet die Gesamtsituation a¨hnlich, wenn er schreibt: „Die la¨ndliche Umgebung der Zentren, ein konservativer Hintergrund, ¨ berlagerung der großsta¨dtischen Wirklichkeit durch a¨ltere Stereotypen und die die U Tatsache, dass der Lokalhumor ha¨ufig an Angeho¨rige der Unterschichten gebunden ist, lassen die Kontraste verschwimmen.“201 Allerdings fu¨hrte die Einbettung der Volks- und Heimatkultur in die rassistisch konnotierte NS-Volksgemeinschaft zu einer Neukontextualisierung dieses gesamten Bereichs, von der im Prinzip alle Sendungsarten zumindest indirekt betroffen waren. Auf dem Gebiet der „volkstu¨mlichen Unterhaltung“ und der „leichten Musik“ gelang in Form kleinbu¨rgerlich gepra¨gter Mischprogramme – jenseits der Frage der NS-Systemstabilisierung – zwar erwartungsgema¨ß keine Homogenisierung der gesamten Geschmacksausrichtung in Stadt und Land, aber auf dem breiten Segment des Radio-Unterhaltungsprogramms vergro¨ßerten sich die gemeinsamen Schnittstellen.202 Gerade der Blick auf die Zwischenkriegszeit zeigt, wie der Rundfunk zusehends eine mediale Modernisierung betrieb und mit „volkstu¨mlichen“ Sendungen, Bunten Stunden und „leichter Musik“ die Stadt-Land-Dualita¨t auf dem Unterhaltungssektor zu u¨berwinden trachtete. Insbesondere die Nationalsozialisten sahen das Radio als ein herrschaftssicherndes Medium an, das die Stadt-Land-integrierende Volks(kriegs)gemeinschaft umso mehr in virtuelle Szenerie umzusetzen wusste, je weniger diese der sozialen Realita¨t entsprach. Durch ha¨ufige Wiederholungen von Sendeformaten, durch transregionalen Programmaustausch, durch die Schaffung eines allen bekannten Musikrepertoirs und einer gemeinsamen Basis ‚sozialen Wissens‘ sowie durch die Dominanz eines transregional versta¨ndlichen Sprachduktus entwickelte sich das Radio zu einer medialen ¨ bersetzungsagentur zwischen den Kulturen von Stadt und Land, der einzelnen U 200 Vollmann, Entwicklungsbedingungen (wie Anm. 9), S. 221. 201 Keuler, Ha¨berle (wie Anm. 41), S. 38. 202 Noch heute sind zum Beispiel die zur Prime-Zeit ausgestrahlten und modern-folkloristisch ausgestal-

teten, ansonsten entkontextualisierten Volksmusiksendungen, wie der Musikantenstadl, in Stadt und Land a¨ußerst beliebt.

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Regionen sowie der sozialen Schichten, Generationen und Geschlechter – ohne dabei die unterschiedlichen Interessen der Menschen einzuebnen. Solche Prozesse sind im Zusammenhang mit la¨ngerfristigen gesellschaftlichen Modernisierungsvorga¨ngen zu sehen, etwa der Stadt-Land-Wanderung und der anwachsenden Mobilita¨t, den Trends zur allma¨hlichen Auflo¨sung traditioneller Sozialmilieus und Geschlechterrollen sowie der zunehmenden Urbanisierung und Medialisierung der Gesellschaft.

GESCHICHTSLOSE BILDER VOM ALTEN UND NEUEN BAUEN Zur Analogie der architektonischen Moderne (1912–1960) mit den Medien von Rolf Sachsse

1.

Das Photographieren sta¨dtischer Architektur im 19. Jahrhundert

Alexander von Humboldt dienten einige Strohhalme als Garant medialer Wahrheit: Mit einer starken Lupe betrachtete er ein Bild des Louis Jacques Mande´ Daguerre vom ehemaligen Palais Royal in Paris und sah diese Strohhalme an einem Fenster kleben – wohl als Folge eines vorbeigefahrenen Wagens – anschließend setzte er sich vehement fu¨r dieses Bildverfahren ein.1 Daguerre selbst war eigentlich Theatermaler und -manager, sein Mittel war drastischer: Er ließ einen Schuhputzer wa¨hrend zwanzig Minuten – der gesamten Dauer seiner Belichtung – regungslos vor einem fiktiven Kunden verharren (in Wirklichkeit war es sein Assistent) und erhielt so die erste Darstellung eines Menschen in der Photographie, die zugleich die erste Demonstration sta¨dtischen Lebens ist. Der Theatertrick ließ einen anderen Erfinder nicht ruhen; William Henry Fox Talbot mietete sich in einem Pariser Hotel ein, nahm ebenfalls einen Boulevard auf und registrierte die – von ihm nicht beeinflussbare – Bewegung eines Wassersprengers als Beleg der photographischen Wahrheit. Der Widerspruch zwischen diesen Positionen ist selbstversta¨ndlich keiner, denn beide, Daguerre wie Talbot, haben ihre Bilder inszeniert, nur jeweils mit anderen Mitteln.2 Einige Jahre vor der Photographie wurde die illustrierte Zeitschrift eingefu¨hrt, und die erste Ausgabe des „Pfennig-Magazins“ vom 4. Mai 1833 ist dem Sta¨dteportrait Istanbuls gewidmet, mit einem gestochenen Bild der Ahmed-Moschee; spa¨tere Ausgaben zeigen bevorzugt alte europa¨ische Sta¨dte wie das belgische Mechelen – in genau jener Nummer des Jahres 1839, in der die Photographie angeku¨ndigt wird.3

1 Hanno Beck, Alexander von Humboldt. Fo¨rderer der fru¨hen Photographie, in: Silber und Salz. Zur

Fru¨hzeit der Photographie im deutschen Sprachraum 1839–1860. Ausstellungskatalog, hg. v. Bodo von Dewitz/Reinhard Matz, Ko¨ln u. a. 1989, S. 40–53. 2 Vgl. Timm Starl, Skizzen zu einer Kulturgeschichte der Fotografie (II), in: Camera Austria International 7 (1986), Heft 19/20, S. 115–120, hier S. 116–117. 3 [letzter Aufruf 23. 7. 2011]

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Der Bildbedarf war also vorhanden, und er wuchs sehr schnell. Keine vier Wochen nach der offiziellen Bekanntgabe des photographischen Verfahrens am 18. August 1839 schickte der Pariser Verleger Noe¨l Marie Lerebours die ersten Praktiker auf ¨ gypten; allerdings konnte er seine Excursions Reisen nach Italien, Pala¨stina und A Daguerriennes nur nach Photographien stechen lassen – alle Versuche, direkt von Daguerre-Platten zu drucken, scheiterten kla¨glich.4 Doch als Referenzmedium war die Lichtbildnerei etabliert: Der Bau des neuen Bahnhofs in Altona bei Hamburg wurde erst auf Daguerreotypien aufgenommen und dann fu¨r die Publikation gestochen5; und die in Paris eben erst gegru¨ndete Commission des monuments historiques schickte ab 1851 eine Mission he´liographique durch ganz Frankreich zur Dokumentation alter Bauwerke.6 Der Stadtrat von Glasgow beauftragte den Photographen Thomas Annan zur Darstellung der Old Closes – enge Hinterho¨fe –, um ein ambitioniertes Sozialprogramm auflegen zu ko¨nnen. Kollegen Annans, wie der Londoner John Thomson, der zuvor den Orient bereist hatte, erarbeiteten ihre Serien wie Street Life in London gleich auf eigene Kosten und ließen die Bilder von Straßenha¨ndlern vertreiben. Aus nahezu jeder britischen Stadt sind derlei Serien bekannt.7 Was die Photographie fu¨r die Abbildung sta¨dtischen Lebens – und damit fu¨r die heutige Stadtforschung – leisten konnte und kann, ist nicht mehr und nicht weniger als die mediale Transformation einer gewissen Menge Realien aus dem unmittelbaren Erleben in stehende Bilder, die selbst wiederum mit Erfahrungen, Erinnerungen und durch unterschiedliche Gebrauchsweisen aufgeladen werden konnten, eben auch als das, was Christoph Asendorf mit „Batterien der Lebenskraft“ bezeichnet hat.8 Genau diese Funktion hat dazu gefu¨hrt, dass Photographien zu den unterschiedlichsten Zwecken gesammelt wurden und große Archive fu¨r sie angelegt wurden. Architekten ließen ihre Bauwerke als Werbung ablichten, Krankenkassen nutzten Bildarchive zur Durchsetzung politischer Maßnahmen9, und schließlich gab es zahlreiche Photographen, die ihre Aufnahmen in großen Konvoluten zusammenstellten, ohne eigentlich exakt zu wissen, was sie damit tun wollten – Euge`ne Atget ist nur der beru¨hmteste von ihnen.10 Bis zum Ersten Weltkrieg war jeder Fleck der Erde, jede Stadt und in ihr fast jedes gro¨ßere Geba¨ude als Bild verfu¨gbar – das Stadtbild war

4 Zusammenfassend vgl. Rolf Sachsse, Architekturfotografie des 19. Jahrhunderts an Beispielen aus der

Fotografischen Sammlung des Museums Folkwang (Stationen der Fotografie 6), Berlin 1988.

5 Kiosk. Eine Geschichte der Fotoreportage 1839–1973. Ausstellungskatalog, hg. v. Bodo von Dewitz/

Robert Lebeck, Go¨ttingen 2001, S. 24–25. 6 Philippe Ne´agu, 1851, La mission he´liographique, in: La mission photographique de la Datar (Photo-

graphies 4/5 [1984], Bulletin 1), S. 10–21.

7 Vgl. grundsa¨tzlich dazu: John Tagg, God’s Sanitary Law: Slum Clearance and Photography in Late

Nineteenth-Century Leeds, in: Ders., The Burden of Representation, Essays on Photographies and Histories, Basingstoke, Hamps. 1988, S. 117–152. 8 Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert (Werkbundarchiv 13), Gießen 1984. 9 Hinterhof Keller und Mansarde. Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901–1920. Die WohnungsEnqueˆte der Ortskrankenkasse fu¨r den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker, hg. v. Gesine Asmus, Reinbek 1982. 10 Vgl. Hans-Georg Puttnies, Atget, Ko¨ln 1980.

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zur morphologischen Qualita¨t medialer Abbildungen mutiert.11 In den Bildern war damit jedoch auch die historische Dimension eines jeden Stadtbildes fixiert; jede Photographie galt als Konserve der Geschichte.

2.

Die Geschichtslosigkeit photographischer Bilder aus Archiven

Photographische Bilder pra¨sentieren Fragmente einer als real zu ermessenden Sichtbarkeit, nicht nur in den klassischen Genres Portrait und technische Sachaufnahme, sondern gerade im sta¨dtischen Kontext, wo die gebaute Struktur unmittelbar als Geschichte zur Anschauung kommt – und in der Photographie direkt mit der Belebung von Straßen und Pla¨tzen durch Menschen korreliert.12 Diese Unmittelbarkeit konnte fu¨r die Erfassung von Bildquellen allerdings erst fruchtbar werden, nachdem die in jeder Photographie erfasste Zeit selbst thematisiert wurde; das wurde erst mo¨glich, nachdem die Photographie selbst als alterndes Medium begriffen wurde, was am Ende der 1920er Jahre mit der Etablierung des Neuen Sehens einer medialen Avantgarde Hand in Hand ging.13 Dem Postulat aller modernen Ku¨nstler, die Geschichte zu zertru¨mmern, stand ein Bildgebrauch der Photographie entgegen, der alles Sichtbare konservierte. Daraus ist unter anderem auch das Paradoxon erwachsen, dass das photographische Abbilden im Prinzip nicht modern, sondern konservativ wirkt – und genau diesem Paradoxon soll im folgenden anhand einiger Beispiele nachgespu¨rt werden.14 Fu¨r die fru¨hmodernen Architekten vor dem Ersten Weltkrieg ergab sich daraus, dass man beim Entwurf Hermann Ru¨ckwardts Mappenwerke „Architekturtheile und Details von Bauwerken des Mittelalters bis zur Neuzeit“ (Berlin 1895ff.) vorliegen hatte und sie – mit dem Diktum Fritz Schumachers – als Herbarium der Entzu¨ckungen nutzte.15 Ab etwa 1910 gab man sich gern ein wenig moderner und nutzte das Material der Diapositiv-Zentrale des Deutschen Museums fu¨r Kunst in Handel und Gewerbe nach Karl Ernst Osthaus mit vorbildlichen alten und neuen Bauten wie etwas dem Palais Stoclet in Bru¨ssel nach dem Entwurf von Josef Hoffmann (Abb. 1), sammelte die ja¨hrlichen Immobilienkataloge der us-amerikanischen oder kanadi-

11 Vgl. Oswald Mathias Ungers, Morphologie City Metaphors, Ko¨ln 1982. 12 Vgl. Michael Kro ¨ ger, Belebte Szenen. Sta¨dtische Fotografien des spa¨ten 19. Jahrhunderts im Kontext

sozialer Zeiterfahrung, Diss. phil. Osnabru¨ck 1985.

13 Vgl. Iwan Goll, Die alte Fotografie (1931), in: Theorie der Fotografie, hg. v. Wolfgang Kemp, Bd. 2:

1912–1945, Mu¨nchen 1979, S. 184–189. In diesem Kontext ist auch die Sammelrezension Benjamins zu Bu¨chern mit alter Photographie zu sehen: Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1963, S. 67–94. 14 Fu¨r das Folgende vgl. Rolf Sachsse, Bild und Bau. Zur Nutzung technischer Medien beim Entwerfen von Architektur, Braunschweig/Wiesbaden 1997. 15 Fritz Schumacher, Stufen des Lebens. Erinnerungen eines Baumeisters, Stuttgart 1935, S. 181. Schumacher berichtet hier u¨ber das Studio seines Lehrers Gabriel von Seidl in Mu¨nchen.

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Abb. 1: Palais Stoclet, Bru¨ssel, Innenhof, ca. 1905. Architekt Josef Hoffmann Photovertrieb Franz Stoedtner (Photograph mo¨glicherweise Hugo Schmo¨lz) Quelle: Abb. 1–8 privat

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schen Konsulate mit deren großen Bildserien zu Getreidesilos und Hafenanlagen16 oder man griff schließlich als Mitglied des Deutschen Werkbundes in dessen Jahrbu¨cher, um sich wohlfeiler Vorbilder der Architekten wie Hermann Muthesius oder der Designer wie Walter Gropius zu bedienen.17 Immer referierte die Photographie als Grundlage eines bildnerischen, also gestaltungstechnisch nutzbaren Archivs die von ihr geschilderte Wirklichkeit – im Gegensatz zur weiter verbreiteten Graphik – als real vorhanden. Dieser Bildgebrauch kennzeichnet eine umfassende Publikationspraxis des 19. Jahrhunderts – auch unter der Maßgabe, dass photographische Bilder bis um 1895 nicht in Bu¨cher eingedruckt, sondern nur eingelegt oder eingebunden werden konnten – und wurde fu¨r die sich eben erst etablierende Kunstwissenschaft zu einem ernsthaften Darstellungsproblem mit methodischen Folgen fu¨r die Bereitstellung sprachlich fixierbarer Begriffe und Werturteile.18 Umgekehrt verweist ein Detail aus der industriephotographischen Praxis zwischen 1860 und 1930 darauf, dass es mit dem Anspruch auf Wahrheit in der Photographie aufgrund ihrer technischen und damit apriori a-historischen Basis nicht allzu weit her war: Das Aufstellen von Staffage-Ma¨nnern diente nicht nur zur Veranschaulichung von Gro¨ßenverha¨ltnissen, sondern vor allem als Beleg der Realita¨t im Werk und damit im produktiven Prozess wie in seiner architektonischen oder designerischen Realisation.19 (Abb. 2) Diese Praxis hatte sich in der fru¨hen Architekturphotographie ebenfalls etabliert gehabt, bis sie dem Sa¨uberungswillen der Moderne und damit der Entleerung der Bilder von menschlichem Personal anheimfiel.20 Von hier aus war es nur noch ein kurzer Weg zur Vereinzelung der photographierten Geba¨ude aus ihren landschaftlichen und sta¨dtebaulichen Kontexten heraus. Das Prinzip des monumentalen Denkmals mit herausragender Alleinstellung, das zum ideologischen Bestand des 19. Jahrhunderts geho¨rte, wurde bei aller modernen Proklamation des Bruchs mit der Geschichte funktional schlicht u¨bertragen.21 Die Proklamation der reinen Abbildung eines Baues ist in sich selbst bereits eine Abstraktion von der Realita¨t auf dem zu einer dar- und vorgestellten Wirklichkeit. Den Architekten und vor allem ihren Kunden mag an einer vollsta¨ndigen Wahrhaftigkeit der Bilder nicht gar so sehr gelegen gewesen sein, denn wie die vier, in den 1920er Jahren u¨beraus erfolgreichen Ba¨nde von Walter Mu¨ller-Wulckow zu einzelnen architektonischen Aufgaben belegen, wurde bereits damals viel retouchiert, 16 William J. Brown, Walter Gropius and Grain Elevators, Misreading Photographs, in: History of Pho-

tography 17, 3 (1993), S. 304–308.

17 Moderne Baukunst 1900–1914. Die Photosammlung des Deutschen Museums fu¨r Kunst in Handel

und Gewerbe. Ausstellungskatalog, hg. v. Sabine Ro¨der/Volker Do¨hne, Krefeld 1993. 18 Bilderlust und Lesefru¨chte. Das illustrierte Kunstbuch von 1750 bis 1920, hg. v. Katharina Krause/

Klaus Niehr/Eva-Maria Hanebutt-Benz, Leipzig 2005; Kunstwerk – Abbild – Buch. Das illustrierte Kunstbuch von 1730 bis 1930, hg. v. Katharina Krause/Klaus Niehr, Mu¨nchen/Berlin 2007. 19 Industrie und Fotografie. Sammlungen in Hamburger Unternehmensarchiven. Ausstellungskatalog, hg. v. Lisa Kosok/Stefan Rahner, Hamburg 1999. 20 Andreas K. Vetter, Leere Welt. U ¨ ber das Verschwinden des Menschen aus der Architekturfotografie, Heidelberg 2005. 21 Vgl. ArchiSkulptur, Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute. Ausstellungskatalog, hg. v. Markus Bru¨derlin, Basel 2004.

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Abb. 2: Kohlenwa¨sche, Zeche Hannibal, Gelsenkirchen, 1923. Architekt Wilhelm Kreis Photograph unbekannt

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beschnitten und auch montiert, etwa beim Einkopieren von Wolken in ansonsten eher unstrukturiert wiedergegebene Himmel.22 Dennoch bleibt die Folie eines immer irgendwie belegbaren Wahrheitsgehalts23 fu¨r die Etablierung moderner Bauformen und ihrer Sichtbarkeit in den urbanen Kontexten der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts erhalten, fu¨r die hier drei exemplarische Beispiele anzugeben sind24: Das ist zum einen die Baumonographie25 im Auftrag oder in Zusammenarbeit mit einem renommierten Architekten, fu¨r die selbstversta¨ndlich erstklassige Photographen bescha¨ftigt wurden, was hier an einem Protagonisten, dem Ko¨lner Photographen Hugo Schmo¨lz sen. zu zeigen ist.26 Das ist zum anderen das popula¨rste Bildmedium jener Jahre, das nahezu dem Vergessen anheimgefallen wa¨re, ha¨tte es nicht in den 1980er und 1990er Jahren eine wachsende Sammlergemeinde gegeben, die es historisch zu retten suchten: die Bildpostkarte mit ihren diversen Unterformen wie Leporellos und Sammelalben.27 Das dritte und letzte Medium kam fast zu spa¨t um noch wirklich wirksam zu werden, dafu¨r aber war es strikt – und in mehr als einem Sinn des Wortes – aufkla¨rerisch intendiert: das Luftbild.28

3.

Medium 1: Die Baumonographie

Hugo Schmo¨lz sen. (Sonthofen 1879–1938 Ko¨ln) du¨rfte nach seiner Niederlassung in Ko¨ln 1911 zu den ersten deutschen Photographen geho¨rt haben, die sich auf das Aufnehmen von Architektur spezialisierten und dabei nicht dem niederen Genre des Hausphotographen angeho¨rten, der durch die Sta¨dte zog und Ha¨user wie ihre Bewohner photographierte.29 Schmo¨lz’ erste große Manifestation im Bereich der Verbildlichung moderner Architektur du¨rfte die nahezu vollsta¨ndige Dokumentation der Werkbund-Ausstellung 1914 in Ko¨ln gewesen sein, wo er unter anderem den Fabrikbau von Walter Gropius in ganzen wie Detailansichten und das Glashaus

22 Rosemarie Wesp, Der Autor und sein Produzent – Die Geschichte von vier Blauen Bu¨chern, in: Kon-

texte. Walter Mu¨ller-Wulckow und die deutsche Architektur von 1900–1930, hg. v. Gerd Kuhn (Die Blauen Bu¨cher), Ko¨nigstein 1999, S. 13–46. 23 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1985, S. 57–58. 24 Ich danke Clemens Zimmermann und Werner Freitag, dass sie das Wagnis eines im wesentlichen bildgestu¨tzten Vortrags eingegangen sind, der hier illustrativ nicht anna¨hernd wiedergegeben werden kann. 25 Roland Jaeger, Neue Werkkunst, Architektenmonographien der Zwanziger Jahre. Mit einer BasisBibliographie deutschsprachiger Architekturpublikationen 1918–1933, Berlin 1998. 26 Karl-Hugo Schmo ¨ lz/Rolf Sachsse, Hugo Schmo¨lz Fotografierte Architektur 1924–1937, Mu¨nchen 1982. 27 Moderne Gru¨ße. Fotografierte Architektur auf Ansichtskarten 1919–1939, hg. v. Kirsten Baumann/ Rolf Sachsse (gesammelt, konzipiert und ausgewa¨hlt v. Bernd Dicke), Stuttgart 2004. 28 Eugen Diesel, Das Land der Deutschen (mit Abbildungen vorwiegend nach Luftaufnahmen v. Robert Petschow), Leipzig 1933. 29 Ludwig Hoerner, Das photographische Gewerbe in Deutschland 1839–1914, Du¨sseldorf 1989, S. 82–83.

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von Bruno Taut außen und innen photographierte.30 Schmo¨lz war einer der ersten drei Photographen, die selbst Werkbund-Mitglieder wurden, und er bezog aus dieser Mitgliedschaft ein nahezu automatisches Hineinwachsen in die architektonische

Abb. 3: Sommerkirche Norderney, Straßenseite, 1930/31. Architekt Dominikus Bo¨hm Photograph Hugo Schmo¨lz

Moderne. Unter anderem erwuchs ihm aus dieser Zeit eine enge Freundschaft mit dem Architekten Dominikus Bo¨hm, mit dem er auch in der Sicht seiner Bilder eine relative schnelle Bewegung von einer bewegten Expressivita¨t (wie bei der Garnisonkirche in Neu-Ulm von 1921) u¨ber eine eher trockene Versachlichung des Blicks (etwa auf die Bauten Bo¨hms in Hindenburg/Oberschlesien um 1926) bis hin zur streng modernen Lo¨sung (wie bei der Sommerkirche Stella Maris auf der Nordseeinsel Norderney von 1930/31 vollzog.31 (Abb. 3) ¨ hnliche Sehweisen etablierte Schmo¨lz auch fu¨r andere Architekten wie etwa A Clemens Holzmeister bei dessen Kirchenbau in Kleve, doch fa¨llt bei allen diesen Bildern schon auf, dass der sta¨dtische (oder wenigstens vorsta¨dtisch la¨ndliche) Umraum 30 Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Co¨ln. 1914. Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet.

Ausstellungskatalog, 4 Bde., hg. v. Wulf Herzogenrath. Bd. 2: Der westdeutsche Impuls 1900–19194, Ko¨ln 1984. 31 Wie Anm. 26.

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so gut wie u¨berhaupt nicht gezeigt wird, was tatsa¨chlich fu¨r nahezu alle Bauaufgaben galt, von der Industriearchitektur u¨ber den sta¨dtischen Wohnungs- und Siedlungsbau und der Universita¨t bis zu dem Bautyp, bei dem man dies am meisten erwarten

Abb. 4: Rathaus zu Ko¨ln, Spanischer Bau mit Blick zum Dom, li. 1939, re. 1947, Aufnahmen Karl-Hugo Schmo¨lz

konnte und kann, der Villa. Einzige Ausnahme von dieser Regel mag die Ablichtung von modernen Bru¨cken bilden, die notwendiger Weise ihren Umraum mitzeigen mu¨ssen und zugleich Symbole der Zusammengeho¨rigkeit von Stadtteilen sind. Insgesamt spielt fu¨r dieses Genre sicher die Verwendung der Bilder zur Werbung fu¨r die Architekten eine wesentliche Rolle: Es galt, in Bu¨chern und kleinen Mappen die eigene Moderne durchzusetzen, und dazu sollten mo¨glichst wenige sto¨rende Elemente des Alten im Bild sichtbar werden. Dieses Argument la¨sst sich auch ex negativo fu¨hren: Von Ende 1936 an arbeitet Schmo¨lz’ Sohn Karl-Hugo Grafertshofen 1917–1986 Lahnstein) im elterlichen Betrieb mit, wird – wie schon zuvor der Vater – zu einem der wichtigsten Photogra-

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phen der Bauplanungen von Albert Speer und anderer NS-Architekten. 1947 erha¨lt er von der Stadt Ko¨ln den Auftrag, ein Album mit Doppelbildern der Zusta¨nde vor und nach dem 2. Weltkrieg herzustellen; Grundlage dafu¨r waren ein Buch, das er 1939 fu¨r den Ko¨lner Stadtkonservator aufgenommen hatte sowie eine große Anzahl von Photographien im firmeneigenen Bildarchiv.32 Ohne auf dieses Album und seine komplexe Entstehungs- wie Rezeptionsgeschichte im einzelnen eingehen zu ko¨nnen, kann postuliert werden, dass den Bildern anzusehen ist, wie die Kriegsscha¨den fu¨r moderne Stadtbaulo¨sungen „genutzt“ werden sollten, indem etwa neue Sichtachsen vom Rhein in die Altstadt ero¨ffnet werden, wobei auch der Standpunkt zwischen alt und neu ein wenig vera¨ndert wurde. (Abb. 4) Sonst hat Karl-Hugo Schmo¨lz die alten Ansichten von Standpunkt und Perspektive (d. h. Brennweite des Objektivs bei gleicher Negativgro¨ße) peinlich genau wiederholt, also du¨rfte die – leider undokumentierte – Vorauswahl der alten Bilder fu¨r die Bildung mancher Sichtachsen entscheidend gewesen sein; rechts neben der Kirche St. Aposteln etwa war Platz fu¨r die verbreiterte Mittelstraße und ihre Anbindung an den Neumarkt zu schaffen, wa¨hrend links vom Spanischen Bau des Alten Rathauses die Sichtachse zum Dom zu erhalten gewesen wa¨re – eine Debatte, die sich heute in Diskussionen der Planungen zum Ju¨dischen Museum widerspiegelt. Vielleicht passt ein Nebenprodukt der Schmo¨lz’schen Photographie aus den 1920er Jahren – eine Grußkarte zum Neuen Jahr 1931 – am besten zum Thema der Repra¨sentation der Moderne im sta¨dtischen Kontext der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts: Wer viel Moderne in einer Stadt sehen will, muss sie sich montieren, und wer genau hinsieht, mag bemerken, dass die Moderne in Ko¨ln aus genau einem Geba¨ude besteht, na¨mlich Bruno Pauls Dischhaus.33 (Abb. 5) Nun ist diese Bildmontage – allem Anschein nach eine kreative Resteverwertung aus der Hand der talentierten Ehefrau des Meisterphotographen – selbst wieder ein Zitat, denn nicht nur Bildpostkarten selbst, sondern auch solche mit Photomontagen wurden in hohen Auflagen abgesetzt und du¨rften somit auch im Haus Schmo¨lz gut bekannt gewesen sein.

4. Medium 2: Die Bildpostkarte

Das Medium Bildpostkarte wurde um 1900 in großem Stil eingefu¨hrt und entwickelte sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg parallel zur Wirtschaftswerbung. Keine Kneipe, kein Fußballplatz und -verein kam ohne Postkarten aus, und nahezu alle Sta¨dte schmu¨ckten sich gegenu¨ber den zunehmend als Wirtschaftsfaktor erkannten 32 Ko¨ln – von Zeit zu Zeit. Photographien von Hugo Schmo¨lz, Karl Hugo Schmo¨lz, Manuela Sodies,

Bernhard Volprecht, Roland Plank, hg. v. Werner Scha¨fke/Rolf Sachsse, Ko¨ln 1992.

33 Wolfram Hagspiel, Die Ko¨lner Bauten, in:. Bruno Paul: Deutsche Raumkunst und Architektur zwi-

schen Jugendstil und Moderne. Ausstellungskatalog, hg. v. Alfred Ziffer, Mu¨nchen 1992, S. 273–282, hier S. 278–280.

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Reisenden mit Abbildungen großer Pla¨tze und vor allem der Bahnho¨fe als wichtigsten Infrastruktur-Bauten dieser Zeit.34 Nach dem Ersten Weltkrieg kamen nicht nur die neuen Verkehrsmittel wie das Flugzeug, das Luftschiff und das Automobil

Abb. 5: Dischhaus, Ko¨ln, Photomontage 1930. Architekt Bruno Paul Photograph Hugo Schmo¨lz

samt passenden Funktionsbauten hinzu, sondern es wurden auch neue Bauformen in Siedlungen und Wohnbezirken als visualisierbare Momente der positiven Identifikation entdeckt. Dabei ist interessant festzustellen, dass einzelne Neubauten der Gescha¨ftswelt gern in den sta¨dtischen Umraum eingebunden wurden, in dem sie als 34 Vgl. 10 000 Ansichtskarten. Deutschland um 1900 im Bild, hg. v. Thomas Hafki, Berlin 2001.

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starker Kontrast zu der – meist als unscho¨n empfundenen – bestehenden Baustruktur dargestellt wurden, zur Erzielung ho¨herer Akzeptanz sogar schon vorab in Photomontagen, die fu¨r ein zuku¨nftiges Kaufhaus vertrieben wurden. (Abb. 6) Diese Einbindung konnte durchaus helfen, im Sinn einer Corporate Identity Geba¨ude zum Signet eines Unternehmens zu machen, wie vor allem bei den diversen Kaufha¨usern der Schocken-Gruppe nach den Entwu¨rfen von Erich Mendelsohn, deren perfekte Visualisierung bei Tag und bei Nacht vom selbst photographisch sehr versierten Architekten u¨berwacht wurde, der sogar derartige Postkarten mit Bildmontagen befu¨rwortete und als wesentliche Neuerung die Einbeziehung der Typographie in die architektonische Gestaltung vorantrieb.35 In Stuttgart fand 1927 jene Ausstellung statt, die als wohl wichtigste Manifestation des Neuen Bauens und der modernen Architektur auf deutschem Boden zu gelten hat36, und sie wurde photographisch von einer umfassenden BildpostkartenSerie des Photographen Dr. Otto Lossen (Dresden 1875–1938 Stuttgart) begleitet, der in der Manier der Architektur-Bilderbu¨cher nicht nur einzelne Bauten wie die von Le Corbusier oder die Reihenha¨user von J. J. P. Oud vorfu¨hrte, sondern mit einer seiner Gesamtansichten ein Ensemble darstellte, das eine ganz eigene Wirkung nach sich ziehen sollte. Die erfolgreiche Postkarte mit dem Blick von der su¨dwestlichen Ecke des Baugela¨ndes auf eine Anzahl großer und kleiner Ha¨user wurde auch als Chromolithographie mit nachtra¨glicher Kolorierung ha¨ufig verkauft; zudem erschien aber im Spa¨therbst 1927 eine Photomontage aus der Gesamtansicht und einigen Figurengruppen, die einer Bildreportage des Sommers 1927 aus einem Araberdorf entnommen worden waren – fertig war die Legende von der modernen Architektur als arabisch, wie sie von konservativen Kra¨ften bis hin zu Goebbels und Hitler u¨bernommen wurde.37 (Abb. 7) Allein die – noch nicht geschriebene – Wirkungsgeschichte dieser einen Bildpostkarte kann als Paradigma der aggressiven Propaganda fu¨r und wider das Neue Bauen (in Analogie zum Neuen Sehen) angesehen werden.38

35 Regina Stephan, „Die Ware ist das Prima¨re – ihrer Anpreisung dienen alle baulichen Maßnahmen“.

Warenha¨user in Berlin, Breslau, Chemnitz, Duisburg, Nu¨rnberg, Oslo und Stuttgart 1924 bis 1932, in: Erich Mendelsohn. Gebaute Welten. Architekt 1887–1953. Arbeiten fu¨r Europa, Pala¨stina und Amerika, hg. v. Ders., Stuttgart 1998, S. 92–133. 36 Karin Kirsch, Die Weissenhofsiedlung. Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ – Stuttgart 1927, Stuttgart 1987. 37 Andreas Haus, Fotografische Polemik und Propaganda um das „Neue Bauen“ der 20er Jahre, in: Marburger Jahrbuch der Kunstwissenschaft 20 (1981), S. 90–106. 38 Ebd.

Photograph unbekannt

Abb. 6: Kaufhaus Breuninger, Stuttgart, Photomontage 1931. Architekten Eisenlohr und Pfennig, Bildpostkarte

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Photograph Dr. Otto Lossen, Montage unbekannt

Abb. 7: Weissenhofsiedlung, Stuttgart, Photomontage als Araberdorf 1927. Verschiedene Architekten, Bildpostkarte

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5. Medium 3: Die Luftbild-Schra¨gaufnahme

Schon die Postkarte der Stuttgarter Weissenhof-Siedlung war von erho¨htem Standpunkt aufgenommen worden – wahrscheinlich von einem Leitergeru¨st, wie sie in jener Zeit gebra¨uchlich waren –, doch am Ende der 1920er Jahre kommt ein neues Genre der Photographie hinzu, das in jeder Hinsicht modern war: die Luftbildphotographie, insbesondere in ihrer Version der Schra¨gsicht auf bebautes Gela¨nde. Dafu¨r wurden spezielle, langsam fliegende Flugzeuge wie der Fieseler Storch entwickelt39, und jede gro¨ßere sta¨dtische Siedlung, deren Baugesellschaft etwas auf sich hielt, wurde u¨ber Postkarten mit Luftbildern beworben, vertrieben, bekannt gemacht.40 Das gilt nicht nur fu¨r die Hufeisensiedlung Berlin-Britz, die ja erst im Luftbild ihre wahre Form offenbaren konnte, sondern fu¨r fast jede gro¨ßere Baumaßnahme, die den modernen Forderungen nach verdichteter Bebauung mit gro¨ßeren Freifla¨chen nachzukommen versuchte und sich daher am besten in der Luftbild-Schra¨gaufnahme repra¨sentieren ließ. Dabei kam es sogar zu ikonologischen Umwertungen, deren Implikationen bis heute nicht ernsthaft untersucht worden sind: Solange es Kirchenbauten gab, wurden sie als Himmel strebend von unten her dargestellt, selbst in den modernsten Auspra¨gungen, und querformatige Schilderungen ihrer – erst im 19. Jahrhundert erfolgten – Freilegung im Stadtraum widersprachen der Ideologisierung als christliche Stadtkrone schon so weit, dass selbst Hugo Schmo¨lz’ Aufnahme des Ko¨lner Doms in dieser Art mindestens als befremdlich galt und entsprechend niemals publiziert wurde. Und nun wird die Heilig-Kreuz-Kirche im Frankfurter Neubau-Viertel Nordwest von oben gezeigt – kein Wunder, dass da der Volksmund vom „Gottesschuppen“ sprach und sich Kirchenbau-Architekten wie Rudolf Schwarz kritisch u¨ber das Medium Photographie ausließen.41 (Abb. 8) Wahrhaft modern ist dagegen das Anliegen eines Buchs, das von vornherein aufkla¨rend angelegt war – nimmt man den milita¨rischen Begriff der Luftaufkla¨rung wo¨rtlich, sogar im doppelten Sinn: die Zusammenarbeit des Schriftstellers Eugen Diesel mit dem Luftschiffer und Photographen Robert Petschow.42 In diesem Buch finden sich zahlreiche Bilder von enormer Scho¨nheit, deren a¨sthetische Qualita¨t ihm auch einen Platz in der Geschichte des – derzeit als Forschungsund Sammlungs-Objekt außerordentlich gefragten – Photobuchs gesichert haben.43

39 Zur Konstruktion und Produktion fu¨r die Photographie tauglicher Langsam-Flugzeuge vgl. Thorsten

Wiederhold, Gerhard Fieseler – eine Karriere. Ein Wirtschaftsfu¨hrer im Dienste des Nationalsozialismus (Nationalsozialismus in Nordhessen 20), Kassel 2003. 40 Vgl. dazu die Arbeiten von Joost Schmidt fu¨r Dessau: Peter Stasny, Die Werkstatt als Labor. Zum pa¨dagogischen und gestalterischen Wirken von Joost Schmidt, in: Modell Bauhaus. Ausstellungskatalog, hg. v. Annemarie Jaeggi/Philipp Oswalt/Hellmut Seemann, Ostfildern 2009, S. 279–282. 41 Rudolf Schwarz, Das Anliegen der Baukunst, in: Mensch und Raum. Das Darmsta¨dter Gespra¨ch 1951 (Bauwelt Fundamente 94), Neuausgabe, Braunschweig/Wiesbaden 1991, S. 37–47, hier S. 38. 42 Wie Anm. 28. 43 The Photobook: A History volume I + II, hg. v. Martin Parr/Gerry Badger, London/New York 2004–2006; Complete as Published, hg. v. Manfred Heiting, Go¨ttingen 2012.

Photograph unbekannt

Abb. 8: Heilig-Kreuz-Kirche in der Siedlung Bornheimer Hang, Frankfurt am Main, Luftbild-Schra¨gaufnahme 1930. Architekten Martin Weber (Kirche) und Ernst May (Siedlung), Bildpostkarte

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Dennoch interessiert die beiden Autoren in erster Linie eine Genese der modernen Formen von Landschaft und Dorfkultur bis zur Entwicklung moderner Stadtstrukturen, von mittelalterlichen Gemengelagen wie in Ko¨ln u¨ber a¨hnliche Formen in Frankfurt zu den modernen Burgen wie den Kaufha¨usern etwa in Berlin (Abb. 9),

Abb. 9: Warenhaus Karstadt, Berlin-Neuko¨lln, Luftbild-Schra¨gaufnahme (aus dem Ballon), ca. 1930. Architekt Philip Schaefer Photograph Robert Petschow Quelle: Diesel, Land der Deutschen (wie Anm. 28), S. 212, Abb. 400

die sie durchaus mit den la¨ndlichen Gegenstu¨cken in Form von Ausflugsgaststa¨tten zu konterkarieren wissen. Selbstversta¨ndlich wird genau auf die Zersto¨rung der Landschaft sowohl durch die Industrie (sogar in Analogie zum Kriegsgeschehen) wie durch den Tourismus hingewiesen, wie sie sich etwa bei den nord- und ostfriesischen Inseln zeigt. Zwar werden auch neuere Entwicklungen durchaus positiv gewu¨rdigt, wie etwa eine locker angelegte Wohnsiedlung in Berlin oder auch die Jahrhundertausstellung in Breslau mit ihrer Markthalle von Max Berg aus dem Jahr 1913, aber ihr wird sogleich die mehr als 100 Jahre a¨ltere Anlage der Mu¨nchner Theresienwiese als Gela¨nde des Oktoberfestes gegenu¨ber gestellt – ganz deutlich mit der visuellen Beweisfu¨hrung einer ho¨heren Modernita¨t des a¨lteren Entwurfs.

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¨ berhaupt ist das Werk in weiten Teilen ein Reflex auf die Nutzung von BilU dern und damit eine eher postmoderne Form der Dekonstruktion mythischer Elemente im Neuen Bauen. Wo man den Mendelsohn’schen Einsteinturm ganz klein am unteren linken Bildrand suchen muss, wirkt er selbstversta¨ndlich nicht mehr so skulptural und modern wie auf den seinerzeit massenhaft vertriebenen Postkarten oder den durch ihre ausgeklu¨gelte Lichtfu¨hrung monumentalisierenden Bildern von ¨ hnArthur Ko¨ster, die der Architekt fu¨r seine eigenen Publikationen verwendete.44 A lich verfahren die Autoren Diesel und Petschow mit anderen Ikonen der Moderne: Das Hamburger Chilehaus von Fritz Ho¨ger wirkt von oben selbstredend mehr wie ein Tanker denn als der moderne Ozeandampfer (Abb. 11), als den ihn die weit verbreitete Aufnahme der Gebru¨der Dransfeld etwa auch in Walter Mu¨ller-Wulckows Buchreihe zeigt – wobei in der ersten Auflage noch eine Gebrauchsanweisung zur Betrachtung mitgegeben werden musste: „Spitze photographisch unnatu¨rlich u¨bertrieben“.45 (Abb. 10)

6. Fazit: Analoges in Photographie und Stadtgeschichte

Jeder formulierte Anspruch auf einen radikalen Bruch mit der Geschichte ist aus historischer wie psychoanalytischer Sicht als kindlich regressiv zu charakterisieren, und doch ist er fu¨r mehr als ein halbes Jahrhundert lang, vor allem u¨ber zwei Weltkriege hinweg erhoben worden, insbesondere durch die großen Protagonisten einer architektonischen Moderne und durch ihre programmatischen Schriften.46 Inszeniert und illustriert wurde dieser Anspruch in erster Linie durch photographische Bildvergleiche wie dem zwischen griechischen Tempeln und zeitgeno¨ssischen Automobilen47 oder durch Postulate der besonderen Architekturqualita¨t von Flugzeugen und Schiffen, wie sie bereits der Zeitgenosse Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung als Utopie des besseren Lebens eher karikiert, denn erfu¨llt sah.48 Allerdings fa¨llt schon beim zweiten Blick auf, wie sehr die visuellen Inszenierungen dieser Bildvergleiche tatsa¨chlich von der Kenntnis großer Mengen Bilder, also von gut bestu¨ckten und ordentlich indexierten Archiven abha¨ngig waren und es bis heute noch sind; gerade diese Archive

44 Simone Fo ¨ rster, Theorie – Entwurf – Fotografie, Erich Mendelsohns Einsteinturm in den Fotogra-

fien von Arthur Ko¨ster, in: Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universita¨t Weimar 49, 4 (2003), (Sonderheft Medium Architektur – Zur Krise der Vermittlung, Bd. 2: Workshops), S. 166–173. 45 Walter Mu ¨ ller-Wulckow, Bauten der Arbeit und des Verkehrs aus deutscher Gegenwart, Ko¨nigstein 1926, S. 71. In der zweiten Auflage 1929 ist dieser Text nicht mehr vorhanden. 46 Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, hg. v. Ulrich Conrads (Bauwelt Fundamente 1), Braunschweig 1975; Trotzdem modern. Die wichtigsten Texte zur Architektur in Deutschland 1919–1933, hg. v. Kristiana Hartmann (Bauwelt Fundamente 99), Braunschweig/Wiesbaden 1994. 47 Le Corbusier, Kommende Baukunst (Vers une Architecture), hg. v. Hans Hildebrandt, Berlin/Leipzig 1926. 48 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1974, S. 858–863, hier S. 862.

Geschichtslose Bilder vom Alten und Neuen Bauen

Abb. 10: Chilehaus, Hamburg, 1925. Architekt Fritz Ho¨ger Photographen Gebr. Dransfeld Quelle: Mu¨ller-Wulckow, Bauten der Arbeit und des Verkehrs (wie Anm. 45), S. 71

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Quelle: Diesel, Land der Deutschen (wie Anm. 28), S. 213, Abb. 401

Abb. 11: Chilehaus, Hamburg. Luftschiff-Schra¨gaufnahme von Robert Petschow

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mit ihrer breiten Menge an historischen Hinterlassenschaften markierten in mancher Hinsicht, wie es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno formulierten, eine dunkle Seite der Aufkla¨rung.49 Indem sie a¨sthetische Muster als Pra¨gung u¨berliefern, unterlaufen sie nicht nur den Anspruch auf Bruch mit der Geschichte, sondern wirken gleichsam als Bodensatz der Wahrnehmung allem so postuliertem Neuen. Doch dieser Prozess scheint sich einem Ende zuzuneigen, dessen mediale Genese auch den Begriff der Stadt als lesbaren Text vera¨ndert. Prinzipiell la¨sst sich die These aufstellen, dass die heroische Periode der modernen Architektur sich historisch mit einer a¨hnlich heroischen Periode der – wie wir heute sagen: analogen – Photographie weitgehend deckt. Dieser Prozess la¨sst sich ebenso gut von seinem Ende her betrachten50: Mit dem Verlust der Repra¨sentation des Bildes nicht nur gegenu¨ber der architektonischen Realita¨t, wie sie sich durch bereits spezifisch photographische Sichtweisen der Postmoderne – farbige Da¨mmerung unter Einbeziehung der neuen und neuesten Leuchtmittel etwa – ergibt, mit dem schnell folgenden Prozess der Digitalisierung aller photographischen Arbeitsund Distributionsvorga¨nge und der daher bereits vollsta¨ndig verloren gegangenen Referenz des Bildes auf das Reale, mit der aus o¨konomischen Vorga¨ngen folgenden Beschleunigung der Abschreibung großer Bauten und der daraus resultierenden kurzen Haltbarkeit des Gebauten hat sich eine weitgehende Umwertung des Blicks auf Architektur vollzogen, die der sta¨dtebaulichen Betrachtung und dem Selbstversta¨ndnis sta¨dtischer Existenz noch weitgehend fehlt. Florian Ro¨tzers (und zuvor Vile´m Flussers) telematische Stadt51 ist ebenso unplanbar wie Rem Koolhaas’ Bigness52, aber beide existieren fort und haben inzwischen selbst historische Bezu¨ge entwickelt – allerdings in einem ganz anderen Kontext: Echte Sta¨dtebau-Arbeit scheint es nur noch in simulatorischen Strategiespielen zu geben, die – sofern man von agierenden Personendarstellungen absieht – bereits von enormer Pra¨zision im visuellen Material des virtuell Gebauten ku¨nden, doch auch hier lohnt ein zweiter Blick auf das bildhaft Dargestellte.53 Moderne Architektur findet in diesem Kontext nicht mehr statt, nur noch die ¨ berlieferten, ja geradezu HistoristiNeu- oder Umcodierung des Vorhandenen und U schen. Noch einen Schritt weiter kann man in den virtuellen Weltentwu¨rfen wie dem

49 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufkla¨rung, Frankfurt a. M. 1969, S. 54. 50 Da die hier genannten Abbildungen sa¨mtlich nur aus ihrer Farbwirkung heraus beurteilt werden ko¨n-

nen, wurde fu¨r diesen Teil des Abdrucks auf Abbildungen verzichtet. Sa¨mtliche genannten Photographen unterhalten große Web-Pra¨senzen, an denen die hier gegebenen Thesen visuell exemplifiziert werden ko¨nnen. 51 Florian Ro ¨ tzer, Die Telepolis. Urbanita¨t im digitalen Zeitalter, Mannheim 1995. 52 Rem Koolhaas, Bigness, or the Problem of Large, in: Rem Koolhaas, Bruce Mau, OMA: Small, Medium, Large, Extra-Large, hg. v. Jennifer Sigler, Rotterdam 1995, S. 495–516. Vgl. dagegen: Bignes? Size does matter. Image/Politik. Sta¨dtisches Handeln. Kritik der unternehmerischen Stadt, hg. v. Jochen Becker, Berlin 2001. 53 Oswald Devisch, Should Planners Start Playing Computer Games? Arguments from SimCity and Second Life, in: Planning, Theory & Practice 9, 2 (2008), S. 209–226, auch unter: [letzter Aufruf 25. 7. 2011].

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inzwischen weitgehend implodierten Second Life gehen, in dem es zu keinem Zeitpunkt gelang, eine den gegebenen Mo¨glichkeiten ada¨quate Architektur zu erfinden.54 Auch wenn man sich schwebend fortbewegte, wurden Treppen gebaut; auch wenn es keinen Regen gab, hatten die meisten Ha¨user Da¨cher – offensichtlich war die Vorstellung eines virtuell sorgenfreien Lebens allzu ungewo¨hnlich. Immerhin: Wer es wagte, diese Architekturen, ihre Bewohner und sozialen Entwu¨rfe zu kritisieren – es ging da durchaus sehr vordemokratisch zu –, dem wurden reale Rechtsanwa¨lte mit Abmahnungen und strafbewehrten Unterlassungserkla¨rungen nachgesandt. Als zugespitzte These la¨sst sich aus allen diesen Erfahrungen heraus formulieren: Mit der Photographie kam die architektonische Moderne ins Stadtbild, mit diesem Medium ging sie ¨ hnliches nachweisen, auch aber auch wieder aus ihr heraus. Fu¨r den Film ließe sich A fu¨r das Medium Fernsehen: Erst die digitalen Medien erledigten den morphologischen Begriff eines Stadtbildes vollsta¨ndig.

54 Rolf Sachsse, Bauen im zweiten Leben: Architecture in Second Life, in: db. deutsche bauzeitung 141,

6 (2007), S. 18–21.

EXPO(RT)-URBANISMUS Multimediale Bauausstellungen und transatlantische Beziehungen – Stuttgart 1927 und Berlin 1957 von Nicole Huber

„Im Zeitraum eines Jahrhunderts haben sich die Internationalen Bauausstellungen zu einem Experimentierfeld der Stadtentwicklung und damit zu einem besonderen ‚Markenzeichen‘ der Planungskultur in Deutschland entwickelt, das als ‚IBA‘ weltweit Anerkennung findet.“1 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts dient die Typologie als Motor, Marketinginstrument und Experimentierfeld der Stadtentwicklung, sie „ist ein ‚Label‘ fu¨r ein international einzigartiges Instrument erfolgreicher Planungs-, Stadt- und Regionalpolitik“ und geho¨rt zu den Entwicklungsmaßnahmen, die als Instrumente „moderner Stadtentwicklungspolitik“ dienen.2 Diese Definition bezieht sich auf die Tradition der Ausstellungen in Darmstadt 1901, Stuttgart 1927, Berlin 1931, die projektierte Ko¨lner Ausstellung 1932, die Berliner IBAs 1957 und 1987, die IBA Emscher Park (1989/99) sowie die ju¨ngsten Veranstaltungen in Sachsen-Anhalt (2010) und Hamburg (2010/2013), beinhaltet jedoch zugleich, dass die „Marke IBA“ u¨ber ihre historische Bedeutung hinaus kontinuierlich aktualisiert werden muss.3 In dieser Abfolge Internationaler Bauausstellungen nehmen die Stuttgarter Veranstaltung Die Wohnung von 1927 und die Berliner Interbau von 1957 Schlu¨sselstellungen ein: Die Wohnung wird als „Manifest“ einer ersten „internationalen Moderne“,4 die Interbau als Beginn einer zweiten, „internationalen Nachkriegsmo-

1 Werner Durth, Ein Memorandum zur Zukunft internationaler Bauausstellungen, in: Netzwerk Iba

Meets Iba: Zur Zukunft Internationaler Bauausstellungen, hg. v. Rene´ Reckschwardt, Berlin 2010, S. 64–73, hier S. 64. 2 Ebd., S. 64, 67. Engelbert Lu ¨ tke Daldrup, Die sta¨dtebauliche Entwicklungsmaßnahme als Instrument moderner Stadtentwicklungspolitik, in: Sta¨dtebauliche Entwicklungsmaßnahme, hg. v. Birgitta Thurow/Steffen Hochstadt/Stephanie Terfehr, Mu¨nchen 2009, S. 1–7. Zur Geschichte s.: Johannes Cramer/Niels Gutschow, Bauausstellungen: Eine Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1984. 3 Durth, Ein Memorandum (wie Anm. 1), S. 67. 4 Karin Kirsch, Die Weissenhofsiedlung. Ein internationales Manifest, in: Moderne Architektur in Deutschland: 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit, hg. v. Vittorio Magnano Lampugnani/Romana Schneider, Stuttgart 1994, S. 205–223.

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derne“ bewertet, die die Stadtentwicklungspolitik West-Deutschlands zugleich gegen die Traditionalismen des Nationalsozialismus und der DDR abgrenzen sollte.5 Als „internationales Manifest“ ist Die Wohnung nach Karin Kirsch zugleich ein „Bilderbuch der fru¨hen modernen Architektur der Welt“.6 Mit dieser Analogie bezog sie sich auf die Publikation Internationale Architektur des Architekten und BauhausDirektors Walter Gropius, die als „Bilderbuch moderner Baukunst“ ein breites Laienpublikum ansprechen sollte.7 In Anbetracht der nicht nur analogen, sondern realen medialen Pra¨senz der Stuttgarter Ausstellung wurde schon seit den 1990er Jahren argumentiert, dass mehr als die Ausstellung selbst, deren Verbreitung durch zahlreiche Publikationen fu¨r ihren Erfolg, den Durchbruch des „modern movement“ verantwortlich sei, der als „international style“ geschichtlich gefasst,8 auch der Interbau zugeschrieben wurde. Aufgrund des internationalen Anspruchs und der medialen Pra¨senz soll im folgenden die IBA als sta¨dtische Typologie beleuchtet werden, um die zeitspezifischen Beziehungen zwischen Stadt, als „bedeutendster Form sozialer Organisation“, und Medien, als bedeutendster Form sozialer „Konnektivita¨t“, zwischen Ort und Netzwerk, sichtbar zu machen.9 In der Beziehung zwischen der Typologie der Bauausstellung und ihrem Medium der Verbreitung, dem Photobuch, zeigt sich, so das Argument, zugleich die Transformation des Expo-Urbanismus zum ExportUrbanismus und die Verschra¨nkung von sta¨dtebaulichen „Leitbildern“, den „bildhafte[n] Konkretion[en]“ ra¨umlich-gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen, und sta¨dtischen „Leitmedien“, den durch neue Techniken entstehenden Mediensystemen und -hierarchien und somit die von Architekten und Sta¨dtebauern konzipierte mediale Konstruktion der Stadt.10 Die so in der Typologie der Bauausstellung verko¨rperte Medialita¨t des Urbanen soll auf ihre Bedeutung fu¨r Konzepte erster und zweiter Moderne und somit auf ihre Implikationen fu¨r den Diskurs u¨ber die Stadt der Moderne untersucht werden.

5 Gabi Dolff-Boneka¨mper/Franziska Schmidt, Das Hansaviertel. Internationale Nachkriegsmo-

¨ berlegungen zur Neugestalderne in Berlin, Berlin 1999. Werner Durth, Utopie der Gemeinschaft. U tung deutscher Sta¨dte 1900–1950, in: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument, hg. v. Romana Schneider/Wilfried Wang, Ostfildern-Ruit 1998, S. 135–161. 6 Kirsch, Die Weissenhofsiedlung (wie Anm. 4), S. 218. Hervorhebung: N. H. 7 Walter Gropius, Internationale Architektur (Bauhausbu¨cher 1), Mu¨nchen 1925, S. 5. 8 Wolf Tegethoff/Karin Kirsch, The Weissenhofsiedlung: Experimental Housing Built for the Deutscher Werkbund, Stuttgart 1927; Richard Pommer/Christian F. Otto, Weissenhof 1927 and the Modern Movement in Architecture, in: Journal of the Society of Architectural Historians 52, 2 (1993), S. 242–244, hier S. 242. 9 Mark Shiel, Cinema and the City in History and Theory, in: Cinema and the City. Film and Urban ¨ berSocieties in a Global Context, hg v. dems./Tony Fitzmaurice, Oxford 2001, S. 1–18, hier S. 1. U setzung N. Huber. Konnektivita¨t, Netzwerk und Fluss: Konzepte gegenwa¨rtiger Medien-, Kommunikations- und Kulturtheorie, hg. v. Andreas Hepp/Friedrich Krotz/Shaun Moores/Carsten Winter, Wiesbaden 2006. 10 Werner Durth/Niels Gutschow, Planungen zum Wiederaufbau zersto¨rter Sta¨dte im Westen Deutschlands 1940–1950, Braunschweig u. a. 1988, Bd. 1, S. 161; Daniel Mu¨ller/Annemone Ligensa, Einleitung, in: Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte, hg. v. dens., Bielefeld 2009, Bd. 1, S. 14f.

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1. Urbane Typologien: Die Stadt als Ausstellung – Expo-Urbanismus

Bauausstellungen folgten zugleich der Tradition der Weltausstellung als technischer Leistungsschau und der des Gesamtkunstwerks als a¨sthetischer Gesellschaftskritik. Hier wurde die Entwicklung der Technik und die Kritik der Kunst fu¨r die Pra¨sentation zuku¨nftiger Gesellschaftsmodelle herangezogen. Aus kritischer Perspektive dienten Weltausstellungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dazu, die globalen wirtschaftlichen Verflechtungen der Stadt aufzuzeigen.11 Als Repra¨sentation gesellschaftlicher Totalita¨t wurde die Form des Gesamtkunstwerks seit den 1930er ¨ sthetisierung politischer und wirtschaftlicher Systeme kritisiert.12 Als Jahren als A Fusion dieser beiden sta¨dtischen „Event-Typologien“,13 Ausstellung und Inszenierung, diente die Typologie der Bauausstellung dazu, Visionen zuku¨nftiger Stadt zugleich in ihrer ra¨umlichen und formalen Dimension, in ihrer Ausdehnung sowie in ihren Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung sichtbar zu machen. Initiiert wurden die Bauausstellungen durch den 1907 gegru¨ndeten Deutschen Werkbund, dessen ausla¨ndische und Landesvertretungen sowie die jeweiligen Stadtverwaltungen. Außer diesen institutionellen Vernetzungen beeinflussten die personellen Verflechtungen zwischen Mitgliedern des Werkbunds, der ArchitekturSchulen sowie ku¨nstlerischen und professionellen Vereinigungen die jeweilige Ausrichtung der Ausstellung. Diese Beziehungen ermo¨glichten es, die Ausstellungen als internationale Veranstaltungen zu organisieren und deren Verbreitung als Wanderausstellung und vor allem u¨ber das Printmedium Photobuch sicherzustellen. Anhand der Konzepte der Bauausstellungen Stuttgart 1927, der projektierten Ko¨lner Ausstellung, die 1937 in Du¨sseldorf realisiert wurde, und der Berliner Interbau von 1957 soll im Folgenden argumentiert werden, dass diese nicht nur nationale und internationale, sondern vor allem trans- und supranationale Konzepte von Moderne propagierten, deren geopolitische Funktion sich zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegsdeutschland a¨nderte. Sollte die Stuttgarter Ausstellung 1927 internationale Gesellschaftsmodelle pra¨sentieren, so waren diese stark an den Entwicklungen in den USA orientiert, sollte die Du¨sseldorfer Ausstellung ausdru¨cklich eine nationale Ausstellung sein, so bereitete sie unter dem Motto „Volk ohne Raum“ die Osterweiterung vor, und war es das Ziel der Berliner Ausstellung an die internationalen Bauausstellungen der Weimarer Zeit anzuknu¨pfen, so diente sie anhand des Dualismus totalita¨rer und demokratischer Gesellschaftsmodelle dazu, Moderne als westliche Moderne zu reklamieren.

11 David Frisby, Cityscapes of Modernity, Cambridge UK 2001, Kapitel: The City Interpreted. 12 Werner Durth/Paul Sigel, Baukultur: Spiegel gesellschaftlichen Wandels, Berlin 2010, S. 261–277;

Roger Fornoff, Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer a¨sthetischen Konzeption der Moderne, Hildesheim 2004. 13 William O’Toole, Events Feasibility and Development: From Strategy to Operations, Oxford UK 2011, S. 47.

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Die Ausstellung Die Wohnung markiert eine Umstellung in der politischen Konstellation des Werkbunds. Seit der Weimarer Werkbundtagung 1923 gewannen der Direktor des Bauhauses Walter Gropius (1919–1928) und der Architekt Ludwig Mies van der Rohe an Einfluss, letzterer wurde stellvertretender Vorsitzender des Werkbunds (1926–1932) und selbst Direktor des Bauhauses (1930–1933). Damit gewann die Gruppe im Werkbund an Bedeutung, die sich vor dem Weltkrieg unter der Leitung der Architekten Henry van de Velde und Gropius fu¨r Individualita¨t und gegen die von Hermann Muthesius befu¨rwortete industrielle Typisierung eingesetzt hatten. Zugleich wuchsen die Spannungen zwischen internationalen und nationalen Lagern im Werkbund, die sich in der Mitarbeit von Werkbundmitgliedern im nationalsozialistisch ausgerichteten „Kampfbund fu¨r deutsche Kultur“ zeigten.14 1923 hatte Gropius am Bauhaus die Devise „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ ausgegeben und die Schau Internationale Architektur organisiert, an der auch Mies van der Rohe teilnahm. Diese Schau bildete die Grundlage seines ‚Bilderbuchs‘ Internationale Architektur, das die „Einheitlichkeit des modernen Baugepra¨ges“, die Form, mit dem grenzu¨berschreitenden Einfluss von „Weltverkehr und Welttechnik“, der Technik, begru¨nden sollte. Architektur sei immer „national“ und „individuell“, doch von den drei konzentrischen Kreisen „Individuum – Volk – Menschheit“ umspanne der letzte die beiden anderen, somit sei in der „modernen Baukunst [...] die Objektivierung von Perso¨nlichem und Nationalem“ erkennbar.15 Seit Beginn seiner Lehrta¨tigkeit 1923 hatte der Ku¨nstler La´szlo´ Moholy-Nagy Gropius in der Umsetzung seiner Devise unterstu¨tzt, fu¨r ihn war die Arbeit des Ku¨nstlers „internationale Versta¨ndigung mit ihren Folgerungen“.16 In den 1920er Jahren initiierte der Werkbund zahlreiche internationale Bauausstellungen im Inland und die Teilnahme an Ausstellungen im Ausland. Als IBAs konzipiert waren außer der Stuttgarter Ausstellung Wohnung und Werkraum, Breslau 1929, die Deutsche Bauausstellung Berlin 1931 und die nicht realisierte Ausstellung Die Neue Zeit Ko¨ln 1932. Im Ausland wurde an der Internationalen Kunstgewerbeausstellung in Monza 1925, der Weltausstellung in Barcelona 1929, der Ausstellung der Socie´te´ des artistes de´corateurs franc¸ais in Paris 1930 und der Internationalen Ausstellung in Wien 1932 teilgenommen. Durch Internationalita¨t wollte der Werkbund an seine Vorkriegs-Ziele anknu¨pfen, jedoch entgegen dem zu dieser Zeit verfolgten Weltmacht-Anspruch als „Gewissen der Nation“ der Friedenssicherung dienen.17 Zahlreiche Mitglieder waren seit 1918 in internationalen Ku¨nstlervereinigungen und im Vo¨lkerbund ta¨tig gewesen oder noch aktiv. Der Gescha¨ftsfu¨hrer des Werkbunds Ernst Ja¨ckh war vor und wa¨hrend des Krieges fu¨r die fu¨hrende Rolle Deutschlands innerhalb eines „gro¨ßeren Mitteleuropa“ eingetreten,18 nach dem Krieg war er in der Deutschen Liga fu¨r den

14 Durth/Sigel, Baukultur (wie Anm. 12), S. 162–278. 15 Gropius, Internationale Architektur (wie Anm. 7), S. 7. 16 La´szlo´ Moholy-Nagy, Malerei Fotografie Film (Bauhausbu¨cher 8), Mu¨nchen 1927, S. 36. 17 Hans Poelzig, zit. in: Durth/Sigel, Baukultur (wie Anm. 12), S. 169. 18 Ernst Ja¨ckh, Das gro¨ßere Mitteleuropa, Weimar 1916.

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Vo¨lkerbund aktiv und vertrat „Internationalita¨t als Tatbestand“.19 Dieses Bekenntnis zu Internationalita¨t sollte zugleich dem Instrument von Rationalisierung und Industrialisierung, der Technik, und deren sozialpolitischer Kritik, der Kunst, Rechnung tragen. Dienten direkt nach dem Krieg die russischen Arbeiterra¨te als Modell internationaler Vergesellschaftung, so wurde, versta¨rkt durch das 1924 in Kraft getretene Hilfsprogramm des Davesplans, Amerika zum Vorbild. Doch auch die Ausrichtung des Werkbunds a¨nderte sich. Wurde vor dem Krieg dem fru¨hen Friedrich Nietzsche folgend die Einheit des Stils, als Ausdruck der Einheit in allen Lebensa¨ußerungen befu¨rwortet, so knu¨pfte die neue Generation an die Forderung des spa¨ten Nietzsche an, zum „sich-selber-Gesetzgebenden“ zu werden. Diese Position wird besonders an der Konzeption der Internationalita¨t der Stuttgarter Ausstellung deutlich. Die Wohnung und die begleitende Internationale Plan- und Modellausstellung Neuer Baukunst wurden durch den Vorsitzenden des Deutschen Werkbunds, den Industriellen Peter Bruckmann, und dessen Mitarbeiter Gustav Stotz initiiert.20 Mies van der Rohe wurde 1925 zum ku¨nstlerischen Leiter der Ausstellung bestimmt und, mit Lilly Reich, mit Beitra¨gen zur Begleitausstellung betraut. Der Architekt Ludwig Hilberseimer organisierte die Internationale Plan- und Modellausstellung, der Ku¨nstler Werner Graeff fungierte als Pressechef. An der Bauausstellung nahmen Architekten ¨ sterreich teil, die Begleitausaus Belgien, Deutschland, Frankreich, Holland und O stellung pra¨sentierte Beispiele „neuer Baukunst“ aus Europa und Amerika und war zwischen 1928 und 1930 in mehreren europa¨ischen Sta¨dten zu sehen. Die 1925 formulierten Pla¨ne zur Ausstellung sahen die „Darstellung der rationellen Wohnung und des Wohnungsbetriebs mit internationalem Einschlag“ vor.21 Die offizielle Verlautbarung der Stadt und des Werkbunds erkla¨rte, dass die Auswirkungen der „Rationalisierung auf allen Gebieten unseres Lebens“ hinsichtlich der „Wohnungsfrage“ thematisiert werden sollten.22 Nach Auffassung des Stuttgarter Stadterweiterungsamts schlug Mies van der Rohes Siedlungsentwurf eine mit der Tradition brechende Bauweise vor, die durch ihre „abstrakte Form als internationale Kunst“ bezeichnet werden mu¨sse und weltweit verbreitet sei. Somit sei es versta¨ndlich, dass mit diesem „Baustil“ vertraute Architekten von „internationalem Ruf“ mit der Realisierung beauftragt worden seien.23 Fu¨r Mies sollte sich Die Wohnung gerade nicht auf die Fragen der Rationalisierung und Typisierung, sondern auf die „wirkliche bauku¨nstlerische Frage“ konzen-

19 Ders., Idee und Realisierung der Internationalen Werkbundausstellung ‚Die Neue Zeit‘ Ko¨ln 1932

(1929), wieder abgedruckt in: Die Form. Stimme des deutschen Werkbundes 1925–1934, hg. v. Felix Schwarz/Franz Gloor, Gu¨tersloh 1969, S. 32–62, hier S. 61f. 20 Karin Kirsch, Die Weissenhofsiedlung: Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ – Stuttgart 1927, Stuttgart 1987. Richard Pommer/Christian F. Otto, Weissenhof 1927 and the Modern Movement in Architecture, Chicago 1991; Karin Kirsch/Jean L. Cohen/Manfred Sack/Ludwig Hilberseimer, Neues Bauen International 1927–2002, Berlin 2002. 21 Besprechung zwischen Vertretern der Stadt, des Deutschen Werkbundes und des Bau- und Heimsta¨ttenvereins am 7. 5. 1925, zit. in: Kirsch, Die Weissenhofsiedlung (wie Anm. 20), S. 20. 22 Denkschrift vom 27. 06. 1926, zit. in: ebd. 23 Tagebuch des Stadterweiterungsamtes, 15. 10. 1925, zit. in: ebd., S. 46.

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trieren, die fu¨r ihn eine Frage geistiger Entscheidung darstellte.24 Nach Hilberseimer erkla¨rte sich die formale Einheitlichkeit der Internationalen Neuen Baukunst weder aus einem Stil noch aus Techniken der Rationalisierung, sie war vielmehr „elementarer Ausdruck einer neuen Baugesinnung“, die „Einheitlichkeit ihrer Erscheinungsform“ belegte ihre „geistige Verbundenheit u¨ber alle Grenzen hinweg“.25 Der Anspruch der Internationalita¨t war fu¨r Mies und Hilberseimer nicht neu, sie waren Mitglieder der sogenannten G Gruppe, einer auf die Berliner Dadaisten zuru¨ckgehenden Ku¨nstlergruppe. Diese hatten 1920 die Erste Internationale Dadamesse organisiert, die Repra¨sentanten aus Frankreich, der Schweiz und den USA zusammenbringen wollte. Die G Gruppe wurde von dem Dadaisten Hans Richter und dem Maler Viking Eggeling gegru¨ndet, ihr geho¨rten unter anderen El Lissitzky, Raoul Hausmann, Frederic Kiesler und Man Ray an.26 Hieraus entstand die Zeitschrift G, Material zur elementaren Gestaltung (1923–26), die von Richter, El Lissitzky und Graeff herausgegeben und von Mies finanziell sowie mit Beitra¨gen unterstu¨tzt wurde.27 Seine ‚abstrakte Form‘ ‚internationaler Kunst‘ hatte Mies anhand der Photomontagen der Dadaisten entwickelt, doch wa¨hrend deren Verfahren, so Andreas Lepik, durch die Zerlegung und Neugruppierung vorgefundener Einheit charakterisiert war, verwendete Mies eine Zeichnung als Geru¨st, der er die Montage unterordnete.28 Mies setzte nicht nur das Prinzip photographischer Montage in seinen Beitra¨gen fu¨r die Ausstellungen Stuttgart 1927, Barcelona 1929 und Berlin 1931 um, grundlegender entwickelte er, so Wallis Miller, anhand dieser Montage sein ra¨umliches Versta¨ndnis der Architektur.29 Mies hatte sein Konzept internationaler Architektur jedoch auch in Auseinandersetzung mit Frank Lloyd Wrights Auffassung „organischer“ Architektur entwickelt und zuerst 1921/22 in seinem Entwurf fu¨r ein Glashochhaus an der Berliner Friedrichstraße umgesetzt.30 Ebenfalls 1925 diente die Werkbund-Jahresversammlung dazu, die Planung zu der Internationalen Werkbund-Ausstellung – Die Neue Zeit zu diskutieren, die zuna¨chst 1930 in Berlin oder Ko¨ln stattfinden sollte.31 Mit diesem Plan reagierte der Werkbund zum einen auf die Pariser Exposition internationale des arts de´coratifs et industriels modernes von 1925, an der weder Deutschland noch die USA teilgenommen 24 Ludwig Mies van der Rohe, Vorwort, in: Bau und Wohnung, Die Bauten der Weissenhof Siedlung,

Stuttgart 1927, S. 7.

25 Ludwig Hilberseimer, Internationale Neue Baukunst (Baubu¨cher 3), Stuttgart 1928, S. 5. 26 Werner Graeff, U ¨ ber die sogenannte ‚G-Gruppe‘, in: Werk und Zeit 11 (1962); Gerda Breuer,

„Bestimmte Gedanken liegen in der Luft“. Graeff und die Zeitschrift G, in: Werner Graeff, 1901–1978. Der Ku¨nstleringenieur, hg. v. Werner Breuer/Ders., Berlin 2010. 27 G: An Avant-Garde Journal of Art 1923–1926, hg. v. Detlef Mertins/Michael W. Jennings, Los Angeles 2010. 28 Andres Lepik, Mies und die Photomontage, 1910–38, in: Mies in Berlin, hg. v. Terence Riley/Ludwig Mies van der Rohe/Barry Bergdoll/Vittorio Magnago Lampugnani, New York 2001, S. 324–329. 29 Wallis Miller, Mies van der Rohe und die Ausstellungen, in: ebd., S. 338–349. 30 Detlef Mertins, Living in a Jungle: Mies, Organic Architecture and the Art of City Building, in: Mies in America, hg. v. Phyllis Lambert, Montre´al/New York 2001, S. 591–641. 31 Annemarie Jaeggi, „Die Neue Zeit“, Ko¨ln 1932 – Weltgestaltung in einem von Technik und Industrie gepra¨gten Zeitalter, in: 100 Jahre Deutscher Werkbund 1907–2007, hg. v. Winfried Nerdinger, Mu¨nchen 2007, S. 150–154.

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hatten. Zum anderen sollte an die durch den Kriegsbeginn 1914 unterbrochene Werkbund-Ausstellung in Ko¨ln angeknu¨pft werden. Der Ausstellungskommission geho¨rten zuna¨chst unter anderen Bruckmann, der Architekt Richard Riemerschmid und Mies van der Rohe an, 1928 wurde Ernst Ja¨ckh die Leitung u¨bertragen. Nach Riemerschmid sollte die Ausstellung die „geistige Einheitlichkeit der Form“ in allen „Lebensa¨ußerungen“ demonstrieren und somit Nietzsches Definition von Stil entsprechen. Diese Einheitlichkeit sollte in Kunst, Kunsthandwerk und Ingenieurleistungen zu sehen sein, um im Anbetracht eines von Technik und Industrie gepra¨gten Zeitalters dem Anspruch einer „Weltgestaltung“ gerecht zu werden. Dieser Gedanke sollte nicht nur dem Verstand, sondern als „Biblia pauperum den offenen Augen“ vermittelt werden.32 Fu¨r Mies dienten Ausstellungen zugleich als „Instrumente wirtschaftlicher und kultureller Arbeit“. Das Ziel der Ausstellung Die Neue Zeit war die Steigerung der funktionellen, wirtschaftlichen und a¨sthetischen Qualita¨t der Produkte, die „Durchgeistigung der Arbeit“, womit er sich auf das gleichlautende Werkbund-Ziel von 1912 berief. Das Ziel der Ausstellung war jedoch nicht Einheitlichkeit, sondern „internationaler Vergleich“.33 Fu¨r Ja¨ckh fungierte der „Typus“ der Ausstellung als wirtschaftspolitisches Mittel, als „staatliches, nationales und politisches Kampfmittel“.34 Er forderte eine „Ausstellungspolitik“, in der die Ausstellung als „Technik der Politik“ und umgekehrt die „Politik der Technik“ der Ausstellung, ihre Organisation und Produktion als Mittel der Wirtschafts-, Prestige-, und Machtpolitik eingesetzt werden solle.35 Die Arbeit an der „Politikbestimmtheit“, „Planma¨ßigkeit“ und „Formsicherheit“36 der Ausstellungen ko¨nnten Deutschland nicht nur im europa¨ischen Kontext, im „Wirtschaftsblock Mitteleuropa“, eine zentrale Stellung sichern, sondern daru¨ber hinaus als „nationale Tat [...] von internationaler Wirkung fu¨r Wirtschaft und Politik“ zur Friedenssicherung beitragen.37 In diesem Interesse sollten Ausstellungen nicht als Instrument eines internationalen Vergleichs, sondern eines geopolitischen Ausgleichs dienen. Mit Bezug auf Max Schelers Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs konstatierte er, dass die gemeinsamen Erfahrungen des Weltkriegs keine „Neutralita¨t“ sondern nur noch „Mit-betroffen-sein“ zulasse und somit eine internationale und interkontinentale Solidarita¨t gegen den Krieg ermo¨glichen wu¨rden. Es sei eine „neue ‚Geopolitik‘“ entstanden, eine „‚Erdball‘-Politik“, in der nicht das Gleichgewicht des „Erdteils“ sondern des „Erdganzen“ wichtig sei, da jeder „Einzelpunkt“ die „Gesamtheit“ betreffe. 32 Richard Riemerschmid, Werkbundausstellung 1930, Kopie eines unsignierten Typoskripts,

13. 2. 1926, zit. in: Winfried Nerdinger, Richard Riemerschmid vom Jugendstil zum Werkbund: Werke und Dokumente, Mu¨nchen 1982, S. 449, Nr. 618. Hervorhebung im Original. 33 Ludwig Mies van der Rohe, Konzeptpapier „Die Neue Zeit – Eine Ausstellung von Qualita¨ts- und Ho¨chstleistungen“, 13. 1. 1928 von Mies an Riemerschmid, zit. in: ebd., S. 500f., hier S. 500. Die Durchgeistigung der deutschen Arbeit: Wege und Ziele in Zusammenhang von Industrie, Handwerk und Kunst, hg. v. Deutscher Werkbund, Jena 1912. 34 Ernst Ja¨ckh, Neudeutsche Ausstellungspolitik, in: Vero¨ffentlichungen des Deutschen Ausstellungsund Messeamtes 1, 4 (1928), S. 48–77, hier S. 49, 50. 35 Ebd., S. 54f., 50. 36 Ebd., S. 57. 37 Ebd., S. 64, 76.

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Eine solche Geopolitik einer „Gesellschaft der Nationen“ produziere nicht Konkurrenz sondern Kooperation.38 In diesem Sinn sah Ja¨ckh „Internationalita¨t als Tatbestand“. Die „Neue Zeit“ war ein „internationaler Tatbestand, ein Lebensvorgang“ und somit eine „Totalita¨t“, sie war „die Angelegenheit der ganzen Welt“.39 Dieser Tatbestand a¨ußerte sich in einem „neuen Formbewußtsein“,40 das Ja¨ckh, wie Gropius, in der Verbindung von „Kunst und Technik“ zur „technische[n] Form“ sah. Diese sei „Ausdruck einer neuen Zeit, ihres Gesichts und ihrer Gesinnung“,41 diese Form sei zugleich „kosmisch“, da sie auf den Naturgesetzen basierte, und „universal“ als „anerkanntes Gemeingut“ der Gegenwart. Ku¨nstler, die u¨ber ein solches Formbewusstsein verfu¨gten, waren nach Ja¨ckh van de Velde und Moholy-Nagy. Um die Entwicklung dieses Formbewusstseins zu fo¨rdern, sollte die Ausstellung die Themen von der „Formung des Menschen“ bis zur „Ordnung der Welt“ pra¨sentieren, diese jedoch nicht linear, sondern als Ring wechselseitiger Abha¨ngigkeit organisieren. Aus dem Tatbestand der Internationalita¨t folgerte Ja¨ckh die Notwendigkeit einer „internationalen Beteiligung der Vo¨lker“ und einer „u¨bernationalen Unterordnung“ der Staaten unter das gemeinsame Schicksal der „Neuen Zeit“, somit die Akzeptanz der Ausstellungsidee und -realisierung.42 Aufgrund dieses Anspruchs sollte der Katalog ein „geistesgeschichtliches, enzyklopa¨disches Werk“ werden, die Ausstellung selbst als dessen Illustration dienen.43 Dieser kosmisch-universale, somit supranationale „Ausdruckswille“ der ‚neuen Zeit‘ zeigte sich jedoch nicht u¨berall gleichermaßen, sondern besonders in der transnationalen Beziehung der „europa¨ischen und amerikanischen Gegenwart“.44 Aus seiner Erfahrung wiederholter USA-Aufenthalte45 schloss Ja¨ckh: Das „‚amerikanische Herz der Welt‘ und das ‚deutsche Herz Europas‘ – sie schlagen im gleichen Rhythmus“.46 Fu¨r Ja¨ckh konnten die USA als politisches Vorbild deutscher Vorherrschaft in Europa dienen,47 innenpolitisch als „Gemeinschaft der gleichen Chancen“, außenpolitisch durch die Strategie eines „pazifistischen Imperialismus“.48 Ja¨ckh war nicht nur fu¨r Die Neue Zeit zusta¨ndig, sondern auch Mitglied des Komittees fu¨r die Section Allemande der Ausstellung der Socie´te´ des artistes de´corateurs franc¸ais, mit deren Umsetzung Gropius beauftragt wurde. Seinen Ansatz einer supra38 ders., Idee und Realisierung (wie Anm. 19), S. 58f. 39 Ebd., S. 61. 40 ders., Neudeutsche Ausstellungspolitik (wie Anm. 34), S. 70. 41 Ebd., S. 69. 42 ders., Idee und Realisierung (wie Anm. 19), S. 61f. 43 Ebd., S. 48. 44 Ebd., S. 61. 45 Rainer Eisfeld, Amerikanische Lo¨sungen fu¨r Weimarer Probleme? Amerikabilder und ihre Folgen bei

Ernst Ja¨ckh und Arnold Wolfers, in: Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft wa¨hrend der Weimarer Republik, hg. v. Manfred Gangl, Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 181–189, hier S. 184f. 46 Ebd., S. 182. 47 Ernst Ja¨ckh, A United States of Europe – Is it Possible?, Vortrag, o. J. (1931), Manuskript, zit. in: Eisfeld, Ausgebu¨rgert und doch angebra¨unt: Deutsche Politikwissenschaft 1920–1945, Baden-Baden 1991, S. 182, Anm. 152. 48 Ernst Ja¨ckh, Amerika und wir. Amerikanisch-deutsches Ideen-Bu¨ndnis, Stuttgart 1929, S. 17, 13.

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nationalen Architektur pra¨sentierte dieser zusammen mit seinen Bauhaus-Kollegen Moholy-Nagy und Herbert Bayer anhand der amerikanischen Typologie des Bordinghouses. Wie Gropius in Die soziologischen Grundlagen der Minimalwohnung fu¨r die sta¨dtische Industriebevo¨lkerung ausfu¨hrte, hatte er die Typologie anhand der Studie Die Entwicklungsstufen der Menschheit des Soziologen Ferdinand Mu¨llerLyer, sowie „biologischen“ Grundlagen entwickelt, die die Hygieniker Paul Vogler und Wilhelm von Drigalski formuliert hatten.49 Die Pra¨sentation u¨berlies Gropius Moholy-Nagy und Bayer, die, ‚dem Raumbegriff des Neuen Bauens entsprechend‘, die Ausstellung als Montageensemble und „Fotoschau“ inszenierten.50 Ihre Photomontage-Inszenierungen entwickelten Gropius mit Moholy-Nagy und Xanti Schawlnsky sowie Mies mit Lilly Reich und seinem Mitarbeiter Karl Otto in der Sektion Die Wohnung unserer Zeit der Berliner Deutschen Bauausstellung 1931, sowie in der Ausstellung The International Style weiter, die 1932 am neu gegru¨ndeten Museum of Modern Art in New York stattfand.51 Nach 1933 verwendeten sie diese mit gea¨nderten ideologischen Begru¨ndungen in ihren Beitra¨gen fu¨r die erste Ausstellung der Trilogie Deutsches Volk – Deutsche Arbeit 1934, Das Wunder des Lebens 1935, Deutschland 1936. Gropius’, Mies’ und Ja¨ckhs Modelle von Internationalita¨t variierten – Gropius sah diese supranational-anthropologisch, Mies wertpluralistisch und Ja¨ckh als dialektische Einheit – doch waren sie jeweils an den USA orientiert. Diese Orientierungen an und die Verbindungen in die USA sollten fu¨r ihre Karrieren grundlegend werden.52 Wie Jean Louis Cohen bemerkte, waren die deutschen Architekten, die in den USA als Protagonisten der Moderne gefeiert wurden, bewusste Fo¨rderer des Amerikanismus.53 Nachdem eine Karriere unter dem neuen Regime unwahrscheinlich schien, emigrierten Gropius und Moholy-Nagy 1934 zuna¨chst nach England, 1937 erhielt Gropius einen Ruf an die Harvard University, Moholy-Nagy startete das New Bauhaus in Chicago. Mies nahm 1938 eine Stelle am IIT an. Ja¨ckh emigrierte 1933 nach England und lehrte ab 1940 an der Columbia University. Nach der „Gleichschaltung“ des Werkbundes 1933, dessen Einordnung in die „ku¨nstlerische[n] Gesinnung“ von Staat und Partei,54 wurde die Konzeption der 49 Walter Gropius, Die soziologischen Grundlagen der Minimalwohnung, in: Die Justiz 5, 8 (1929),

S. 454–466, hier S. 461f.; Tanja Poppelreuter, Social Individualism. Walter Gropius and his Appropriation of Franz Mu¨ller-Lyer’s Idea of a New Man, in: Journal of Design History 24, 1 (2011), S. 37–58. 50 Marcel Breuer, Werbung fu¨r das eigene und das Neue Bauen. Walter Gropius und die Fotografie, in: Walter Gropius. Amerikareise 1928, hg. v. dems., Berlin 2008, S. 75–125, hier S. 116. 51 Henry-Russell Hitchcock/Philipp Johnson, The International Style, New York 1932. 52 Terence Riley, Mies van der Rohe und das Museum of Modern Art, in: Mies in Berlin (wie Anm. 28), S. 11–23. 53 Jean Louis Cohen, Deutsche Erwartungen an Amerika: Mies van der Rohes Stadtvisionen, in: ebd., S. 363–371. Zur USA-Orientierung genereller: Zukunft aus Amerika, hg. v. Stiftung Bauhaus Dessau/ Lehrstuhl Planungstheorie RWTH Aachen, Berlin 1995. Amerikanisierung: Traum Und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, hg. v. Alf Lu¨dtke/Inge Marszolek/Adelheid von Saldern, Stuttgart 1996. 54 Bericht u¨ber die Rede des Beauftragten fu¨r die ‚Gleichschaltung‘ der Ku¨nstlerverba¨nde des Preußischen Kultus- und Hochschulministers Winfried Wendland, zit. in: 100 Jahre Deutscher Werkbund (wie Anm. 31), S. 201.

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Ausstellung Die Neue Zeit weiterverfolgt und 1937 unter dem Titel Schaffendes Volk im Rahmen weitreichender Weichenstellungen in Du¨sseldorf realisiert.55 Im selben Jahr nahm Deutschland an der Weltausstellung in Paris teil und veranstaltete die Ausstellung Entartete Kunst. Die Ausstellung Gebt mir vier Jahre Zeit sollte als Bestandsaufnahme des seit 1933 Erreichten, die Ausstellung Schaffendes Volk zugleich die Restrukturierung des „Reiches“ in Gaue pra¨sentieren und unter dem Motto „Volk ohne Raum“ Mobilmachung und Osterweiterung vorbereiten. Da die Ausstellung gezielt nicht als internationale Ausstellung konzipiert wurde, konnte sie von Ko¨ln nach Du¨sseldorf verlegt werden, womit der Position der Stadt als Gauhauptstadt Rechnung getragen werden sollte. Im selben Jahr wurde fu¨r Frankfurt eine „Umstellung im Siedlungswesen“ angeku¨ndigt, die die „Gesamtkolonisation des Reichs“ durch „Gauplanung“ vorsah. Ziel sei es, den „Gegensatz von Stadt und Land aufzuheben, und [...] fu¨r die Durchkolonisierung der Sta¨dte und der zu ihnen geho¨rigen Stadtlandschaften ganz neue gelockerte Formen [zu] finden, die auch den Forderungen des Luftschutzes Rechnung tragen“.56 In diesem Sinn pra¨sentierte die Du¨sseldorfer Ausstellung unter der ku¨nstlerischen Leitung von Emil Fahrenkamp den Entwurf fu¨r den Ausbau der Stadt zur Gauhauptstadt, sowie, unter Leitung des Planers Gustav Langen, die Hallen Deutscher Lebensraum, in denen Typologien sta¨dtischer Dezentralisierung anhand von Photographien, Karten und Modellen gezeigt wurden. Nach dem Motto „Der Appell ans Staunen geht durchs Auge“ wurden hier auf 400 qm Wandfla¨che Photographien von Siedlungstypologien pra¨sentiert.57 Langens Typologien sollten zuna¨chst die Umsiedlung aus Ballungsgebieten veranschaulichen. Anhand der Siedlungstypologie der Kleinstadt von 20 000 Einwohnern und an Großsta¨dten wie am Beispiel Du¨sseldorfs wurde die wu¨nschenswerte „Auflockerung zu starker Anha¨ufungen“ und die Umsiedlung in kleinstadtartige Kerne aufgezeigt. Daru¨ber hinaus fungierten sie als Modelle der Besiedlung zu annektierender Gebiete. Wie schon in der Halle „Reichsna¨hrstand“ aus dem Vergleich mit den Siedlungsdichten Russlands, Amerikas und Frankreichs gefolgert wurde, dass Deutschland ein „Volk ohne Raum“ sei,58 so wurde hier anhand einer Karte der weltweiten Bevo¨lkerungsdichte die „Enge des deutschen Lebensraums“ dargestellt,59 und der Anspruch auf die „bessere Verteilung der deutschen Bevo¨lkerung“ in weniger besiedelten Gebieten angemeldet.60 Die hier pra¨sentierte Typologie entsprach der Dezentralisierung des Sta¨dtischen, die von Wilhelm Wortmann und

55 Stefanie Scha¨fers, Vom Werkbund zum Vierjahresplan: Die Ausstellung Schaffendes Volk, Du¨sseldorf

1937, Du¨sseldorf 2001. 56 Wolfgang Bangert, zit. in: Durth/Sigel, Baukultur (wie Anm. 12), S. 381. 57 [M. R.], Schaffendes Volk, in: Neue Zu¨rcher Zeitung Nr. 912, vom 21. 5. 1937, S. 6. Zit. in: Scha¨fers,

Vom Werkbund zum Vierjahresplan (wie Anm. 55), S. 237. 58 Reichsausstellung Schaffendes Volk, Du¨sseldorf 1937, Amtlicher Fu¨hrer, Du¨sseldorf 1937, S. 24. 59 Ebd., S. 134. 60 Ernst Walther, Der Deutsche Lebensraum, in: Reichsausstellung ‚Schaffendes Volk‘ Du¨sseldorf 1937.

Ein Bericht, hg. v. Ernst W. Maiwald, Du¨sseldorf 1939, Bd. 1, S. 63–78, hier S. 69. Zit. in: Scha¨fers, Vom Werkbund zum Vierjahresplan (wie Anm. 55), S. 239.

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Hans Bernhard Reichow zur Implementierung im „neuen deutschen Osten“ vorgeschlagen wurde,61 sowie den sta¨dtebaulichen Konsequenzen der Kriegsfu¨hrung, die Mies’ ehemaliger Mitarbeiter Karl Otto als Oberbaurat im Reichsluftfahrtministerium unter dem Titel Luftkrieg und Sta¨dtebau vorlegte.62 Wie Langen setzte Otto auf Lauftaufnahmen. So konnte Deutschland von der „Vogelschau-Planung“ der „Luftkrieg und Industrieplanung in USA“ hinsichtlich der „Standortwahl der Industrieanlagen, der aufgelockerten Anordnung der Geba¨ude“ sowie der „Tarnmaßnahmen“ lernen.63 1944 bekra¨ftigte er die Empfehlung sta¨dtischer Auflockerung, die von Johannes Go¨deritz als Gedankenskizze u¨ber die ku¨nftigen Richtlinien zum Wiederaufbau zersto¨rter Sta¨dte formuliert und zusammen mit Roland Rainer und Hubert Hoffmann bis Anfang 1945 unter dem Titel Die gegliederte und aufgelockerte Stadt ausgearbeitet wurde.64 Diese Typologie wurde auch nach 1945 von den Bauausstellungen der Constructa, Hannover 1955, und der Interbau Berlin 1957 vertreten, deren Begleitausstellung Die Stadt von Morgen war, so Sandra Wagner-Conzelmann, ein „Manifest des gegliederten und aufgelockerten Sta¨dtebaus“.65 Die Typologie sollte dazu dienen, die Stadtentwicklungspolitik West-Deutschlands zugleich gegen die ‚Traditionalismen‘ der NS Zeit und der DDR abzugrenzen, Sta¨dtebau und Architektur wurden zu einem „Instrument der Systemkonkurrenz“ zwischen Ost- und Westdeutschland.66 Ermo¨glicht wurde diese Kontinuita¨t einerseits durch ehemalige Mitarbeiter in Speers Planungsstab wie Rudolf Hillebrecht, Konstanty Gutschow, Hans Stephan, andererseits durch die Beziehung, die zu den Bauausstellungen von 1900 bis 1933 hergestellt wurde. Die Schlu¨sselidee der Interbau, die Verzahnung von Gru¨n und

61 Wilhelm Wortmann, Der Gedanke der Stadtlandschaft, in: Raumforschung und Raumordnung, 1941,

Heft 1, S. 15. Hans Bernhard Reichow, Grundsa¨tzliches zum Sta¨dtebau im Altreich und im neuen deutschen Osten, in: Raumforschung und Raumordnung (1941), Heft 3–4. Zit. in: Durth/Sigel, Baukultur (wie Anm. 12), S. 383. 62 Karl Otto, Luftkrieg und Sta¨dtebau, in: Raumforschung und Raumordnung 4, 9 (1940), S. 341–344. Zur Bedeutung sta¨dtebaulicher Dezentralisierung, Gliederung und Auflockerung zur Zeit des Nationalsozialismus: Tilman Harlander, Zwischen Heimsta¨tte und Wohnmaschine. Wohnungsbau und Wohnungspolitik in der Zeit des Nationalsozialismus, Basel u. a. 1995; Ders., Suburbanisierung – Zwischen Reagrarisierung und Evakuierung, in: Villa und Eigenheim. Suburbaner Sta¨dtebau in Deutschland, hg. v. dems. u. a., Stuttgart u. a. 2001, S. 250–257; Ders., Zentralita¨t und Dezentralisierung – Großstadtentwicklung und sta¨dtebauliche Leitbilder im 20. Jahrhundert, in: Zentralita¨t und Raumgefu¨ge der Großsta¨dte im 20. Jahrhundert, hg. v. Clemens Zimmermann, Stuttgart 2006, S. 23–40. Fu¨r den Hinweis danke ich Clemens Zimmermann. 63 Karl Otto, Luftkrieg und Industrieplanung in USA, in: Bauwelt 32, 13 (1941), S. 205–208, hier S. 205, 208. 64 S. Durth/Sigel, Baukultur (wie Anm. 12), S. 385 65 Sandra Wagner-Conzelmann, Die Sonderausstellung die Stadt von morgen als Programmatik von gestern, in: Die Stadt von Morgen: Beitra¨ge zu einer Archa¨ologie des Hansaviertels Berlin, hg. v. Annette Maechtel/Kathrin Peters, Ko¨ln 2008, S. 22–33, hier S. 27. Zu Interbau und Begleitausstellung: dies, Die Interbau 1957 in Berlin, Petersberg 2007. 66 Werner Durth/Niels Gutschow, Architektur und Sta¨dtebau der Fu¨nfziger Jahre, Bonn 1990; Wagner-Conzelmann, Die Sonderausstellung (wie Anm. 65), S. 30.

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Bebauung, sollte an die Ausstellungen in Stuttgart 1927, Barcelona 1929 und Berlin 1931 anschließen. Diese Kontinuita¨t sollte durch Architekten gewa¨hrleistet werden, die schon zur Weimarer Zeit ta¨tig waren. Auch Karl Otto hatte seit 1927 durch seine Mitarbeit in Mies’ Bu¨ro Erfahrung auf diesem Gebiet. Er hatte bis 1935 an fast allen Ausstellungsprojekten des Bu¨ros mitgearbeitet, 1932 war er in den Vorstand des Deutschen Werkbundes gewa¨hlt worden und wurde auch nach dem Krieg wieder in diesem aktiv. Nachdem Mies van der Rohe als einer der Gutachter seine Entnazifizierung unterstu¨tzt hatte, wurde Otto 1950 Direktor der Meisterschule fu¨r das gestaltende Handwerk in Hannover, 1951 entwickelte er mit Gutschow die Abteilung Sta¨dtebau und Ortsgestaltung fu¨r die Constructa, 1955 wurde er zum Direktor der Berliner Hochschule fu¨r Bildende Ku¨nste (HfBK) und darauf in den leitenden Ausschuss der Ausstellung Die Stadt von Morgen im Rahmen der Interbau berufen. Otto bezog sich in seinen Konzeptionen der Constructa und der Interbau direkt auf die Ausstellungen von 1929 und 1931. Wie die Ausstellungen der Weimarer Zeit sollten diese nach der „Katastrophe“ des Weltkriegs als „Kunstwerke“ fungieren, die „Bestand und Gesundung unseres Volkes“ wa¨hrend des Wiederaufbaus der Sta¨dte sicherten.67 Als Internationale Bauausstellung sollte hier das „Neue Bauen“68 der Nachkriegszeit realisiert werden, auf dem Gebiet „Raumplanung und Sta¨dtebau“ sollten Verkehrsprobleme und „Gru¨ne Großstadt“ im Zusammenhang mit der Landschaftsgestaltung behandelt werden.69 Die Sektion „Stadt der Zukunft“ sollte als Kritik des „Mo¨glichen“ und „Vorgriff“ auf utopische Entwicklungen fungieren.70 Die Interbau im Hansaviertel wurde unter dem Titel „Stadt von heute“ durchgefu¨hrt, die Sektion der „Stadt der Zukunft“ als „die Stadt von Morgen“ umgesetzt. Otto wurde fu¨r die fachliche und architektonisch-ku¨nstlerische Leitung der Ausstellung eingesetzt, Erich Ku¨hn, zwischen 1933 und 1945 Leiter des Planungsamts in Eberswalde und Kreisbaurat in Minden, u¨bernahm die sta¨dtebaulich-wissenschaftliche Leitung. Dieser Bereich wurde unter den Themen „Stadt und Mensch“, „Stadt und Natur“, „Stadt und Verkehr“ sowie „Stadt und Gesundheit“ in der Ausstellung pra¨sentiert.71 Seine Ausstellungskonzeption realisierte Otto zusammen mit dem jungen Architekten Frei Otto als offene Dachkonstruktion, die sich in den Baubestand des Tiergarten integrierte und die visuelle Beziehung zum Park betonte. Die Themen wurden als „Collage“ großformatiger Phototafeln, Texte und Karikaturen pra¨sentiert, Telefonkabinen, großformatige Bu¨cher, die zum Bla¨ttern einluden, sowie projizierte Dias und Filme integrierten nach Sandra Wagner-Conzelmann alle sinnlichen Wahrnehmungen zu einer „syna¨sthetische[n] Ausstellungserfahrung“,72 und entsprachen somit dem Anspruch des Gesamtkunstwerks. Die Ausstellungsdidaktik entwickelte Otto mit Claus Peter Groß, der auch im Rahmen der Reeducation-

67 Karl Otto, Messen und Ausstellungen, in: Baukunst und Werkform 5, 7 (1951), S. 33–45, hier S. 37. 68 Ders., Ausblick auf die Internationale Bauausstellung Berlin 1956, in: Bauwelt 45, 39 (1954),

S. 761–762, hier S. 761. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 762. 71 Die Stadt von Morgen: Gegenwartsprobleme fu¨r alle, hg. v. dems., Berlin 1959. 72 Wagner-Conzelmann, Die Sonderausstellung (wie Anm. 65), S. 23.

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Programme fu¨r die amerikanische Besatzungsmacht ta¨tig war. Die Pra¨sentation der Photos erinnerte nach Wagner-Conzelmann an die Ausstellung The Family of Man, die 1951 im Moma pra¨mierte, 1955 an der HfBK ihre Tour durch Europa begann und von der Unesco als beispielhaftes Mittel der Jugend- und Erwachsenenerziehung gewertet wurde.73 Hatte Otto die Aufgabe der Constructa in der Erziehung des Laien gesehen, so richtete sich Die Stadt von Morgen an den „Bu¨rger“. Die Frage, wie die „Gesellschaft von morgen beschaffen sein [soll], fu¨r die wir heute die Stadt von morgen zu planen ¨ ffenthaben“, werde in der Demokratie nicht von Fachleuten, sondern von der „O lichkeit“ beantwortet. Der Entwurf der ‚Stadt von morgen‘ basiere auf dem „soziologische[n] Bild der Stadt“, das nicht auf dem Prinzip der „Verplanung“ menschlicher Existenz sondern dem der Mitbestimmung basiere, der Auftrag werde vom „Bau¨ ffentlichkeit‘“ erteilt.74 Dieses demokratische Bewusstsein konnte nach Otto herrn ‚O durch eine neue „optische Kultur“ vermittelt werden.75 Mit diesem Verweis bezog er sich auf Walter Gropius’ Publikation „Wege zu einer optischen Kultur“, in der dieser die visuelle Wahrnehmung zum Schlu¨ssel fu¨r die Unterscheidung zwischen demokratischen und totalita¨ren Auffassungen des Sta¨dtebaus erkla¨rt hatte.76 Seit der Constructa hatte Otto mit Gropius Kontakt gehalten und seine Sicht der Interbau mit ihm diskutiert, 1963 wurde Gropius Ehrensenator der HfBK. Die Bedeutung der visuellen Vermittlung in den Ausstellungen 1927, 1937 und 1957 zeigt, dass diese als Typenlehre des Urbanen Typisierung nicht prima¨r als Frage der Produktion, sondern der Konzeption des Urbanen thematisierten. Als ‚Bilderbuch‘, ‚Bibel‘ oder Enzyklopa¨die konzipiert, dienten die Ausstellungen der Entwicklung einer photographischen Verschriftlichung des Raumes. 1927 diente diese dem Erstellen einer Taxonomie internationalen Sta¨dtebaus, der jedoch supranational konzipiert und transnational an den USA orientiert war, 1937 eines deutsch-nationalen Urbanismus, der jedoch auf transnationale Annexion ausgelegt war, 1957 eines demokratischen Sta¨dtebaus, der als Instrument transnationaler Systemkonkurrenz, des OstWest Konfliktes, diente.77

73 Dies., Die Interbau (wie Anm. 65), S. 133. Martin S. Dworkin, The Family of Man, in: Fundamental

and Adult Education X (1958), hg. v. Unesco, S. 177–180.

74 Karl Otto, Ausstellung ‚die stadt von morgen‘ auf der Berliner Interbau, in: Bauen und Wohnen 1

(1958), S. 16–22, hier S. 16.

75 Ders., Vortragsmanuskript, Zur Situation der Ku¨nste im technischen Zeitalter, S. 9, Bauhaus Archiv

Berlin, NL Karl Otto. 76 Walter Gropius, Scope of Total Architecture, New York NY 1955. Dt.: Architektur. Wege zu einer

optischen Kultur, Frankfurt a. M./Hamburg 1956; Ders., Vortragsmanuskript, Wege zu einer optischen Kultur, gehalten an der TU Berlin am 19. Sept. 1955, u¨bermittelt an Otto von Interbau Berlin Pressestelle am 7. 11. 1955, S. 3. Bauhaus Archiv Berlin, NL Karl Otto. 77 Jost Du ¨ lffer, Cold War History in Germany, in: Cold War History 8 (2008), Nr. 2, S. 135–156.

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2. Urbane Typografien: Bilderbu¨cher des Urbanen – Export-Urbanismus

Dienten die Ausstellungen als Bilderbuch, Bibel, oder mit enzyklopa¨dischem Anspruch der photographischen Verschriftlichung des Raumes, so wurde ihre Mission durch Printmedien und besonders Photobu¨cher verbreitet, die einer Verra¨umlichung der Schrift dienen sollten. Schon seit seiner Gru¨ndung hatte der Werkbund seine pa¨dagogische Absichten in Jahr- und Warenbu¨chern, den Serien Werkbundbu¨cher und Baubu¨cher, sowie seit 1922 mit Unterbrechungen in der Zeitschrift Die Form publiziert. Als Kataloge der Ausstellungen Die Wohnung und der Begleitausstellung erschienen der Amtliche Katalog, der von Hilberseimer in der Serie Baubu¨cher herausgegebene Band Internationale Neue Baukunst (Abb. 1) und von Graeff herausgegeben, die Ba¨nde Bau und Wohnung und Innenra¨ume in der Serie der Werkbundbu¨cher.78 Wie Gropius’ Internationale Architektur als „Bilderbuch“ fungieren sollte, das die grenzu¨berschreitende „Einheitlichkeit des modernen Baugepra¨ges“ aufzeigte,79 so sollte auch die Internationale Neue Baukunst anhand von Photographien, Montagen und Zeichnungen die „Einheitlichkeit [architektonischer] Erscheinungsform“ durch die „geistige Verbundenheit u¨ber alle Grenzen hinweg“ belegen.80 Die geistige Verbundenheit in die USA zeigte in der Reihe der Baubu¨cher auch Richard Neutras Wie baut Amerika?, sowie Der Sieg des Neuen Baustils und Sta¨dtebau und Wohnungswesen in den Vereinigten Staaten des Kunsthistorikers und Mitglieds des Werkbunds Walter Curt Behrendt (Abb. 2).81 Fu¨r den Werkbund wurde das Medium der Photographie nicht erst fu¨r die Publikationen der Stuttgarter Ausstellung wichtig, schon 1910 hatte dieser eine Photographien- und Diapositivzentrale eingerichtet, an deren Aufbau auch Gropius beteiligt war.82 In den 1920er Jahren fo¨rderte der Werkbund Photographie und Film durch Ausstellungen, wie die Film und Foto (FiFo, 1929) und Planungen fu¨r die Ausstellung Die Kamera.83 Die Form und das Organ des Schweizer Werkbunds Das Werk

78 Amtlicher Katalog der Stuttgarter Werkbund-Ausstellung ‚Die Wohnung‘ vom 23. Juli–9. Oktober, hg.

v. Ausstellungsleitung, Stuttgart 1927; Hilberseimer, Internationale Neue Baukunst (wie Anm. 25), Bau und Wohnung, hg. v. Werner Graeff (Werkbundbu¨cher 1), Stuttgart 1927; Innenra¨ume, hg. v. dems. (Werkbundbu¨cher 2), Stuttgart 1928. 79 Gropius, Internationale Architektur (wie Anm. 7), S. 5, 7. 80 Ludwig Hilberseimer, Internationale neue Baukunst, in: Moderne Bauformen 26, 9 (1927), S. 325–364, hier S. 326. 81 Richard Neutra, Wie baut Amerika?, Suttgart 1927; Walter Curt Behrendt, Sieg des Neuen Baustils, Stuttgart 1927; ders., Sta¨dtebau und Wohnungswesen in den Vereinigten Staaten, Berlin 1927. 82 Sabine Ro ¨ der, Propaganda fu¨r ein neues Bauen: Die ‚Photographien- und Diapositivzentrale‘ des Deutschen Museums fu¨r Kunst in Handel und Gewerbe, in: Moderne Baukunst 1900–1914. Die Photosammlung des Deutschen Museums fu¨r Kunst in Handel und Gewerbe, hg. v. ders., Krefeld 1993, S. 8–17. 83 Ute Eskildsen, Die Ausstellung ‚Film und Foto‘ 1929, in: 100 Jahre Deutscher Werkbund (wie Anm. 31), S. 147–148.

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Abb. 1: Einband des von Ludwig Hilberseimer herausgegebenen zweiten Bandes der Baubu¨cher Quelle: Ludwig Hilberseimer, Internationale Neue Baukunst, Stuttgart 1927

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Abb. 2: Einband des Buchs von Walter Curt Behrendt, Sieg des Neuen Baustils Quelle: Walter Curt Behrendt, Sieg des Neuen Baustils, Stuttgart 1927

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publizierten Beitra¨ge zu Photographie und Film sowie zu den entsprechenden Ausstellungen. Auch die Typografie setzte der Werkbund seit der Ausstellung Die Form 1924 bewusst ein. Fu¨r die Entwicklung neuer Beziehungen zwischen Ausstellung, Buch, Typographie und Photographie spielten ab 1923 die Alliancen zwischen Mitgliedern von Werkbund, G Gruppe und Bauhaus eine zunehmend wichtige Rolle. Das Mitglied der G Gruppe El Lissitzky hatte 1923 die „Dynamisierung des Buches zu einem Raume“, gefordert und diese „Topographie der Typographie“ zusammen mit Richter in der Gestaltung von G, Installationen und seinen Beitra¨gen fu¨r die FiFo umgesetzt.84 Am Bauhaus hatte Moholy-Nagy seit Beginn seiner Lehrta¨tigkeit 1923 mit der Umsetzung des Mottos „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ die Photographie als Kunstform eingefu¨hrt, in der Folge sollte am Bauhaus Portrait-, Pflanzen-, Sachphotographie vermittelt werden.85 Im Anschluss an El Lissitzky arbeitete Moholy-Nagy seit 1923 an einer „neuen Typografie“, die er wie dieser konstruktiv als „Fundament zur Errichtung einer neuen Welt“ einsetzen wollte86 und in seiner Rolle als Mitherausgeber der Bauhausbu¨cher, deren erster Band Gropius’ Internationale Architektur war (Abb. 3), als ku¨nstlerischer Leiter fu¨r den Hauptraum der FiFo, sowie im Rahmen der Pariser Ausstellung 1930 und der Berliner Bauausstellung 1931 umsetzte. Diese neue Form der Typografie bezeichnete Moholy-Nagy als „Phototext“ oder „Typophoto“; das Ersetzen des Wortes durch die Typografie ermo¨glichte eine „Darstellungsform, die in ihrer Objektivita¨t keine individuelle Deutung“ zulasse.87 So definierte er Typographie, Photographie und Typophoto folgendermaßen: „Typographie ist in Druck gestaltete Mitteilung, Gedankendarstellung. Photographie ist visuelle Darstellung des optisch Fassbaren. Das Typophoto ist die visuell exaktest dargestellte Mitteilung“.88 Wie er anhand seines Filmskripts „Dynamik der Groß-Stadt“ deutlich machte,89 regelte das Typophoto das „neue Tempo der neuen visuellen Literatur“.90 Anhand eines Balkengeru¨stes integrierte dieses sowohl wissenschaftliche Anwendungen der Photographie, als auch die individuellen Perspektiven von Photographen wie die Albert Renger-Patzschs (Abb. 4). Die typophotographischen Experimente beeinflussten das neue Layout der Form,91 der Bau- und Werkbundbu¨cher, der „Buchkinemas“ Johannes Molzahns, der auch fu¨r die Breslauer Ausstellung Wohnung und Werkraum ta¨tig war, der Zeitschriften Das neue Frankfurt und Das neue Berlin, sowie von Photobu¨chern wie Berlin in Bildern. Im Bereich von Photographie und Film wirkten sich die Experimente auf Graeffs Es kommt der neue Fotograf, das die FiFo begleitete (Abb. 5), Franz 84 El Lissitzky, Topographie der Typographie, in: Merz 2, 1923, Nr. 4, o. p. 85 Photography at the Bauhaus, hg. v. Jeannine Fiedler, Cambridge MA 1990. 86 Moholy-Nagy, Malerei (wie Anm. 16), S. 36. 87 Ebd., S. 38. 88 Ebd., S. 37. Hervorhebung im Original. 89 Ebd., S. 120ff. 90 Ebd., S. 38. 91 [O. A.] Der neue Umschlag unserer Zeitschrift, in: Die Form 3, 13 (1928).

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Abb. 3: Hochhausentwu¨rfe von Max Taut und Ludwig Mies van der Rohe Quelle: Walter Gropius, Internationale Architektur, Mu¨nchen 1925, S. 44–45

Abb. 4: Einfu¨hrende Doppelseite von Moholy-Nagys Typophoto „Dynamik der Gross-Stadt“ Quelle: La´szlo´ Moholy-Nagy, Malerei Fotografie Film, Mu¨nchen 1927, S. 22–23

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Abb. 5: Montagetechniken der Vervielfa¨ltigung und Kombination mit Zeichnungen Quelle: Werner Graeff, Es kommt der neue Fotograf, Berlin 1929, S. 78–79

Abb. 6: Einband des Buchs von Franz Roh/Jan Tschichold, Foto-Auge Quelle: Franz Roh/Jan Tschichold, Foto-Auge, Stuttgart 1929

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Rohs und Jan Tschicholds Foto-Auge (Abb. 6) sowie Richters Filmgegner von heute – Filmfreunde von morgen aus.92 Die Typo-Photographie war grundlegend fu¨r die von Gropius und Moholy-Nagy herausgegebene Serie der Bauhausbu¨cher, deren Ba¨nde verschiedenste Kunstrichtungen und, dem „charakteristischen Internationalismus“ der Schule entsprechend, die ku¨nstlerische Situation in Russland, den USA und der damaligen Tschechoslowakei darstellen sollten.93 Fu¨r Moholy-Nagy diente die Arbeit des Druckers der „internationale[n] Versta¨ndigung mit ihren Folgerungen“, sie war „Teil des Fundaments auf dem die neue Welt“ errichtet, die „Erde [als] Einheit“ dargestellt werden sollte.94 Wie die Architekten die Disziplin der Baukunst, sah Moholy-Nagy die Kunst als Mittel gegen die fragmentierenden Auswirkungen von Industrialisierung und Weltwirtschaft, die sich in der professionellen Spezialisierung zeigte. Entgegen der Fragmentierung der Lebenswelt sollte die Kunst dazu verhelfen, die „Totalita¨t des Lebens erfassen“ zu ko¨nnen. Ihr Ziel war nicht das neben dem Leben stehende „Gesamtkunstwerk“, sondern die „sich selbst aufbauende Synthese aller Lebensmomente“ zu einem „Gesamtwerk (Leben)“, in dem alle „individuellen Leistungen aus einer universellen Notwendigkeit“ entstehen.95 In diesem Sinn sollten fu¨r Moholy-Nagy auch die Typophotos der Bauhausbu¨cher als Gesamtwerk die spezialisierte Arbeit der Autoren in die Gesamtheit der Erscheinungen der modernen Welt integrieren.96 Sollte in der Ausstellung Schaffendes Volk die Photographie dazu dienen, den ‚Appell ans Staunen‘ ‚durchs Auge‘ zu kanalisieren, so sollten Photobu¨cher die Verbreitung der hier pra¨sentierten Gesinnung sicherstellen. Zeigt die Bescha¨ftigung des Photographen Renger-Patzsch die Kontinuita¨ten der Bauhaus-Photographie im Nationalsozialismus,97 so demonstrierten die Hallen Deutscher Lebensraum die Kontinuita¨t der Verwendung von Photobu¨chern im Heimatschutz und damit den Wechsel vom Pra¨sentationsmodus des Werkbunds zu dem des Kampfbundes, vom Prinzip der Montage98 zu dem der Konfrontation und Repetition. Die Pra¨sentation des ‚deutschen Lebensraums‘ basierte auf Luftaufnahmen do¨rflicher Typologien, die Gustav Langen als „Wandermuseum“ fu¨r das Deutsche Archiv fu¨r Siedlungswesen zusammengestellt hatte.99 Wie das Archiv setzte auch der Heimatschutzbund auf Photobu¨cher, um 92 Werner Graeff, Es kommt der neue Fotograf, Berlin 1929; Franz Roh/Jan Tschichold, Foto-Auge,

Stuttgart 1929; Hans Richter, Filmgegner von heute – Filmfreunde von morgen, Berlin 1929.

93 Alain Findeli, Laszlo Moholy-Nagy und das Projekt der Bauhausbu¨cher, in: Das A und O des Bau-

hauses, hg. v. Ute Bru¨ning, Berlin 1995, S. 22–26, hier S. 26; Adrian Sudhalter, Walter Gropius and La´szlo´ Moholy-Nagy. Bauhaus Book Series. 1925–30, in: Bauhaus 1919–33. Workshops for Modernity, hg. v. Barry Bergdoll/Leah Dickerman, New York 2009, S. 196–200. 94 Moholy-Nagy, Malerei (wie Anm. 16), S. 36. 95 Ebd., S. 13. Hervorhebungen im Original. 96 „[...] totality of phenomena of the modern world“. Moholy-Nagy zit. in: Bauhaus 1919–33 (wie Anm. 93), S. 30. 97 Rolf Sachsse, Zur Kontinuita¨t von Bauhaus und Moderne im NS Staat. Vorla¨ufige Anmerkungen zu einer mo¨glichen Subgeschichte des deutschen Designs, in: Die Moderne im Nationalsozialismus, hg. v. Volker Bo¨hnigk/Joachim Stamp, Bonn 2006, S. 13–40. 98 Ders., Erziehung zum Wegsehen: Fotografie im NS-Staat, Dresden 2003, S. 50. 99 Gustav Langen, Sta¨dtebau, Siedelungs- und Wohnwesen: Katalog des Wandermuseums, Leipzig 1914.

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anhand von „Beispielen“ und „Gegenbeispielen“ Formen „guter“ und „schlechter“ Gestaltung zu identifizieren. Dieses Prinzip verwendete vor allem einer der Gru¨nder, Paul Schultze-Naumburg in seiner Serie der Kulturarbeiten, in Kampf um die Kunst, um die Ehrlichkeit des deutschen Wohnhauses der Ta¨uschung der Weissenhofsiedlung entgegenzustellen, in Kunst und Rasse und Das Gesicht des deutschen Hauses, um Beispiele nationaler und „entarteter“ Gestaltung zu identifizieren.100 Das Photobuch Scho¨nheit im olympischen Kampf pra¨sentierte im Anschluss an die Olympiade den gesunden Ko¨rper, das von Albert Speer eingeleitete Taschenbuch Scho¨nheit der Arbeit und, wie der Katalog, das von der Deutschen Arbeitsfront herausgegebene Photobuch Schaffendes Volk die der „Sta¨tten deutscher Arbeit“ (Abb. 7).101 Pra¨sentierte die Ausstellung die stadt von morgen die Themen anhand einer Collage von Phototafeln, Texten, Karikaturen und Projektionen, so sollte das Begleitbuch das „Gebilde ‚Stadt‘“ im „Zusammenwirken von Wort und Bild“ vermitteln.102 Wie in der Ausstellung zentral, so beginnt das Buch mit Photos spielender Kinder und der Feststellung: „Fu¨r unsere Kinder mu¨ssen wir die Stadt von morgen planen und bauen“103 und endet mit Photographien der Bauherren der Stadt (Abb. 8). Fu¨r Otto war der Ku¨nstler fu¨r die Erziehung des Bu¨rgers zum Bauherrn verantwortlich. Die Aufgabe des Ku¨nstlers war die „Sichtbarmachung des Zeitbewusstseins“, eine „Menschenbildung“, die mit der Kindererziehung beginnen und gegen die Erziehung „spezialistisch ausgerichteter Leistungs-Subjekte“ gerichtet sein sollte.104 In diesem Interesse sollten die Bereiche von Wissenschaft und Kunst als „aristokratische Bereiche unvera¨ußerlicher scho¨pferischer und geistiger Freiheit“ fu¨r eben diese Freiheit und gegen „staatlichen Dirigismus“ wie „Massendemokratie“ eintreten.105 Dazu war es no¨tig, dass auch Ku¨nstler die Technologien der Wissenschaften nutzten. Nach Otto hatte die Technologie des Films Hans Richters „dynamisches Bild“ ermo¨glicht,106 aktuell ko¨nne die Elektronenmikroskopie eine ‚neue Welt‘ der Wahrnehmung erschließen. Als Vorbild verwendete er die Ausstellung Kunst und Naturform, die Photos elektronenmikroskopischer Strukturen und Werke zeitgeno¨ssischer Kunst einander gegenu¨ber gestellt hatte, um eine „neue Welt der Formen, Linien und Strukturen“ sichtbar zu machen.107 Nur durch die hier demonstrierte Verbindung von Kunst und Wissenschaft sei es mo¨glich, die dringend beno¨tigten „Maßsta¨be fu¨r eine optische Kultur“ eines neuen „technischen Zeitalters“ zu entwickeln.108

100 Paul Schultze-Naumburg, Kulturarbeiten, 10 Bde., Mu¨nchen 1908–17, Bd. 3: Do¨rfer und Kolonien,

Vorwort [o. p.]; ders., Kampf um die Kunst, Mu¨nchen 1932; ders., Kunst und Rasse, Mu¨nchen 1928; ders., Das Gesicht des deutschen Hauses, Mu¨nchen 1929. 101 Leni Riefenstahl, Scho¨nheit im olympischen Kampf, Berlin 1937; Anatol von Hu ¨ bbenet, Das Taschenbuch Scho¨nheit der Arbeit, Berlin: Deutsche Arbeitsfront, 1938; Hans Breyer, Schaffendes Volk. Sta¨tten deutscher Arbeit in 83 Bildern, Berlin: Deutsche Arbeitsfront, 1934. 102 Otto, in: Die Stadt von Morgen (wie Anm. 71), S. 13. 103 Ebd., o. p. (S. 9). 104 ders., Vortragsmanuskript (wie Anm. 75), S. 9. 105 Ebd., S. 10. 106 Ebd., S. 7. 107 Ebd., S. 3. 108 Ebd., S. 5.

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Abb. 7: Einband des amtlichen Fu¨hrers zur Reichsausstellung Schaffendes Volk Quelle: Reichsausstellung Schaffendes Volk, Amtlicher Fu¨hrer, Du¨sseldorf 1937

Abb. 8: Doppelseite aus Walter Rossows Beitrag „Stadt und Natur“ zum Thema Umweltzersto¨rung Quelle: Die Stadt von Morgen, hg. v. Karl Otto, Berlin 1959, S. 42–43

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Hiermit bezog sich Otto auf Gropius’ Vortrag „Wege zu einer optischen Kultur“ von 1955,109 in dem dieser konstatiert hatte, dass im „Jahrhundert der Wissenschaft“ die „Weitsichtigkeit und Phantasie“ von Architekten und Planern grundlegend seien, um zu einer „wahren Synthese fu¨r die Siedlung der Zukunft“ zu kommen, zu einer „totalen Architektur“.110 Als Vorbild fu¨r Architekten und Planer fungierte der Ku¨nstler, dessen Suche nach dem „symbolischen Formausdruck fu¨r die Pha¨nomene unseres Lebens“ fu¨r eine demokratische Gesellschaftsordnung grundlegend seien. Er sei der „Prototyp des ‚ganzen Menschen‘“, sein „unbeirrte[r] Blick des freien Menschen“ sei von gro¨ßter Bedeutung fu¨r die „Entwicklung einer echten Demokratie“.111 Tat Gropius dies ausdru¨cklich, so du¨rften sich auch die Autoren von Kunst und Naturform auf die Arbeit des Ku¨nstlers Gyo¨rgy Kepes bezogen haben. So berichtete die Schweizer Werkbundzeitschrift Das Werk u¨ber die Ausstellung Kunst und Naturform und vermutete, dass diese durch Kepes’ Ausstellung und Publikation The New Landscape in Art and Science angeregt sei, deren Einleitung die Zeitschrift zuvor publiziert hatte. Kepes war Moholy-Nagys ehemaliger Mitarbeiter, von diesem an das New Bauhaus in Chicago geholt und 1947 als Professor fu¨r visuelle Gestaltung an das Massachusetts Institute of Technology berufen worden. Kepes kooperierte eng mit Gropius und arbeitete zu diesem Zeitpunkt zusammen mit Kevin Lynch an der Studie zur „perceptual form of the city“, sowie an seiner eigenen Version des Bauhauses am MIT. Wie Gropius’ Internationale Architektur ein ‚Bilderbuch‘, war Kepes’ New Landscape ein „picture book“, in dem die Photos informieren, die Texte illustrieren sollten. Wie Moholy-Nagy kritisierte er die Entfremdung des zeitgeno¨ssischen Menschen. Fu¨r Kepes symbolisierte zeitgeno¨ssische Kunst das „Gefu¨hl des Verlorenseins inmitten einer fremden, feindlich drohenden Welt“. Um dieser Entfremdung zu entgegnen, war es notwendig, nicht Inhalte, sondern „Organisation“, das „Denken in Strukturen“ zu vermitteln.112 In diesem Interesse sollten die Abbildungen ermo¨glichen, anhand der strukturellen Gleichheit wissenschaftlicher und ku¨nstlerischer, rationaler und emotionaler Repra¨sentation, eine Beziehung zwischen a¨ußerer und innerer Welt herzustellen. Wie Architekten und Planer nach Gropius u¨ber Weitsichtigkeit und Phantasie, so sollte fu¨r Kepes der Ku¨nstler u¨ber das „Gehirn eines Wissenschaftlers“ und das „Auge eines Malers“ verfu¨gen, um in Anbetracht zunehmender menschlicher Entfremdung von der Umwelt die „rationale und emotionale Mitbestimmung in der Gesamtheit der Umwelt [total environment]“ zu ermo¨glichen.113 Wie Moholy-Nagys Bauhausbu¨cher, sollte auch The New Landscape als Gesamtkunstwerk die Perspektiven von Spezialisten in die ‚Gesamtheit der Erscheinungen der modernen Welt‘ integrieren, eine Absicht, die er in seiner zwischen 1967

109 Gropius, Vortragsmanuskript (wie Anm. 76), S. 3. 110 ders., Architektur (wie Anm. 76), S. 139. 111 Ebd., S. 131. 112 Gyorgy Kepes, The New Landscape in Art and Science, Chicago 1956, S. 13. 113 Ders., Introduction to the Issue ‚The Visual Arts Today‘, in: Daedalus 89, 1 (1960), S. 3–12, hier S. 4.

Hervorhebung: N. H.

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bis 1972 ins Deutsche u¨bersetzten Buchserie Vision and Value (1965–72) umsetzte. Hier wurde die Totalita¨t des Gesamtkunstwerks Buch jedoch nicht durch Montage, die Dekonstruktion und Rekonstruktion zu einer neuen Totalita¨t, erreicht, sondern durch Collage, deren Totalita¨t dem Prinzip der Mustererkennung folgte. Dienten die Ausstellungen der Verschriftlichung des Raumes, so sollten umgekehrt die begleitenden Photobu¨cher eine Verra¨umlichung der Schrift bewirken. Als Dynamisierung des ‚Buches zu einem Raume‘, sollte hier die Typographie von den ‚Topografien‘ der Weimarer Republik bis zur ‚neuen Landschaft‘ der Nachkriegszeit den Weg zu einem „pictographic writing for collective reading“ ebnen, doch unterschiedliche Typisierungen supranationalen Sehens vornehmen.114 Folgten die Mitglieder der G Gruppe und Moholy-Nagy dem Prinzip der Montage, als „neue[r] Einheit des urspru¨nglich Heterogenen“,115 um Prototypen re- und evolutiona¨ren Sehens zu schaffen, und die Photobu¨cher der NS Zeit dem Prinzip der Repetition, um Stereotypen ‚gesunden‘ und ‚entarteten‘ Sehens festzulegen, so intendierten Kepes, Schmidt und Schenk anhand des Prinzips der Collage, des „unvermittelte[n] Nebeneinander[s] des Nichtzusammengeho¨rigen“, Pha¨notypen partizipatorischen Sehens zu generieren.116 In dieser Verschra¨nkung der Verschriftlichung des Raumes durch die Ausstellungen und der Verra¨umlichung der Schrift durch die Photobu¨cher wurde das Verha¨ltnis von Raum und Schrift zum Schlu¨ssel fu¨r die jeweiligen Entwu¨rfe zuku¨nftiger transnationaler Organisation des Sozialen, der Stadt.

3. Sta¨dtebauliche Leitbilder: Stadtlandschaften

Das Verha¨ltnis von Raum und Schrift hatte sich seit dem 19. Jahrhundert die Psychologie zum Gegenstand ihrer Wissenschaft gemacht. Hier handelte es sich nicht um die seit Ende des Jahrhunderts institutionalisierte Individualpsychologie, sondern einige der Psychologien, die sich mit dem Verha¨ltnis zwischen Individuum und Gesamtheit bescha¨ftigten; um holistische Ansa¨tze der Psychologie, die von der Mitte des 19. bis zu der des 20. Jahrhunderts als Vo¨lker-, Bio-, Gestalt-, Ganzheits- und Sozialpsychologie formuliert wurden. Vo¨lkerpsychologen wie Moritz Lazarus sahen Sprache und Schrift als Verko¨rperung oder Ausdruck des Geistes, diese war aus logozentrischer Perspektive der Ausdruck einer ethisch-rationalen Weltanschauung und machte das Ideal rationalen Denkens oder des Willens sichtbar. Die Vo¨lkerpsychologen des 19. Jahrhunderts 114 Annie Bourneuf, A Refuge for Script: Paul Klee’s ‚Square Pictures‘, in: Bauhaus Construct: Fashio-

ning Identity, Discourse and Modernism, hg. v. Jeffrey Saletnik/Robin Schuldenfrei, London u. a. 2009, S. 105–124, hier S. 108. Hervorhebung: N. H. 115 Enno Stahl, Anti-Kunst und Abstraktion in der literarischen Moderne (1909–1933), Frankfurt a. M. 1997, S. 45. 116 Ebd.

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suchten mit ihrer kulturalistischen Perspektive den Theorien organischer Sprachentwicklung zu entgegnen, die die Vorherrschaft indo-germanischer, arischer Sprachen gegenu¨ber semitischen Sprachen proklamierten. Anfang des 20. Jahrhunderts intendierte Wilhelm Wundt anhand der Vo¨lkerpsychologie den deutschen Vielvo¨lkerstaat dem Nationalstaat zu unterstellen. Daru¨berhinaus diente die Vo¨lkerpsychologie als ¨ hnlichkeit kognitiver und physikalischer Basis der Gestaltpsychologie, die von der A Strukturen ausging. Im Gegensatz zu diesen Positionen bezog sich im Anschluss an fu¨hrende Vitalisten wie Jakob von Uexku¨ll, Hans Driesch und Richard Semon der fu¨hrende Vertreter der Biopsychologie, Ludwig Klages, auf Theorien organischer Sprachentwicklung, die ihm auch zur Entwicklung seiner antisemitischen Theorien dienten. Klages sah die Handschrift als Ausdruck von Trieben, diese war aus biozentrischer Perspektive Ausdruck eines Weltbildes, an ihr zeigte sich das Ideal seelischen Lebens, das unbewusste ‚perso¨nliche Leitbild‘, da es in ihr die „Form des Raumgefu¨hls“ annahm.117 Standen seit dem 19. Jahrhundert umgangssprachlich die Ausdru¨cke „Leitbild, -gedanke, [als] V[er]d.[eutschung] fu¨r Ideal“,118 so verwendete Klages 1908 den Begriff des „perso¨nlichen Leitbildes“ als Instrument der Charakterkunde.119 Das perso¨nliche Leitbild bezeichnete eine psychologische Instanz, die zwar vom sozialen Umfeld mitbestimmt sich gerade in der Differenz zu diesem bemaß. In der Handschrift zeigte sich die gesellschaftliche Norm und jene individuelle Abweichung, die von der subjektiven Bewertung des „anschaulichen Erfolges“, der Beziehung zwischen Auge und Hand des Schreibenden abhing.120 Von der Handschrift konnte auf das unbewusste ‚Leitbild‘ und somit auf den Charakter des Schreibenden ru¨ckgeschlossen, die Differenz zwischen Norm und Abweichung ermittelt werden.121 Sein Konzept des perso¨nlichen Leitbildes entwickelte Klages im Anschluss an Friedrich Nietzsches Prinzip des „sich-selber-Gesetzgebenden“ und verwendete es zugleich dazu, um anhand dessen Handschrift und der Richard Wagners die ‚Leitbilder‘ und somit die ‚Weltbilder‘ ku¨nstlerischer Genies zu ermitteln. Im Anschluss an Klages schlug der Philosoph Max Scheler eine Verso¨hnung bio- und anthropozentrischer Wissensformen vor, um diese zugleich an die Leitbilder von Perso¨nlichkeitstypen und sozialen Gruppen zu binden. Beide Ansa¨tze verband Klages’ Schu¨ler, der Kunsthistoriker und Psychiater Hans Prinzhorn, um die Beziehung zwischen Leben und Geist nicht als zersto¨rerische, sondern fruchtbare Spannung auszulegen. Er verwendete die Zeichnungen von „Geisteskranken“ und „Gefangenen“, um deren Leitbilder zu ermitteln und pla¨dierte fu¨r ein „ku¨nftiges Weltbild“, in dem auch die „Innen- und Umwelten“ anderer Lebewesen wie die „Welt des Regenwurms, des

117 Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1913, S. 47. 118 Daniel Sanders, Handwo¨rterbuch der deutschen Sprache, Leipzig 1910. Johann August Eberhard/

Otto Lyon/Friedrich Ru¨ckert, Synonymisches Handwo¨rterbuch der Deutschen Sprache, Leipzig 1896, S. 419. 119 Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie, Leipzig 1910, Kap. XI. Das perso¨nliche Leitbild. 120 ders., Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1923, S. 101. 121 ders., Handschrift und Charakter. Gemeinversta¨ndlicher Abriß der graphologischen Technik, Leipzig 1917.

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Ka¨fers“ anerkannt wu¨rden.122 In der Folge dienten Klages’ Charakterologie und Prinzhorns Pathologie in der Ganzheitspsychologie dazu, integrierende und desintegrierende Wahrnehmungstypen zu unterscheiden. Seit seiner Verwendung in der Psychologie machte der Begriff des Leitbildes in den Disziplinen von Pa¨dagogik, Soziologie, Sta¨dtebau und Wirtschaftswissenschaft Karriere.123 Im Sta¨dtebau dient das Leitbild nach Werner Durth als „bildhafte Konkretion komplexer Zielvorstellungen ..., die einzelnen Entwu¨rfen, Planungskonzepten und perso¨nlichen Gestaltungspra¨ferenzen einen gemeinsamen Hintergrund gibt und ... in einen u¨bergreifenden Konsens u¨ber bindende Wertmaßsta¨be [einbindet], der die Grundlage fu¨r eine umfassende Schau der wu¨nschenswerten ra¨umlichen Ordnung bildet“.124 In Leitbildern sind „Konzepte der ra¨umlichen Planung jeweils eng auf [...] Lebensentwu¨rfe und soziale Ordnungsvorstellungen bezogen“.125 Entsprechend a¨nderten sich die Leitbilder im 20 Jahrhundert von dem der „Stadtlandschaft“, der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“, zu „Urbanita¨t durch Dichte“, der „Wiederentdeckung der historischen Stadt“ und zur „nachhaltigen Stadt“.126 In dieser Abfolge spielen die Bauausstellungen Stuttgart 1927 und die Berlin 1957 Schlu¨sselrollen. Beide folgen dem Leitbild der ‚Stadtlandschaft‘, die Bauausstellung Das Wohnen in Form der aufgelo¨sten Stadt, die Interbau und deren Begleitausstellung Die Stadt von morgen in Form der gegliederten und aufgelockerten Stadt. Stellte die erstere ein ‚Manifest‘ des Leitbilds ‚Stadtlandschaft‘ dar, so markiert nach Georg Bollenbeck die letztere den „Wendepunkt“ zum Leitbild „Urbanita¨t durch Dichte“.127 Im Folgenden soll das Konzept des Leitbildes zum Anlass genommen werden, um nicht die Bru¨che, sondern vielmehr die Kontinuita¨ten vom Leitbild der ‚Stadtlandschaft‘ zu dem der ‚nachhaltigen Stadt‘, zur Wiederkehr der Landschaft aufzuzeigen.128 ¨ kologiebewegung gewertet,129 so Werden Klages’ Theorien heute als Grundlage der O waren sie zeitgeno¨ssischen Architekten und Sta¨dtebauern durch sein Bekenntnis zum Naturschutz vertraut. Als Mitglied des Heimatschutzbundes lieferte er in seinem

122 Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken: Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopatholo-

gie der Gestaltung, Berlin 1922; ders., Bildnerei der Gefangenen. Studie zur bildnerischen Gestaltung Ungeu¨bter, Berlin 1926; ders., Um die Perso¨nlichkeit, Heidelberg 1927, Bd. 1, S. 39. 123 Otto Brachfeld, Leitbild, in: Historisches Wo¨rterbuch der Philosophie Bd. 5, hg. v. Joachim Ritter u. a, Basel 1980, S. 224–228. 124 Werner Durth, Leitbilder im Sta¨dtebau, in: Stadt, Kultur, Natur. Chancen ku¨nftiger Lebensgestaltung. Bericht der Kommission Architektur und Sta¨dtebau von Baden-Wu¨rttemberg, Stuttgart 1987, S. 42–49. 125 Ders./Gutschow, Tra¨ume in Tru¨mmern, Wiesbaden 1988, S. 161. 126 Johann Jessen, Leitbilder der Stadtentwicklung und des Sta¨dtebaus, in: Lehrbausteine Sta¨dtebau: Basiswissen fu¨r Entwurf und Planung, hg. v. Helmut Bott, Stuttgart 2010, S. 121–128. 127 Georg Bollenbeck, Die Janusko¨pfigen 50er Jahre, Wiesbaden 2000, S. 146. S. a. Wagner-Conzelmann, Die Sonderausstellung (wie Anm. 65). 128 Wiederkehr der Landschaft, hg. v. Donata Valentien, Berlin 2010. 129 Anna Bramwell, Ecology in the 20th Century: A History, New Haven 1989.

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Vortrag „Mensch und Erde“, den er fu¨r die Freideutsche Jungend der Wandervogelbewegung 1913 hielt, eine scharfe Kritik an der Umweltzersto¨rung.130 So erstaunt es nicht, dass der Leiter des Deutschen Archivs fu¨r Siedlungswesen Gustav Langen in dem vom Heimatschutzbund 1919 mitherausgegebenen Siedlungswerk die Dezentralisierung der Stadt in Form von Streusiedlungen forderte und betonte, dass hier keine „schematische Anlage als Muster und Leitbild im Auge“ befolgt, sondern von den lokalen Gegebenheiten ausgegangen werden sollte.131 In Deutscher Lebensraum von 1929 bezeichnete er die geordnete Landschaft als „Gesamtkunstwerk“, das in einer „gesunden Wirtschaft und einem kra¨ftigen gesundheitsgesta¨hlten Volke“ begru¨ndet sei.132 Zur „Heilung erkrankter Gewebe im Volksko¨rper der Großstadt“133 empfahl er den „Lebensraum der Kleinstadt“ als „Leitbild“ zuku¨nftiger Planung.134 Klages’ und Prinzhorns Theorien waren jedoch nicht nur des Kreisen des Heimatschutzbundes, sondern auch denen des Bauhauses bekannt. Seine Lehren wurden in Kursen vermittelt, Prinzhorn hielt Vortra¨ge, seine Bildnerei der Geisteskranken wurde als neue Form des Primitiven und Kreativen,135 des „edlen Wilden“ rezipiert.136 Gropius und Moholy-Nagy waren mit dem Mediziner Paul Vogler befreundet, der als ehemaliges Mitglied der Wandervogelbewegung die dort entwickelte Kritik psycho-physischer Zivilisationsscha¨den als Grundlage seiner vitalistischen Definition des Existenzminimums verwendete. Vogler beriet Gropius bei dessen Siedlungsprojekten, dieser begru¨ndete die soziologischen Grundlagen seiner Projekte mit den Theorien des Lebensreformers. Auch Moholy-Nagy hatte sein Konzept ku¨nstlerischer Kreativita¨t in engem Austausch mit Vogler entwickelt, fu¨r ihn ermo¨glichten die Medien Informationsvielfalt und Transparenz, die „Hygiene des Optischen, das Gesunde des Gesehenen“.137 Prinzhorn stand auch den Mitgliedern der G Gruppe nahe.138 Er publizierte Auszu¨ge aus Bildnerei der Geisteskranken in G139 und gab die Buchserie Das Weltbild: Grundriß und Aufbau heraus, die unter den Kategorien „Mensch“, „Kulturformen“ und „Beherrschung der Erde“ als Ba¨nde unter anderen Klages’ Perso¨nlichkeit und

130 Ludwig Klages, Mensch und Erde, in: Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem hohen

Meißner 1913, hg. v. Arthur Kracke, Jena 1913.

131 Gustav Langen, Siedlungswerk, hg. v. der Vereinigung fu¨r deutsche Siedlung und Wanderung und dem

Deutschen Bund Heimatschutz. 5. und 6. Teil: Die Streusiedlung, zit. in: Bu¨cherschau, in: Zentralblatt der Bauverwaltung (4. Februar 1920), S. 64. 132 Ders., Deutscher Lebensraum. Ein Beitrag zur deutschen Raumwirtschaft und zur Gesamtrationalisierung in Wirtschaft, Siedlung und Volksleben, Berlin 1929, S. 2. 133 Ebd., S. 102. 134 Ders., Der Lebensraum der Kleinstadt, in: Deutsche Bauzeitung 63 (1929), S. 109ff. 135 Oliver Botar, Biocentrism and the Bauhaus, in: The Structurist (2003–2004), Nr. 43–44, S. 54–61. 136 Claudia Schmo ¨ lders, Das Vorurteil im Leibe: Eine Einfu¨hrung in die Physiognomik, Berlin 1995, S. 34. 137 Moholy-Nagy, Malerei (wie Anm. 16), S. 36. Botar, The Origins of La´szlo´ Moholy-Nagy’s Biocentric Constructivism, in: Signs of Life: Bio Art and Beyond, hg. v. Eduardo Kac, Cambridge MA 2007, S. 315–344. 138 Detlef Mertins, Architecture, Worldview, and World Image in G, in: G: An Avant-Garde Journal (wie Anm. 27), S. 71–97. 139 Ebd., S. 95f., Anm. 77, 79

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Eckhart von Sydows Form und Symbol umfassten, das auch Werke Moholy-Nagys und Kandinskys vorstellte. Als einer der ersten Ba¨nde wollte Prinzhorn ein Buch von Mies van der Rohe mit dem Titel Baukunst vero¨ffentlichen, da er es als das charakteristischste der Serie erachtete.140 Prinzhorn blieb Mies eng verbunden, 1932 setzte er sich aktiv gegen die Schließung des von Mies geleiteten Bauhauses ein. Wie Prinzhorn sah Mies „Baukunst“ als Ausdruck des Weltbildes, als „Ausdruck dafu¨r, wie sich der Mensch gegenu¨ber der Umwelt behauptet und wie er sie zu meistern versteht,“ sie war der „ra¨umliche Ausdruck geistiger Entscheidung“.141 So sollte sich die Ausstellung Die Wohnung nicht auf die von der Ausstellungsleitung vorgesehenen Fragen der Rationalisierung und Typisierung, sondern auf die „wirkliche bauku¨nstlerische Frage“ konzentrieren.142 Das „Problem der Neuen Wohnung ist im Grunde ein geistiges Problem und der Kampf um die Neue Wohnung lediglich ein Glied in dem großen Kampf um neue Lebensreformen,“143 der nur mit „scho¨pferische[n] Kra¨ften“ anzugehen war.144 Mit seinen Verweis auf die Lebensreform und das Konzept scho¨pferischer Kraft folgte Mies neben den biopsychologischen Ansa¨tzen Prinzhorns auch den biozentrischen Konzepten des e´lan vital Henri Bergsons sowie des Psychovitalismus Raoul H. France´s.145 Wie im scho¨pferischen Prozess der Natur war in dem der Kunst die Form nur das Momentbild eines Prozesses: „Form“ war nicht „Ziel“, sondern das „Ergebnis eines Gestaltungsprozesses“.146 In diesem Sinn war die Bauausstellung als ‚Experiment‘ konzipiert, als „gebaute Ausstellung“, als „Versuchssiedlung“, die der „Festlegung der Grundlagen fu¨r modernen Serienbau“ dienen sollte. Die Bedeutung der Ausstellung lag in ihrer Rolle als „Experiment“, ohne das es „keine Ergebnisse und keinen Fortschritt“ gebe, und das es erforderte, sich hinter die diesem Experiment zugrundeliegende „Gesinnung [zu] stellen“.147 In diesem Kontext ist auch Mies’ Konzept der Stadtlandschaft zu verstehen:148 Der scho¨pferische Prozess war eine ‚geistige Entscheidung‘, die zugleich Entwurf und Werk charakterisierte, er war die „Voraussetzung fu¨r eine organische Gestalt unserer Sta¨dte“.149

140 Ebd., S. 89–90. 141 Ludwig Mies van der Rohe, Wir stehen in der Wende der Zeit, in: Innendekoration 39, 6 (1928),

S. 262.

142 Mies van der Rohe, Vorwort (wie Anm. 24). 143 Ders., Vorwort zum Amtlichen Katalog der Stuttgarter Werkbund-Ausstellung, zit. in: Fritz Neu-

meyer, Mies van der Rohe: Das kunstlose Wort: Gedanken zur Baukunst, Berlin 1986, S. 319.

144 Ders., Vorbemerkung zur Buchpublikation ‚Bau und Wohnung‘, zit. in: ebd. 145 Henri Bergson, L’e´volution Cre´atrice, Paris 1907. Dt.: Scho¨pferische Entwicklung, Jena 1912; Raoul

France´, Die Pflanze als Erfinder, Stuttgart 1920. 146 Mies van der Rohe, Brief an Walter Riezler, in: Die Form 1927, Nr. 1. Wiederabgedruckt in: Die Form

(wie Anm. 19), S. 20.

147 Kirsch, Die Weissenhofsiedlung (wie Anm. 20), S. 22. 148 Mertins, Living in a Jungle (wie Anm. 30), Abschnitt: „City Landscape“, S. 618–635. Genereller zu

diesem Diskurs: Gerhard Fehl, Fordismus und Sta¨dtebau um 1930: Auflo¨sung oder Auflockerung der Großstadt?, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule fu¨r Architektur und Bauwesen Weimar 36 (1990), S. 61–66. 149 Ludwig Mies van der Rohe, Vortrag, Manuskript vom 17. Ma¨rz 1926, zit. in: Neumeyer, Mies van der Rohe (wie Anm. 143), S. 311–316, hier S. 316.

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Hatte Mies noch 1924 „Bauen“ als „raumgefaßten Zeitwille[n]“ gefasst, so ersetzte er diesen Begriff um 1926 mit dem des „Wertwillens“; das „Wertvolle in der Welt, die Kultur, das Geistige“, das „rein pluralistisch“ aus dem „Zusammenwirken zielstrebiger Einzelwesen“ zu erkla¨ren war,150 Baukunst war der perso¨nliche „ra¨umliche Ausdruck geistiger Entscheidung“.151 In diesem Sinn verzichtete Mies beim Entwurf der Weissenhofsiedlung auf einseitige und doktrina¨re Richtlinien und beauftragte „Perso¨nlichkeiten“, die zu der Frage etwas beizutragen ha¨tten,152 er intendierte, den Einzelnen „mo¨glichste Freiheit“ in der Realisierung ihrer Ideen zu geben.153 Nach Detlef Mertins ermo¨glichte Mies Definition von „Baukunst as Weltbild“ „a nonverbal, experiential mode of communicating a world view in order to inform and guide future action, rather than control it.“154 So sollte fu¨r Mies auch das Thema der Ausstellung Die neue Zeit die Freiheit in der Wahl des Weltbildes sein. Er diagnostizierte eine „Wende der Zeit“, die durch ein gea¨ndertes Bewusstsein charakterisiert war. Durch die Psychoanalyse war die „Seele bewußt geworden“, durch den Verkehr die Welt ‚geschrumpft‘ und in allen ihren Teilen „sichtbarer“: „Weltbewußtheit und Bewußtsein der Menschheit sind die Folgen“,155 „wir u¨berschauen uns selbst und die Welt, in der wir stehen“.156 Somit forderte Mies auch fu¨r die Ausstellung eine „u¨bernationale“ Behandlung der Themen, die „neue Zeit“ war eine „Tatsache“, in der nicht das „was“, Hoch- oder Flachbau, Zentralisation oder Dezentralisation, sondern das „wie“, die „Scheidung von Wertvollem und Wertlosem“ za¨hle, die Ausstellung sollte „neue Werte [...] setzen, letzte Zwecke auf[..]zeigen“.157 Wie Mies deklarierte Ja¨ckh das „Weltbild“ als Schlu¨ssel zum Versta¨ndnis fu¨r Die neue Zeit.158 Im Anschluss an Max Scheler konzipierte er die neue Zeit als ‚Weltalter des Ausgleichs‘, in dem die Beziehung zwischen Mensch und Welt als „biologische und morphologische Einheit“, die zwischen Mensch und Menschheit, Perso¨nlichkeit und Gemeinschaft als „konstruktive Biologie des Kollektiven und des Individuellen“ zu verstehen sei.159 Die „Bewußtseinsentwicklung der Neuen Zeit“ zeigte sich transdisziplina¨r, im Bereich der Philosophie an erster Stelle an den Werken Schelers, Klages und Prinzhorns. Die Ausstellung sollte sowohl den „Querschnitt des Bestehenden“ pra¨sentieren, als der „Darstellung der kommenden Probleme“, als „Experimentierfeld“ und „Laboratorium“160 „scho¨pferische[r] Idee[n]“ dienen.161 150 S. ebd., S. 204–205. 151 Mies van der Rohe, Baukunst in der Wende der Zeit (wie Anm. 141). 152 Ders., zit. in: Neumeyer, Mies van der Rohe (wie Anm. 143), S. 322. 153 Ders., Vorwort zur Buchpublikation ‚Bau und Wohnung‘, hg. v. Deutschen Werkbund, Stuttgart 1927,

zit. in: ebd., S. 319.

154 Mertins, Architecture (wie Anm. 138), S. 72. 155 Mies van der Rohe, Wir stehen in der Wende der Zeit (wie Anm. 141). 156 Ders., Die Voraussetzungen bauku¨nstlerischen Schaffens, Vortrag 1928, zit. in: Neumeyer, Mies van

der Rohe (wie Anm. 143), S. 363.

157 Ders., U ¨ ber Sinn und Aufgabe der Kritik, Referat 1930, zit. in: ebd., S. 372. 158 Ja¨ckh, Idee und Realisierung (wie Anm. 19), S. 52. 159 Ebd., S. 50. 160 Ders., Neudeutsche Ausstellungspolitik (wie Anm. 34), S. 75. 161 Ders., Idee und Realisierung (wie Anm. 19), S. 37.

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Mit diesem Anspruch sollte Die Neue Zeit die Bewusstseinsentwicklung als „Querschnitt durch die Biologie der Kulturgeschichte“ aufzeigen.162 Nach Ja¨ckh manifestierte sich in Wissenschaft, Technik und Verkehr das Bewusstsein einer neuartigen „Erdeinheit“,163 die eine neue „Geo-Politik“164 zugleich ermo¨glichte und erforderte, sie war zugleich Ausdruck eines neuen „Zeitalter[s]“ und eines „Weltalter[s] des Ausgleichs“165 zwischen Ost und West, sozialistischen und kapitalistischen Systemen.166 Grundlegend folgten Mies und Ja¨ckh Schelers Hierarche der Wissensformen und den dazu geho¨rigen Leitbildern von Perso¨nlichkeitstypen und sozialen Gruppen. Mies setzte auf Perso¨nlichkeiten, Ja¨ckh sah wie Scheler die Demokratie als Fu¨hrung einer Elite, die wiederum einem u¨bergeordneten Wert diente. Suchte Mies diesen Wert, den letzten Zweck, in der Religion, so sah Ja¨ckh diesen im Nationalstaat. Die biologische und morphologische Einheit von Mensch und Welt wurde in der Ausstellung Schaffendes Volk 1937 unter anderen ideologischen Vorzeichen realisiert. Schon 1929 hatte Gustav Langen das von den Deutschen zu schaffende „große Gesamtkunstwerk“ in der „Lebensgestaltung“ gesehen, die im Deutschen Lebensraum ihren „sichtbare[n] Ausdruck“ fand.167 Fand die „Seele des Menschen“ in der „Seele [...] der Landschaft“ ihren Ausdruck,168 so konnte der „Lebensraum der Kleinstadt“ als „Leitbild“ zuku¨nftiger Planung angeraten169 und dieses Modell in den von ihm konzipierten Ausstellungshallen „Deutscher Lebensraum“ durchgespielt werden.170 Langens sta¨dtebauliches Leitbild der „Auflockerung zu starker Anha¨ufungen“ war nun dem „nationalsozialistische[n] Ideal einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ unterstellt.171 Wie Die neue Stadt des Leiters der Reichsstelle fu¨r Raumordnung Gottfried Feder folgte es dem „System der bewußten ho¨heren Ordnung“ des Gemeinnutzes.172 In der Folge wurde dieses Prinzip der Integration in die ho¨here Ordnung eines Gesamtorganismus im Leitbild der Stadtlandschaft formuliert und in den Bereichen der Um- und Besiedlung der Ostgebiete sowie, durch Otto, des Luftschutzes umgesetzt, und von Go¨deritz, Rainer und Hoffmann bis Anfang 1945 unter dem Titel Die gegliederte und aufgelockerte Stadt ausgearbeitet.173 Wie Architekten und Sta¨dtebauer sahen Psychologen die Integration in eine ho¨here Ordnung als Frage der Gesinnung, des Charakters, der in der menschlichen Physiognomie wie seinen Produkten ihren Ausdruck fand. Hatte das Leitbild in Klages’ Charakterologie der Bezeichnung seelischer Ausdruckskraft und in Prinzhorns 162 Ebd., S. 53. 163 Ebd., S. 43. 164 Ebd., S. 58. 165 Ebd. 166 Ebd., S. 59. 167 Langen, Deutscher Lebensraum (wie Anm. 132), S. 2. 168 Oswald Spengler, zit. in: ebd., S. 57. 169 Langen, Der Lebensraum der Kleinstadt (wie Anm. 134), S. 109ff. 170 Reichsausstellung Schaffendes Volk (wie Anm. 58), S. 6, S. 131–135. 171 Ebd., S. 134. 172 Gottfried Feder, Die neue Stadt, Berlin 1939. S. Durth/Sigel, Baukultur (wie Anm. 12) S. 348. 173 S. ebd., S. 385.

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Pathologie der Katalogisierung von Kreativita¨t gedient, so wurde es in der Psychologie dazu verwendet, integrierende und desintegrierende Wahrnehmungstypen zu unterscheiden. Nach Philipp Lersch war das Gesicht Ausdruck der Seele, der Aufbau des Charakters Produkt von „Erziehung“ und „erbbiologische[r] Zu¨chtung“.174 Als Charakter definierte er zugleich die autorita¨re Dimension von Willens- und Entschlusskraft und die integrative Fa¨higkeit, die Dualismen von Trieb und Willen, Gefu¨hl und Verstand, Erleben und Denken „gleichma¨ßig ausgewogen und funktional integriert“ zu verarbeiten.175 Diese Integration betraf die Innenwelt wie den individuellen Bezug zur Außenwelt, die Sehnsucht nach Erlo¨sung von der „Verlorenheit der Individuation“; hier wurde die „Einheitlichkeit“ individuellen Erlebens zum „Leitbild der Erfassung auch der Außenwelt“,176 sei diese die Ganzheit des „All-Lebens“ oder die von Rasse, Blut und Volk.177 Erich Rudolf Jaensch verwendete die Kategorien integrierender und desintegrierender Wahrnehmungstypen als Kriterien „psychische[r] Selektion“.178 Sie dienten zuna¨chst auf wissenschaftlichem Gebiet dazu, einen Dualismus zwischen dem biologistischen Typus ganzheitstheoretischer und dem materialistischen Gegentypus der zu u¨berwindenden gestalttheoretischen Wahrnehmung zu etablieren. Daru¨ber hinaus setzte Jaensch den integrierenden Typus der Ganzheitstheorie mit ‚nordischer‘, deutscher Wahrnehmung, den desintegrierenden „Gegentypus“ der Gestalttheorie mit ju¨discher, liberalistischer Wahrnehmung gleich.179 Lerschs und Jaenschs Theorien dienten dazu, das „Leitbild des nordischen Menschen“ fu¨r die Erziehungskonzepte in den Ost-Gebieten wie der „Neuordnung ¨ sthetik die Europas“ vorzuschlagen und im Verbund mit den Implikationen fu¨r die A 180 entsprechende sta¨dtebauliche Formensprache anzubieten.

174 Philipp Lersch, Gesicht und Seele: Grundlinien einer mimischen Diagnostik, Mu¨nchen 1932; Ders.,

Der Aufbau des Charakters, Leipzig 1938, S. 25.

175 Ebd., 21942, S. 281. 176 Ders., Innen und Außen (Henri Bergson), in: Ders./Thomas Rolf, Erlebnishorizonte: Schriften zur

Lebensphilosophie, Mu¨nchen 2011, S. 58.

177 Ders., zit. in: Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture, 1890–1967: Holism and the

Quest for Objectivity, Cambridge UK 1995, S. 346. 178 Erich Rudolf Jaensch, Eidentische Anlage und kindliches Seelenleben. Studie und Abhandlungen zur

¨ ber psychische Selektion, Grundlegung der Eidetik und Jugendanthropologie, Leipzig 1934; ders., U in: Zeitschrift fu¨r Psychologie 98 (1926), S. 129–206. 179 Ders., Der Gegentypus: psychologisch-anthropologische Grundlagen deutscher Kulturphilosophie, ausgehend von dem was wir u¨berwinden wollen, Leipzig 1938, S. 75f. S. a.: Ash, Gestalt Psychology (wie Anm. 177), S. 342ff. 180 Gerd Heinz Fischer, Wege, Ziele und Einsatz der rassenkundlichen Forschung (1942), zit. in: HansChristian Harten/Uwe Neirich/Matthias Schwerendt, Rassenhygiene und Erziehungsideologie des Dritten Reichs, Berlin 2006, S. 38. Volker Bo¨hnigk, Kunst und Typus. Zur rassisch fundier¨ sthetisierung der nationalsozialistischen Kunst, in: Die Moderne im Nationalsozialismus (wie ten A Anm. 97), S. 145–178. Schultze-Naumburgs Schriften wurden auch in der Zeitschrift fu¨r Rassenkunde vorgestellt (Bd. 8, 1938, Nr. 1, S. 109), sein Sohn vero¨ffentlichte dort: Bernhard Schultze-Naumburg, Die Vererbung des Charakters.

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Auch nach 1945 folgten die Planungen zum Wiederaufbau in unterschiedlichen Formen dem biozentrischen Leitbild der Stadtlandschaft,181 1948 vero¨ffentlichte Hans Bernhard Reichow Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur Stadtlandschaft, 1957 Go¨deritz, Rainer und Hoffmann Die gegliederte und aufgelockerte Stadt.182 Auch Ottos „Leitbild“, das er in dem Begleitbuch die stadt von morgen pra¨sentierte, war das der „Stadt-Landschaft“.183 Nach Otto waren Stadtbewohner „vital und psychisch“ von einer „Natur“ entfremdet, deren „Kraftfeld“ ihr „biologisches Gesetz“ sei. Um dieser „ko¨rperlich-seelischen“ Scha¨digung zu entgegnen,184 sollte die „Landschaft [...] zur Planungsgrundlage“ werden, sie sollte die Durchdringung von „Land und Stadt“ zur „Stadt-Landschaft“ gewa¨hrleisten. Durch die Verbindung von „sta¨dtische[r] Dichte“ und „la¨ndlicher Weite“ wu¨rde die Stadt als „Stadt-Landschaft – wieder ein kro¨nender Ort in der Landschaft sein“.185 Mit dieser Formulierung des Leitbildes bezog Otto sich auf den wissenschaftlichen Leiter der Ausstellung Erich Ku¨hn. Ku¨hn hatte zusammen mit dem einstigen Gewa¨hrsmann von Gropius und Moholy-Nagy Paul Vogler 1957 anla¨sslich der Interbau die Anthologie Medizin und Sta¨dtebau herausgegeben, in der emigrierte und ehemalige nationalsozialistische Vertreter der Dezentralisierung wie Martin Wagner, Hilberseimer, Hans Scharoun, Go¨deritz und Gutschow zu Wort kamen. Grundlegend behandelten Ku¨hn und Vogler die Beziehung zwischen „Mensch und Stadt“,186 um mit Bezug auf die Naturschutz- und Wandervogelbewegung als gemeinsamem „Leitbild“ von Medizin und Sta¨dtebau die vitalistischen, mnemischen und kybernetischen Selbststeuerungsprozesse der Biologie anzufu¨hren.187 Die biologische Organisation diente Ku¨hn als Grundlage einer „Wissenschaft des Sta¨dtebaus“,188 Vogler als Modell psycho-physischer Steuerungsprozesse der Medizin. Nach Vogler waren Reiz- und Informationsverarbeitung im Vitalismus „Regulation auf etwas Zuku¨nftiges“ hin, in der Neurophysiologie auf ein „verkleinertes oder vergro¨ßertes Ganzes“ bezogen und nun als eine auf „Wachstum“ ausgerichtete Regulation zu konzipieren, die im Begriff des „Mnemischen“, des „Geda¨chtnisses“, gefasst, Vererbungsfa¨higkeit, Regeneration, Gestaltlehre und Verhaltensforschung umfasste. Diese Auffassung zeigte sich nach Vogler schon in den Auffassungen Drieschs und Uexku¨lls, deutlich formuliert jedoch in Richard Semons Lehre der

181 Werner Durth/Niels Gutschow/Jo¨rn Du ¨ wel, 1945: Krieg – Zersto¨rung – Aufbau. Architektur und

Stadtplanung 1940–1960, Berlin 1999; Elke Sohn, Organicist Concepts of City Landscape in German Planning after the Second World War, in: Landscape Research 32, 4 (2007), S. 499–523. 182 Hans Bernhard Reichow, Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur Stadtlandschaft, Braunschweig u. a. 1948. Johannes Go¨deritz/Roland Rainer/Hubert Hoffmann, Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tu¨bingen 1957. 183 Otto, Die Stadt, in: Werk und Zeit 8, 12 (1959), S. 4–5, hier S. 5. 184 Ebd., S. 4. 185 Ebd., S. 5. 186 Erich Ku ¨ hn, Vorwort, in: Medizin und Sta¨dtebau: Ein Handbuch fu¨r gesundheitlichen Sta¨dtebau, hg. v. Dems./Paul Vogler, Mu¨nchen 1957, 2 Bde, Bd. 1, S. XI. 187 Ders., Sta¨dtebauliche Leitbilder, in: ebd., S. 572. 188 Ders., zit. in: Bernd Streich, Stadtplanung in der Wissensgesellschaft: Ein Handbuch, Wiesbaden 2005, S. 38.

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Mneme, nach der sich Reize als Engramme in den Organismus einschrieben, und aktueller in Walter Scheids Inbildlehre, nach der diese wechselnde ko¨rperliche Spannungszusta¨nde hervorriefen.189 War es nach Vogler auch mo¨glich, andere Modelle wie die der Kybernetik hinzuzuziehen, so empfahl er, das „Leitbild“ des „Mnemischen“ auf den Sta¨dtebau zu u¨bertragen.190 Dieses Leitbild erforderte zuna¨chst die Sicherung der „gesunden Grundfunktionen“ des Menschen und daru¨berhinaus dessen „ungehemmte Entwicklungsmo¨glichkeit, Entfaltungsmo¨glichkeit, ungehemmte Funktionalita¨t, Spontaneita¨t, Produktivita¨t, Freude, Glu¨ck“.191 Wie Lersch in seiner bis 1951 u¨berarbeiteten Studie zum Aufbau des Charakters, dem Aufbau der Person, die „Steuerung geistig-seelischen Lebens“ fokussierte,192 so ging es Vogler im „Experiment Stadt“ um die „Synthese zwischen Natur und Geist“, um die Mo¨glichkeit von „Entfaltung, Blu¨hen, Glu¨ck, Freude, Vision“, die auch er im Leitbild der Stadtlandschaft realisiert sah.193 Bediente sich Otto mit seiner Forderung, die Inhalte der stadt von morgen im ku¨nstlerischen Ausdruck der Ausstellung, durch ihr „Gesicht“ als „Kunstwerk“ aus „einem Guß“ zu vermitteln, der Terminologie von Charakterologie und Ganzheitstheorie,194 so folgte er mit seiner Suche nach neuen Maßsta¨ben einer ‚optischen Kultur‘ nicht nur Gropius und somit Kepes, sondern auch seinem wiedergefundenen Freund Rudolf Arnheim und somit dem Prinzip der Gestalttheorie. Auf diesem Prinzip basierte die Gestaltung der Photobu¨cher The Family of Man, Kunst und Naturform und The New Landscape, die der Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt zu entgegnen suchten und in diesem Interesse ‚Organisation‘, das ‚Denken in Strukturen‘ vermittelten.195 Diese Organisation folgte jedoch nicht den Selbststeuerungsprozessen der Biologie, sondern denen der Physik. Kepes und Arnheim folgten den Gestaltpsychologen Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Ko¨hler und Kurt Lewin. Lewin arbeitete nach seiner Emigration mit Nobert Wiener und verwendete die Kybernetik dazu, die Gestalttheorie zu einer Sozialpsychologie weiterzuentwickeln, die Konfigurationen autorita¨rer und demokratischer Gesellschaften untersuchen sollte und somit auch zur Erziehung des Bu¨rgers zum Bauherrn der Stadt dienen konnte.196

189 Richard Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip, Leipzig 1904. Walter Scheidt, Die menschlichen

Inbilder, Mu¨nchen 1954.

190 Vogler, Biologisch-mnemische Begriffssysteme zur Bilanzierung von Stadt und Zivilisation, in:

Medizin und Sta¨dtebau (wie Anm. 186), Bd. 2, S. 552–563, hier S. 560.

191 Ebd., S. 562. 192 Ders., Denkmodelle und Ordnungen in der Medizin, in: Medizin und Sta¨dtebau (wie Anm. 186), Bd. 1,

S. 142–179, hier S. 154. Lersch, Der Aufbau des Charakters (wie Anm. 174); ders., Aufbau der Person, Mu¨nchen 1951. Zu Tilgungen in den Ausgaben zwischen 1938 und 1951 s.: Robert Josef Kozljanic, Philipp Lersch – Psychologe des ‚Herrenmenschen‘ oder Psychologe der Innerlichkeit, in: e-Journal Philosophie der Psychologie, 2011, Nr. 15. 193 Ders., Biologisch-mnemische Begriffssysteme (wie Anm. 186), S. 561. 194 Otto, Ausblick (wie Anm. 68), S. 762. 195 Kepes, The New Landscape (wie Anm. 112), S. 13. Dworkin, The Family of Man (wie Anm. 73), S. 180. 196 Ash, Wissenschaft und Wissenschaftsaustausch, in: Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges, 1945–1968, hg. v. Detlef Junker, Mu¨nchen 2001, S. 634–645, hier S. 638f.

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1960 stellte Theodor Adorno mit seinem bekannten Vortrag Ohne Leitbild das Konzept selbst in Frage, und Edgar Salin gab mit seinem Vortrag Urbanita¨t das Stichwort zum Wechsel des Leitbildes der ‚gegliederten und aufgelockerten Stadt‘ zu dem von ‚Urbanita¨t durch Dichte‘. Dieses neue Paradigma hatte nach Jeffry Diefendorf amerikanische Wurzeln. Nach Diefendorf bezog sich Salin in seinem Vortrag auf die 1958 von der Zeitschrift Fortune herausgegebene Publikation The Exploding Metropolis, in der William H. Whyte und Jane Jacobs fu¨r die Dichte metropolitaner Zentren argumentieren, und sich Jacobs zum Beleg auf die von Gyo¨rgy Kepes und Kevin Lynch durchgefu¨hrte Forschung zu The Perceptual Form of the City bezog.197 Lynch vero¨ffentlichte 1960 die Studie als The Image of the City, in der er sich auf Kepes als Co-autor und Kenneth Bouldings Neue Leitbilder und somit auf ku¨nstlerische und wirtschaftswissenschaftliche Interpretationen kybernetischer Prozesse bezog.198 In zahlreiche Sprachen u¨bersetzt, beeinflusste die Studie jene „‚synergetische‘, kybernetische Denkweise“, die die Stadt als „nicht hierarchisch geordnetes Gebilde aus in sich geordneten, in wechselseitiger Abha¨ngigkeit befindlichen Elementen zu begreifen“ sucht, „als o¨kologisches System oder auch – anschaulich ausgedru¨ckt – als Landschaft“,199 sie beeinflusste vielfa¨ltige Konzeptionen von Stadtlandschaft als Zwischenstadt, Netzstadt und die facettenreichen Formen des Landscape Urbanism. Somit folgten sowohl die Ausstellung Die Wohnung als auch die stadt von morgen einer ‚Programmatik von gestern‘: sie suchten anhand vitalistischer, mnemischer und kybernetischer Modelle von Kreativita¨t „Experiment[e] der Totalita¨t“ gesellschaftlicher Entwicklung vorzunehmen.200 Mit unterschiedlichen ideologischen Begru¨ndungen und relativistischen und positivistischen Methoden folgten sie der Frage, wie der Entwurf im Sta¨dtebau – als Baukunst oder Wissenschaft – ein Raumgefu¨hl darstellt, das zugleich als Leitbild, als Lebensentwurf, den Bereich des sich-selbstVorwegseins, der Virtualita¨t, erfasst. War die Beziehung zwischen Raum und Schrift fu¨r die Entschlu¨sselung des Leitbildes entscheidend, so spielte fu¨r das Verha¨ltnis des Schreibenden zur Schrift wie des Entwerfenden zum Entwurf die Beziehung zwischen Auge und Hand und somit die Frage nach dem Leitmedium die grundlegende Rolle.

197 Jeffry Diefendorf, The West German Debate on Urban Planning, German Historical Institute Con-

ference on The American Impact on Western Europe: Americanization and Westernization in Transatlantic Perspective, March 1999. Conference papers published on the web site of the German Historical Institute: . 198 Kenneth E. Boulding, Die Neuen Leitbilder, Du¨sseldorf 1958. Dt.: Ders., The Image, Knowledge in Life and Society, Ann Arbor 1956; Kevin Lynch, The Image of the City, Cambridge MA 1960. 199 Thomas Sieverts, Was leisten sta¨dtebauliche Leitbilder?, in: Ohne Leitbild? Sta¨dtebau in Deutschland und Europa, hg. v. Heidede Becker, Stuttgart 1999, S. 21–40, hier S. 27. 200 Dieser Ausdruck stammt von Sibyl Moholy-Nagy, Moholy-Nagy: Experiment in Totality, Cambridge MA 1969.

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4. Urbane Leitmedien: Vom „Foto-Auge“ zur „Fernsehapparatur des Menschenauges“

Die Beziehung zwischen Auge und Hand, die ‚Erwartungen des anschaulichen Erfolgs‘ der Schrift, bemaßen sich am Erfolg durch neue Techniken entstandener Mediensysteme und deren Hierarchien dominanter und leitender Medien, jener Medien denen „gesellschaftlich eine Art Leitfunktion zukommt, [denen] Einfluß auf die Gesellschaft und auf andere Medien“ beigemessen wurde.201 Die Entwicklung neuer Mediensysteme und die damit verbundenen Diskussionen um Hierarchien und Medienbru¨che wird besonders an den Instrumentarien des Export-Urbanismus, den Photobu¨chern, deutlich. Die Photographie war als Medium der Dokumentation Anfang der 1920er Jahre in Journalismus und Heimatschutzbewegung, als Instrument der Forschung in den Naturwissenschaften und den Disziplinen der Kunstgeschichte und Soziologie lange anerkannt. In Ku¨nstlergruppen wie am Bauhaus wurden erst zu Beginn der 1920er Jahre die Reproduktionsmedien Photographie und Film als Medien ku¨nstlerischer Produktion akzeptiert, das Verha¨ltnis von Hand und Auge durch das ‚Foto-Auge‘ ersetzt. War nach Jan Tschichold mit dem Typophoto „der individualistischen Form der Grafik: Handschrift – Zeichnung [...] die kollektive Form: Typo – Foto“ gegenu¨bergetreten,202 so sah Moholy-Nagy die Photographie als „anonyme Hand“, als Montage, die trotzdem zur „Signatur“ wurde.203 In der Folge bestimmte die Photographie die Konzeption der ‚Bilderbu¨cher‘ oder Typophotos. Sprach Herta Wolf der Photographie die Rolle eines Leitmediums zu,204 so subsummierte Friedrich Kittler das Medium unter den Printmedien, da dieses sich als „automatisierte Lithographie“ in den Text integrieren lasse.205 In diesem Sinn hatte auch Moholy-Nagy vorgeschlagen, die Photographie als „Foto-text“ zur Erweiterung der ‚linearen‘ Dimension der ‚Gutenberg Galaxis‘ zu verwenden.206 Doch fu¨r ihn waren die Grenzen zwischen Photographie und Film fließend. Anhand der Experimentalfilme Eggelings und Richters entwickelte er als Beispiel eines Typophotos das Filmskript „Dynamik der Groß-Stadt“.207 Die „Industrie-‚Landschaft‘“ Berlins hatte Moholy-Nagys Werk beeinflusst, doch war es nicht die „Projektion der mit ‚fotografischen‘ Augen gesehenen Realita¨t“, es waren „neue Strukturen“, die aus seiner „perso¨nlichen Version der Technologie“, der „Montage“, gebildet waren. Aus

201 Ju¨rgen Wilke, zit. in: Jens Ruchatz, Vom Nutzen und Nachteil der Leitmedien fu¨r die Medienhisto-

riographie, in: Leitmedien (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 127.

202 Jan Tschichold, Fotografie und Typografie, in: Die Form 5 (1928), wieder abgedruckt in: Die Form

(wie Anm. 19) S. 279–283, hier S. 283.

203 Louis Kaplan, La´szlo´ Moholy-Nagy: Biographical Writings, Durham 1995, Kap. 4, 5. 204 Herta Wolf, Einleitung, in: Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters,

hg. v. ders., Frankfurt a. M. 2002, S. 7–19, hier S. 17.

205 Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 185. 206 Moholy-Nagy, Malerei (wie Anm. 16), S. 34. 207 Ebd., S. 38, 120–135.

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¨ ußerung schloss Gianni Rondolino, dass Moholy nicht Malerei und Photodieser A graphie, sondern den Film als „bevorzugtes Mittel“ verwendet habe.208 Die Mitglieder der G Gruppe und des Bauhauses sahen den Film als das Medium der Zeit. Fu¨r Moholy-Nagy war die „optische Einstellung“ der Zeit die „des Films, der Lichtreklame“.209 Nach Hilberseimer zeigten die experimentellen Filme Eggelings und Richters den „Weg zu einem Gesamtkunstwerk“, sie demonstrierten, dass Kunst keine „Explosion eines Individuums“ sei, sondern grundlegende Bedeutung fu¨r die „gesamte Menschheit“ hatte.210 Graeff entwarf experimentelle Filme bevor er sich den Typophotos der Fotobu¨cher zuwandte,211 Johannes Molzahn entwickelte das Typophoto zum ‚Buchkinema‘. Entsprechend folgte die Zeitschrift G, so Edward Dimendberg, dem Dispositiv des Kinos212 und auch die Ausstellungen selbst, so Olivier Lugon, folgten einem „cinematographic model“; deren Gestaltung entsprach nicht nur „photoshoots but also cinematographic vision“.213 Auch Mies verwendete die Ausstellungen nach Wallis Miller dazu, seine Form der Montage zu entwickeln,214 eine Form, die nach Detlef Mertins der Bewegungskunst des experimentellen Films folgend, Baukunst als „filmische Poesie“ umsetzte.215 Doch Foto-Auge, Kino-Auge und das Radio-Auge Dziga Vertovs sah Moholy-Nagy nur als Phasen in der Evolution internationaler Versta¨ndigung. In Malerei, Photographie, Film konzipierte er „Typografie, Film, Radio“ und „Telehor: den Fernseher“ nicht als Produkte der Neugier oder Wirtschaft, sondern als Produkte des „tiefe[n] menschliche[n] Interesse[s] an den Vorga¨ngen in der Welt“.216 Fu¨r ihn dienten Medien im darwinistischen Sinn der Evolution des Individuums wie der Gesellschaft. Auch fu¨r Ernst Ja¨ckh „versta¨rken, ja vermehren“ die Entwicklungen der Technik, „Kino-Auge“ und „Radio-Auge“, nicht nur die menschlichen Sinne, sie formierten „Geist“ und „Seele“: sie vermittelten „neue Sinnesfa¨higkeiten“, „neue Geisteswelten“ erlebten „neue Werte“. Im Verbund mit den Wissenschaften vera¨nderten die Medien den „Menschen der Hormone wie die Gesellschaft der Menschen“.217 ¨ ber die VerDiesem Interesse war die Ausstellung Schaffendes Volk unterstellt. U anstaltung wurde nicht nur in fast allen deutschen und vielen ausla¨ndischen Zeitschriften, Radio und Fernsehen berichtet, auch die Ausstellung selbst pra¨sentierte 208 Gianni Rondolino, La´szlo´ Moholy-Nagy, Stuttgart 1991, S. 13, 14. 209 Moholy-Nagy, Malerei (wie Anm. 16), S. 37. 210 Ludwig Hilberseimer, Bewegungskunst, in: Sozialistische Monatshefte 27 (1921), Nr. 56, S. 467–468,

hier S. 467.

211 Thomas Mank, Das Absolute bewa¨hrt sich an der Gewissheit der Mathematik. Werner Graeff und der

experimentelle Film, in: Konstruktion und Formerlebnis: Werkbund und Freie Kunst, hg. v. Andreas Zeising, Wuppertal 2007, S. 58–63. 212 Edward Dimendberg, Toward an Elemental Cinema: Film Aesthetics and Practice in G, in: G: An Avant-Garde Journal (wie Anm. 27). 213 Olivier Lugon, Dynamic Paths of Thought. Exhibition Design, Photography and Circulation in the Work of Herbert Bayer, in: Cinema Beyond Film. Media Epistemology in the Modern Era, hg. v. Albera Francois/Tortajada Maria, Amsterdam 2010, S. 117–144, hier S. 128. 214 Miller, Mies van der Rohe und die Ausstellungen (wie Anm. 29), S. 346. 215 Ebd. Detlef Mertins, Architektonik des Werdens: Mies van der Rohe und die Avantgarde, in: Mies in Berlin (wie Anm. 28), S. 107–133, hier S. 133. 216 Moholy-Nagy, Malerei (wie Anm. 16), S. 36. 217 Ja¨ckh, Idee und Realisierung (wie Anm. 19), S. 44.

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in der Halle der „Reichspost“ die Entwicklungen in der Kommunikation wie die „Bildtelegraphie“, die „hochinteressante Neuerung“ des „Fernsehsprechen[s]“ und das „Fernsehen“.218 Nach Knut Hicketier wurde im Nationalsozialismus ein „neues Wahrnehmungsdispositiv“ verfolgt, das die Integration der Bevo¨lkerung in einem Staat betrieb, der als „Volksganzes“ ausgegeben wurde. Die dispositiven Strukturen dienten der „Monumentalisierung von Staat und Partei als u¨bergeordnetem Ganzen“ und wurden besonders durch Film und Radio, weniger durch das Fernsehen umgesetzt.219 In der Ausstellung die stadt von morgen hatte sich das gea¨ndert. Fu¨r Otto ging es darum, anhand neuer „Maßsta¨be fu¨r eine optische Kultur“ ein demokratisches Bewusstsein zu schaffen. Wissenschaft und Kunst sollten als „aristokratische Bereiche unvera¨ußerlicher scho¨pferischer und geistiger Freiheit“ gegen „staatlichen Dirigismus“ und „Massendemokratie“ fu¨r diese Freiheit eintreten.220 Entsprechend erfolgte die Vermittlung der Ausstellungsinhalte im Begleitbuch der Ausstellung durch Wort und Bild, in seiner Rolle als Direktor der Berliner Hochschule fu¨r Bildende Ku¨nste riet er den Studenten, sich an dem Photobuch Kunst und Naturform zu orientieren, dessen Gegenu¨berstellungen wissenschaftlicher Aufnahmen und ku¨nstlerischer Werke eine „neue Welt der Formen, Linien und Strukturen“ sichtbar machte.221 In der Umsetzung sollten seine Ho¨rer jedoch im Anschluss an Hans Richters kinematographische „dynamische Bild[er]“ das „optische Magnetband“ dazu verwenden, „Bildkompositionen“ aufzunehmen und zu senden.222 Mit seiner Vision einer demokratischen ‚optischen Kultur‘ folgte Otto Gropius „Wege[n] zu einer optischen Kultur“. Hier hatte Gropius das Fernsehen allerdings weniger als ku¨nstlerisches Mittel, denn grundlegend als Mittel visueller Wahrnehmung konzipiert. So konstatierte er anla¨sslich seines Vortrages an der TU Berlin, dass jeder „normale Mensch“ u¨ber die „gleichen Organe“ der Wahrnehmung verfu¨ge: das „komplizierte Fernsehgera¨t unseres Auges“ ermo¨glichte, durch „feinste elektrische Stro¨mungen [...] die Umwelt wahrzunehmen“.223 Nach Gropius verwandelte der „Fernsehapparat des menschlichen Auges [...] wie ein Radiosender optische Bilder in elektrische Wellen.“224 (Abb. 9) Gropius bezog sich auf Kepes’ ‚picture book‘ The New Landscape, in dem keine Inhalte, sondern mentale „Organisation“, „Denken in Strukturen“ vermittelt werden sollte.225 Kepes sah visuelle Wahrnehmung als kybernetischen Prozess der Selbstregelung, der auf den Gesetzen von feedback und

218 Reichsausstellung Schaffendes Volk (wie Anm. 58), S. 7. 219 Knut Hickethier, Geschichte des Deutschen Fernsehens, Stuttgart 1997, S. 33–34. Zur limitierten

Effektivita¨t des Dispositivs: Clemens Zimmermann, Medien im Nationalsozialismus. Deutschland 1933–1945, Italien 1922–1943, Spanien 1936–1951, Wien u. a. 2007; Corey Ross, Media and the Making of Modern Germany. Mass Communications, Society, and Politics from the Empire to the Third Reich, Oxford, UK 2008. Fu¨r diesen Hinweis danke ich Clemens Zimmermann. 220 Otto, Vortragsmanuskript (wie Anm. 75), S. 10. 221 Ebd., S. 3. Georg Schmidt/Robert Schenk, Kunst und Naturform, Basel 1960. 222 Ebd., S. 7. 223 Gropius, Vortragsmanuskript (wie Anm. 76), S. 2. 224 Ders., Architektur (wie Anm. 76), S. 30. 225 Kepes, The New Landscape (wie Anm. 112), S. 13.

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Interdependenz beruhte. Fu¨r ihn erforderten die Medien Kino, Radio und Fernsehen nicht nur „a new thinking, i. e. seeing, that takes into account qualities of change [, and] interpenetration“, sie verbesserten auch die sinnlichen und kognitiven Fa¨higkeiten und vergro¨ßerten somit die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt.226 Fu¨r

Abb. 9: Doppelseite aus „Scope of Total Architecture“. Oben links (Fig. 10): „The television apparatus of the human eye“ Quelle: Walter Gropius, Scope of Total Architecture, New York, NY 1955, Abb. 10–18

Kepes hatten die Techniken der Wissenschaft die Mo¨glichkeit neuer sinnlicher Erfahrungen erschlossen. Um diese „neue Landschaft“ der Wissenschaft zu begreifen, war es erforderlich, diese mit den „Sinnen [zu] beru¨hren“ und innere „Bilder [zu] schaffen“, durch die diese „neue Welt“ angeeignet werden konnte. Um dies zu ermo¨glichen, musste das „Sehen sich a¨ndern“.227 (Abb. 10) Sei es Photographie, Kino, Radio oder Fernsehen, die Medien versprachen die Simultaneita¨t der Wahrnehmung. Fu¨r Gropius waren es ‚Weltverkehr und Welttechnik‘, nach Ja¨ckh die „Drahtlosigkeit“ von Wirtschaft und Technik, die die Welt „zu einem einzigen ‚zusammenha¨ngenden‘ 226 Ders., Language of Vision (1944), New York 1995, S. 176. 227 Ders., Gesichtsfeld unserer Zeit, in: Das Werk 45 (1958), S. 40–45, hier S. 45.

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Kontinent“ zusammenru¨ckten. Die Medien erlaubten die Entwicklung eines „neuen Raummaßes“ und einer „neuen Zeitrechnung“: „Zum Fernsprechen und Fernho¨ren fu¨gt sich das Fernsehen und Fernphotographieren um den Globus wie um eine Litfaßsa¨ule herum“.228 Fu¨r Moholy-Nagy ermo¨glichten die Medien direkte internationale Versta¨ndigung, die „Simultaneita¨t sinnlich wahrnehmbarer Ereignisse“. Die „Bildtelegrafie“ erlaubte die Beschaffung von Abbildungen „im Augenblick“, das Fernsehen „u¨berall und doch allein“ zu sein.229 Zwar reichten „Schnelligkeit und Weite des Denkens“ nicht aus, alle Mo¨glichkeiten der Techniken vorherzusehen, doch sollten seine „Fotoplastiken“ zumindest als Versuche einer „simultanen Darstellung“ dienen.230 Im Anschluss an Moholy-Nagy suchte Kepes in seiner Ausstellung The New Landscape of Art and Science von 1951, die er 1956 als „picture book“ vero¨ffentlichte, „interpenetration and simultaneity“ sichtbar zu machen (Abb. 11).231 In diesem Sinn sollte auch die Ausstellung Kunst und Naturform den „Gesamtzusammenhang der menschlichen Kulturentwicklung“ aufzeigen.232 Hierzu sollte die „simultan[e]“ Pra¨sentation der Exponate die „frei[e]“ Betrachtung ermo¨glichen, eine Form, die im Buch nur durch „vor- und zuru¨ckbla¨ttern“ erreicht werden konnte.233 Fu¨r dieses medial gestu¨tzte Konzept simultanen Sehens spielte die Wahrnehmungspsychologie eine fu¨hrende Rolle. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten schon Vitalisten wie Bergson und France´ visuelle Erfahrung als Sequenz kinematographischer Momentaufnahmen gefasst, Semon konzipierte diese als Prozess kinematographischer Engraphie, den Organismus als Geda¨chtnis, Mneme, auch vererblicher Engramme.234 Im Anschluss bedienten sich Bio-, Gestalt- und Ganzheitspsychologen sowie Physiologen des Dispositivs des Kinos, um menschliche Wahrnehmung als Syntheseleistung zu konzipieren. Fu¨r Klages waren Prozesse medialer Repra¨sentation und bewusster Wahrnehmung eng verbunden; wie kinematografische Momentund Zeitlupenaufnahme zeigten, waren „Vera¨nderungen der Wahrnehmungswelt“ und „Tempovera¨nderungen der geistigen Akte“ eng miteinander verschra¨nkt.235 Diese Beobachtung schloss er aus Melchior Pala´gyis Arbeit u¨ber die vitale Phantasie raum-zeitlicher Wahrnehmung. Auch als „philosophische Grundlage der Relativita¨tstheorie“ gewertet,236 stellt Pala´gyis Wahrnehmungstheorie nach Stefan Rieger 228 Ja¨ckh, Neudeutsche Ausstellungspolitik (wie Anm. 34), S. 69. 229 Moholy-Nagy, Malerei (wie Anm. 16), S. 37, 36. 230 Ebd., S. 34. 231 Kepes, Language of Vision (wie Anm. 226), S. 176. 232 Georg Schmidt, Vom Sinn der Parallele ‚Kunst und Naturform‘, in: Ders./Robert Schenk, Kunst und

Naturform (wie Anm. 221), S. 23–28, hier S. 28.

233 Ebd., S. 23. 234 Semon, Die Mneme (wie Anm. 189). Stefan Rieger, Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme

und/oder Mnemosyne, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fu¨r Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), S. 245–263. 235 Ludwig Klages, Einfu¨hrendes Vorwort zu: Melchior Pala´gyi, Wahrnehmungslehre, Leipzig 1924, S. XI. 236 Rieger, Virtualita¨t avant la lettre. Unverha¨ltnisma¨ßigkeiten zwischen Gedankenexperiment und technischen Medien, in: Ordnung und Kontingenz. Das kybernetische Modell in den Ku¨nsten, hg. v. Hans Esselborn, Wu¨rzburg 2008, S. 43–57, hier S. 46.

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Abb. 10: Gegenu¨berstellung von Mikro- und Makrophotographie Quelle: Gyo¨rgy Kepes, The New Landscape in Art and Science, Chicago 1956, Abb. 273 und 81

Abb. 11: „The New Landscape Exhibition“, Massachusetts Institute of Technology, 1951 Quelle: Gyo¨rgy Kepes, The New Landscape in Art and Science, Chicago 1956, Abb. 74

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eine „Virtualita¨t avant la lettre“ dar: die „Vollzugsweise des menschlichen [...] Seins ist der Entwurf. Das Virtuelle wird zur Modalita¨t, die Phantasie zu alles steuernden Instanz“.237 Anhand des Dispositivs Kino konzipierte Wertheimer seine Theorie ‚produktiven Denkens‘, die Gestalttheorie, als Montage von Einzelbildern zu einer Gesamtheit.238 Lieferte das Dispositiv fu¨r Semon die Kombinatorik, fu¨r Klages die Intervalle und fu¨r Wertheimer die Synthese des Verstehens, so verwendeten Jaensch und seine Schu¨ler Momentphotographie und Kinematographie, um anhand dieser medialen „Typen der Vorstellungsbilder“ ihre „psychische Selektion“ desintegrierender S- und integrierender J-Typen vorzunehmen.239 Im Anschluss an die Psychologen konnte der Mediziner Fritz Kahn 1929 visuelle Wahrnehmung schlicht als „Kinotechnik des Sehens“ beschreiben.240 1939 ersetzte Gropius’ Kronzeuge Kahn die kinematographische Montage durch die elektronische Mustererkennung des Fernsehens, die ‚Kinotechnik des Sehens‘ durch die „Fernsehapparatur des Menschenauges“. Nach Kahn zerlegte die Netzhaut als „Bildscheibe des Menschenauges“ die „Außenweltbilder“ in „Bildpunkte“, diese wurden anhand von „Schaltzellen“ in „(elektrischen) Strom“ verwandelt und als „elektrische[s] Bild“ durch die „Sehnervenleitung“ zum Gehirn geschickt. Wahrnehmung konnte so auf Aufnahme und Sendung verpflichtet als Sprache des Sehens im Ensemble prima¨rer, sekunda¨rer und tertia¨rer Medien konzipiert werden, denn „Technik und Natur verwenden fu¨r den Bilddruck das gleiche Verfahren“: „Die Bildaufnahme in Auge, Buchdruck und Fernsehen“ erfolgt „durch die Zerlegung des Bildes in einzelne Punkte“, den „Raster“.241 Auch Vertreter der Gestalt- und Ganzheitstheorie verwendeten die Bildabtastung des Fernsehens als Modell fu¨r Wahrnehmung und Vorstellung. So ersetzte im Anschluss an Wiener Kurt Lewin Wertheimers Prinzip filmischer Montage durch das fernsehtechnischer Rastereinteilung, die Objekterkennung der Gestalttheorie durch das kybernetische feedback der Feldtheorie.242 Voglers Gewa¨hrsmann Scheidt vertrat, dass beim „Sehen“ wie beim „FernsehSenden“ „Lichtenergie in elektrische Energie“ umgewandelt werde und diese den Spannungszustand, das ‚Inbild‘, des menschlichen Systems organismischer Selbststeuerung kontinuierlich a¨ndere.243

237 Ebd. 238 Christoph Hoffmann, Phi-Pha¨nomen Film. Der Kinematograph als Ereignis experimenteller Psycho-

logie um 1900, in: Die Adresse des Mediums, hg. v. Stefan Andriopoulos, Ko¨ln 2001, S. 236–252.

239 Jaensch, Die Eidetik und die typologische Forschungsmethode in ihrer Bedeutung fu¨r die Jugendpsy-

chologie, fu¨r die allgemeine Psychologie und die Psychophysiologie der menschlichen Perso¨nlichkeit, ¨ ber psychische Selektion (wie Anm. 178); Hans Hennig, Neue Typen der Leipzig 21927; Ders., U Vorstellungsbilder und die Entwicklung des Vorstellens, in: Zeitschrift fu¨r angewandte Psychologie 22 (1923), S. 387–392; Rieger, Optische Komplexita¨t. Zur (psycho)technischen Unvermeidlichkeit der Bilder um 1900, in: Die Unvermeidlichkeit der Bilder, hg. v. Gerhart v. Graevenitz/dems./Felix Thu¨rlemann, Tu¨bingen 2001, S. 207–222. 240 Fritz Kahn, Die Kinotechnik des Sehens, in: Ders., Das Leben des Menschen, Eine volkstu¨mliche Anatomie, Biologie, Physiologie und Entwicklungsgeschichte des Menschen, 5 Bde., Stuttgart 1924–29, Bd. 4, Tafel VIII. 241 Ders., Der Mensch gesund und krank: Menschenkunde 1940, Zu¨rich u. a. 1939, 2 Bde., Bd. 2, S. 325. 242 S. Rieger, Kybernetische Anthropologie, Frankfurt a. M. 2003, S. 95ff. 243 Walter Scheidt, Der Mensch. Naturgeschichte seines Verhaltens, Mu¨nchen u. a. 1966, S. 53.

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Ob als Grundlage biologischer und kybernetischer Begru¨ndungen der menschlichen Natur,244 die Analogie zwischen Auge und Apparat diente dazu, das Subjekt medienanthropologisch oder mediensystemisch zu fassen. Im ersteren Fall wurden die Medien als Verla¨ngerungen der Organe konzipiert, eine Konzeption, die Moholy-Nagy, Ja¨ckh und aktueller Marshall McLuhan vertraten. Im letzteren Fall konnte das Subjekt auf Funktionsweisen der Kommunikation festgelegt werden, eine Auffassung, fu¨r die unter anderen Kahn, Gropius, Kepes und aktueller Friedrich Kittler argumentierten. Hier wird das Individuum weder als Produzent noch als Produkt der Umwelt konzipiert, sondern als Mittler, als Medium, innerer und a¨ußerer Welten. Durch die angenommene Analogie zwischen organischen und technischen Systemen konnte deren Leistungsfa¨higkeit nicht nur vermessen, bemessen und gesteigert werden, die Hierarchien vom Prima¨rmedium Sprache bis zum interaktiven Quarta¨rmedium ko¨nnen durchlaufen und kombiniert werden,245 um den „Menschen zum Medium“ zu erkla¨ren und in das Medienensemble einzubinden.246 Diese mediale Konzeption des Menschen diente nicht nur dazu, diesen auf Kommunikation, auf Sprache, auszulegen, die mediale Konzeption des Sehens erlaubte, eine visuelle Sprache zu entwickeln, die die Unterschiede gesprochener und schriftlicher Sprachen unterlief. Verwendete die Vo¨lkerpsychologie die ‚Ausdrucksbewegung‘ der Sprache als Schlu¨ssel zur Dekodierung der Mensch-Mensch und MenschUmweltbeziehung, so diente Klages die Objektivierung der Sprache in der Handschrift als Schlu¨ssel zur Bewusstmachung der unbewussten Mensch-Umwelt Beziehung, des perso¨nlichen Leitbildes. In diesem Sinn sahen die Gru¨nder der G Gruppe, Richter und Eggeling, ihre kinematische Bewegungskunst als „Sprache der Psyche“, die „Form-Sprache“ ihrer experimentellen Filme sollte zeigen, dass Kunst keine „Explosion eines Individuums“, sondern als „organische Sprache der Menschen“ fungierte.247 Im Anschluss entwickelte Moholy-Nagy seine exakte „Sprache des Photographischen“ als Grundlage seiner neuen Typographie,248 die nach Annie Bourneuf den Weg zu einer „new language, a new pictographic writing for collective reading“ ebnen wollte.249 Zusammen mit und im Anschluss an Moholy-Nagy konzipierte und vero¨ffentlichte Kepes 1944 Language of Vision und damit die „visuelle Sprache“, die

244 1972 gaben Vogler und Hans Georg Gadamer ihre Neue Biologische Anthropologie heraus; 2 Bde.,

Stuttgart 1972. Siehe Voglers Beschreibung des Buchprojekts in Ders., Disziplina¨rer Methodenkontext und Menschenbild, in: Stadt und Landschaft: Raum und Zeit, hg. v. Erich Ku¨hn/Alfred C. Boettger/Wolfram Pflug, Bonn 1969, S. 28: „Seine spefizifische Struktur, seine durchga¨ngige Identita¨t, die Vielfalt seiner kybernetischen Selbstregulationen und Selbstoptimierungen, die Mannigfaltigkeit seiner Selbstdarstellung und Innerlichkeit, alles was er prinzipiell mit anderen Lebewesen gemein hat und was ihn von diesen abhebt, wie er antritt, wa¨chst, wirkt und altert ist Gegenstand der Anthropologie in diesem Sinne.“ 245 Zur Medienhierarchie: Hanno Beth/Harry Pross, Einfu¨hrung in die Kommunikationswissenschaft, Stuttgart u. a. 1976. 246 Rieger, Die A ¨ sthetik des Menschen: U ¨ ber das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a. M. 2002, S. 263. 247 Hans Richter und Viking Eggeling, zit. in: Louise O’Konor, Viking Eggeling 1880–1925: Artist and Film-Maker, Life and Work, Stockholm 1971, S. 90f. 248 Moholy-Nagy, Photographie in der Reklame, Photographische Korrespondenz 63, 9 (1929), S. 258. 249 Bourneuf, A Refuge for Script (wie Anm. 114), S. 108. Hervorhebung: N. H.

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es Gropius ermo¨glichte, anhand eines „supra-individualistische[n] System[s]“ gestalterischer „Formsprache“ eine „Wissenschaft der Gestaltung“ zu entwickeln.250 Die Entwicklung photographischer, kinematographischer und digitaler Konzeptionen des Dominanzmediums Photobuch zeigt, dass die Medienumbru¨che von Photographie zu Kino und Fernsehen nicht durch den „Aufstieg und Abstieg einzelner ¨ ffentlichkeiten Leitmedien“ zu erkla¨ren sind, sondern durch Verschiebungen der O einer „in mehreren Medien operierenden Mediengesellschaft“.251 Anhand der Konzeptionen der Bauausstellungen und Photobu¨cher wird deutlich, dass sich diese Ver¨ ffentlichkeit, sonschiebungen nicht nur auf tatsa¨chliche Rekonfigurationen der O dern auch auf utopische, technokratische oder partizipatorische Visionen zuku¨nftiger Gesellschaftsstruktur beziehen. Die Entwicklung vom ‚Foto-Auge‘ bis zum ‚Fernsehgera¨t des Auges‘, von der Ausdrucksbewegung der gesprochenen Sprache bis zum feedback der ‚Sprache des Sehens‘ offenbart, dass Konzepte von Stadt nicht nur u¨ber menschliche Wahrnehmungen und ihre soziale Praxis des Photographierens, ins Kino gehens und Fernsehens realisiert werden sollten, sie zeigt, dass visuelle Wahrnehmung grundlegend als soziale Praxis konzipiert war. Als soziale Praxis, in ihrer Auspra¨gung von kreativem und wissenschaftlichem Sehen, von Phantasie und Weitsichtigkeit, diente das Sehen als Grundlage zur Entwicklung ku¨nstlerischer, technokratischer und wissenschaftlicher Konzepte des Sta¨dtebaus. Fu¨r Gropius ermo¨glichte die Wahrnehmungspsychologie die Entwicklung einer „Wissenschaft der Gestaltung“, sie erlaubte, den „psychologischen Problemen der Gestaltung, da sie grundlegend sind, den Vorrang [zu] geben, wa¨hrend die technische Komponente im Entwurf nur unser praktisches Mittel ist, den geistigen Gedanken sichtbar zu machen“. Somit stand von Mies’ Definition von Baukunst als Ausdruck geistiger Entscheidung bis zu Gropius’ Wissenschaft der Gestaltung als Sichtbarmachung des geistigen Gedankens nicht die Typisierung der Produktion, sondern der Konzeption, der Entwurf des Sta¨dtischen im Mittelpunkt. Das Wort Entwurf umfaßte hier jedoch nicht nur den von Gropius angefu¨hrten „ganzen Bereich der vom Menschen gestalteten sichtbaren Umgebung“,252 sondern gerade jenen Bereich des sich-selbst-Vorwegseins, der Virtualita¨t, der von Pala`gyis vitaler bis zu Wieners kybernetisch strukturierter Phantasie, die Konzeption, das Leitbild, des Entwerfers, an jene praktischen Mittel der Kommunikation, der bewusstseinserweiternden Leitmedien bindet. Diese Ru¨ckbindung der Leitbilder an die Leitmedien zeigt nicht nur, wie diese als Fundament zur Konstruktion einer neuen Welt, neuer Landschaften dienen sollten, grundlegender zeigt sie die mediale Konstruktion der Stadt, die Medialita¨t des Urbanen.

250 Kepes, Language of Vision (wie Anm. 226); Gropius, Architektur (wie Anm. 76), S. 20. 251 Corinna Mu ¨ ffentlichkeit. Vom Umbruch der Medien zum Umbruch ¨ ller/Harro Segeberg, Kino-O

der Medieno¨ffentlichkeiten, in: Leitmedien (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 113–126, hier S. 113.

252 Gropius, Architektur (wie Anm. 76), S. 26.

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5. Schluss: Bauausstellungen der Moderne – Moderne der Bauausstellungen In der Beziehung zwischen der Typologie der Bauausstellung und der Typographie ihrer Verbreitung, zwischen dem Expo-Urbanismus der Versuchssiedlung und dem Export-Urbanismus des Photobuchs, zeigen sich die Wechselwirkungen zwischen Ort und Netzwerk, Stadt und Medien. In der Verschra¨nkung der Verschriftlichung des Raumes durch die Ausstellungen und der Verra¨umlichung der Schrift durch die Printmedien wird deutlich, dass Medien nicht der Auflo¨sung, sondern vielmehr der Restrukturierung des sta¨dtischen Raumes dienten. Die Bauausstellungen in Stuttgart, Du¨sseldorf und Berlin verdeutlichen, dass die Entwicklung von Medien nicht zu einer Globalisierung des Sta¨dtischen fu¨hrte, sondern umgekehrt durch die Lokalisierung sta¨dtischer Institutionen der Innovation, des Werkbunds, der ArchitekturSchulen und ku¨nstlerisch-professionellen Vereinigungen, befo¨rdert wurde. Als Innovationsorte stimulierten diese Sta¨dte somit die Konzeption von Mediensystemen, die jedoch zugleich der Re-Konstruktion eines Sta¨dtischen dienten, dessen lokale Ausdehnung von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik in sich a¨ndernde transnationale und globale Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung eingebunden war. So pra¨sentierte die Stuttgarter Ausstellung von 1927 ein internationales Stadtmodell, das an den Entwicklungen in den USA orientiert war, die Du¨sseldorfer Ausstellung von 1937 ein nationales Modell, das auf einer Nord-Su¨d-Hierarchie basierend auf Osterweiterung angelegt war, und die Berliner Ausstellung von 1957 bezog sich auf die internationalen Bauausstellungen der Weimarer Republik, um den Dualismus totalita¨rer und demokratischer Gesellschaftsmodelle als Instrument transnationaler Systemkonkurrenz im Kontext des Ost-West Konflikts einzusetzen. Diese Wechselwirkung zwischen Stadt und Medien, Raum und Schrift, zwischen der typographischen Typologie der Ausstellungen und der typologischen Typographie der Photobu¨cher, ero¨ffnet den Blick auf die transnationale, die Verflechtung von Leitbildern und Leitmedien die Sicht auf die experimentelle und mediale Dimension der Moderne. Diese Perspektiven ermo¨glichen eine Bestimmung von Moderne, die nicht anhand der Techniken der Produktion, der Industrialisierung, sondern der der Kommunikation, der Vernetzung, vorgenommen wird. Die Untersuchung der Techniken der Kommunikation macht nicht nur die Definition des Menschen als soziales Wesen sichtbar, er zeigt die zugleich vorgenommenen anthropologischen, religio¨sen, rassischen und politischen Letztbestimmungen der Natur des Menschen. Diese Perspektive ermo¨glicht, außer den epochalen Bestimmungen von erster und zweiter Moderne und den ra¨umlichen Definitionen von lokaler und globaler Moderne, eine dialogische Dimension der Moderne sichtbar zu machen: Pra¨sentierten die Bauausstellungen einen internationalen Urbanismus der supranational konzipiert, gro¨ßtenteils transkontinental orientiert und grundlegend national motiviert war, so ero¨ffneten sie zugleich die Mo¨glichkeit eines globalen Urbanismus, der eine lokal-komparative Diskussion u¨ber grundlegende Werte, seien diese Chancengleichheit, Ressourcenschutz, Nachhaltigkeit oder Gesundheit, ermo¨glicht und die geopolitischen Implikationen fu¨r Ost-West Beziehungen und Nord-Su¨d Gefa¨lle in den Blick nimmt.

LOST IN TRANSFORMATION? Sta¨dtische Selbstdarstellung in Stadt(werbe)filmen der 1950er bis 1970er Jahre* von Katrin Minner

1. Einleitung ¨ ber 642 000 Einwohner, Metropole des Westfalenlan„Verkaufobjekt: eine Stadt. U des, Stadt des Biers, Stadt der Kohle, Stadt des Stahls, nur: Das Image ist angekratzt. Denn Dortmund liegt im Kohlenrevier, Ruß, dreckige Ha¨userfassaden, Kumpelatmospha¨re, miese Maloche: So stellt sich der Nichtkundige draußen im Lande das industrielle Herz der Bundesrepublik vor, mit diesem Ruf muß auch Dortmund leben. Fu¨r immer? Nein, meinen die Imagefo¨rderer der Stadt, das Informations- und Presseamt trat zum Angriff an.“1 So skizzierte im Jahr 1972 der Leiter des Dortmunder Informations- und Presseamtes, Eugen Schackmann, sein Anliegen und die Aufgabe seiner Abteilung, die Stadt mo¨glichst vorteilhaft darzustellen und zu ‚verkaufen‘ bzw. negativ konnotierte Assoziationen zuru¨ckzudra¨ngen. Was als Stadtmarketing bzw. als sta¨dtische Imageproduktion und -pflege in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts nicht mehr als besonders außergewo¨hnlich anmutet, erlebte (zumindest fu¨r den deutschen Bereich) vor allem im 20. Jahrhundert einen Boom. Ein stark von Medien gestu¨tztes ‚Vermarkten‘ der Kommune ist inzwischen ein selbstversta¨ndlicher Teil der modernen sta¨dtischen Verwaltung geworden. Zwar waren Stadtrepra¨sentationen kein Novum des 20. Jahrhunderts,2 doch die * Der vorliegende Beitrag ist eine leicht erweiterte Fassung des Vortrags. Mein herzlicher Dank gilt

v. a. den Mitarbeitern des Bild-, Film- und Tonarchivs des LWL–Medienzentrums, Dr. Volker Jakob und Dr. Ralf Springer, fu¨r die freundliche Unterstu¨tzung. Nichtsdestoweniger mo¨chte ich mich auch bei den anderen Archivarinnen, Archivaren und Gespra¨chspartnern bedanken, die mir ihre Filme und Informationen dazu zuga¨nglich machten. Auf eine Illustrierung dieses Beitrages mit Screenshots musste hier aus technischen Gru¨nden gleichwohl verzichtet werden. 1 Stadtarchiv Dortmund (im Folgenden: StadtADo), Bestand 500, Eugen Schackmann, Zeitungsausschnitt Westfa¨lische Rundschau Nr. 291 vom 16./17. Dezember 1972. 2 Vgl. z. B. Ralf Stremmel, Sta¨dtische Selbstdarstellung seit der Jahrhundertwende, in: Archiv fu¨r Kommunalwissenschaften 33 (1994), S. 234–264; Dieter Schott, Zukunft und Geschichte der Stadt. Stadtrepra¨sentationen im 20. Jahrhundert, in: Hochschule – Geschichte – Stadt. Festschrift fu¨r Helmut Bo¨hme, hg. v. Georg G. Iggers u. a., Darmstadt 2004, S. 319–341; Selling Berlin. Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt, hg. v. Thomas Biskup/Marc Schalenberg, Stuttgart 2008.

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Bedeutung und Dichte solcher Identita¨ts- und Imageproduktionen und -kampagnen nahmen seit der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts deutlich zu.3 Stadtrepra¨sentation griff dabei auf verschiedene Medien zuru¨ck, die je nach Zeitphase variieren konnten: Feste (wie Stadtjubila¨en), Stadtpla¨ne (etwa Pharuspla¨ne), Stadtfu¨hrer und Broschu¨ren, Ausstellungen oder Filme.4 Im 20. und 21. Jahrhundert kulminierte dies in einer z. T. sehr engen Verzahnung der verschiedenen Medien (z. B. Plakate, Anzeigen, Prospekte, Handzettel, Filme, Klangbildschauen, Internetpra¨senzen etc.), die ha¨ufig dieselben inhaltlichen Botschaften, Logos und Slogans verwandten: So zierte z. B. das Schlagwort „Treffpunkt Dortmund“ in den 1970er Jahren eine ganze Reihe von Stadtwerbemitteln: Plakate, Stadtpla¨ne, Broschu¨ren bis hin zum Titel eines Stadtfilms.5 Mit der (strategischen) Konstruktion und Verbreitung von „mentalen“ Stadtbildern6 versuchten die Kommunen, interessant und attraktiv zu bleiben fu¨r Bewohner, Besucher bzw. Touristen, Kunden und Gewerbetreibende, um in Zeiten der versta¨rkten Sta¨dtekonkurrenz nicht den Anschluss zu verlieren. Das Werben fu¨r die Stadt konnte verschiedene Stoßrichtungen annehmen: Das Vera¨ndern von Vorstellungen (Images7) in den Ko¨pfen der Zeitgenossen, das Ver¨ ffentlichkeitsmarkten als Form der Wirtschafts- und Verkehrsfo¨rderung und als O arbeit im Sinne einer (demokratischen) Transparenz gegenu¨ber der Bevo¨lkerung. So a¨ußerte Eugen Schackmann u¨ber die Arbeit seines Stabs:

3 Als La¨ngsschnitt zur Entstehung und Entwicklung sta¨dtischer Imageproduktion (ha¨ufig – nach den

Impulsen des englisch-amerikanischen Raumes – als urban branding oder boostering gefasst): Torben Giese, Moderne sta¨dtische Imagepolitik in Frankfurt am Main, Wiesbaden und Offenbach, Frankfurt a. M. 2010; Biskup/Schalenberg, Berlin; mit Schwerpunkten auf Großbritannien und die USA Stephen V. Ward, Selling Places. The Marketing and Promotion of Towns and Cities 1850–2000, London 1998. Wa¨hrend ‚Stadtbilder‘ fu¨r die Geschichtswissenschaft erst ab Ende der 1990er Jahre zum Untersuchungsgegenstand wurden, bescha¨ftigten sich Geografen und Wirtschaftswissenschaftler bereits in den 1970er/1980er Jahren mit dem Thema. Vgl. dazu auch Giese, Imagepolitik, S. 13f. Z. B.: Roman ¨ ffentlichkeitsarbeit, Du¨sselAntonoff, Wie man seine Stadt verkauft. Kommunale Werbung und O dorf 1971; Klaus Zimmermann, Zur Imageplanung von Sta¨dten. Untersuchungen zu einem Teilgebiet kommunaler Entwicklungsplanung, Ko¨ln 1975. Verschiedene Image-Arbeiten existieren gerade zum Ruhrgebiet. 4 Auf die ‚Mode‘ von Sta¨dtefilmen bereits in der Weimarer Republik reagierte Walter Gu¨nther mit kritischen Flugschriften: Walther Gu¨nther, Sta¨dtefilme. Bemerkungen zu einer Seuche, Berlin 1925; ders., Sta¨dtefilme, 2. Aufl. Berlin 1928. 5 Ebenso lassen sich einige Werbebotschaften wiederholt finden: „Preisgu¨nstigste Einkaufsstadt der Bundesrepublik“, „Im Zentrum schneller Straßen und schneller Schienen“, „Europas Bierstadt Nr. 1“. StadtADo, Kps. 34, Art. „70 Jahre Presseamt in Dortmund“, in: Pressedienst der Stadt Dortmund vom 1. Oktober 1982, Bl. 818–832, hier Bl. 828. Zu den als Marksteinen der ju¨ngeren Stadtentwicklung empfundenen Projekten, die sich sowohl in Broschu¨ren als auch in den Filmen niederschlugen, vgl. auch Gustav Luntowski/Gu¨nther Ho¨gl/Thomas Schilp/Norbert Reimann, Geschichte der Stadt Dortmund, Dortmund 1994, S. 488f. 6 Martina Lo¨w greift auf drei Arten von Stadtbildern zuru¨ck: gebaute, grafisch dargestellte und mentale Bilder: Martina Lo¨w, Soziologie der Sta¨dte, Frankfurt a. M. 2008, S. 140–186 (Kapitel IV: Stadtbilder). 7 Zur Diskussion um die Begriffe „Image“ und „Identita¨t“ vgl. Sandra Schu¨rmann/Jochen Guckes, Stadtbilder – sta¨dtische Repra¨sentation, in: IMS (2005), Heft 1, S. 5–10, und Giese, Imagepolitik (wie Anm. 3).

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„Wer Autos, Zitronen oder was auch immer verkaufen will, weiß, daß sein Umsatz nicht nur von der Qualita¨t der Ware abha¨ngt, sondern entscheidend auch davon, wie und wie oft er seine Ware mit Hilfe von Werbung pra¨sentiert. Auch vom guten Ruf ha¨ngt der Umsatz eines Unternehmens ab. Daß es auch fu¨r eine Stadt lebenswichtig sein kann, sich ¨ ffentlichkeit zu pra¨sentieren, den eigeausreichend und vielfa¨ltig der O nen Bu¨rgern und daru¨ber hinaus denen im weiten Umland, geho¨rt wohl schon zu den Selbstversta¨ndlichkeiten unserer Tage – fast u¨berall. Neben der Selbstversta¨ndlichkeit, den Bu¨rger in einer Demokratie laufend so umfassend wie nur mo¨glich u¨ber kommunale Einrichtungen, Maßnah¨ ffentlichkeitsmen und Planungen zu unterrichten ..., gibt es fu¨r die O arbeit einer Stadt insbesondere in den Bereichen der Verkehrsfo¨rderung und Wirtschaftsfo¨rderung ganz konkrete wirtschaftliche und finanzielle Gru¨nde. Die Bereitschaft von Firmen, Arbeitnehmern, Ka¨ufern und sonstigen Besuchern, in eine Stadt zu kommen, ha¨ngt entscheidend von ¨ ffentlichkeitsarbeit ab. Die Fakten, die zum Negativ-Image einer guten O des Ruhrgebietes beitragen, brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Die Menschen, die hier wohnen, sind in ihrer Mehrzahl der Kohlenpottromantik (so romantisch war das eigentlich nie!) inzwischen weitaus weniger zugetan, als es manche Fernsehregisseure wahrhaben wollen. Daß sie das Ruhrgebiet immer wieder als Negativkulisse benutzen, ist ¨ rgernis, gehen sie doch heute von vo¨llig falschen Voraussetschon ein A zungen aus.“8 Die kommunizierten ‚mentalen‘ Bilder offizieller oder offizio¨ser kommunaler Stellen lassen sich nicht auf eine ‚bunte‘ Werbung reduzieren. Im 20. Jahrhundert – insbesondere in dem von mir hier betrachteten Zeitraum von den 1950er bis Ende der 1970er Jahre9 – vertrauten die Akteure in den Sta¨dten gerade angesichts schwerwiegender

8 StadtADo, C 257 1972, Art.: Eugen Schackmann, Ba¨ume wachsen bei uns – richtige Ba¨ume. Stadtwer-

bung und was alles so dazugeho¨rt, in: ruhrwirtschaft. Zeitschrift der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund 5 (1972), S. 165–168, hier S. 165. Exemplarisch zu Zielen und Motiven der sta¨dtischen ¨ ffentlichkeitsarbeit unsePressearbeit vgl. den Beitrag des Dortmunder Presseamtes von 1982: „Die O rer Stadt bezieht sich jedoch nicht nur auf das Innenverha¨ltnis zum Dortmunder Bu¨rger, sondern hat in vielen Dingen eine konkrete Außenwirkung. Sie will dabei neben dem permanenten Ziel ‚Imagepflege‘ den Tourismus fo¨rdern, direkt oder indirekt Wirtschaftsfo¨rderung betreiben, Dortmund als bevorzugte Einkaufsstadt pra¨sentieren und die Anteile am Sta¨dtetourismus erho¨hen. Ein besonders interessanter Markt ist der Bereich ‚Tagungen und Kongresse‘, der Jahr fu¨r Jahr an Bedeutung gewinnt.“ StadtADo, Kps. 34, Art. „70 Jahre Presseamt in Dortmund. Von der Nachrichtenstelle bis zum Informations- und Presseamt“, in: Pressedienst der Stadt Dortmund vom 1. Oktober 1982, Bl. 818–832, hier Bl. 828f. 9 Stadt(werbe)filme lassen sich bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts nachweisen. Siehe z. B. Walther Gu¨nther, Verzeichnis deutscher Filme, Berlin 1927. Erstaunlich viele Produktionen wurden in den 1920er Jahren angestoßen. Diese gelten bis heute als vergleichsweise uninteressante Untersuchungsgegensta¨nde, da hier eher eine „belebte“ Postkartenschau der Stadt gezeigt werde. Achim Bonte, ¨ ffentlichkeitsarbeit von Großstadtverwaltungen in der Weimarer Republik, Werbung fu¨r Weimar? O Mannheim 1997, S. 89–91; Jeanpaul Goergen, Urbanita¨t und Idylle. Sta¨dtefilme zwischen Kommerz und Kulturpropaganda, in: Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, hg. v. Klaus

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Problemlagen bzw. anstehender richtungsweisender Entscheidungen10 in Bezug auf ¨ berzeugungskraft und Legitimationsstu¨tze durch den sta¨dtischen Wandel auf die U den Einsatz eines vergleichsweise kostspieligen Mediums.11 Sie scha¨tzten den Film als ausgesprochen wirkungsvoll ein12 – zumindest bis Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre als das Fernsehen das Kino und den Film sukzessive zuru¨ckdra¨ngte.13 Was konnten Filme in einem stark von visuellen Reizen gepra¨gten Jahrhundert, was andere Medien nicht (zumindest in diesem Maße) konnten? Filme sprachen v. a. Gefu¨hle an, erzeugten Empathie und bauten Distanz ab. Sie weckten und verein-

Kremeier/Antje Ehmann/Jeanpaul Goergen, Bd. 2: Weimarer Republik 1918–1933, Stuttgart 2005, ¨ berlieferungssituation fu¨r diese Phase schwierig. Fu¨r die Jahrzehnte S. 152–172. Allerdings ist die U vom Ende der 1940er Jahre bis zum Ende der 1970er Jahre la¨sst sich demgegenu¨ber eine ansehnliche Zahl von Filmen ausmachen, bevor das Medium in der Bedeutung wieder abnahm. 10 Den starken Impuls, den eigenen Ort zu bewerben und damit Probleme der (Sta¨dte)Konkurrenz zu lo¨sen, legt auch Ward, Selling Places (wie Anm. 3), seiner Studie zugrunde: Die ersten sta¨rkeren Bemu¨hungen, eine Art von Orts-/Stadtmarketing voranzutreiben, sieht er zum einen im 19. Jahrhundert in den Orten des amerikanischen Westens („the frontier“), die mo¨glichst viele Siedler anziehen wollten, und den britischen Ba¨dern, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts neue Wege beschritten, um den Zustrom von Erholungssuchenden und damit ihre Einkommensgrundlage zu sichern. 11 Zu Filmen und „Klangbildschauen“ als zentrale Mittel der sta¨dtischen Selbstdarstellung vgl. den Artikel u¨ber das Presseamt in Dortmund „70 Jahre Presseamt in Dortmund“, Bl. 826: „Filme wie ‚Dortmund damals‘ (Dortmund in den Jahren 1945 bis 1947; Pra¨dikat: besonders wertvoll), ‚Treffpunkt Dortmund – Erinnerungen, Skizzen und Notizen‘ (die Entwicklung unserer Stadt in den letzten 30 Jahren) oder ‚Bundesgartenschau 1959‘ und ‚Euroflor 1969‘ (Aufbau, Ero¨ffnung und weiterer Ausbau des Westfalenparks) tragen ebenso zur Imagepflege unserer Stadt bei wie die Klangbildschauen ‚Freizeit – bei uns und vor der Haustu¨r, Dortmund und das Sauerland‘, ‚Bilanz 1969–1977. Ru¨ckblick auf ¨ mtern unserer Stadt‘. Derzeit wird eine weitere einen Sprung nach vorn‘ sowie ‚Vom Rat und den A Klangbildschau u¨ber die Dortmunder Partnersta¨dte konzeptionell vorbereitet.“ Vgl. auch den Ansatz von Giese, dass sta¨dtische Imagepolitik eine Antwort der Kommunen auf neue Herausforderungen der Moderne sei: Giese, Imagepolitik (wie Anm. 3), S. 12. Bonte erwa¨hnt Stadtfilme kurz, konstatiert auch ¨ ffentlichkeitsarbeit aber den enormen finanziellen Einsatz, bewertet dieses Medium der sta¨dtischen O als insgesamt unerhebliche Randerscheinung, das fu¨r die Meinungsbildung in der Bevo¨lkerung keine gro¨ßere Rolle gespielt habe, Bonte, Werbung (wie Anm. 9), S. 91. Diese Fehleinscha¨tzung resultierte offenbar aus einem Mangel an filmischen und schriftlichen Quellen. Gerade die in den 1920er Jahren aufgewandten hohen Summen sowie die Neuartigkeit und der Reiz der neuen Medien ha¨tten dagegen als Indizien auffallen ko¨nnen. Zum Genre des Stadt(werbe)films vor 1945 vgl. Goergen, Urbanita¨t (wie Anm. 9) und ders., Stadtbilder zwischen Heimattu¨melei und Urbanita¨t, in: Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, hg. v. Peter Zimmermann/Kay Hoffmann, Bd. 3: ‚Drittes Reich‘ 1933–1945, Stuttgart 2005, S. 320–332. 12 Dass Filme offenbar als wirkma¨chtiges Medium der Kommunikation in und u¨ber die Stadt eingescha¨tzt wurden, la¨sst sich insbesondere fu¨r die 1930er Jahre belegen. Der Beamte des Sta¨dtischen Verkehrsamtes Soest riet im Werbeplan fu¨r 1936 dazu, einen Stadtfilm in Auftrag zu geben: „Ich halte die Schaffung eines guten Tonfilmes fu¨r Soest fu¨r unbedingt notwendig. Man kann immer wieder beobachten, daß die Vorfu¨hrung guter Kulturfilme auf großes Interesse sto¨ßt. Die Werbewirkung eines Filmes ist, wenn es ... gelingt, den Film an fu¨hrenden Theatern [gemeint: Kinos, K. M.] unterzubringen, sehr groß.“ Stadtarchiv Soest, D 1242, Auszug aus dem Werbeplan des Sta¨dtischen Verkehrsamtes Soest fu¨r 1936 vom 18. Januar 1936. Fu¨r die Weimarer Republik vgl. auch Bonte, Werbung (wie Anm. 9), S. 87–89. 13 In Form von Imagefilmen im Internet ist das Medium heute wieder hoch aktuell. Zum Wandel der Medien in der Stadtrepra¨sentation vgl. auch Lutz Philipp Gu¨nther, Die bildhafte Repra¨sentation deutscher Sta¨dte. Von den Chroniken der Fru¨hen Neuzeit zu den Websites der Gegenwart, Ko¨ln/Weimar/Wien 2009.

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nahmten Aufmerksamkeit und waren sehr viel leichter als Texte oder auch als bebilderte Broschu¨ren zu konsumieren.14 Trotz einer inzwischen ganz ansehnlichen Zahl von Studien zur Stadtrepra¨sentation, zu Image- und Identita¨tsbildung von Sta¨dten, trotz der wirkma¨chtigen Kraft des visual turn in der Geschichtswissenschaft und der Kulturgeschichte insgesamt mit ihrem Interesse an „Inszenierungen“ haben die laufenden Bilder der Kommunen bisher vergleichsweise wenig Beachtung gefunden, was sicher nicht zuletzt dem schwierigeren technischen Zugang und der Fragilita¨t dieser Quellengattung geschuldet ist.15 Macht man sich aber auf die Suche nach solchen Quellen, so la¨sst sich doch eine bemerkenswerte Zahl finden.16 Gerade die ausgewa¨hlte Referenzregion Westfalen bietet ein fruchtbares Untersuchungssample, da sich hier ganz verschiedene Sta¨dtetypen finden, die Einfluss auf die Leitbilder und damit auf die Selbstdarstellung haben ko¨nnen: einerseits Orte, die industriell gepra¨gt worden sind (Dortmund, ¨ bergang zwischen einer Recklinghausen, Gelsenkirchen); andererseits Orte, die im U la¨ndlich-agrarischen Region und dem Industrierevier liegen (Unna, Hagen, Lu¨denscheid) bzw. Sta¨dte mit agrarischem Umland (Mu¨nsterland/Lippe) (vgl. Tabelle am Ende des Beitrags). Im Folgenden sollen die Kontexte, in denen die Filme entstanden, betrachtet werden. Ein weiterer Blick soll den Impulsgebern bzw. Auftraggebern und Financiers gelten. Als dritter Schritt der Untersuchung sollen die Inhalte und Strukturen der filmischen Stadtbilder aufgezeigt werden. Insbesondere die von den Auftraggebern beabsichtigten, gewu¨nschten oder zumindest akzeptierten Bilder, die von den Kommunen transportiert wurden, erlauben Schlu¨sse auf Ziele und Einordnung dieser medialen Ausha¨ngeschilder.

14 Zum ‚handwerklichen‘ Umgang mit Filmen siehe z. B. Helmut Korte, Einfu¨hrung in die Systemati-

sche Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch, 3. Aufl. Berlin 2004; Werner Faulstich, Grundkurs Filmanalyse, 2. Aufl. Paderborn 2008. 15 Zur Rolle von Bildern/Filmen in der Geschichtswissenschaft vgl. Gerhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einfu¨hrung, in: Visual History. Ein Studienbuch, hg. v. dems., Go¨ttingen 2006, S. 7–36, und Gu¨nter Riederer, Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verha¨ltnis einer schwierigen Beziehung, in: Paul, Bildkunde, S. 96–113. Zur Fragilita¨t des Mediums vgl. z. B. Volker Jakob/Ralf Springer, Filmische Quellen – haltbar fu¨r die Ewigkeit?, in: Archivpflege in Westfalen-Lippe (2008), Heft 69, S. 37–41. Stadtfilme wurden bisher eher sporadisch und eher fu¨r einzelne Sta¨dte exemplarisch betrachtet: so z. B. die Filme von Elisabeth Wilms fu¨r Dortmund (vgl. z. B. auch die ju¨ngste mediale Dokumentation/Filmportra¨t zu Elisabeth Wilms: Erich, lass mal laufen! Die Filme der Elisabeth Wilms. Begleitheft zur DVD von Volker Jakob, hg. v. LWL–Medienzentrum fu¨r Westfalen, Mu¨nster 2011; Wien im Film. Stadtbilder aus 100 Jahren (Katalog zur Ausstellung im Historischen Museum Wien 2010). Zu Stadt und Film in anderen Disziplinen: Bernward Joerges, Leinwandsta¨dte. Voru¨berlegungen zu einer Soziologie der gefilmten Stadt, in: Stadt und Film. Versuche zu einer „visuellen Soziologie“, hg. v. Matthias Horwitz/Bernward Joerges/Jo¨rg Potthast, Berlin 1996, S. 7–28. 16 Fu¨r mein Referenzbeispiel Westfalen ergibt sich eine gute Ausgangslage: Die Mehrheit der von mir gesichteten Quellen sind u¨ber das in Mu¨nster ansa¨ssige Bild-, Film- und Tonarchiv des LWL–Medienzentrums gut verfu¨gbar; in anderen Fa¨llen sind solche Quellen z. T. in Kommunalarchiven oder in privatem Besitz zuga¨nglich. Fu¨r die zunehmende Attraktivita¨t von sta¨dtischen Filmaufnahmen vgl. z. B. Anja Gillen, Mannheimer Filmscha¨tze 1907–1957. 14 historische Filme auf DVD, Mannheim 2005.

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An diesen Aspekten ist die These zu pru¨fen, dass die Stadtfilme u¨ber die rein repra¨sentative Funktion hinausgingen, indem sie in den betrachteten drei Jahrzehnten zur Lo¨sung ‚innerer‘ Probleme und zur Positionierung innerhalb der Sta¨dtekonkurrenz nach außen dienten. Zudem dokumentieren die Filme, dass sich in der zweiten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts eine vera¨nderte Auffassung von sta¨dtischem Verwaltungshandeln durchsetzte.

2.

Die Entstehungskontexte der Filme

Die Filme begleiteten die Sta¨dte – neben der zeitu¨bergreifenden kommunalen Repra¨sentation – in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Herausforderungen, die je nach Zeitabschnitt und jeweiliger Stadt variierten. Bei der Auswahl der betrachteten Filme stellten sich folgende Problemlagen, die Intentionen und Inhalte der Filme beeinflussten:17 – der Wiederaufbau nach 1945 bzw. die Wiederherstellung von ‚Normalita¨t‘ im gesellschaftlichen Leben nach dem Zweiten Weltkrieg.18 Dies konnte auch – wie beim Film Denn wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg zu der aufgebauten Planstadt Espelkamp-Mittwald – die Integration von Flu¨chtlingen und Vertriebenen beinhalten. [Filme: Dortmund Wiederaufbau 1950–1970; An den Quellen (Lu¨denscheid und Altena)] – die Fo¨rderung wirtschaftlicher Strukturen. Diese Intention war zeitu¨bergreifend und eher vom Stadttypus abha¨ngig: entweder als Darstellung einer Stadt mit touristischem Potenzial oder Erholungsfaktor (insbesondere vor der Konkurrenz zunehmender Auslandsreisen)19 oder als Stadt mit dem Potenzial als Wirt-

17 In Klammern finden sich im Folgenden die Filme angegeben, auf die die einzelnen Aspekte besonders

zutreffen. 18 So wurden z. B. fru¨he Dortmund-Filme von Elisabeth Wilms im Ausland vorgefu¨hrt, um die Spen-

denbereitschaft zu erho¨hen: vgl. z. B. StadtADo, Bestand 113, Nr. 130, Schreiben Beer, Deutscher Sta¨dtetag, an den Dortmunder Oberstadtdirektor vom 22. Juli 1950 und Antwort Weinauges vom 21. September 1950; StadtADo, Bestand 624, Nr. 92, Auszug aus dem Pressedienst der Stadt Dortmund vom 22. September 1977, Bl. 839 (zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Elisabeth Wilms). Zum Ausdruck des ausgepra¨gten Stolzes in Dortmund u¨ber die Leistungen des Wiederaufbaus vgl. Wilfried Reininghaus, Von der Freien Reichsstadt zur Westfalenmetropole? Dortmunds Selbstwahrnehmung im Raum und in der Zeit, in: BeitrGDortmund 96/97 (2005/2006), S. 123–152, hier S. 149–151. 19 Zum Tourismus in Westfalen vgl. die Arbeiten von Matthias Frese, Naherholung und Ferntourismus. Tourismus und Tourismusfo¨rderung in Westfalen 1900–1970, in: Verkehr und Region im 19. und 20. Jahrhundert. Westfa¨lische Beispiele, hg. v. Wilfried Reininghaus/Karl Teppe, Paderborn 1999, S. 339–385; ders., Tourismus und Landschaftsbild. Zielvorstellungen und Erwartungen des Tourismusgewerbes in Westfalen zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, in: Agrarmodernisierung und o¨kologische Folgen: Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, hg. v. Karl Ditt, Paderborn 2001, S. 603–623; ders., Tourismus zwischen Marketing und Identita¨t. Das Sauerland und Westfalen im spa¨ten 19. und 20. Jahrhundert. 1890–2000, in: WestfF 52 (2002), S. 371–419.

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schaftsstandort, sei es vor einem industriellen Hintergrund oder als Ort des (Massen-)Konsums mit Handel und Unterhaltung [Filme: Westfalens mittelalterliches Herz (Soest), Eine Stadt am Faden (Bielefeld), Im Rhythmus der Zeit (Recklinghausen), Hagen – Stadt zwischen Erz und Kohle, An den Quellen (Lu¨denscheid)] – der Strukturwandel der Industriesta¨dte (insbesondere sichtbar durch den Niedergang in den Bereichen Kohle und Stahl in den Sta¨dten des Ruhrgebiets), der zu einer Diversifizierung wirtschaftlicher Branchen fu¨hrte und in den Ausbau des tertia¨ren Sektors mu¨ndete20 [Filme: Zum Beispiel Recklinghausen, Treffpunkt Dortmund, Unna – Stadt am Hellweg im Wandel der Zeit] – die Stadtsanierung, die zu einer Umgestaltung bzw. Erneuerung der Altstadt fu¨hrte. Je nach Herangehen der Stadtplaner konnte die Gewichtung zwischen dem Erhalt von alter Bausubstanz, Abrissen und Neubauten variieren. Ein zentraler Aspekt, der neben dem Verfall von Bausubstanz die Stadtva¨ter dazu bewog, eine Umgestaltung der Stadtkerne in Angriff zu nehmen, waren Verkehrsprobleme, die sich durch den wachsenden Autoverkehr stellten. Die Dichte des Verkehrs hatte deutlich zugenommen, Parkmo¨glichkeiten fehlten. Einerseits sollten Parkmo¨glichkeiten in der Na¨he der Gescha¨ftsstraßen, Ringstraßen und Autobahnanbindungen die Sta¨dte fu¨r Besucher von außen erschließen; andererseits sollten Fußga¨ngerzonen die Innensta¨dte fu¨r die Passanten attraktiver machen und Verkehrsgefahren reduzieren.21 [Film: Unna – Stadt am Hellweg im Wandel der Zeit]

3.

Das Wechselspiel zwischen Auftraggebern und Produzenten

Die Auftraggeber der untersuchten Filme waren in der Regel offizielle Stellen der Sta¨dte bzw. der Stadtverwaltung. Die Auftra¨ge konnten entweder direkt von der Stadt (vom Rat, von Ausschu¨ssen wie z. B. in den 1970er Jahren in Recklinghau¨ mtern wie dem Dortmunder sen vom Wirtschaftsfo¨rderungsausschuss oder von A Presse- und Informationsamt) erfolgen oder wurden in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen wie z. B. der IHK, dem Kreis oder Vereinen und Verba¨nden (z. B. der Rheinisch-Westfa¨lischen Auslandsgesellschaft e. V. Dortmund) in Auftrag gegeben – ha¨ufig also direkt im Zusammenwirken mit wirtschaftsfo¨rdernden Stellen. 20 Gerade zu diesem Zusammenhang vgl. Daniela Fleiss, Auf dem Weg zum „starken Stu¨ck Deutsch-

land“. Image- und Identita¨tsbildung im Ruhrgebiet in Zeiten von Kohle- und Stahlkrise, Duisburg 2010. Auf die (vermeintliche) Diskrepanz zwischen einem starken Selbstbewusstsein der Dortmunder, das aus der Aufbruchsstimmung der 1950er Jahre resultierte, und der Strukturkrise der fu¨r Dortmund bis dahin pra¨genden Gewerbezweige von Kohle, Stahl und Bier verweist Reininghaus, Reichsstadt (wie Anm. 18), S. 151. 21 Zu den Zielen des sta¨dtebaulichen Rahmenplans von 1969/70 in Unna: Martin Einsele/Th. Rommelspacher, Unna 1966–1973. Bericht u¨ber den Wandel einer Planungsideologie, in: Stadtbauwelt 37 (1973) [in: Bauwelt 12, 64 (1973)], S. 35–40, hier S. 36. Fu¨r einen Einblick zum ersten Fla¨chensanierungsprojekt in Unna: Brigitte Jahn, Planung, Durchfu¨hrung und Auswirkungen von Stadtsanierungsmaßnahmen in der Stadt Unna, dargestellt an ausgewa¨hlten Beispielen, (Examensarbeit im Fach Geographie), Bochum 1985 (Stadtarchiv Unna).

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Auch die kommunalen Presse- und Informationsa¨mter waren vielfach mit der Verkehrs- und Wirtschaftsfo¨rderung eng verbunden. In einigen Fa¨llen lassen die Filme darauf schließen, dass Unternehmen sich an der Finanzierung beteiligt haben (zu erkennen an einer breiten Darstellung von Industrie und Gewerbe oder einer expliziten Erwa¨hnung im Vor- oder Abspann) oder gar als Auftraggeber fungieren konnten. So finanzierten sich die Filme Im Rhythmus der Zeit (Recklinghausen 1954) und Eine Stadt am Faden (Bielefeld 1953) u¨ber Beitra¨ge von Firmen, deren Produktion und Produkte im Film gezeigt wurden.22 Solche Filme wurden mit in das Untersuchungssample aufgenommen, da sie ha¨ufig ideell von der Stadt unterstu¨tzt wurden: z. B. durch Zugangsberechtigungen zum Filmen in bestimmten Bereichen oder durch Hinweise auf erwa¨hnenswerte Motive in der Stadt.23 Auch Biskup und Schalenberg unterstreichen, dass bu¨rgerschaftliches bzw. wirtschaftliches Engagement u¨ber seine Bemu¨hungen zu einem positiv besetzen Stadtbild sich nahe an der offiziellen politischen Ebene bewegte.24 ¨ berlieferung fehlen konkrete In der vergleichsweise spa¨rlichen (schriftlichen) U Formen des briefings, also einer Absprache zwischen den Auftraggebern und den Filmproduzenten. Es lassen sich aber Indizien finden, dass die Auftraggeber Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung sowie die Motive und Themen der Filme nahmen. So berichtete die Recklingha¨user Monatsschau von der Versta¨ndigung zwischen Regisseur Heinz Kaskeline und der Stadtverwaltung, dass der Streifen kein „gefilmter Stadtprospekt“ werden, sondern „den wirtschaftlichen und sta¨dtebaulichen Strukturwandel“ verdeutlichen sollte.25 Inwieweit Personen aus der Stadt als Berater eingesetzt wurden, la¨sst sich aber nicht mehr nachvollziehen. Das Dortmunder Informations- und Presseamt beauftragte die ambitionierte und professionell agierende Filmerin Elisabeth Wilms26 damit, bei wichtigen Ereignissen, wie dem Besuch von staatlicher oder politischer Prominenz oder bei der Einweihung neuer Bauten, entsprechende Filmaufnahmen zu drehen, welche bei den Aktualisie¨ berarbeitungsrungen der Stadtfilme zum Einsatz kommen konnten.27 Bei solchen U 22 Beispiel Im Rhythmus der Zeit, Recklinghausen 1954: Der Film ist im Besitz des Kaufhauses Karstadt,

das in den 1920er Jahren mit dem im Film zu sehenden Unternehmen Althoff fusionierte, aber in Recklinghausen bis in die 1960er Jahre den alten Namen beibehielt. Fu¨r die Informationen zum Bielefelder Film aus den Akten der Herstellerfirma FWT (Film in Wissenschaft und Technik)/Eberhard Stock danke ich herzlich Frank Bell, Bielefeld. Eine gemischte Finanzierung konnte bei der Themenauswahl und der La¨nge der Passagen zu Konflikten oder Aushandlungsprozessen der Beteiligten fu¨hren: vgl. Ralf Springer, Das Mu¨nsterland. Vier Filmportra¨ts aus den 1950er Jahren. Begleitheft zur DVD, 2007. 23 Vgl. dazu u. a. StadtADo, Bestand 113, Nr. 130: Verschiedene Firmen machten der Stadt Dortmund in den 1950er Jahren Angebote, einen Film anzufertigen. Die Stadt lehnte die Finanzierung ab, ra¨umte aber Hilfestellungen, z. B. u¨ber Ortskenntnis, ein. 24 Biskup/Schalenberg, Die Vermarktung Berlins in Gegenwart und Geschichte, in: dies., Berlin (wie Anm. 3), S. 9–21, hier S. 15. 25 Recklingha¨user Monatsschau (1973), Nr. 5, S. 19. 26 Zu Elisabeth Wilms vgl. u. a. Erich, lass mal laufen! Die Filme der Elisabeth Wilms. Begleitheft (wie Anm. 15); Hanne Hieber, Art. „Wilms, Elisabeth“, in: Biographien bedeutender Dortmunder. Menschen in, aus und fu¨r Dortmund, hg. v. Hans Bohrmann, Bd. 3, Dortmund 2001, S. 214–217. Hier wird Wilms als „Film-Chronistin ihrer Stadt und ihrer Zeit“ verstanden (S. 216). 27 StadtADo, Bestand 624, Nr. 14, Schreiben Schackmann, Informations- und Presseamt, vom 19. November 1971 an Elisabeth Wilms.

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auftra¨gen behielt sich die Stadt ihren Einfluss vor; so formulierte der Direktor des Amts fu¨r Wirtschafts- und Verkehrsfo¨rderung Dortmund 1962 gegenu¨ber Wilms, u¨ber die endgu¨ltige La¨nge des zu verwendenden Filmmaterials entscheide die Stadt und wegen der aufzunehmenden Motive werde sich der Mitarbeiter bzw. Leiter des Presseamts mit ihr in Verbindung setzen.28 Wenig Aussagen lassen sich in den Quellen finden, wo und wie oft die Filme eingesetzt wurden und welche Wirkung sie dabei erzielten.29 Entsprechend der schwierigen Quellenlage la¨sst sich auch nichts u¨ber einen potenziellen Aushandlungscharakter des sta¨dtischen Images sagen, der in der Sekunda¨rliteratur gern als mo¨glicher Einflussfaktor geltend gemacht wird; auch u¨ber den Rahmen der ku¨nstlerischen Freiheit der Produzenten kann keine Aussage gemacht werden; letztlich repra¨sentierten die medialen Mittel der Stadtverwaltung aber eine offizio¨se Position. Die meisten Filme der 1950er Jahre waren als Vorfilme im Kino-Programm vor¨ ber den Einsatz der 16 mm-Filme geben die U ¨ berlieferung der Stadt gesehen.30 U Dortmund und der Nachlass der Filmerin Wilms einige Einblicke: Die Filme wurden verschiedenen Vereinen, Verba¨nden, Firmen und Organisationen – vielfach aus Dortmund – als Vorfu¨hrung angeboten,31 bei Anla¨ssen wie der Dortmunder Bundesgartenschau Euroflor (1969) einem breiten Publikum pra¨sentiert und u¨ber das Goe-

28 Z. B. StadtADo, Bestand 624, Nr. 16, Schreiben Weinauges an Elisabeth Wilms vom 16. Mai bzw.

23. August 1962. In einer Notiz aus dem Jahr 1969 hielt der Mitarbeiter des Informations- und Pres¨ berarbeitung des Films Dortmund – Großstadt im Gru¨nen seamts, Schackmann, in Bezug auf die U fest, dass die „letzte Entscheidung u¨ber zu verwendende oder zu streichende Motive“ von den Vertretern der Stadt gefa¨llt werde: StadtADo, Bestand 113, Nr. 124, Notiz Schackmann, Informations- und ¨ hnliche Formulierungen finden sich auch im Schriftverkehr der folgenPresseamt vom 28. Mai 1969. A den Jahre: z. B. StadtADo, Bestand 624, Nr. 14, Schreiben Schackmanns an Wilms vom 15. Januar 1977: Auftra¨ge fu¨r neues Filmmaterial von verschiedenen Ereignissen des Jahres nach Absprache. 29 Leider liegen keine Informationen u¨ber Vorfu¨hrungen und Zahl der Zuschauer, geschweige denn Reaktionen abseits von gelegentlich aufzufindenden Zeitungsartikeln zur Urauffu¨hrung der Filme vor. 30 Zum Genre des Kulturfilms siehe Kreimeier/Ehmann/Goergen, Geschichte (wie Anm. 9); kurz und fokussiert auf das Mu¨nsterland: Springer, Mu¨nsterland (wie Anm. 22), S. 5–7. 31 Die fru¨hen Dortmund-Filme, welche sich den Problemen der Nachkriegsgesellschaft widmeten (Dort¨ kumenischen Weltkirchenmund – November 1947 und Schaffende in Not), wurden im Auftrag des O rats, Genf, v. a. im Ausland vorgefu¨hrt und lo¨sten damit Hilfsaktionen fu¨r die deutsche Bevo¨lkerung aus. Vgl. z. B. StadtADo, Bestand 113, Nr. 124, Notiz Schackmann, Informations- und Presseamt vom 28. Mai 1969. Eine Liste aus den 1970er Jahren dokumentiert, dass Elisabeth Wilms den Film Dortmund – Großstadt im Gru¨nen u. a. bei der Werbewoche der Sta¨dtischen Bu¨hnen, bei Kleingartenvereinen, bei SPD-Frauengruppen, bei AWO-Ortsgruppen, bei den „Naturfreunden“, bei Kirchengemeinden bzw. deren konfessionellen Vereinen, einer Kinderparty in der Westfalenhalle, dem Hausfrauenbund und einem Bauernverband zeigte: StadtADo, Bestand 624, Nr. 14, Zusammenstellung u¨ber die Vorfu¨hrungen des Farbtonfilms Dortmund – Großstadt im Gru¨nen, undatiert (nach Laufzeit der Akte 1971–1978). Das Presse- und Informationsamt der Stadt Dortmund bot z. B. in den 1970er Jahren Dortmunder Firmen, Vereinen, Organisationen und Verba¨nden an, eine 50-minu¨tige „Klangbildschau“ oder den 40-minu¨tigen Film Treffpunkt Dortmund – Erinnerungen, Skizzen, Notizen kostenlos zu nutzen: StadtADo, Bestand 624, Nr. 14, Schreiben Schackmanns, Leiter des Informations- und Presseamtes, an Dortmunder Firmen, Vereine, Organisationen und Verba¨nde, undatiert (vermutlich 1970er Jahre). Fu¨r die Zeitphase seit der ersten Anku¨ndigung des Angebots einige Monate zuvor wird eine Zahl von bisher 250 Vorfu¨hrungen geltend gemacht und somit ein hohes Interesse an diesen Formen sta¨dtischer Selbstdarstellung dokumentiert.

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the-Institut im Ausland gezeigt.32 Stadtfilme, die auf ein touristisches Profil abhoben, konnten Reisebu¨ros zur Verfu¨gung gestellt werden, wo Berater oder Kunden sich die Filme ansehen konnten.33 Die Dortmund-Filme wurden aber auch zur Repra¨sentation im Ausland bzw. gegenu¨ber ausla¨ndischen Besuchergruppen eingesetzt: So finden sich fu¨r die Jahre 1961/62 verschiedene Anfragen an Elisabeth Wilms, den Film Dortmund – Gesicht einer Großstadt fu¨r eine Deutsch-Schwedische-Kulturwoche in Stockholm, eine Arbeitstagung mit Vertretern ausla¨ndischer Tra¨gerorganisationen der Jugendpflege, eine Jugendgruppe aus Leeds im Internationalen Jugendaustausch sowie fu¨r eine finnische Gruppe beim Besuch des Fritz-Henßler-Hauses vorzufu¨hren bzw. auszuleihen.34 Eine dezidiert auf das Ausland gerichtete Stoßrichtung hatte der Film Gestatten Dortmund, der von der Rheinisch-Westfa¨lischen Auslandsgesellschaft e. V. in Auftrag gegeben wurde, die wiederum mit Personalunionen (z. B. u¨ber den Oberbu¨rgermeister und den Oberstadtdirektor sowie Stadtra¨te) eng mit der Stadt Dortmund verknu¨pft war.35 Notizen aus dem Informations- und Presseamt der Stadt Dortmund belegen, welche Bedeutung den Stadtfilmen zugemessen wurde: Das Bemu¨hen um Aktualita¨t und die ha¨ufige Vorfu¨hrung – als Indiz lassen sich die in den Schriftwechseln erwa¨hn¨ berarbeitungen des ten Verschleißerscheinungen nennen – fu¨hrten zu regelma¨ßigen U 36 vorhandenen bzw. zum Auftrag fu¨r einen neuen Film. So zeigt der Schriftwechsel des Informations- und Presseamtes im Nachlass Wilms, dass Elisabeth Wilms z. B. den Film Treffpunkt Dortmund jedes Jahr aktualisierte.37

32 StadtADo, Bestand 624, Nr. 92, Auszug aus dem Pressedienst der Stadt Dortmund vom 22. September

1977, Bl. 839.

33 Freundl. Hinweis Ralf Springer, LWL–Medienzentrum fu¨r Westfalen. 34 StadtADo, Bestand 624, Nr. 15, Schreiben vom 13. und 14. Dezember 1961 sowie vom 20. Juli und

13. August 1962.

35 Vgl. dazu StadtADo, Bestand 624, Nr. 50. 36 StadtADo, Bestand 113, Nr. 124, Notiz Schackmann vom 28. Mai 1969. 37 StadtADo, Bestand 624, Nr. 14. Fu¨r das Jahr 1971 liegt hier eine Aufstellung vor, welche Ereignisse

von Elisabeth Wilms im Auftrag der Stadt filmisch festgehalten werden sollten, um ggf. Verwendung in einem Stadtfilm zu finden: z. B. der SPD-Parteitag mit Bundeskanzler Brandt, das Gedenken Karfreitag in der Bittermark, der 1. Mai, die 80-Jahrfeier des DGB, der Besuch des Bundesministers Schiller im Westfalenpark, die Euro-Coop-Schokoladenfabrik, die Einweihung des Wilhelm-Hansmann-Hauses, ¨ hnliche Bestellundie Baustelle des Fußballstadions, die Bezirkshallenba¨der und die Sauerlandlinie. A ¨ gide von Willy Weinauge gen von Erga¨nzungsaufnahmen lassen sich aber auch schon 1962 unter der A fu¨r den Film Dortmund – Nicht nur Industriemetropole nachweisen: StadtADo, Bestand 624, Nr. 16 (Ehrenmal Bittermark, Einkaufszentrum und Kinderspielpla¨tze, Max-Planck-Gymnasium, Berufsschulzentrum, Fritz-Henßler-Haus, Kaufha¨user und Gescha¨ftsstraßen, Tiefgarage Hansaplatz, Su¨dbad, Veranstaltungsplakat Westfalenhalle, Cafe´ Orchidee, Restaurant Rombergpark mit Hotelfachschule, Westfalenhallenkomplex Halle IV innen, Neubau Stadttheater, Gescha¨ftsstraßen Innenstadt, Restaurant Stade und Sparkassenneubau).

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4. Stadtbilder

Welche Stadtbilder fanden nun aber die Zustimmung der Stadtva¨ter fu¨r die Darstellung nach innen und außen? Ein wichtiges Thema zur Stiftung von Identita¨t in einer Stadt war von jeher der Blick auf die (gemeinsame) Geschichte. Dieses Thema griffen auch die Stadtwerbefilme auf, allerdings erwies sich dies bildlich als nur schwer ansprechend einzufangen. Letztlich boten sich dazu nur alte Bauwerke (Fachwerkha¨user, Ratha¨user, Kirchen, ggf. Reste von Befestigungsanlagen), ihre Innenausstattung, museale Objekte, alte Stadtansichten oder (alte) Karten als Motive an. Die historische Bedeutung musste damit v. a. u¨ber den Ton vermittelt werden. Ein historisch orientierter Einstieg kennzeichnete Charakteristika der jeweiligen Stadt. Fu¨r die Bewohner konnte dies eine Bru¨cke zum Wiedererkennen bauen, der den Stolz auf die eigene Stadt und das Zugeho¨rigkeitsgefu¨hl sta¨rkte. Von wirtschaftlicher Bedeutung waren solche Anspielungen auf das historische Erbe vor allem fu¨r Filme mit der Stoßrichtung, den Fremdenverkehr weiter anzukurbeln (Soest). Die geschichtliche Dimension der Filme blieb jedoch – verglichen mit anderen Formen sta¨dtischer Selbstdarstellung wie in Stadtjubila¨en und Ausstellungen untergeordnet. Vielmehr pra¨sentierten die Filme hauptsa¨chlich eine stolze Leistungsschau der ju¨ngsten Vergangenheit, die hohe Lebensqualita¨t vor Ort, einen attraktiven Wirtschaftsstandort sowie eine optimistische Zukunftsvision.38 Die Sta¨dte rekurrierten auf positiv besetzte Themen und Wertungen, wollten Identifikation und Stolz wecken. So schloss der Film Dortmund – Nicht nur Industriemetropole von 1967/71 zu Bildern einer Abendstimmung am Hengsteysee mit dem Satz „Dortmund – dynamisch und modern, die Industriemetropole im Herzen des Ruhrgebietes, umgeben von einer reizvollen Landschaft“.39 Im Folgenden sollen die Themenfelder kurz beleuchtet werden, mit denen sich die Sta¨dte fu¨r die Gegenwart im Film auseinandersetzten, um Bewohner und Gewerbe in die Stadt zu holen bzw. diese zu halten oder um Besucher, Ka¨ufer bzw. Touristen anzuziehen. Um die Stadt als attraktiven Lebensmittelpunkt rankten sich Bilder des Wohnens.40 Die Wiederaufbaufilme Dortmunds begannen damit, dass die Stadt bemu¨ht

38 Die vorliegenden Filme boten damit mehr als die insbesondere in den 1920er Jahren so ha¨ufig kriti-

sierten (vermeintlich standardisierten) Stadtfilme als belebte „Postkartenansichten“.

39 Diese Devise nutzte ihr „Erfinder“ und Multiplikator, der Leiter des Verkehrs- und Presseamts, Willy

Weinauge auch in anderen Medien der Stadtrepra¨sentation und -werbung: In verschiedenen Broschu¨ren zur Stadt postulierte Weinauge „Das neue Dortmund ist modern und dynamisch.“ Zitiert nach: Reininghaus, Reichsstadt (wie Anm. 18), S. 150. 40 In einem Bericht u¨ber die Arbeit des Presse- und Informationsamts verwies Schackmann 1972 darauf, ¨ ffentlichkeitsarbeit des welche zentrale Rolle der Attraktivita¨t des Wohnorts zukam: „Der Leiter der O Ruhrsiedlungsverbandes, Dietrich Springorum, hat vor ein paar Monaten daran erinnert, daß qualifizierte Arbeitskra¨fte ihren Arbeitsplatz zunehmend nach der Attraktivita¨t des Wohnortes aussuchen und daß es fu¨r die weitere Entwicklung einer Stadt darauf ankommt, ob die Menschen optimal leben ko¨nnen, ob es ihnen Spaß macht, dort zu leben und dort zu bleiben. Danach sind alle Verantwortlichen aufgerufen, die so zu¨gig begonnene Verbesserung der Infrastruktur fortzusetzen, und das insbesondere

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war, genug Wohnraum wiederherzustellen und damit preka¨re Lebensverha¨ltnisse in notdu¨rftig hergerichteten Ra¨umen in Kellern und z. T. zersto¨rten Ha¨usern zuru¨ckzudra¨ngen. Die Filme der (spa¨ten) 1960er und 1970er Jahre hoben einerseits auf neuere Planungskonzepte des Bauens auf der ‚gru¨nen Wiese‘ mit einer aufgelockerten Bebauung in Blockbauweise der ‚Gartenvorsta¨dte‘ ab, andererseits thematisierten sie den Trend zum Bau von Einfamilienha¨usern in den Gru¨ngu¨rteln der Stadt.41 Der Unnaer Film betonte jedoch, dass diese suburbanen Siedlungen ihre Verbindung zur Altstadt nicht verloren ha¨tten, um die Einheit der Stadt zu beschwo¨ren. In der Stadt Unna wurde zudem auf eine sozialverantwortliche Politik verwiesen, die auch fu¨r die sozial Schwachen Ha¨user errichte, was letztlich durch die anstehende Innenstadtsanierung ein dringendes Problem wurde: Durch die Sanierung stiegen die Mieten in den betroffenen Bereichen so an, dass die fru¨heren Bewohner (wenig situierte Rentner, Familien mit vielen Kindern, Witwen, Ausla¨nder) verdra¨ngt wurden und neuen Wohnraum zu bezahlbaren Preisen suchen mussten.42 In der Na¨he der Einkaufsstraßen schien den Stadtva¨tern die Aufwertung des Viertels Eulenstraße wu¨nschenswert, da hier eine attraktive Wohnbebauung dem gestiegenen Bodenwert eher zu entsprechen schien als die Haltung der dort bisher wohnhaften einkommensschwachen Bewohner in Ha¨usern mit hohem Sanierungsbedarf.43 Neben dem direkten Wohnumfeld richtete sich der Blick der Filme auf die (gru¨ne) Umgebung: Landschaft, Parks und Ausflugsziele sollten den Reiz des Ortes sta¨rken und auf die hohe Lebensqualita¨t verweisen. Dieses Motiv zieht sich in unterschiedlicher Form durch die Filme: Die Filme der 1950er Jahre erinnern stark an die in dieser Zeit großen Anklang findenden Heimatfilme. Die Ruhe und Beschaulichkeit der Klein- und Mittelsta¨dte wurde hervorgehoben, in eine agrarisch-la¨ndliche Umgebung eingebunden und somit als Gegensatz zu einem aufreibenden Großstadtleben skizziert. Das Motiv des pflu¨genden Pferdegespanns zog sich bis in den DortmundFilm von 1980 durch.44 Gerade die Stadt Dortmund arbeitete z. B. mit Bildern des

im Hinblick auf Freizeiteinrichtungen der verschiedensten Art“. StadtADo, C 257 1972, Art.: Schackmann, Ba¨ume wachsen bei uns (wie Anm. 8), S. 168. 41 Z. B. in den Filmen zu Unna und Dortmund. 42 Vgl. Einsele/Rommelspacher, Unna. Vgl. dazu auch die Ausfu¨hrungen von Jahn zu Sanierungszielen und zu den sozialen Strukturen des Gebiets vor und nach der Sanierung: Jahn, Planung (wie Anm. 21). Willi Timm verwies im Zuge der Sanierungsmaßnahmen auf die Geschichte der Gademen als ha¨ufig einra¨umige Wohnha¨uschen, die von unteren sozialen Schichten bewohnt wurden. Im 18. Jahrhundert seien diese von Tagelo¨hnern, Dienstboten, Witwen und Armen bewohnt worden; im 19. Jahrhundert zogen auch Arbeiter in ein solches bescheidenes Wohnumfeld. Timm bedauert das Verschwinden der historisch aufschlussreichen Bebauung ab Anfang der 1970er Jahre: „Fortschrittlichen Bauherren und Sta¨dteplanern gilt deren Erhaltung in ‚Cityna¨he‘ als unwirtschaftliche Vergeudung wertvollen Baugrundes. Mit Gescha¨ften und Bu¨ros besetzte Hochha¨user werfen nun einmal mehr Gewinn ab“. Willi Timm, Von Gademen im alten Unna. Zur Bau- und Sozialgeschichte der Kreisstadt, in: Heimatjahrbuch Kreis Unna (1982), S. 52–55, hier S. 53. 43 Vgl. Jahn, Planung (wie Anm. 21), S. 56. 44 Fu¨r Dortmund entsteht allerdings im Bild eine Ambivalenz von traditionellen U ¨ berresten und der modernen Industriegesellschaft: Der pflu¨gende Bauer mit Pferdegespann arbeitet vor der Kulisse der industriellen Ku¨hltu¨rme. Der Film kombinierte die Szene mit dem Ausspruch des fru¨heren Oberbu¨rgermeisters Keuning, dass Dortmund das „gro¨ßte Dorf Europas“ sei.

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Westfalenparks (seit 1959) und dem Verweis, dass die Stadt zu 49 % aus Gru¨n bestehe, daran, das Image der grauen Industriemetropole aufzubrechen.45 Die Faktoren Freizeit, Erholung, aber auch Kultur wurden zunehmend wichtiger fu¨r die Einscha¨tzung einer lebenswerten Stadt. Die Filme hoben mit Szenen aus dem Sport, von Vereinen und von Kirmes-Veranstaltungen solche Anziehungspunkte hervor. Beim Sport konnte das Zuschauen bei Galopp- oder Trabrennen, bei Leichtathletikwettka¨mpfen, Meisterschaften im Eiskunstlauf oder beim Fußball neben den Mo¨glichkeiten rangieren, selbst sportlich aktiv zu werden. Bildungs- und Kulturangebote avancierten zu wichtigen Standortfaktoren, die Erwa¨hnung fanden: Das beinhaltete Schulen, Universita¨ten, Theater, Museen, Konzerte mit klassischer Musik, aber auch popula¨re Veranstaltungen wie Schlager- oder Rockkonzerte. Der Recklingha¨user Film von 1973 machte deutlich, dass Kultur nicht mehr nur ein (bildungs-)bu¨rgerliches Terrain darstellen sollte, sondern dass gerade eine emanzipatorische Wirkung fu¨r die Arbeiterschaft darin gesehen wurde. Kunst und Kultur sollten sozial u¨bergreifend angeboten, genutzt und gelebt werden. Ein fu¨r die Stadtfilme jeder Dekade zentrales Thema war der Verkehr. Die Filme behandelten die Verkehrsmittel und die -wege, die fu¨r eine gute Anbindung der Stadtbewohner und der ortsansa¨ssigen Industrie an die ‚Außenwelt‘ (sei es regional oder international) sorgten: Busse, Eisenbahn, Straßen- und U-Bahnen, Flugpla¨tze, Schifffahrtswege und Ha¨fen. Der zunehmenden Bedeutung des Individualverkehrs in der zweiten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts trugen die Bilder vom Straßenbau Rechnung: Zeigte Wilms in den Wiederaufbaufilmen Bauarbeiter beim innersta¨dtischen Straßenbau, so waren Sta¨dte wie Unna und Dortmund stolz auf ihre Autobahnanschlu¨sse, die die Sta¨dte wie Ringe umschließen konnten. Als Charakteristikum Dortmunds fungierte z. B. das Luftbild des kleeblattartigen Autobahnkreuzes. Der zunehmende Autoverkehr brachte fu¨r die Innensta¨dte aber auch Probleme mit sich, die die Stadt(verwaltung) zu neuen Planungen dra¨ngte, um die Interessen von Bewohnern und Besuchern als Fußga¨nger zu beachten: Das Bestreben, die Verkehrsdichte beherrschbar zu machen und fu¨r gro¨ßtmo¨gliche Sicherheit zu sorgen, fu¨hrte – so die Filme – zum Bau von Umgehungsstraßen, zur Einrichtung von Fußga¨ngerzonen in der Innenstadt mit vergleichsweise nahen Parkfla¨chen oder Parkha¨usern bis hin zum U-Bahn-Bau. In Unna wurde 1963 beschlossen, einen Verkehrsring um die Altstadt zu legen, um den Durchgangsverkehr aus der Stadt zu verbannen. Fu¨r bessere Einkaufsmo¨glichkeiten sollte die Innenstadt eine Fußga¨ngerzone erhalten und Parkpla¨tze in der Na¨he der Gescha¨ftsbereiche geschaffen werden.46 Die Infrastruktur des Verkehrs galt als wichtige Voraussetzung fu¨r ein funktionierendes Wirtschaftsleben. Die Filme zeigten den Erfolg der ansa¨ssigen Unternehmen, die damit verbundenen Arbeitspla¨tze und wegweisende technische Neuerungen. Die 45 Bis heute gilt die „49 %-Kampagne“ des damaligen Leiters des Dortmunder Presseamtes als großer

Erfolg und ist noch stark im kollektiven Bewusstsein verankert. Zur Geschichte des Informationsund Presseamtes vgl. „70 Jahre Presseamt in Dortmund“. Vgl. auch Zeitungsausschnitte in: StadtADo, Bestand 500, Eugen Schackmann („49 %-Wanderungen“ seit 1967). 46 Jahn, Planung, (wie Anm. 21) , S. 45 und 52. Einrichtung der Fußga¨ngerzone in Unna 1968: Stadtbilder aus Unna. Fotos von Gu¨nther Pra¨tor, Texte von Willy Timm, o. O. o. J., S. 18.

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Abha¨ngigkeit der Sta¨dte von der Gewerbelandschaft zeigte sich gerade fu¨r die vom Strukturwandel betroffenen Ruhrgebietssta¨dte, die insbesondere nach einer vorher starken Konzentration auf Kohle und Stahl eine Diversifizierung ihrer Gewerbezweige anstreben mussten, um lebensfa¨hig zu bleiben, sprich: die Einwohner halten zu ko¨nnen. So spiegelt z. B. der Film u¨ber Recklinghausen, wie sich die Stadt um Betriebe des tertia¨ren Sektors bemu¨ht habe: Banken, Versicherungen und Verwaltungen seien in die Stadt gezogen worden. Modern orientiert, um den Bedu¨rfnissen der Arbeitnehmer zu entsprechen, zeigte sich Dortmund seit den 1970er Jahren dadurch, dass Frauenarbeitspla¨tze und Kinderbetreuungsangebote fu¨r berufsta¨tige Frauen thematisiert wurden.47 Innerhalb des Wirtschaftslebens erhielt der Konsum einen prominenten Stellenwert: Bereits die Wiederaufbaufilme zu Dortmund setzen Blicke auf gut gefu¨llte Schaufensterauslagen und Cafe´s in Szene: Nach den Mangelerfahrungen des Krieges und der Zeit vor der Wa¨hrungsreform du¨rften die hier zu sehenden Mengen von Obst, Su¨ßwaren sowie die Fleisch- und Wurstberge den Sehnsu¨chten der Zuschauer entsprochen haben. Zentralorte wie Recklinghausen und Dortmund verwiesen (sowohl in den 1950er als auch in den 1970er Jahren) auf ihre Kapazita¨ten als Einkaufsstadt mit (Groß-)Kaufha¨usern und Spezialgescha¨ften, die auf die Region ausstrahlen sollten. Der Aufschwung in der Wirtschaft in den 1950er und 1960er Jahren hatte dazu gefu¨hrt, dass die Bundesrepublik so genannte ‚Gastarbeiter‘ anwarb. Das damit verbundene Thema von Migration und Integration kam aber vergleichsweise selten in den Filmen vor. Lediglich zwei Sta¨dte verarbeiteten kurze Szenen zu diesem Themenfeld: In Recklinghausen (1973) wurde auf das sta¨dtische Auslandsinstitut „Die Bru¨cke“ verwiesen;48 in den Dortmund-Filmen tauchte das dortige Auslandsinstitut auf, das zusammen mit der damit eng kooperierenden Rheinisch-Westfa¨lischen Auslandsgesellschaft ein breites Angebot an Sprachkursen (und Kreisen zur fremdsprachlichen Konversation), Deutschkursen fu¨r Ausla¨nder, Umsiedler und Kinder von ausla¨ndischen Arbeitnehmern, La¨nderarbeitskreisen, Betreuung von (Wirtschafts-)Praktikanten, Einfu¨hrungen in Landeskunde, Seminaren und Jugendaustausch offerierten. Aufnahmen von den Auslandskulturtagen der Stadt Dortmund sollten die Offenheit, Internationalita¨t und ‚Fru¨chte‘ der Vo¨lkerversta¨ndigung signalisieren. Diese Aspekte standen insbesondere im Film Gestatten Dortmund im Fokus; dies verwundert allerdings nicht, da in diesem Fall die Rheinisch-Westfa¨lische Auslandsgesellschaft Auftraggeberin des Films war und dieser fu¨r einen internationalen Einsatz vorgesehen war.49

47 Explizit erwa¨hnt wurden Frauenarbeitspla¨tze zu den Bildern von IBM im Film Gestatten Dortmund

von 1980; die gleiche Szene zeigt aber auch der Film Treffpunkt Dortmund (1972–78). 48 Die Tonspur des Films verweist darauf, dass das „Problem“ mit „Gastarbeitern“ in Recklinghausen auf

eigene Art gelo¨st wu¨rde: „Die Bru¨cke“ sei ein regelma¨ßiger Treffpunkt fu¨r Menschen aus zehn Nationen, die hier Versta¨ndnis und Unterstu¨tzung bei ihren Problemen finden wu¨rden. 49 In Vorstand und Beirat der Gesellschaft waren u. a. wichtige Repra¨sentanten der Stadt Dortmund (neben Politikern (Ministerpra¨sidenten a. D., Kultusminister a. D.), Staatssekreta¨ren, Professoren, Repra¨sentanten von Wirtschaftsunternehmen, -verba¨nden und -organisationen (z. B. IHK, Arbeitge-

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Als letztes soll mein Blick auf die Stadtwerbefilme einem Thema gelten, das eher indirekt als Standortfaktor eine Rolle spielte: das Bild oder Selbstbild der sta¨dtischen Auftraggeber. In einigen Fa¨llen lassen die Filme darauf schließen, dass es ein entscheidendes Motiv des Filmprojekts war, bei den Einwohnern Vertrauen auf die Leitung der Kommune zu sichern. Deren Entscheidungen und Handeln sollten kommuniziert und transparent gemacht und somit Akzeptanz hervorgerufen werden. Dies wird am Beispiel des Films Unna – Stadt am Hellweg im Wandel der Zeit deutlich: Die Anfrage des Mitarbeiters der Unnaer Bildstelle50 bei der Dortmunder Amateurfilmerin Elisabeth Wilms zeigt, dass 1965 die erste Idee des Auftrags sein sollte, das „alte“ Erscheinungsbild der Stadt vor der Umgestaltung bzw. vor Abrissen zu dokumentieren und zu erinnern.51 Die Urspru¨nge der Planungen zur Sanierungsmaßnahme Eulenstraße – die Bausubstanz stammte u¨berwiegend aus dem 18. Jahrhundert, z. T. auch vom Ende des 19. Jahrhunderts52 – reichten bis in die 1950er Jahre zuru¨ck, als es den Stadtva¨tern no¨tig erschien, die Stadt zu modernisieren und damit die Attraktivita¨t zu halten bzw. zu steigern. Die ab 1963 anlaufenden Planungen umfassten Verkehrsmaßnahmen, die Fo¨rderung der Innenstadt als Einkaufszentrum und die Verbesserung des Wohnumfelds. Fu¨r das von Brigitte Jahn betrachtete Beispiel eines Viertels im Su¨dosten der Innenstadt bestand die Modernisierung aus fla¨chendeckenden Abrissen mit wenigen Ausnahmen einer Objektsanierung. Impulse fu¨r die Neugestaltung des Altstadtkerns sollte ein Sanierungswettbewerb geben.53 Die Na¨he zur innensta¨dtischen Einkaufsachse sorgte fu¨r das Steigen der Bodenpreise, allerdings bremste die a¨ußerst kleinteilige Grundstu¨cksstruktur die Spekulation, so dass die Fla¨chensanierung in Zusammenarbeit mit einem Bautra¨ger bzw. einer Entwicklungsgesell¨ ber die Motivstruktur der Sanierungsmaßnahmen berichtete Plaschaft erfolgte.54 U ner Einsele 1973 in der Fachzeitschrift StadtBauwelt: „Das Gebiet wurde also nicht allein wegen seiner Bausubstanz und den sta¨dtebaulichen Mißsta¨nden zum Sanierungsgebiet, sondern wegen seiner Na¨he zum sta¨dtischen Kerngebiet.“55 Zugunsten einer (vermeintlichen) Attraktivita¨tssteigerung der Stadt realisierten die Stadtplaner

berverband, Handwerkskammer), Stadtra¨te, Lehrer, Kaufma¨nner sowie Fraktionsmitglieder verschiedener Parteien vertreten. Zur Rheinisch-Westfa¨lischen Auslandsgesellschaft und dem Auslandsinstitut Dortmund vgl. StadtADo, Bestand 624, Nr. 157: Druckschrift 25 Jahre Rheinisch-Westfa¨lische Auslandsgesellschaft mit Auslandsinstitut Dortmund, Dortmund 1974. 50 Dies ist sozusagen der visuelle Bereich neben dem Stadtarchiv fu¨r die schriftlichen Dokumente. 51 StadtADo, Bestand 624, Nr. 47, Schreiben des Stadtinspektors Schmidt, Bildstelle Unna, an Elisabeth Wilms vom 16. Juni 1965: „Die Bildstelle der Stadt Unna beabsichtigt einen Film u¨ber die Innenstadt erstellen zu lassen. Da der Stadtkern als Sanierungsgebiet gilt, wird er in den na¨chsten Jahren baulich vera¨ndert. Aus diesem Grunde soll der alte Bestand im Bilde festgehalten werden. Dazu u¨berreiche ich Ihnen einen Lageplan, in dem das Sanierungsgebiet kenntlich gemacht ist.“ 52 Jahn, Planung (wie Anm. 21), S. 111; vgl. Timm, Gademen (wie Anm. 42), S. 52–55. 53 Jahn, Planung (wie Anm. 21), S. 45. Jahn verweist auf Unna als ein fru¨hes Sanierungsprojekt in der Bundesrepublik, so dass dieses entsprechend Aufmerksamkeit gefunden habe, was die Artikel der Planer in der Fachzeitschrift StadtBauwelt unterstreichen. 54 Ebd., S. 125. 55 Einsele/Rommelspacher, Unna (wie Anm. 21), S. 36.

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in Unna im Bereich Eulenstraße/Kletterpoth eine Fla¨chensanierung mit ihren entsprechenden Auswirkungen auf die bisherigen Bewohner wie Verlust des billigen und zentralen Wohnraums mit einer gewachsenen Nachbarschaftsstruktur. Der vom Unnaer Amateurfilmer Erich Borrmann produzierte Film fungierte letztlich nicht mehr als Dokumentation des bisherigen Erscheinungsbildes, sondern nahm eine positive Zukunftsvorstellung auf.56 Auch die Ausfu¨hrungen in der Fachzeitschrift Bauwelt u¨ber den 1966 in Unna erfolgten Planungswettbewerb zur Stadtsanierung legen die Vera¨nderungen in der Zielsetzung des Films nahe: Die im Stadt¨ ffentlichbauamt leitend ta¨tigen Autoren57 unterstreichen die zentrale Rolle der O keitsarbeit, mit der Entscheidungen und kommende Vera¨nderungen der betroffenen Bevo¨lkerung kommuniziert und somit auch legitimiert werden mu¨ssten.58 Mo¨gliche Konflikte dieses Stadtumbauvorhabens sollten entscha¨rft werden, die Bu¨rger u¨ber die Absichten und Planungen der Verwaltung informiert und einbezogen werden.59

56 Jahn scha¨tzt in ihrer Studie zur ersten Fla¨chensanierung in Unna die O ¨ ffentlichkeitsarbeit fu¨r das

Sanierungsprojekt insgesamt als unzureichend ein: Jahn, Planung (wie Anm. 21), S. 64. Andererseits konstatiert sie aber auch ein gewisses politisches „Desinteresse“ der Betroffenen, die in der Planungsphase keinen Protest gegen die Sanierung erhoben (S. 136). 57 Hermann Werner/Wolfgang Herbst/Peter Schickert, Anmerkungen zum Wettbewerb Unna (II), in: StadtBauwelt 10 [Bauwelt 25] (1966), S. 796. Hermann Werner und Peter Schickert waren Stadtbaura¨te in Unna, Schickert gleichzeitig Dezernent und Beigeordneter und somit Leiter des Stadtbauamtes. Im Film tauchen beide mit ihren Funktionen auf dem Wegweiser des Stadtbauamtes auf. 58 Ebd., S. 796: „Als unmittelbare Lehre aus dem Wettbewerb hat sich bei den Verantwortlichen der ¨ ffentlichkeitsStadt die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Sanierung eines ganzen Ortskernes als O arbeit begriffen werden muß. Wie kann man einen Stadtteil gegen den Willen seiner Bu¨rger und Grundstu¨ckseigentu¨mer sta¨dtebaulich umgestalten! Den Bewohnern in einer Mittelstadt, noch sehr traditionell denkend, muß klar gemacht werden, daß die Neuordnung mit dem Festhalten am bestehenden kleinparzellierten Grund und Boden unvereinbar ist. Hier haben die Wettbewerbsergebnisse ¨ berzeugung bedu¨rfen, um die gro¨ßeren Zusammenals Argument großen Wert. Es wird geduldiger U ha¨nge, die eine Sanierung zwingend fordern, versta¨ndlich zu machen. Das Echo aus der Bevo¨lkerung ¨ berlegung, dass ist bisher erschreckend gering.“ (Vgl. auch Jahn, Planung (wie Anm. 21, S. 47.) Zur U ¨ ffentlichkeitsarbeit aus Gru¨nden der Transparenz, der Legitimation und der die professionalisierte O ¨ berzeugung entstand, vgl. Bonte, Werbung (wie Anm. 9), S. 9. U 59 Inwieweit der vorliegende Film diesen Zweck tatsa¨chlich erfu¨llte (bzw. inwieweit diese Absicht in einem briefing so deutlich gemacht wurde und wo, vor wem und wie oft er vorgefu¨hrt wurde), la¨sst sich aus Mangel an (schriftlichen) Quellen jedoch nicht sagen. Dass solche Befu¨rchtungen, auf Unversta¨ndnis und Ablehnung in der Bevo¨lkerung zu stoßen, letztlich nicht unbegru¨ndet waren, wurde spa¨testens ab Ende der 1960er/in den 1970er Jahren deutlich. Fla¨chensanierungen der Altstadtkerne riefen Probleme hervor und weckten Kritik bzw. lo¨sten Aktivita¨ten zur Erhaltung alter Stadt- und Baustrukturen aus. 1971 tagte der Deutsche Sta¨dtetag z. B. unter dem Motto „Rettet unsere Sta¨dte jetzt“. Der Protest gegen Wohnungsnot und Stadtsanierung, die auf den Abriss alter Bebauung und gro¨ßere Gewinnspannen durch ho¨here Mieten in Neubauten setzten und somit zuungunsten von preiswertem zentralem Wohnraum erfolgte, mu¨ndete in Hausbesetzungen, die ein lebhaftes Medienecho fanden. Das Pha¨no¨ ffentlichkeit men Hausbesetzung wurde bisher eher mit dem Fokus auf Protestkultur, Lebensstile, O und Medien betrachtet (vgl. dazu: Daniel Schmidt, Wohnraum und Freiraum. Hausbesetzungen und Hausbesetzer in der Bundesrepublik Deutschland 1970–1982, in: Reformen, neue soziale Bewegungen und Polarisierung. Die Niederlande und Deutschland in den 1970er Jahren im Vergleich [Arbeitstitel], hg. v. Duco Hellema/Friso Wielenga, erscheint voraussichtlich 2012; Jessica Bo¨nsch, Haus¨ ffentliche Meinung und Agenda-Setting (unvero¨ffentlichte Magisterarbeit am besetzer in Mu¨nster: O Historisches Seminar der Westfa¨lischen Wilhelms-Universita¨t Mu¨nster, 2007); Sebastian Haumann, Hausbesetzungen 1980–1982 in Hilden. Mo¨glichkeiten der Mikroforschung fu¨r die Protestgeschichte,

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Die „Ta¨tigkeit der Verwaltung transparent zu machen, Rechenschaft abzulegen und den Bu¨rger zur Mitgestaltung und Mitverantwortung im kommunalen Leben zu animieren“, hielt auch das Dortmunder Informations- und Presseamt als seine Auf¨ ffentlichkeit“ gabe fest. Ziel sei es, „gegenseitiges Vertrauen und Versta¨ndnis in der O aufzubauen und zu pflegen.60 Die Stadtverwaltung erschien in verschiedenen Filmen als Dienstleister im Sinne des Gemeinwohls – ein altes Narrativ, das hier im Gewand neuer Probleme und Herausforderungen aktuell blieb. Gern genutzte Szenen der Filme zwischen 1945 und dem Ende der 1960er Jahre waren Bilder aus den Planungsa¨mtern, in denen an Karten, Pla¨nen, Stadtmodellen gearbeitet wurde und Wettbewerbe fu¨r Stadtplanungen und Wiederaufbauten begutachtet und diskutiert wurden.61 Mehrfach wurde an eine Politik der ‚sozialen Verantwortung‘ angeknu¨pft: sowohl beim Wiederaufbau Dortmunds62, beim Wohnungsbau fu¨r sozial Schwache in Unna und bei den Bereichen Gesundheit (Krankenha¨user), Kinderbetreuung und Altenbegegnung. Die Stadtva¨ter wurden als Vertreter der Bewohner skizziert, die mit viel Verantwortung die Geschicke der Stadt lenkten. Auf Herausforderungen und Probleme63 reagierten die Sta¨dte erfolgreich – so jedenfalls die Botschaft der Filme.64 Aus Krisen ha¨tten, beispielsweise laut Film u¨ber Recklinghausen 1973, die Stadtva¨ter gelernt; vielfach unterstrichen die Kommentare auch den Beitrag der sta¨dtischen Repra¨sentanten aus Politik und Verwaltung, die Stadt aus der Krise herauszufu¨hren. in: Mitteilungen des Instituts fu¨r soziale Bewegungen 34 (2005), S. 155–172). Die Einbettung in stadtplanerische Konstellationen und Stadtbildvorstellungen blieb bisher vergleichsweise unbeachtet, verspricht aber durchaus Erkenntnisgewinn. In diese Richtung weisen die Arbeiten von Anna Nuth, Die Kontroverse u¨ber den Abriss des alten Kieler Sophienhofs um 1980. Stadtplaner, Politiker und Investoren, Hausbesetzer, Denkmalpfleger und die Medien, in: MittGesKielStG 84 (2008), S. 153–208 und das Dissertationsprojekt von Sebastian Haumann, „Schade, dass Beton nicht brennt ...“ Planung, Partizipation und Protest in Philadelphia und Ko¨ln 1940–1990 (BeitrStGU 12), Stuttgart 2011. 60 StadtADo, Kps. 34, Art. „70 Jahre Presseamt in Dortmund“, in: Pressedienst der Stadt Dortmund vom 1. Oktober 1982, Bl. 818–832, hier Bl. 825f. 61 In Unna betonte der Filmkommentar, der im Bild der Außenansicht des Bauamts u¨ber den Zimmerwegweiser in die Planungsabteilung folgt, zum Stellenwert dieses Verwaltungsbereichs: „Wo fru¨her dem einzelnen die Initiative u¨berlassen wurde, plant heut die Gemeinschaft, oder besser gesagt: wird gemeinschaftlich geplant“. Szene aus dem Film Unna – Stadt am Hellweg im Wandel der Zeit. 62 Szene im Film Dortmund im Wiederaufbau 1947–1950. Der Stolz auf die großen Leistungen des Wiederaufbaus schlug sich in Dortmund auch in anderen Medien nieder: Vorwort des Oberstadtdirektors, in: Verwaltungsbericht der Stadt Dortmund fu¨r die Rechnungsjahre 1945 bis 1951, Dortmund o. J. [1952], S. 2. 63 Auf die Bedeutung der jeweiligen politischen Situation fu¨r die Imagebildung (verschiedene Deutungsangebote) verweisen auch Biskup/Schalenberg, Vermarktung (wie Anm. 24), S. 13. 64 So zog sich der Stolz z. B. auf die Wiederaufbauleistung bis in den Film Gestatten Dortmund von 1980 durch: Die Kulisse verrate nicht mehr, dass Dortmund nach dem Zweiten Weltkrieg zu 93 % zersto¨rt gewesen sei. Welche zentrale Rolle Rat und Verwaltung fu¨r die Entwicklung und das Leben der Stadt einnahmen, spiegelte der Film Treffpunkt Dortmund vom Ende der 1970er Jahre, der den Amtsantritt des Oberbu¨rgermeisters Gu¨nter Samtlebe (1972) mit einer eigenen Sequenz bedachte, die einen Auszug aus der Antrittsrede enthielt, in der das neue Stadtoberhaupt sich zur Verantwortung bekannte, „sich den Fragen der Zeit [zu] stellen“.

1954 1956

1956 1957

Dortmund – Wiederaufbau 1947–1950

Westfalens mittelalterliches Herz

Eine Stadt am Faden

Denn wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg

Im Rhythmus der Zeit

Portra¨t einer Landschaft

An den Quellen: Im Ma¨rkischen Sauerland

Die Paradiese liegen nebenan

Halbinsel im gru¨nen Meer

Hagen – Stadt zwischen Erz und Kohle

Bru¨cke vom alten zum neuen Revier

Dortmund

Soest

Bielefeld

Espelkamp-

Recklinghausen

Blomberg, Detmold, Lemgo

Lu¨denscheid, Altena

Mu¨nster, Tecklenburg, Lu¨dinghausen

Osnabru¨ck, Tecklenburg

Hagen

Gelsenkirchen

1960

1959

1958

1954

1953

1952

1950?

1938

Mu¨nster – Westfalens scho¨ne Hauptstadt

Mu¨nster

Entstehungsjahr

Titel des Films

Stadt

Tabelle der bearbeiteten Filme

Exentrik Film Hamburg, Du¨sseldorf, Mu¨nster

Paul Kellermann Filmproduktion

Paul Kellermann Filmproduktion

Exentrik Film Hans Peterich Mu¨nster

Paul Kellermann Filmproduktion

Th. N. BlombergKulturfilmproduktion, Berlin

Schrader Filmproduktion, Hamburg

Dido-Film

FWT (Film in Wissenschaft und Technik), Bielefeld

dri-Film Produktion, Soest

Elisabeth Wilms

UFA (Eugen York)

Hersteller

Stadt Hagen, IHK, Industrie

IHK, Industrie

Stadt Dortmund

Stadt Mu¨nster

Auftraggeber

35/16 mm 16 mm

12:24

35 mm

35/16 mm

35/16 mm

11:14

18:00

12:43

13:28

2

2

2

2

2

2

13:23

35 mm

4

2

15:20

12:24

3

35 mm

17:27

2

2

Nachweis

2

16 mm

35/16 mm

Format

14:20

29:17

12:02

La¨nge1

214 Katrin Minner

Dortmund – Nicht nur Industriemetropole

Dortmund Wiederaufbau 1950–1970

Zum Beispiel Recklinghausen

Dortmund damals

Treffpunkt Dortmund – Erinnerungen, Skizzen und Notizen

Gestatten Dortmund

Dortmund

Dortmund

Recklinghausen

Dortmund

Dortmund

Dortmund

Elisabeth Wilms

Elisabeth Wilms

1972/78

1980

Elisabeth Wilms

Kaskeline-Film, Berlin

Elisabeth Wilms

Elisabeth Wilms

Bofi (Erich Borrmann)

1974

1973

1970/74?

1967/71?

1968/70?

Rheinisch-Westfa¨lische Auslandsgesellschaft e.V. Dortmund

Stadt Dortmund, Presse- und Informationsamt

Stadt Dortmund, Presse- und Informationsamt

Stadt Recklinghausen, Wirtschaftsfo¨rderungsausschuss

Stadt Dortmund

Stadt Dortmund, Amt fu¨r Wirtschafts- und Verkehrsfo¨rderung

Stadt Unna

16 mm

16 mm

38:26

18:34

2

2

2

16 mm

2

18:10

16 mm

48:42/24:256

2

5

16 mm

31:51

2

13:45

16 mm

29:25

Weitere InformationenMittwald (z. B. Metadaten und Szenenerschließungen) zu den Filmen, die sich im LWL–Medienzentrum befinden, ko¨nnen u¨ber die Datenbank abgerufen werden: (Stand: 12. September 2011).

2

in Min. Bild-, Film- und Tonarchiv des LWL-Medienzentrums fu¨r Westfalen, Mu¨nster 3 Extrafilm auf der DVD „Bielefeld – die Leinenstadt“ (Reihe NW Film) 4 Original: Karstadt Recklinghausen, VHS/digital: Stadtarchiv Recklinghausen 5 Stadtarchiv Recklinghausen 6 2 Teile

1

Unna – Stadt am Hellweg im Wandel der Zeit

Unna

Lost in transformation?

215

216

Katrin Minner

5. Fazit

Mit der Hinwendung zur Gegenwart und den zuku¨nftigen Entwicklungen stellten die Sta¨dte ihre Lebendigkeit, ihr Bemu¨hen um eine mo¨glichst gut funktionierende Stadt und ihre Standortvorteile zur Schau. Mit den Filmen konstruierten die Auftraggeber und Produzenten ein Idealbild der Stadt, das zwar Probleme und Notwendigkeiten zu Vera¨nderungen nicht verschwieg, aber in ein hoffnungsvolles Licht ru¨ckte. Sta¨dtische Repra¨sentanten wollten ihr Handeln positiv hervorgehoben sehen bzw. dieses legitimieren und Problemlo¨sungen in der Kommune weiter vorantreiben. Somit waren die Filme in den Jahren zwischen 1950 und dem Ende der 1970er Jahre nicht nur ein wichtiges Mittel, um dem ‚Branding‘ der Stadt eine entsprechende Richtung zu geben, sich gegenu¨ber Herausforderungen und Konkurrenten zu positionieren und sich dabei mo¨glichst vorteilhaft zu ‚verkaufen‘. Sie ko¨nnen auch als Indizien angesehen werden, inwieweit die Sta¨dte – nach dem Konzept von David Harvey65 – vom „verwaltenden“ hin zu einem „unternehmerischen“ Handeln umschalteten, um ihre Existenz und Zukunftsfa¨higkeit zu sichern. Die Werbung fu¨r die eigene Stadt, sowohl nach ‚innen‘ als auch nach ‚außen‘,66 war dazu ein zentraler Bestandteil: – mit dem Herausstreichen lokaler Standortvorteile (Rohstoffe, Raumeigenschaften) – durch die Betonung der verfu¨gbaren Konsumangebote – mit den Bemu¨hungen, Zentralfunktionen in den Bereichen Finanzen, Beho¨rden bzw. Verwaltung sowie Medien anzusiedeln und vor Ort zu halten. Wie sehr die Sta¨dte mit ihren filmischen Imageprodukten auf positive Effekte in der Problemlo¨sung vertrauten, verdeutlicht die Schlussszene des Recklingha¨user Falls von 1973, in dem die noch mitten im Strukturwandel stehende Stadt sowohl im Titel als auch im Abspann den Anspruch erhob, ein Beispiel fu¨r andere Sta¨dte abgeben zu ko¨nnen, die vor a¨hnlichen Problemen standen. So lautete die abschließende Botschaft des Films: „Die Stadt hat die Krise u¨berwunden. Durch die Fo¨rderung des Handels, einer weitgefa¨cherten Industrie, als Wohnstadt und Kulturzentrum. Nicht alle Sta¨dte, die neue Aufgaben finden mussten, haben so erfolgreich den neuen Weg gefunden wie zum Beispiel – Recklinghausen.“67 65 David Harvey, From Managerialism to Entrepreneurialism: The Transformation in Urban Gover-

nance in Late Capitalism, in: Geografiska Annaler. Series B, Human Geography, 71,1 (1989), S. 3–17. Peter Shapely hat diesen Ansatz insofern erweitert, als er am Beispiel britischer Sta¨dte darauf hingewiesen hat, dass sich Grundzu¨ge dieses „unternehmerischen Handelns“ der Kommunen bereits in den 1950er und 1960er Jahren finden lassen: Peter Shapely, Selling the city: The entrepreneurial City and Public-Privat Sector Partnerships in Post-War British Cities (Vortragspapier der Sektion S24 – Selling the City: The Public, the Private and the Redevelopment of European City Centres, 1945–1979, EAUH-Tagung in Gent 1.–4. September 2010). 66 Selbst die geplante Wirkung auf die eigenen Bu¨rger wies diese Verschra¨nkung auf: So sollten die Werbemittel sowohl fu¨r ihr Verbleiben und ihre Zufriedenheit sorgen als auch die Bu¨rger als Multiplikatoren des Stadtmarketings nach außen aktivieren. Vgl. z. B. StadtADo, C 257 1972, Art.: Schackmann, Ba¨ume wachsen bei uns (wie Anm. 8), S. 168. 67 Schlusssequenz bzw. Abspann des Kaskeline-Films ... z. B. Recklinghausen (1973), Stadtarchiv Recklinghausen.

STADT IM FILM. STADT ALS FILM ¨ berlegungen aus der Sicht der Kulturwissenschaften U von Anna Schober

In seinem Roman Der Kinogeher (1960) schilderte Walker Percy, was er als „Kinogeher-Pha¨nomen der Bezeugung “ bezeichnet hat: „In der Tchoupitoulas Street wird Panic in the Streets mit Richard Widmark gezeigt. Der Film ist in New Orleans gedreht ... In einer Szene erscheint die na¨chste Umgebung des Kinos. Kate blickt mich nur an – es ist ausgemacht, dass wir wa¨hrend des Films nicht reden. Draußen auf der Straße betrachtet sie dann die Gegend, ‚ja, das ist nun bezeugt‘. Sie spielt auf ein Kinogeher-Pha¨nomen an, das ich ‚Bezeugung‘ genannt habe. Heutzutage gilt doch, dass die Umgebung, in der ein Mensch lebt, fu¨r ihn nicht mehr bezeugt ist. ... Doch wenn er einen Film sieht, der ihm die eigene Gegend zeigt, vermag er, wenigstens eine Zeitlang, als jemand zu leben, der Hier ist und nicht Irgendwo.“1 Film ist hier in der Rolle angesprochen, die Wirklichkeit des Umgebungsraums der zwei im Kino Anwesenden zu besta¨tigen. Wie der Text zeigen wird, ist Film jedoch in der Lage, ganz unterschiedliche Sachverhalte zu „bezeugen“: zum Beispiel das Real-Sein von Personen, Gefu¨hlen, Erlebnissen, Erinnerungen oder selbst von radikalen Erfahrungen der Ortlosigkeit und Entwurzelung. Das Kino spielte demnach historisch und noch fu¨r unsere Wirklichkeitserfahrung eine wichtige Rolle. Dies hat damit zu tun, dass die „Moderne“ essenziell von einer „symbolischen“ Unbehaustheit und einem Zerbrechen von durch Geburt bestimmten Bindungen gepra¨gt ist, die mit Pha¨nomenen wie Landflucht, Migration und der Auflo¨sung oder des Bedeutungswandels traditioneller Ko¨rperschaften in Beziehung stehen. Diese „symbolische“ Unbehaustheit fu¨hrt zur Suche nach und zur Kreation von neuen „Behausungen“ im wo¨rtlichen wie im u¨bertragenen Sinn. Dabei ist die Moderne, wie Zygmunt Bauman gezeigt hat, zwar von vielfa¨ltigen Versuchen, Ordnung durchzusetzen, gekennzeichnet. Dennoch fu¨hren all diese Versuche nur dazu, dass Ambivalenz und Unordnung vermehrt werden und Bedeutung und Sinn auf neue Weise mobil erscheinen.2 Salman Rushdie hat diesen Aspekt des Unsystematischen, bezogen auf das Sta¨dtische, folgendermaßen beschrieben: „Die Stadt in ihrer Korrumpiertheit mochte sich der Herrschaft der Kartographen indes nicht unterwerfen, vera¨nderte ihre Form nach Lust und Laune und ohne Voranku¨ndigung und 1 Walker Percey, Der Kinogeher, Frankfurt a. M. 1993, S. 67. 2 Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence, Cambridge 1993, S. 4ff.

218

Anna Schober

verhinderte, dass Gibrel sich in der systematischen Weise, die er bevorzugt ha¨tte, an die Arbeit machen konnte.“3 Dabei ist es fu¨r die moderne Stadt charakteristisch, dass Bedeutung und Sinn als innerhalb der sichtbaren, greifbaren und weltlichen Erscheinungen der Stadt angesiedelt verstanden werden – etwas, wofu¨r der Flaneur oder die Flaneuse symptomatisch ist, der/die sich gewissermaßen an die Dinge „verliert“. Zugleich ist die Moderne aber auch von einem Mangel an Sinn und Bedeutung gepra¨gt – ein Mangel, der auch die Bewegung der Flanierenden anzutreiben scheint. Sinn und Bedeutung erscheinen so auch als etwas, das schwierig zu gewinnen ist bzw. „hinter“ den Worten und den Dingen liegt.4 In diesem Umfeld u¨bernimmt das Kino als Ort, an dem Sinn verhandelt – herausgefordert, inszeniert und als besta¨tigt erfahren – wird, eine wichtige Rolle, auch wenn diese eine mehrfach gebrochene ist. Denn zum einen ist das Kino ein Raum, an dem Welt, vermischt mit Fantasie und Imagination, entziffert wird. Parallel fungiert es als ein lokalisierter Ort der Zusammenkunft in der Stadt und als Element eines breiteren, o¨ffentlichen Raums – oder in totalita¨ren Systemen eines informellen o¨ffentlichen Raums5 –, der aus verschiedenen Stimmen, Blickpunkten und Handlungen gebildet wird. Und zugleich hat die Zusammenkunft von Vielen an einem Ort, gepaart mit Dunkelheit, Fantasie und Imagination auch den Effekt, ein MitgerissenSein und damit zusammenha¨ngend eine Entgrenzung von Raum zu erzeugen. Im Folgenden geht der Beitrag zuna¨chst der Funktion nach, die Raum, im Kino und in der Stadt, fu¨r Prozesse moderner Vergesellschaftung hat. Danach wird die Verortung von Kino und Stadt innerhalb eines geteilten Wahrnehmungsregimes in den Blick genommen. Zwei aufeinander bezogene Kapitel sind der Inszenierung von Stadt im Film und dem Hinauswachsen von Filmen in die urbane Alltagspraxis gewidmet. Ein weiterer Abschnitt bescha¨ftigt sich mit popula¨ren Adaptionen des Kinos, insbesondere seit den 1960er Jahren in West- und Su¨dosteuropa. Eine Auseinandersetzung mit der Rolle von Film und lokaler Kinopraxis im Kontext der Globalisierung schließt den Beitrag dann ab. Diese Perspektive wendet sich von einem Versta¨ndnis von Film als ortsungebundene Kunst des Bildermachens ab, auch wenn Pha¨nomene der Entgrenzung und der Imagination, die mit diesem Medium in besonderer Weise in Beziehung stehen, sehr wohl beru¨cksichtigt werden. Im Gegenzug wird Film als eine mit der Stadt in spezifischer Weise verbundene Praxis verstanden. Es geht um die Praxis des Filmemachens, Filmvorfu¨hrens, Kinogehens und des Rezipierens und Adaptierens filmischer Elemente in dem, was als „Kreativita¨t“ des Alltags bezeichnet wird, wobei letztere manchmal in „Kunst im engeren Sinn“ u¨bergeht. Verbunden damit ergibt sich als zentrale Frage, die den Text wie ein roter Faden durchzieht, warum sich das Kino als zentraler sta¨dtischer Versammlungsort so hartna¨ckig hielt und in immer neuer Form adaptiert auftrat und auftritt. 3 Salman Rushdie, Die Satanischen Verse, o. O. 1988, S. 329. 4 Jean-Luc Nancy, Das Vergessen der Philosophie, Wien 2001, S. 44. 5 Anna Schober, Cinema as political movement in democratic and totalitarian societies since the 1960s,

in: Public Spheres After Socialism, hg. v. Angela Harutyunyan/Kathrin Horschelmann/Malcolm Miles, Exeter 2009, S. 41–65.

Stadt im Film. Stadt als Film

1.

219

Kino und Stadt als Orte der Vergesellschaftung

Das Kino stellt eine Art von „Spion“ eines Umbruchs zur Moderne dar, den es selbst mit vorantrieb. Zum einen, weil es ein sehr spezialisierter Raum ist, in dem eine Trennung der Sinne praktiziert wird, d. h. in dem der Sehsinn privilegiert ist. Zugleich ist das Kino, wie Anton Kaes herausgearbeitet hat, ein Raum, in dem die Masse – im Verein mit einer Fu¨lle anderer Instrumente, die der moderne Staat ausgebildet hat (die Armee, die Schule, das Hygienesystem) – geformt und diszipliniert wird.6 Im Kino wird der Ko¨rper, a¨hnlich wie in der modernen Fabrik, fixiert und – auf nummerierten, fest montierten Sitzen – auf eine Richtung hin ausgerichtet: auf die Leinwand. Zugleich gibt es sehr bald strenge Regelungen bezu¨glich Einlass und Ende der Veranstaltungen, gezielte Hygienemaßnahmen – zum Beispiel in Form einer Riesenspritze, u¨ber die ein „Luftauffrischer“ verteilt wird – und eine Leitung der Besucherstro¨me durch den Raum: etwa durch die Trennung von Eingangs- und Ausgangstu¨ren. Im Unterschied zur Fabrik und zur Armee erfolgt die Versammlung des Publikums jedoch ohne Zwang, allein um das Unterhaltungsbedu¨rfnis der Zuschauer und Zuschauerinnen zu befriedigen und es ihnen zu ermo¨glichen, sich als Teil von Kollektivita¨t zu erleben. Deshalb galt das Kino seit etwa den 1920er Jahren auch als potenziell „demokratischer Ort“,7 da in den engen Sitzreihen und vor den bewegten Bildern in der Dunkelheit des Filmtheaters soziale Unterschiede nivelliert und eine prinzipielle Gleichheit der Anwesenden suggeriert wurden. Dem Kino wohnt unter den verschiedenen sta¨dtischen Raumsituationen eine besonders ausgepra¨gte Kraft zur Vergesellschaftung inne – was bereits Georg Simmel festgehalten hat, der dies mit der Raumkonstellation von Kino in Zusammenhang bringt: Die Zuschauer und Zuschauerinnen sind alle auf die u¨bergroße Leinwand hin ausgerichtet und befinden sich in physischer Na¨he zueinander – was eine Situation des Mitgerissen-Werdens erzeugt, die durch die Dunkelheit und die dadurch erzeugte Ungewissheit des ra¨umlichen Rahmens noch gesteigert ist. Denn das Dunkel, so Simmel, „gibt der Zusammenkunft u¨berhaupt einen ganz besonderen Rahmen, der die Bedeutsamkeit des Engen und des Weiten zu einer eigentu¨mlichen Vereinigung bringt. Indem man na¨mlich nur die allerna¨chste Umgebung u¨bersieht, und hinter dieser sich eine undurchdringliche schwarze Wand erhebt, fu¨hlt man sich mit dem Na¨chststehenden eng zusammengedra¨ngt, die Abgegrenztheit gegen den Raum jenseits des sichtbaren Umfanges hat ihre Grenze erreicht: Dieser Raum scheint u¨berhaupt verschwunden zu sein. Andererseits la¨sst ebendies auch die wirklich vorhandenen Grenzen verschwinden, die Phantasie erweitert das Dunkel zu u¨bertriebenen Mo¨glichkeiten, man fu¨hlt sich von einem phantastisch-unbestimmten und unbeschra¨nkten Raum umgeben.“8 6 Anton Kaes, Das Kino und die Massen, in: Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des

Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000, hg. v. Inge Mu¨nz-Koenen/Wolfgang Scha¨ffner, Berlin 2002, S. 170–183. 7 Dieser Begriff wird zum Beispiel von Marguerite Duras in Zusammenhang mit dem Kino verwendet. Marguerite Duras, Heiße Ku¨ste, Frankfurt a. M. 1988 (1952), S. 155f. 8 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen u¨ber die Formen der Vergesellschaftung, Bd. II, Frankfurt a. M. 1992, S. 704f.

Quelle: VOTAVA Bildarchivnummer: 105805

Abb. 1: Ero¨ffnung des Flottenkinos Studio 1, Wien 1954

220 Anna Schober

Stadt im Film. Stadt als Film

221

Kinos fungierten bis heute auch als das, was Simmel, „Drehpunkte fu¨r die Beziehungen und den Zusammenhalt“9 nannte. Das heißt, an Kinos ko¨nnen sich Erfahrungen von Vertrautheit festmachen, in ihnen ko¨nnen sich wiederholt dieselben Kreise von Personen versammeln und sich Rituale des „Kinogehens“ herausbilden, die von kleinen Details leben: wo man im Kinosaal Platz findet, ob man allein sitzt, in einer Gruppe oder mit einem Partner bzw. einer Partnerin des anderen Geschlechts, ob man wa¨hrend des Films spricht und isst oder ganz konzentriert und stumm auf die Leinwand bezogen ist oder ob man beim Vor- und Nachspann sitzen bleibt etc. Dadurch, wie auch durch die Erinnerung an besondere Kinoerlebnisse, werden einzelne Kinora¨umlichkeiten auch individualisiert. Solche Beziehungsgefu¨ge, die sich um einzelne Kinos entspinnen ko¨nnen, werden bereits durch die manchmal assoziationsreichen Namen wie „Apollo“, „Kolosseum“ oder „Rex“ evoziert, die Kinoo¨rtlichkeiten von herko¨mmlich durchnummerierten Ha¨usern unterscheiden. Die Bindung mancher Fans an diese Orte kann so weit gehen, dass manche Jahrzehnte spa¨ter einzelne Elemente abmontieren und als Souvenir mit nach Hause nehmen. So berichtet eine ehemalige Buchhalterin, die in ihrer Jugend in den 1960er Jahren ein glu¨hender Kinofan war: „Na ja, wir haben im Geheimen auch was abmontiert ... im Elitekino, da wohnen wir in der Na¨he.“10 Das Kino als Knoten- oder Drehpunkt fu¨r Beziehungen ist fu¨r die moderne Stadt umso wichtiger, als in ihr in der Gegenwart, wie etwa Zygmunt Bauman oder Richard Sennett11 gezeigt haben, eine Entwicklung hin zu einem Sich-voneinander-Abschotten von verschiedenen, durch Identifikationen gebildeten Gemeinschaften und Gruppen, festzustellen ist. Diese gehen mit gesteigerten Sicherheitsbestrebungen und Selbst- und Fremdu¨berwachung einher. Soziale Kontakte erscheinen ¨ ffentlichkeit als Ort von – damit zunehmend als problem- und angstbehaftet und O gescha¨tzter und zugleich gefu¨rchteter – Anonymita¨t. Dies bringt jedoch auch eine Sehnsucht nach Alternativerlebnissen mit sich, etwa nach einem, im Kino mo¨glichen, ko¨rperlichen Eintauchen in eine Menge, aber auch nach sinnlich nachvollziehbaren Geschichten und Ereignissen der Grenzu¨berschreitung und des Exzesses. In Zusammenhang mit Migration, dem Neu-Ankommen in einer Stadt oder des Sich-tempora¨r-Aufhaltens werden die Qualita¨ten von Kino als Ort der Vergesellschaftung besonders deutlich sichtbar. So beschreibt etwa die Filmkritikerin Maya McKechneay die Rolle des Kinos bei ihrer Ankunft in Wien folgendermaßen: „Ich bin hierher gekommen und hab wirklich nicht eine Person gekannt und das ist auch die ersten Wochen so geblieben, das hat eine Weile gedauert, ich hatte Bekannte, aber keine wirklichen Freunde fu¨r die ersten zwei Monate vielleicht und in der Zeit bin

9 Simmel, Soziologie (wie Anm. 8), S. 708. 10 Interview mit Hannelore Bauda, ehemalige Buchhalterin und Kinofan, gemeinsam mit W. Schwarz,

13. 7. 2000. Seit 2000 habe ich in verschiedensten Forschungsprojekten Interviews mit Filmemachern und Filmemacherinnen, Kunstschaffenden, Leuten, die in Kinoinitiativen involviert waren (oder sind) und Kinofans gemacht. Wenn nicht anders spezifiziert, habe ich die Interviews selbst und auf Deutsch durchgefu¨hrt. Das Datum des Interviews wird jeweils angegeben. 11 Bauman, Modernity (wie Anm. 2), S. 58. Richard Sennett, The Fall of Public Man, London/New York 2003, S. 301f.

222

Anna Schober

ich fast ta¨glich ins Kino gegangen.“12 Diese Funktion, ein schnell vertrautes Setting in einer fremden Umgebung bereitzustellen, machte das Kino zum einen fu¨r Prozesse der Landflucht bedeutsam – etwa, wenn ehemalige Bewohner la¨ndlicher Gemeinden oder von Kleinsta¨dten berichten, wie sie sich u¨ber das Kino auch die Großstadt angeeignet haben.13 Auch in Zusammenhang mit transnationaler oder nationaler Migration u¨bernahm das Kino jedoch eine a¨hnlich wichtige Aufgabe, wie zum Beispiel Sta¨dte wie New York oder Turin zeigen, in denen sich Kinos als tempora¨re Behausungen fu¨r Einwandererstro¨me in besonders vielfa¨ltiger Weise herausgebildet haben. Auch tempora¨r, auf Reisen, mag ein Kinobesuch in einer neuen Stadt als vertrautes Setting fungieren. Die Cineastin und Filmkritikerin Isabella Reicher meinte dazu in einem Interview: „Wenn ich im Ausland bin, da erlebe ich, dass Kino fu¨r mich ein ganz vertrauter Ort ist, egal wo, da kann ich mich noch so fremd fu¨hlen, aber eine Kinokarte kann ich mir auch in Hongkong kaufen, ohne mir komisch dabei vorzukommen, das ist eine Maschinerie, mit der kann ich umgehen, die ist mit vertraut und da bin zu Hause, das hat schon was Heimeliges fu¨r mich.“14 Paradoxerweise ist das Kino jedoch genau aus dem Grund bei einer Neuverortung in einer fremden Stadt behilflich, weil es stets auch mit der bereits erwa¨hnten Erfahrung von Entgrenzung bzw. „Entortung“ verbunden ist, die mit der Fantasie und der Imagination zu tun haben, die an diesem Ort in besonderer Weise aktiviert werden. Dies wird in gesteigerter Form bei Kinobesuchen deutlich, die an Orten stattfinden, an denen man nur vorbeizieht, etwa wenn man einen Zug oder einen Flug wechselt. Die Filmemacherin Mara Mattuschka nahm Ende der 1990er Jahre diese Art von Kinobesuchen in ihr damaliges Pendlerinnen-Leben auf. Sie beschrieb diese Erfahrung folgendermaßen: „Mein Leben ist sehr geteilt. Ich bin in Wien, dann fahre ich jede Woche fu¨r zwei Tage nach Braunschweig, zu Schulzeiten, das ist die zweite Dimension, und dann gibt es die dritte Dimension, das ist diese 11–Stunden-Zugreise hin und 11 Stunden zuru¨ck, das ist auch eine Welt fu¨r sich. Seit Neuestem muss ich umsteigen, in Go¨ttingen, und dort gibt es ein Cineplex neben dem Bahnhof, und da warte ich zwei Stunden und gehe ins Kino, und das ist fu¨r mich die vierte Dimension. Da bin ich praktisch in einer Stadt, die ich u¨berhaupt nicht kenne, bis auf dieses Kino und das ist wirklich weg von jeder Realita¨t ... Das finde ich sehr gut. Da fu¨hle ich mich wirklich total entwurzelt und kosmopolitisch, weil kein Mensch kennt mich, ich kenne niemanden, ich kenne die Stadt nicht, ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Ich steige aus einem Zug und steige in den na¨chsten und dazwischen gibt es Kino. ... Das ist fu¨r mich eine ganz existenzielle Erfahrung, dieses Kino am Bahnhof. Da kann ich mir natu¨rlich den Film nicht immer aussuchen, aber das ist gut so, das ist ein wenig wie ein Zufallsgenerator, was gerade la¨uft.“15

12 Interview mit Maya McKechneay, Filmkritikerin, 12. 2. 2001. 13 Dies ha¨lt zum Beispiel der Leiter des Filmfestivals „Viennale“ in einem Interview fest. Interview mit

Hans Hurch, ehemaliger Filmredakteur bei der Stadtzeitschrift „Falter“ und Leiter der „Viennale“, gemeinsam mit W. Schwarz, 22. 8. 2000. 14 Interview mit Isabella Reicher, Filmkritikerin, 7. 2. 2001. 15 Interview mit Mara Mattuschka, Filmemacherin und Performanceku¨nstlerin, 24. 7. 2000.

Stadt im Film. Stadt als Film

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Die besondere Kraft zur Vergesellschaftung, inklusive Disziplinierung und Entgrenzung, die dem Kinosetting innewohnt, wurde von Beginn an von ganz unterschiedlichen sozialen Agenten genutzt: von Erziehungs- und Werbediskursen, von politischen Parteien, transnationalen Organisationen und selbst von religio¨sen Institutionen. Das Kino wurde auf diese Weise in verschiedene strategische Bemu¨hungen, Ordnung durchzusetzen, eingebunden, was stets mit dem Versuch einherging, das, was im Kino geschieht, zu kontrollieren. In extremer Form wird dies an den „Filmfeierstunden“ der Nationalsozialisten sichtbar. Dabei wurde die eigentliche Filmvorfu¨hrung durch ein Programm gerahmt, das aus Ansprachen der Hitler-Jugend, dem Vortragen politischer Texte oder von Poesie oder aus u¨ber Sprechcho¨re verbreiteten Slogans bestand. Zugleich war auch das Ambiente in spezifischer Weise inszeniert: Hakenkreuzfahnen befanden sich im Außenbereich der Kinos und umgaben zusammen mit Zweigen von Immergru¨n oder Statuen von Adlern auch die Leinwand selbst.16 Mit dieser Gestaltung und dieser Einbindung versuchte die NSDAP, die vielfa¨ltigen und ambivalenten Stimmen und Identifikationen zu eliminieren, die im Kinoraum pra¨sent werden und die Rezeption eindimensional auf ein Zelebrieren des Erlebens in nationalsozialistischen Begriffen einer Volksgemeinschaft hin auszurichten. In Interaktion mit Radioprogrammen oder Zeitungsartikeln u¨ber bestimmte Filme und einzelne Stars sollte das Publikum dazu gebracht werden, entweder das „Deutschtum“ oder das „Fremdsein“ der vorgefu¨hrten Charaktere zu ergru¨nden. Auch im nationalsozialistischen Deutschland konnte eine solche Kontrolle jedoch nie vollsta¨ndig durchgesetzt werden, d. h. es blieben andere, unkonventionelle oder sogar gegenla¨ufige Lesarten mo¨glich, auch wenn sich gerade dadurch die Maßnahmen, das Geschehen im Kino zu kontrollieren, vermehrten. So musste etwa im April 1934 die „Camera“, das letzte Berliner Kino in dem, entgegen anders lautender Anordnungen, „unauthorisierte Filme“ gezeigt worden sind, schließen.17 Auch nach dem Krieg und in anderen La¨ndern wurden Filme meist umfassend „gerahmt“ pra¨sentiert – wobei diese Rahmung in Form von Wochenschauen oder von Werbung oder durch Poster und Broschu¨ren erfolgen konnte, die die Filme inhaltlich und visuell mit den breiteren Strategien verbanden, in die sie eingebunden waren. Ein besonders pra¨gnantes Beispiel fu¨r solche Maßnahmen findet sich in britischen Kinos, in denen bis in die 1970er Jahre am Ende jedes Films die Nationalhymne gespielt wurde.18 Manchmal wurden (und werden) Live-Auftritte in Zusammenhang mit Filmvorfu¨hrungen organisiert – sei es in Form von Diskussionen, Publikumsgespra¨chen oder Vermittlungsinitiativen. Und heute bieten das Internet und das Medium der DVD ein besonders ausgedehntes Forum, die Rezeption von Filmen u¨ber das Kino hinaus auch um Interviews mit einzelnen Stars, Filmmusik, Dokumentaraufnahmen von Schauplatzsuchen, Computerspielen oder gar Live-Events zu erweitern 16 Siehe: Andrea Naica-Loebell, Das totale Kino. Die Arbeit der Gaufilmstellen der NSDAP und die

Jugendfilmstunde, konkretisiert am Beispiel Mu¨nchen-Oberbayern, in: Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematographie: Strukturen, Diskurse, Kontexte, hg. v. Michael Schaudig, Mu¨nchen 1996, S. 179–196. 17 Naica-Loebell, Das totale Kino (wie Anm. 16), S. 182. 18 (4. Juni 2009).

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und zu beeinflussen.19 Dadurch vera¨ndert sich auch die Rezeptionsleistung des Publikums. Diesem wird nun – anders als vorher, als die Sender- und Empfa¨ngerrollen strikter aufgeteilt waren – tendenziell die Aufgabe zugesprochen (und zugleich auferlegt), die verschiedenen Versatzstu¨cke einzelner Filme und begleitender Materialien ¨ berspringen, Wiederholen oder Andersreihen, zu zu einer Narration oder, durch U ¨ ber diverse Aktivita¨ten verschiedenen Versionen einer Narration zu verknu¨pfen. U und an verschiedenen Orten (im Kino, zu Hause, im Flugzeug oder in einem Cafe´ mit Internetanschluss) kann Film auf diese Weise in den Alltag integriert werden. Zugleich macht jedoch gerade das Beispiel des Kinos u¨berdeutlich, dass all diese mit der Moderne einhergehenden Versuche, den urbanen Raum zu kontrollieren, nie ganz erfolgreich waren. Denn das, was im Kino geschieht, entzieht sich solchen ¨ ffentlichkeitspotenzial verweist, das Ordnungsversuchen stets auch20 – was auf das O dem Kino trotz aller Disziplinierung und trotz allem Sich-Einfu¨gen in sozialreformerische oder nationalstaatliche Strategien innewohnt. Denn das Kino ist auch ein Raum, in dem die mit dem Wandel hin zur Moderne (und spa¨ter zur Post- oder Spa¨tmoderne) verbundenen Prozesse, Erlebnisse und Traumata reflektiert und in dem gegebene Zuordnungen und Sinnzusammenha¨nge herausgefordert werden ko¨nnen – was zudem in einem kollektiven Kontext geschieht, in dem das Aufeinandertreffen von einander Fremden wahrscheinlich ist.21 Das Kino war (und ist) demnach ein Vergesellschaftungsraum besonderer Art innerhalb des gro¨ßeren Vergesellschaftungszusammenhangs von Sta¨dten. Beide – Kino und Stadt – wandeln sich im Wechselverha¨ltnis, d. h. so wie die Nickelodeons um 1905 zugleich mit den Einkaufstraßen in den wachsenden Immigrantensta¨dten in den USA entstanden, so entspringen die Multiplex-Kinos den zunehmend von Segregation und einer „Sicherheits-Architektur“ beherrschten Sta¨dten im Netz¨ konomie. Dies bedeutet, dass die von Seiten verschiedewerk einer globalisierten O ner historischer Agenten erfolgende Einbindung und Planung das Kinosetting auf je eigene Weise adaptierte und zum Teil sehr unterschiedliche Erscheinungsweisen von Kino hervorbrachte: die großen Kinopala¨ste der 1930er Jahre, die modernen Schachtelkinos der 1950er Jahre, die Mehrsaalkinos der 1980er Jahre und die KinoShoppingmall-Hybride der Jahrtausendwende. Parallel, und manchmal verknu¨pft mit dieser strategischen Nutzung des Kinoraums, gibt es ebenfalls von Beginn an einen Gebrauch von Kino durch Gruppen von Konsumenten und Konsumentinnen: von Kinoenthusiasten, Kunstschaffenden oder mehr oder minder politisierten Kollektiven. Dazu za¨hlen zum Beispiel die Arbeiterkinobewegung, die NewsreelBewegung und Kinoinitiativen von Immigranten-Gruppen in den 1920er Jahren oder

19 Deniz Go ¨ ktu¨rk, Mobilita¨t und Stillstand im Weltkino digital, in: Kultur als Ereignis. Fatih Akins Film

¨ zkan Ezli, Bielefeld 2010, S. 15–45, hier „Auf der anderen Seite“ als transkulturelle Narration, hg. v. O S. 17. 20 Fu¨r Zygmunt Bauman etwa ist die Moderne von dem Versuch, Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten auszumerzen und Ordnung durchzusetzen, charakterisiert – wobei aber jeder dieser Versuche nur zur Vermehrung von Unordnung und Mehrdeutigkeit fu¨hrt. Bauman, Modernity (wie Anm. 2), S. 15. 21 Miriam Hansen, Babel & Babylon. Spectatorship in American Silent Film, Cambridge/London 1991, S. 90f.

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das Expanded Cinema, Kinoclubs, die kommunale Kinobewegung sowie verschiedenste private Kinoinitiativen in den USA, West-, aber auch Osteuropa in den 1960er und 1970er Jahren. In den letzten Jahrzehnten traten solche Initiativen versta¨rkt auch in neuen Zentren der globalisierten Welt, wie zum Beispiel Istanbul oder in o¨konomisch marginalisierten Orten wie den Slums von Nairobi (Slum-TV), auf.22 Die mit ihnen verbundenen Erza¨hlungen haben – a¨hnlich wie diejenigen, welche die Nutzung des Kinos durch Konsumenten und Konsumentinnen auch fru¨her schon begleitet haben – oft mit neuen Geschichten, die sich von den vorherrschenden unterscheiden, mit ungewo¨hnlichen a¨sthetischen Lo¨sungen und der Selbsterma¨chtigung einzelner Gruppen zu tun – was zeigt, dass Kinobewegungen und Prozesse der Emanzipation und Demokratisierung oft eng miteinander verwoben sind.

2. Ein geteiltes, sich wandelndes Wahrnehmungsregime

In einem Text zu dem von ihm verfilmten Roman von Alfred Do¨blin, Berlin Alexanderplatz, umreißt Rainer Werner Fassbinder die Funktion, welche die Stadt fu¨r kreatives, filmisches Schaffen haben kann. Er spricht hier von einem „ganz besonderen Wachsein fu¨r alles, was das eigentlich ist, in der Stadt leben ... Leben in der Großstadt, das bedeutet sta¨ndigen Wechsel in der Aufmerksamkeit fu¨r To¨ne, Bilder, Bewegungen. Und so wechseln die Mittel der gewa¨hlten Erza¨hlpartikel a¨hnlich, wie das Interesse eines wachen Bewohners einer Großstadt wechseln mag, ohne dass dieser wie die Erza¨hlung sich selber als ihren Mittelpunkt verlo¨re.“23 Fassbinder spricht hier an, dass ku¨nstlerische Formen wie Literatur oder Film und Stadterleben in einem u¨bergreifenden Wahrnehmungsregime verankert sind, das sich zudem quer durch das 20. Jahrhundert stark gewandelt hat. Das Kino kann also auch deshalb als ein Spion des Umbruchs hin zur Moderne bezeichnet werden, weil es bestimmte Wahrnehmungskonstellationen aufnimmt, zelebriert und weitertreibt, die fu¨r moderne Metropolen charakteristisch sind. Dies bedeutet auch, dass „Moderne“ nicht nur auf einen Wandel der sozialen und o¨konomischen Gefu¨ge verweist, sondern auch auf die vielfa¨ltigen Auswirkungen, die eine industriell vera¨nderte Umgebung auf das menschliche Sensorium hat. In Institutionen wie der Armee, der Schule, den Fabriken oder in Angestellten„burgen“, wurden die Ko¨rper und Sinne u¨ber einen zunehmend „wissenschaftlich“ geplanten Straßenverkehr bzw. neuartige Hygienemaßnahmen einem „Training“ unterworfen, das eine neue Form der Sorge um ein je eigenes Selbst und eine vera¨nderte Ausrichtung der Aufmerksamkeit und des Glaubens hervorbrachte –

22 Informationen u¨ber die Initiative Slum-TV finden sich auf folgender Web-Site: (15. August 2011). Die Website des Istanbuler Frauenfilmkollektivs filmmor ist: (15. August 2001). 23 Rainer Werner Fassbinder, Die Sta¨dte des Menschen und seine Seele. Einige ungeordnete Gedanken zu Alfred Do¨blins Roman „Berlin Alexanderplatz“, in: Filme befreien den Kopf, hg. v. Michael To¨teberg, Frankfurt a. M. 1986, S. 81– 90, hier S. 90.

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wie beispielsweise Walter Benjamin, Georg Simmel und in ju¨ngerer Zeit etwa Timothy Corrigan oder Anne Friedberg gezeigt haben.24 Auch in Hinblick auf Sehen, Ho¨ren und Tasten gibt es demnach eine Spannung zwischen einem historischen Wandel dessen, wie Wahrnehmung strukturiert ist einerseits, und einem, unser Wahrnehmen durchbrechenden „Realen“ andererseits, d. h. dem, was sich stets unseren Symbolisierungsversuchen entzieht.25 Moderne Wahrnehmung ist damit so geformt, dass der Sehsinn dominiert, der Blick also gegenu¨ber allem Sichtbaren aufmerksam, gleichzeitig zerstreut und auf Details fixiert ist. Zugleich ist dieses Sehen auch von einer neuartigen Ereignishaftigkeit gekennzeichnet. Die Moderne la¨sst einen kontemplativen Betrachter erst gar nicht mehr zu, d. h. diejenigen, die sich in den neu entstehenden Einkaufsstraßen und Passagen aufhalten, haben nie mehr nur ein einzelnes Objekt vor sich, sondern ihr Sehen u¨berblendet momenthaft verschiedene Objekte, Bilder und Fantasien. Ein Sich-Aufhalten im urbanen Raum ist damit von einem schweigenden, genießenden Beobachten – einer „Gastronomie des Auges“ – gekennzeichnet, wie Richard Sennett dies nennt.26 Zugleich werden Details der sichtbaren Welt zu etwas, das Erinnerungen, Tra¨ume¨ ngste involviert und daru¨ber unsere Imagination und sogar reien, Wu¨nsche und A individuelles oder kollektives Handeln in Gang setzen kann. Wir ko¨nnen somit von Dingen aber auch von Details medialer Bilder involviert und aktiviert werden – was uns dann umso fester in die neu sich verbreitenden Medienwelten einbindet. Wahrnehmung ist damit nicht nur gesteigert visuell und ereignishaft, sondern auch auf neue Weise „produktiv“.27 Diese im 19. Jahrhundert entstandene Form der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, des Glaubens und der Selbstkultur ist Voraussetzung fu¨r die neuen Formen visueller Massenkultur, die sich im 20. Jahrhundert verbreiten. Medien wie Film und spezialisierte Wahrnehmungsra¨ume wie Kinos sind sowohl Ausdruck dieses Wandlungsprozesses als auch Agenten, die ihn weitertreiben. Dieses sich in der Moderne herausbildende In-der-Welt-Sein ist von der Stadt dominiert, wenn wir unter „Stadt“ wie Henri Lefe`bvre eine Art von „Stadtgewebe“28 verstehen, also nicht nur das im strengen Sinne bebaute Gela¨nde der Stadt, sondern eine Gesamtheit von Erscheinungen realer, symbolischer und imagina¨rer Art. Dabei hatten in Europa vor allem die verschiedenen totalita¨ren Systeme und in Deutschland

24 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Technischen Reproduzierbarkeit (dritte Fas-

sung), in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenha¨user, Frankfurt a. M. 1991, Bd. I.2, S. 473–508; Georg Simmel, Die Großsta¨dte und das Geistesleben, in: Soziologi¨ sthetik, hg. v. Klaus Lichtblau, Bodenheim 1998, S. 119–133; Timothy Corrigan, A Cinema sche A Without Walls: Movies and Culture after Vietnam, New Brunswick NJ 1991; Anne Friedberg, Window-Shopping. Cinema and the Postmodern, Berkeley/Los Angeles/London 1994. 25 Drauf hat u. a. Slavoj Z ˇ izˇek hingewiesen. Siehe: Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Zˇizˇek, Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London/New York 2000, S. 118. 26 Sennett, The Fall of Public Man (wie Anm. 11), S. 153. 27 Dazu im Detail: Anna Schober, Ironie, Montage, Verfremdung. A ¨ sthetische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie, Mu¨nchen 2009, S. 87f. 28 Henri Lefe`bvre, Die Revolution der Sta¨dte, Frankfurt a. M. 1990, S. 9f.

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insbesondere der Nationalsozialismus eine wichtige Rolle beim Transport des Kinos und daran gebundener Wahrnehmungskonstellationen auf das Land.29 Dieser Wandel der Wahrnehmungskonstellationen ist jedoch kein homogen ablaufender oder linear voranschreitender Prozess. Miriam Hansen hat unter Verwendung des Begriffs „vernacular modernism“ (umgangssprachlicher Modernismus)30 gezeigt, dass das, was oft als Hochmoderne der Massenproduktion und des Massenkonsums bezeichnet, etwa zwischen den 1920er und den 1950er Jahren datiert und mit einer Hegemonie des „klassischen Hollywoodkinos“ in Beziehung gesetzt wird, nicht so sehr ein integrales, koha¨rentes, mit der fordistischen Produktionsweise verbundenes System darstellt oder ein Set von fixierten stilistischen Normen aufweist. Gegen eine solche Auffassung gewandt schla¨gt sie vor, diese Form des Kinos als eine kulturelle Praxis zu verstehen, die deshalb einen so spezifischen Appeal entfalten und eine so große Resonanz erzielen konnte, weil sie der Erfahrung der Moderne entsprach und zugleich auf eine industriell produzierte Massenkultur bezogen war. Wichtig dafu¨r war, so Hansen, dass das Kino nicht nur sowohl Element und Symptom modernen Erlebens ist, sondern dass es zugleich auch einen inklusiven Horizont zur Verfu¨gung stellt, innerhalb dessen diese Effekte der Modernisierung reflektiert, verhandelt, zuru¨ckgewiesen, verleugnet, aber auch adaptiert und so verwandelt werden konnten. Dabei spielte fu¨r die Rezeption des „klassischen“ Hollywoodkinos – die von Aneignung und Transformation bis zu Distanzierung reicht – eine modernistische Faszination fu¨r das „Niedrige“ (im Gegensatz zum „Erhabenen“), d. h. fu¨r den Alltag, das Banale, den Jedermann oder das Ma¨dchen von nebenan, aber auch fu¨r Straßen und Pla¨tze und andere urbane Formationen, wie ich noch zeigen werde – eine wichtige Rolle (neben dem Ideal einer formalen und narrativen Effizienz). Auf diese Weise bildete sich ein modernes Regime der Wahrnehmung stets in lokaler, „umgangssprachlicher“ Abwandlung heraus. Seit etwa den 1970er Jahren hat sich mit den Medien Fernsehen und bald auch Video und Internet ein solches Wahrnehmungsregime in wieder neuer Form „ergeben.“ Anne Friedberg und Timothy Corrigan beschreiben diesbezu¨glich eine Radikalisierung und Steigerung jener Transformationen des menschlichen Sensoriums, die fu¨r die Moderne charakteristisch waren.31 Beide zeigen auf, dass seit den fru¨hen 1970er Jahren neue Medien wie Blockbuster-Filme, Fernsehen, Computer und Video und dann Internet und Kabel-Fernsehen gesteigert zerstreute, von momentanen Ereignissen getragene Rezeptionsweisen generierten, die das Publikum zudem gleichsam dazu gezwungen haben, sich versta¨rkt auf eine eigene Auswahl an Bildern und Szenen, eigene Wahrnehmungen oder sogar eigene Produktionen von Bildern zu beziehen und sich dazu zu verhalten – wobei diese Reaktionen des Publikums

29 Clemens Zimmermann, Landkino im Nationalsozialismus, in: ArchSozG 41 (2001), S. 231–243. 30 Miriam Hansen, The Mass Production of the Senses: Classical Cinema as Vernacular Modernism, in:

Modernism/Modernity 62 (1999), S. 59–77.

31 Anne Friedberg, Window-Shopping (wie Anm. 24), S. 109f.; Corrigan, Cinema Without Walls (wie

Anm. 24), S. 27f.

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von nicht-artikuliertem Stumm-Sein bis zu elaborierten politischen und theoretischen Positionen und den Ritualen einer neuartigen Ereignis-Kultur reichen ko¨nnen. Damit wurde die Rolle des Publikums stark aufgewertet. Diesem wird jetzt nicht mehr nur Rezeptionsleistung im Sinne von Nachvollzug und eine Rolle bei der Auswahl von Bildern zugestanden, sondern der Anteil, den Betrachter und Betrachterinnen am Verfertigen von Bildern haben – zum Beispiel in Form von ko¨rperlichen Reaktionen und syna¨sthetischen Einfa¨rbungen – wird nachdru¨cklich hervorgehoben.32 Zugleich streichen Wahrnehmungsforscher wie William J. Mitchell in Zusammenhang mit der Stadt der Gegenwart hervor, dass zum Beispiel mit der Verbreitung des Medienverbunds Internet-Computer-DVD/Video Sekunda¨rbeziehungen innerhalb eines urbanen Gefu¨ges zuru¨ckgehen, d. h. die Beziehungen zu Verkaufs-, Bibliotheks- oder Kinopersonal, und Prima¨rbeziehungen zu einem ausgewa¨hlten Personenkreis – zum Partner, zu den Eltern und eigenen Kindern oder wichtigen Freunden – in ihrer Bedeutung aufgewertet werden.33 Auch dies hat Auswirkungen darauf, wie wir uns in der Stadt bewegen, da dadurch Orte wie das Kino oder das Filmfestival, die das Live-Zusammentreffen von einander Fremden in Zusammenhang mit einer Rethematisierung von Sinnfragen ermo¨glichen, ebenfalls wieder an Attraktivita¨t gewinnen. Das zerstreute Wohnen mit und ha¨usliche Sich-Einspinnen rund um Computer, Fernseher und Video- oder DVD-Anlage ist demnach – wie Timothy Corrigan untersucht hat – an ein Ausgehen ohne Ziel oder vorab definierten Zweck gebunden, u¨ber das wir an einem, den Alltag unterbrechenden Ereignis teilnehmen und dabei in eine Menge Gleichgesinnter eintauchen ko¨nnen.34 Manche Multiplex-Kinos, wie das von Coop Himmelblau in Dresden erbaute, stellen eine Fu¨lle von Nischen und Rampen zur Verfu¨gung, auf denen sich das Publikum bei solchen Ausga¨ngen selbst mehr oder weniger spektakula¨r als Stars und wie in einem Film inszeniert – wodurch es unter Umsta¨nden einen ‚bezeugteren‘ Zugang zur Wirklichkeit seiner Tra¨ume zu erzielen vermag. Teil dieses sich wandelnden Wahrnehmungsregimes ist, dass Bilder im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts tendenziell, wenn auch je nach Milieu unterschiedlich ausgepra¨gt, unseren Sinn fu¨r sowohl unser Selbst als auch die uns umgebende Realita¨t pra¨gen und auf diese Weise zu einem zentralen Faktor in der Konstitution, Reproduktion und Bestreitung von sozialen Praktiken geworden sind. Umgekehrt nehmen Bildwelten in versta¨rktem Ausmaß Bezug auf das gelebte Leben. Nicht mehr der, die ¨ berdurchschnittliche wird in erster Linie repra¨sentiert, sonoder das herausragende U dern der Mann oder die Frau von der Straße, das Allta¨gliche – wozu auch urbane Straßenzu¨ge, Fassaden, das Alltagsleben in den Mietskasernen oder Zwischenra¨ume ¨ ffentlichen und dem Privaten wie Hinterho¨fe, Gehsteige oder Parks zwischen dem O za¨hlen. Moderne Diskurse brauchen diesen Bezug sogar, um sich als „authentisch“, 32 Dazu insbesondere: Marc Hansen, New Philosophy for New Media, Cambridge Mass./London 2006,

S. 10ff.

33 William J. Mitchell, E-Topia. „Urban Life, Jim – But Not As We Know It“, Cambridge Mass./Lon-

don 1999, S. 70f.

34 Corrigan, Cinema Without Walls (wie Anm. 24), S. 26f.

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„wahr“ und „bezeugt“ ausweisen zu ko¨nnen. Daraus resultiert ein Prozess, im Zuge dessen sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Bilder und gelebtes Leben wechselseitig und in wachsender Geschwindigkeit zitieren: Fotografie und Film bieten Figurationen an, die manchmal als derart „bestechend“, d. h. psychisch involvierend, erlebt werden, dass Konsumenten und Konsumentinnen sie in ihrer Alltagspraxis zitieren, was dann wieder in Bildern, manchmal auch in Form von Film oder Video, festgehalten wird etc.35 Die Stadt wird in diesem Prozess immer wieder neu fu¨r eine Positionierung von Sinn „entdeckt“. Und umgekehrt werden Filme im Alltagsleben adaptiert und in Inszenierungen des Selbst oder von Raum zitiert – um Erlebtes kommunizierbar zu machen, Differenz zu markieren oder andere in einen Imaginationsoder Utopieraum involvieren zu ko¨nnen.

3. Stadt im Film: Mobilisieren, Erforschen und Verfremden von Raum

Die moderne Stadt ist mit Kino und Film zum einen also durch die Form der Wahrnehmung und die Ausrichtung von Aufmerksamkeit verbunden, die von Schnitten, Wahrnehmungsschocks und parallelen Geschichten, die plo¨tzlich beginnen, enden oder ineinander u¨bergehen, gepra¨gt sind. Zudem ist Stadt selbst insofern „kinematografisch“, als mit den modernen Reform- und Ordnungsanstrengungen, der sie unterworfen wurde, auch eine u¨berwachende, kontrollierende Lesbarkeit eingefu¨hrt worden ist – was etwa am Reformprojekt des Baron de Haussmann im Paris der 1860er Jahre besonders deutlich wird.36 Damit wurde die Stadt versta¨rkt zu einem Gebilde, das auch errichtet wurde, um visuelle Orientierung zu geben, Schranken aufzurichten und Symbolgehalt zu vermitteln. Sie wurde zum Set oder zur Kulisse, wobei Bilder (Gema¨lde, Fotos, literarische Bilder und bald auch Filme) manche Elemente aus dem urbanen Setting herausgreifen und, durch Wiederholung, zu einer Art Logo fu¨r eine bestimmte Stadtszenerie machen ko¨nnen. Und schließlich kommen Sta¨dte oder einzelne Pla¨tze in Sta¨dten nicht allein als Drehorte, Hintergrund, Kulisse oder Motiv in Filmen vor, sondern fungieren auch als deren Motor, indem sie das Erfinden von Geschichten und Figuren in Gang setzen. Der Filmemacher Wim Wenders hat diesen letztgenannten Aspekt explizit angesprochen. In Zusammenhang mit Der Himmel u¨ber Berlin (1986) legte er dar, wie die damals noch geteilte Stadt Berlin, die jedoch zum Beispiel durch den Himmel, der sich u¨ber sie wo¨lbte, verbunden war, in ihm einerseits die Lust, den Film zu machen, entfachte und wie diverse Pla¨tze in der Stadt ihm andererseits Geschichten fu¨r den Film – den er ohne Drehbuch verfertigte – eingaben. Der Einfluss der Stadt auf den Film bestand schließlich sogar darin, dass diese ihm auch die Hauptfiguren 35 Anna Schober, Close-ups in der Kinostadt, in: Visuelle Kultur. Ko¨rper, Ra¨ume, Medien, hg. v. Peter

Mo¨rtenbo¨ck/Helge Mooshammer, Wien 2003, S. 231–253, hier S. 242f. 36 Juan A. SuA ´ rez, Pop Modernism. Noise and the Reinvention of the Everyday, Urbana/Chicago 2007,

S. 53.

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des Films – Engel, die in diesem Kontext viel leichter als Menschen zwischen Ost und West hin- und herwechseln ko¨nnen – u¨ber deren wiederholtes Vorkommen als Beschmu¨ckungsfiguren an zentralen Berliner Geba¨udefassaden fo¨rmlich aufgedra¨ngt hat. Da auch viele seiner weiteren Filme, etwa Paris, Texas (1984) oder Lisbon Story (1994), von Orten angestoßen wurden, kommt er zur These, „dass Orte Geschichten erfinden und dass sie auch dafu¨r sorgen, dass sie erza¨hlt werden.“37 Das Kino wurde demnach von Beginn an durch einzelne Sta¨dte oder Pla¨tze in Sta¨dten sowie das urbane Alltagsleben gena¨hrt und in Gang gehalten. Zugleich haben Filmemacher – und bald auch Filmemacherinnen – ebenfalls von Beginn an Verfahrensweisen gefunden, das Gewirr und das Gera¨usch der modernen Stadt auf je eigene Weise zu reduzieren und in Utopien, Dystopien und Ideologien ru¨ckzubinden. Die enge Bindung von Film an die moderne Stadt wird sehr fru¨h insbesondere im amerikanischen Kino deutlich. Denn in diesem sind bestimmte Elemente der Stadt wie Wolkenkratzer und die mit ihnen verbundene Skyline sowie Arbeiter, die mit dem Bau von Hochha¨usern bescha¨ftigt sind, und dabei Kra¨ne und Bagger bedienen, nachdru¨cklich an der Etablierung von Film als eine essenziell „moderne“ und „amerikanische“ Kunstform beteiligt. Aufnahmen von Hochhausformationen, kolonialen Fassaden und Arbeitern, die in schwindelerregender Ho¨he auf Eisenkonstruktionen herumwandern, unter denen weit entfernt Straßenzu¨ge sichtbar werden, durch die sich ameisenartig Menschen und Autos bewegen, unterschieden den „amerikanischen Film“ deutlich von den traditionellen und „europa¨ischen“ Ku¨nsten wie etwa Theater oder Oper. Dies wird vor allem an den Panorama-Filmen deutlich, die nach 1900 entstehen und die mit solchen spektakula¨ren Aufnahmen von Arbeitern auf Hochha¨usern das fru¨he „Kino der Attraktionen“ gepra¨gt haben.38 So sind zum Beispiel in The Skyscrapers of New York (1906) Wolkenkratzer, Schornsteine, Dachformationen und Eisengeru¨ste genauso Stars des Films wie die Arbeiter-Schauspieler in DenimOveralls, die als gleichsam natu¨rliche Bewohner dieser Szenerie pra¨sentiert sind – wobei sich Skyline und Ko¨rper in Denim-Overalls wechselseitig in ihrer „Americanness“ besta¨tigen. Der US-amerikanische Regisseur D. W. Griffith stellte 1915 in der New York Times fest: „It is the ever-present, realistic, actual now that ‚gets‘ the American public.“39 D. W. Griffith war zugleich jedoch auch eine wichtige Figur fu¨r die „Disziplinierung“ des Kinos in Form von Feature-Filmen, welche die Aufmerksamkeit la¨nger beanspruchen und „kultivierende“ Botschaften vermitteln und das Kino auf diese Weise von einem Ort „niedrigen“ Vergnu¨gens zu einer Erziehungssta¨tte, einer „academy of the working men“, machen konnten.40 In Intolerance (1915/16), einem Film, der u¨ber drei Stunden dauerte, fu¨hrte er vor, dass die Stadt, und zwar die saubere,

37 Wim Wenders, Auf der Suche nach Bildern – Orte sind meine sta¨rksten Bildgeber, in: Iconic Turn.

Die neue Macht der Bilder, hg. v. Christa Maar/Hubert Burda, Ko¨ln 2004, S. 283–302, hier S. 293. 38 Dieses lebte in erster Linie von der Pra¨sentation spektakula¨rer Blickwinkel und Ereignisse und nicht

´ rez, Pop Modernism (wie Anm. 36), S. 66. von strenger narrativer Regulierung. SuA

39 New York Times, 28. Ma¨rz 1915, zitiert nach: Hansen, Babel & Babylon (wie Anm. 21), S. 174. 40 Dazu ausfu¨hrlicher: Anna Schober, Blue Jeans. Vom Leben in Stoffen und Bildern, Frankfurt a. M.

2001, S. 86f.

Stadt im Film. Stadt als Film

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geordnete, in einer la¨ndlichen Umgebung angesiedelte Arbeiterstadt wie die bedrohliche, gefa¨hrliche Großstadt, wichtiges Element dieses amerikanischen „ever-present, realistc, actual now“ ist. Damit u¨bernahm die Darstellung von Stadt auch die im eingangs genannten Zitat von Walker Percey angesprochene Funktion, den Umgebungsraums des Publikums – in unmittelbarerer oder weitla¨ufigerer Form – zu bezeugen. Wobei Intolerance deutlich macht, dass ein solches Bezeugen nie in neutraler, sondern stets in je spezifischer, auch ideologie- oder mythengespeister Art und Weise geschieht. Eine andere Form der Reduzierung urbaner Vielfa¨ltigkeit u¨ber a¨sthetische und filmische Formgebung stellten Paul Strand und Charles Sheeler in Manhatta (1921) vor. Der Film verzichtete auf eine explizit gemachte Geschichte. Er portra¨tiert Manhattan dagegen als Milieu, in dem potenziell Geschichten entstehen ko¨nnen, die zugleich plural und fragmenthaft sind, d. h. die stets durch neue Ereignisse abgelenkt und von Parallelgeschichten flankiert werden ko¨nnen. Der Film besteht aus einer Aneinanderreihung von Sequenzen, die lose zu einem Tagesablauf – vom Morgen, wenn die Pendler mit einem Schiff in der Stadt ankommen, bis zum Abend, wenn die Sonne u¨ber dem Hudson River untergeht – gruppiert sind. Das visuelle Material ist zudem durch Zwischentitel gegliedert, die Zitate von Walt Whitman aufnehmen, in denen die Gro¨ße der Stadt besungen wird und die thematisch die einzelnen Sequenzen einfu¨hren. Der Film ist zum einen ein Dokumentarfilm, nimmt zugleich jedoch eine betont modernistische, sehr junge, zum Teil auch u¨ber Malerei, Literatur und Fotografie gepra¨gte Tradition auf, Großstadtleben in Form von formalen, fast abstrakt wirkenden Mustern, Bewegungen und Rhythmen zu inszenieren und einen schnellen Wechsel vielfa¨ltiger, reflexiver Blickpunkte anzubieten. Dabei nimmt die Kamera das urbane Geschehen oft von hoch oben her auf, blickt aber auch frontal auf Hausfassaden oder Schiffe. An manchen Stellen wird die zufa¨llige Konstellation, welche die moderne Stadt ermo¨glicht – die fu¨r ihre Bewohnerinnen und Bewohner auch mit einer neuen Freiheit gegenu¨ber den von Geburt auferlegten Bindungen einhergeht – in Form von abstrakten, sich zum Ornament fu¨genden Gruppierungen, Linienformationen oder flachen Rastern pra¨sentiert. Die Montage von parallelen Einheiten etabliert zudem vielfa¨ltige Analogien: etwa zwischen den ornamentalen Formationen der Menschenmassen, die sich in den Straßen bewegen und jener von Wolken, die sich am Abend u¨ber dem Fluss zusammenballen. Letzteres hat auch den Effekt, urbanes Leben als Naturpha¨nomen erscheinen zu lassen, d. h. zu re-naturalisieren. Auf diese Weise verwendet der Film neben den prononciert modernistischen auch anti-moderne Verfahrensweisen und erha¨lt so einen romantischen Unterton, der durch den zelebrierenden Duktus der Whitman’schen Zwischentitel noch unterstrichen ist.41 Manhatta la¨utete eine avantgardistisch-experimentelle Tradition des Stadtfilms ein, zu der etwa auch die New York Filme Twenty-Four Dollar Island (Robert Flaherty, 1927), Skyscraper Simphony (Robert Florey, 1929), A Bronx Morning (Jay Leyda, 1931) oder City of Contrasts (Irving Browning, 1931) za¨hlen, die alle die

41 Zu dieser Lesart des Films: SuA ´ rez, Pop Modernism (wie Anm. 36), S. 68ff.

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Stadt zu fast abstrakten „Kompositionen“ („Symphonien“) umformen. Manhatta selbst wurde in Europa, unter dem Titel Fume´es de New York, erstmals ebenfalls in einem Avantgarde-Kontext gezeigt: auf einem Dada-Event in Paris Anfang der 1920er Jahre.42 Zugleich war das Genre des Stadt-Films stark von europa¨ischen Produktionen gepra¨gt. Vor allem in den 1920er Jahren wurde hier die Stadt zur Hauptdarstellerin in einer ganzen Reihe von großen Produktionen wie Die freudlose Gasse (G. W. Pabst, 1925), Metropolis (Fritz Lang, 1926), Berlin, Die Sinfonie der Großstadt (Walther Ruttmann, 1927) oder Paris qui dort (Rene´ Clair, 1923). In diesen Filmen wird der bereits von D. W. Griffith etablierte Gegensatz Stadt/Land bzw. Großstadt/ Kleinstadt ebenfalls oft in Szene gesetzt und die Großstadt mit unterschiedlichen Akzenten als Ort der lustvollen Zerstreuung wie auch als Sta¨tte bedrohlicher und zersto¨rerischer Gewalten repra¨sentiert. Aber nicht nur experimentelle und avantgardistische Produktionen der 1920er und 1930er Jahre haben das Spektakel der Stadt vom ganz fru¨hen Kino u¨bernommen und sich zugleich am Austausch zwischen Alter und Neuer Welt beteiligt. Auch popula¨rere Filme, die weniger auf die Stadt als abstrakte Formation und die Masse als Ornament, sondern eher auf die vielfa¨ltige Nutzung der Stadt durch die Bewohner und Bewohnerinnen und die sich dadurch ergebenden Geschichten fokussierten, waren sehr bald in Migrationsbewegungen zwischen Alter und Neuer Welt involviert. Insbesondere zwischen den Sta¨dten Neapel und New York hatte sich bereits in den 1920er Jahren ein reger filmischer Austausch ergeben. Neapel war in den 1910er und 1920er Jahren – wie Giuliana Bruno gezeigt hat – Produktionssta¨tte von etwa zwanzig Filmzeitschriften, aber vor allem auch Ort einer lebendigen Filmproduktion, wobei ein Großteil dieser Filme „on location“, d. h. in den Straßen und auf den Pla¨tzen Neapels gedreht wurde. Die Produktionsfirma von Elvira Notari exportierte bereits in den 1920er Jahren solche Filme nach New York. Sie wurden oft gleich nach dem Start in Neapel und noch vor Rom in New York gezeigt. Sie bezeugten dort fu¨r ihr Publikum, das zum Großteil aus italienischen Immigrantinnen und Immigranten bestand, die Wirklichkeit ihrer Existenz „dazwischen“ oder auch die Mo¨glichkeit einer imagina¨ren Ru¨ckkehr – die ihnen in der Realita¨t jedoch oft verwehrt geblieben ist.43 ¨ sthetik sowie All diese Filme wurden meist in der Stadt gedreht und sind in ihrer A in den Geschichten, die sie erza¨hlen, und den Pla¨tzen und Personen, die sie involvieren, vom urbanen Leben inspiriert. Mit der Verlagerung der Filmproduktion in den USA von der Ost- an die Westku¨ste und der Entstehung großer Filmstudios ist die Stadt jedoch nicht aus dem Film verschwunden. Ein gutes Beispiel dafu¨r ist der amerikanische Film noir der 1940er und fru¨hen 1950er Jahre, der meist im Studio gedreht worden ist. Er ist geradezu auf die Stadt fixiert – wenn auch nicht unbedingt auf die Großstadt, sondern auch auf Klein- und Mittelsta¨dte, wie etwa in It’s a Wonderful Life (Frank Capra, 1946) vorgefu¨hrt wird. Wichtige Zusammentreffen geschehen im 42 Dickran Tashjian, Skyscrapers Primitives: Dada and the American Avant-Garde, 1910–1925, Midd-

letown 1975, S. 222.

43 Giuliana Bruno, Streetwalking on a Ruined Map: Cultural Theory and the City Films of Elvira Notari,

Princeton 1993.

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Film noir selten im Privatraum, sondern in o¨ffentlichen oder halbo¨ffentlichen Ra¨umen wie im Supermarkt, in Telefonkabinen, in Zu¨gen, Hotels, Restaurants, Bars, auf fast leeren Straßen oder in Bu¨rogeba¨uden. Große Sta¨dte werden als Abfolge von Sensationen und Exzessen inklusive Jazz’, Lichtergewirrs und leichter Ma¨dchen inszeniert. Kommt der Privatraum vor, so wird dieser in ungewo¨hnlicher Weise vorgefu¨hrt – etwa als u¨bersteigert luxurio¨ser oder ruino¨ser Raum oder als Ort, an dem Singles, kinderlose Paare oder Schwule leben.44 Dementsprechend sind diejenigen, die sich auf den oft fast leeren Straßen und (halb-)o¨ffentlichen Pla¨tzen des Film noir treffen prototypisch der Privatdetektiv und die unabha¨ngige moderne Femme fatale – beides Figuren, die Ha¨uslichkeit und normative Familienvorstellungen zuru¨ckweisen. Sie werden als „Strangers“ (zum Beispiel in: When Strangers Marry/Betrayed, William Castle, 1944) inszeniert, die zwar fast immer durch o¨ffentliche oder halbo¨ffentliche Ra¨ume eilen, aber dennoch von privaten Traumata u¨berwa¨ltigt sind. Die schnelle Abfolge diverser urbaner Aufenthaltsorte provoziert eine Erfahrung von Desorientierung, Verschiebung, Schattenra¨umen und Labyrinths, die eine „radikale Heimatlosigkeit“ bezeugen.45 Stadtaufnahmen, die vor Ort gedreht worden sind und zwischen dem Dokumentarischen und Fiktiven oszillieren, treten parallel jedoch weiterhin als Bildgeber und Motor von Filmen auf. Orte und Geschichten, die durch Beobachtung des Alltags der breiten und oft auch der unteren Bevo¨lkerungsschichten „gefunden“ wurden, pra¨gten etwa den italienischen Neorealismus. Sie wurden eingesetzt, um in Opposition zu Faschismus, Diktatur und Besatzung ein Jenseits bu¨rgerlicher Ideologien aufscheinen zu lassen und, damit verbunden, eine Neupositionierung von Sinn zu erreichen. Unter den neorealistischen Filmen hat zum Beispiel der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in Italien, sondern in Deutschland, im zerbombten Berlin, gedrehte Film Germania Anno Zero (Deutschland im Jahr Null, Roberto Rossellini, 1947) besonderes internationales und sehr polarisierendes Aufsehen erregt. Der Film ist u¨ber weiter Strecken von der Tru¨mmerlandschaft Berlins der unmittelbaren Nach¨ berlebenskampf, der sich unter den Bewohnern kriegszeit beherrscht sowie vom U und Bewohnerinnen der Stadt abspielte. Er wurde fast zur Ga¨nze mit Laienschauspielern gedreht, wobei ein kleiner Junge, Edmund, neben den Tru¨mmern und Ruinen der zentrale Star des Films ist, um den alle erza¨hlten Geschichten kreisen: Er versucht, seine Familie, bestehend aus einem kranken Vater, einer diesen pflegenden Schwester und einem sich aufgrund seiner Wehrmachtsta¨tigkeit versteckenden a¨lteren Bruder durch Arbeiten und kleine Gescha¨fte u¨ber Wasser zu halten; er wird von seinem ehemaligen Lehrer, einem aktiven Parteimitglied, in Schwarzmarktgescha¨fte verwickelt, streunt mit anderen Jugendlichen na¨chtens durch Ruinen und Keller und wird schließlich, wiederum von seinem ehemaligen Lehrer – in Fortfu¨hrung nationalsozialistischer Euthanasieprogramme – zum Mord an seinem Vater angestiftet, eine Tat, an der er schließlich innerlich zerbricht und in deren Folge er Selbstmord begeht, indem er sich von einem der Tru¨mmerha¨user zu Boden stu¨rzt. 44 Richard Dyer, Homosexuality and Film Noir, in: Jump Cut 16 (1977), S. 18–21. 45 Frank Krutnik, Something More Than Night. Tales of the Noir City, in: The Cinematic City, hg. v.

David B. Clark, London/New York 1997, S. 83–109.

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Da Rossellini Berlin nicht kannte, begegnete er, wie Dominik Schrey aufgezeigt hat, der Stadt wie ein Tourist. Dementsprechend machte er die zersto¨rte Reichskanzlei – ein Ort, der wie der Film zeigt, ha¨ufig von Besatzungssoldaten besichtigt wurde – zu einer zentralen Sta¨tte der Erza¨hlung. Narrativ ist dies so eingefu¨hrt, dass Edmund von seinem ehemaligen Lehrer losgeschickt wird, um eine Schallplatte mit einer aufgezeichneten Hitlerrede zu verkaufen. Zu diesem Zweck sucht er die zersto¨rte Reichskanzlei auf, um den dort anwesenden ausla¨ndischen Soldaten, die Platte anzubieten. Edmund spielt den Interessenten die Schallplatte direkt vor Ort vor, so dass, wa¨hrend die Kamera u¨ber die Tru¨mmer schwenkt, eine Rede Hitlers erklingt, in der dieser von Endsieg und dem Aufrichten der Nation spricht. Parallel kommt ein Mann mit einem kleinen Jungen ins Bild, die beiden eilen zufa¨llig ebenfalls durch die Tru¨mmer, halten kurz an und gehen schließlich ohne große Reaktionen weiter. Die Tru¨mmer der Reichskanzlei und auch die anderen Ruinen, die im Film wie ein Leitmotiv besta¨ndig wiederkehren, werden so mit der stimmlichen Pra¨senz von nationalsozialistischer Ideologie montiert. Auf diese Weise erscheint Hitler als eine Art Phantom, das die Tru¨mmerstadt Berlin heimsucht. Vergangenheit und Gegenwart sind so gleichzeitig pra¨sent. Die Ruinen, die sowohl auf die Zeit der Zersto¨rung wie auch auf die Zeit davor verweisen, versta¨rken dabei die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart noch. Zugleich wird u¨ber Edmund wie auch den kleinen Jungen, der seinen Vater begleitet, die Zukunft Deutschlands ebenfalls pra¨sent gehalten.46 Germania Anno Zero wurde in Deutschland erst dreißig Jahre nach seinem Entstehen das erste Mal o¨ffentlich gezeigt, da der Film als „Blick von außen“ und wegen seines pessimistischen Endes als besonders provozierend wahrgenommen wurde.47 Offensichtlich war erst Ende der 1970er Jahre Deutschland als Erinnerungsgemeinschaft so gefestigt, dass eine Auseinandersetzung mit der Verdra¨ngung, dem unmit¨ berlebenskampf und dem Fortleben von nationalsozialistischer Ideologie telbaren U nach dem Krieg mo¨glich war. Zugleich wurde der Film aber auch in Italien, etwa von manchen Vertretern des Neorealismus, kritisiert, zum Beispiel mit dem Argument, dass die vielen Nahaufnahmen von Edmunds Gesicht, diesen zu sehr psychologisieren wu¨rden oder dass die Protagonisten nicht ausreichend in ihr soziales Umfeld eingebettet gezeigt worden wa¨ren.48 Allein in Frankreich ist der Film positiv aufgenommen worden und wurde zum Vorbild fu¨r so manchen spa¨teren Vertreter der Nouvelle Vague.49 Die Tru¨mmer Nachkriegsdeutschlands breiteten sich nach Germania Anno Zero jedoch langsam auch in anderen in der BRD gemachten Filme aus. So sind sie zum Beispiel in Rainer Werner Fassbinders Die Ehe der Maria Braun (1978/79) pra¨sent –

46 Dominik Schrey, „Filmen, was vorher und was nachher kommt ...“ – Erinnerung in Roberto Ros-

sellinis „Germania anno zero“, in: Die zersto¨rte Stadt. Mediale Repra¨sentationen urbaner Ra¨ume von Troja bis SimCity, hg. v. Andreas Bo¨hn/Christine Mielke, Bielefeld 2007, S. 289–309, hier S. 301f. 47 Zur Rezeption des Films: Schrey, Filmen, was vorher und was nachher kommt (wie Anm. 46), S. 306. 48 Ulrich Gregor/Enno Patalas, Geschichte des Films, Bd. 2, 1940–1960, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 276. 49 Schrey, Filmen, was vorher und was nachher kommt (wie Anm. 46), S 304.

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als eine Art von Zufluchtssta¨tten, in welche die Protagonistin auch lange nach dem Krieg noch wiederholt zuru¨ckkehrt. Dementsprechend verweisen sie hier nicht nur auf die traumatischen Verletzungen des Krieges, sondern auch auf die anhaltend ruino¨sen Tendenzen der spa¨teren Existenzweisen der Protagonistin als aufstrebende Mitbeteiligte am deutschen Wirtschaftswunder. Die Stadtruinen stehen also auch hier wieder fu¨r ein Nebeneinander verschiedener Zeitlichkeiten, ein Weiterwirken des Verdra¨ngten bzw. die Pra¨senz des Untoten in der Gegenwart. Fassbinder spricht in einer Pressemitteilung u¨ber einen anderen Film, Lola (1981), explizit an, dass auch Die Ehe der Maria Braun mit der Gegenwart, die er thematisiert, und jener, in der er gemacht wurde, eng zu tun hat: „Lola und Maria Braun sind Filme u¨ber das Land, wie es heute ist. Man muss, um die Gegenwart zu begreifen, was aus einem Land geworden ist und noch wird, die ganze Geschichte begreifen oder verarbeitet haben. Fu¨r mich sind das keine Filme, wo ich in irgendwelche Vergangenheiten fliehe ... Und sie sind, wie ich hoffe, Teile eines Gesamtbildes der Bundesrepublik Deutschland, die helfen, dieses seltsame demokratische Gebilde besser zu verstehen – auch die Gefa¨hrdungen und Gefahren. Insofern sind es sehr politische Filme.“50 Die Ruine der Stadt macht jedoch sowohl in Germania Anno Zero als auch in Die Ehe der Maria Braun nicht nur eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft, sondern auch eine Kluft zwischen ehemals intakten (ideologischen) Behausungen und deren zersto¨rten Existenzformen in der Gegenwart sichtbar. Insofern verweisen die Tru¨mmer auch auf das Schiefgelaufene vergangener Ideologien bzw. auf ideologische Umbru¨che. Dies wird auch an einem weiteren Film deutlich, der wieder in Berlin entstanden ist und das Ruinen- und Tru¨mmermotiv noch einmal aufgreift, es diesmal jedoch auf den 1989 stattfindenden Umbruch in der realsozialistischen Welt bezieht. Bei der Produktion des Films Gorila se kupa u podne (Gorilla Bathes at Noon, 1993) ging der damals vorwiegend im Ausland lebende jugoslawische Regisseur Dusˇan Makavejev wieder von Pla¨tzen und in der Stadt gefundenen Geschichten aus und entschied oft erst im Laufe der Dreharbeiten, in welcher Form diese in den Film eingebaut werden.51 Wie in manchen fru¨heren Filmen auch, so benutzt Makavejev in Gorila se kupa u podne ein von Sergei Eisenstein geborgtes Verfahren der „Montage der Attraktionen“, das fiktionale Filmepisoden, Dokumentarfilmmaterial und Ausschnitte aus bereits existierenden Spielfilmen aneinanderreiht. In dieser Form erza¨hlt der Film in locker gereihten Szenen die Geschichte von Victor Borisovich, eines arbeits- und obdachlosen ehemaligen russischer Majors, der auf den Da¨chern sowie in Tru¨mmer- und Kellerkonstruktionen Berlins lebt. Eine Reihe von Abenteuern mit anderen Außenseitern und Außenseiterinnen fu¨hrt ihn an die unterschiedlichsten Orte der Stadt, die in Form kleiner fiktionaler Geschichten mitportra¨tiert sind: etwa in den Zoo, ins Gefa¨ngnis, zum Autofriedhof, in eine Wohnwagensiedlung, zu der bemalten Mauer, in einen Park oder an einen Friedhof. 50 Rainer Werner Fassbinder u¨ber seinen Film „Lola“ in: Lola. Presseinformationen der Tobis, 1981,

S. 13–18 (, 28. August 2011). 51 Lorraine Mortimer, Terror and Joy. The Films of Dusˇan Makavejev, Minneapolis/London 2009, S. 256.

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Ein Leitmotiv des Films sind Szenen aus dem monumentalen Stalin-Film Fall of Berlin (Mikheil Chiaureli, 1949), die Victors vorwiegend mit einem Fahrrad – auf dem eine rote Fahne mit Hammer und Sichel montiert ist – vorgenommenes Streunen durch die Stadt mehrfach unterbrechen. Diese Filmausschnitte zeigen 1945 durchgefu¨hrte Kampfhandlungen im bereits in Tru¨mmern liegenden Reichstag, das triumphale Hissen der Roten Fahne auf demselben und die Ankunft Stalins in Berlin. In einer Art Parallelmontage kommentieren diese Szenen (und umgekehrt) Victors „Liebesaffa¨re“ mit einer monumentalen Leninstatue, die er mehrfach aufsucht, mit Kletterseilen besteigt, um sie von ihrer Beschmutzung durch Farbbeutel zu reinigen, und an deren umsta¨ndlichen Abbau er schließlich als Zeuge beteiligt ist. Auf diese Weise kommt es zum Zusammenstoß von Szenen, in denen ein in Prunkuniform gekleideter Stalin freudig und umringt von roten Fahnen in Berlin begru¨ßt wird, und Nahaufnahmen der monumentalen Leninstatue, die zuna¨chst eingeru¨stet, dann zersa¨gt und schließlich in Teilen abtransportiert wird. Victors Touren durch Berlin werden so zu einem melancholisch-ironischen Reflektieren u¨ber den Aufstieg und Fall des Sozialismus.52 Dies wird durch eine weitere Erza¨hlschiene unterstrichen, in der Victor wiederholt ein weiterer, diesmal „weiblicher“, d. h. von einer Frau verko¨rperter Lenin als eine Art Traumfigur erscheint, die ihn ku¨sst und ihm schließlich fu¨rsorglich einen wa¨rmenden Riesensocken strickt, der auch nach dem Aufwachen, d. h. nach dem Verschwinden auch dieses Lenins, als Beweis fungiert, dass es ihn wirklich gegeben hat.53 1992 sprach Dusˇan Makavejev davon, dass seine Landsleute im ehemaligen Jugoslawien gerade dabei wa¨ren, zu entdecken, dass ihre Geschichte eine Art Kartenhauskonstruktion sei bzw. eine seltsame Art von Vergnu¨gungspark.54 In Gorila se kupa u podne wird diese Erfahrung ins Berlin der Zeit der Abbruch- und Umbauarbeiten nach dem Mauerfall transferiert. Die Stadt erscheint als eine Art Niemandsland, in dem neben den Monumenten auch die Ideologien zerbersten, dabei jedoch von einem, starrko¨pfig an seiner Majorsuniform ha¨ngenden, mit starkem russischen Akzent Englisch sprechenden, seltsamen Narren in der Gestalt Victors nochmals durchquert werden. Ein Hinweis fu¨r den Grund der Verlagerung dieser Auseinandersetzung nach Berlin ko¨nnte, neben pragmatischen Aspekten wie dem, dass der Film von der Stadt Berlin mitfinanziert wurde, vor allem im deutlich optimistisch gefa¨rbten Ende des Films zu finden sein. Wa¨hrend Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre in Kriege und Zerfallsprozesse involviert war, vermittelt das Berlin Makavejevs neben aller Melancholie und Ironie eine positive Grundhaltung. Diese wird auch dadurch 52 Dusˇan Makavejev hat trotz seiner sehr kritischen Haltung und unkonventionellen A ¨ sthetik seine mar-

¨ berzeugungen zum Teil beibehalten, auch wenn diese vor allem durch seine „Ausweisung“ xistischen U aus Jugoslawien 1973 nachdru¨cklich erschu¨ttert wurde. In einem 2007 durchgefu¨hrten Interview hielt er fu¨r seine in Jugoslawien gemachten Filme fest: „We fought for differences in order to bring the party to be more what their programme says.“ Interview mit Dusˇan Makavejev, auf Englisch, 4. Oktober 2007. 53 Verschiedene Film-, Traum- und Dokumentarsequenzen wechseln sich so ab und gehen ineinander u¨ber – etwa wenn Victor in einem Liebespaar aus Chiaurelis Fall of Berlin „seine“ Eltern erkennt. 54 Zitiert nach: Rod Stoneman, Innocence Unprotected, in: Sight and Sound 3 (July 1992), S. 30–31, hier S. 30.

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geschu¨rt, dass sowohl Victor selbst als auch sein Traum-Lenin im Laufe des Films eine Art Heilung erfahren: Ersterer, indem er am Ende seine Uniform, an der er so starrsinnig hing, ablegt, und Letzterer, indem Victor ihm eine Kugel aus dem Kopf „operiert“, die ihm Kopfschmerzen bereitet hat. Der Film repra¨sentiert demnach eine auf Berlin bezogene Trauer- und Heilungsarbeit – eher als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phantom des Totalitarismus, das Berlin im 20. Jahrhundert mehrfach heimgesucht hatte. Wie die anderen beiden besprochenen „Tru¨mmerfilme“ so nutzt auch dieser die Stadt mit ihren (zerfallenen) Repra¨sentationsbauten, Monumenten und Wohnsta¨tten als Ort, an dem die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts als „Behausungen“, manchmal auch in ihrer Bedeutung fu¨r das ganz private Leben, reflektiert werden. Rossellini, Fassbinder und Makavejev waren jeweils Vertreter verschiedener Bewegungen bzw. „Wellen“, die das Kino seit dem Zweiten Weltkrieg pra¨gten – des italienischen Neorealismus, den Neuen Deutschen Films und der jugoslawische Novi-Film-Bewegung, auch „Crni Talas“ (Black Wave) genannt. Alle diese Filmemacher haben ihr Metier in erster Linie u¨ber exzessive Kinobesuche gelernt. Sie ließen sich zu eigenen Produktionen aber nicht nur von gesehenen Filmen inspirieren, sondern ebenfalls wieder von „gefundenen“ Orten und Geschichten. Dabei grenzten sie ihre Arbeit sowohl von dem in ihrem Umfeld pra¨senten Mainstreamfilmangebot wie von der Arbeit anderer Kollegen ab, indem sie Stadt und Wahrnehmung von Stadt prononciert „anders“ inszenierten – und zwar in einer Weise, welche die wa¨hrend des Kalten Kriegs forcierte Aufteilung der Welt in Ost und West aufzuweichen begann. ¨ berblendungen, unmotivierte KameExtrem lange Einstellungen, verstellte Blicke, U rabewegungen und im Film auftauchende Gesichter, die uns beim Zuschauen zusehen und als Voyeure „enttarnen“, lenkten in diesen verschiedenen Formen des „neuen“ oder experimentellen Kinos den Blick unter anderem darauf, wie die Bilder selbst hergestellt sind und mit der Wahrnehmung des Publikums interagieren. Weibliche Kurven in Kombination mit sinnlichen Oberfla¨chenkontrasten, verschlammte Großstadt- oder Dorfstraßen und kno¨cheltief darin versinkende gesellschaftliche Außenseiter55 oder forcierte Montageverfahren setzten dagegen in manchen der jugoslawischen Filme all das in Szene – eine Relevanz sexueller Differenz, das Do¨rfliche, Schmutzige, Dekadente –, was im Sozialismus laut offizieller Diktion „u¨berwunden“ war.56 In den 1980er Jahren knu¨pften poetische Dokumentarfilme an diese Tradition an. Etwa I love Dollars (1986) von Johan van der Keuken, ein Film, der ineinander u¨bergehende und betont fotografische Portra¨ts der vier Finanzzentren New York, ¨ berleben in New York von Rosa Amsterdam, Hongkong und Genf zeichnet, oder U von Praunheim (1989), der drei Frauenfiguren, deren beharrliches Sich-u¨ber-Wasserhalten in New York sowie deren Wanderungen zwischen Deutschland und New York in Szene setzte. Neu an diesen Filmen ist, dass sie in unterschiedlicher Gewichtung 55 Etwa in den Filmen Budjenje pacova (Das Erwachen der Ratten, Z ˇ ivojin Pavlovi´c, 1967) oder Rani

Radovi (Fru¨he Werke, Zˇelimir Zˇilnik, 1969).

56 Schober, Cinema as political movement (wie Anm. 5), S. 51f. Siehe auch: Anna Schober, The Cinema

Makers. Public Life and the Exhibition of Difference, Exeter 2012 (im Erscheinen).

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das globale Zusammenspiel bzw. die Konkurrenz von Sta¨dten und die „Passage“ von Menschen durch verschiedene urbane Ra¨ume untersuchen. In ihnen kommen „glokale“ – also sowohl global vernetzte als auch lokal spezifische57 – Sinnproduktionen in den Blick. Lost in Translation (2003) von Sofia Coppola transferiert diese Thematik in den Spielfilm. Der Film setzt das zufa¨llige Aufeinandertreffen zweier ihrer Ehe entfremdeten und aus den USA stammenden Reisenden, eines a¨lteren Mannes und einer jungen Frau, in Tokio in Szene, betont jedoch wieder die Sprachlosigkeit, das Un- und Missversta¨ndnis und die Unbehaustheit und Heimatlosigkeit, die sich „zwischen“ den Orten und Sprachen in den Vordergrund dra¨ngen und selbst wieder Begegnungen und deren Intensita¨ten beeinflussen ko¨nnen. All diese seit den 1980er Jahren entstehenden Filme sind zudem davon gepra¨gt, dass Stadt als Ort der Erfahrung von (geschlechtlicher, sexueller, ethnischer, klassenspezifischer, sprachlicher) Differenz untersucht wird. Dies wird zum Beispiel im „Cine´ma Beur“ zum Programm erhoben, einer Richtung des Filmemachens, die sich mit ethnisch gemischten Jugendkulturen in den Suburbs von großen franzo¨sischen Sta¨dten auseinandersetzt und vor allem die mit Hilfe von Gewalt u¨berwachten Grenzen zwischen verschiedenen Stadtteilen und sozialen Schichten thematisiert. Gomorra (Matteo Garrone, 2008) schließt an Filme des „Cine´ma Beur“ wie La Haine (Mathieu Kassovitz, 1995) an. Dieser Film fu¨hrt zudem vor, dass Stadtszenerien – hier die Camorra-kontrollierten Suburbs von Neapel – immer noch zur Repositionierung einer filmischen Erza¨hlung in Richtung der Bezeugung eines „wahreren“ oder zumindest „weniger verlogenen“ Blicks auf die Welt eingesetzt werden ko¨nnen.

4. Stadt als Film: Pop-Adaptionen von Kino

Neben vera¨nderten Formen der Vergesellschaftung, umgewa¨lzten Wahrnehmungsbedingungen und neuen Medien brachte die Moderne jedoch – wie etwa Michel de Certeau gezeigt hat – auch eine neue Art der o¨ffentlichen Sichtbarkeit der Kreativita¨t bzw. „Kunst“ der Konsumenten und Konsumentinnen hervor.58 Diese antworten

57 Helmuth Berking, Kulturelle Identita¨t und kulturelle Differenz im Kontext von Globalisierung und

Fragmentierung, in: Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien, hg. v. Dietmar Loch/Wilhelm Heitmeyer, Frankfurt a. M. 2001, S. 91–110. 58 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1980, S. 185. Taktiken der Konsumenten ko¨nnen jedoch nicht so eindimensional zelebriert und den offiziellen Strategien gegenu¨bergestellt werden, wie Michel de Certeau dies tut. Denn „Strategien“ und „Taktiken“ treten nie in „reiner“ Form auf, sondern sind stets wechselseitig „kontaminiert“. Zudem beru¨cksichtigt die Unterscheidung zwischen gesellschaftlich dominanten Strategien und marginalen Taktiken zwar, dass diverse soziale Gruppen immer schon mit unterschiedlicher Durchsetzungsmacht, verschiedenen Instrumenten und „Hinterfeldern“ an gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Hegemonie teilhaben. Dennoch finden Auseinandersetzungen stets auch um ein Dominant-Werden bzw. Marginal-Bleiben statt – das Ergebnis solcher Auseinandersetzungen kann demnach nicht durch Zuschreibungen wie „dominante Strategien“ oder

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damit auf die oft u¨berwa¨ltigende und sie auch auf neue Weise (psychisch und physisch) involvierende materielle Umgebung, die neben vera¨nderten Stadtra¨umen und Dingen nun in zunehmendem Maße auch Bilder, die in neuer medialer Form auf¨ hnlich wie moderne Kunstschaffende adaptierte dabei auch das treten, beinhaltet. A Publikum insbesondere solche „Rohmaterialien“, die nicht von „oben“, d. h. von den großen Traditionen der Hochkultur und von nationalen Strategien in Umlauf gesetzt worden sind, sondern die von der Anonymita¨t der Straße, der Kinos, Warenha¨user, Vergnu¨gungsparks oder Tanzpala¨ste herkamen.59 Fu¨r das Entstehen und Sich-Verbreiten solcher „Pop-Adaptionen“ moderner Alltagskultur spielte das Kino eine besonders wichtige Rolle. Dies wird zum Beispiel daran sichtbar, dass Filme in vielfa¨ltiger Form u¨ber das Kino in den Stadtraum hinauswachsen – etwa in Form von Stilen des Sich-Kleidens und Auftretens, von Innen- und Außenarchitektur, von modernistischen Details wie Neonreklame, in Form des Konstruierens von Stadtszenerien, des Bedeutungswandels und Vermarktens bestimmter Pla¨tze in Sta¨dten und manchmal auch von weniger sicht- und greifbaren Erscheinungen, wie etwa (politischen oder a¨sthetischen) Urteilen oder ethischen Haltungen. Dies ist damit verbunden, dass Ins-Kino-Gehen auch bedeutet, einzelne Bilder oder Szenen als eine Art Durchgangsraum hin zu einem transformierten Selbst zu erleben. Die Effekte solcher signifikanten Wahrnehmungsereignisse werden auf plakativste Art und Weise an Stilen der Selbstinszenierung sichtbar. Ein Beispiel dafu¨r sind die „Flappers“ der 1920er Jahre, meist junge Frauen aus der Angestelltenschicht, die in den modischen Kleidern, Hu¨ten und Schals von Filmstars auftraten und deren Filme auf diese Weise im urbanen Alltag pra¨sent hielten – auch wenn sie zugleich noch ha¨ufig als „Verfu¨hrte“ verurteilt und als Beweis fu¨r die moralische Irrefu¨hrung durch Kinokultur o¨ffentlich diskutiert worden sind.60 Seit den 1950er Jahren sind Erscheinungen wie „Elizabeth-Taylor-Kleider“, „Audrey-Hepburn-Sonnenbrillen“ oder „Bo-Derek-Zo¨pfchen“ dann ha¨ufig mit positiveren Konnotationen verbunden. ¨ bersetzungen“ von signifikanten Ereignissen der All diese Erscheinungen stellen „U Wahrnehmung dar, die im Kino oder zumindest im Zusammenhang mit Film stattgefunden haben. Bestimmte Kleidungsstu¨cke oder Gesten, die von Stars ausgeborgt werden, fungieren dabei als Platzhalter fu¨r das im Kino Erlebte. Mit Hilfe solcher Objekte, aber auch von Gesten, Inszenierungen oder Assemblagen machen wir feine Unterschiede sichtbar, d. h. wir verbinden uns mit manchen aus unserem Umfeld und differenzieren uns von anderen.61

„marginale Praktiken der Verbraucher“ vorweggenommen werden, denn auch so manche Verbraucher oder Verbraucherinnen haben sich mit ihren Praktiken Dominanz erstritten. Jenseits solcher Aufspaltungen lenkt der Zugang von de Certeau den Blick jedoch auf die Stadt als ein Gefu¨ge und eine Interaktion von Praktiken, die nicht nur unterschiedliche Gruppen von Bewohnern und Bewohnerinnen, sondern auch Ra¨ume, neuartige Dinge und Bildwelten involvieren. Zur Kritik an dieser Aufspaltung siehe auch: Schober, Ironie, Montage, Verfremdung (wie Anm. 27), S. 347f. 59 SuA ´ rez, Pop Modernism (wie Anm. 36), S. 5f. 60 Kelly Boyer Sagert, Flappers: A Guide to an American Subculture, Santa Barbara 2010. 61 Schober, Blue Jeans (wie Anm. 40), S. 202f.

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Solch ein Sich-neu-Definieren in Zusammenhang mit Filmerleben findet in Erinnerungen an Kino und Film ha¨ufig Erwa¨hnung. Hannelore Bauda, eine fru¨here Angestellte, berichtet zum Beispiel u¨ber ihre Jugend in den 1960er Jahren: „Was ich auch hatte, das war ein Conny-Rock von der Cornelia Froebes mit Tra¨gern, so was hatte ich auch, wollte ich unbedingt haben und (ich) war die Einzige in der Klasse, die das hatte ... Das weiß ich aber noch genau, den habe ich in der Schule angehabt.“62 Aber auch so manch radikalere Selbstdarstellung hat in Kinos ihren Ausgang genommen. Die Ku¨nstlerin und Filmemacherin Bady Minck etwa u¨ber ihre Zeit als Punk, in der sie die Ra¨umlichkeiten des Z-Clubs, einer Kinoinitiative im Wien der 1970er Jahre, gelegen im damals als Ausgehviertel aufstrebenden 7. Gemeindebezirk, ha¨ufig aufsuchte: „Ich saß immer im Z-Club, da gab’s zwar nicht die Punks, aber zumindest die Kultur der Punks war da, also die Filme, und ein paar Studenten, die sich auch fu¨r solche Sachen interessiert haben, fu¨r die Filme, da waren dann auch Diskussionen danach ... im Blitz hab ich meine ersten Punk-Freundschaften gemacht, ich hab mir die Haare geschnitten, ich war damals ein bisschen mehr auf Punk, mehr auf radikal, dann hab ich auch mit Graffiti und Performance angefangen, vorher war mehr die Diskutierzeit, die politischen Diskussionen daru¨ber, was alles nicht gut ist. Beim Punk gab’s keine Diskussionen mehr, sondern da gab’s nur Aktion.“63 Daru¨ber hinaus hinterließ das Kino oft Spuren in Wahrnehmungen, Welt-Visionen und Urteilen. Wir zeigen, wer wir sind und wo wir stehen, indem wir uns auf bestimmte, im Kino erlebte Momente beziehen, die wir als real und wahr erfahren haben. Der Kinofan Nikolaus Reichel, von Beruf Servicetechniker, schildert dies folgendermaßen: „Krieg der Sterne war meine Passion, der Film interessierte mich, aufgrund der Rolle des Luke Skywalker, den der Marc Hamill gespielt hat, das hat mir gut gefallen, diese Ausbildung vom Jedi zum Menschen, der nach einem gewissen Kodex lebt, der das Gute bewahren will in einer eh schon sehr heruntergekommenen Gesellschaft, das hat mich dazu gebracht, dass ich dazu viel gesammelt habe.“64 Bilder, aber auch Szenen und selbst ganze Filme ko¨nnen sich somit in unseren Alltag hinein ausbreiten, in unser Sehen, Wahrnehmen und Sprechen. Manche aus dem Publikum wurden u¨ber Kinoerlebnisse auch dazu gebracht, selbst zur Kamera zu greifen. So etwa haben so unterschiedliche Filmemacher wie Wilhelm Hein und Rainer Werner Fassbinder Wahrnehmungsereignisse im Kino als wichtige Motivierung fu¨r die spa¨tere eigene Leidenschaft, Filme zu machen oder Kinosituationen zu entwerfen, genannt, wobei beide sich dabei u¨berraschenderweise unter anderem auch auf Filme desselben Filmemachers, Louis Bun˜uel, beziehen.65

62 Interview mit Hannelore Bauda, ehemalige Buchhalterin und Kinofan, gemeinsam mit W. Schwarz,

13. 7. 2000. 63 Interview mit Bady Minck, Ku¨nstlerin und Filmemacherin, 17. 12. 2000. 64 Interview mit Nikolaus Reichel, Servicetechniker und Kinofan, gemeinsam mit W. Schwarz,

27. 2. 2001. 65 Interview mit Wilhelm Hein, Filmemacher und Kinoaktivist, 8. 12. 2004. Rainer Werner Fassbinder in

einem Interview mit Wilfried Wiegand 1974: „Ich weiß u¨ber nichts als u¨ber den Menschen Bescheid“ in: Fassbinder u¨ber Fassbinder. Die ungeku¨rzten Interviews, hg. v. Robert Fischer, Frankfurt a. M. 2004, S. 273–300, hier S. 278.

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Diese Erlebnisse haben mit den Bildern, ihrer Montage sowie den psychischen ¨ hnlichkeiten“66 zu tun, die Zuschauer und Zuschauerinnen in ihnen finden. Zum „A anderen aber sind sie mit dem Kino als Raum verbunden. Dazu die Filmemacherin

Abb. 2: Schauspielhaus Wien 2005 Quelle: Schauspielhaus Wien

Bady Minck: „Du bist in einer schwarzen Kiste, niemand sieht dich, du siehst nie¨ ußeres auf und machst dein manden, man sieht sich selbst nicht mehr, du gibst dein A 67 Inneres auf, fu¨r ein neues Update sozusagen.“ Aber nicht nur in Selbstdarstellungen, Urteilen und weiteren Filmproduktionen, auch in der Architektur, im Design und anderen Praktiken der Stadtgestaltung wird – ebenfalls von Beginn an, wenn auch in einzelnen Milieus und Zentren unterschiedlich ausgepra¨gt – Kino zitiert.68 Kinoarchitektur wird zum Beispiel in Cafe´s und Bars adaptiert, die prononciert modernistisch konzipiert wurden, wie zum Beispiel 66 Schober, Blue Jeans (wie Anm. 39), S. 202. 67 Interview mit Bady Minck, Ku¨nstlerin und Filmemacherin, 17. 12. 2000. 68 Dazu auch: Schober, Close-ups in der Kinostadt (wie Anm. 35), S. 244f.

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die von Oswald Haerdtl entworfenen Ra¨umlichkeiten in Wien, etwa das „Espresso Arabia“ (1950), das „Cafe´ Pru¨ckl“ (1955) oder das Cafe´ de l’Europe“ (1951). In den 1970er Jahren wurden Elemente von Kinoarchitektur sogar fu¨r Gestaltungen „hochkultureller“ Etablissements wie das Theater verwendet. Dies wird zum Beispiel am Schauspielhaus in Wien sichtbar, das in Ra¨umlichkeiten untergebracht ist, die in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts zuna¨chst ein Variete´ und spa¨ter einen Kinosaal beherbergten, und das in der am Kino angelehnten Gestaltung somit auf diese Geschichte verweist (Abb. 2).69 Aber auch großra¨umigere Stadtformationen wie etwa die Skyline von Frankfurt am Main, die der Stadt auch den Namen „Mainhattan“ eingebracht hat, sind dem Kino entsprungen. Diese Gestaltung knu¨pft an die Stadtfilme der 1920er Jahre an, die im Verein mit Fotografie und Malerei, die Skyline von New York zu einer Ikone der Moderne gemacht haben. Nach mehreren, zum Teil an Bu¨rgerprotesten gescheiterten Anla¨ufen wurde Frankfurt vor allem seit den 1970er Jahren im Zuge der Umsetzung des sogenannten „Bankenplans“ (1972–1984) als Wirtschafts- und Bankzentrum Deutschlands auch architektonisch und medial in betont internationalistischer und modernistischer Weise in Szene gesetzt.70 Die Schauseite dieser Architektur wurde dabei an den u. a. aus Filmen bekannten Skyline-Vorbildern orientiert. Diese Re-Positionierung, die dann in den 1980er und 1990er Jahren fortgefu¨hrt worden ist, wurde zugleich auch durch die Einrichtung von Museen und Kunstinstitutionen (von bildender Kunst bis zu Theater und modernem Tanz) unterstrichen. In dieser Funktion, als Ikone des Modernismus und Internationalismus, wird die Skyline von Frankfurt dann selbst wieder im Film zitiert – zum Beispiel in Die Dritte Generation (Rainer Werner Fassbinder, 1978/79). Vor allem seit den 1980er Jahren wurden Elemente der Filmkultur der 1950er und 1960er oft verwendet, um der Flu¨chtigkeit und Verga¨nglichkeit von Stadt sowohl entgegenzuwirken als diese auch, vermischt mit Nostalgie, zu zelebrieren. So verwandeln etwa alte Filmplakate und Filmstu¨hle Shops oder Dienstleistungsbetriebe, wie etwa ein Friseurstudio in Graz, fu¨r einen Moment in einen mit Film, Kino und großen Stars verbundenen Inszenierungs- und Erinnerungsraum. Und Filmaufnahmen von in Neapel gedrehten Filmen setzen jede Pizzeria, wo auch immer inner- oder außerhalb Italiens sie gelegen ist, mit dem Lokalkolorit der Geburtsstadt der Pizza und aus Filmen bekannten Geschichten und Stars in Beziehung. Mit der Verbreitung von Blockbuster-Filmen werden Hollywoodproduktionen bereits so konzipiert, dass sie relativ einfach in eine Reihe anderer Entertainmentprodukte oder Dinge u¨bersetzt werden ko¨nnen – in Musik-CDs, Spiele oder so unterschiedliche Objekte wie T-Shirts, Po¨lster, Briefpapier oder Handtu¨cher und Bettwa¨sche.71 Diese werden dann selbst wieder zu Rohmaterialien fu¨r weitere PopAdaptionen. So hat der franzo¨sische Fotograf Gilles Favier in einer Campingszenerie 69 (20. August 2011).

70 Christian Eitz, Europa¨ische Stadt und Hochhaus: Geschichte, Standorte, Pla¨ne und Kontroversen

anhand der Sta¨dte Frankfurt am Main und Mu¨nchen, Mu¨nchen 2008, S. 10.

71 Corrigan, Cinema Without Walls (wie Anm. 24), S. 23f.

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eine Collage von Bildern gefunden, die aus so allta¨glichen Objekten wie Badetu¨chern hergestellt ist (Abb. 3). Neben Tu¨chern, die eher einfarbig und unspektakula¨r bedruckt sind, wie eines, das den Schriftzug „Sport“ oder eine anderes, das eine

Abb. 3: Holidays on a camping ground Quelle: Gilles Favier/VU/laif

Reproduktion der Briefmarke „Mauritius“ zeigt, ha¨ngt auf der vor einem Campingwagen gespannten Leinwand auch ein Badetuch, auf dem – neben dem beru¨hmten Schiff, stu¨rmischen Wellen und dem Titel des Films Titanic (1997, James Cameron) – das zentrale Liebespaar (Kate Winslet und Leonardo DiCaprio) in za¨rtlicher Pose und Großaufnahme zu sehen ist. Durch das bru¨ske Zusammenbringen der aus rohen Holzbalken sowie Metall- und Plexiglasplatten gebauten Campingwelt mit dem Zitat eines Films, in dem es um große Gefu¨hle, Schicksal und Tod geht, thematisiert das

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Foto (a¨hnlich wie der Film Manhatta) den Alltag als Ort des Mo¨glichen, des zufa¨lligen Zusammentreffens, aber auch als Raum der Imagination sowie von Fake und Illusion. Die materielle Welt wird gleichsam surreal und spektakula¨r aufgeladen und bleibt zugleich als Inszenierung erkennbar, die aus simplen und banalen Objekten besteht. Ein weiteres Beispiel dafu¨r, dass auch in Zeiten des Merchandising Kinoadaptionen immer noch einen Imaginationsraum schaffen ko¨nnen, u¨ber den wir nicht von der Realita¨t weg, sondern zu oft verleugneten Seiten der Realita¨t hingeleitet werden, ist ein (falsches) Film-Plakat des serbischen Ku¨nstlers Rasˇa Todosijevi´c (1997), das zur Verbreitung im Stadtraum Belgrads bestimmt war. Es zeigt das Hu¨ftportra¨t einer Frau mit einem Glasauge, die einem a¨lteren, ba¨rtigen Mann gegenu¨bersteht, den wir nur von hinten sehen. Das Poster ist im Stil riesiger Filmplakate gemacht und scheint einen Film namens „Murder“ zu bewerben, den ein Regisseur namens „Rasˇa Todosijevi´c“ gemacht zu haben scheint. Im Belgrad um 1997 konnte dieses Poster eine politische Wirkung entfalten, da es eine Reihe von weitverbreiteten Gewissheiten herausforderte: etwa jene, dass „Mord“ ein Sujet von fiktionalen Erza¨hlungen ist, aber mit dem Alltag und der Allgemeinbevo¨lkerung wenig zu tun hat. Kino- und Filmadaptionen wie diese verfremden den Alltag, indem sie allta¨gliche Dinge, Ra¨ume, Gestaltungen, Personen oder Lesarten aufnehmen und in ungewo¨hnliche und oft u¨berraschende Relationen, zum Beispiel zu bereits bekannten Bildwelten des Films oder zu Medienkana¨len wie etwa Filmplakaten, setzen. Zugleich sind diese Basteleien stets vielfa¨ltig lesbar und nie ganz transparent. Sie werden immer wieder aufs Neue Teil unerwarteter Beziehungen oder von Bedeutungsstiftungen und Erinnerungen, die nur Eingeweihte kennen. Den Assemblagen, Ra¨umen und Figurationen, aber auch den weniger deutlich identifizierbaren Gera¨uschkulissen, die sich auf diese Weise im Alltag ergeben, haftet damit stets ein Residuum des Unlesbaren, Versto¨renden, Surrealen, Unbewussten und Stets-neu-interpretierbaren an.72

¨ ffentlichkeitpotenzial von Kino 5. Initiativen „von unten“ und das O

Eine Spielart solcher Pop-Adaptionen modernistischer Kultur sind Kinoinitiativen „von unten“, die ebenfalls seit den Anfa¨ngen des Kinos verbreitet sind. Sie sind, wie bereits erwa¨hnt, davon gepra¨gt, dass manche Personen aus dem Publikum durch im Kino erfahrene signifikante Ereignisse der Wahrnehmung und einen damit verbundenen Enthusiasmus angespornt wurden, selbst zur Kamera zu greifen und Filme zu machen und/oder Kinosituationen zu organisieren, in denen Film oft als Bestandteil von „gemischten“ Programmen auftritt, d. h. gerahmt von Diskussion, Vortra¨gen und manchmal auch von Literatur, Performancekunst oder Musik.

72 SuA ´ rez, Pop Modernism (wie Anm. 36), S. 7f.

Stadt im Film. Stadt als Film

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Diese Kinoinitiativen greifen oft auf Elemente des ganz fru¨hen Kinos zuru¨ck. Denn auch in US-amerikanischen Sta¨dten um 1903 wurde Film oft als ein Element in Vaudeville- und Variety-Shows, auf Jahrma¨rkten, Rummelpla¨tzen und Sommerfesten gezeigt, wo sie mit nicht-filmischen Akten wie Gesang, Dia-Shows oder Tanz abwechselten.73 Diese Form des Kinos wurde, wie bereits erwa¨hnt, zwar bald als „niedriges“, „gefa¨hrliches“ und „sittenwidriges“ Vergnu¨gen verurteilt und von einem anderen Kino, mit fixen Beginn- und Endzeiten sowie langen, die Aufmerksamkeit vo¨llig beanspruchenden Feature-Filmen abgelo¨st und brachte die heute als „klassisch“ bezeichneten Formen der Filmproduktion und -vorfu¨hrung mit sich.74 Doch obwohl sich dieses Setting, bestehend aus Leinwand, auf diese ausgerichtete Stu¨hle und Projektor, bis heute gehalten hat, blieb filmisches Erza¨hlen wie auch Filmvorfu¨hrung stets umstritten und wurde parallel von einzelnen Gruppen aus dem Publikum immer wieder neu adaptiert. In den 1920er und 1930er Jahren gab es zum Beispiel neben den prunkvollen, damals neuen Kinopala¨sten auch Avantgarde-Initiativen und explizit politische Kinoinitiativen, etwa der Arbeiterbewegung. Vor allem seit den 1960er Jahren jedoch vervielfa¨ltigten sich Kinoinitiativen „von unten“, die oft wieder stark politisch motiviert waren, wenn auch nicht mehr unter der Deutungshoheit des Marxismus. Zum Teil suchten diese Initiativen auch einen neuen Kontakt mit dem Publikum – etwa in Form der „Kinokneipe“. Vor allem der „Bottom-up“-Kinoaktivismus der 1960er Jahre trug zum Wandel des urbanen Lebens bei. Er provozierte auf internationalen Filmfestivals wie Cannes, Venedig, Oberhausen, Mannheim, Knokke, Berlin, Wien oder Karlovy Vary (Karlsbad) Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre medial außerordentlich sichtbare Skandale, wobei einzelne Produktionen zugleich auch mit wichtigen Preisen ausgezeichnet wurden. Diese Skandale und Auszeichnungen sowie deren mediale Vergro¨ßerungen fu¨hrten zur Transformation des damals bestehenden Filmfestivalnetzwerks. Filmfestivals wandelten sich damit von nationalen Film-Ausstellungsorten hin zu Foren fu¨r die Pra¨sentation von politisierten Filmen und Formen des „Regional-“ und „Weltkinos“, das immer wieder in neuer Variation entdeckt werden kann. Zugleich wurden u¨ber diese Filme und die diversen Formen von Kinoaktivismus neuartige Verleih-, Vertriebs- und Produktionsstrukturen gesta¨rkt, die in der Folge in Form von Arthouse- und Programm-Kinos wieder institutionalisiert wurden.75 Ebenfalls seit den 1960er Jahren gesellten sich zu diesen Adaptionen noch andere Formen der Filmvorfu¨hrung, etwa in Kulturzentren, Parks, Pla¨tzen, Schulen, Museen und Einkaufszentren. Zugleich traten Film und Kino auch versta¨rkt als „Installation“ oder „Intervention“ zeitgeno¨ssischer Kunst auf. Sta¨dte wie Wien, Berlin, Rotterdam oder Belgrad verfu¨gen damit heute u¨ber ein je spezifisches, ho¨chst ausdifferenziertes Spektrum an Kinoformen und partizipieren auf je eigene Weise am ja¨hrlichen Kalender des internationalen Film-Festival-Kreislaufs.

73 Hansen, Babel & Babylon (wie Anm. 21), S 90f. 74 Schober, Blue Jeans (wie Anm. 40), S. 86f. 75 Marijke de Valck, Film Festivals. From European Geopolitics to Global Cinephilia, Amsterdam 2007,

S. 112f.

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Kino und Film waren von Anfang an in Wanderungsbewegungen und Austauschprozesse zwischen Nationen, Kontinenten, politischen Systemen und Kulturen involviert: Zwischen Alter und Neuer Welt, zwischen dem westlichen Block und dem Ostblock, demokratischen und totalita¨ren Systemen, dominanten Staaten des internationalen Gefu¨ges und marginalisierten Regionen. Seit „1968“ hat sich die von Beginn an wichtige Rolle des Kinos als Katalysator transnationaler Prozesse noch versta¨rkt. Sich eigendynamisch herausbildende Kinobewegungen in West- und Su¨dosteuropa seit den 1960er Jahren – etwa das „Expanded Cinema“ und die kom¨ sterreich oder die exjugoslawische munale Kinobewegung in Deutschland und O Novi-Film-Bewegung – adaptierten in Bezug auf Filmemachen und Kinovorfu¨hrung Inputs von der Franzo¨sischen Nouvelle Vague, vom italienischen Neorealismus oder dem US Underground Cinema, aber auch vom Kino der postrevolutiona¨ren Zeit in der Sowjetunion oder der Zwischenkriegszeit. Sie bezogen sich auf zeitgeno¨ssische Auseinandersetzungen wie diejenigen gegen den Vietnam-Krieg oder auf antiimperialistische Ka¨mpfe in Lateinamerika. Vor allem pra¨sentierten sie jedoch wechselseitig Filme aus (Su¨d-)Osteuropa bzw. in (Su¨d-)Osteuropa aus der westlichen Welt und forderten somit den Ost-West-Gegensatz heraus. Auf diese Weise trugen die Aktivisten und Aktivistinnen der genannten Bewegungen – im Verein mit der breiteren 68er-Bewegung, die sie zum Teil mitkonstituierten – zur Herstellung eines neuen transnationalen Bezugsrahmens bei, der die bisherige Ost-West-Polarita¨t durch eine ersetzte, in der Differenzen multipliziert auftraten und eher eine Opposition „Erste Welt/Dritte Welt“ etabliert wurde. Parallel dazu partizipierten die Aktivita¨ten dieser Gruppe daran, „Kultur“ ins Zentrum der Gesellschaft zu verschieben – womit diese nun einen Platz einnahm, den vorher z. B. „das Soziale“ besetzt hielt. In beidem wurden diese Bewegungen zudem von den Medien unterstu¨tzt, die ihre Aktivita¨ten „vergro¨ßerten“.76 Zugleich mit der Verbreitung dieser ausdifferenzierten Auftrittsweisen von Kino und Film hat sich auch der Kontext, in dem diese Initiativen Platz greifen, stark vera¨ndert. Der urbane Raum, in dem wir heute Kino und Film konsumieren, ist zum einen zunehmend segregiert: d. h. es gibt Schlafsta¨dte und Officeviertel neben Ausgehmei¨ berlagerung verschiedener Funktionen an einem Ort, die Richard Sennett len. Die U ¨ ffentlichkeit herausgestellt hat, als wichtige Voraussetzung fu¨r das Entstehen von O 77 ist heute an vielen Orten zuru¨ckgedra¨ngt. Damit zusammenha¨ngend haben viele der ¨ ffentlichkeit, etwa Aufmarschklassisch modernen, institutionalisierten Foren fu¨r O pla¨tze, Vereine, Clubs, Parteien oder Gewerkschaften an Attraktivita¨t verloren und kulturelle Pha¨nomene wie Musik, Film, Internet, Mode, Sport sowie damit verbundene Areale (Konzerte, Kinos, Stadien oder auch Partylokale) sind zu Orten der Politisierung und der Auseinandersetzung um die Beschaffenheit von Gegenwart und Zukunft geworden. Parallel tritt der Streit um die o¨ffentliche Pra¨senz von kultureller Differenz zunehmend neben jenen um soziale Gleichberechtigung und Umverteilung, und Territorialstaaten verlieren im Verha¨ltnis zu transnationalen und globalen

76 Dazu im Detail: Schober, The Cinema Makers (wie Anm. 56). 77 Sennett, The Fall of Public Man (wie Anm. 11), S. 297.

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Prozessen an Einfluss und bieten keinen dominanten Bezugsrahmen fu¨r Politik mehr an. Medien, die selbst zunehmend global organisiert sind, stellen als eine Art „Bildfahrzeuge“ schnell wechselndes Material fu¨r Identifikationen und die Auseinandersetzung um Sinn und Identita¨t zur Verfu¨gung, woru¨ber transnationale Faszinationsgeschichten, aber auch Formen von Ressentiments entstehen. Zugleich sind der oder die Einzelne in ihrer Konfrontation mit diesem Umgebungsraum versta¨rkt auf sich selbst zuru¨ckgeworfen, um Sinn auszubilden.78 Mit den digitalen Bildbearbeitungsmo¨glichkeiten bildete sich mittlerweile eine Fu¨lle neuer Medienkana¨le aus. Dennoch ist auch im Zeitalter des digitalen Bildes das Kino als ra¨umliches Setting, bestehend aus Projektor, Leinwand und Sitzpla¨tzen bzw. mehr oder minder mobilem Publikum, weiterhin – wenn auch oft in stark abgewandelter Form – existent. Grund dafu¨r ist, dass das Kino nach wie vor eine ¨ ffentlichwichtige politische Funktion u¨bernimmt. Ihm wohnt ein spezifisches O keitspotenzial inne, das sich trotz oder vielmehr gerade wegen aller Neuerungen im Wahrnehmungsregime, in den urbanen Gefu¨gen, im Bereich der Medien und in der Beziehung zwischen Lokalem und Globalem gehalten hat und immer wieder neu und anders aktualisiert wird. Das Kino ist auch deshalb ein politischer Ort, weil in ihm Sinn immer wieder neu zur Disposition gestellt werden kann. Zugleich ist es ein Ort, an dem sich eine zugleich plural erlebte und dennoch gemeinschaftliche Erfahrung herstellen la¨sst – die zu Austausch und Diskussion fu¨hrt und manchmal auch weitere Initiativen ansto¨ßt. Auf diese Weise wird das Kino zum Ausgangspunkt einer Spha¨re, in der eine Interaktion zwischen Fremden und ein Ausdruck von Differenz stattfinden kann. Vor allem aber kommt dem Kino als Ort ambivalenter Identifikation und unabgeschlossener Spiegelungsprozesse eine wichtige Funktion in der Auseinandersetzung mit den jeweils „Anderen“ bzw. mit dem Anderen im Eigenen zu. Dabei ermo¨glicht es auf vielerlei Art, dem Anderen zu begegnen: Dieses kann angeeignet und zur Positionierung des Eigenen benutzt werden, der oder die Andere kann aber auch als Exotikum fixiert und so ferngehalten werden und zugleich kann Kino auch Ereignisse hin zum Anderen79 ermo¨glichen. Eine bestimmte Form der Rezeption kann zwar von Filmschaffenden und Kinoinitiativen angepeilt werden, stellt sich jedoch immer nur in kontingenter Form her. Auf diese Weise ist Kino auf vielfa¨ltige Weise in die Umwa¨lzungen des Urbanen involviert, stellt zugleich aber auch eine Arena bereit, in der dieser Wandel reflektiert, thematisiert und auch bestritten werden und unsere Neugier provoziert werden kann.

78 Eric Hobsbawm, Globalisation, Democracy, and Terrorism, London 2007, S. 106. 79 Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer A ¨ sthetik des Performativen, Frankfurt

a. M. 2002, S. 28ff.

GROSSSTADT UND MASSENMEDIEN Hamburg von den 1950er bis zu den 1980er Jahren von Axel Schildt

Dass die Erforschung der Zusammenha¨nge von Massenmedien und Großstadt trotz der offensichtlich großen Bedeutung fu¨r die Konstruktionen urbaner moral order in der ju¨ngeren Zeitgeschichte ein Desiderat darstellt, ist seit langem betont worden. Das betrifft die massenmedialen Strukturen einer Stadt oder Großstadt – die hardware der kommunikativen Netze, die konkurrierenden Medien und Medienproduzenten (Verleger, Redakteure u. a.), ihre Interessen und Konkurrenzen, ebenso wie das Verha¨ltnis von sta¨dtischer Politik und stadtoffizio¨ser Selbstrepra¨sentation zu den ¨ ffentlichkeit, das Verhalten Massenmedien, deren Beziehung zu anderen Teilen der O 1 der Medienkonsumenten usw. Auch in der reichhaltigen neueren Literatur – vor allem befreundeter Nachbardisziplinen – zur urbanen Kommunikation werden ungeachtet vielversprechender Titel die Massenmedien ausgeklammert oder kommen ho¨chstens in homo¨opathischer Dosierung und tangentialer Beru¨hrung vor.2 Diese Forschungslu¨cke evoziert – besonders fu¨r die zweite Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts – ein Problem: Gegenwartsnahe Betrachtungen transportieren na¨mlich als Subtext die Vorstellung einer langen Dauer traditioneller, vom 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts entstandener Medienstrukturen in der Stadt, die dann quasi unvera¨ndert von einem neuen digitalen Zeitalter abgelo¨st worden seien, fu¨r das typischerweise die postmodernistische (unsinnige) Frage 1 Karl Christian Fu ¨ ffentlichkeit – Medien – Geschichte. ¨ hrer/Knut Hickethier/Axel Schildt, O

¨ ffentlichkeit und Zuga¨nge zu ihrer Erforschung, in: ArchSozG 41 (2001), Konzepte der modernen O S. 1–38, hier S. 26f. 2 Vgl. Die Stadt als Event. Zur Konstruktion urbaner Erlebnisra¨ume, hg. v. Regina Birkner, Frankfurt a. M./New York 2002; City-Lights. Zentren, Peripherien, Regionen. Interdisziplina¨re Positionen fu¨r eine urbane Kultur, hg. v. Karin Wilhelm/Gregor Langenbrinck, Wien 2002; 100 % Stadt – Der Abschied vom Nicht-Sta¨dtischen, hg. v. Haus der Architektur Graz, Graz 2003; Media and Urban Space: understanding, investigating and approaching mediacity, hg. v. Frank Eckardt, Berlin 2008; Urban-suburban life in the global society, hg. v. E. Barbara Phillips, New York/Oxford 2010. Die Lu¨cke auch in dem ansonsten hervorragenden Sammelband: Kommunikation und Stadt in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, hg. v. Adelheid von Saldern Stuttgart 2006. Als interessantes, ¨ konomie mittlerweile auch von Historikern diskutiertes Theorieangebot immerhin Georg Franck, O der Aufmerksamkeit, in: Perspektiven metropolitaner Kultur, hg. v. Ursula Keller, Frankfurt a. M. 2000, S. 101–118.

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Axel Schildt

gestellt wird, ob sich zwischen „real“ und „fiktiv“ oder „real“ und „virtuell“, zwischen „Bild“ und „Stadt“ noch unterscheiden lasse.3 Zugleich wird behauptet, die digitale Kommunikation fu¨hre zum Ende der modernen Stadt, das Urbane sei nun, mit Henri Levebvre gesprochen, ubiquita¨r, es schwinde damit die „Notwendigkeit einer ko¨rperlichen Anwesenheit in der Stadt“4. Gegenu¨ber solchen, vornehmlich von Medienwissenschaftlern und avancierten Stadtplanungstheoretikern vorgetragenen Zukunftsszenarien wurde von soziologischer Seite eingewandt, die großen Sta¨dte wu¨rden gerade mit den gesellschaftlichen Strukturvera¨nderungen im ausgehenden 20. Jahrhundert eine erho¨hte Bedeutung gewinnen, weil sich wegen der geballten Wirtschaftsta¨tigkeit Kostenersparnisse durch Agglomeration ergeben wu¨rden und das allgemeine Umfeld ho¨chst innovativ sei.5 Adelheid von Saldern hat die beiden entgegengesetzten Positionen mit ihren bina¨ren Mustern eingehend analysiert und auf das allgemeine Bedu¨rfnis nach ra¨umlicher Orientierung (spacing), aber auch auf das Bedu¨rfnis gerade der audiovisuellen Medien nach einem „Fluidum der Urbanita¨t“ hingewiesen. Insofern sei von einem „Spannungsfeld von Entgrenzung und Koha¨sion“ zu sprechen.6 Ein genuiner Beitrag der zeithistorischen Forschung zur aktuellen Debatte u¨ber die Zukunft der Großsta¨dte ko¨nnte die Auflo¨sung der Vorstellung einer u¨ber viele Jahrzehnte hinweg weitgehend unvera¨nderten Struktur des massenmedialen Ensembles in den Großsta¨dten sein, nicht um die Bedeutung der in der Mitte der 1980er Jahre anzusetzenden Za¨sur der Medialisierung zu verkleinern, sondern um sie anschlussfa¨hig zu machen fu¨r die Zeitgeschichtsforschung, die mittlerweile insgesamt die 1970er und 1980er Jahre als gesellschaftliche Transformationsphase identifiziert hat7 – allerdings wiederum weitgehend ohne Thematisierung des Verha¨ltnisses von Stadt und Medien, obwohl sich schon vor der digitalen Revolutionierung der Massenmedien durchaus tiefgreifende Vera¨nderungen entdecken lassen. Das offensichtliche Desiderat la¨sst zuna¨chst fragen, warum es besteht. Es kommen hier wohl verschiedene Gru¨nde zusammen: die Schwierigkeit, den Gegenstand zu erfassen und trennscharf abzugrenzen, die desolate Quellenlage, die zu leichter bearbeitbaren Themen ausweichen la¨sst, das in der Mediengeschichte ha¨ufig vorkommende faszinierte Starren auf die technischen Innovationen zum Zeitpunkt ihrer 3 Zitate aus der Einleitung von: Stadt und Kommunikation im digitalen Zeitalter, hg. v. Helmut Bott

u. a., Frankfurt a. M./New York 2000, S. 12.

4 Hans Friesen, Die Zukunft der Stadt in der Medienkultur, in: Die alte Stadt ZSSD 31 (2004),

S. 199–209, Zitat S. 201; zum theoretischen Hintergrund Christian Schmid, Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, Stuttgart 22010; vgl. auch William J. Mitchell, City of bits: space, place and the Infobahn, Cambridge 72000 (dt.: Basel 1996); Florian Ro¨tzer, Die Telepolis. Urbanita¨t im digitalen Zeitalter, Mannheim 1997. 5 Vgl. – besonders prominent – Saskia Sassen, Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt a. M./New York 1996 (und zahlreiche weitere pointierende Beitra¨ge). 6 von Saldern, Kommunikation, S. 12, 34. 7 Vgl. Anselm Doering Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Go¨ttingen 2008; Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, hg. v. Konrad H. Jarausch, Go¨ttingen 2008; Auf dem Weg in eine andere Moderne. Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, hg. v. Thomas Raithel/Andreas Ro¨dder/Andreas Wirsching, Mu¨nchen 2009.

Großstadt und Massenmedien

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Einfu¨hrung und von daher abgeleitete Za¨suren, die blind machen fu¨r vorherige Entwicklungen und lange Linien. Im Folgenden sollen einige Punkte benannt werden, die fu¨r eine Historisierung des Verha¨ltnisses von Großstadt und Massenmedien wesentlich zu sein scheinen. Empirische Hinweise beziehen sich dabei hauptsa¨chlich auf Hamburg – aus zwei Gru¨nden: Zum einen wurde die Hansestadt nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der Teilung und Randlage der vorherigen Pressehauptstadt Berlin, also aus politischen Gru¨nden, zur fu¨hrenden westdeutschen Medienmetropole.8 Insofern treffen hier die auf den Schnittpunkt von Medien- und Großstadtgeschichte zielenden Fragen auf die differenzierteste Empirie. Der zweite Grund liegt darin, dass mit der Pionierarbeit von Karl Christian Fu¨hrer u¨ber die „Medienmetropole Hamburg“, die immerhin von den 1930er bis zu den 1950er Jahren reicht, fu¨r wichtige Thematiken bereits la¨ngere Linien gezogen wurden9, die auch fu¨r die Fortfu¨hrung in die ju¨ngste Zeitgeschichte von Belang sind. Im Folgenden sollen zuna¨chst jene Faktoren skizziert werden, die Hamburg in der Zeit der alten Bundesrepublik zur Medienmetropole machten (1). Erga¨nzend werden einige Vera¨nderungen seit dem letzten Drittel der 1950er Jahre besonders hervorgehoben, die die Historizita¨t des massenmedialen Ensembles in der Großstadt nicht allein durch im engeren Sinne mediale Entwicklungen, sondern auch durch ¨ hnlichkeitsanalogien etwa der SuburFormvera¨nderung des Urbanen erkla¨ren und A banisierung auf der einen und des immer ausgepra¨gteren Lokalbezugs der Medien auf der anderen Seite als analytischen Zugang andeuten (2). Und schließlich geht es um einige Beispiele fu¨r die markante Regionalisierung und Lokalisierung in den Medien der 1970er Jahre, die sich eben zwischen den von der Zeitgeschichtsforschung thematisierten Strukturbru¨chen und der sogenannten medialen bzw. digitalen Revolution zeigen (3).

1. Das urbane massenmediale Ensemble nach 1945

Im Ergebnis der Neustrukturierung des massenmedialen Ensembles nach dem Zweiten Weltkrieg sehen wir drei Pfeiler, die typisch sind fu¨r die wichtigen Mediensta¨dte in der Bundesrepublik.10 Den ersten Pfeiler bilden das o¨ffentlich-rechtliche Radio und spa¨ter auch das Fernsehen. Nur jene Großsta¨dte konnten sich zu wichtigen Medien8 Zum Faktorenbu¨ndel fu¨r diese Entwicklung geho¨rte auch die Existenz eines traditionellen Zeitungs-

viertels. Vgl. Karl Christian Fu¨hrer, Stadtraum und Massenmedien. Medienstandorte als urbane zentrale Orte in Hamburg in der Zwischenkriegszeit, in: Zentralita¨t und Raumgefu¨ge der Großsta¨dte im 20. Jahrhundert, hg. v. Clemens Zimmermann, Stuttgart 2006, S. 105–134. 9 Karl Christian Fu ¨ ffentlichkeiten 1930–1960, Mu¨nchen/ ¨ hrer, Medienmetropole Hamburg. Mediale O Hamburg 2008. 10 Ausgeklammert wird hier das Kino, das zum einen in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten noch in nahezu jeder kleinen und mittleren Stadt vorhanden war und zum anderen nach einem entscheidenden Aspekt der Definition von Massenmedien, sich an ein verstreutes, disperses Publikum zu richten, nicht

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sta¨dten im fo¨deralen Geflecht der Bundesrepublik entwickeln, in denen sich der Sitz einer Anstalt der ARD befand. Das waren Hamburg, Frankfurt a. M., Mu¨nchen, Stuttgart, Bremen, Baden-Baden, spa¨ter, nach der Teilung des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) in NDR und WDR Mitte der 1950er Jahre, auch Ko¨ln und nach der Eingliederung des Saarlandes schließlich Saarbru¨cken. Als Sonderfall kam noch West-Berlin hinzu.11 Im ‚Radiozeitalter‘ konzentrierte sich das massenmediale Geschehen in starkem Maße um das auditive Medium. In Hamburg gab es wohl die ku¨rzeste, nur ¨ bergang vom nationalsozialistischen wenige Stunden dauernde Unterbrechung im U Reichssender zum britischen Soldatensender Radio Hamburg, der dann 1947/48 zum NWDR wurde. In der Hansestadt befand sich seit 1949 auch die Deutsche PresseAgentur (DPA) als Nachrichtensammelstelle fu¨r Print- und elektronische Medien in der Bundesrepublik mit bald Hunderten von Mitarbeitern. Auf die große o¨ffentliche Bedeutung der Rundfunkanstalten weisen schon die heftigen parteipolitischen Ka¨mpfe um das Radioprogramm hin, die sich bis in deren Gremien fortsetzten und sogar zur Teilung fu¨hren konnten, wie im Fall des NWDR.12 Als geradezu existenziell erwiesen sich die Kulturredaktionen der Radiostationen fu¨r viele Schriftsteller, die auf die Alimentierung durch deren Auftra¨ge angewiesen waren.13 Dazu musste man nicht unbedingt in der Großstadt wohnen, aber ha¨ufigere perso¨nliche Begegnungen mit Redakteuren, wie Alfred Andersch, Siegfried Lenz oder Ernst Schnabel selbst oft genug Schriftsteller, konnten von Vorteil sein. Allerdings war die Pra¨senz einer o¨ffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt nur eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung fu¨r die Etablierung eines zentralen Medienstandortes. In Baden-Baden, Bremen und Saarbru¨cken, jeweils kleineren Großsta¨dten, fehlte der zweite Pfeiler, na¨mlich eine gewichtige Tagespresse. Insofern verbleiben sechs Standorte, die u¨ber die erste und zweite massenmediale Sa¨ule verfu¨gten, na¨mlich Hamburg, West-Berlin, Stuttgart, Mu¨nchen, Frankfurt a. M. und als solches angesprochen werden kann. Dies spricht natu¨rlich nicht gegen die zeitweilig erstrangige Relevanz des Kinos fu¨r die urbane mediale Freizeitkultur. 11 Zu den ARD-Anstalten gibt es einen differenzierten Forschungsstand: vgl. Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks, hg. v. Peter von Ru¨den/Hans-Ulrich Wagner, 2 Bde., Hamburg 2005 und 2008; Karl-Otto Saur, „Ein bisserl was geht immer“: die Geschichte des Bayerischen Rundfunks, Mu¨nchen 2009; Medienlandschaft Saar von 1945 bis in die Gegenwart, hg. v. Clemens Zimmermann u. a., 3 Bde., Mu¨nchen 2010; Konrad Dussel, Deutsche Rundfunkgeschichte, Konstanz 32010. 12 Vgl. Konrad Dussel, Die Interessen der Allgemeinheit vertreten. Die Ta¨tigkeit der Rundfunk- und Verwaltungsra¨te von Su¨dwestfunk und Su¨ddeutschem Rundfunk 1949 bis 1969, Baden-Baden 1995; Josef Schmid, Intendant Klaus von Bismarck und die Kampagne gegen den „Rotfunk“ WDR, in: ArchSozG 41 (2001), S. 349–381; Ders., Ein Geschenk wird zerpflu¨ckt. Zur Teilung des NWDR in WDR und NDR, Hamburg 2002; Mark Lu¨hrs, Aus eins mach’ zwei. Die Auflo¨sung des NWDR, in: Geschichte, hg. v. Ru¨den/Wagner (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 390–443. 13 Vgl. Werner Faulstich, Literaturerfolg und Geschichte. Untersuchungen zu Medien-Bestsellern des Jahres 1950, Bardowick 1991; Jochen Ho¨risch, Die Universita¨t und das Radio. Zur medialen Pra¨senz (und Absenz) deutscher Intellektueller im 20. Jahrhundert, in: Medien – Politik – Geschichte, hg. v. Moshe Zuckermann (Tel Aviver Jahrbuch fu¨r deutsche Geschichte 31), Go¨ttingen 2003, S. 208–230; Monika Boll, Nachtprogramm. Intellektuelle Gru¨ndungsdebatten in der fru¨hen Bundesrepublik, Mu¨nster 2004.

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seit der Mitte der 1950er Jahre Ko¨ln. Hinsichtlich der Vielfalt und inhaltlichen Qualita¨t der Tagespresse la¨sst sich Hamburg dabei nur bedingt als herausragend beschreiben. Die Su¨ddeutsche Zeitung in Mu¨nchen sowie die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Frankfurter Rundschau in der Main-Metropole waren im Blick auf traditionelle

Abb. 1: Die Gescha¨ftsstelle des Hamburger Abendblatt, 1949 Quelle: Daniel Gossel, Die Hamburger Presse nach dem Zweiten Weltkrieg. Neuanfang unter britischer Besatzungsherrschaft, Hamburg 1993, S. 132

Qualita¨tsmaßsta¨be der Hamburger Welt sicherlich zumindest ebenbu¨rtig. Wichtiger hingegen war eine entscheidende Innovation in der Zeitungslandschaft, die von Hamburg aus ihren Siegeslauf antrat, die Bild-Zeitung aus dem Axel-Springer-Verlag; sie hatte von Anfang an eine lokale Ausgabe, deren verkaufte Auflage von 52 000 (1952) auf 464 000 Exemplare (1960) stieg.14 Obwohl sie eine etwas geringere Auflage hatte – sie stieg von 226 000 (1950) auf 308 000 verkaufte Exemplare (1960) – war (und ist) die Bedeutung einer anderen Tageszeitung des Hauses Springer fu¨r die Hansestadt noch gro¨ßer. Das bereits

14 Fu ¨ hrer, Medienmetropole, S. 530. Die Hamburger Morgenpost als zweite große Straßenverkaufszei-

tung war bereits 1956 von der Bild-Zeitung u¨berholt worden; ihre Auflage betrug 1960 aber immerhin 279 000 Exemplare.

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seit dem 14. Oktober 1948 erscheinende Hamburger Abendblatt mit dem kongenialen Kopftitel „Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen“ – das Motto stammte urspru¨nglich von dem volkstu¨mlichen Dichter Gorch Fock (Pseudonym fu¨r Johann Kienau, 1880–1916) – wurde von vielen Haushalten abonniert und von mehre-

Abb. 2: Das damalige Pressehaus des Hamburger Echo am Speersort; heute Sitz der Wochenzeitung Die Zeit Quelle: Gossel, Die Hamburger Presse (wie Abb. 1), S. 93

ren Familienmitgliedern ausfu¨hrlich gelesen. Fu¨r eine hermeneutische Konstruktion hamburgischer Identita¨t ist das Hamburger Abendblatt mit seinem vom Verleger schon im Gru¨ndungsjahr vorgegebenen Postulat „Seid nett zueinander!“ eine ho¨chst aussagekra¨ftige Quelle. Hier befanden sich Lokalpatriotismus, der Stolz auf die Hansestadt, familialistische Biederkeit und technische Innovation, z. B. brachte das Blatt 1961 als erste Tageszeitung ein Farbfoto auf der Titelseite, in einem zeitspezifisch attraktiven Mischungsverha¨ltnis. Konkurrierende Produkte konnten nicht mithalten und verschwanden bald vom Markt, dies gilt vor allem fu¨r die „Parteirichtungszeitungen“, die von der britischen Besatzungsmacht lizenziert worden waren.15

15 Vgl. fu¨r den Großtrend in der ehemaligen Britischen Zone in la¨ngerer Perspektive die Studie von Gerd

Meier, Zwischen Markt und Mileu. Tageszeitungen in Ostwestfalen (1920–1970), Paderborn 1999.

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Was Hamburg weiterhin zum fu¨hrenden Medienstandort adelte, war die Existenz eines dritten Pfeilers, na¨mlich die herausragende Position als Herstellungsort von wichtigen Zeitschriften und Magazinen. Von zentraler Bedeutung fu¨r den massenmedialen Verbund war zuna¨chst die ebenfalls aus dem Hause Springer kommende Rundfunkzeitschrift Ho¨r Zu, deren Lizenz (1946) quasi eine direkte Erlaubnis zum Gelddrucken bedeutete: Bereits 1950 erzielte sie eine Auflage von einer Million Exemplaren, ein Jahrzehnt spa¨ter waren es 4,2 Millionen.16 Das Hamburger Abendblatt, die Bild-Zeitung und die Ho¨r Zu bildeten das Machtfundament des SpringerKonzerns, das in Hamburg die Presselandschaft pra¨gte.17 Bekannt geworden ist Hamburg aber gleichermaßen – allerdings erst seit den spa¨ten 1950er Jahren – durch das linksliberale Dreigestirn der Wochenzeitung Die Zeit, die bis dahin eher rechtskonservativ und deutschnational als linksliberal oder gar radikaldemokratisch ausgerichtet war18, der Illustrierten Stern, bei der eine a¨hnliche politische Entwicklung und eine Auflagensteigerung um mehr als 50 Prozent von 1956 bis 1960 zu registrieren sind19, und des sogenannten Nachrichtenmagazins Spiegel, dessen Ho¨henflug ebenfalls Ende der 1950er Jahre begann.20 Eingerahmt von der allgemeinen Ausbreitung einer modernen Konsumgesellschaft profilierte sich die Hansestadt als Zentrum eines ‚zeitkritischen‘ Journalismus in der Bundesrepublik, der sich als Kontrolleur der Bonner Politik und Diagnostiker der zahlreichen Pha¨nomene einer neuen Gesellschaft verstand21, personifiziert in wirtschaftlich ma¨chtigen Presselenkern, Rudolf Augstein, Gerd Bucerius und Henri Nannen, mit politisch liberalem Anspruch22, der sich kongenial mit dem Image der weltoffenen Hafen- und Handelsstadt verbinden konnte, das wiederum eine besondere Modernita¨t imaginieren ließ.23

16 Lu Seegers, Ho¨r zu! Eduard Rhein und die Rundfunkprogrammzeitschriften (1931–1965), Potsdam 22003.

17 Vgl. Hans Dieter Mu ¨ ller, Der Springer-Konzern. Eine kritische Studie, Mu¨nchen 1968; Hanno Loh-

meyer, Springer. Ein deutsches Imperium. Geschichte und Geschichten, Berlin 1992; Michael Ju¨rgs, Der Fall Axel Springer. Eine deutsche Biographie, Mu¨nchen 1995; Gudrun Kruip, Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer-Verlages, Mu¨nchen 1999; Hans-Peter Schwarz, Axel Springer. Die Biographie, Berlin 2008. 18 DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, hg. v. Christian Haase/Axel Schildt, Go¨ttingen 2008. 19 Vgl. Wolf Schneider, Die Gruner + Jahr Story. Ein Stu¨ck deutsche Pressegeschichte, Mu¨nchen/Zu¨rich 2000. 20 Vgl. fu¨r die Zahlen Fu ¨ hrer, Medienmetropole (wie Anm. 9), S. 270. 21 Vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medieno¨ffentlichkeit 1945–1973, Go¨ttingen 2006, S. 293ff. 22 Biographische Studien entstammen bisher nicht der Feder von Historikern, sondern ebenfalls publizistischen Zeitgenossen: vgl. u. a. Hermann Schreiber, Henri Nannen. Drei Leben, Mu¨nchen 1999; Ralf Dahrendorf, Liberal und unabha¨ngig. Gerd Bucerius und seine Zeit, Mu¨nchen 2000; Peter Merseburger, Rudolf Augstein. Biographie, Mu¨nchen 2007. 23 Vgl. Frank Bajohr, Hochburg des Internationalismus. Hamburger ‚Außenpolitik‘ in den 1950er und 1960er Jahren, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2008, Hamburg 2009, S. 25–43; Christoph Strupp, Das Tor zur Welt, Die „Politik der Elbe“ und die EWG. Hamburger Europapolitik in den 1950er und 1960er Jahren, in: Themenportal Europa¨ische Geschichte (2010), URL: (zuletzt besucht am 25. 5. 2011).

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Spa¨testens die „Spiegel-Affa¨re“ im Herbst 1962 ru¨ckte Hamburg als Zentrum eines regierungskritischen Journalismus in das Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit.24 Allerdings sollte man sich das Hamburger Presseviertel nicht aufgeteilt in Parallelwelten konservativer Springer-Journalisten und linksliberaler Publizisten ¨ berga¨nge und Verbindungen, etwa zwischen Augstein und Springer, vorstellen; die U waren in den 1960er Jahren durchaus fließend. Man hat nach Lektu¨re der zuga¨nglichen Quellen eher das Gefu¨hl eines Suchens nach immer neuen Koalitionen in der ersten Ha¨lfte der 1960er Jahre, bevor sich eine gemeinsame Interessenverbindung gegen den Springer-Konzern ergab. ¨ rger von Konrad Adenauer u¨ber die Immerhin aber la¨sst sich der permanente A Hamburger „Pressekumpanei“ erkla¨ren. Neben den drei genannten Presseerzeugnissen wa¨re dabei auch das erste politische Fernsehmagazin Panorama mit Gert von Paczensky vom NDR zu nennen, gegen das wiederum die Bild-Zeitung eine heftige Kampagne fu¨hrte25, und die monatlich, zeitweise sogar vierzehnta¨gig erscheinende linke Zeitschrift Konkret, die Ende der 1960er Jahre eine Spitzenauflage zwischen 100 000 und 200 000 Exemplaren erreichte.26 Zu dieser Zeit gab es einige auffa¨llige Wechsel von den Redaktionsra¨umen der linksliberalen Bla¨tter zur Konkret und umgekehrt; der Konkret-Redakteur Stefan Aust machte Karriere beim Spiegel, von dort kam Hermann L. Gremliza zur linken Zeitschrift und wurde langja¨hriger Herausgeber und Chefredakteur. Aus der Erinnerungsliteratur und popula¨ren Biographien wissen wir um die Parties der Presse-Elite von Spiegel, Stern, Zeit, Konkret und NDR in den 1960er Jahren, wo Ulrike Meinhof und Joachim C. Fest, Rudolf Augstein und Klaus Rainer Ro¨hl und viele andere zusammen diskutierten, feierten und politische Pla¨ne schmiedeten.27 Hamburg bot also ganz offensichtlich Journalisten und Publizisten in den 1950er und 1960er Jahren nicht nur vielfa¨ltige Arbeitsmo¨glichkeiten im Spektrum der elektronischen und Print-Massenmedien – mehr wahrscheinlich als in jeder anderen deutschen Stadt – sondern auch kommunikative Begegnungs- und Gesellungsra¨ume vorzugsweise in den noblen großbu¨rgerlichen Vierteln der Hansestadt oder auf der

24 Alfred Grosser/Ju¨rgen Seifert, Die Spiegel-Affa¨re, Bd. I: Die Staatsmacht und ihre Kontrolle. Texte

und Dokumente zur Zeitgeschichte, Olten 1966; Thomas Ellwein/Manfred Liebel/Inge Negt, Die ¨ ffentlichkeit. Texte und Dokumente zur Zeitgeschichte, Spiegel-Affa¨re, Bd. II: Die Reaktion der O Olten 1966; Hodenberg, Konsens, S. 328ff.; Dorothee Lier, Von der „Aktion“ gegen den „Spiegel“ zur „Spiegel-Affa¨re“. Zur gesellschaftspolitischen Rolle der Intellektuellen, Frankfurt a. M. 2002. 25 Gerhard Lampe/Heidemarie Schumacher, Das „Panorama“ der 60er Jahre. Zur Geschichte des ersten politischen Fernsehmagazins der BRD, Berlin 1990; Gerhard Lampe, Panorama, Report und Monitor. Geschichte der politischen Fernsehmagazine 1957–1990, Konstanz 2000. 26 Vgl. Vorwa¨rts! Nieder! Hoch! Nie wieder! 40 Jahre Konkret: eine linke deutsche Geschichte, hg. v. Hermann L. Gremliza, Hamburg 1997; Alexander Gallus, Zeitschriftenpotra¨t: konkret, in: Jahrbuch fu¨r Extremismus und Demokratie 13 (2001). 27 Vgl. etwa Klaus Rainer Ro ¨ hl, Fu¨nf Finger sind keine Faust, Ko¨ln 1974; Ders., Mein langer Marsch durch die Illusionen. Leben mit Hitler, der DKP, den 68ern, der RAF und Ulrike Meinhof, Wien 2009; Bettina Ro¨hl, So macht Kommunismus Spaß! Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Ro¨hl und die Akte Konkret, Hamburg 2006; Jutta Ditfurth, Ulrike Meinhof. Die Biographie, Berlin 2007; Kristina Wegemann, Ulrike Meinhof. Kommunistin, Journalistin, Terroristin – eine politische Biographie, Baden-Baden 2007.

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Insel Sylt, wo Verleger und Chefredakteure in den Sommermonaten in ihren weißgeschlemmten Reetdach-Residenzen Hof hielten. ¨ gide scheiDie hohe Zeit dieser dichten Kommunikation unter linksliberaler A nen die langen 1960er Jahre gewesen zu sein. Das Avantgarde-Selbstversta¨ndnis eines

Abb. 3: Das Fernsehstudio des NWDR in Hamburg-Lokstedt Es wurde im Oktober 1953 eingeweiht, als das Fernsehen begann, popula¨r zu werden. Das Studio lo¨ste das Provisorium des Heiligengeistfeld-Bunkers ab. Der NWDR hatte zu dieser Zeit die beste Fernsehproduktionssta¨tte aller deutschen Rundfunkanstalten Quelle: Werner Pfeifer, Bild und Ton – Das Fernsehen. Aufbau und Pionierta¨tigkeit des NWDR 1945–1954, in: Der NDR. Zwischen Programm und Politik, Hannover 1991, S. 250

linken und kritischen Journalismus mu¨ndete im Fall des Stern schließlich mit hoher Symbolik 1983 in der Blamage um die erfundenen Hitler-Tagebu¨cher28; bei der Zeit endete ein vierja¨hriger Machtkampf, in dem der Chefredakteur Diether Stolze, der den Kanzlerkandidaten der Union Franz Josef Strauß im Bundestagswahlkampf 1980 unterstu¨tzte, ein konservatives Profil durchsetzen wollte, noch mit einem Sieg der liberalen Blattlinie von Marion Do¨nhoff und Theo Sommer, die den zo¨gerlichen Verleger Bucerius schließlich auf ihrer Seite wussten. Beim Spiegel schließlich wird man 28 Vgl. Erich Kuby, Der Fall „Stern“ und die Folgen, Hamburg 1983; Manfred Bissinger, Hitlers Stern-

stunde. Kujau, Heidemann und die Millionen, Bramsche 1984; Peter-Ferdinand Koch, Der Fund. Die Skandale des Stern – Gerd Heidemann und die Hitler-Tagebu¨cher, Hamburg 1990; Robert Harris, Selling Hitler. Story of the Hitler Diaries, London 1991; Michael Seufert, Der Skandal um die HitlerTagebu¨cher, Frankfurt a. M. 2008.

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nur von langfristigen Tendenza¨nderungen durch neue Gewichtungen im redaktionellen Meinungsspektrum sprechen du¨rfen, das aber zunehmend bekennende konservative und wirtschaftsfreundliche neoliberale Publizisten einschloss. So wenig diese medienimmanenten Entwicklungen der 1970er und 1980er Jahre bereits untersucht sind, so wenige gesicherte Aussagen lassen sich u¨ber den Zusammenhang von Pressevielfalt und urbaner Kultur treffen.29 Eine Zusammenballung von Journalisten ist vermutlich noch nicht gleichzusetzen mit einem intellektuellen Zentrum. Hier wa¨re sicherlich auch die sich vera¨ndernde Bedeutung der Universita¨t, vor allem der Geistes- und Sozialwissenschaften, die Fa¨den von deren Angeho¨rigen zu den o¨ffentlich-rechtlichen Medien und zu den Zeitungsredaktionen und einiges mehr zu beachten. Wenn man dem Ansatz folgt, dass jede Stadt einen singula¨ren Charakter hat, der sich aus der Geschichte, aus den allta¨glichen Routinen, aus den lokalen Institutionen und Diskursformen rekonstruieren lasse und ihre jeweilige Eigenlogik ausmache30, ko¨nnte man aber Hamburg wohl als von Massenmedien besonders stark gepra¨gte Metropole betrachten. Zugleich fa¨llt es auf, wie gering sich der tempora¨re Aufstieg zur Medienmetropole in Selbstbild und Imagepflege der Hansestadt niederschlug, die prima¨r vom Hafen bestimmt blieben.31

2.

Lokalisierung des Fernsehens

In einem weiteren Punkt setzte sich die Hansestadt noch von den anderen großen Medienstandorten ab: Hier begann der Versuchsbetrieb des Fernsehens und schließlich das vom NWDR betreute Programm der ARD – auch aufgrund der technischen Gegebenheiten hatte Hamburg einen deutlichen Vorsprung in der Fernsehentwicklung vor allem vor den su¨ddeutschen Regionen. Noch Mitte der 1950er Jahre machte es einen wichtigen Unterschied hinsichtlich der Versorgung mit dem neuen Medium aus, wo man wohnte. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Neuerungen innerhalb des Fernsehens in starkem Maße mit dem NWDR bzw. NDR verbunden waren.32 Zudem gab es in der Hansestadt die 1947 gegru¨ndete Filmproduktionsfirma Realfilm, die es zu Beginn des großen Kinosterbens schaffte, ihre Produktion – immerhin etwa 100 abendfu¨llende Spielfilme in den 1950er Jahren – als Studio Hamburg ganz auf die Bedu¨rfnisse des Fernsehens umzustellen, vor allem aber, unter 29 Vgl. zum theoretischen Hintergrund Louis Wirth, Urbanita¨t als Lebensform (1938), in: Stadt und

Sozialstruktur, hg. v. Ulfert Herlyn, Mu¨nchen 1974, S. 42–66.

30 Silke Steets, „Wir sind die Stadt!“ Kulturelle Netzwerke und die Konstitution sta¨dtischer Ra¨ume in

Leipzig, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 181.

31 Lars Amenda/Sonja Gru¨nen, „Tor zur Welt“. Hamburg-Bilder und Hamburg-Werbung im 20. Jahr-

hundert, Mu¨nchen/Hamburg 2008.

32 Vgl. umfassend Geschichte, hg. v. von Ru ¨ den/Wagner (wie Anm. 11); außerdem Blicke in die Welt.

Reportagen und Magazine des nordwestdeutschen Fernsehens in den 50er und 60er Jahren, hg. v. Heinz-B. Heller/Peter Zimmermann,Konstanz 1995; zum Kontext das Standardwerk: Geschichte des deutschen Fernsehens, hg. v. Knut Hickethier/Peter Hoff, Stuttgart 1998.

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Beteiligung der Norddeutschen Werbefernsehen und Werbefunk GmbH., auf die Nachfrage nach diversen Serien fu¨r den NDR.33 Dieser Trend zur Lokalisierung, der sich seit dem letzten Drittel der 1950er Jahre u¨ber das Vorabendprogramm, aber auch u¨ber andere Kana¨le vollzog, kann hier nur

Abb. 4: In der Aktuellen Schaubude interviewt Werner Baecker Intendant Dr. Walter Hilpert (rechts) und Ru¨diger Proske (links), 1957 Quelle: Carsten Diercks, Die Welt kommt in die Stube. Es begann 1952: Die Anfa¨nge des Fernseh-Dokumentarfilms im NWDR/ARD, Hamburg 2000, S. 77

angedeutet werden. Ein auf die Stadt und die Region bezogenes Magazin gab es wohl in allen ARD-Anstalten, aber die wo¨chentlich ausgestrahlte Hamburger Aktuelle Schaubude hatte Pilotcharakter und war etwas Besonderes. Gesendet aus den Verkaufsra¨umen eines Autohauses in der Innenstadt mit Zuschauern, die sich draußen vor den Scheiben versammelten, wurde Hamburg seit Dezember 1957 an jedem Samstag von 18:45 Uhr an als Versammlungsort prominenter Besucher, vornehmlich Sportler, Schauspieler und Schlagersa¨nger, von Uwe Seeler und Curd Ju¨rgens bis zu Udo Ju¨rgens, imaginiert und man konnte am Fernsehgera¨t – auch im suburbanen Umland – dabei sein, wenn es hieß: „Guten Abend, meine Damen und Herren. Hier 33 vgl. Studio Hamburg: 25 Jahre, Hamburg 1985; Medienindustrie und Medienma¨rkte, hg. v. NDR-

¨ ffentlichkeitsarbeit, Hamburg 1988. O

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ist die Aktuelle Schaubude. Wir melden uns aus dem gla¨sernen Studio in der Hamburger Innenstadt, direkt gegenu¨ber der Staatsoper.“34

Abb. 5: Zuschauer dra¨ngen sich vor „Opel-Dello“, 1958 Quelle: Diercks, Die Welt kommt in die Stube (wie Abb. 4), S. 78

¨ hnliches gilt fu¨r erste lokale Kriminalserien wie Hafenpolizei (gedreht in drei StafA feln von je 13 Filmen 1963–1966) mit bekannten Schauspielern aus der Hamburger Theaterszene – wobei das Prinzip des Lokalen auch das konstituierende Prinzip der großen Kriminalserien der ARD – Stahlnetz (1958–1969) und Tatort seit 1970 – wurde.35 Die Bedu¨rfnisse des Publikums, deren Pra¨ferenzen fu¨r eine (pseudo)lokale

34 Die aktuelle Schaubude, Hamburg 1979, S. 6, vgl. Brigitte Ehrich, Die aktuelle Schaubude. Geschichte

und Geschichten, Hamburg 1997.

35 Vgl. Christiane Hartmann, Von „Stahlnetz“ zu „Tatort“. 50 Jahre deutscher Fernsehkrimi, Marburg

2003; Dennis Gra¨f, Tatort. Ein popula¨res Medium als kultureller Speicher, Marburg 2010; Tatort Stadt.

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Imagination, standen hier – der Erfolg zeigt es – sicherlich im Hintergrund, empirisch ist das aber kaum zu u¨berpru¨fen, so wie insgesamt das Verha¨ltnis von urbanen Massenmedien und sta¨dtischen Milieus historiographisch weitgehend ungekla¨rt ist.36

3. Lokalisierung der Printmedien

Es gibt einige Anhaltspunkte, die 1970er Jahre als dynamische Dekade hinsichtlich einer sta¨rkeren Lokalisierung der Massenmedien zu markieren. In dieser Perspektive erhielte der institutionell induzierte Umbruch durch die Einfu¨hrung des dualen Systems von o¨ffentlich-rechtlichem Ho¨rfunk und Fernsehen Mitte der 1980er Jahre einen Vorlauf, der auch die Printmedien einbeziehen ließe. So fa¨llt auf, dass nahezu alle Lokalausgaben des Hamburger Abendblatts fu¨r einzelne Stadtteile und subur¨ bernahme traditioneller klein- und mittelsta¨dtischer Zeibane Zentren, ha¨ufig als U tungen – etwa die Bergedorfer Zeitung (gegru¨ndet 1874), die Harburger Anzeigen und Nachrichten (gegru¨ndet 1844), die Ahrensburger Zeitung (gegru¨ndet 1949) –, in den fru¨hen 1970er Jahren starteten37; allerdings konkurrier(t)en im suburbanen Raum auch andere Pressekonzerne, im no¨rdlichen Umland etwa der Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag (Stormarner Tageblatt, Elmshorner Nachrichten, Pinneberger Zeitung). Das Ausgreifen der großsta¨dtischen Presse auf das angrenzende Umland begleitete den allgemeinen Suburbanisierungstrend als begrenzte Entgrenzung auch des massenmedialen Publikums. Nicht mehr die administrative Stadtgrenze, im Falle Hamburgs auch die Grenze des Bundeslandes, war entscheidend, sondern die Zugeho¨rigkeit zu einer weiter gesteckten suburbanen Region, die allerdings auch ihre – eher informellen und mentalen – Grenzziehungen kannte, die durch den Einflussbereich anderer Großsta¨dte gesetzt wurden.38 Die Ru¨ckbezu¨ge der Suburbanisierung auf die urbane Qualita¨t der Kernstadt selbst und die Einflu¨sse auf die sta¨dtischen Massenmedien sind bisher noch nicht in den Horizont der zeithistorischen Forschung geru¨ckt.

Mediale Topographien eines Fernsehklassikers, hg. v. Julika Griem/Sebastian Scholz, Frankfurt a. M. 2010; als deutsch-deutscher Vergleich angelegt ist Nora Helmli, Unterhaltung, aber sicher! Die Fernsehkriminalreihen Stahlnetz und Blaulicht in deutsch-deutscher Perspektive 1958/59 bis 1968, Phil. Diss. Hamburg 2011 (noch nicht vero¨ffentlicht). 36 Vgl. Ulfert Herlyn, Milieus, in: Großstadt, Soziologische Stichworte, hg. v. Hartmut Ha¨ussermann, Opladen 1998, S. 151–161. 37 Symptomatisch auch der Großtrend der Einrichtung von regionalen Ausgaben der Bild-Zeitung in Mu¨nchen 1968, Du¨sseldorf, Frankfurt a. M., Ko¨ln, Stuttgart und Nu¨rnberg (alle 1972), Aachen, Hannover, Bremen (1975). 38 Vgl. Meik Woyke, Mobilita¨t im suburbanen Raum. Das schleswig-holsteinische Umland von Hamburg (1950–1980), in: von Saldern, Stadt, S. 123–146. Eine monographische Darstellung der Ergebnisse eines von der DFG gefo¨rderten Projekts zum suburbanen Umland der Hansestadt ist fu¨r 2012 geplant.

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Wa¨hrend zuvor selbsta¨ndige Stadtteilzeitungen in das Hamburger Abendblatt eingemeindet wurden, tauchten zeitgleich als neuer Zeitungstyp auf einzelne Stadtteile bezogene, kostenlos an die privaten Haushalte verteilte Anzeigenbla¨tter mit einer auf die soziale Nahumgebung ausgerichteten Berichterstattung auf. Kontrolliert wurde dieser neue Pressemarkt wiederum von monopolistischen Unternehmen, in Hamburg in starkem Maße vom Springer-Konzern; inwieweit hier geistige Anleihen bei der Gescha¨ftsidee der Generalanzeigerpresse vorliegen, bliebe noch zu u¨berpru¨fen.39. Keine gru¨ndliche Untersuchung, aber immerhin etwas mehr Informationen gibt es u¨ber das Pha¨nomen der aus der alternativen Szene gewachsenen, aber bis auf wenige Ausnahmen fru¨her oder spa¨ter Teil des allgemeinen massenmedialen Marktes gewordenen Stadt- (bzw. Statt-) und Stadtteilmagazine – ebenfalls eine eindeutig in den 1970er Jahren zu verortende Entwicklung.40 Die ersten solcher kommerziell erfolgreichen Magazine waren tip (West-Berlin, 1972) und Szene Hamburg (1973); fu¨r die Hansestadt zu erwa¨hnen ist auch der permanente Kampf gegen das Springer-Monopol; von 1981–2000 existierte die Wochenzeitung Hamburger Rundschau mit einer Auflage von ca. 15 000 Exemplaren in ihren besten Tagen. Periodisch gibt es – regelma¨ßig erfolglose – Initiativen von engagierten Bu¨rgern, Zeitungen wie den Tagesspiegel, die Su¨ddeutsche Zeitung oder die Frankfurter Rundschau dazu zu bewegen, auch eine Hamburg-Ausgabe anzubieten. Der Lokalteil der taz, mittlerweile auf eine Seite reduziert, bietet in dieser Hinsicht keine Alternative. Das Bedu¨rfnis nach lokaler Kommunikation im sozialen Nahbereich der Großstadt durch Massenmedien41 fu¨hrte auch beim o¨ffentlich-rechtlichen NDR zu Pro¨ berlegungen fu¨r Ho¨rfunk und Fernsehen. Allerdings bewirkte hier – anders gramm-U ¨ bergang zum „dualen System“ einen quaals im privaten Printsektor – erst der U ¨ bergang entstanden eine Reihe kleiner litativen Lokalisierungsschub. Bei diesem U privater Radiostationen, die in der zweiten Ha¨lfte der 1980er Jahre eine neue Qualita¨t des Angebots suggerierten, deren Namen aber heute keiner mehr kennt, weil sie mittlerweile la¨ngst einem „Marktbereinigungsprozess“ zum Opfer gefallen sind.42 Heute dominiert unter den privaten lokalen Anbietern Radio Hamburg, kontrolliert vom Springer-und vom Bauer-Verlag.43 Zugleich verfu¨gt der Springer-Konzern mit 39 Vgl. Ju¨rgen Wilke, Presse, in: Fischer Lexikon Publizistik, Massenkommunikation, hg. v. Elisabeth

Noelle-Neumann/Winfried Schulz/Ders., Frankfurt a. M. 1994, S. 382–416, hier S. 398–402.

40 Christina Holtz-Bacha, Alternative Presse, in: Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland,

hg. v. Ju¨rgen Wilke, Ko¨ln u. a. 1999, S. 330–349; Adelheid von Saldern, Markt fu¨r Marx. Literaturbetrieb und Lesebewegungen in der Bundesrepublik in den Sechziger- und Siebzigerjahren, in: ArchSozG 44 (2004), S. 149–180; Gregor Hassemer/Gu¨nther Rager, Zur Bedeutung des Lokalen in den Medien, in: von Saldern, Stadt, S. 239–255. 41 Vgl. Hassemer/Rager, Bedeutung (wie Anm. 40), S. 245; Klaus Weiss, Publizistischer Zugewinn durch Lokalfunk, Bochum 1993. 42 Vgl. Michael Wolf Thomas, Probleme grenzu¨bergreifender Medien, in: „Groß-Hamburg“ nach 50 Jahren, hg. v. der Technischen Universita¨t Hamburg-Harburg, Forschungsschwerpunkt „Stadterneuerung und Werterhaltung“, Hamburg 1989, S. 76–83. 43 Vgl. Marlene Wo ¨ ste, Privatrechtlicher Ho¨rfunk, in: Rundfunkpolitik in Deutschland. Wettbe¨ ffentlichkeit, hg. v. Dietrich Schwarzkopf, Mu¨nchen 1999, Bd. 1, S. 503–549; Dietrich werb und O Schwarzkopf, Das duale System in der sich vera¨ndernden Medienordnung, in: Ders., Rundfunkpolitik, Bd. 2, S. 1140–1189.

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Hamburg 1 u¨ber einen eigenen Fernsehsender – ein spa¨ter Triumph fu¨r die u¨ber Jahrzehnte za¨h verfolgten Privatfernseh-Pla¨ne des Verlegers.44 Daneben existiert in einer Nische – wie in allen gro¨ßeren Sta¨dten und Regionen – der alternative Sektor unter dem Schutzschirm einer Landesmedienanstalt mit offenen Radio-Kana¨len, in Hamburg mit dem Freien Senderkombinat (FSK) und dem Fernsehsender TIDE, wobei das „Alternative“ weniger mit „politisch“ als mit „ku¨nstlerisch progressiv“ konno¨ brigen die tiert wird. Potenziell ist mit den neuen technischen Mo¨glichkeiten im U Inklusion neuer großsta¨dtischer Milieus, etwa migrantischer Gruppen, als Medienkonsumenten verbunden.45 Jedenfalls hatte sich das massenmediale Ensemble, zuerst in den Großsta¨dten, wie es am Beispiel von Hamburg zumindest angedeutet werden konnte, bereits erheblich vera¨ndert, als ein Jahrzehnt spa¨ter mit Macht die „digitale Revolution“ neue kommunikative Verha¨ltnisse hervorbrachte. Fu¨r die Hansestadt ergaben sich mit der deutschen Vereinigung 1990 zusa¨tzliche tiefgreifende Vera¨nderungen, die darauf hinweisen, dass auch Medienstandorte zu historisieren sind, nach ihrem Aufstieg auch einen Abstieg erleben ko¨nnen. Hamburg war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine europa¨ische Medienmetropole gewesen, beherbergte damals mit dem Hamburger Correspondent die auflagensta¨rkste Zeitung des Kontinents. Von der Zeit des Kaiserreichs bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die Hansestadt nur noch Presseprovinz. Nach dem Ende der deutschen Teilung ist der wieder erworbene Status einer Medienmetropole zumindest gefa¨hrdet. Seit zwei Jahrzehnten tobt ein heftiger Konkurrenzkampf zwischen Hamburg und Berlin, wohin es nicht nur einige Zeitungsverlage und -redaktionen (zum Beispiel die Bild-Zeitung), sondern auch viele ju¨ngere, ha¨ufig mit den neuen Online-Medien verbundene „Kreative“ gezogen hat, die dort eine metropolitanere Kultur erhoffen.46 Allerdings zeigt sich auch eine relative Stabilita¨t der o¨rtlichen Bindung, Stern, Spiegel oder Zeit, um einige Beispiele zu nennen, sind in Hamburg geblieben. Ob die Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte also den zuerst nur allma¨hlichen Beginn einer weitgehenden Ru¨ckverlagerung der Massenmedien zum neuen hauptsta¨dtischen Standort darstellt oder ob sich andere Muster der Allokation herausbilden werden, mu¨ssen ku¨nftige Zeit- und Medienhistoriker untersuchen.

44 Ru¨diger Steinmetz, Freies Fernsehen. Das erste privat-kommerzielle Fernsehprogramm in Deutsch-

land, Konstanz 1996; vgl. Florian Kain, Das Privatfernsehen, der Axel Springer Verlag und die deutsche Presse. Die medienpolitische Debatte in den sechziger Jahren, Mu¨nster u. a. 2003. 45 Vgl. Gertraud Koch, Kulturelle Vielfalt, in: Mittelstadt, Urbanes Leben jenseits der Metropole, hg. v. Brigitta Schmidt-Lauber, Frankfurt a. M./New York 2010, S. 223–234. 46 Vgl. Neue Medien – neue Arbeit? Hamburg im Vergleich mit internationalen Metropolen, hg. v. Dieter La¨pple/Joachim Thiel/Ju¨rgen Wixforth, Ms. Hamburg 2004.

DIE STADT IM ZEITALTER DER VERNETZTEN KOMMUNIKATION von Martin Schreiber

With instant electric technology, the globe itself can never again be more than a village, and the very nature of city as a form of major dimensions must inevitably dissolve like a fading shot in a movie.1 Die Debatte u¨ber die ra¨umlichen Auswirkungen von Informations- und Kommunikationstechnologien, fu¨r die Marshall McLuhans Metapher vom global village wie kaum eine andere steht, ist keineswegs neu. Mit dem Aufkommen und der Durchsetzung des Internet erreichte sie allerdings einen neuen Ho¨hepunkt: In einer bisher unbekannten Form ermo¨glicht die Netztechnologie die unkomplizierte, zeitgleiche Kommunikation zwischen ortsfernen Punkten. Da sie auf digitaler Computertechnik beruht, ist sie prinzipiell universell einsetzbar, was ihr – im Verbund mit den globalen Vernetzungsmo¨glichkeiten ihrer dezentralen Struktur – eine Vielzahl von Anwendungsfeldern ero¨ffnet. So durchdringt sie die Entwicklung und die Produktion von Waren und Dienstleistungen, den Handel und Transport, die private und o¨ffentliche Verwaltung, Wissenschaft, Bildung und Kultur sowie die private Kommunikation und Unterhaltung. Angesichts der technischen Potenziale der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien hat Frances Cairncross’ bildhafte These vom „Tod der Entfernung“ (death of distance)2 hohe Popularita¨t gewonnen. Durch sie sei es mo¨glich, ra¨umliche Bindungen vollsta¨ndig aufzuheben, es wurde ein enormer Bedeutungsverlust bis hin zum „Ende der Sta¨dte“3 prognostiziert. Auch wenn die Stimmen, die einen Niedergang des sta¨dtischen Raumes prognostizierten, mittlerweile gro¨ßtenteils wieder verstummt sind, bleiben doch zahlreiche Fragen offen, die das komplexe

1 Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Man, London 1964, S. 366. 2 Frances Cairncross, The Death of Distance: How the Communications Revolution Will Change Our

Lives, Boston Mass. 1997.

3 So der Titel eines Artikels des franzo¨sischen Soziologen und Kulturkritikers Alain Touraine in der

Wochenzeitung Die Zeit, wo es heißt: „In welchen Kontext man die Stadtentwicklung auch stellt, stets kommt man zu dem Schluß, daß sie zersplittert ist und ihre eigenen Glieder nicht mehr kontrollieren kann. Die Stadt ist nicht la¨nger das Symbol der triumphierenden Moderne, sondern der Zerrissenheit einer Gesellschaft, in der die Wirtschaft immer weniger gesellschaftlich ist.“ Alain Touraine, Das Ende der Sta¨dte?, in: Die Zeit, Nr. 23, vom 24. Mai 1996, S. 24.

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Martin Schreiber

Beziehungsgefu¨ge zwischen Informations- und Kommunikationstechnologien, entsprechenden sozialen und o¨konomischen Aktivita¨ten und urbanen Ra¨umen betreffen. In diesem Beitrag sollen einige Aspekte der Problematik angesprochen werden, wobei die folgenden Fragen im Vordergrund stehen: (1) Inwiefern kommt dem ¨ ra der neuen Informations- und Kommunikatiphysischen Raum, auch in der A onstechnologien, insbesondere des Internets, weiterhin eine wichtige Bedeutung fu¨r das gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenleben zu? (2) Warum haben sich gerade die klassischen metropolitanen Ballungsra¨ume zu Knotenpunkten der globalen Netzkommunikation entwickelt? (3) Welche funktionalen, o¨konomischen und ra¨umlichen Vera¨nderungen fu¨r die Sta¨dte sind mit der Verbreitung und Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, insbesondere durch die so ¨ konomie (New Economy) verbunden? genannte Internet-O Hierzu soll in einem ersten Teil der grundsa¨tzliche Diskurs u¨ber die Einflu¨sse von Kommunikationstechnologien auf die Entwicklung urbaner Ra¨ume rekonstruiert werden. Danach wird anhand der beiden Ebenen Zugangsmo¨glichkeiten und Mo¨glichkeiten der Substitution perso¨nlicher durch technische Kommunikation betrachtet, inwiefern diese theoretischen Annahmen in der Realita¨t zutreffen. Mit dem Beispiel der Informations- und Kommunikationswirtschaft soll in einem dritten Teil gezeigt werden, dass der Bereich der Neuen Medien und der Internet-Dienstleister zum Einen ein wichtiges Feld der Bescha¨ftigung und der Innovation in urbanen Ra¨umen bildet, und zum Anderen stellvertretend fu¨r andere Bereiche die komplexen Wechselwirkungen zwischen Informationstechnik und sta¨dtischen Arbeits- und Lebensverha¨ltnisse veranschaulichen kann.

1. Diskurse u¨ber die Einflu¨sse von Informations- und Kommunikationstechnologien auf urbane Ra¨ume

Im Zeitalter der netzbasierten Informations- und Kommunikationstechnologien mag es wie ein unvereinbarer Widerspruch anmuten, wenn physischen Orten, insbesondere Sta¨dten und metropolitanen Ballungsra¨umen, eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Bereits 1994 bezeichneten Manuel Castells und Peter Hall dies als the most fascinating paradox4 und seitdem scheint sich an den grundlegenden Annahmen dieser Analyse nichts gea¨ndert zu haben. Und in der Tat mag es angesichts der technischen Eigenschaften des Internets – seiner dezentralen und offenen Architektur, seiner Negation eines Zentrums oder einer Hierarchie, seiner gleichsam unbegrenzten Ausbreitungs- und Vernetzungsmo¨glichkeiten sowie seiner Fa¨higkeit, immer gro¨4 „Indeed, the most fascinating paradox is the fact that in a world economy whose productive infra-

structure is made up of information flows, cities and regions are increasingly becoming critical agents of economic development.“ Manuel Castells/Peter Hall, Technopoles of the World, London 1994, ¨ berlegungen von Martina Hessler, Vernetzte Wissensra¨ume. Zur BedeuS. 7. Vgl. hierzu auch die U tung von Orten in einer vernetzten Welt, in: Technikgeschichte 70, 4 (2003), S. 235–253, hier S. 236–238.

Die Stadt im Zeitalter der vernetzten Kommunikation

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ßere Datenmengen zu immer geringeren Kosten in Echtzeit zu u¨bermitteln – so scheinen, als spielten materielle Orte zum Beispiel bei der Standortwahl von Unternehmen oder dem Zugang zu Wissen und Informationen keine Rolle mehr.5 Am Beginn dieses Diskussionsstranges, dessen Protagonisten die neuen Informa¨ berwindung von tions- und Kommunikationstechnologien vor allem als Mittel zur U Zeit und Raum betrachten und damit letztlich eine Bedeutungslosigkeit von Orten konstatieren, steht McLuhans Metapher vom global village. Diese zielte allerdings weniger auf das Schrumpfen des physischen Raums als vielmehr auf die soziokulturellen Auswirkungen der technischen Errungenschaften ab.6 Der Soziologe und Futorologe Alvin Toffler prognostizierte 1970 bereits das „Verschwinden der Geographie“7, da die Stro¨me von Menschen und Informationen infolge zunehmender Mobilita¨t und moderner Telekommunikation dazu beitru¨gen, traditionelle geographische Kategorien aufzuheben. In seinem Buch „Die dritte Welle“8 schuf Toffler das Bild vom electronic cottage, dem „elektronischen Heim“, in dem Wohnen, Arbeiten und Familienleben wieder an einem Ort zusammengefu¨hrt werden sollen. Ein auf den Informationstechnologien basierendes o¨konomisches System erlaube nicht nur die Dezentralisierung und De-Urbanisierung der Produktion, sondern es wu¨rde „vielleicht auch Millionen von Arbeitspla¨tzen wieder aus den Fabriken und Bu¨ros dahin zuru¨ckverlegen, wo sie sich urspru¨nglich befanden: in die eigenen vier Wa¨nde“.9 Die Durchsetzung des Internets gab den Thesen vom „Ende der Geographie“ neuen Auftrieb. So fragte sich William Mitchell in seinem Buch City of Bits, ob nicht in einer Welt der „allgegenwa¨rtigen Datenverarbeitung und Telekommunikation, der elektronisch erweiterten Ko¨rper [...] und des Milliardengescha¨fts mit Bits [...] der Begriff der Stadt selbst in Frage (steht) und mo¨glicherweise neu gefaßt werden (muß)“.10 Die Verlagerung sozialer Aktivita¨ten in den virtuellen Cyberspace fu¨hre dazu, dass wir weniger auf ko¨rperliche Anwesenheit und materiellen Austausch angewiesen seien. Ein Ende der Stadt vermag Mitchell gleichwohl nicht zu erkennen. Er ha¨lt vielmehr eine Restrukturierung der urbanen Infrastruktur auch im Hinblick auf Wohnbereiche, Arbeitspla¨tze und Dienstleistungen fu¨r wahrscheinlich. Zugleich ko¨nnten die Kommunen in Zukunft das, „was sie gegenu¨ber anderen Orten auszeichnet – ihre o¨rtlichen Institutionen und Treffpunkte und ihre einzigartige Umgebung und besonderen Gebra¨uche – neu scha¨tzen lernen“.11 5 Zur grundsa¨tzlichen Verortung des Stadt-Land-Diskurses im Zeitalter der Digitalisierung vgl. Dieter

La¨pple, Stadt und Region in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung, in: Deutsche Zeitschrift fu¨r Kommunalwissenschaften 40, 2 (2001), S. 12–36; Martin Schreiber, Internetnutzung in der la¨ndlichen Gesellschaft, in: Zeitschrift fu¨r Agrargeschichte und Agrarsoziologie 58, 2 (2010), S. 65–76, hier bes. S. 65–68. 6 McLuhan, Understanding Media (wie Anm. 1). Zur Metapher des „global village“ siehe auch Paul Levinson, Digital McLuhan: A Guide to the Information Millennium, London 1999, S. 65–79. 7 Alvin Toffler, Der Zukunftsschock, Bern/Mu¨nchen/Wien 1970, S. 76. 8 Alvin Toffler, Die Dritte Welle. Perspektiven fu¨r die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, Mu¨nchen 1980. 9 Ebd., S. 204. 10 William J. Mitchell, City of Bits. Leben in der Stadt des 21. Jahrhunderts, Boston/Basel/Berlin 1996, S. 113. 11 Ebd., S. 180.

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Wa¨hrend William Mitchell also eher von einer Ko-Evolution von physischem ¨ ffentlichkeit durch das und virtuellem Raum, von einer Erga¨nzung der sta¨dtischen O Internet ausgeht, prognostizierte Florian Ro¨tzer Mitte der 1990er mit der Telepolis einen neuen Trend der Siedlungsentwicklung, in dem Sub- und Deurbanisierung ihre Fortsetzung finden.12 Wa¨hrend sich ein Teil der Bevo¨lkerung durch die Nutzung des Internet von der Notwendigkeit, reale Ra¨ume zu benutzen emanzipieren ko¨nne, sei ein anderer Teil hiervon ausgeschlossen. Ro¨tzer sieht hierin die Entwicklung zu einer dual city, einer Stadt, in der es vernetzte Teilra¨ume der wohlhabenderen Schichten gibt, die in keinem Kontakt mehr zu der Bevo¨lkerung in anderen, nicht vernetzten Stadtteilen stehen (mu¨ssen).13 Martin Pawley, Herausgeber der Zeitschrift World Architecture, geht noch einen Schritt weiter, indem er einen Widerspruch zwischen Informationsgesellschaft und traditionellem Urbanismus postuliert. Der supraurbane Charakter der neuen Medien ¨ berwindung der herradikalisiere das Sprawling der Sta¨dte und fu¨hre zu einer U 14 ko¨mmlichen Stadt mit ihren zentralen Funktionen. Die „neue elektronische Informationsumwelt“ reiße die Aufgaben an sich, die fru¨her der o¨ffentliche Raum wahrgenommen habe: „Der sta¨dtische Raum, den man einst fu¨r den Transport, fu¨r Klatsch, Revolten, Demonstrationen, Werbung und Spektakel gebraucht hatte, ist heute u¨berflu¨ssig geworden.“15 Zu derartigen Prognosen und Diagnosen bildete sich allerdings rasch eine Gegenposition heraus. Ihre Anha¨nger betonen die Bedeutung des physischen Raums, von ra¨umlicher Dichte und Pra¨senz sowie unmittelbarer Kommunikation.16 Die zugespitzte Diagnose lautet, dass nur reale Orte, vor allem die urbanen Ra¨ume, spezifische Bedingungen fu¨r bestimmte soziale und o¨konomische Aktivita¨ten bereitstellen. Die Kombination von ra¨umlicher Verteilung und globaler Integration lasse den großen Sta¨dten eine neue strategische Rolle zukommen: Neben ihrer traditionellen Funktion als Zentren von Banken und Handel seien sie hoch konzentrierte Steuerungsknoten ¨ konomie, Schlu¨sselstandorte fu¨r spezialisierte Dienstleister, Innovatider globalen O onsstandorte der fu¨hrenden Wirtschaftsbranchen und große Ma¨rkte fu¨r Innovationen und Produkte. In Bezug auf den Wirtschafts- und Finanzsektor hat die amerikanische Soziologin Saskia Sassen gezeigt, dass der Einfluss der Informations- und Kommunikationstechnologien gerade nicht zu einer Dezentralisierung fu¨hre, sondern zu „neuen Formen sta¨dtischer Zentralita¨t“17 in Gestalt der globalen Steuerungs¨ hnlich wie bei der Entwicklung andeund Kontrollzentren, den global cities.18 A 12 Florian Ro ¨ tzer, Die Telepolis. Urbanita¨t im digitalen Zeitalter, Mannheim 1995. 13 Ebd., S. 84–87. 14 Vgl. hierzu grundsa¨tzlich Clemens Zimmermann/Karl Friedrich Bohler, Editorial: Suburbanisie-

rung vom Land aus gesehen, in: Zeitschrift fu¨r Agrargeschichte und Agrarsoziologie 57, 2 (2009), S. 8–12. 15 Martin Pawley, Die Auflo¨sung der Stadt, in: Telepolis. Magazin der Netzkultur. Archiv special, Hannover 1996 (letzter Zugriff: 6. 9. 2011). 16 Vgl. hierzu ebenfalls La¨pple, Stadt und Region (wie Anm. 5), v. a. S. 21–23 und Hessler, Vernetzte Wissensra¨ume (wie Anm. 4), S. 237f. 17 Saskia Sassen, The Global City, New York/London/Tokyo/Princeton/Oxford 2001, S. 85. 18 Vgl. Saskia Sassen, Metropolen des Weltmarktes. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt a. M./ New York 1997; Sassen, The Global City (wie Anm. 17).

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rer Raum u¨berwindender Technologien wu¨rden auch durch die „Neuen Medien“ bestehende Zentren und Orte der Kommunikation nicht vernichtet, sondern erweitert. Zentralita¨t sei eine gesellschaftliche Kategorie, die durch Technik beru¨hrt und modifiziert werden ko¨nne, aber nicht entbehrlich werde. In diesem Zusammenhang ist immer wieder von den „kreativen Eigenschaften“ der Sta¨dte die Rede, was sich in Begriffsscho¨pfungen wie creative city19, cultural industries20 oder creative class21 widerspiegelt. Die urbanen „kreativen“ oder „innovativen“ Milieus scheinen ideale Bedingungen fu¨r kreatives und innovatives Arbeiten zu bieten, womit auch o¨konomische Hoffnungen verbunden werden.22 Dieses Potenzial der Sta¨dte als „privilegiertes Innovationsfeld der Wissens- und Kulturproduktion“23 ko¨nnte zu einer Renaissance der Stadt beitragen, so der Hamburger Stadtforscher Dieter La¨pple. Dass diese beiden Entwicklungen – die zunehmende Bedeutungslosigkeit von Orten durch Informations- und Telekommunikationstechnologien einerseits, die Neubetonung physischer Na¨he in sta¨dtischen Ra¨umen andererseits – u¨berhaupt als Paradox betrachtet werden ko¨nnen, liegt an der zugrunde gelegten Pra¨misse. Denn Orte werden hier, wie es Martina Heßler auf den Punkt gebracht hat, als Gegenpole zum „ortslosen Raum einer durch Informations- und Kommunikationstechnologien vernetzten Welt“24 gedacht. Folgerichtig mu¨ssten Orte in einer vernetzten Welt ihre Funktionen an die neuen Technologien abgeben und sich schließlich auflo¨sen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die genannte Pra¨misse aufgrund verschiedener Gegebenheiten fu¨r eine Analyse der Entwicklungen in der ju¨ngeren Vergangenheit nicht ada¨quat und damit eine Einscha¨tzung der beiden dargestellten Entwicklungen als Paradox nicht zutreffend ist. Hierzu sollen zwei Aspekte betrachtet werden, na¨mlich die Zugangsmo¨glichkeiten zu Telekommunikationsinfrastrukturen einerseits und die Potenziale von Informations- und Kommunikationstechnologien im ¨ bertragung von Information und WisRahmen der Generierung, Speicherung und U sen andererseits.

19 Charles Landry, The Creative City. A Toolkit for Urban Innovators, London 2000. 20 Derek Wynne, The Culture Industries: Arts in Urban Regeneration, Avebury 1992; Justin O’Connor,

The definition of the „Cultural Industries“, in: The European Journal of Arts Education 2:3 (2000), S. 15–27; David Hesmondhalgh, The Cultural Industries, Los Angeles u. a. 2002 21 Richard Florida, The Rise of the Creative Class, New York 2002; Ders., Cities and the Creative Class, New York u. a. 2005. 22 Vgl. zur Wiederentdeckung des „Topos der ‚kreativen Stadt‘“: Martina Hessler, Die kreative Stadt. Zur Neuerfindung eines Topos, Bielefeld 2007, hier bes. S. 37–41. 23 Dieter La¨pple, Thesen zur Renaissance der Stadt in der Wissensgesellschaft, in: Schwerpunkt: Urbane Regionen (Jahrbuch StadtRegion 2003), Opladen 2004, S. 61–78, hier S. 74. 24 Hessler, Vernetzte Wissensra¨ume (wie Anm. 4), S. 237.

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2. Mo¨glichkeiten der Substitution perso¨nlicher durch technische Kommunikation?

Zugangsmo¨glichkeiten zu Telekommunikationsinfrastrukturen sind – im Gegensatz zu den Annahmen zahlreicher Theoretiker der neuen Medien – keineswegs universell, vor allem im globalen Maßstab sind sie hochgradig selektiv. So verfu¨gten beispielsweise 2007 weniger als vier Prozent der Bewohner Afrikas u¨ber einen Internetzugang, 70 Prozent des afrikanischen IP-Verkehrs wurden kostspielig u¨ber andere Erdteile geroutet.25 Selbst William Mitchell verweist auf die Gefahr einer „virtuellen Segmentierung“ von im globalen Maßstab privilegierten Knotenpunkten der Kommunikation mit hervorragender Anbindung und allem Komfort einerseits und vernachla¨ssigten Arealen, wo „keinerlei Investitionen in informationstechnische Infrastruktur und Gera¨te geta¨tigt werden, wohin keine elektronischen Dienste reichen und wo es kaum o¨konomische Chancen gibt“.26 Die Probleme des Zugangs zu den digitalen Kommunikationsnetzen zeigen sich allerdings nicht nur in den Sta¨dten und Regionen der Dritten Welt, sondern auch in Nordamerika und Europa. Eine ubiquita¨re Versorgung mit Informations- und Kommunikationstechnologien in allen Teilra¨umen ist auch hier nur eingeschra¨nkt gewa¨hrleistet. Zwar ist die Zahl der Mobilfunkteilnehmer deutlich angestiegen, rein rechnerisch ergibt sich eine Anschlussdichte je Einwohner von 100 Prozent.27 In Bezug auf ISDNAnschlu¨sse liegt Deutschland zudem im internationalen Vergleich weit vorn. Zudem steigt die Nutzung des Internets kontinuierlich an. In Deutschland betrug die Zahl der Internetnutzer im Jahr 2010 ungefa¨hr 48,3 Millionen, was einem Anteil von 72 Prozent der deutschen Bevo¨lkerung u¨ber 14 Jahren entspricht.28 Allerdings zeigen aktuelle Daten fu¨r die EU-Staaten, dass weniger gut ausgebildete, a¨ltere und wirtschaftlich inaktive Personen weniger Computer- und Interneterfahrung aufweisen.29 Daneben ist die Internetnutzung innerhalb Deutschlands auch regional unterschiedlich verteilt. Es lassen sich Unterschiede in den Nutzungsraten zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen einzelnen Bundesla¨ndern und zwischen la¨ndlichen und sta¨dtischen Regionen erkennen: So betra¨gt beispielsweise der Anteil der so genannten

25 So die Zahlen, die der aus Mali stammende Generalsekreta¨r der International Telecommunication

Union (ITU), Hamadoun Toure´, auf der Konferenz „Connect Africa“ 2007 vorlegte. Vgl. hierzu den Beitrag des Portals „Heise“ vom 29. Oktober 2007 „Weniger als vier Prozent der Afrikaner sind online“ (letzter Zugriff: 14. 9. 2011). 26 Mitchell, City of Bits (wie Anm. 10), S. 181. 27 Vgl. ID2010. Informationsgesellschaft Deutschland 2010, hg. v. Bundesministerium fu¨r Wirtschaft und Technologie, Berlin 2007, S. 27. 28 (N)Onliner Atlas 2010. Eine Topographie des digitalen Grabens durch Deutschland. Nutzung und Nichtnutzung des Internets, Strukturen und regionale Verteilung. Eine Studie der Initiative DF21, durchgefu¨hrt von TNS Infratest, Bielefeld 2010, S. 10 . 29 Commission Calls for an All-Inclusive Digital Society, hg. v. der Europa¨ischen Kommission, Bru¨ssel 2007 (Pressemitteilung IP/07/1804; Datum der Vero¨ffentlichung: 29. November 2007; letzter Zugriff: 6. 9. 2011).

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Onliner in Sta¨dten 74,8 Prozent, in la¨ndlich gepra¨gten Regionen 65,8 Prozent. Und nach wie vor gibt es „weiße Flecken“ in der Breitbandabdeckung in Deutschland.30 Auch innerhalb der urbanen Ra¨ume gibt es deutliche Disparita¨ten bzgl. der Versorgung mit Hochgeschwindigkeitsnetzen. Durch den raschen technologischen

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Abb. 1: Internetnutzung im Stadt-Land-Vergleich 2001–2010 Quelle: nach Datenbasis: (N)Onliner Atlas 2010 (wie Anm. 28), S. 19; (N)Onliner Atlas 2008, S. 19; (N)Onliner Atlas 2006, S. 18; (N)Onliner Atlas 2004, S. 19

Wandel und die hohe Konkurrenz im Bereich der Informations- und Kommunikationso¨konomie ist die Frage nach der Vernetzung oftmals unmittelbar mit der Problematik der Zugangsmo¨glichkeit zu Hochleistungsnetzen verknu¨pft. In diesem Zusammenhang ist die Anbindung einer Stadt oder eines Stadtteils an Hochgeschwindigkeitsnetze allein wenig aussagekra¨ftig in Bezug auf die tatsa¨chlichen Nutzungsmo¨glichkeiten fu¨r die Teilnehmer. Denn wa¨hrend heutzutage nahezu alle Vermittlungsstellen mit mehreren Gigabit/s schnellen Glasfaserkabeln verbunden sind, ist die Geschwindigkeit der Kupferleitungen zu den Teilnehmern auf der so genannten „letzten Meile“ stark von Da¨mpfungswerten, Entfernung und ausgebauter Technik abha¨ngig: The greatest challenge of the multiplying telecommunication firms in

30 (N)Onliner Atlas 2010 (wie Anm. 28), S. 13, 20–23. Vgl. zur Internetnutzung in Stadt-Land-Perspek-

tive auch Schreiber, Internetnutzung in der la¨ndlichen Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 69–73.

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large cities is what is termed the problem of the ‚last mile‘: getting satellite installations, optic fibre ‚drops‘ and whole networks through the expensive ‚local loop‘.31 Die letzte Meile stellt also den zentralen Engpass im Ausbau und damit in der Leistungsfa¨higkeit von Hochgeschwindigkeitsnetzen dar: Da mit ihrem Ausbau u¨berproportional hohe Kosten verbunden sind, erfolgt dieser nicht in der Fla¨che, sondern in Form von strategischen Knoten und Achsen. Die hierdurch bedingte Selektivita¨t der Telekommunikationsinfrastrukturen wird noch verscha¨rft durch die Investitionsstrategien der globalen Netzanbieter, die sich auf o¨konomisch attraktive Standorte konzentrieren. Stephen Graham nennt als Beispiel die Entwicklung in London um das Jahr 2000, wo ein leistungsfa¨higes Glasfasernetz speziell fu¨r die Unternehmen der New Economy im Finanz- und Unternehmensdistrikt gebaut ¨ ber dieses 180 km lange Glasfasernetz wurden zum damaligen Zeitpunkt wurde.32 U mehr als zwanzig Prozent der gesamten internationalen Telekommunikation Großbritanniens abgewickelt.33 Andrew Gillespie und Ronald Richardson haben gezeigt, dass solche Handlungsstrategien der – oft auch global agierenden – Telekommunikationsunternehmen zu einer deutlichen Hierarchisierung im Bereich der digitalen Vernetzung fu¨hren ko¨nnen.34 Auf sta¨dtischer Ebene zeigt sich die Tendenz zu einer Aufsplitterung des urbanen Raumes: In general, they [the restructuring processes] tend to support a complex fracturing of urban space, as premium and privileged financial, media, corporate and telecommunications nodes extend their connectivity to distant elsewheres whilst stronger efforts are made to control or filter their relationships with the streets and metropolitan spaces in which they locate.35 Die Entwicklung in den vergangenen Jahren deutet darauf hin, dass die Selektivita¨t dieser Infrastrukturen die bestehende ra¨umliche Segmentierung der Sta¨dte in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht versta¨rkt. Auch die o¨konomische Entwicklung im Bereich der Informations- und Kommunikationswirtschaft, insbesondere in den Jahren 2000 bis 2005, schuf neue Hu¨rden fu¨r eine nachhaltige Weiterentwicklung der Zugangsmo¨glichkeiten zu den neuen Technologien. Der Ausbau der Glasfasernetze in internationalen Metropolen wie London fu¨hrte zu einer Vervielfachung der Bandbreite, die weit u¨ber die Nachfrage hinausging, und bedeutete fu¨r eine Reihe von Telekommunikationsunternehmen den ¨ berwirtschaftlichen Ruin.36 Als Folge dieser Entwicklung standen sich riesige U kapazita¨ten im Bereich der Anbindung internationaler Metropolen an die globalen 31 Stephen Graham, Information Technologies and Reconfiguration of Urban Space, in: International

Journal of Urban and Regional Research 25, 2 (2001), S. 405–418, hier S. 405.

32 Es handelt sich hierbei um das Glasfasernetz der WorldCom MCI, des damals drittgro¨ßten Telekom-

munikationsunternehmens weltweit. Vgl. ebd.

33 Ebd., S. 406f. Vgl. auch Dieter La¨pple, Das Internet und die Stadt, in: Die europa¨ische Stadt, hg. v.

Walter Siebel, Frankfurt a. M. 2004, S. 406–421.

34 Andrew Gillespie/Ronald Richardson, Teleworking and the City. Myth of Workplace Transcen-

dence and Travel Reduction, in: Cities in the Telecommunication Age: The Fracturing of Geographies, hg. v. James O. Wheeler/Yuko Aoyama/Barney L. Warf, New York/London 2000, S. 228–245, hier S. 233f. 35 Graham, Information Technologies (wie Anm. 31), S. 406. 36 In Deutschland fand diese Entwicklung ihren Ho¨hepunkt in den sehr hohen Zahlungen (50,8 Milliarden Euro) privater Netzbetreiber fu¨r die staatlich versteigerten UMTS-Lizenzen im August 2000,

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Netze einerseits und eine eher defizita¨re Versorgung auf der Ebene mancher Stadtteile andererseits gegenu¨ber.37 Mittlerweile kam es hier zu notwendigen Korrekturen und Konsolidierungseffekten, dennoch scheint sich die ra¨umliche Selektivita¨t der digitalen Netzwerke eher zu verfestigen. Doch selbst wenn die Zugangsmo¨glichkeiten zu den modernen Kommunikationsnetzen fu¨r Unternehmen oder Privatpersonen optimal wa¨ren, verbleibt die Frage, inwieweit perso¨nliche Kommunikation durch technische substituiert werden kann. Zwar spielten Kommunikationsmedien – wie auch Transportmittel – fu¨r die Ausbildung professioneller Kommunikation eine enorme Rolle, ermo¨glichten sie doch erst einen u¨ber den lokalen und regionalen Kontext hinausgehenden kontinuierlichen Austausch.38 Und auch die Frage, ob perso¨nliche Face-to-face-Kommunikation durch technische Kommunikationsmittel substituierbar ist, stellte sich bereits den Zeitgenossen beim Aufkommen von Telegraf und Telefon im 19. und fru¨hen 20. Jahrhundert. Dennoch haben die Erfahrungen bei der Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien gezeigt, dass diese nie das Bedu¨rfnis nach perso¨nlicher Kommunikation vollsta¨ndig zu ersetzen vermochten. Zwar fu¨hrten die jeweiligen medialen Charakteristika und Potenziale zu Verschiebungen im Bereich der kommunikativen Praktiken, doch letztlich handelte sich immer um eine Erga¨nzung, nicht um eine Ersetzung. Vielmehr zog die Einfu¨hrung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien oftmals eine Zunahme der Kommunikation insgesamt nach sich und damit auch die der Face-to-face-Kontakte.39 In verschiedenen Studien aus den vergangenen zwanzig Jahren wurden derartige Effekte nachgewiesen, und letztlich haben die Ergebnisse den gemeinsamen Nenner, dass die neuen Kommunikationstechniken weniger eine Reduzierung perso¨nlicher Gespra¨che und Treffen als vielmehr eine bessere Vor- und Nachbereitung perso¨nlicher Zusammenku¨nfte durch zusa¨tzliche – technisch vermittelte – Gespra¨che mit sich bringen wu¨rden.40 Will man das also nach wie vor bestehende Bedu¨rfnis nach Face-to-face-Kommunikation nicht allein mit der Natur des Menschen als soziales Wesen erkla¨ren, muss man sich den besonderen Eigenschaften der perso¨nlichen Kommunikation zuwenden. Martina Heßler unterscheidet in diesem Zusammenhang fu¨nf verschiedene Kategorien, deren Zusammenspiel konstitutiv fu¨r menschliche Kommunikation die in der Folge – vor allem nach dem Auslaufen vieler Finanzierungsrunden Ende 2000 – fu¨r viele der betroffenen Unternehmen den Ruin bedeuten. Vgl. Mathias Stuhr, Mythos New Economy. Die Arbeit an der Geschichte der Informationsgesellschaft, Bielefeld 2010, S. 140f. 37 Vgl. La¨pple, Das Internet und die Stadt (wie Anm. 33), S. 409. 38 Vgl. hierzu grundsa¨tzlich die Ausfu¨hrungen bei Hessler, Vernetzte Wissensra¨ume (wie Anm. 4), S. 242f., sowie Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Zur Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001. 39 Ebd., S. 243. 40 Verwiesen sei zum Beispiel auf die Analyse von Klaus Beck, Computervermittelte Kommunikation im Internet, Mu¨nchen 2005, S. 94f., Martina Merz, „Nobody can Force you when you are across the Ocean“ – Face to Face and E-mail Exchanges between theoretical Physicists, in: Making Space for Science. Territorial Themes in shaping knowledge, hg. v. Crosbie Smith/John Agar, Hampshire/ London 1998, S. 313–329, sowie auf die Beispiele bei Martina Hessler, Vernetzte Wissensra¨ume (wie Anm. 4), S. 243.

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ist, wa¨hrend Kommunikationstechnologien ho¨chstens in Bezug auf einzelne Aspekte perso¨nlicher Kommunikation entsprechen ko¨nnen.41 Hierzu za¨hlt sie (1) Vertrauen: Perso¨nliche Na¨he schafft Vertrauen und hilft zu beurteilen, inwiefern man mit einer Person zusammenarbeiten kann. (2) Performativita¨t: Bestimmte Dimensionen der Art und Weise, wie der Kommunikationsakt vollzogen wird (zum Beispiel Betonung, Mimik, Gestik), lassen sich technisch nicht ada¨quat vermitteln. (3) Kontingenz: Durch zufa¨llige Gespra¨che und Zusammentreffen entstehen neue Ideen und Anregungen, die u¨ber technisch vermittelte Kommunikationsmittel nicht zustande gekommen wa¨ren. (4) Zeit: Technisch vermittelte Kommunikation schra¨nkt durch den ihr innewohnenden Zeitaufwand die Kreativita¨t ein. (5) Komplexita¨t der Inhalte: Problemstellungen in Unternehmen erfordern komplexe Lo¨sungsansa¨tze und die Notwendigkeit von Teamarbeit und lassen sich damit nur begrenzt kommunizieren. ¨ berDie Vermittlung von kontextgebundenem Wissen ist also anders als die reine U tragung von Informationen stark abha¨ngig von einem gemeinsamen kognitiven, kulturellen und sozialen Kontext. Daraus resultiert die weiterhin bestehende Notwendigkeit ha¨ufiger perso¨nlicher Kontakte und Gespra¨che sowohl fu¨r wirtschaftliche als auch fu¨r soziale und kulturelle Aktivita¨ten. Im Folgenden soll als besonders eindru¨ckliches Beispiel fu¨r den Wandel sta¨dtischer Arbeits- und Lebensverha¨ltnisse die so genannte New Economy, der Bereich der neuen Informations- und Kommunikationso¨konomie, herangezogen werden. Sie scheint durch den hohen, ja konstitutiven Einfluss von Informations- und Kommunikationstechnologien zum Einen besonders pra¨destiniert fu¨r eine Untersuchung, zum Anderen veranschaulicht die Entwicklung hier sehr deutlich die Probleme und Potenziale fu¨r vergleichbare wissensbasierte Wirtschaftszweige.

3.

Das Beispiel der Informations- und Kommunikationswirtschaft

In den spa¨ten 1990er Jahren entstand mit der zunehmenden Verbreitung von Computern und der Durchsetzung des Internets sowohl im privaten wie im professionellen Bereich ein neuer Wirtschaftsbereich um diese so genannten „Neuen Medien“. Das spezifisch „Neue“ dieser Technologien wird meist unter dem Schlagwort der Konvergenz subsumiert.42 In diesem Zusammenhang versteht man darunter das Zusammenwachsen der vormals deutlich separierten Bereiche der Informationstechnolo-

41 Ebd., S. 244–248. 42 Vgl. zum Beispiel Axel Zerdick/Klaus Schrape/Arnold Picot u. a., Die Internet-O ¨ konomie. Strate-

gien fu¨r die digitale Wirtschaft, Berlin/Heidelberg 1999, S. 129f.

Die Stadt im Zeitalter der vernetzten Kommunikation

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gie, der Telekommunikation, der Medienwirtschaft sowie der unternehmensorientierten Dienstleistungen zu einem neuen Wirtschaftsbereich. Zwar ist die technische Konvergenz im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien Grundvoraussetzung fu¨r diesen Prozess und dieser ohne Beru¨cksichtigung der technischen Dimension nur unzureichend fassbar, die spezifische Dynamik der Neuen Medien geht aber vor allem von den dadurch mo¨glichen Inhalten und Anwendungen aus.43 Da sie fu¨r nahezu alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens relevant sind, betrifft die beschriebene Entwicklung eine sehr große Anzahl von beteiligten Personen, Unternehmen und Institutionen mit vo¨llig unterschiedlichen Ausbildungen und professionellen Hintergru¨nden, die sich jeweils durch sehr unterschiedliche Interessen auszeichnen. Wie kaum eine andere Branche ist die New Economy daher durch eine ausgepra¨gte Heterogenita¨t ihrer Akteure und Strukturen gepra¨gt. Wenngleich sich dieses breite Spektrum durch die Einfu¨hrung entsprechender Ausbildungsberufe und Studienga¨nge wa¨hrend der vergangenen Jahre etwas reduziert hat, besteht die grundlegende Problematik weiter. In diesem Beitrag soll die Branche der Neuen Medien angelehnt an die Definition der Informations- und Kommunikationswirtschaft des Deutschen Instituts fu¨r Wirtschaftsforschung abgegrenzt werden.44 Hierzu za¨hlen vor allem die Branchen, die als zentral und fu¨hrend in der vernetzten Informationso¨konomie gelten. Dies sind in erster Linie die Unternehmen der Informationstechnologie, im weitesten Sinne alle Computer-, Internet-, Software- und alle mit ihnen verbundenen Dienstleistungsunternehmen.45 Die Begriffe Informations- und Kommunikationswirtschaft, Neue-Medien-Branche und New Economy werden daher im Folgenden weitgehend deckungsgleich verwendet.46 Auch wenn man auf der Basis dieser Definition die großen Konzerne wie beispielsweise AOL, Yahoo oder Amazon – und nicht allein die kleinen „Startups“ – der Branche zurechnet, ergibt sich als durchschnittliche Gro¨ße der Betriebe in der Hochphase der Branche in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts ein Wert von 10 und 15 Mitarbeitern.47 Nach dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 haben insbesondere große Unternehmen u¨berlebt – zwar gibt es nach wie vor auch kleinere Unternehmen, die vormals feine Granularita¨t und die daraus resultierende Vielfalt des Marktes ist jedoch nahezu verschwunden.48 43 Vgl. hierzu ausfu¨hrlicher Jan van Dijk, The network society: social aspects of new media, London

2006, S. 42–60; außerdem La¨pple, Das Internet und die Stadt (wie Anm. 33), S. 410f.

44 Wolfgang Seufert, Informations- und Kommunikationswirtschaft ra¨umlich stark konzentriert, in:

DIW Wochenbericht, Nr. 67, 32–33 (2000), S. 526–534.

45 Die Definition gliedert die Branche in die Bereiche IuK-Technik (v. a. Herstellung von Hardware),

IuK-Dienste (Hardware- und Softwareberatung, Datenverarbeitungsdienste, Datenbanken, Instandhaltung und Reparatur von Bu¨romaschinen, -gera¨ten und -einrichtungen, Fernmeldedienste) sowie IuK-Inhalte (Medienproduktion, Werbung). Vgl. ebd. 46 Auf die terminologische Diskussion kann an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen werden. Eine ausfu¨hrliche Darstellung findet sich bei Stuhr, Mythos New Economy (wie Anm. 36), S. 23–28. 47 Bjo¨rn Frank/Marco Mundelius/Matthias Naumann, Eine neue Geographie der IT- und Medienwirtschaft?, in: DIW Wochenbericht 71, 30 (2004), S. 433–440, hier S. 435f.; Stuhr, Mythos New Economy (wie Anm. 36), S. 110f. u. 121–126. 48 Vgl. zu den Folgen der Dotcom-Krise beispielsweise Brent D. Goldfarb/David Kirsch/David A. Miller, Was There Too Little Entry During the Dot Com Era? (24. April 2006). Robert H.

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Ein Blick auf die empirische Realita¨t der wirtschaftlichen Entwicklung zeigt, dass ¨ konoes sich bei der Branche der Neuen Medien im Wesentlichen um eine urbane O mie handelt, die sich mittlerweile einen festen Platz im Ensemble der sta¨dtischen Wissensproduktion erarbeitet hat.49 Da es sich also hier ohne Zweifel um einen prima¨r im urbanen Kontext anzutreffenden Wirtschaftsbereich handelt – in dessen Mittelpunkt ja gerade die neuen, „raumu¨berwindenden“ Informations- und Kommunikationstechnologien stehen –, kann von einer Auflo¨sung physischer Orte also nicht die Rede sein. Verschiedene Studien kommen sogar zu dem Schluss, dass die Durchsetzung der Neuen Medien im Gegenteil die Rolle und die Funktionen des sta¨dtischen Raumes sogar sta¨rkt, wie das Beispiel der New Yorker Silicon Alley zeigt.50 In den 1990er Jahren entwickelte sich in der alten Downtown New Yorks ein neues Technologie-Cluster, das als wohl bekanntestes Beispiel eines innersta¨dtischen Revitalisierungsprozesses mit Schwerpunkt auf der New Economy und – trotz erheblicher Unterschiede in den o¨konomischen wie regulatorischen Rahmenbedingungen – als Vorbild fu¨r viele Initiativen in Europa gilt.51 Das Zentrum des Clusters war die Silicon Alley, jener Teil von Lower Manhattan, in dem sich in der zweiten Ha¨lfte der 1990er Jahre ein loser Zusammenschluss von Unternehmen der Neuen Medien entwickelt hatte, der schließlich namengebend und zum Synonym fu¨r die ra¨umliche Entwicklung des Viertels wurde. Die Bu¨rofla¨chen in kleinen flexiblen Einheiten waren vor allem fu¨r kleinere Betriebe interessant, die sich in hoher Zahl ansiedelten. So wuchs die Anzahl der Unternehmen im Bereich der Neuen Medien in New York zwischen 1997 und 2000 um 25 Prozent, wa¨hrend die Zahl der Bescha¨ftigten dieser Betriebe um 55 Prozent zunahm. Im Jahr 1999 waren hier knapp 8500 Unternehmen mit rund 250 000 Bescha¨ftigten angesiedelt.52 Zahlreiche Arbeitspla¨tze gingen in der folgenden Rezessionsphase verloren. Die Krise der Branche, die im Jahr 2000 bereits eingesetzt hatte, wurde durch die Folgen des Anschlags vom 11. September 2001 noch versta¨rkt. Die Stadtverwaltung versuchte in den Folgejahren durch Steuerminderungen und Investitionsprogramme an die Erfolge der 1990er Jahre anzuknu¨pfen.53 Die deutschen Sta¨dte waren in unterschiedlicher Art und Weise und in unterschiedlichem Ausmaß vom technologisch-o¨konomischen Strukturwandel betroffen. Ende der 1990er Jahre konnte eine Reihe von Regionen vom Gru¨nderboom des sich entwickelnden Internets, der IT- und Medienwirtschaft besonders profitieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Standorte der

Smith School Research Paper Nr. RHS 06-029 (letzter Zugriff: 21. September 2011), sowie Stuhr, Mythos New Economy (wie Anm. 36), S. 130. 49 Vgl. hierzu die Beitra¨ge in: Multimedia and Regional Economic Restructuring, hg. v. Hans Joachim Braczyk/Gerhard Fuchs/Hans-Georg Wolf, London/New York 1999. 50 Zum Beispiel: Gillespie/Richardson, Teleworking and the City (wie Anm. 34); Michael Indergaard, Silicon Alley: the rise and fall of a new media district, New York 2004. 51 Vgl. grundsa¨tzlich Indergaard, Silicon Alley (wie Anm. 50); John V. Pavlik, Content and Economics in the Multimedia Industry. The Case of New York’s Silicon Alley, in: Multimedia and Regional Economic Restructuring, hg. v. Braczyk/Fuchs/Wolf (wie Anm. 49), S. 81–96. 52 Indergaard, Silicon Alley (wie Anm. 50), S. 181–184. 53 Vgl. ebd, S. 133–154; Martin Pries: New York und die Ereignisse des 11. Septembers 2001, in: GR 54, 1 (2002), S. 61–64.

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neuen Dienstleister weitgehend an traditionellen Mustern der Kommunikations- und Medienwirtschaft orientierten. Von den Unternehmen aus der Branche der Neuen Medien hatte etwa die Ha¨lfte ihren Standort in den 20 gro¨ßten Sta¨dten Deutschlands, ein weiteres Viertel war in einem Umkreis von 30 Kilometern um diese Sta¨dte angesiedelt.54 Auf die Hochphase folgte ein Konsolidierungsprozess in diesem Bereich, von dem insbesondere die Sta¨dte betroffen waren, die zuvor als Zentren des Booms galten.55 Als Beispiele genauer betrachtet werden sollen im Folgenden Hamburg, Mu¨nchen und Leipzig. Die traditionelle Medienstadt Hamburg hat in den 1980er und 1990er Jahren den Wandel zu einem modernen Dienstleistungsstandort erlebt, in dem auf den Hafen orientierte Unternehmen weiterhin eine wichtige Rolle spielen, der daru¨ber hinausgehende unternehmensorientierte Dienstleistungsbereich aber erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Insbesondere in der zweiten Ha¨lfte der 1990er Jahre konnte sich Hamburg als Standort der neuen Multimediadienste profilieren, die sich im Zuge der Verbreitung des Internets entwickelten (siehe Abb. 3).56 Im Zusammenhang dieser Entwicklung warb die Stadt fu¨r den Standort als „NewMedia-Hauptstadt“.57 Vom Konsolidierungsprozess in diesem Bereich nach dem Jahr 2000 war Hamburg besonders negativ betroffen, wenngleich die Zahl der Unternehmen selbst nach dem Ende des Booms auf vergleichsweise hohem Niveau blieb. Auch bei Mu¨nchen handelt es sich um einen etablierten Standort der Kommunikations- und Medienwirtschaft, die sich hier traditionell durch ein großes Maß an Diversifikation innerhalb des Sektors auszeichnet (siehe Abb. 4). Nach 1990 profitierten Unternehmen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik sowie die Verlagswirtschaft zusa¨tzlich durch Unternehmensverlagerungen aus Ostdeutschland.58 Die Entwicklung der Medienwirtschaft in Mu¨nchen war in den 1990er Jahren das Beispiel fu¨r einen kontinuierlichen Wachstumsprozess, so dass die Stadt in den wachstumsstarken Segmenten des Informations- und Kommunikationssektors Ende der 1990er Jahre fu¨hrende Positionen einnahm und insgesamt betrachtet ein ausgeglichenes Profil zeigte. Die – auch verglichen mit anderen Regionen in Deutschland – diversifizierte Struktur war besonders in Bezug auf die Konvergenzprozesse innerhalb der Kommunikations- und Medienbranche positiv. Mu¨nchen wies eine besonders ausgewogene Struktur von Unternehmen aller Bereiche der Branche auf und konnte sich sowohl auf Großunternehmen als auch auf kleine und mittlere

54 Vgl. grundsa¨tzlich zur Standortwahl von Unternehmen der New Economy: Lutz Krafft, Entwick-

lung ra¨umlicher Cluster. Das Beispiel Internet- und E-Commerce-Gru¨ndungen in Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 243–246; Holger Floeting, Mediensta¨dte, Kreativmeilen und Netzgemeinden. Technologie- und wirtschaftsorientierte Stadtentwicklungspolitik in deutschen Kommunen in den 1980er und 1990er Jahren am Beispiel informations- und kommunikationstechnologie- sowie kommunikations- und medienwirtschaftsorientierter Ansa¨tze, Berlin 2009, S. 41–49. 55 Vgl. Stuhr, Mythos New Economy (wie Anm. 36), S. 130–136. 56 Vgl. Dieter La¨pple/Gerd Walter, Im Stadtteil arbeiten, Bescha¨ftigungswirkungen wohnungsnaher Betriebe, Stadtentwicklungsbeho¨rde der Freien Hansestadt Hamburg, Hamburg 2000, S. 20f. 57 Von diesem Label trennte man sich im Zuge des Konsolidierungsprozesses in der New Economy wieder. Vgl. Floeting, Mediensta¨dte (wie Anm. 54), S. 65. 58 Ebd., S. 72.

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Abb. 2: Cluster von E-Commerce/Internet-Gru¨ndungen in Deutschland bis Mitte 2000 Quelle: Krafft, Entwicklung ra¨umlicher Cluster (wie Anm. 54), S. 244

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Betriebe stu¨tzen. Dies wirkte sich letztlich bei der Bewa¨ltigung der Dotcom-Krise positiv aus.59 Die Bru¨che in der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt Leipzig nach der deutschen Einheit 1990 spiegelten sich auch im Bereich der Kommunikations- und Medienwirtschaft wider. So verlor die Stadt beispielsweise im Bereich des Druck- und Verlagsgewerbes die zentrale Bedeutung, die sie zumindest fu¨r die DDR hatte. Neue Ansatzpunkte ergaben sich nur in wenigen Bereichen, hierbei spielten o¨ffentliche Investitionen eine zentrale Rolle. So entwickelte sich um die Ansiedlung des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) und des privaten Lokalfunks ein neues audiovisuelles Mediencluster, wobei im Bereich der Informations- und Kommunikationsdienste allerdings nur wenige gro¨ßere Unternehmen in Leipzig entstanden.60 Den Gru¨nderboom der New Economy spu¨rte die Stadt alles in allem nur in sehr abgeschwa¨chter Form. Insgesamt entstand die Mehrzahl der Unternehmen als endogene Entwicklung und war eher kleinbetrieblich strukturiert.61 Im Hinblick auf die ra¨umliche Struktur der Neue-Medien-Branche innerhalb der Sta¨dte ergibt sich ein differenziertes Bild: Es gibt nicht den typischen Standort, vielmehr schlagen sich in dessen Wahl die unterschiedlichen Anforderungen der jeweiligen Betriebe nieder. Bestimmte Branchen bevorzugen innersta¨dtische Standorte (z. B. EDV-Dienstleister), Betriebe mit hohem Fla¨chenbedarf eher Gewerbestandorte außerhalb der Innenstadt (z. B. Produzenten elektronischer Bauteile u. a¨.). Im Fall von Hamburg und Mu¨nchen hat sich ein komplexes Gefu¨ge von Standorten fu¨r jeweils auf einen bestimmten Bereich spezialisierte Unternehmen entwickelt, wobei traditionelle innersta¨dtische Standorte fu¨r den Bereich der Neuen Medien weiterhin eine zentrale Rolle spielen.62 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es gerade hochspezialisierte Unternehmen aus dem Bereich der Neuen Medien auch in Stadtteile zieht, die eigentlich ein eher negatives Image haben, wie zum Beispiel das Schanzenviertel in Hamburg. Deren „bunter“ und „multikultureller“ Charakter wird hier als Ausdruck von Urbanita¨t und Offenheit wahrgenommen und bewusst als Stilmittel eingesetzt.63 Im Fall von Leipzig ergibt sich dagegen ein etwas anderes Bild: Hier wurde die ra¨umlich-funktionale Entwicklung wesentlich bestimmt durch den neuen Standort des audiovisuellen Medienclusters rund um die Landesrundfunkanstalt in Connewitz. Innerhalb der auf dem ehemaligen Schlachthofgela¨nde entstandenen „Media

59 Vgl. Stuhr, Mythos New Economy (wie Anm. 36), S. 141f. 60 Vgl. Michael Sagurna, Der Medienstandort Leipzig im Freistaat Sachsen, in: Medienstadt Leip-

zig. Vom Anspruch zur Wirklichkeit, hg. v. Herbert Grunau/Wolfgang Kleinwa¨chter/Hans-Jo¨rg Stiehler, Leipzig 2000, S. 22–30. 61 Vgl. Floeting, Mediensta¨dte (wie Anm. 54), S. 69–72. 62 Vgl. Krafft, Entwicklung ra¨umlicher Cluster (wie Anm. 54), S. 252–256. 63 Bezogen auf die Unternehmen der New Economy in Hamburg bemerkt La¨pple: „Ihr Blick auf den Stadtteil kommt aus einer vo¨llig anderen Perspektive. Derselbe Stadtteil erscheint den einen (Handwerker) als ‚unsicheres Chaotenviertel‘ [...] und den anderen (Dienstleister) als ‚multikulturelles und urbanes Viertel, ein bisschen vergleichbar mit Soho‘.“ La¨pple/Walter, Im Stadtteil arbeiten (wie Anm. 56), S. 31f.

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Abb. 3: Standorte der identifizierten Gru¨ndungen im Cluster Hamburg Quelle: Krafft, Entwicklung ra¨umlicher Cluster (wie Anm. 54), S. 254

Abb. 4: Standorte der identifizierten Gru¨ndungen im Cluster Mu¨nchen Quelle: Krafft, Entwicklung ra¨umlicher Cluster (wie Anm. 54), S. 253

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City“ siedelten sich auch zahlreiche private Unternehmen der Branche an, die meist wirtschaftlich eng mit dem MDR verflochten sind.64 Betrachtet man die potenziellen Einflussfaktoren fu¨r die ra¨umliche Verteilung der Unternehmen der Neuen Medien, so wird in den einschla¨gigen Untersuchungen zuna¨chst auf die klassische Theorie Alfred Marshalls verwiesen. Nach Marshall sind vor allem drei Gru¨nde wesentlich fu¨r die Entstehung o¨konomischer Cluster, na¨mlich (1) schneller Zugang zu technologischen Innovationen; (2) das Vorhandensein einer genu¨gend großen Zahl an Arbeitskra¨ften mit den entsprechenden – fu¨r die Branche notwendigen – Qualifikationen; (3) ein lokales Angebot an spezialisierten Dienstleistern und Zulieferern fu¨r die jeweiligen Unternehmen.65 In der Forschung wird auch das lokale Vorhandensein von bestimmten sozialen Infrastrukturen und spezifischen Governance-Strukturen hervorgehoben, die innovative wirtschaftliche Aktivita¨ten erst mo¨glich machten.66 Geht man der Frage nach, warum sich Unternehmen der New Economy in bestimmten Stadtteilen oder -regionen besonders konzentrieren, sto¨ßt man auf unterschiedliche Erkla¨rungsansa¨tze. Dieter La¨pple betont vor allem die Existenz einer „spezifischen wirtschaftshistorischen Tradition und o¨konomischen Spezialisierung der jeweiligen Stadtregion in einem bestimmten – meist medien-affinen – Wirtschaftsbereich, der als Ausgangspunkt und Grundlage fu¨r Unternehmen aus dem Bereich der Informations- und Kommunikationswirtschaft dienen kann“.67 Das Vorhandensein eines solchen Wirtschaftsbereiches betrifft dabei nicht nur die Rahmenbedingungen fu¨r die Entstehung von Unternehmen der Neuen Medien, sondern auch die spa¨tere Nachfrage. Im Rahmen dieser Entwicklung ko¨nnen auch Pfadabha¨ngigkeiten eine Rolle spielen, wie die Beispiele New York und Los Angeles zeigen. In beiden Fa¨llen entstand ein lokaler Cluster der Informations- und Kommunikationswirtschaft komplementa¨r zu bestehenden o¨konomischen Schwerpunkten, in den genannten Beispielen die Printmedien und der Finanzsektor einerseits, die Film- und Unterhaltungsindustrie andererseits. Zwischen den beteiligten Unternehmen entwickeln sich dabei vielfa¨ltige Verflechtungen, sowohl was die angebotenen Waren und Dienstleistungen betrifft, als auch auf personeller und finanzieller Ebene.68 64 Vgl. hierzu auch: Udo Reiter, Das Modell MDR. Auslagerung von Aufgaben und Leistungserstellung

durch Dritte im Rundfunk, in: Media Perspektiven 1 (1999), S. 5–8, hier: S. 6. 65 Daneben klingen bei Marshall aber auch soziale Faktoren wie gemeinsame Werte und die Einbettung in

¨ rjan So¨lvell/Ivo Zander, Spatial Clustering, eine lokale Kultur bereits an. Vgl. Anders Malmberg/O Local Accumulation of Knowledge and Firm Competitiveness, in: Geografiska Annaler, Serie B, 78, 2 (1996), S. 85–97. Vgl. zu den Theorien Marshalls allgemeiner auch: Volker Caspari, Walras, Marshall, Keynes, Berlin 1989, bes. S. 57–66. 66 Vgl. Frank Moulaert/Jacques Nussbaumer, Defining the Social Economy and its Governance at the Neighbourhood Level: A Methodological Reflection, in: Urban Studies 42, 11 (2005), S. 2071–2088. 67 La¨pple, Das Internet und die Stadt (wie Anm. 33), S. 412. 68 Ebd.; vgl. zum Aspekt der „path dependency“ außerdem den Beitrag Frank Moulaert/Flavia Martinelli/Sara Gonzalez/Erik Swyngedouw, Introduction: Social innovation and governance in Euro-

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Bei der Standortwahl von Unternehmen der New Economy spielen aber auch Aspekte eine Rolle, welche die technische Infrastruktur betreffen: So befanden sich die Knotenpunkte der Hochgeschwindigkeitsnetze vor allem in den ersten Jahren des Internets vor allem in Großsta¨dten und hier vor allem in den innersta¨dtischen Bereichen. Grundsa¨tzlich werden diese Ra¨ume auch bei der Implementierung neuer Technologien bevorzugt behandelt, da sich die Telekommunikationsunternehmen hier die gro¨ßten Nutzerpotenziale erhoffen. Auch an die Ra¨umlichkeiten und Geba¨ude selbst haben Unternehmen der New Economy spezifische Anforderungen.69 Philip Cooke und Gwawr Hughes haben daru¨ber hinaus festgestellt, dass insbesondere fu¨r die kleinen und mittelgroßen Betriebe die einfache Zuga¨nglichkeit zu „lokalem“ Kapital (proximity capital) von Bedeutung ist.70 Unter den genannten Faktoren nimmt zweifelsohne die Existenz eines lokalen Arbeitsmarktes mit qualifizierten Arbeitskra¨ften eine Schlu¨sselstellung ein. Fu¨r die Entwicklung der New Economy, die durch raschen technologischen Wandel, die Heterogenita¨t ihrer Akteure und Strukturen sowie durch die Flexibilita¨t ihrer Arbeitsverha¨ltnisse gepra¨gt ist, ist dieser Bereich besonders charakteristisch: In an industry characterized by rapid change – in its technology, markets, and products – the quality, skills, and adaptability of the workforce are crucial to success.71 Gerade die spezifisch urbanen Qualita¨ten der Branche ergeben sich vor allem aus der Rolle des Arbeitsmarktes, der Form der Arbeitsverha¨ltnisse sowie deren Wechselwirkung mit dem sozialen Leben der Bescha¨ftigten. Charakteristisch fu¨r die Arbeits- und Lebenswelt der Neuen Medien ist die enge ¨ berVerzahnung von beruflichem und privatem Leben, vor allem der oft fließende U gang von Arbeits- und Freizeit. Feste Arbeitszeiten gibt es nur selten, die Auftragslage bestimmt entscheidend die La¨nge des Arbeitstages.72 Fu¨r einen solchen Lebensstil bietet die kompakte Struktur der Stadt, in der die entsprechende Versorgungsinfrastruktur in ra¨umlicher Na¨he und beinahe rund um die Uhr verfu¨gbar ist, deutliche Vorteile. Dies ist wohl einer der zentralen Gru¨nde dafu¨r, warum die Bescha¨ftigten ihren Wohnort ha¨ufig in der Na¨he des Arbeitsortes suchen.73 Am Beispiel der Arbeitskra¨fte la¨sst sich auch besonders eindru¨cklich die Bedeutung von kontextabha¨ngigem Wissen veranschaulichen. Da es innerhalb der Branche, noch immer an standardisierten Qualifikationsprofilen – zum Beispiel durch entsprechende Aus- oder Weiterbildungen – mangelt, ist die Beurteilung von potenziellen

pean cities – Urban development between path dependency and radical innovation, in: European Urban and Regional Studies 14, 3 (2007), S. 195–209. 69 Vgl. Pavlik, Content and Economics in the Multimedia Industry (wie Anm. 51), S. 91. 70 Philip Cooke/Gwawr Hughes, Creating a Multimedia Cluster in Cardiff Bay, in: Multimedia and Regional Economic Restructuring, hg. v. Braczyk/Fuchs/Wolf (wie Anm. 49), S. 252–268, hier S. 257f. 71 Rosemary Batt/Susan Christopherson/Ned Rightor/Danielle Van Jarsveeld, Networking – Work Patterns and Workforce Policies for the New Media Industry, Washington 2001, S. 45. 72 David Neumark/Deborah Reed, Employment relationships in the new economy, in: Labour Economics. An International Journal 11, 1 (2004), S. 1–31. 73 Vgl. Krafft, Entwicklung ra¨umlicher Cluster (wie Anm. 54), S. 255f. u. 317; La¨pple/Walter, Im Stadtteil arbeiten (wie Anm. 56), S. 30–32.

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Arbeitskra¨ften oftmals abha¨ngig von speziellen Kenntnissen u¨ber die lokalen Gegebenheiten und den Arbeitsmarkt vor Ort. Diese Problematik war vor allem wa¨hrend des Booms um das Jahr 2000 besonders ausgepra¨gt, besteht aber grundsa¨tzlich noch immer. Bei der Einstellung von Arbeitskra¨ften spielen daher informelle Netzwerke innerhalb des lokalen Kontexts eine bedeutende Rolle, wie beispielsweise Rosemary Batt und Lutz Krafft gezeigt haben.74 Dabei war auch die Abwerbung von anderen Unternehmen der Branche im selben lokalen Cluster eine wichtige Quelle bei der Rekrutierung von Mitarbeitern mit den gesuchten Qualifikationsprofilen. Die Bedeutung unmittelbarer, an konkrete Orte gebundener und auch auf informellen Kontakten beruhender Kommunikationsnetze, die den Zugang zu situativem, kontextabha¨ngigem Wissen ermo¨glichen, beschra¨nkt sich aber nicht auf den Prozess der Einstellung neuer Mitarbeiter. Auch bei der Finanzierung von Projekten, der (Weiter-)Entwicklung von Produkten und Problemlo¨sungen fu¨r ein breites Spektrum von Branchen sowie dem Technologietransfer sind intensive Kontakte und Diskussionsprozesse von großer Bedeutung.75 Wie Pratt in seiner Studie zu den Neuen Medien in San Francisco gezeigt hat, betrifft dies unter Umsta¨nden auch die Suche nach Finanzierungsmo¨glichkeiten fu¨r neue Projekte: Venture capital companies commonly organize ‚parties‘ to attract new companies with ideas and to match them with people who have money. At such events entrepreneurs ‚pitch‘ their ideas to investors. The social relations of the ‚pitch‘ are crucial. Pitches are not made online, they take place as a face-to-face, interpersonal interaction.76 Zwar lassen sich die Engmaschigkeit und der Nutzen der Netzwerkverbindungen im Kontext der Standortwahl nur schwer operationalisieren, ihr Einfluss auf den Erfolg von Unternehmen ist jedoch unbestritten.77 Auch die Verantwortlichen in den Sta¨dten selbst haben diese Potenziale erkannt und betonen, dass die urbanen „innovativen Milieus“ Bedingungen bieten, die gegenseitigen Austausch, Kreativita¨t und Innovationen begu¨nstigen. Daru¨ber hinaus wird gezielt die Bildung ra¨umlicher Cluster von Einrichtungen und Unternehmen der Neuen Medien unterstu¨tzt, um Kooperationen zu erleichtern und damit funktionale Netzwerke zu entwickeln. Die Fo¨rderung dieser Entwicklung ist ein wesentliches Motiv bei der Einrichtung von Medien- und Technologieparks oder -quartieren wie 74 Batt u. a., Networking (wie Anm. 71), S. 21; Krafft, Entwicklung ra¨umlicher Cluster (wie Anm. 54),

S. 375–384.

75 Auf der Ebene von Regional- bzw. Volkswirtschaften wird die Wirkung von informellen Netzwerken

zwischen Unternehmen oft unter dem Begriff „Spillovers“ betrachtet. Im engeren Sinn wird der Terminus dabei nur auf wissenschaftliches Know-how und technologisches Wissen bezogen. Vgl. Stefano Breschi/Francesco Lissoni, Knowledge Spillovers and Local Innovation Systems: A Critical Survey, in: Industrial and Corporate Change 10, 4 (2001), S. 975–1005; Dietmar Harhoff, Firm Formation and Regional Spillovers – Evidence from Germany, in: Economics of Innovation and New Technology 8 (1999), S. 27–55, hier S. 27. 76 Andy C. Pratt, Hot jobs in cool places. The material cultures of new media product spaces: The case of South of the Market, San Francisco, in: Information, Communication & Society 5, 1 (2002), S. 27–50, hier S. 43. 77 Vgl. Michael Reiss/Evelyn Rudorf, Unternehmensgru¨ndung in Netzwerken, in: Existenzgru¨ndung und Unternehmertum, hg. v. Lutz v. Rosenstiel/Thomas Lang-von Wins, Stuttgart 1999, S. 129–156, hier S. 131f.; Krafft, Entwicklung ra¨umlicher Cluster (wie Anm. 54), S. 49f. und S. 408–411.

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beispielsweise dem Alten Schlachthof und der „Media City“ in Leipzig, den MediaWorks Munich, der Hafencity Hamburg oder dem Medienhafen Du¨sseldorf. In einigen Fa¨llen wird dabei auch der Versuch unternommen, gezielt Unternehmen der „alten“ und der „neuen“ Medien an einem Standort zusammenzufu¨hren, um dadurch entstehende kreative Potenziale zu fo¨rdern.78 Hinzu tritt noch ein weiterer Faktor, der damit zusammenha¨ngt, dass Interneto¨ffentlichkeit und physischer Raum miteinander in Beziehung treten ko¨nnen. Grund¨ ffentlichkeit, die sich sa¨tzlich gibt es die Unterscheidung zwischen einer urbanen O ausschließlich im physischen Raum verorten la¨sst, und der Medieno¨ffentlichkeit, die u¨ber Massenmedien konstituiert wird.79 Das Internet stellt eine Art „Zwischeno¨ffentlichkeit“ her, die von jedem Bu¨rger mitgestaltet werden kann. Ein typisches Beispiel fu¨r solche o¨ffentlichen Ra¨ume im Internet sind Foren und Blogs. Hier werden Informationen zu Orten und Ereignissen vero¨ffentlicht und es wird u¨ber diese reflektiert. Der sta¨dtische Leser hat die Mo¨glichkeit, diese Informationen zu rezipieren und bei seinen Aktivita¨ten im physischen Raum zu nutzen.80 Fu¨r Unternehmen der Informations- und Kommunikationswirtschaft ist die Netzo¨ffentlichkeit gleich in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum Einen treten sie auf diesem Weg mit ihren Kunden in Kontakt (lokale Plattformen). Zum Anderen findet auch der Austausch von Wissen u¨ber Blogs ganz entscheidend in einem lokalen Kontext statt. So hat eine ju¨ngere Untersuchung u¨ber die Nutzung professioneller Blogs ergeben, dass sich deren Nutzer meist erwartungsgema¨ß in inhaltliche, aber auch in lokal-ra¨umliche Cluster einteilen lassen.81 Hierbei sind oft die perso¨nliche Bekanntschaft oder zumindest eine starke Verbindung der Kommunikationspartner u¨ber elektronische Kommunikationsmittel ausschlaggebend. Insgesamt lassen sich aus den vorhandenen Studien zu Effekten der Durchsetzung des Internets und der Informations- und Kommunikationswirtschaft die folgenden Schlussfolgerungen ableiten: (1) Unternehmen der New Economy bevorzugen tendenziell Großsta¨dte und hier insbesondere innersta¨dtische Standorte. Zumindest ein Standort in der Na¨he einer Großstadt bzw. eines Ballungsraums spielt fast ausnahmslos eine wichtige Rolle. Gerade die gro¨ßere Freiheit bei der Standortwahl fu¨hrt letztendlich zu 78 Vgl. Floeting, Mediensta¨dte (wie Anm. 54), S. 202–205 u. 227–240; außerdem Joachim Thiel/Dieter

La¨pple/Andrea Soyka/Henrik Stohr, Raum-Zeit-Politik als Stimulation von Stadtgesellschaft. Das Realexperiment in der Hamburger HafenCity, in: Zeiten und Ra¨ume der Stadt. Theorie und Praxis, hg. v. Dieter La¨pple/Ulrich Mu¨ckenberger/Ju¨rgen Ossenbru¨gge, Opladen/ Farmington Hills 2010, S. 131–158. 79 Vgl. hierzu unter anderem die Ausfu¨hrungen von Mathias Schreiber, Die Stadt als Medium, in: Die Welt der Stadt, hg. v. Tilo Schabert, Mu¨nchen 1991, S. 145–165. 80 Eine Liste lokal verorteter Blogs fand sich bis 2006 unter: Blogplan. Ra¨umliche Verortung von Blogs in Deutschlands gro¨ßten Sta¨dten. (letzter Zugriff: 21. September 2011). Mittlerweile wird die Seite nicht mehr gepflegt und auch der Zugriff auf die Stadtpla¨ne scheint nicht mehr mo¨glich zu sein. 81 Jan Schmidt, Blogging practices in the german-speaking blogosphere. Empirical findings from the ‚„Wie ich blogge?!“-survey‘, Nr. 07–02, Bamberg 2007. (letzter Zugriff: 21. September 2011).

Die Stadt im Zeitalter der vernetzten Kommunikation

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einer Konzentration auf wenige Standorte, sowohl auf der Ebene einzelner Sta¨dte als auch auf nationaler Ebene. (2) Fu¨r die Unternehmen unverzichtbare technische Infrastrukturen, insbesondere die Knotenpunkte der Hochgeschwindigkeitsnetze, finden sich bevorzugt in Großsta¨dten. Entscheidend fu¨r deren Entstehen und Fortentwicklung sind – vor ¨ berwindung der „letzten Meile“ – auch private Investitionen. allem zur U (3) Die Arbeitszeiten in der Branche sind flexibel und – im Vergleich zu anderen Bereichen der Wirtschaft – relativ lang. Hier bieten urbane Ra¨ume aufgrund ihrer dichten und flexibel nutzbaren Infrastruktur Vorteile. Bei der Wahl des Wohnortes werden dementsprechend ha¨ufig Gebiete in der Na¨he des Arbeitsortes bevorzugt. (4) Auch in der Branche der Neuen Medien sind Face-to-face-Kommunikation und mu¨ndliche, o¨rtlich gebundene Kommunikationsnetze unverzichtbar. Sowohl bei der Arbeitsvermittlung als auch bei der Durchfu¨hrung von Projekten spielen informelle Kontakte eine wichtige Rolle.

4. Thesenhafte Zusammenfassung und Ausblick

Zusammenfassend la¨sst sich zu den komplexen Beziehungen zwischen Informationsund Kommunikationstechnologien und sta¨dtischen Arbeits- und Lebenswelten folgendes Fazit festhalten: (1) Zuna¨chst kann konstatiert werden, dass auch im Zeitalter des Internets von einer Aufhebung des physischen Raumes durch Informations- und Telekommunikationstechnologien nicht die Rede sein kann. Denn Zugangs- und Nutzungsmo¨glichkeiten dieser Technologien sind aufgrund infrastruktureller, aber auch soziodemografischer und kultureller Unterschiede ho¨chst ungleich verteilt (digital divide). Dies betrifft sowohl die globale als auch die nationale und sta¨dtische Ebene. (2) Auch wenn das Aufsehen erregende Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 fu¨r zahlreiche Unternehmen der New Economy den Ruin bedeutete, ist die Branche nach wie vor ein wichtiger Teil der urbanen – insbesondere großsta¨dtischen – ¨ konomie. Innerhalb der Sta¨dte konzentrieren sich die Standorte der UnterO nehmen meist auf bestimmte Stadtteile, wobei unterschiedliche Einflussfaktoren, unter anderem auch Pfadabha¨ngigkeiten, eine Rolle spielen ko¨nnen. Am Beispiel der Branche der Neuen Medien la¨sst sich damit sehr deutlich veranschaulichen, ¨ konomien/Creative Indusdass urbane Standorte gerade fu¨r wissensbasierte O tries eine zentrale Rolle spielen und dass zahlreiche Wechselwirkungen zwischen dem urbanen Raum und dem virtuellem Raum der Informations- und Kommunikationstechnologien bestehen. (3) Auch im Zeitalter der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien kann von einer Aufhebung des physischen Raumes nicht die Rede sein. Vielmehr

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Martin Schreiber

erga¨nzen sich die Potenziale, welche die Neuen Medien einerseits und ra¨umliche Na¨he sowie perso¨nliche Face-to-face-Kommunikation andererseits bieten. La¨sst das unmittelbare, an konkrete Orte gebundene Kommunikationsnetz einen spontanen Austausch von Information zu, so ero¨ffnet das Internet Mo¨glichkeiten zum Zugang zu und zur Speicherung von kodifiziertem, standardisierten Wissen jenseits physischer Orte. Insgesamt zeigt sich, dass der Einfluss der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien weitreichende Vera¨nderungen fu¨r die Sta¨dte mit sich bringt. Da Informations- und Kommunikationstechnologien als Querschnittstechnologien in nahezu alle Bereiche des ta¨glichen Lebens eingreifen, sind – wie gezeigt wurde – auch deren Wirkungen im sta¨dtischen Kontext sehr vielschichtig. Zwar vollziehen sich viele Vera¨nderungen langfristig und sind daher besonders als ra¨umliche Vera¨nderungen erst spa¨t oder nur schwer ablesbar. Dies bedeutet aber nicht, dass die Sta¨dte von den Vera¨nderungen unberu¨hrt bleiben, womit sich auch neue Problemstellungen fu¨r die Stadtentwicklungspolitik ergeben.

AUTOREN UND KURZVITEN

Nicole Huber, Architektin und Ingenieurin, Associate Professor with Tenure fu¨r Architektur an der University of Washington; Dissertation u¨ber „Die Architektur der Sachlichkeit: Nationalita¨t, Visualita¨t und Moderne (1880–1919)“, im Erscheinen. – Forschungsschwerpunkte: Visuelle und architektonische Konzepte im Kontext von Deutschem Werkbund und Bauhaus; Architektur- und Designtheorie; Architektur- und Mediengeschichte seit 1880. – Publikationen in Auswahl: Center or Nexus: Berlin’s „New“ Politics of Belonging, in: Journal of Urban History 32 (2005); (mit Ralph Stern), Die Urbanisierung der Mojave-Wu¨ste: Las Vegas= Urbanizing the Mojave Desert: Las Vegas, Berlin 2008; Tracing Transdisciplinarity, in: Bauhaus and the City, Wu¨rzburg 2011. Carla Meyer, wiss. Mitarbeiterin am SFB 933, Teilprojekt A 6 „Die papierene Umwa¨lzung im spa¨tmittelalterlichen Europa“, Universita¨t Heidelberg. Dissertation u¨ber: „Die Stadt als Thema. Nu¨rnbergs Entdeckung in Texten um 1500“, Ostfildern 2009. – Forschungsschwerpunkte: Spa¨tmittelalterliche Stadtgeschichte; Historiographiegeschichte, kollektive Identita¨ten; vergleichende Landesgeschichte. – Publikationen in Auswahl: (Hg. mit Christoph Dartmann) Identita¨t und Krise?, Mu¨nster 2007; (Hg. u. a.) Der Codex Manesse und die Entdeckung der Liebe, Heidelberg 2010; (Hg. mit Katja Patzel-Mattern/Gerrit J. Schenk), Krisengeschichte(n), im Erscheinen. Katrin Minner, Dr. phil., Referendarin fu¨r den ho¨heren Archivdienst beim Landesarchiv Nordrhein-Westfalen; bis 2011 Lehrkraft fu¨r besondere Aufgaben an der WWU Mu¨nster: Koordination der Schnittstelle Geschichte und Beruf. Dissertation u¨ber: „Was bleibt von der Stadt der Bu¨rger? Stadtbilder in den Stadtjubila¨en der Region Sachsen-Anhalt zwischen Kaiserreich und ‚Drittem Reich‘“, Halle 2010. – Forschungsschwerpunkte: Sta¨dtische Selbstdarstellungen (Stadtjubila¨en, Stadtwerbefilme), Stadt- und Bu¨rgertumsgeschichte. – Publikationen in Auswahl: Erinnerung und Modernita¨t. Westfa¨lische Ortsjubila¨en im Dritten Reich, Mu¨nster 1999; (Hg. mit Werner Freitag), Vergnu¨gen und Inszenierung. Stationen sta¨dtischer Festkultur in Halle, Halle 2004; (Hg. mit Werner Freitag), Geschichte der Stadt Halle, Halle 2006.

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Autoren und Kurzviten

Jo¨rg Requate, Privatdozent, Fakulta¨t fu¨r Geschichtswissenschaft, Theologie und Philosophie, Universita¨t Bielefeld. Dissertation u¨ber: „Journalismus als Beruf. Die Entstehung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich“, Go¨ttingen 1995; Habilitationsschrift u¨ber: „Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz“, Frankfurt a. M. 2008. – Forschungsschwerpunkte: Mediengeschichte, Sozialgeschichte Westeuropas in der Moderne. – Publikationen in Auswahl: (Hg.), Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft. Zur Wechselwirkung medialer und gesellschaftlicher Vera¨nderungen in Deutschland und Frankreich, Mu¨nchen 2009; (Hg. u. a.), Unterwegs in Europa, Frankfurt a. M. 2008. Rolf Sachsse, Prof. fu¨r Designgeschichte und Designtheorie, Hochschule der Bildenden Ku¨nste Saar, Saarbru¨cken. Dissertation u¨ber: „Photographie als Medium der Architekturinterpretation“, Mu¨nchen 1984. – Forschungsschwerpunkte: Photographiegeschichte, Designgeschichte und -theorie, allgemeine Mediengeschichte, Architekturtheorie. – Publikationen in Auswahl: Bild und Bau (Bauwelt Fundamente 113), Braunschweig u. a. 1997; (Hg. u. a.), Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870–1970, Ko¨ln 1997; Erziehung zum Wegsehen: Fotografie im NS-Staat, Dresden 2003; Raumbilder Bildra¨ume. Architekten fotografieren, Mu¨nchen u. a. 2009; (Hg. mit Peter v. Matt), Melchior Imboden, Innerschweizer Gesichter, Sulgen 2011. Adelheid von Saldern, bis 2004 Prof. fu¨r Neuere Geschichte an der Leibniz Universita¨t Hannover; zeitweise Gastprof. an verschiedenen amerikanischen Universita¨ten. Promotion u¨ber: „Hermann Dietrich: Ein Staatsmann der Weimarer Republik“, Boppard 1966; Habilitationsschrift u¨ber: „Vom Einwohner zum Bu¨rger. Zur Emanzipation der sta¨dtischen Unterschicht Go¨ttingens 1890–1920“, Berlin 1973. – Publikationen in Auswahl: (mit Inge Marszolek), Mediale Durchdringung des deutschen Alltags. Radio in drei politischen Systemen (1930er bis 1960er Jahre), in: Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, hg. v. Ute Daniel/Axel Schildt, Ko¨ln u. a. 2010, S. 84–120; Abwehr, Steuerung, Gestaltung. Medien und Politik in der Weimarer Republik, in: Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen?, hg. v. Klaus Arnold u. a., Leipzig 2010, S. 417–439. Zahlreiche Vero¨ffentlichungen zur Sozial- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkten in der Stadt- und Mediengeschichte. Axel Schildt, Univ.-Prof. an der Universita¨t Hamburg, Direktor der Forschungsstelle fu¨r Zeitgeschichte in Hamburg; Dissertation: „Milita¨rdiktatur mit Massenbasis? Die Querfrontkonzeption der Reichswehrfu¨hrung um General Kurt von Schleicher am Ende der Weimarer Republik“, Frankfurt a. M. u. a. 1981; Habilitationsschrift u¨ber: „Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ‚Zeitgeist‘ in der Bundesrepublik der 50er Jahre“ (Hamburger Beitra¨ge zur Sozial- und Zeitgeschichte 31), Hamburg 1995.

Autoren und Kurzviten

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– Forschungsschwerpunkte: Intellectual History und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts; Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik. – Publikationen in Auswahl: Die Grindelhochha¨user. Eine Sozialgeschichte der ersten deutschen Wohnhochhausanlage Hamburg-Grindelberg 1945–1956, Hamburg 1988, akt. NA 2007; Zwischen Abendland und Amerika, Mu¨nchen 1999; Ankunft im Westen, Frankfurt a. M. 1999. Zahlreiche Vero¨ffentlichungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ute Schneider, apl. Prof. am Institut fu¨r Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universita¨t Mainz. Dissertation u¨ber „Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik“, Wiesbaden 1995; Habilitationsschrift u¨ber: „Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag“, Go¨ttingen 2005. – Forschungsschwerpunkte: Geschichte und aktuelle Entwicklungen des wissenschaftlichen Verlagswesens; Elektronisches Publizieren: Karl Gutzkow Werkausgabe im Internet – Neuprofilierung eines Autors (); Buchmarkt, Verlagsgeschichte und Leserschaften vom 18. bis ins 21. Jahrhundert. – Publikationen in Auswahl: (Hg.), Imprimatur. Ein Jahrbuch fu¨r Bu¨cherfreunde 2001ff.; (mit Volker R. Remmert), Eine Disziplin und ihre Verleger, Bielefeld 2010. Anna Schober, Dr. habil. am Institut fu¨r Zeitgeschichte der Universita¨t Wien; derzeit Mercator Gastprofessorin (finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft) am Institut fu¨r Soziologie der Universita¨t Gießen; Dissertation u¨ber: „Blue Jeans. Vom Leben in Stoffen und Bildern“, Frankfurt a. M. u. a. 2001; Habilitationsschrift: ¨ sthetische Taktiken und die politische Gestalt der „Ironie, Montage, Verfremdung. A Demokratie“, Mu¨nchen 2009. – Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaften und -geschichte, Geschichte des Politischen, Filmwissenschaften, Performativita¨t, historische Anthropologie, Gender Studies. – Publikationen in Auswahl: The Cinema Makers. Public life and the exhibition of difference in Southeast and Western Europe since the 1960s, im Erscheinen; (Hg.), ¨ sthetik des Politischen (O ¨ sterreichische Zeitschrift fu¨r Geschichtswissenschaften A 3 [2004]); (mit Alice Pechriggl), Hegemonie und die Kraft der Bilder, im Erscheinen. Martin Schreiber, Dipl.-Kulturwiss., Informatiker; wiss. Mitarbeiter beim Historischen Institut der Universita¨t des Saarlandes. – Forschungsschwerpunkte: Digitalita¨t in technik- und medienhistorischer Perspektive; Kommunikationsmedien; Historiographie. – Publikationen in Auswahl: Graphbasiertes Record Linkage. Grundlagen, Methoden und Anwendungen im Bereich bibliografischer Daten, Saarbru¨cken 2008; Der Geda¨chtnis-Super-Sekreta¨r. Vannevar Bush und die Technikutopie Memex, in: Recherche 3 (2008); Internetnutzung in der la¨ndlichen Gesellschaft, in: Zeitschrift fu¨r Agrarsoziologie und Agrargeschichte 58, 2 (2010).

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Autoren und Kurzviten

Clemens Zimmermann, Univ.-Prof. fu¨r Kultur- und Mediengeschichte, Universita¨t des Saarlandes. Dissertation u¨ber: „Reformen in der ba¨uerlichen Gesellschaft“, Ostfildern 1983; Habilitationsschrift u¨ber: „Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik“, Go¨ttingen 1991. – Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Mediengeschichte von Stadt und Land, Geschichte der Sozial-, Agrar- und Kulturpolitik. – Publikationen in Auswahl: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt a. M. 1996, 2000, 2004; Medien im Nationalsozialismus. Deutschland 1933–1945, Italien 1922–1943, Spanien 1936–1951, Wien u. a. 2007; (Hg. mit Martina Heßler), Creative Urban Milieus. Historical Perspectives on Culture, Economy, and the City, Frankfurt a. M. u. a. 2008; (Hg. u. a.), Medienlandschaft Saar von 1945 bis zur Gegenwart, 3 Bde., Mu¨nchen 2010.

INDEX DER ORTS- UND PERSONENNAMEN

Aachen 261 Aitzing, Michael v. 74 Alexander III. d. Gr., Kg. v. Makedonien 23 Altena 202, 215 Amman, Jost 72, 73 Amsterdam 62, 65, 237 Ancona 39 Andersch, Alfred 252 Annan, Thomas 132 Anselm, Valerius 32 Anshelm, Thomas 68 Antwerpen 9, 26, 56–65, 67, 68, 70, 73, 75, 76 Arezzo 37 Artus, myth. Kg. v. Britannien 23 Atget, Euge`ne 132 Aubry, Johannes 73 Augsburg 8, 25, 38, 46, 52, 54, 57, 63, 69, 80, 125 Augstein, Rudolf 255, 256 Aust, Stefan 256 Bachem, Albert 93 Baden-Baden 252 Bamberg 37 Basel 69, 74 Basse´(e), Nicolas 71, 73 Beham, Hans Sebald 71, 73 Belgrad 244, 245 Beller, Johann 68 Bennigsen, Rudolf v. 84 Berg, Max 147 Bergen op Zoom 65 Berlin 7, 8, 16, 79–82, 86–92, 94–96, 98–101, 124, 147, 153–196, 223, 229, 233–236, 245, 251, 252, 262 Britz 145 Neuko¨lln 147 Bern 32 Besanc¸on 57 Bielefeld 203, 204, 215 Bill, John 69 Birckmann, Franz 59 Blaubeuren 51 Bloch, Ernst 148

Blomberg 215 Blumenthal, Oskar 102 Bo¨hm, Dominikus 138 Borrmann, Erich 212 Braunschweig 99 Bredow, Hans 101, 104, 116 Bremen 84, 99, 109, 252, 261 Breslau 80, 86, 87, 99, 147 ¨ . 64 Bruegel, Pieter d. A Bru¨gge 65 Bru¨ssel 26, 63, 133, 134 Bry, Johann Israel de 73 Bry, Johann Theodor de 73 Bry, Theodor de 73 Bucerius, Gerd 255, 257 Bun˜uel, Louis 240 Caesar, C. Iulius, ro¨m. Dictator 23 ¨ . 68, 70 Caimox, Cornelius d. A Caimox, Rupprecht 68 Cairncross, Frances 265 Cameron, James 243 Cannes 245 Castle, William 233 Celtis, Conrad 46–48 Chemnitz 100 Chiaureli, Mikheil 236 Clypius, Cornelius 68 Cock, Hieronymus 63, 70, 75 Coppola, Sofia 238 Coryate, Thomas 69 Daguerre, Louis Jacques Mande´ 131 Dahlmann, Friedrich Christoph 83 Danzig 99 Darre´, Richard Walther 109 David, Kg. v. Juda u. Israel 23 De Jode, Gerard 64 Detmold 215 Diesel, Eugen 137, 145, 148, 150 Dilher, Anton 68 Do¨blin, Alfred 119, 225 Do¨nhoff, Marion Gra¨fin 257 Dortmund 197, 199–211, 213, 215

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Index der Orts- und Personennamen

Dransfeld, Gebr. 148, 149 Dresden 82, 88, 99, 228 Drobisch, Theodor 82 Du¨rer, Agnes 70 Du¨rer, Albrecht 19, 20, 38, 46, 55, 56, 58, 70 Du¨rre, Konrad 106 Du¨sseldorf 8, 155, 162, 196, 261, 284 Egen, Peter 39 Egenolff, Christian 71 Ehrke, Hans 123 Eich, Gu¨nter 110 Eichendorff, Joseph v. 110 Eichenholtz, Ehrenreich 84 Eisenach 26 Eisenstein, Sergei 235 Elmshorn 261 Eltville am Rhein 51 Enderling, Paul 105 Erasmus v. Rotterdam 59 Espelkamp-Mittwald 202, 215 Esslingen 51 Estienne, Henri 70, 74 Fassbinder, Rainer Werner 225, 234, 237, 240, 242 Faust, Peter Paul 93 Ferdl siehe Weiß Ferdl Fest, Joachim C. 256 Feyerabend, Sigmund 71–73, 75 Fischer, Sebald 58 Flach, Johannes 92 Flensburg 109 Flesch, Hans 103 Florenz 43, 57 Frankenberg 26 Frankfurt a. M. 9, 46, 54, 57, 61, 63–76, 80, 84, 99, 145, 146, 242, 252, 261, 262 Freiburg i. Br. 46 Fricker, Thu¨ring 32 Friedrich II., Ks. 65 Galle, Philipp 64 Garrone, Matteo 238 Geest, Cornelius van der 64 Gelsenkirchen 201, 215 Genf 237 Gent 62, 65 Genua 25, 40, 57 Gervinus, Gottfried 83 Glasgow 132 Glasmeier, Hans 119 Glaßbrenner, Adolf 81 Goebbels, Joseph 102, 109, 110, 120, 142 Go¨rlitz 99

Gottfried v. Bouillon, Herrscher d. Kgr. Jerusalem 23 Gouda 62 Graz 242 Gremliza, Hermann L. 256 Griffith, David W. 230, 232 Gropius, Walter 135, 137, 154, 156, 160, 161, 165, 166, 169, 175, 179, 185, 189, 194, 195 Grothe, Franz 113 Gutenberg, Johannes 29, 51, 53, 66 Gymnich, Engelbert 59 Hadamar 71 Haentzschel, Georg 113 Hagen 201, 203, 215 Hagenau 68 Hamburg 1, 8, 11, 54, 65, 80, 99, 100, 148, 249–263, 277, 279, 280, 284 Ahrensburg 261 Altona 92, 132 Bergedorf 261 Harburg 261 Lokstedt 257 Hannover 83, 84, 99, 109, 261 Heidelberg 74 Heilsberg 100 Hein, Wilhelm 240 Hektor, S. v. Kg. Priamos v. Troja 23 Hermann, Conrad 88 Hersel, Carola 102 Herzfeld, Friedrich 110 Herzogenbusch 26 Himmler, Heinrich 109 Hindenburg/Oberschlesien siehe Zabrze Hitler, Adolf 20, 126, 142, 234, 257 Ho¨ger, Fritz 148, 149 Ho¨rl, Ottmar 19 Hoffmann, Josef 133, 134 Holzmeister, Clemens 138 Hongkong 237 Humboldt, Alexander v. 131 Hurch, Hans 222 Innsbruck 63 Istanbul 131, 225 Ivan III., Gft. v. Moskau 42 Jerusalem 37 Johannes v. Soest 27 Joseph, Karl 83 Josua, Fu¨hrer des Volkes Israel 23 Judas Makkaba¨us 23 Ju¨rgens, Curd 259 Ju¨rgens, Udo 259 Justinger, Konrad 32

Index der Orts- und Personennamen Kaiserslautern 99 Kapeller, Ludwig 97, 104, 109, 117 Karl I. d. Gr., Ks. 23, 24, 65 Karlovy Vary (Karlsbad) 245 Kasack, Hermann 119 Kaskeline, Heinz 204 Kassel 101 Kassovitz, Mathieu 238 Katzheimer, Lorenz 37 Kepes, Gyo¨rgy 175, 185, 186, 189, 190, 194 Keuning, Dietrich 208 Kiel 83, 99, 109 Kleist, Heinrich v. 86 Kleve 138 Knokke 245 Ko¨ln 8, 37, 41, 52, 53, 56, 59–61, 63, 65, 70, 74, 80, 82, 89, 92, 93, 99, 137, 139–141, 145, 252, 261 Ko¨nigsberg 99, 101 Ko¨ster, Arthur 148 Konstanz 62 Kreis, Wilhelm 136 Ku¨chling, Hermann 93 Landshut 26 Le Corbusier (eigentlich Charles-E´douard Jeanneret-Gris) 142 Leeu, Gerard 62 Leipzig 8, 12, 65, 74, 93, 99, 100, 279, 284 Lemgo 215 Lenz, Siegfried 252 Lerebours, Noe¨l Marie 132 Leuven 59 Liefrinck, Hans 64 Lille 65 Limburg 65 Lissabon 57 Loe¨, Hans v. 68 London 7, 49, 53, 57, 69, 132, 272 Lorenzetti, Ambrogio 39 Los Angeles 281 Lossen, Otto 142, 144 Lu¨denscheid 201–203, 215 Lu¨dinghausen 215 Luzern 40 Lyon 8, 57, 65 Maastricht 65 Magdeburg 51 Magnus, Kurt 101 Mailand 39, 57, 63 Mainz 71, 74 Makavejev, Dusˇan 235–237 Mander, Karl van 58 Mannheim 245 Manutius, Aldus 60

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Marburg 71 Marne, Claude de 73 Mathy, Karl 83 Mattuschka, Mara 222 May, Ernst 146 McKechneay, Maya 221 McLuhan, Marshall 29, 194, 265 Mechelen 131 Meinhof, Ulrike 256 Meisterlin, Sigismund 38, 46 Melanchthon, Philipp 68 Mendelsohn, Erich 142, 148 Merian, Mattha¨us 73, 75 Mies van der Rohe, Ludwig 156–159, 161, 164, 170, 180–182, 188, 195 Minck, Bady 240, 241 Mitchell, William 267 Moholy-Nagy, La´szlo´ 156, 160, 161, 169, 170, 172, 175, 179, 180, 187, 188, 191, 194 Moretus, Johannes 68 Morus, Thomas 59 Moskau 42 Mu¨hlacker 100 Mu¨hr, Alfred 107 Mu¨ller-Wulckow, Walter 135, 148 Mu¨nchen 8, 26, 99, 125, 147, 252, 261, 277, 279, 280, 284 Mu¨nster i. W. 215 Muthesius, Hermann 135 Nairobi 225 Nannen, Henri 255 Neapel 232, 238, 242 Neu-Ulm 138 New York 222, 231, 232, 237, 242, 276, 281 Nicklich, Hans 120 Nicolai, Friedrich 82 Norderney 138 Novgorod 42, 43 Nu¨rnberg 15, 19, 22–25, 37, 38, 46, 47, 52, 54, 57, 58, 69, 72, 99, 125, 261 Nutius, Martin 68 Nutius, Philipp 68 Oberhausen 245 Ortelius, Abraham 62, 63 Osnabru¨ck 215 Osthaus, Karl Ernst 133 Otto, Karl 161, 163–165, 173, 175, 182, 184, 185, 189 Oud, J. J. P. 142 Paczensky, Gert v. 256 Papen, Franz v. 122 Paris 1, 4, 7, 53, 59, 62, 65, 73, 132 Paul, Bruno 140, 141

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Index der Orts- und Personennamen

Pawley, Martin 268 Petschow, Robert 137, 145, 147, 148, 150 Philipp II., Kg. v. Spanien 60 Pinneberg 261 Pisa 25, 40 Plantin, Christoph 60, 61, 63, 64, 68, 75 Pleydenwurff, Wilhelm 36 Poelzig, Hans 99 Potsdam-Babelsberg 8 Praunheim, Rosa v. (Holger Mischwitzky) 237 Rapheleng, Franz 68 Recklinghausen 201, 203, 204, 209, 210, 213, 215, 216 Regensburg 24 Reggio Emilia 41 Reicher, Isabella 222 Reichert, Willi 124 Renger-Patzsch, Albert 169 Reuchlin, Johannes 68 Richart, Johann 68 Riga 101 Ro¨hl, Klaus Rainer 256 Ro¨tzer, Florian 268 Roland, Paladin Karls d. Gr. 24 Rom 57, 63, 232 Rosenberg, Alfred 109 Rossellini, Roberto 233, 234, 237 Rostock 46, 121 Rotteck, Karl v. 83 Rotterdam 245 Rudolf v. Erlach 32 Ru¨ckwardt, Hermann 133 Ruttmann, Walter 102 Saarbru¨cken 88, 99, 252 Sachs, Hans 20 Salzburg 26, 99 Samtlebe, Guenter 213 San Francisco 8 San Gimignano 37 Sassen, Saskia 1, 268 Schackmann, Eugen 197, 198, 205, 207 Schaefer, Philip 147 Scha¨ufelin, Hans 73 Schedel, Hartmann 36 Schickert, Peter 212 Schilling, Diebold 32 Schlawe 101 Schmo¨lz, Hugo sen. 134, 137–139, 141, 145 Schmo¨lz, Karl-Hugo 139, 140 Schnabel, Ernst 252 Scho¨ffer, Peter 66 Schwarz, Rudolf 145 Seeler, Uwe 259 Sempach 40 Shanghai 6

Sheeler, Charles 231 Siena 39 Simon, Alfred 123 Soest 200, 203, 207, 215 Sommer, Theo 257 Speer, Albert 140 Spielhagen, Friedrich 83 Spilmann, Gerhart 68 Springorum, Dietrich 207 Stapelfeldt, Kurt 120–122 Steels, Johann 68 Steltzius, Franciscus 68 Stockholm 51 Stolze, Diether 257 Stormarn 261 Strand, Paul 231 Straßburg 54, 69–71, 73, 74 Strauß, Franz Josef 257 Stuttgart 16, 99, 142–145, 153–196, 252, 261 Sylvius, Wilhelm 68 Taddeo di Bartolo 37 Talbot, William Henry Fox 131 Tecklenburg 215 Thomson, John 132 Timm, Willi 208 Todosijevi´c, Rasˇa 244 Toffler, Alvin 267 Tournai 65 Trier 41 Tucher, Hans 37 Turin 222 Unna 201, 203, 208, 209, 211–213, 215 Valenciennes 65, 73 Venedig 8, 12, 43, 49, 52, 56, 57, 59, 62, 63, 69, 70, 245 Vorsterman, Willem 62 Wagenfeld, Karl 108, 122 Weber, Martin 146 Wechel, Andreas 73 Weinauge, Willy 206, 207 Weiß Ferdl (eigentlich Ferdinand Weisheitinger) 124 Wenders, Wim 229 Werner, Hermann 212 Wiegand, Wilfried 240 Wien 220–222, 240–242, 245 Willer, Georg 74 Wilms, Elisabeth 201, 202, 204–206, 209, 211 Wirth, Johann Georg August 83 Wittenberg 51, 52, 54, 61 Ypern 62 Zabrze (Hindenburg/Oberschlesien) 138

Städteforschung

Band 80:   Wilfried Ehbrecht (Hg.)

Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster

Städteatlanten

Herausgegeben von W. Freitag in Verbindung mit U. Braasch-Schwersmann, W. Ehbrecht, H. Heineberg, P. Johanek, M. Kintzinger, A. Lampen, R.-E. Mohrmann, E. Mühle, F. Opll und H. Schilling Reihe A: Darstellungen

Eine Auswahl.

Vier Jahrzehnte Atlasarbeit in Europa

2012. Ca. 224 S. Mit zahlr. s/w-Abb. u. Kart. Gb. ISBN 978-3-412-20631-4

Band 81:   Eduard Mühle (Hg.) Rechtsstadtgründungen im mittelalterlichen Polen 2011. VIII, 395 S. Mit 31 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20693-2

Band 82:   Werner Freitag (Hg.) Die Pfarre in der Stadt

Band 77:  Werner Freitag, Peter Johanek (Hg.) Bünde – Städte – Gemeinden Bilanz und Perspektiven der vergleichenden Landes- und Stadtgeschichte

2009. XII, 354 S. Mit 45 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20293-4

Band 78:   Jiri Kejr

2011. XVIII, 269 S. Mit zahlr. s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20715-1

Band 83:   Gerd Schwerhoff (Hg.) Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit 2011. X, 219 S. 18 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20755-7

Die mittelalterlichen Städte in den böhmischen Ländern

Band 84:   Ruth Schilling

Gründung – Verfassung – Entwicklung

Venedig, Bremen, Hamburg und Lübeck im 16. und 17. Jahrhundert

2010. XIV, 450 S. Gb. ISBN 978-3-412-20448-8

Band 79:   Michael Hecht

Stadtrepublik und Selbstbehauptung

2012. X, 445 S. 15 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20759-5

Patriziatsbildung als ­kommunikativer Prozess

Band 85:   Clemens Zimmermann (Hg.)

Die Salzstädte Lüneburg, Halle und Werl in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Vom Mittelalter bis zur Gegenwart

2010. VIII, 377 S. Mit 14 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20507-2

RD676

Siedlungskern – Bürgerkirche – urbanes Zentrum

Stadt und Medien

2012. VIII, 294 S. 33 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20869-1

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